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Die Menschen verstehen: Grenzüberschreitende Kommunikation in Theorie und Praxis

2020
978-3-8233-9454-9
Gunter Narr Verlag 
Thomas Tinnefeld
Bärbel Kühn

Diese Festschrift zu Ehren von Albert Raasch zu einem 90. Geburtstag deckt zentrale Bereiche des wissenschaftlichen Wirkens des Jubilars ab. So beschäftigt sie sich unter anderem mit der jüngeren Geschichte der Angewandten Linguistik, der Sprach- und (Aus-)Bildungssituation in Grenzregionen, Mehrsprachigkeit im Allgemeinen und im Besonderen, Sprachpolitik, Übersetzungswissenschaft sowie fremdsprachendidaktischen und kulturorientierten Reflexionen. Enthalten sind Beiträge von Peter Blumenthal, Rudi Camerer, Uwe Dethloff, Eva Martha Eckkrammer, Karl-Heinz Eggensperger, Hermann Funk, Heidrun Gerzymisch, Hans Giessen, Lutz Götze, Norbert Gutenberg, Britta Hufeisen, Wolfgang Kühlwein, Hans-Jürgen Krumm, Eynar Leupold, Georges Lüdi, Heinz-Helmut Lüger, Franz-Joseph Meißner, Christiane Nord, Sabine von Oppeln, Claudia Polzin-Haumann, Jürgen Quetz, Christina Reissner, Nadine Rentel und Christine Sick. Die hier publizierten Aufsätze vermitteln einen Einblick in die (romanische) Philologie der vergangenen Jahrzehnte und sind gleichzeitig von hoher Aktualität.

25,2 ISBN 978-3-8233-8454-0 Diese Festschrift zu Ehren von Albert Raasch zu seinem 90. Geburtstag deckt zentrale Bereiche des wissenschaftlichen Wirkens des Jubilars ab. So beschäftigt sie sich unter anderem mit der jüngeren Geschichte der Angewandten Linguistik, der Sprach- und (Aus-)Bildungssituation in Grenzregionen, Mehrsprachigkeit im Allgemeinen und im Besonderen, Sprachpolitik, Übersetzungswissenschaft sowie fremdsprachendidaktischen und kulturorientierten Reflexionen. Enthalten sind Beiträge von Peter Blumenthal, Rudi Camerer, Uwe Dethloff, Eva Martha Eckkrammer, Karl-Heinz Eggensperger, Hermann Funk, Heidrun Gerzymisch, Hans Giessen, Lutz Götze, Norbert Gutenberg, Britta Hufeisen, Wolfgang Kühlwein, Hans-Jürgen Krumm, Eynar Leupold, Georges Lüdi, Heinz-Helmut Lüger, Franz-Joseph Meißner, Christiane Nord, Sabine von Oppeln, Claudia Polzin- Haumann, Jürgen Quetz, Christina Reissner, Nadine Rentel und Christine Sick. Die hier publizierten Aufsätze vermitteln einen Einblick in die (romanische) Philologie der vergangenen Jahrzehnte und sind gleichzeitig von hoher Aktualität. Tinnefeld / Kühn (Hrsg.) Die Menschen verstehen Die Menschen verstehen: Grenzüberschreitende Kommunikation in Theorie und Praxis Thomas Tinnefeld / Bärbel Kühn (Hrsg.) Festschrift für Albert Raasch zum 90. Geburtstag 18454_Umschlag.indd Alle Seiten 18454_Umschlag.indd Alle Seiten 13.10.2020 11: 32: 02 13.10.2020 11: 32: 02 Die Menschen verstehen: Grenzüberschreitende Kommunikation in Theorie und Praxis Thomas Tinnefeld / Bärbel Kühn (Hrsg.) Die Menschen verstehen: Grenzüberschreitende Kommunikation in Theorie und Praxis Festschrift für Albert Raasch zum 90. Geburtstag © 2020 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISBN 978-3-8233-8454-0 (Print) ISBN 978-3-8233-9454-9 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0244-5 (ePub) Umschlagabbildung: Große Gruppe von Menschen in Form einer Chat-Blase. © tai11, shutterstock, Stock-ID: 285219005. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® 11 19 23 29 41 55 69 79 95 109 123 143 Inhalt Vorwort Thomas Tinnefeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorwort Bärbel Kühn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabula Gratulatoria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eynar Leupold Von der Angewandten Linguistik zur Sprachlehr-/ -lernforschung. Subjektiver Rückblick auf Impulse zur fachdidaktischen Reflexion und Arbeit in den ersten Studienjahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Kühlwein Albert Raasch und die Gründung der Gesellschaft für Angewandte Linguistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Claudia Polzin-Haumann „Die Nachbarn verstehen“ … in der grenzüberschreitenden Berufsbildung. Sprachenpolitik, Praktiken und Projekte in der Großregion SaarLorLux . . Hans-Jürgen Krumm Mehr Sprachen heißt mehr Chancen - ein Plädoyer für Nähesprachen . . . Christina Reissner Gemeinsame Lehramtsausbildung in der Großregion. Ein Beispiel aus der Praxis und ein vielversprechender Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hermann Funk Sprachenlernen als Grenzerfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Georges Lüdi Mehrsprachigkeit im Spiegel der Vorstellungen der Akteure . . . . . . . . . . . . Eva Martha Eckkrammer Zum Wert der Mehrsprachigkeit als Normalität in Zeiten der Vielfaltsvernichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Franz-Joseph Meißner Der mögliche Beitrag des Englischen zum Erwerb des Kernwortschatzes der romanischen Mehrsprachigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 189 205 219 225 245 259 277 293 309 325 Nadine Rentel Eine sprachwissenschaftliche akademische Laufbahn mehrsprachig und plurikulturell leben - dargestellt am Beispiel einer individuellen Sprachbiographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karl-Heinz Eggensperger Sprachminima und Wissensminima . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine von Oppeln Europäische Sozialpolitik: Herausforderungen, Probleme und Handlungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lutz Götze Das Französische in der Debatte. Anglizismen und écriture inclusive: Chance oder Bedrohung der Sprache? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Blumenthal Cooccurrences spécifiques dans la presse francophone africaine et hexagonale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heidrun Gerzymisch Angewandte Linguistik und Übersetzungswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . Christiane Nord Im Zweifel für den Skopos. Vom Umgang mit Unsicherheit im Übersetzungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rudi Camerer / Jürgen Quetz Mediation im Begleitband zum Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen. Herausforderungen und Chancen für den Fremdsprachenunterricht in der Weiterbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans Giessen Lexikalische Polyfunktionalität als Problem bei Wörterbüchern im Kontext der Fremdsprachendidaktik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christine Sick Die TechnoPlus Englisch Suite - vom computerbasierten Sprachlernprogramm zu mobilen Angeboten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Norbert Gutenberg Grammatik und Prosodie. Zur Interdependenz von Syntax und Intonation und zum deutschen Wortakzent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt 347 365 385 397 399 425 427 Uwe Dethloff Jean-Jacques Rousseau und das neue Naturgefühl. Zum Wandel des Naturverständnisses in der literarischen Landschaftsdarstellung in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heinz-Helmut Lüger Reden über Geschichte. Kontextwissen und frankreichkundliche Textarbeit Britta Hufeisen Welche Projekte muss, soll, kann und darf man sich leisten? Wiederaufnahme einer Debatte mit Albert Raasch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Albert Raasch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schriftenverzeichnis Albert Raasch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herausgeber und Herausgeberin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beiträger und Beiträgerinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Inhalt Professor Dr. Albert Raasch Vorwort von Thomas Tinnefeld Dem verdienten Linguisten und Fremdsprachendidaktiker Professor Albert Raasch meinen ganz herzlichen Glückwunsch zu seinem 90. Geburtstag. Es erfüllt uns alle - und ich spreche hier bewusst auch im Namen von Bärbel Kühn und allen Beiträgern und Beiträgerinnen zu diesem Band - mit großer Freude und Dankbarkeit, eine Festschrift zu einem solch hohen Geburtstag herausgeben bzw. zu dieser beisteuern zu dürfen, was wissenschaftshistorisch unzweifelhaft eine große Rarität darstellt. Dass ein Wissenschaftler ein solches Alter erreicht, ist schon nicht selbstverständlich; noch viel weniger erwartbar ist, dass er auch in diesem Alter in seiner Disziplin aktiv ist. Albert Raasch ist somit nicht nur als Mensch und als Romanist herausragend, sondern darüber hinaus stellt das Faktum, dass er sein jahrzehntelang erworbenes und immer mehr verfeinertes Wissen auch weiterhin der (wissenschaftlichen) Öffentlichkeit zur Verfügung stellt und dieser damit die Chance gibt, daran auch lange nach seiner Emeritierung teilzuhaben, ein weiteres Verdienst Albert Raaschs dar. Es würde sicherlich zu weit führen und lediglich ein höchst unvollkommenes Ergebnis zeitigen, wollte man versuchen, an dieser Stelle Albert Raaschs Leben nachzuzeichnen. Daher mögen hier lediglich einige sehr subjektiv ausgewählte Schlaglichter genügen, die den meisten Romanisten wahrscheinlich ohnehin bekannt sein dürften. Als Hochschulprofessor seit Ende der 1960er und ordent‐ licher Professor an der Universität des Saarlandes für Angewandte Linguistik und das damals sehr neue Fach Sprachlehrforschung Anfang der 1970er Jahre überblickt Albert Raasch mehr als 50 Jahre der Geschichte seiner Lehr- und Forschungsgebiete und darf somit ohne Übertreibung gleichsam als wandelnde Enzyklopädie dieser angesehen werden. Dabei war er sich zu keinem Zeitpunkt zu schade, auch die Praxis des Fremdsprachenunterrichts fördernde Werke zu veröffentlichen, deren Existenz vielen zu früheren Zeiten und ebenso heute tätigen Romanisten aus eigener Anschauung und / oder eigener Nutzung heraus bekannt sein dürfte. Ob es sich dabei um den französischen Mindest‐ wortschatz oder die französische Mindestgrammatik handelt, den französischen Anfangsunterricht, das Wie der Erlernung von Fremdsprachen oder besonders leichte Zugänge zu diesem - immer ging und geht es Albert Raasch darum, Fremdsprachen als zugängliche Größen zu verstehen und zu beschreiben und sie in ihrer grenzüberschreitenden Funktionalität zu fördern. Persönlich aus dem „hohen Norden“ Deutschlands kommend und diesem nach wie vor geogra‐ phisch und emotional verbunden, setzt er sich bis heute folgerichtig für das Saarland - hier sei nur der von ihm gegründete Sprachenrat Saar erwähnt - und die Großregion SaarLorLux ein, deren Charakter einer Grenzregion ihm besonders am Herzen lag und liegt. Seine Publikationen - ob in Buchform, in Herausgeberschaften oder auch in Aufsatzform - decken die Angewandte Linguistik und die Sprachlehrforschung in der jeweiligen Praxis, aber natürlich auch in der dieser zugrundeliegenden Theorie, in beeindruckender Manier ab. Seine Tätigkeit in Verbänden und Vereinigungen, die nicht zuletzt dazu ver‐ halfen, angewandt-linguistische und fremdsprachendidaktische Erkenntnisse zum Nutzen einer breiteren Öffentlichkeit umzusetzen, zeugen von seinem politischen Bewusstsein und ebenso seiner Fähigkeit, die sprichwörtlichen „di‐ cken Bretter“ zu bohren, die es zu einer derart erfolgreichen Umsetzung bedarf. In diesem Zusammenhang sei hier lediglich die Gesellschaft für Angewandte Linguistik erwähnt, zu deren Gründungsvätern Albert Raasch gehörte und die - was für eine Dimension - vor zwei Jahren ihr fünfzigjähriges Bestehen gefeiert hat. Das Faktum, dass Albert Raasch in seinem bisherigen Leben zahlreiche Auszeichnungen erhalten hat, die ihn zu einem hochdekorierten Wissenschaftler machen, ist somit hochgradig verdient und zeigt gleichzeitig, dass er in seiner Arbeit immer auf der Höhe der Zeit gewesen ist - woran sich bis heute nichts geändert hat. Die vorliegende Festschrift ist aufgrund einer recht spontanen Initiative von Bärbel Kühn entstanden. In einem Moment der unmittelbaren Begeisterung habe ich diesen Vorschlag der Zusammenarbeit für den verehrten Jubilar sehr gern angenommen, und wir sondierten die Lage, um auf diese Weise zu erfahren, ob sich ein solches Vorhaben realisieren lassen würde. Als dessen Realisierbarkeit sich immer mehr herauskristallisierte, machten wir uns an die Arbeit und fanden zahlreiche Kollegen aus früheren und ebenso neu(er)en Zeiten, die ihre Zusammenarbeit unmittelbar zusagten, wofür wir ihnen an dieser Stelle herzlich danken. Obwohl Bärbel Kühn und ich diesen Band miteinander zusammengetragen haben, haben wir uns dazu entschlossen, hier je ein getrenntes Vorwort beizu‐ steuern, da uns unterschiedliche Kontexte mit dem Jubilar verbinden und wir diese so konsistenter beschreiben können. 12 Thomas Tinnefeld Albert Raasch ist mir zwar seit Jahrzehnten - bereits als Student - auf der Basis seiner Schriften bekannt, tiefer persönlich kennengelernt haben wir uns jedoch erst im Jahre 2011 auf der - wenn dies hier hinzugefügt werden darf - von mir organisierten und geleiteten 1. Saarbrücker Fremdsprachentagung. Albert Raasch erwies nicht nur dieser Tagung die Ehre, sondern ebenso allen vier, bisher auf jene folgenden Tagungen der gleichen Reihe wie auch drei Symposien zum Französischen, die ebenfalls in Saarbrücken stattfanden. Zudem begegneten wir beide uns immer wieder auf verschiedenen anderen, teilweise sprachpolitischen Veranstaltungen und zum Teil von ihm selbst (mit)organi‐ sierten oder geleiteten Veranstaltungen, die in den vergangenen zehn Jahren im Saarland stattfanden, und entwickelten während der zahlreichen Gespräche, die wir zu diesen Anlässen führten, eine sehr herzliche persönliche Beziehung zueinander. Dabei beeindruckte Albert Raasch mich ein um das andere Mal mit seiner persönlichen Ruhe, seiner tiefen Menschlichkeit und Freundlichkeit und nicht zuletzt mit einer Bescheidenheit, die nur den wirklich Großen zu eigen ist, sowie mit seiner Beharrlichkeit in der Verfolgung der wissenschaftlichen und (sprach)politischen Ziele, die ihm am Herzen lagen und liegen. Kurzum: Albert Raasch ist mir in den vergangenen zehn Jahren sehr ans Herz gewachsen, wenn dies hier so persönlich ausgedrückt werden darf, und ich freue mich, einen kleinen Beitrag dazu leisten zu dürfen, ihm im Kontext des vorliegenden Bandes eine kleine Freude bereiten zu können. Dabei hatte ich die Ehre und das Vergnügen, mich der Aufsätze der folgenden Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen annehmen zu dürfen, welche im Anschluss kurz beschrieben werden sollen - und dies in der Hoffnung, damit nicht die Spannung der Lektüre der Volltexte vorwegzunehmen, sondern diese im Idealfalle vielleicht sogar noch ein wenig weiter aufzubauen. Im wahrsten Wortsinn spannend ist ein persönlicher Blick in die Geschichte, den uns Wolfgang Kühlwein vermittelt und der sich auf die Gesellschaft für Angewandte Linguistik und somit auch auf einen wichtigen Abschnitt des gemeinsamen Lebensweges des Autors und des Jubilars bezieht. Im Beitrag wird deutlich, wie visionär Albert Raasch und seine Mitstreiter vor 50 Jahren waren und wie weitsichtig sie agierten, ohne dabei den weitläufigen historischen Kontext Ihres Tuns aus dem Blick zu verlieren. Es liegt hier ein wichtiges Zeitzeugnis vor, das solchen Lesern, die damals mit von der Partie waren oder auch im näheren oder weiteren Umfeld der Akteure wirkten, viele wertvolle Erinnerungen (und oft vielleicht auch inzwischen Vergessenes) wachruft, sich aber auch für jüngere Leser als hochgradig inspirierend erweist und ihnen nicht zuletzt auch einen gewissen Respekt vor den Leistungen ihrer (Vor)Vorgänger einflößt. 13 Vorwort Einen Einblick in die Sprachenpolitik der Großregion SaarLorLux gibt Claudia Polzin-Haumann mit Blick auf die berufliche Bildung in dieser Grenzregion, die Albert Raasch, wie erwähnt, traditionell sehr am Herzen liegt. Der hier gegebene Einblick in vorhandene Strukturen, aufgelegte Pro‐ gramme und nicht zuletzt die jeweils gültige Nachbarsprachenpolitik vermitteln einen anregenden Eindruck von konkreten Herausforderungen dieser von hoher grenzüberschreitender Mobilität und (nicht selten) der Beherrschung der Sprache der jeweils „Anderen“ geprägten Region, und das von der Autorin gezogene Fazit hinsichtlich des bisher Erreichten stimmt hoffnungsfroh - auch und besonders in dem Bewusstsein, dass dieser Prozess naturgemäß ein nie enden wollender ist und ein immer neuen Herausforderungen ausgesetzter sein wird. Ganz im Sinne des Jubilars sieht Eva-Martha Eckkrammer die Mehrspra‐ chigkeit als den Normalfall an - und dies umso mehr in einer Zeit wie der ge‐ genwärtigen, in der eher (sprach)kulturelle Konvergenz als Divergenz herrscht. Aufbauend auf Wilhelm von Humboldt und seiner Philosophie einer jeweils eigenen Weltsicht, die sich über eine jeweils andere Sprache erschließt, hält sie - nicht zuletzt in historischer Perspektive und unter besonderer Berücksichti‐ gung des Französischen - ein leidenschaftliches wissenschaftliches Plädoyer zugunsten der sprachlichen Vielfalt, wobei sie besonders der Vorherrschaft des Englischen als Wissenschaftssprache kritisch gegenübersteht und ein Mehr an Selbstvertrauen vonseiten der übrigen Wissenschaftssprachen - z. B. des Französisch oder auch des Deutschen - einfordert, wohl wissend, dass sich hier auf den unterschiedlichsten Ebenen hochkomplexe Konstellationen ergeben, die keinerlei einfacher Lösungen harren. Franz-Joseph Meißner befasst sich mit der romanischen Mehrsprachig‐ keit - und in diesem Bereich mit dem Beitrag des Englischen zum Erwerb eines romanischen Kernwortschatzes. In gewissem Sinne liegt hier eine komplemen‐ täre Sichtweise zu der kulturbzw. bildungspolitisch kritischen Position der Konkurrenz zwischen dem Englischen einerseits und den romanischen Spra‐ chen andererseits vor, indem das Englische als potentielle Chance betrachtet wird, bei Fremdsprachenlernern zu einer Erweiterung ihrer Interkomprehen‐ sion im Bereich der romanischen Sprachen beizusteuern. Wie aufwendig diese Arbeit ist, wird deutlich, wenn man sich die Ausführungen des Autors zu der Datenbank Kernwortschatz der romanischen Mehrsprachigkeit (KRM) vor Augen führt. Dabei ergeben sich erhebliche Transferschnittstellen zwischen dem Eng‐ lischen einerseits und den Sprachen der Romania andererseits - ein Eindruck, den wir alle, die wir uns lehrend und lernend in diesem Bereich bewegen, mit Sicherheit bereits gehabt haben, der hier jedoch auf eindrucksvolle Weise 14 Thomas Tinnefeld wissenschaftlich bestätigt wird. Die hier vorgenommenen Beschreibungen und Analysen unterstreichen die seit Jahren erhobene Forderung der curricularen Integration der Interkomprehension in den Fremdsprachenunterricht. Im Sinne einer das Englische einbindenden Didaktik der romanischen Mehrsprachigkeit würden sich dabei ungeahnte Synergie-Effekt ergeben. Mit dem Themenfeld individuelle Mehrsprachigkeit beschäftigt sich Nadine Rentel, die auf der Basis eines Leitfadeninterviews die sprachliche Biographie einer multikulturell und multilingual sozialisierten Sprachwissenschaftlerin nachzeichnet und analysiert. Erhoben und anschaulich ausgewertet werden dabei deren individuelle Sprachlernmotivation, ihre Einstellung zu den jewei‐ ligen Fremdsprachen und ihr jeweiliger Spracherwerbs- und Sprachverwen‐ dungskontext. Besonders mit Blick auf den zuletzt genannten Gesichtspunkt stellt die Autorin in Frage kommende Einflussfaktoren in den Raum, die zwar von Individuum zu Individuum variieren können, sich bei der Mehrheit ähnlich sozialisierter Sprecher jedoch sicherlich in der einen oder anderen Form ebenfalls manifestieren. Auf der Basis von Überlegungen des Jubilars aus den vergangenen Jahr‐ zehnten diskutiert Karl-Heinz Eggensperger mögliche Wissens- und Sprach‐ minima, die zu der Entwicklung und Sicherstellung eines curricular veran‐ kerten, funktionalen Ausdrucksvermögens führen. Dabei geht es um die Frage, wie nicht nur ein begrenzter Gesamtwortschatz vermittelt werden kann, son‐ dern auch ein begrenzter Wissensausschnitt, und mit diesem die zu dessen Versprachlichung notwendigen Ausdrucksmittel. Exemplarisch wird als ein solcher Wissensausschnitt der droit des obligations (Schuldrecht) herangezogen. Dabei veranschaulicht der Autor in höchst praktischer Manier, wie ein solches Sachfeld ausgegrenzt werden kann und auf welche Weise Lernprozesse für die Rezeption entsprechender Fachtexte unterstützt werden können. Es bleibt zu hoffen, dass das eigentliche Anliegen des Autors gelingt, mit seinem Beitrag eine Diskussion über Sprachökonomie und Wissensökonomie im Fremdspra‐ chenunterricht anzustoßen, was besonders, aber nicht ausschließlich, mit Blick auf einen effizienten Fachsprachenunterricht sicherlich hochgradig nützlich wäre. Eine auf Französisch verfasste, linguistische Analyse zu spezifischen, in der frankophonen afrikanischen und französischen Presse belegten lexikalischen Ko-Okkurrenzen steuert Peter Blumenthal bei. Dabei konzentriert er sich auf affektive Basislexme wie désir, tristessse, solitude oder volonté und wendet eine probabilistisch ausgerichtete statistische Analyse auf diese an, die aufgrund von deren jeweiligem Kotext Rückschlüsse auf die inhaltliche Verwendung dieser Lexeme erlaubt. Dabei ergibt sich nach Einschätzung des Autors die - 15 Vorwort in weiterer Forschung zu verifizierende - prinzipielle Möglichkeit, auf der Ebene der lexikalischen Kombinatorik und der Konzeptualisierung von Wörtern konkrete Konvergenzen und Divergenzen in der Entwicklung der Frankophonie aufzuspüren, wobei manche Unterschiede in der Verwendung des Französischen in Frankreich und Afrika durchaus aufschlussreich sind. Ebenfalls mit Konvergenzen und Divergenzen, jedoch mit einem ganz anderen Bezugsfeld, untersucht Heidrun Gerzymisch, in enger fachlicher Anlehnung an Albert Raasch, die vielfältigen Beziehungen zwischen der Ange‐ wandten Linguistik und der Übersetzungswissenschaft in begrifflicher Hinsicht und mit Blick auf ihre jeweiligen Beschreibungskategorien - insbesondere das Operationalisieren, die Mittlung vs. Vermittlung von Text und Botschaft sowie Vergleich und Transfer - wobei sie nicht zuletzt aufschlussreiche Berührungs‐ punkte zwischen beiden herausarbeitet. Mit Blick auf die Mehrsprachigkeit ergibt sich für die Autorin in diesem Kontext die Frage der - zumindest theo‐ retischen - Möglichkeit einer Verknüpfung von universaler Kommunikation mit gemittelter Kommunikation, in der dann auch die Angewandte Linguistik und die Translationswissenschaft sowie die Kommunikations- und die Kultur‐ wissenschaft verortbar wären. Mit der Unsicherheit im Übersetzungsprozess und ihrem Umgang, durch die das Übersetzen - als fortgesetzter Entscheidungsprozess - naturgemäß geprägt ist, beschäftigt sich Christiane Nord. Die Autorin beschreibt und analysiert hierarchisch von oben nach unten - also vom Allgemeineren zum immer Konkreteren -, auf welche Weise diese verschiedenen Arten der Unsicherheit, die sich dem Übersetzer in seiner Verantwortung gegenüber dem Autor und dem Leser, aber auch gegenüber dem Auftraggeber, stellen, verringert - wenn auch nicht gänzlich vermieden - werden können. Typologisch ergibt sich dieser Weg aus der grundlegenden Wahl des Übersetzungstyps (dokumentarisch oder instrumentell) und sprachlich aus der schrittweisen Lösung von Problemen, ausgehend von der Pragmatik, über Kultur und Sprache bis hin zu einzelnen Wörtern und Morphemen. Die jeweils konkret gegebenen Beispiele lassen diesen Beitrag zu einer instruktiven Lektüre für jeden an der praktischen Seite der Übersetzung Interessierten werden. Christine Sick beschreibt in ihrem Beitrag die neueste Entwicklung Ihres Sprachlernprogramms TechnoPlus Englisch von dessen computerbasierter hin zu seiner mobilen Version. Dabei ergeben sich interessante Einblicke hinsichtlich der bei einer solchen Entwicklung zum Tragen kommenden Faktoren, wie z. B. der didaktischen Konzeption, der Zielgruppe oder auch einer entsprechenden Bedarfsanalyse. Durch die Beschreibung der einzelnen Komponenten des Pro‐ gramms und der auf diesem basierenden Wortschatz-Trainer-App erhalten die 16 Thomas Tinnefeld Leser einen Eindruck von dessen Wirkungsweise, von seinem didaktischen Potential, von seiner technischen Dimension und nicht zuletzt von seinem Nutzen für die Zielgruppe: die Studierenden der Ingenieurwissenschaften der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes. Mit Bezug auf die literaturwissenschaftliche Seite Albert Raaschs beschäftigt sich Uwe Dethloff mit Jean-Jacques Rousseau und der Veränderung des Verständnisses der Natur in der literarischen Landschaftsdarstellung. Vor dem Hintergrund der neuen Naturkonzeption im 18. Jahrhundert in Frankreich entwickelt der Autor Jean-Jacques Rousseaus Pionierrolle aus dem Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes und den Rêveries du promeneur solitaire und analysiert die literarische Landschaftsgestaltung im französischen Roman ab etwa der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts anhand von Rousseaus Julie ou la Nouvelle Héloïse und Senancours Oberman sowie Bernardin de Saint-Pierres Roman Paul et Virginie und Chateaubriands Novelle René. Hochinteressant ist zudem die Spiegelung der hier vorgenommenen Analysen des Autors mit seiner Einschätzung des Naturverständnisses im 21. Jahrhundert, durch die dieser eigentlich historische Beitrag eine gleichsam unerwartete Aktualität erhält. In seinem ebenfalls historisch ausgerichteten, aber an der Gegenwart orien‐ tierten Beitrag beschäftigt sich Heinz-Helmut Lüger vor dem Hintergrund des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens (GeR) und der Bologna-Re‐ form mit geschichtlichem Kontextwissen und frankreichkundlicher Textarbeit. Anhand seiner Analyse zweier Reden - derjenigen des damaligen Pariser Bürgermeisters Jacques Chirac anlässlich des Amtsantritts des damals neu gewählten Staatspräsidenten François Mitterrand vom 21. Mai 1981 und dessen Antwort - zeigt der Autor anschaulich auf, dass es bei weitem nicht hinreicht, lediglich über Wortschatz- und Grammatikwissen zu verfügen, wie dies im GeR abgebildet wird, sondern dass fundierte Geschichtskenntnisse, kulturelle Kenntnisse, das Wissen um die politischen Hintergründe und die Biographien der beiden im Mittelpunkt stehenden Personen etc. vorhanden sein müssen, um die verschiedenen explizit und implizit ausgedrückten Sachverhalte, die im Text gemachten Anspielungen und die im Gesagten enthaltenen Präsuppositionen dekodieren zu können. Gerade, weil hier bei Muttersprachlern - in diesem Falle also Franzosen, die ihre Geschichte zudem recht gut kennen - und Nicht-Mut‐ tersprachlern, die nicht in der gleichen Kultur sozialisiert worden sind, im Allgemeinen erhebliche Unterscheide in der Verständnistiefe bestehen, erachtet der Autor landeskundliches und kulturorientiertes Lernen als unabdingbar für das Textverstehen und die erfolgreiche Kommunizierung von Kontextwissen, wobei ihm sicherlich unproblematisch zugestimmt werden kann. 17 Vorwort Allen Beiträgern und Beiträgerinnen sei an dieser Stelle sehr für Ihre Aufsätze gedankt, mit denen Sie Albert Raasch ehren. Schließlich danken Bärbel Kühn und ich Christine Sick, die ihre Mailinglist aktiviert hat und dank derer es uns möglich wurde, die tabula gratulatoria zu vervollständigen. Schließlich bitten wir bei all denjenigen Begleitern Albert Raaschs auf seinem Lebensweg, die wir im Zusammenhang mit dieser Festschrift nicht kontaktiert haben, um Verständnis: Sollte dies vorgekommen sein, so ist es in keinem einzigen Fall mit Absicht geschehen. Zudem sei auch all jener Lebensbegleiter Albert Raaschs gedacht, die nicht mehr physisch unter uns sind und die unter anderen Umständen hier ebenfalls vertreten wären. Schließlich geht der Dank auch an diejenigen, die gern zu diesem Band beigetragen hätten, dies jedoch aus gesundheitlichen Gründen leider nicht tun konnten. In diesem Sinne Dir, lieber Albert, weiterhin frohes Schaffen und vor allem viel Gesundheit, Lebensfreude und das wunderschöne Bewusstsein, dass Du heute ebenso wie früher von uns allen und darüber hinaus von unzähligen weiteren Menschen geschätzt, bewundert und geliebt wirst. Saarbrücken, im Juli 2020 Thomas Tinnefeld 18 Thomas Tinnefeld Vorwort von Bärbel Kühn Beginnen möchte ich meine kleine Ergänzung zum Vorwort von Thomas Tin‐ nefeld mit einer Frage, mit der ich nicht allein dastehe unter den Beiträger*innen dieser Festschrift. Und auch Albert Raasch hat sie uns beiden schon gestellt: Seit wann kennen wir uns eigentlich schon? Zur Beantwortung dieser Frage muss ich lediglich die alten Lehrpläne für die Goethe-Institute in Deutschland aus meinem Regal ziehen: Auf Seite 3 steht Goethe-Institut 1996, auf Seite 4 steht Prof. Dr. Albert Raasch (Universität Saarbrücken) als Mitglied im Projektbeirat und Dr. Bärbel Kühn als Mitglied in der Projektgruppe. Ich weiß nicht mehr, ob wir erst 1995 mit der Arbeit an diesen Lehrplänen begonnen haben oder schon 1994; aber ich kann mich noch gut daran erinnern, wie mein Kollege in der Projektgruppe, Dr. Hans-Dieter Dräxler, dem Goethe-Institut vorschlug, Prof. Albert Raasch, den er aus der Linguistik kannte, als Berater hinzuzuziehen. Die Lehrpläne wurden, wie Albert Raasch weiß, zu einem wichtigen Vorläufer für den Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen. In meiner Erinnerung sprach Albert schon damals vom Sprachenrat Saar, der 1991 gegründet wurde; es kann aber auch später gewesen sein, denn wir blieben in Kontakt und als ich 2009 in Bremen vorschlug, einen Sprachenrat zu gründen, kam die Idee natürlich von ihm und natürlich stand er uns beratend zur Seite. Und so ging es weiter mit uns: Ich hatte inzwischen das Goethe-Institut als Arbeitgeber mit den Hochschulen im Land Bremen getauscht, wo wir im Sprachenzentrum gemeinsam mit dem Arbeitskreis der Sprachenzentren alle zwei Jahre ein internationales Symposion veranstalteten. Selbstverständlich war Albert Raasch stets der Ehrengast und nie werde ich seine Formel für die Einleitung seiner Fragen im Plenum vergessen: „Ich möchte ja noch lernen, daher möchte ich fragen…“ Einmal hat er mich auch auf eine wunderschöne Reise mitgenommen: im Oktober 2004 in die Slowakei nach Banská Bystrica. Auf einer Konferenz an der dortigen Matje-Bel-Universität durfte ich einen Vortrag über das e-Portfolio EPOS halten, das wir in Bremen entwickelt hatten. Erst dort erfuhr ich, dass er seit 1994 Träger einer Medaille dieser Universität ist. Das ist Albert Raasch: Aus seiner Ehrung dort entwickelte er eine Förderung für mich. Danke, Albert! Und noch mit unserer Festschrift entwickelte es sich für mich ähnlich: Autorinnen und Autoren, die ich bisher häufig nur ihren Namen nach kannte, die ich jetzt jedoch um einen Beitrag bitten durfte, wurden zu Kommunikations‐ partner*innen. Die gemeinsame Bekanntschaft mit Albert Raasch war unsere Vermittlerin. Mit einer kleinen Vorbereitung auf sie und ihre Beiträge möchte ich daher meinen Teil der Einführung abschließen. Britta Hufeisen schreibt ihren Beitrag aus der gemeinsamen Geschichte mit Albert Raasch im Engagement für Mehrsprachigkeit in der Gesellschaft für Angewandte Linguistik (GAL). Was Anfang der neunziger Jahre noch über die Bildung einer Arbeitsgruppe in der GAL thematisch verfolgt werden konnte, ist heute als zu formulierendes Projektvorhaben mehr und mehr abhängig von der Frage der Finanzierung und damit auch von den Forschungsinstitutionen oder auch den Stiftungen, bei denen eine solche beantragt werden muss. Hans Giessen zeigt am Beispiel der Höflichkeitsformel „bitte“, dass zur an‐ gewandten Linguistik landeskundliche und kulturelle Themen ebenso gehören wie grammatikalische und lexikalische. In diesem Zusammenhang kritisiert er ein für die Fremdsprachendidaktik hinderliches „nur bedingt“ einheitliches Vorgehen von Wörterbüchern. Die hohen Potentiale von Grenzregionen für das Lernen der Nachbarschafts‐ sprachen verdeutlicht Christina Reissner an einem Beispiel aus der grenzüber‐ schreitenden Primarschullehrerausbildung an der Universität der Großregion. Sie berichtet von einem deutsch-französischen Projektseminar im Wintersemester 2019 / 20, in dem Lehramtsstudierende beider Länder, ausgestattet mit einem „Lernkoffer“ zu unbeliebten Tieren, die andere Sprache zugleich als Unterrichts‐ gegenstand und als Kommunikationsmittel erfahren konnten. In seinem Beitrag zu „Sprachenlernen als Grenzerfahrung“ betont Hermann Funk, dass Sprachbedarfe nicht einfach aus der Situation von Grenzregionen heraus entstehen. So lässt auch dort die Bedeutung des Englischen als interna‐ tionale Berufssprache das Lernen der Nachbarsprache als unnötig erscheinen. Aber auch diese Erfahrung hat ihre Grenzen. Das zeigt die neue Bedeutung von Herkunfts- und Nachbarsprachen, etwa von Arabisch im Elsass und Portugie‐ sisch in Luxemburg. Mit dem Beitrag von Sabine von Oppeln sind wir wieder in der Grenzregion, diesmal bei ihren sozialpolitischen Besonderheiten. Wie dieser Beitrag zeigt, ist Sozialpolitik ein guter Seismograf dafür, wie es um Europa steht. Die sozialpolitischen Belange Gesamteuropas zu beachten, wie es Albert Raasch 20 Bärbel Kühn schon immer tut, setzt voraus, egoistische nationale Interessen zurückzustellen. Gerade mit Corona, so von Oppeln, ist Solidarität in sozialpolitischer Hinsicht zu einer Kernfrage für ein einiges Europa geworden. Mit Norbert Gutenberg überschreiten wir - zumindest ich - eine Brücke von einem (mir)noch recht vertrauten Ort didaktischer Anwendung, der Sprech‐ erziehung, zu einem Ort mit dem Namen Sprechwissenschaft, wo (mir) die meisten Begriffe völlig neu sind. Hier ist nicht der Satz die entscheidende Kategorie, sondern der Sinnschritt und die Sinnintention, aus der er sich ergibt. Und nicht die Satzgrammatik bestimmt den Sinnschritt, sondern die Erfordernisse des „reihenden“ Sprechens, also (in meiner Interpretation) der gesprochenen Alltagssprache. Georges Lüdi geht aus von den „additiven Modellen“ von Mehrsprachig‐ keit, wie sie etwa noch das Konzept des europäischen Sprachenportfolios des Europarats geprägt haben. Die „integrativen Modelle“, die er ihnen gegenüber‐ stellt, waren lange verpönt als Sprachenmischung, gerade auch in seinem Herkunftsland, der viersprachigen Schweiz. Dem gegenüber demonstriert er mit dem Ausschnitt aus einer empirischen Untersuchung ein Konzept von Mehrsprachigkeit, die sich als „sozio-kognitiver“ Prozess entwickelt. Eynar Leupolds geht hinter Saarbrücken zurück auf Albert Raaschs Pro‐ fessur in der Romanistik an der Universität Kiel, wo der Autor ihn 1969 als frisch eingeschriebener Student kennenlernte. In den kommenden Jahren erlebte er, wie Albert Raaschs wissenschaftliche und publizistische Arbeiten sowie sein sprachenpolitisches Engagement im Hochschul-, Schul- und Volkshochschul‐ bereich die Entwicklung und Profilierung des Faches Angewandte Linguistik einerseits und ihre Anwendung auf die Fremdsprachendidaktik andererseits maßgeblich beeinflussten - bis hin zur Entwicklung neuer Lernmethoden wie der „Tandem-Methode“. Der Beitrag von Hans Jürgen Krumm betont „in Anlehnung an die Über‐ legungen von Albert Raasch“ zur Verhinderung von Bildungsnachteilen die Notwendigkeit der besseren Verankerung der Sprachen von Kindern aus zuge‐ wanderten Familien im Bildungssystem als „Begegnungs- und Nähesprachen“. Wie dies zu erreichen ist, zeigt er mit der Vorstellung seines Mehrsprachig‐ keitscurriculums, das im Auftrag des österreichischen Unterrichtsministeriums entwickelt wurde. Rudi Camerer und Jürgen Quetz widmen ihren Beitrag dem Thema Mediation im Companion, dem gerade erst (2020) auch auf Deutsch erschienenen neuen Begleitband zum Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen (GeR) Al‐ bert Raasch, weil er es ist, den sie vor sich sehen, wenn sie gemäß Companion Team Management als wichtiges Bezugsfeld für Kompetenzen der Mediation 21 Vorwort beschreiben. Hinführend zeigen sie, wie sich das Konzept des Companion im Vergleich zum GeR geändert hat, wird doch mit dem Konzept von Mediation erstmals auch die Beziehungsebene als eine Ebene kommunikativen Handelns einbezogen. Wie gerne schließe ich mich ihrer Widmung an! Saarbrücken, im Juli 2020 Bärbel Kühn 22 Bärbel Kühn Tabula Gratulatoria für Albert Raasch zu seinem 90. Geburtstag Mit herzlichen Grüßen und den besten Wünschen von: Prof. Gerhard W. Bleymehl (i.R.) Professur für Angewandte Sprachen an der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes (Fachbereich Wirtschaftsinge‐ nieurwesen), Saarbrücken Pr. Peter Blumenthal Professeur émérite de Linguistique des langues romanes à l’université de Cologne Ursula Brettar Sekretärin am Lehrstuhl von Herrn Professor Dr. Raasch „Angewandte Linguistik und Sprachlehrforschung Französisch“ an der Uni‐ versität des Saarlandes, Saarbrücken (von 1973-1998) Dr. Wolfgang Bufe Akademischer Oberrat a.D. an der Universität des Saarlandes; Vorsitzender der Vereinigung zur Förderung der Zweisprachigkeit e. V. Peter Bühler Studiendirektor für Englisch, Französisch und Politik am Saarlouiser Gymnasium am Stadt‐ garten und Fachleiter für Englisch am Staatli‐ chen Studienseminar für die Sekundarstufen I und II an Gymnasien und Gemeinschafts‐ schulen des Saarlandes Dr. Livia Burkhardt Dozentin im Fachbereich Onlinekommunika‐ tion an der Hochschule Darmstadt Uta Cappel Redakteurin, Hauptabteilung Spielfilm und Fernsehfilm, ARTE Dr. Rudi Camerer Leiter elc - European Language Competence, Frankfurt am Main. Prof. Dr. San-lii Chang Professur für Deutsche Sprache und Deutsche Kultur an der Fu Jen Universität, Taiwan Christine Christmann Stud.Dir.‘in, Fachleiterin Französisch am Stu‐ dienseminar für Gymnasien des Saarlandes, Vorsitzende der Landesfachkonferenz Franzö‐ sisch i.R. Prof. Dr. Nicole Colin Professorin für Germanistik, Universität Aix-Marseille Elke Derdouk Fachleiterin für Französisch am Staatl. Studi‐ enseminar für Gymnasien und Gemeinschafts‐ schulen des Saarlandes Prof. Dr. Uwe Dethloff Apl. Professor für Romanische Philologie an der Universität des Saarlandes mit den Schwerpunkten französische Literaturwissen‐ schaft und Grammatikographie (bis 2005) Dr. Hans-Dieter Dräxler Leiter Sprache Goethe-Institute Bangkok, Buenos Aires, Madrid und S-o Paulo Prof. Dr. Eva Martha Eckkrammer Inhaberin des Lehrstuhls für Romanische Sprach- und Medienwissenschaft am Romani‐ sches Seminar der Universität Mannheim Dr. Karl-Heinz Eggensperger Stellvertretender Leiter (i.R.) des Geschäftsbe‐ reichs Sprachen am Zentrum für Sprachen und Schlüsselkompetenzen der Universität Potsdam sowie Bereichsleiter Französisch Dr. Hélène Fau Dozentinin der Romanistik der Universität des Saarlandes, Saarbrücken Michael Forster Oberstudiendirektor a.D., ehemaliger Schul‐ leiter am Peter-Wust-Gymnasium Wittlich, Fächer: Französisch, Deutsch Pascale Frénot-Schmachtel Französisch-Dozentin an der VHS Lübeck und im Sprachenzentrum der Universität zu Lü‐ beck Prof. Dr. Hermann Funk Inhaber des Lehrstuhls für Didaktik und Me‐ thodik Deutsch als Fremd- und Zweitsprache an der Friedrich-Schiller-Universität Jena Prof. Dr. Anemone Geiger-Jaillet Professeure des universités en sciences du langage à l’université de Strasbourg Prof. Dr. Heidrun Gerzymisch Inhaberin des Lehrstuhls für Sprach- und Übersetzungswissenschaft an der Universität des Saarlandes, Saarbrücken (bis 2009) Prof. Dr. Hans W. Giessen Apl. Professor an der Universität des Saar‐ landes. Seit 2015 Professor an der Universität Helsinki, Finnland, seit 2018 zudem an der Universität Kielce, Polen Walter Glössner Präsident der Renassance française - Délega‐ tion de Sarre 24 Tabula Gratulatoria für Albert Raasch zu seinem 90. Geburtstag Prof. Dr. Lutz Götze Professor (i.R.) für Deutsch als Fremdsprache an der Universität des Saarlandes Prof. Dr. Norbert Gutenberg Leiter des Fachgebiets Sprechwissenschaft und Sprecherziehung an der Universität des Saarlandes (bis 2016). Vorsitzender des Spra‐ chenrats Saar (bis 2019) Prof. Dr. Alain Jaillet Professeur des universités en sciences de l’é‐ ducation à l’université de Cergy-Pontoise Rudolf Hahn Leiter des Bildungs- und Medienzentrums der Stadt Trier (i.R.) Prof. (em.) Dr. Klaus Hartenstein Professur für Sprachlehrforschung (Russisch) an der Universität Hamburg Prof. Dr. Britta Hufeisen W3-Professorin für Sprachwissenschaft / Mehrsprachigkeit an der Technischen Univer‐ sität Darmstadt Reiner Jung Stellvertretender Direktor des Historischen Museums Saar, Saarbrücken Prof. (em.) Dr. Wolfgang Kühlwein Lehrstuhl für Englische Philologie, Universität Trier Betina Lang Lehrkraft für besondere Aufgaben Englisch an der HTW Saar Dr. Michael Langner ehem. Professor und Lehr- und Forschungsrat - Universität Luxemburg und Freiburg/ CH Barbara Kunz Oberstudienrätin für Französisch und Deutsch an der Berufsbildenden Schule Donnersberg‐ kreis, Eisenberg/ Pfalz Prof. Dr. Hans-Jürgen Krumm Ordentlicher Universitätsprofessor für Deutsch als Fremdsprache, Institut für Ger‐ manistik der Universität Wien (seit 2010 Eme‐ ritus) Prof. Dr. Eynar Leupold Professur für Didaktik der französischen Sprache und Literatur an der Pädagogischen Hochschule Freiburg (emeritiert) Prof. Dr. Georges Lüdi Emeritierter Professor für Französische Sprachwissenschaft, ehem. Leiter des Depar‐ tements Sprach- und Literaturwissenschaften und Dekan der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel Prof. Dr. Heinz-Helmut Lüger Professur für Romanistik an der Universität Koblenz-Landau (bis 2011) 25 Tabula Gratulatoria für Albert Raasch zu seinem 90. Geburtstag Prof. Dr. Hans-Jürgen Lüsebrink Seniorprofessor für Romanische Kulturwis‐ senschaft und Interkulturelle Kommunikation an der Universität des Saarlandes, Saarbrücken Prof. Dr. phil. Dr. h. c. mult. Wolfgang Mackiewicz Honorarprofessor am Institut für Englische Philologie der Freien Universität Berlin Christof Magar Studiendirektor a.D. am Edith-Stein-Gymna‐ sium Bretten, anerkannte UNESCO-Projekt‐ schule, Baden-Württemberg Prof. Dr. Franz-Joseph Meißner Lehrstuhl für die Didaktik der romanischen Sprachen an der Justus-Liebig Universität in Gießen (emeritiert) Prof. Dr. Olivier Mentz Präsident der Deutsch-Französischen Hoch‐ schule; Professor für französische Sprache und Literatur und ihre Didaktik an der Pädago‐ gischen Hochschule Freiburg; Präsident des Gesamtverbandes Moderne Fremdsprachen Prof. Dr. Matthias Neufang Professur für Mathematik an der Carleton Uni‐ versity, Ottawa (Kanada) und Professur für Mathematik an der Université de Lille (Frank‐ reich) Prof. Dr. Dr. h. c. Christiane Nord Professur für Angewandte Sprachwissen‐ schaft sowie Fachübersetzen (Spanisch) im Fachbereich Kommunikation und Medien an der Hochschule Magdeburg-Stendal (bis 2005) Dr. Yvonne Petter Programmbereichsleiterin Fremdsprachen Ernst Klett Verlag, Stuttgart Dr. Sabine von Oppeln Politikwissenschaftlerin. Bis 2017 Leiterin verschiedener deutsch-französischer Studien‐ gänge an der Freien Universität Berlin Prof. Dr. Patricia Oster-Stierle Professur für französische Literaturwissen‐ schaft an der Universität des Saarlandes, Saar‐ brücken Prof. Dr. Claudia Polzin-Haumann Inhaberin des Lehrstuhls für Romani‐ sche Sprachwissenschaft (Schwerpunkt Ange‐ wandte Linguistik und Didaktik der Mehrspra‐ chigkeit) an der Universität des Saarlandes Prof. Dr. Jürgen Quetz Professor (i.R.) für Didaktik der Englischen Sprache an der Goethe-Universität Frankfurt am Main Dr. Astrid Reich Leiterin des Zentrums für Fremdsprachenaus‐ bildung (ZFA) der Ruhr-Universität Bochum 26 Tabula Gratulatoria für Albert Raasch zu seinem 90. Geburtstag Dr. Susanne Reichrath Beauftragte der Ministerpräsidentin für Hoch‐ schulen, Wissenschaft und Technologie der Staatskanzlei des Saarlandes, Saarbrücken Prof. Dr. Rainer Reisel Professor für Betriebswirtschaft an der Hoch‐ schule für Technik und Wirtschaft des Saar‐ landes i.R.; ehem. Direktor des Deutsch-Fran‐ zösischen Hochschulinstituts (DFHI) Dr. Christina Reissner Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Romanische Sprachwissenschaft von Frau Professor Claudia Polzin-Haumann an der Universität des Saarlandes Prof. Dr. Nadine Rentel Professur für Romanische Sprachen (Schwer‐ punkt Wirtschaftsfranzösisch) an der West‐ sächsischen Hochschule Zwickau Svenja Riva, geb. Knölke Oberstudienrätin für Französisch und Spa‐ nisch an der Ricarda-Huch-Schule, Hannover Prof. Dr. Bernd Rüschoff Lehrstuhl für Angewandte Linguistik/ Fach‐ didaktik Englisch an der Universität Duis‐ burg-Essen Reinhard Schlunke Studiendirektor i.R., Fachleiter für Französisch und Sport am Staatl. Landesseminar für das Lehramt an beruflichen Schulen im Saarland Peter Schmachtel Chevalier des Palmes Académiques, Oberstu‐ dienrat a.D. für Französisch und Geographie an der Oberschule zum Dom, Lübeck Horst Schreier Studienrat für Französisch und Deutsch am Berufsbildungszentrum St. Wendel (Saarland) Dr. Angelika Schulz Projektleitung Internet, Grisebach GmbH, Berlin Prof. Dr. Dres. h. c. Wolfgang Schwei‐ ckard Inhaber des Lehrstuhls für Romanische Philo‐ logie (Sprachwissenschaft) an der Universität des Saarlandes Prof. Dr. Christine Sick Angewandte Sprachen, CALL (Computer-As‐ sisted Language Learning), Multimedia und Distance Learning. Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes, Saarbrücken Prof. Dr. Karlheinz Stierle Lehrstuhl für Romanische Literaturen und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Uni‐ versität Konstanz; Honorarprofessor an der Universität des Saarlandes Dr. Peter Tischer Leiter des Sprachenzentrums der Universität des Saarlandes; seit 2014 Vorsitzender des 27 Tabula Gratulatoria für Albert Raasch zu seinem 90. Geburtstag Arbeitskreises der Sprachenzentren an Hoch‐ schulen (AKS) Dr. Joachim Umlauf Leiter der Goethe-Institute Lyon und Marseille Dr. Thomas Vogel Geschäftsführer des Sprachenzentrums der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder) 28 Tabula Gratulatoria für Albert Raasch zu seinem 90. Geburtstag Von der Angewandten Linguistik zur Sprachlehr-/ -lernforschung: Subjektiver Rückblick auf Impulse zur fachdidaktischen Reflexion und Arbeit in den ersten Studienjahren Eynar Leupold Nos vies sont toutes de sable, nos vies sont toutes des fables et c’est seulement dans la manière de les conter que se dévoilent leurs lumineuses trames. A. Cadéo 1 Einleitung Der portugiesische Schriftsteller Fernando Pessoa stellt die Frage: „Wer von uns kann, wenn er sich auf seinem Weg umdreht, auf dem es keine Rückkehr gibt, sagen, er habe ihn verfolgt, wie er ihn verfolgt haben mußte? “ (Pessoa 1985: 45) Mit zunehmendem Alter erfolgt das „Sich umdrehen“ oft. Aber so klar die Antwort auch erscheinen mag, so vielfältig auch die Gründe für Mäander auf dem beruflichen Lebensweg sein mögen, es sind vor allem Menschen, die maßgeblich durch ihre Person und ihr Wirken einen richtungweisenden Ein‐ fluss nehmen. Meine Immatrikulation in den Fächern Romanistik, Germanistik sowie Philosophie und Pädagogik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel im Sommersemester 1969 führte zu der Begegnung mit Prof. Dr. Albert Raasch. Der nachfolgende persönliche Rückblick auf einzelne Momente der ersten Studienjahre im Sinne eines berufsbiographischen Ansatzes ist nicht nur Ausdruck einer dankbaren Reminiszenz an den Hochschullehrer, sondern er ist auch verbunden mit der Absicht, Begegnungsinstanzen mit einer Disziplin, nämlich der Fremdsprachendidaktik, aufzuzeigen, an deren Entwicklung und Profilierung in Deutschland Professor Raasch einen maßgeblichen Anteil hat. 1 Peter Scherfer war für die Studienanfänger am Romanischen Seminar geschätzt als ein freundlicher und kompetenter Ansprechpartner. Bis zu seinem Staatsexamen im Jahr 1973 beförderten seine Ideen und Initiativen sowie seine Kontakte nach Frankreich fachdidaktische Projekte im Kontakt mit der Arbeitsgruppe um Albert Raasch. Von 1981 bis zu seinem Tod im Jahr 2008 lehrte er als Professor für Romanistik / Sprachwissen‐ schaft an der Bergischen Universität Wuppertal. 2 Erste Orientierungen in den Bereichen Fachdidaktik- Angewandte Linguistik - Linguistik Eine „Beratungswoche Erstsemester“, wie sie heute von zahlreichen Hoch‐ schulen angeboten wird, gab es im Sommersemester 1969 nicht. Und dies nicht nur wegen der insgesamt unruhigen Zeit. Als Student fühlte man sich vor dem ersten Semester fast verloren. Die Anschläge am Informationsbrett des Romanischen Seminars der Universität Kiel - überwiegend in französischer Sprache abgefasst - waren in Unkenntnis der internen Organisation sowie der damit verbundenen Anforderungen für einen Studienanfänger kaum verständlich. Auf zwei Wegen versuchte ich, Orientierungen für das Studium im ersten Semester zu bekommen. Mit dem Vorlesungsverzeichnis in der Hand wandte ich mich erstens an eine Beratungsstelle für das Lehramt an Gymnasien, die vom schleswig-holsteinischen Kultusministerium eingerichtet war. Die freundliche Dame riet mir, doch auf jeden Fall Veranstaltungen von Professor Raasch zu besuchen. Er sei sehr freundlich, er verfüge selber über Schulpraxis, und seine Seminare seien für Studienanfänger gut verständlich und sehr nützlich. Geleitet von der diffusen aber wohl richtigen Vorstellung, dass ein Studium mit der Verfügbarkeit über Fachbücher verbunden sei, klopfte ich zweitens vor Semesterbeginn an die Tür des Büros der Wissenschaftlichen Hilfskräfte am Romanischen Seminar an und fragte, welche Bücher sie mir als künftigem Erstsemester zur Anschaffung raten könnten. Einer der Mitarbeiter, Peter Scherfer 1 , beriet sich kurz mit den anderen beiden Kommilitonen, um mir dann die Anschaffung der folgenden drei Bücher zu empfehlen: Das einsprachige Wörterbuch Le Petit Larousse, die Grammatik von Maurice Grevisse mit dem Titel Le bon usage sowie die deutsche Übersetzung eines Buches von André Martinet mit dem Titel Grundzüge der Allgemeinen Sprachwissenschaft. Zu Beginn des Studiums im Sommersemester 1969 konnte ich noch nicht ahnen, dass sowohl die personale Empfehlung als auch der Buchtipp sich bald als richtungweisend für das weitere Studium herausstellen sollten. 1969 erfolgte von Albert Raasch die Veröffentlichung des Buches „Französi‐ scher Mindestwortschatz“. In dem von ihm im SS 1969 angebotenen Seminar 30 Eynar Leupold „Wortschatz der französischen Gegenwartssprache“ wurde nicht nur das Wissen der Studierenden für die sprachwissenschaftlichen Grundlagen der Bestimmung und Auswahl eines Grundwortschatzes - auch in ihrer historischen Dimension - gelegt, sondern auf dem Wege der Analyse des Wortschatzes in Lektionstexten gängiger Lehrbücher für das Fach Französisch wurde auch das Bewusstsein geschärft z. B. für Fragen danach, was eigentlich ein Wort sei, welchen Unter‐ schied es zwischen code oral und code écrit gebe, und welche Bedeutung der Authentizität von Lehrwerktexten, gerade auch unter dem Gesichtspunkt der Berücksichtigung unterschiedlicher niveaux de langue, zukomme. Der Brückenschlag von dem Einzelwort hin zu komplexeren lexikalischen Strukturen erfolgte in dem von Albert Raasch parallel angebotenen Seminar mit dem Titel Ausgewählte Probleme der Angewandten Sprachwissenschaft. Das Wissen um die Grundlagen der strukturalistischen Syntaxtheorie wurden am Beispiel der Arbeiten von André Martinet und Lucien Tesnière vermittelt, und zugleich wurde immer wieder der Bezug zum schulischen Fremdsprachenun‐ terricht hergestellt. Dieser Studienbeginn war geprägt von dem Kennenlernen „systemlinguisti‐ scher“ Arbeiten. Fachdidaktische Bezüge im Sinne eines Einbezugs unterrichts‐ bezogener Fragestellungen und Exkurse gab es, aber sie erfolgten gleichsam als post scriptum unter Rückbezug auf linguistische Arbeiten und Erkenntnisse. Bei den Studierenden bildete sich ein erster, naiver Eindruck vom Gegenstandsbe‐ reich der „Angewandten Linguistik“. Die Herausbildung eines überzeugenden Praxisbezugs war folgendem Um‐ stand geschuldet. Die Einrichtung von Sprachlabors an Schulen und Hoch‐ schulen war verbunden mit einem methodischen Vorgehen, der so sogenannten pattern practice im Rahmen der Sprachausbildung. Die Einbeziehung der beha‐ vioristischen Lerntheorie in die Diskussion um syntaktische bzw. semantische Einheiten ergab insgesamt einen plausiblen theoretischen Rückhalt mit deutli‐ cher Praxisanwendung. Das theoretische Wissen um die Bedeutung prosodischer Einheiten, das ausgebildete Bewusstsein für den Unterschied von syntagmatischen und para‐ digmatischen Beziehungen in einer Äußerung im Vergleich zu anderen waren wichtige Voraussetzungen für erfolgreiches Arbeiten in der Übung zur Aus‐ sprache sowie der Übung zur Grammatik, die freitags im Sommersemester 1969 jeweils halbstündig um acht Uhr morgens (! ) von Professor Raasch an‐ geboten wurden. Beide Übungen fanden im neu eingerichteten Sprachlabor der Universität statt und dienten der Verbesserung der Sprachkompetenz der Studierenden. Zum besseren Verständnis dieses neuen Mediums erfolgte auf 31 Von der Angewandten Linguistik zur Sprachlehr-/ -lernforschung Anraten eines Kommilitonen der Kauf des gerade erschienenen Buches von Reinhold Freudenstein zum Unterrichtsmittel Sprachlabor. Grundlage der Übungen im Sprachlabor waren Sprachprogramme zur franzö‐ sischen Aussprache und Grammatik, die die Studierenden über Kopfhörer zuge‐ spielt bekamen und die sie autonom bearbeiten konnten. Einhilfe, Korrektur und gegebenenfalls klärende Hinweise der überwiegend nach dem traditionellen Muster des 4-Phasen Drills angelegten Übungssequenzen erfolgten zusätzlich durch Professor Raasch. Dieser nutzte die ruhige und konzentrierte Arbeitsatmosphäre im Sprach‐ labor auch für Informationen z. B. zu einzelnen Vortragsveranstaltungen der Deutsch-Französischen Gesellschaft-Kiel oder zu Hinweisen auf Begegnungs‐ programme des 1963 ins Leben gerufenen Deutsch-Französischen Jugendwerks. Es geschah im Anschluss an eine sensibel übermittelte sprachliche Korrektur, dass Albert Raasch mich auf ein Austauschprogramm für deutsche und franzö‐ sische Lehramtsstudierende aufmerksam machte. Mein Interesse war geweckt, und so konnte ich im Herbst 1969 zu einem vierwöchigen Studienaufenthalt an die Ecole Normale d’Instituteurs de Paris fahren. Vor der Abreise erhielt ich von Professor Raasch noch die Anregung, doch mit Professor André Martinet von der Sorbonne Kontakt aufzunehmen. Dass dieser sicherlich gut gemeinte Ratschlag angesichts der Schwierigkeiten, die allein das Verstehen des Buches von André Martinet mit der ungewohnten Terminologie mit sich brachte, von mir als Student im Anfangssemester eher zurückhaltend aufgenommen wurde, werden Kenner des linguistischen Strukturalismus verstehen. Aber im Verlauf des Aufenthaltes in Paris wurde mit der Hilfe der franzö‐ sischen Gasteltern schließlich ein Brief an Professor Martinet formuliert, in dem ich mit Bezugnahme auf die intensive Rezeption der „Grundzüge“ an der Universität Kiel um ein Interview bat. Dass ich auf meine schriftliche Anfrage wenig später zu einem Gespräch mit Professor Martinet in sein Haus in Sceaux eingeladen wurde und mit ihm ein dreiviertelstündiges Interview führen konnte, gehört zu den unerwarteten positiven Erfahrungen in meinem Leben. Im Gespräch äußerte er sich u. a. auf die Frage, welches die Kriterien seien, die einen Linguisten als Strukturalisten auszeichnen, wie folgt: Eh bien, à mon sens, c’est étymologiquement, si vous voulez, le fait de considérer qu’une langue est une structure, c’est-à-dire quelque chose où toutes les parties dépendent les unes des autres. Je pense que c’est ceci qui est fondamental, même si certaines écoles structuralistes comme les écoles bloomfieldiennes n’ont pas pris conscience aussi nettement que les écoles européennes de ce travail particulier du structuralisme. (Leupold 1970: 114) 32 Eynar Leupold 2 Nach dem Ruf von Albert Raasch an die Universität des Saarlandes im Jahr 1973 kam es dort zur Gründung der AALF-Saarbrücken. So sehr einerseits das Paradigma eines dem Strukturalismus verpflichteten linguistischen Ansatzes der Sprachbeschreibung dominierte, so deutlich zeich‐ neten sich andererseits durch die Arbeiten von Chomsky u. a. zur Transfor‐ mationsgrammatik neue Herausforderungen für den Unterricht ab. Und die Arbeiten zur linguistischen Pragmatik von Wunderlich, Austin und Searle beeinflussten Anfang der 1970-er Jahre zunehmend stärker die linguistische und fachdidaktische Reflexion. 3 Fachdidaktische Vertiefung in der „Arbeitsgruppe für Angewandte Linguistik-Kiel“ (AALF-Kiel) Das Referat im Seminar über den Inhalt des Interviews mit Professor Martinet führte nicht nur zu einem Proseminarschein, sondern die Transkription des Ge‐ sprächs wurde als Beitrag angenommen und erschien in der ersten Publikation der von Albert Raasch 1969 ins Leben gerufenen Arbeitsgruppe für Angewandte Linguistik Französisch-Kiel. Diese Kieler Arbeitsgruppe unter der Leitung von Professor Raasch setzte sich zusammen aus Studierenden der Romanistik, vornehmlich fortgeschrittener Semester, aus Referendarinnen und Referendaren sowie aus interessierten Lehrerinnen und Lehrern im Schuldienst. 2 Das gemeinsame Interesse galt der Frage, wie das Lehren und Lernen von Fremdsprachen - insbesondere des Französischen - wirksamer, vor allem unter Einbezug der Arbeiten der Angewandten Linguistik, erfolgen kann. Die Lehrveranstaltungen von Professor Raasch im Wintersemester 1969 / 1970 mit einem Seminar Einführung in die Angewandte Linguistik sowie An‐ gewandte Linguistik und Französischunterricht an Gymnasien und Realschulen führten durch Inhalte wie: • Analyse der gängigen Lehrwerke in den Bereichen Wortschatz, Phonetik und Grammatik • Möglichkeiten und Grenzen der Gestaltung von adäquaten Übungsse‐ quenzen für den Sprachunterricht • Analyse audio-visueller Sprachlernmethoden aus landeskundlicher (heute würde man sagen interkultureller) als auch linguistischer Perspek‐ tive sowie • Gestaltung und Einsatz von Tests als möglicher Form der Lernstandsdi‐ agnose 33 Von der Angewandten Linguistik zur Sprachlehr-/ -lernforschung 3 Eynar Leupold & Ursula Oehring (1978). La France, on y va! / Kommen Sie mit nach Deutschland? Bonn: Europa Union Verlag. 4 http: / / www.bild-documents.org/ . zu einer Profilierung fachdidaktischer Anliegen. Auch auf den wöchentlichen Zusammenkünften der AALF-Kiel wurden diese Forschungsanliegen intensiv diskutiert. Wochenendseminare und ein Arbeits- und Forschungsaufenthalt der Gruppe am CAVILAM (Centre Audiovisuel de Langues Modernes in Vichy; https: / / www.cavilam.com) erweiterten das Themen‐ spektrum vor allem im Hinblick auf einen Sprachunterricht mit spezifischen Voraussetzungen. Die konkrete Umsetzung theoretischer Überlegungen in ein Unterrichtsma‐ terial, das sowohl dem Stand der Fachdidaktik als auch Erkenntnissen der An‐ gewandten Linguistik Rechnung trug, wurde durch folgenden Umstand einge‐ leitet. Professor Raasch hatte einen Kontakt zu dem Leiter des Sprachenreferats des Deutsch-Französischen Jugendwerks, Dr. Fritz Kerndter. Diese Institution förderte nicht nur deutsch-französische Aktionen auf regionaler Ebene - so zwischen Schleswig-Holstein und Poitou-Charentes (1975/ 1976) -, sondern sie subventionierte auch deutsch-französische Jugendbegegnungen. Das besondere Interesse lag dabei auf der Sprachförderung während des Aufenthaltes. Da es weder eine adäquate pädagogische Methode der Sprachvermittlung gab noch Unterrichtsmaterial, das in seinem Inhalt auf das Alter der Jugendlichen und den zweisprachigen Kontext zugeschnitten war, stellten sich die Mitglieder der AALF-Kiel unter der Leitung von Professor Raasch dieser Herausforderung. Das Ergebnis war die spezifisch für diesen Kontext konzipierte Tandem-Methode. Sie zielte darauf ab, dass sich deutsche und französische Teilnehmer im Sprach‐ unterricht nebeneinandersetzen und sich gegenseitig beim Erlernen der Sprache des Nachbarn helfen. Damit wurde in Kiel ein Methodenansatz kreiert, der später auch in andere institutionelle Kontexte im Zusammenhang mit dem Sprachlehr- und -lernprozess aufgenommen wurde. Und es wurde Sprachmaterial in deutscher und französischer Sprache er‐ arbeitet, das jeweils zehn Lerneinheiten mit Übungen und Wortschatzliste sowie Hör- und Bildmaterial umfasste und das 1978 jeweils in deutscher und französischer Fassung unter den Titeln Kommen Sie mit nach Deutschland? und La France, on y va! veröffentlicht wurde. 3 Diese Methode und das Material wurden 1970 auf einer deutsch-franzö‐ sischen Begegnung mit zwei Schulklassen erprobt, bevor sie dann in den Folgejahren in deutsch-französischen Jugendbegegnungen, die vom Bureau International de Liaison et Documentation (B.I.L.D.) mit Unterstützung des DFJW durchgeführt wurden, zum Einsatz kamen. 4 34 Eynar Leupold 5 Eynar Leupold & Ursula Oehring (1978). La France, on y va ! Bonn: Europa Union Verlag, 8. An der Ausbildung der animateurs-interprêtes, die für die Spracharbeit während der Begegnungsaufenthalte verantwortlich waren, wurden immer auch Mitglieder der AALF-Kiel beteiligt, die die sprachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Prinzipien der Methode den künftigen Animateuren erklären und die auf diese Weise erste pädagogische Lehrerfahrungen sammeln konnten. In den Ausführungen zu den Grundlagen der Methode, die sich an Jugendliche zwischen 14 und 21 Jahren ohne Vorkenntnisse richtet, erfolgt eine konkrete Zielbeschreibung der Methode mit der Nennung folgender Grobziele: „Die Teilnehmer sollen in der Lage sein, • mündliche Äußerungen in der Fremdsprache zu verstehen, • Grundbedürfnisse (Fragen, Bitten etc.) in der Fremdsprache zu artiku‐ lieren, • über den Weg des Abbaus von Sprachhemmungen die Befangenheit gegenüber dem fremdsprachlichen Partner überwinden, • eventuelle vorhandene Vorurteile gegenüber dem Partner und dem Land abzubauen, • Partnerschaftliches Verhalten beim Lösen von Sprachschwierigkeiten zu zeigen, • Hilfsmittel wie Wörterbücher etc. zur Überwindung von Sprachschwie‐ rigkeiten zu benutzen.“ 5 In den Ausführungen zu den Funktionen der einzelnen Teile der Sprachmethode wird im Hinblick auf die Bedeutung der zu den Dialogtexten visuellen Darstel‐ lungen auf Klarsichtfolie ausgeführt, dass die visuelle Komponente unentbehr‐ lich sei, „weil sprachliches Handeln immer an Faktoren wie Ort und Zeit der Handlung, Rolle des Partners etc. gebunden ist.“ (Ebd., 9) Schon diese Liste der Grobziele zeigt, in welchem Maße in den 1970er Jahren Forschungserkenntnisse der linguistischen Pragmatik in die spezifisch fachdidaktische Arbeit der AALF-Kiel zur Verbesserung des Fremdsprachenun‐ terrichts eingeflossen sind. Die durch Albert Raasch initiierte Zusammenarbeit mit dem DFJW wurde komplementiert durch seine Arbeit für den Deutschen Volkshochschulverband. Das Wissen der Studierenden um die wegweisende Erarbeitung des VHS-Zer‐ tifikats für Französisch (1969) öffnete eine weitere Tür für Überlegungen zur Lernzielbestimmung im Fremdsprachenunterricht, die - konsequenterweise 35 Von der Angewandten Linguistik zur Sprachlehr-/ -lernforschung 6 Weitere Informationen unter http: / / neue.sprachenrat-saar.de. - auch in klar beschriebenen Abschlüssen mit dem entsprechenden Material mündeten. Die Einladung von Albert Raasch an Studierende zur beobachtenden oder aktiven Teilnahme an von ihm geleiteten Fortbildungsveranstaltungen für Lehrkräfte der Schulen oder Unterrichtenden an Volkshochschulen vermittelten den Studierenden oft einen nachhaltigen Eindruck davon, wie stark die Kluft zwischen dem unterrichtlichen Handeln in einem traditionellen Unterricht und einem Fremdsprachenvermittlungsprozess war, dessen fachdidaktische Orientierung nach Albert Raasch „in der Ermöglichung optimalen Lernens unter Berücksichtigung der spezifischen Bedingungen einer Lehr- / Lerngruppe im Hinblick auf eine reflektierte Lernzielsetzung (lag).“ (Raasch 1981: 46) 4 „Kontakte …Kontakte“ Im Kreis der Studierenden und Lehrenden, die aktiv und interessiert die Arbeiten von Albert Raasch verfolgten, machte meistens im Flüsterton, verbunden mit einem Augenzwinkern, das Wortpaar „Kontakte …Kontakte“ die Runde. Es war einerseits eine Anspielung auf den wiederholten Ratschlag von Albert Raasch an die Studierenden, Kontakte bei der Teilnahme an Fortbildungssemi‐ naren oder Kongressen zu Vortragenden, Zuhörerinnen und Zuhörern oder auch ausstellenden Verlagen zu knüpfen. Es war andererseits anerkennender Ausdruck für die Person, die diese Haltung bei vielfältigen Anlässen überzeu‐ gend vorlebte. Mit dem Schwerpunkt Deutsch-Französische Verständigung bildeten die ersten konzentrischen Kreise das lokale Engagement für die Deutsch-Französische Gesellschaft-Kiel sowie für die Städtepartnerschaft Kiel-Brest. Es wurde erwei‐ tert durch den Kontakt zum Deutsch-Französischen Jugendwerk. Die Arbeiten für den Deutschen Volkshochschulverband, die langjährige verantwortungsvolle Arbeit für die Gesellschaft für Angewandte Linguistik (GAL) sowie die intensive Mitwirkung an den Aktivitäten des Fachverbandes Moderne Fremdsprachen (FMF, später umbenannt in Gesamtverband Moderne Fremdsprachen GMF), waren den Schwerpunkten der Profilierung der Ange‐ wandten Linguistik sowie der Qualitätsverbesserung des fremdsprachlichen Lehrens und Lernens in unterschiedlichen institutionellen Kontexten gewidmet. Kontakte zu kulturellen Einrichtungen, zur Wirtschaft und zur Politik führten auf Initiative von Albert Raasch im Jahr 1991 zur beispielhaften Einrichtung des Sprachenrats Saar. 6 36 Eynar Leupold Kontakte mit der Absicht einer Netzwerkbildung, das war die Idee von Professor Raasch. Und die freundliche Aufforderung an die Studierenden, sich dieses Prinzip zu eigen zu machen, war deshalb überzeugend, weil sie durch stete Rückmeldungen ihres Professors zu institutionellen Entwicklungen sowie in dem Aufzeigen von Prozessen und Entscheidungen auf dem Gebiet der Sprachlehr-/ -lernforschung eingebunden waren. 5 Die Bedeutung fachdidaktischer Publikationen Nicht nur in den von Albert Raasch geleiteten Arbeitsgruppen und in seinen Hochschulseminaren wurde man als Studierender mit den aktuellen Erkennt‐ nissen im Bereich von Fachdidaktik und Angewandter Linguistik konfrontiert. Angesichts der Nichtexistenz des Internets kam den Fachzeitschriften und Kongresspublikationen eine große Bedeutung für das Verfolgen aktueller fach‐ didaktischer Diskussionsbeiträge und Forschungsbeiträge aus dem Bereich der Angewandten Linguistik zu. Die Zeitschrift Französisch, später Zielsprache Französisch, die Albert Raasch als Schriftleiter verantwortete, bot interessierten Studierenden erste Möglich‐ keiten zur Veröffentlichung eigener Forschungsergebnisse. Als Redaktionsmit‐ glied der Zeitschrift des FMF Neusprachliche Mitteilungen ermutigte Albert Raasch Studierende, sich mit einem Beitrag - sei es eine Buchrezension, sei es ein redaktioneller Beitrag - zu beteiligen und sich auf diese Weise in die fachdidaktische Diskussion einzubringen. Und mancher Student von Albert Raasch, der sich auf einem der Kongresse der Gesellschaft für Angewandte Linguistik mit einem Referat beteiligt hatte, fand seinen Sektionsbeitrag gedruckt als erste Veröffentlichung in einem der Kongressbände, an deren Zusammenstellung Albert Raasch als federführendes Mitglied des Publikationsausschusses der Gesellschaft für Angewandte Lingu‐ istik beteiligt war. SALUS, die Schriften zur Angewandten Linguistik und Sprachlehrforschung der Universität des Saarlandes führten diese in Kiel begründete Tradition universi‐ tärer Publikationen für eine interessierte Öffentlichkeit später im Saarland fort. 6 Abschließende Bemerkungen Von der ersten Publikation der AALF-Kiel unter studentischer Beteiligung mit dem Titel Angewandte Linguistik-Französisch im Jahre 1970 bis zu den Beiträgen des im Jahr 1999 von Albert Raasch & Peter Bühler herausgegebenen Bandes in der SALUS-Reihe mit dem Titel Angewandte Linguistik und Sprachlehrforschung: 37 Von der Angewandten Linguistik zur Sprachlehr-/ -lernforschung entdecken, erfahren, erleben spannt sich ein weiter Bogen. Aber das Interessen- und Spannungsfeld, in dem sich Albert Raasch bewegte und von dem hier nur einzelne Facetten beleuchtet werden konnten, war und ist bis heute unver‐ ändert. Es ging und geht immer um die wissenschaftliche Profilierung einer Disziplin mit der Perspektive einer Qualitätsverbesserung von fremdsprachli‐ chem Lehren und Lernen in unterschiedlichen institutionellen Kontexten. Es war für Lehramtsstudierende eine Chance, nicht nur die Entwicklung der fachdidaktischen Positionierung zu Beginn der 1970er Jahre bewusst miter‐ leben zu können, sondern auch die breite Diskussion um Veränderungen des Bildungswesens, wie sie z. B. durch die Veröffentlichung des vom Deutschen Bildungsrat erarbeiteten Strukturplans für das Bildungswesen (1970) ausgelöst wurde, zu verfolgen. Die Diskussion zum Verhältnis von Fremdsprachendidaktik, Angewandter Linguistik und Sprachlehrforschung sowie zu Aufgaben und Inhalten einer Fremdsprachendidaktik ist auch heute rege und folglich noch nicht abge‐ schlossen, wie die folgenden Aussagen zeigen. Nach Bausch, Melzer, Krumm, Krummhorn & Riemer (2016: 1) befasst sich „die Fremdsprachendidaktik schwerpunktmäßig mit dem schulischen Fremd‐ sprachenlernen (…). Im Gegensatz dazu „fokussiert die Sprachlehrforschung de‐ zidiert auch andere institutionelle Kontexte…“. Für Barbara Schmenk hingegen ist „die Aussage, dass FSD (Fremdsprachendidaktik, E.L.) zur Ausbildung von Lehrenden und zur Erforschung schulischen Fremdsprachenunterrichts diene, unzureichend. Sie tut mehr, ihr Gegenstandsbereich ist weiter gesteckt als die unmittelbare Anbindung an die Institution Schule erahnen läßt“. (Schmenk 2019: 17) Albert Raasch ist es mit seinen Arbeiten, seinem Interesse und seiner Offen‐ heit für das Lehren und Lernen von Fremdsprachen in ganz unterschiedlichen Kontexten immer gelungen, eine Personen und Positionen vermittelnde Hal‐ tung einzunehmen und anstelle einer Konfrontation zwischen Fremdsprachen‐ didaktik und Sprachlehr- und -lernforschung zugunsten einer Verknüpfung der Disziplinen zu plädieren. Dies gelang ihm auch deshalb, weil er sich - und auch das erfuhr man als junger Student sehr schnell - als Fachdidaktiker und Sprachlehr-/ -lernforscher einem interdisziplinären Ansatz verpflichtet fühlte, der in fine mit seinem zutiefst menschlichen Anliegen verbunden war, persön‐ lich einen substantiellen Beitrag zur deutsch-französischen Verständigung zu leisten. 38 Eynar Leupold Literatur AALF-Kiel (Hrsg.) (1970). Angewandte Linguistik - Französisch. Kiel. Bausch, K.-R., E. Burwitz-Melzer, H. J. Krumm, G. Mehlhorn & C. Riemer (62016). Fremdsprachendidaktik und Sprachlehr-/ -lernforschung. In: Burwitz-Melzer, E., G. Mehlhorn, C. Riemer, K.-R. Bausch & H. J. Krumm (Hrsg.). Handbuch Fremdsprachen‐ unterricht. Tübingen: Francke, 1-7. Cadéo, Alain (2015). Zoé. Paris : Mercure de France. Deutscher Bildungsrat (Hrsg.) (1979). Empfehlungen der Bildungskommission. Struktur‐ plan für das Deutsche Bildungswesen. Stuttgart: Klett. Freudenstein, Reinhold (1969). Unterrichtsmittel Sprachlabor. Technik, Methodik, Didaktik. Bochum: F. Kamp. Leupold, Eynar (1970). Interview mit Professor Martinet. In: AALF-Kiel (Hrsg.). Angewandte Linguistik - Französisch. Kiel, 103-113. Pessoa, Fernando (1985). Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares. Zürich: Amman Verlag, 49. Raasch, Albert (1981). Die Schlange und das Kaninchen. In: Kühlwein, W. & A. Raasch (Hrsg.). Sprache: Lehren - Lernen. Kongreßberichte der 11. Jahrestagung der Gesellschaft für Angewandte Linguistik GAL e. V. Darmstadt 1980. Band II. Tübingen: Narr. Raasch, Albert & Peter Bühler (Hrsg.) (1999). Angewandte Linguistik und Sprachlehrfor‐ schung: entdecken, erfahren, erleben. 25 Jahre Angewandte Linguistik und Sprachlehr‐ forschung Französisch an der Universität des Saarlandes. Saarbrücken: Romanistisches Institut. Schmenk, Barbara (2019). Zum Spannungsfeld der Fremdsprachendidaktik und ihrer Bezugswissenschaften. In: Wilden, E. & H. Rossa (Hrsg.). Fremdsprachenforschung als interdisziplinäres Projekt. Tübingen: Lang, 15-34. 39 Von der Angewandten Linguistik zur Sprachlehr-/ -lernforschung Albert Raasch und die Gründung der Gesellschaft für Angewandte Linguistik Wolfgang Kühlwein 1 Albert Raasch: Initiator der GAL e.V. 1.1 Vorbemerkung und ein caveat zur frühen Quellenlage Ein Zufall ist es nicht, wohl aber eine u. E. durchaus begründete Koinzidenz: Albert Raasch 90 und die deutsche Gründung einer [sprich: ‚der‘] Gesellschaft für Angewandte Linguistik (GAL e. V.) mit deren nunmehr fast aufs Jahr genau 50-jährigem Gründungsjubiläum. Indes: war deren Gründung - mit Raasch als einem der amtsgerichtlich in Kiel eingetragenen Gründungsväter - so total neu? Was war da wissenschaftshistorisch geschehen, das nach über mehr als zwei Jahrtausenden von Reflektion über Sprache Anwendungen dieses ‚Studiums‘ geradezu als einen Hype erzeugt haben mag - nun subsumiert unter der Be‐ zeichnung Angewandte Linguistik (Kap. 2)? Und damit sind wir auch schon beim Erzeuger: Albert Raasch. Wir konzedieren heute: weitere Co-Väter kommen in Betracht, denen indes Albert Raasch verbunden war, ist und bleibt. Sie weisen uns noch heute - von ihm aktualisierte - Wege (Kap. 3). Die Quellenlage für die Gründungsphase der GAL und mithin auch für deren Anteil von Albert Raasch als Mitbegründer ist u. E. nicht übermäßig ergiebig. Auch die Websites der diversen nationalen angewandt-linguistischen Gesellschaften konzentrieren sich - verständlicherweise - eher auf gegenwär‐ tige Aktivitäten und Zukunftsprojektionen, weniger auf die früheste eigene Historie. Für diese erste Phase sind da frühe Protokolle, maschinenschriftlich nur, allenfalls noch als limitierte Xerox-Kopien; da sind die frühesten damaligen Co-Akteure als Zeitzeugen - insoweit sie noch unter uns weilen; da sind allenfalls noch Zeitzeugen aus der damals ‚zweiten Reihe‘, mithin damalige frühere jüngere Mitarbeiter der ersten Akteure, die in das Gründungsgeschehen eingebunden waren - wie auch der Verfasser als mit Albert Raasch für die GAL-Gründung in Kiel gerichtlich Eingetragener. Erst ab dem Kongressbericht der 2. Jahrestagung der Gesellschaft für An‐ gewandte Linguistik GAL e.V. ( Julius Groos Verlag, Heidelberg 1971) liegen nachvollziehbar erste Print-Veröffentlichungen vor, mithin erstmals für den Kongress vom 9.-10. Oktober 1970 in Stuttgart - als Sonderband der Zeitschrift IRAL (= International Review of Applied Linguistics) - wie auch die Kon‐ gressberichte folgender Jahre in gleicher IRAL-Sonderband-Reihe. Dieser erste Kongressbericht war - wie auch ihm folgende Kongressberichte der nächsten Jahre - sehr selektiv: Für 1970 nahm er (Kurz-)Fassungen von nur 38 von 100 Präsentationen auf. Für die vorliegende Würdigung indes bedeutsam: Im Vorwort schreiben die beiden Vorsitzenden, also auch unser Jubilar Albert Raasch, richtungweisend: Die ausgewählten Beiträge sollen aufmerksam machen auf die intensiven Bestrebungen deutscher Kollegen in Theorie und Praxis, den Rückstand auf dem Gebiete der Angewandten Linguistik gegenüber einem großen Teil des Auslandes [Kursivierung durch den Verfassser] abzubauen. [Vorwort, S. 4]. 1.2 Erste Akteure und Aktionen Da versammelten sich nach einem am 15. Juni 1968 in Hannover stattgefun‐ denen, vorbereitenden Gespräch am 2. November 1968 mit unserem Jubilar Al‐ bert Raasch 18 „Gleichgesinnte“, als welche man sie heute bezeichnen würde, im Leo-Raeppel-Saal des Internationalen Hauses Sonnenberg bei St. Andreasberg / Harz zwecks Gründung einer deutschen Gesellschaft für Angewandte Linguistik (GAL e. V.). Damals Namen, von denen manche noch nicht fachbekannt waren, manche es aber qua Entwicklung der Angewandten Linguistik zu weltweit anerkannter Reputation bringen sollten. So 1968 mit Albert Raasch, Dr. Korbi‐ nian Braun (München), Prof. Dr. Broder Carstensen (Anglistischer Linguist, Universität Hamburg), Dr. Ulrich Engel (Mannheim - Institut für Deutsche Sprache, IDS), Dr. Hubert Flitner (Hannover), Dr. Reinhold Freudenstein (Mar‐ burg; Vorreiter des sprachlabor-unterstützten Fremdsprachenlernens), Gerhard Kaufmann (München), Dr. Rolf-Dietrich Keil (Euskirchen), Helmut Keiner (Berenbostel), Dr. Gerhard Müller (Berlin), Dietrich Nehls (Wiss. Mitarbeiter An‐ glistik, Universität Kiel; fertigte das Protokoll eben dieser Sitzung, unterzeichnet von den drei in eben dieser Sitzung bereits als GAL-Vorstand Gewählten), Prof. Dr. Gerhard Nickel (Englische Sprachwissenschaft, Universität Kiel), Norbert Nowacek (Kaufbeuren), Hans-Eberhard Piepho (Schulrektor Hannover, später Professor für Didaktik des Englischen, Universität Gießen), Elfriede Roeske (Göttingen; später langjährige Vorsitzende des GAL-Nominierungsaus‐ schusses), Josef Rohrer (Euskirchen), Dr. Alexander Schüssler (Gießen), Artur 42 Wolfgang Kühlwein Weber (Heidelberg), Prof. Dr. Wolfram Wilß (Leiter des Institutes für Übersetzen und Dolmetschen der Universität des Saarlandes, Saarbrücken.) Und nicht unwichtig für das Gedeihen der jungen Gesellschaft: Grüße / Wünsche hatten entsandt, da zwar bei der o. a. Vorbesprechung in Hannover auf nationaler Ebene nicht zugegen und vor allem nicht beschränkt auf ‚Fremdspra‐ chen für deutsch-sprechende Muttersprachler‘, sondern fachlich weiträumig ausgreifend: Hans Eggers, Hans-Wilhelm Klein und Hugo Steger. Indes war für die risikoreiche Zukunft der GAL die Begrüßung internationaler Gäste ungemein bedeutsamer, so Prof. Dr. S. Pit Corder (Edinburgh), Prof. Max Gorosch (Stockholm), Sven Nord (vom Europarat Straßburg), und gerade für den Jubilar dieser Festschrift als angewandter Kollege besonders bedeutsam: Prof. Bernard Pottier (Paris). Ein Vorstand musste her, um handlungsfähig zu werden. Also wurden gewählt: als 1. Vorsitzender Gerhard Nickel (Anglist Kiel), als 2. Vorsitzender Albert Raasch (Romanist Kiel) und als Schatzmeister Hans-Eberhard Piepho (Hannover, schulpraktische Welt). Zwei Fragen bleiben aus heutiger Sicht: a. weshalb diese Reihenfolge und b. weshalb beide Vorsitzenden aus Kiel - waren doch alle Landesteile der damaligen Bundesrepublik Deutschland in der Versammlung vertreten? Zu (a): Im Jahre 1968, d. h. wenig länger als 20 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkrieges, während dessen - sowie zudem noch zwölf Jahre vorher - Deutschland - und mithin auch dessen Wissenschaft - von den einschlägigen Entwicklungen auf Weltebene weitgehend abgeschottet war. Nach 1945 fand dann eine allmähliche Öffnung des damaligen Westdeutschland - besonders hin zu den angelsächsischen Ländern, besonders eben zu den Vereinigten Staaten als den Befreiern von der Diktatur - statt, und dies auf allen (nicht) nur sprachlichen Ebenen - vom Unterrock, der zum Petticoat wurde, bis zur Absorbierung (und bald auch Weiterentwicklung) neuerer (sprach)wissenschaftlicher Theorien- und Methodeninstrumentarien vorwiegend angelsächsischer Provenienz. Dies mag eine Rolle gespielt haben für die im Jahre 1968 gewählte Stufung (Anglist Nr. 1: Nickel; Romanist als Nr. 2: Raasch). Indes: Aus der frühesten Auf‐ zeichnung dieser ersten Versammlung von 1968 geht zweifelsfrei hervor, dass nach diesbezüglicher Diskussion die Reihenfolge 1. versus 2. Vorsitzender keine Abstufung bedeute (à la 2. Vorsitzender = Führung der Geschäftsstelle), sondern dass der 2. Vorsitzende stets die Funktion des 1. Vorsitzenden ausüben könne. Und eben dies hat die GAL bei etlichen späteren Mitgliederversammlungen qua gelegentlichen Ausfalls des 1. Vorsitzenden für die Versammlungsleitung auch 43 Albert Raasch und die Gründung der Gesellschaft für Angewandte Linguistik so erlebt. Dies mag einer der Gründe sein, die Albert Raasch dazu bewegten, diese Vorstandsfunktion zusammen mit seinem ersten Co-Vorsitzenden sowie eben auch mit folgenden GAL-Co-Vorständen länger ausgeübt zu haben als u.W. irgendein anderes Vorstandmitglied jemals. Zu (b): Beide Vorsitzenden von der Christian-Albrechts-Universität KIEL! Auch dies erklärt nur ein kurzer Rückblick - hier nicht auf die übergreifende politische Lage 1968, sondern beschränkt auf unsere sprachwissenschaftliche Historie, wie sie damals bestand. Für die meisten Universitäten galt: Die Beschäftigung mit dem Prüfungs‐ geschehen im Teil-Prüfungsfach Sprachwissenschaft in den Einzelphilologien konzentrierte sich auf die Mediävistik, mithin außer Literatur auf die Herleitung der betreffenden heutigen Sprache aus deren Vorgängerstadien, also dem Altfranzösischen, dem Althochdeutschen und dem Altenglischen über das Mittel‐ alter bis heute - und dies oft fast ausschließlich bezogen auf die Lautentwick‐ lung; kaum Syntax, geschweige denn Semantik. Genauer: isolativ und nicht qua System und übergreifender Struktur, um ein einzelnes Phänomen qua seines Stellenwertes (valeur) einordnen zu können. Dagegen agierte damals bald die Universität Kiel: Sie wagte es, vergleichs‐ weise junge Professoren auf Lehrstühle zu berufen (damals noch Ordinarien genannt), von denen bekannt war, dass sie sich neueren und bislang eben noch wenig bekannten, geschweige denn vorherrschenden Strömungen der Sprachwissenschaft öffneten. In Kiel waren sich da offenbar mehrere Philolo‐ gien einig (mit Ausnahme vermutlich der damaligen Nordistik). Somit kamen an EINEM Ort zusammen: die Germanistik mit Hugo Steger, die Anglistik mit Gerhard Nickel, die Romanistik mit Klaus Heger und Albert Raasch, sogar die Vergleichende Sprachwissenschaft mit Werner Winter. Obschon alle Genannten qua Ausbildung primär traditionelle Sprachwissenschaftler waren, waren sie doch vergleichsweise offen für eine Linguistik neuerer Prägung - und sogar bis zu einem gewissen Grad offen für anwendungsorientiertes Tun. Und bei Albert Raasch - in der Romanistik der Kieler Universität lehrend und forschend - kam diesbezüglich für die Anwendung verstärkend hinzu: Seine universitäre Tätigkeit verband er mit seiner Berufung in den Lehrkörper der Kieler Pädagogischen Hochschule. Ein neues philologisches Fach Französisch an der PH! Auch dort wurde erwartet: französische Sprachpraxis natürlich, doch auch möglichst universitätsnahes Tun, sprich französische Literatur, französi‐ sche Sprachgeschichte. Jedoch begann seine erste Aktivität dort, obwohl es noch so gut wie keine Studierenden des 1. Semesters für das neugegründete Fach gab, mit einem - damals noch sehr ungewöhnlich(! ) - angewandt-linguistischen Forschungsprojekt. 44 Wolfgang Kühlwein Zurück zum GAL-Gründungsgeschehen 1968ff: Außer dem Vorstand wurde gleichzeitig auch ein Beirat gewählt. Dieser sollte und ist auch heute immer noch fachbezogen. Seine Funktion hat sich über Jahrzehnte bislang hervorragend bewährt: Beratung für den Vorstand sowie am Puls der Zeit bleibend für die jeweiligen Teildisziplinen / ‚Fachbereiche‘, wie sie damals genannt wurden. Die von den GAL-Gründern vor einem halben Jahrhundert exhaustiv reprä‐ sentierten Teildisziplinen / Sektionen erweiterten sich nach 1968 erheblich - bis hin zur Entwicklung eigenständiger Fachverbände und Studienfächer. Kaum aber verweist deren Historie auf deren Mutter, die GAL von 1968, zurück. 1968 waren diese Sektionen noch beschränkt auf: • Pädagogische Technologie (Dr. Reinhold Freudenstein) • Theorie der Übersetzung (Prof. Dr. Wolfram Wilß) • Didaktik des Fremdsprachenunterrichts (Dr. Alexander Schüßler) • Erforschung der deutschen Gegenwartssprache (Gerhard Kaufmann) • Psycholinguistik (Prof. Dr. Carl-Friedrich Graumann) • Linguistik (Prof. Dr. Broder Carstensen) • Sprachtests (Robert Nowacek) • Maschinelle Sprachanalyse (Prof. Dr. Hans Eggers). Ein u. E. guter Anfang, der denn auch eine sofortige politische Anerkennung und wissenschaftlich internationale Würdigung erfahren sollte. So fand bereits die Arbeitstagung (noch nicht Jahreskongress genannt) und 1. Ordentliche Mitgliederversammlung - vom 28.-30. November 1969 an der Universität Stuttgart unter der Schirmherrschaft und mit Begrüßung durch den damaligen Kultusminister Baden-Württemberg, Prof. Dr. Wilhelm Hahn, und Empfang seitens des Oberbürgermeisters der Stadt Stuttgart, Dr. Johannes Klett, sowie einem Hauptvortrag von Prof. Dr. Robert Lado (Georgetown University / Washington D.C.) als Festredner zum Thema Language, Thought, and Meaning in Language Teaching sowie mit Sektionsbeiträgen von u. a. Sir James Pitman (K.B.E., London), Prof. Dr. Peter Strevens (University of Essex, Colchester), Dr. David Crystal (University of Reading), Prof. Dr. Bertil Malmberg (Universität Lund) statt. So auch die Arbeitstagung und 2. Ordentliche Mitgliederversammlung vom 9./ 10. Oktober 1970, die ebenfalls an der Universität Stuttgart abgehalten wurde. Für sie hatte die damalige Staatssekretärin Dr. Hildegard Hamm-Brücher die Schirmherrschaft übernommen. Die Association Internationale de Linguistique Appliquée (AILA) (s. u.) ließ ihre Wünsche durch ihren damaligen Generalse‐ kretär Prof. Dr. Max Gorosch förmlich übermitteln. Prof. Dr. S. Pit Corder (University of Edinburgh und Präsident der British Association of Applied 45 Albert Raasch und die Gründung der Gesellschaft für Angewandte Linguistik Linguistics (BAAL)) hielt den Plenarvortrag zum damals noch sehr neuen Feld Fehleranalyse. Und auch die Programme der Sektionen erfreuten sich bereits erheblicher internationaler Beteiligung, so. u. a. durch Referenten aus Belgien, Frankreich, Großbritannien, Schweden, Ungarn - und natürlich war auch unser Jubilar Albert Raasch aktiv vertreten, so u. a. in einem von C. Graumann geleiteten Rundgespräch zu Sprachpsychologischen Problemen in der Curriculum-Forschung. Indes, für eine auf alle einzelnen, damals mit Albert Raasch gegründeten Sektionen und deren damaliger Legitimation eingehende Erörterung zu ihrem Für und Wider ist diese Stelle wohl nicht der geeignete Ort. Manche Sektionen benannten sich um, manche kamen neu hinzu, ja sind inzwischen eigene neue Fächer geworden. Daher sei hier nur aus den ersten Arbeitstagungen 1969 ff sowie Gesprächen des Verfassers mit den ersten Akteuren sowie den ersten Tagungsprogrammen und -protokollen stichwortartig festgehalten: • Bereits 1970 weitete sich Pädagogische Technologie vorausschauend zu Technologie und Medienverbund, die Sektion Theorie der Übersetzung entwickelte sich umgehend über die Theorie(n) hinaus und nannte sich umfassender Übersetzungswissenschaft. Die Sektion Erforschung der deutschen Gegenwartssprache verstand sich nun bereits als deutlich breiter aufgestellt und wurde in der 2. Ordentlichen Mitgliederversamm‐ lung fusioniert mit der Sektion Linguistik und firmierte mithin nun unter dem Titel Beschreibung der Gegenwartssprachen / Linguistik und nahm bereits regionale und soziale Varietäten mit deren Einflüssen auf den Sprachunterricht in den Blick. • Neu konstituierten sich bereits 1970 die Sektionen Phonetik sowie Sprach‐ heilkunde zu denen zwei Jahre später die Neugründungen Kontrastive Linguistik und Fehleranalyse und Stilforschung und Rhetorik kamen, und die Sektion Psycholinguistik wurde zu der Sektion Soziolinguistik / Psy‐ cholinguistik erweitert. Ein genauerer Blick ist u. E. indes angebracht zur Gründung der damaligen Sektion Linguistik. Die Frage aus gegenwärtiger Sicht ist dabei die folgende: Sahen Albert Raasch und seine GAL-Mitbegründer Linguistik als „Sektion“ der - jedenfalls für Deutschland von ihnen gegründeten - ,Angewandten‘ Linguistik an? Diese Frage wäre im Jahre 1968 womöglich - trotz zeitbedingt wohl unab‐ weisbarer aktueller Trends zum Nachholen in der sprachwissenschaftlichen Theorien- und Methodenbildung - doch wohl eher mit einem deutlichen Nein zu beantworten gewesen. Die frühen „Angewandten“ waren sich u. E. sehr wohl 46 Wolfgang Kühlwein des Umstandes bewusst, dass es ohne eine aktuell begründete, theoretisch-lingu‐ istische Komponente auch keine verantwortbaren Anwendungen geben könne. Und angesichts der erstaunlichen Zahl von 700 Teilnehmern, die den 2. Jahreskongress der GAL besuchten, ergibt sich die Frage: Weshalb solch ein - in heutiger Terminologie - Hype? 2 Das Fundament von Albert Raasch als Gründer: über zwei Jahrtausende Man kann nicht umhin, für eine (vielleicht die) Antwort hierauf auf die oben zitierte Aussage von Albert Raasch vom GAL-Kongressbericht 1970 zu rekur‐ rieren: Rückstand aufholen! Diese seine Diagnose der Zeit um 1970 war in zweifacher Weise berechtigt. 2.1 GAL - AILA Albert Raasch ging es wohl um die Angewandte Linguistik. Gerade auch er wusste qua seines Lebenslaufs jedoch, dass Anwendung ohne Theorie ein Salto Mortale sein würde. So empfanden dies - vor Deutschland - zu Beginn der 1960er Jahre bereits andere Europäer. Ergo: Im Jahre 1964 wurde in Nancy (Frankreich) eine Organisation namens Association Internationale de Linguis‐ tique Appliquée (AILA) gegründet. Weltumfassend wollte sie sein und ist es ja denn auch geradezu exorbitant schnell geworden. Vorbereitet worden war sie von Antoine Culioli und Guy Capelle, also von romanistischen Kollegen unseres Jubilars. Ziel dieser Weltorganisation war und ist es, die wissenschaftliche Öffentlichkeit für die Angewandte Linguistik zu sensibilisieren und diese zu fördern. Dies geschah mit großartigem Erfolg: Bereits 1969 - mithin erst wenige Monate nach der Gründung der GAL - umfasste diese internationale Dachor‐ ganisation AILA bereits 28 Mitglieder, d. h. nationale Tochterorganisationen (sogenannte national affiliates) als jeweilige Repräsentantinnen ihres jeweiligen Landes / Staates. Nun, wie oben qua Albert Raasch angedeutet: Fraglos hatte Deutschland einen Nachholbedarf in Angewandter Linguistik. Diesen aber weitgehend eben nur wegen eines gleichermaßen dringlichen Desiderates in dem Feld, das man um 1968 Moderne Linguistik nannte, d. h. Theoretische Linguistik (Kap. 2.2.1). Ein bloß ein Jahrhundert zurückreichender Blick beantwortet die oben ge‐ stellte Frage „Ist die Theoretische Linguistik ein Teil der Angewandten Linguistik? somit wohl mit einem Nein. Ein über zwei Jahrtausende zurückreichender Blick hingegen beantwortetet sie - wenngleich nicht uneingeschränkt - mit einem 47 Albert Raasch und die Gründung der Gesellschaft für Angewandte Linguistik Ja, so doch zumindest begründet mit einem Jein bzw. doch mit einem eher überwiegenden Ja (Kap. 2.2.2). 2.2 Theorie contra (? ) Anwendung 2.2.1 Strukturalismus und Generativismus als Nachholbedarf Die Komparativisten, die (Post-)Humboldtianer (bis zur Weltanschauungsthe‐ orie von Sprache) sowie die Zweige der sogenannten Psychologie der Sprache (vs. spätere Psycholinguistik) bis zur (strittigen) sogenannten Völkerpsychologie reichend, die positivistischen Junggrammatiker (Neogrammarians) waren als Erbe des späten 18. und vor allem des 19. Jahrhunderts zur Kenntnis genommen worden und dominierten die Philologien. Indes: Was sollte man mit den gesam‐ melten Daten dieser Bemühungen anfangen, wie sollte man sie interpretieren? Dafür versuchten linguistische Schulen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts - also in etwa bis zur Gründung der GAL - Antworten zu geben. Ohne die jüngere Geschichte der Linguistik zu rekapitulieren, hier nachfolgend nur sogennante ‚Schulen‘, bzw. deren Schwerpunkte, die sich 1968 ff. die Angewandte Linguistik - im Rahmen damals angenommener Möglichkeiten - zunutze zu machen vermochte. Da waren, ohne Vollständigkeit zu beanspruchen: • Der heute üblicherweise als Vater - aus unserer Sicht eher als Großvater - des Strukturalismus bezeichnete Ferdinand de Saussure (1857-1913) mit seiner Genfer Schule sowie in Paris mit der parole, mithin auch gesprochener / geschriebener Sprache versus der langue und ihrer jewei‐ ligen Struktur, innerhalb derer jedes einzelne Element eines Systems seinen Stellenwert (valeur) erst bestimmen kann - sei es z. B. ein Laut im phonetischen System, sei es ein Lexem im semantischen System einer Sprache -, zudem mit Sprache als organisiertem System mit sozialer Funktion und mit auf Oppositionen beruhenden sprachlichen Systemen. Dabei ist das Erbe von Beaudouin de Courtenay (1945-1929) und dessen früher Kazaner Schule spürbar. • Die Prager Schule um und nach Roman Jakobson (später Harvard / USA), N. Trubetzkoy, V. Mathesius u. a. mit ihrer Betonung sprachenspezifischer Phonologie und dann auch der Morphonologie, der Sprache als Kommu‐ nikationsinstrument. • Die Kopenhagener Schule der Glossematik von, um und nach Viggo Broendal und Louis Hjelmslev, in der Logik und Grammatik verbunden wurden, die aber sprachübergreifend auf die allgemeine Semiotizität von Zeichen ausgriff. 48 Wolfgang Kühlwein • Da waren auch und nicht zuletzt die diversen Ausdifferenzierungen US-amerikanischer Richtungen des Strukturalismus, so die YALE-Schule um Leonard Bloomfield, in deren Rahmen auf der Basis des Behaviorismus analytische Deskriptionsinstrumentarien für Sprachstruktur geschaffen wurden - allerdings um den Preis der semantischen Dimension. Der Nachdruck lag hier indes auf Deskription statt Präskription. • Dagegen aber auch die von Edward Sapir und Benjamin Lee Whorf begründete anthropologische Richtung, die über den innersprachlich ana‐ lysierbaren Distributionalismus auf die Dimension der Wahrnehmung ausgriff: Sprache bedinge das Denken und dieses die Wahrnehmung der Wirklichkeit. • Sodann die Generative Transformationsgrammatik mit ihrem Begründer Noam Chomsky. Erwachsen aus der YALE-Tradition von Zellig Sabbettai Harris griff er jedoch bereits in seinen Syntactic Structures (1957) über Sprache als ergon, also eines Strukturwesens, beschreibbar im hier und jetzt, hinaus und orientierte sich hin zu Sprache als energeia, mithin auf das Werden grammatischer Strukturen bezüglich deren logischer Organi‐ sation - unterstützt von Chomskys Herkunftsdisziplin, der Mathematik. • Da war - in späteren Übersichten oft vergessen - auch die Britische Schule des Kontextualismus von und nach John Rupert Firth. Begründet auf der weltweit vergleichenden Anthropologie / Ethnologie (als Ver‐ treter z. B. Malinowski (1986) oder Mead) wurde bereits erkannt, wie Sprachäußerungen vom verbalen, weiter physischen und noch weiter vom kulturellen Kontext abhängig sein mögen. Im Ergebnis stellte M.A.K. Halliday Sapir und Whorf auf den Kopf qua seiner Soziosemiotik, gemäß derer die sozial bedingte Wahrnehmung der Wirklichkeit das Denken und dieses erst dessen sprachlichen Ausdruck bestimme. Fazit bis hier: Das oben zitierte Nachholen und Weiterentwickeln dieser theo‐ retisch-linguistischen Ansätze ist unbestreitbar gelungen. Gilt dies indes auch für deren Anwendung(en)? Man muss konzedieren: Für Anwendung - in welchen der eingangs für die GAL-Gründung genannten Fachbereiche bzw. Sektionen auch immer - waren die o. a. bahnbrechenden Errungenschaften keineswegs konstitutiver Impuls, noch waren sie Forschungsziele. Dennoch zeitigten sie bei Anwendern, die sich wohlmeinend und oft mühsam mit den strukturalistischen, und also neuen Modellen vertraut gemacht hatten, bedingte Erfolge. Diese zeigten sich etwa: 49 Albert Raasch und die Gründung der Gesellschaft für Angewandte Linguistik • in dem auf die Wandtafel projizierten oder an diese geschriebenen Viereck des Vokaldiagramms für den Fremdsprachenunterricht für 12-jährige Lerner oder • im generativ-transformationellen Stammbaum für den Wechsel eines Aktivin einen Passivsatz beim Lernziel für 13-jährige Lerner. Dies alles war wohl fortschrittlich und gut gemeint gewesen, aber aus heutiger angewandter Sicht gilt wohl eher: Die Theoretische Linguistik gehört in die Küche des Kochs, nicht aber auf den Teller des Kellners! Der Ansatz Theorie contra Anwendung war also wohl kein wirklicher Fort‐ schritt. Dessen war sich sehr früh unser Jubilar bewusst - in Jahrtausende währender Tradition! 2.2.2 2000 und mehr Jahre Anwendung Setzen wir nun die kurze Periode von der Mitte des 19. Jahrhunderts zur Mitte des 20. Jahrhunderts (wie oben in 2.2.1.) in ihren sprachwissenschafts‐ historischen Rahmen, dann fällt auf, dass die Schulen dieses Zeitabschnitts sich sprachbezüglich um Erkenntnis um der Erkenntnis selbst willen bemüht hatten. M.a.W. war der Forschungsgegenstand ‚Sprache‘ identisch mit dem Forschungsziel ‚Sprache‘, genauer also mit dessen Methoden zu seiner Analyse und Beschreibung. Dies geschah im Gegensatz zu langwährender Tradition. Für diese war Anwendung durchaus oft extralinguistisch konstitutiv, sowie häufig auch finalisierend. So - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - etwa: • Sehr früh die Indische grammatische Schule von Panini (ca. 4. Jh. v. Chr.) und dessen Nachfolger: Sprache als System wurde erfasst mit Erkennt‐ nissen, die (mor)phonologisch erst das 19. Jahrhundert wiederentdeckte. Dies indes mit dem konstitutiven Forschungsziel, die Gesetzmäßigkeiten der alten Vedatexte des Sanskrit festzuhalten - ein religiös bedingtes Forschungsziel also. • Im antiken Griechenland fragte man sich, ob die Welt chaos oder cosmos sei. Ein Schlüssel zur Antwort sei Sprache gewesen, ist Sprache ja doch Teil der Wirklichkeit. Was mithin für Sprache als pars pro toto gelten mag, konnte auf die gesamte Wirklichkeit generalisiert werden. Die Beschäftigung mit Sprache musste somit als Test herhalten: Ist die Beziehung zwischen Laut und Bedeutung willkürlich (arbitrary), also von zwischenmenschlicher Konvention abhängig (so die sogenannten Ano‐ malisten) oder ist sie natur- und damit göttergegeben (so die sogenannten Analogisten)? Konstitutiv für die sprachwissenschaftliche Reflexion war 50 Wolfgang Kühlwein mithin ein angewandtes Ziel: Es war philosophischer und übergreifend sogar theologischer Natur. • Die frühen arabischen Schulen: Ihnen ging es bei allen strukturellen linguistischen Erkenntnissen letztlich nicht um Erkenntnis um ihrer selbst willen, sondern ganz gezielt um den Fremdsprachenunterricht für Angehörige unterjochter Gruppen, denen man die Lektüre des Koran ermöglichen wollte, der in andere Sprachen halt nicht übersetzt werden durfte. Konstitutiv und hier auch klar finalisierend war wieder ein angewandtes Ziel linguistischen Tuns. • Das Mittelalter Europas: Neben einer Betonung des Verhältnisses zwi‐ schen Grammatik und Logik war hier die Stufung philologia ancilla theologiae von Bedeutung, und mithin auch hier wieder ein der Religion dienendes, angewandtes Ziel. • Die Entwicklung der Philologien von der zweiten Hälfte des 17. Jahrhun‐ derts bis zu den Komparativisten und Junggrammatikern des 19. Jahrhun‐ derts war letztlich gleichermaßen angewandt motiviert. Die Erkundung und Beschreibung von Sprachen außerhalb der eigenen Sprache sowie des Griechischen und Lateinischen lieferte zwar ein nicht überschätzbares Fundament für deren historische sowie synchrone Analysen mittels der theoretisch-methodischen Instrumentarien der gegenwärtigen Lin‐ guistik. Indes waren diesen übergeordnete, angewandte Interessen der Auslöser für jene bahnbrechenden sprachwissenschaftlichen Erkennt‐ nisse: Wo stehe ich mit meiner Sprache, meinem Denken, meiner Kultur im Verhältnis zu anderen? Verstärkt durch die Romantik ergab sich beispielsweise auch die Frage: Was sagt mir die nunmehr thematisierte Geschichte meiner Sprache über meine sprachlich-kulturellen Wurzeln? 3 Albert Raasch: frühe Schwerpunkte und Wegweisungen für heute Wer sich des Titels dieser Festschrift bewusst ist und mit der Biobibliographie des Jubilars einigermaßen vertraut ist, wird (kritisch) erkannt haben, dass die Absätze 1 und 2 dieses Beitrages in ihrer Auswahl auf Anwendungen die Arbeiten von Albert Raasch bereits im Blick hatten. Mit seiner vorangehend nur knapp umrissenen angewandten Tradition verbinden ihn - wie auch aus seinem sehr umfänglichen Schrifttum gut ent‐ nehmbar - insbesondere: • Die Sprachwissenschaft als Schlüssel zu Kulturen und deren Interaktion, so für den deutsch-französischen Grenzraum seines Saarbrücker Wir‐ 51 Albert Raasch und die Gründung der Gesellschaft für Angewandte Linguistik kungskreises als Ordentlicher Professor an der Universität des Saarlands von 1973 bis 1999. Somit war als konstitutives Element seiner Forschung das grenzübergreifende Verstehen ein finalisierendes Element. Als Hand‐ lungsanweisungen dieses konstituierenden Ziels als dessen präzisierende Finalisierung ergaben sich konkret vorgeschlagene Verbesserungen des Fremdsprachenunterrichts. • Die Sprachwissenschaft als ancilla der Politik - so Deutschland, ins‐ besondere sein Saarland, und dessen westliche Nachbarn sowie auch (damals noch selten! ) dessen östliche Nachbarn, besonders Polen, als konstituierender Auslöser seiner Arbeiten mit konkret finalisierenden Handlungszielen und -materialien innerhalb der Fremdsprachendidaktik. • Die Sprachwissenschaft als Kern für weiterreichende, anzustrebende interkulturelle Kompetenz, stets wieder in konkrete sprachdidaktische Handlungsanweisungen als Finalisierung mündend. • Die Betonung des Altersparameters der Lernenden, so insbesondere sein für viele Seminare, Vorträge und Publikationen konstituierendes angewandtes Element: ‚Spezifika des Erlernens einer Fremdsprache als Erwachsene‘, die zu stets wieder konkreten Anweisungen für einen derart differenzierten Fremdsprachenunterricht führten, dessen es so noch ermangelt(e). • Ein auch bildungspolitisch durchgängiges Plädoyer für die Angewandte Linguistik in ihrem derzeitigen und erstrebenswerten Verhältnis zur Theoretischen Linguistik. Allein in diesem Kontext agierte er als Co-Autor - meist aber als Co-Editor - mit dem Verfasser in circa zehn Buchpublikationen, meist mehrbändigen GAL-Kongressberichten. Fazit: Albert Raasch weist Anwendungs-Wege - dies aber nicht im Sinne direkter Projektionen theoretischer Linguistik ins Klassenzimmer oder auf den Computer. Sein sprachwissenschaftliches Tun war und ist vielmehr stets geleitet von einem jeweils gesellschaftsrelevanten Problem als konstitutiver Motiva‐ tion, sondierte dann die aktuell von linguistischen Theorien bereitgestellten Instrumente bezüglich deren Tauglichkeit zur Handhabung des jeweiligen Problems und führte qua bereitgestellter, ausgewählter Theorien zu konkreter Finalisierung, d. h. zu nachvollziehbaren Handlungsanweisungen. Ergo: die derzeitige Angewandte Linguistik tut gut daran, dem Jubilar Albert Raasch als Wegweiser weiterhin zu folgen. 52 Wolfgang Kühlwein Literatur Althaus, H. P. et al. ( 2 1980) (Hrsg.). Lexikon der Germanistischen Linguistik. Tübingen: Niemeyer. Chomsky, Noam (1957). Syntactic Structures. 's-Gravenhage: Mouton. Firth, John R. (1934-1951). Papers in Linguistics. Oxfort: OUP. Gesellschaft für Angewandte Linguistik (GAL e. V.) (n.d.). (https: / / gal-ev.de/ ; 21.04.2020). Ivić, Milka. (1965). Trends in Linguistics. London, The Hague & Paris: Mouton. Kühlwein, Wolfgang (1980). Angewandte Linguistik. In: Althaus, H. P. et al. 1980: 761-768. Malinowski, Bronislaw (1986). Schriften zur Anthropologie. Frankfurt am Main: Syndikat. Sapir, Edward (1921 / 2014). Language: An Introduction to the Study of Speech. London et al.: Oxford Univ. Press / Cambridge et al.: Cambridge Univ. Press. Saussure, Ferdinand de ( 3 1949). Cours de linguistique générale. Paris : Payot. Whorf, Benjamin Lee ( 5 1962). Language, Thought, and Reality: Selected Writings of Benjamin Lee Whorf. Cambridge, Mass.: M.I.T. Press. 53 Albert Raasch und die Gründung der Gesellschaft für Angewandte Linguistik „Die Nachbarn verstehen” … in der grenzüberschreitenden Berufsbildung Sprachenpolitik, Praktiken und Projekte in der Großregion SaarLorLux Claudia Polzin-Haumann 1 Einführung und Vorüberlegungen Der Aachener Vertrag (2019), Nachfolger des Élysée-Vertrags von 1963, unter‐ streicht die Bedeutung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit sowie den spezifischen Charakter von Grenzregionen. Er bringt in Kapitel 4 („Regionale und grenzüberschreitende Zusammenarbeit“), Artikel 13 und 15, die Absicht zum Ausdruck, Schwierigkeiten zu überwinden, die die grenzüberschreitende Zusammenarbeit behindern könnten. Darüber hinaus verweist er ausdrücklich auf das Ziel der Zweisprachigkeit und formuliert die Verpflichtung der beiden Unterzeichnerstaaten, die lokalen Akteure bei der Entwicklung geeigneter Strategien zu unterstützen, um dieses Ziel zu erreichen (Bundesregierung 2019). Einer der vielen Themenbereiche, die sich durch das Lebenswerk von Albert Raasch ziehen, ist das (Fremd)Sprachenlernen in Grenzregionen. Ab dem Ende der 1990er Jahre betont der Jubilar die Notwendigkeit einer spezifischen Fremd‐ sprachendidaktik für Grenzregionen (Raasch 1998 und 1999, 2002) im Kontext einer europäischen Bildungs- und Sprachenpolitik, die sich immer stärker dem Phänomen der Mehrsprachigkeit und seinen verschiedenen Facetten öffnet. Dieses Thema soll daher - ausgehend von Raasch (2003) - im vorliegenden Beitrag aufgegriffen und auf einen gerade in der Gegenwart wichtigen Bereich ausgedehnt werden: die grenzüberschreitende Berufsausbildung. Ganz im Sinne des Jubilars geht es also um Sprachenpolitiken und ihre Umsetzung bzw. die Frage, wie sich politische Programmatiken und Vorgaben in der alltäglichen Kommunikationspraxis spiegeln. Die grenzüberschreitende Berufsausbildung steht ebenfalls seit langem im Fokus der europäischen Wirtschafts- und Bildungspolitik. So heißt es etwa schon in der Lissabon-Erklärung aus dem Jahr 2000 unter Punkt 26: Bis Ende 2000 sollten die Mittel zur Förderung der Mobilität von Schülern und Studenten, Lehrern sowie Ausbildungs- und Forschungspersonal sowohl durch eine optimale Nutzung der bestehenden Gemeinschaftsprogramme (Sokrates, Leonardo, Jugend) - durch die Beseitigung von Hindernissen - als auch durch mehr Transpa‐ renz bei der Anerkennung von Abschlüssen sowie Studien- und Ausbildungszeiten bestimmt werden. (Europarat 2000) Auch 20 Jahre später hat der Anspruch der „Beseitigung von Hindernissen“ nichts von seiner Aktualität verloren. Wie noch genauer gezeigt werden wird, spielt hier gerade die Sprachenfrage eine wichtige Rolle. Im Folgenden soll der Blick auf die Region SaarLorLux gerichtet werden, wobei ein besonderer Fokus auf dem deutsch-französischen (saarländisch-lothringischen) Grenzraum liegt. 2 Grenzüberschreitende Berufsbildung in der Großregion SaarLorLux I: Strukturen, Programme, Akteure Die Großregion SaarLorLux besteht auf deutscher Seite aus dem Saarland und Teilen von Rheinland-Pfalz, in Frankreich aus der ehemaligen französischen Region Lothringen (Departements Moselle, Meurthe-et-Moselle, Meuse und Vosges), dem Großherzogtum Luxemburg sowie der Wallonie (französische Gemeinschaft und deutschsprachige Gemeinschaft in Belgien). Mit einer Fläche von 65.401 km² und einer Bevölkerung von 11,6 Millionen Einwohnern gilt sie als größte grenzüberschreitende Region Europas (http: / / www.granderegion .net/ ; 07.05.2020). Sie ist nicht nur die größte grenzüberschreitende Region in Bezug auf Fläche und Bevölkerung, sondern auch die Region mit der höchsten Anzahl von Grenzgängern in der EU (täglich rund 240.000 Pendler; ebd.). Die überwiegende Mehrheit der Grenzgänger, im Jahr 2018 ca. 170.000, pendelt dabei ins Großherzogtum Luxemburg. Das Saarland zieht täglich 16.300 lothringische Pendler an, wohingegen die Zahl in umgekehrter Richtung sehr viel geringer ausfällt (Les offices statistiques de la Grande Région 2018: 17). Die Durchlässigkeit der nationalen Berufsbildungssysteme und die Öffnung dieser Systeme, die durch die oben erwähnte EU-Politik ermöglicht wurde, ist zweifellos in den Arbeits- und Wirtschaftsregionen am deutlichsten spürbar, 56 Claudia Polzin-Haumann 1 Ob sie dort auch am wirksamsten umgesetzt werden kann, ist eine andere Frage, die auf der Grundlage einer vergleichenden Studie zwischen verschiedenen Regionen beantwortet werden müsste. 2 Ein Jahr zuvor wurde das Rahmenabkommen in der Grenzregion Oberrhein, der Grenzregion zwischen Frankreich, Deutschland und der Schweiz unterzeichnet (RVOR, 2013), das als Blaupause für spätere Abkommen in anderen Grenzregionen angesehen werden kann (vgl. Nienaber et al. (im Druck)). 3 Bereits vorher existierte eine große Anzahl verschiedener grenzüberschreitender Be‐ rufsbildungsinitiativen, die allerdings oftmals eher kurzfristig angelegt waren; vgl. den Überblick in Task Force Grenzgänger/ Frontaliers (2012: 22ff.). 4 Die Aushandlung und Umsetzung dieser Vereinbarungen geht auf den 12. Gipfel der Großregion im Januar 2011 zurück. Dieser Gipfel empfahl eine Intensivierung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit im Bereich der Berufsbildung, um die Wettbewerbsfähigkeit der Großregion zu stärken und Maßnahmen gegen die hohe Jugendarbeitslosigkeit in einigen Mitgliedsregionen zu ergreifen. Auf dem gleichen Gipfel wurde die Einrichtung der so genannten Task Force Grenzgänger initiiert, die den Grenzgängern rechtliche Unterstützung bieten sollte. Darüber hinaus dokumentierte und analysierte die Task Force auch bisher initiierte Projekte der grenzüberschreitenden Berufsbildung (für detaillierte Hintergründe vgl. Nienaber et al. (im Druck)). die jeweils an der Peripherie ihrer Nationalstaaten liegen. 1 Das größte Potenzial für berufliche Mobilität zwischen benachbarten Regionen besteht dann, wenn bei geringer geographischer Entfernung deren wirtschaftliche Situation (z. B. Arbeitslosenquote) und demographische Strukturen voneinander abweichen, wie dies im Raum SaarLorLux der Fall ist (Les offices statistiques de la Grande Région 2018: 18). So sind etwa angesichts der alternden Bevölkerung im Saarland Anstrengungen erforderlich, um junge Menschen für eine (grenzüberschrei‐ tende) Berufsausbildung zu gewinnen; zugleich ist die Jugendarbeitslosigkeit in Lothringen vergleichsweise hoch. Eine Arbeitsmarktpolitik, die auf grenz‐ überschreitende Mobilität setzt, liegt daher nahe. Mit der im November 2014 unterzeichneten Rahmenvereinbarung über die grenzüberschreitende Berufs‐ bildung in der Großregion (RVGR 2014) 2 wurde hierfür ein politischer Rahmen 3 geschaffen, der sowohl die Ausals auch die Weiterbildung betrifft, und auf dessen Grundlage umfassendere Programme entwickelt werden konnten. 4 Mittlerweile hat sich auf unterschiedlichen Ebenen ein dichtes Netz an grenzüberschreitenden Strukturen und Programmen etabliert, von Bildungs‐ einrichtungen (Sekundarschulen, berufliche Schulen, Universitäten) über Ar‐ beitsagenturen und Verbände bis hin zu einzelnen Unternehmen (vgl. auch Dörrenbächer 2018). Alle tragen zur Umsetzung, Ausweitung und Gestaltung grenzüberschreitender Ausbildungsmobilität auf ihrer Ebene bei. Beispielhaft sollen im Folgenden einige dieser Akteure aus dem Schulbereich mit ihren Aktivitäten kurz vorgestellt werden, um das Spektrum der Koopera‐ 57 „Die Nachbarn verstehen” … in der grenzüberschreitenden Berufsbildung 5 http: / / home.bbz-igb.de/ deutsch-franzoesischer-ausbildungszweig-automobil/ und www.tgbbzdillingen.de/ newsreader/ besuchDerPartnerschuleFreymingMerlebach 2019_2020.html; 15.05.2020. 6 http: / / www.tgbbzdillingen.de/ index.php/ dasaktuellste/ BesuchDerPartnerschuleAus FreymingJanuar2020.html. 7 www.tgbbz2.de/ projekte/ detailansicht/ ? tx_news_pi1%5Bnews%5D=145& ; cHash=0d5b64aeb4b637dd75ea2b5fc629ffeb; 15.05.2020. tionen im deutsch-französischen (saarländisch-lothringischen) Grenzraum zu illustrieren. Verschiedene berufliche Schulen im Saarland bieten grenzüberschreitende Ausbildungsgänge an. So arbeitet etwa das Berufsbildungszentrum (BBZ) St. Ingbert im Bereich Automobil mit dem Lycée André Citroën in Marly zusammen. Die Auszubildenden erhalten im Rahmen dieser Kooperation ei‐ genen Französischunterricht, auch im fachsprachlichen Bereich. Vorgesehen im Ausbildungsprogramm sind außerdem zwei Tagesbesuche und ein einwöchiger Aufenthalt sowie zwei dreiwöchige Praktika in einem französischen Betrieb. 5 Ein anderes Format wird beispielsweise im Technisch-gewerblichen Berufs‐ bildungszentrum (TGBBZ) Dillingen praktiziert. Hier wird in der Abteilung Elektrotechnik regelmäßig ein Schüleraustausch mit der Partnerschule in Freyming-Merlebach organisiert. So haben im Januar 2020 sieben Schüler des Lycée Ernest Cuvelette in Freyming-Merlebach das TGBBZ Dillingen besucht. Die gemeinsame Arbeit umfasste fachliche (Installationsschaltungen) und metasprachliche Aspekte (Entwicklung eines deutsch-französischen Fach‐ wörterbuchs). Eine ähnliche Veranstaltung ist demnächst an der lothringischen Partnerschule geplant. 6 Eine dritte Variante ist schließlich z. B. im Technisch-gewerblichen Be‐ rufsbildungszentrum (TGBBZ 2) in Saarbrücken anzutreffen. Schülerinnen und Schüler im Ausbildungszweig Hotel- und Gaststättengewerbe haben die Möglichkeit, an einem deutsch-französischen Zweig teilzunehmen, in dessen Rahmen sie zusätzlich zum normalen Schulprogramm mindestens einmal an einem dreiwöchigen Azubi-Austausch mit Montpellier (inklusive Betriebsprak‐ tikum), regelmäßig an einem zweistündigen Zusatz-Sprachkurs Französisch sowie an mindestens einer Exkursion ins französischsprachige Ausland teil‐ nehmen. Die Aktivitäten werden eigens bescheinigt. 7 Ebenfalls u. a. mit Montpellier unterhält das Kaufmännische Berufsbildungs‐ zentrum (KBBZ) Halberg Austauschprogramme, die durch ProTandem (vormals das deutsch-französische Sekretariat für den Austausch in der beruflichen Bil‐ dung, DFS) finanziert und gerahmt werden. „Die Austausche in der beruflichen Bildung sind elementarer Bestandteil unserer Frankreichstrategie“, schreibt 58 Claudia Polzin-Haumann 8 http: / / kbbz-halberg.de/ austausch/ Zusatzangebot-franzoesisch.html; 15.05.2020. 9 Der Vollständigkeit halber müssten auch die seitens einzelner Unternehmen initiierten Programme betrachtet werden. Im gegebenen begrenzten Rahmen wird jedoch davon abgesehen. 10 https: / / www.vausnet.de/ index.php/ 2-uncategorised/ 33-fachstelle-fuer-grenzuebersch reitende-ausbildung-faga-centre-d-aide-a-la-mobilite-transfrontaliere-camt; 07.05.2020. die Schule auf ihrer Homepage (http: / / kbbz-halberg.de/ austausch/ ; 07.05.2020). Vorbereitet werden die Teilnehmenden des deutsch-französischen Berufsschul‐ zweigs Tourismus darauf u. a. in einem Kurs „Maîtriser la communication professionnelle - Französisch mit Schwerpunkt: Sprechen“. 8 Dieser kurze Blick auf bestehende Programme und Initiativen auf der Ebene der beruflichen Schulen 9 verdeutlicht nicht nur die unterschiedlichen Branchen, sondern auch die verschiedenen Formate, in denen grenzüberschreitende Aus‐ bildung im hier betrachteten Raum stattfindet: • grenznah vs. grenzfern • sporadische gegenseitige Besuche vs. strukturierte Programme • durch die Schulen bzw. die jeweiligen Lehrkräfte organisiert vs. im Rahmen von spezifischen Mobilitätsprogrammen • gestützt vs. nicht gestützt durch spezielle Sprachlehrangebote • mit vs. ohne externe Zertifizierung. Jedes dieser Formate impliziert spezifische Anforderungen an die sprachlichen Kompetenzen der Auszubildenden und folglich auch an die Lehr- / Lernszena‐ rien, um sie angemessen auf solche grenzüberschreitenden Mobilitätserlebnisse vorzubereiten. Im Unterschied zu den Schulen agiert die Fachstelle für grenzüberschreitende Ausbildung (FagA; frz.: Centre d’aide à la mobilité transfrontalière, CAMT) - ein Zweig der unternehmerischen Initiative Verbundausbildung Untere Saar e.V. (VAUS) - auf übergeordneter Ebene. Die FagA / CAMT, die seit 2016 im Rahmen eines Interreg-Projekts besteht (vgl. auch Dörrenbächer 2018: 292 f.), organisiert und fördert Praktika für Jugendliche aus Lothringen, dem Saarland und der Westpfalz in den jeweiligen Nachbarländern, mit dem Ziel, durch konkrete organisatorische und finanzielle Unterstützung von Praktika und Ausbildungsaufenthalten im gewählten Land die Bereitschaft der Jugendlichen zu erhöhen, praktische Erfahrungen in den Nachbarländern zu sammeln. Damit soll letztlich ihre Beschäftigungsfähigkeit für den grenzüberschreitenden Ar‐ beitsmarkt gestärkt werden. 10 Die FagA / CAMT arbeitet vor allem grenznah und kann mittlerweile als wichtigster Akteur im Bereich der grenzüberschreitenden 59 „Die Nachbarn verstehen” … in der grenzüberschreitenden Berufsbildung 11 Vgl. www.saarland.ihk.de/ p/ Grenz%C3%BCberschreitende_Ausbildung_SaarlandLoth ringen-9-13477.html; 07.05.2020. 12 Die Frankreichstrategie wird durch Feuilles de route begleitet, in denen jeweils für den Zeitraum von drei Jahren bestimmte Bereiche und Maßnahmen ins Auge gefasst werden. Bislang sind drei Feuilles de route erschienen (vgl. https: / / www.saarland.de/ Berufsausbildung in der Großregion angesehen werden. Die Zahl der organi‐ sierten Praktika, insbesondere von Frankreich nach Deutschland, ist in den letzten Jahren stetig gestiegen. Der Erfolg des Angebots ist offensichtlich darauf zurückzuführen, dass es nicht nur grenzüberschreitende Praktikumsangebote sammelt, kommuniziert und finanzielle Unterstützung leistet, sondern auch aktiv auf alle relevanten Akteure zugeht. Dabei bewegen sich die Leistungen auf vielerlei Ebenen - vom Abschluss vertraglicher Vereinbarungen mit den Berufsschulen über den Kontakt zu Gastunternehmen bis hin zu einer sehr engen Begleitung der Jugendlichen (vgl. Nienaber et al. (im Druck)). Während allerdings bei den Aktivitäten und Programmen in den beruflichen Schulen der Aspekt des Sprachenlernens - wenn auch in unterschiedlichen Formen - mitgedacht wird, ist dies bei der FagA / CAMT zumindest bislang nicht der Fall. Entsprechend wird hier die Sprachbarriere als ein erhebliches Hindernis wahrgenommen: Ein großer Teil der Jugendlichen, die mit Unterstützung von FagA / CAMT ein Praktikum in einem Nachbarland absolviert haben, verfügte über geringe oder gar keine Sprachkenntnisse (A1-A2; ebd.). Hier deutet sich an, dass für die Umsetzung des Slogans „Ab ins Nachbarland! - Grenzüberschreitende Ausbildung Saarland-Lothringen“, mit dem die IHK Saarland für eine grenzüberschreitende Ausbildung wirbt 11 , noch wichtige Arbeiten zu leisten sind. 3 Grenzüberschreitende Berufsbildung in der Großregion SaarLorLux II: Nachbarsprachenpolitik In der Großregion, insbesondere im Saarland und in Lothringen, gibt es ein klares politisches Bekenntnis zur Förderung der Sprache des jeweiligen Nach‐ barn. Auf beiden Seiten der Grenze spiegelt sich dies in einer langfristigen Bildungspolitik wider. Im Saarland sind als die beiden Kerndokumente dieser Sprachenpolitik das Sprachenkonzept Saarland 2019 (Ministerium für Bildung und Kultur Saarland / Universität des Saarlandes 2019, als Fortsetzung des Sprachenkonzepts 2011, vgl. Polzin-Haumann & Reissner 2012: 133f.) und die Frankreichstrategie der saarländischen Landesregierung (Staatskanzlei Saarland 2014 12 ; vgl. Polzin-Haumann 2017) zu nennen. Die Frankreichstrategie ist 60 Claudia Polzin-Haumann SID-6F6C151F-45DD635D/ 244258.htm; und https: / / www.saarland.de/ SID-3BD0FCA6- B5913E51/ 253296.htm; 07.05.2020). 13 Zu den verschiedenen politischen Dokumenten und zu einer kritischen Betrachtung der Umsetzung der Politik vgl. Polzin-Haumann & Reissner (2018). ausdrücklich nicht allein auf sprachliche Kompetenzen angelegt, sondern setzt diese in einen größeren Kontext: Frankreich-Kompetenz beinhaltet nicht nur entsprechende Sprachkompetenzen, son‐ dern auch die Vertiefung weiterer Kompetenzfelder, wie Fachkompetenz, Regional‐ kompetenz und interkulturelle Kompetenz. (Staatskanzlei Saarland 2014: 21; vgl. auch 17) Anders als der Titel suggerieren mag, ist die Frankreichstrategie eine Mehrspra‐ chigkeitsstrategie; angestrebt wird die Entwicklung zu einem „[…] leistungsfä‐ higen mehrsprachigen Raum deutsch-französischer Prägung […]“ (Staatskanzlei Saarland 2014: 21). Konkretere Aussagen darüber, wie die angestrebte Mehrspra‐ chigkeit im Einzelnen erreicht werden soll, enthält das Eckpunktepapier aller‐ dings nicht; vielmehr wird auf das Sprachenkonzept des Saarlandes verwiesen, das seit 2019 in aktualisierter und ergänzter Version vorliegt (Ministerium für Bildung und Kultur Saarland / Universität des Saarlandes 2019). Der Jubilar hat nicht nur in zahlreichen Beiträgen (zuletzt Raasch 2017), sondern auch in seinem langjährigen Engagement im Sprachenrat Saar, dessen Ehrenmitglied er heute ist (http: / / neue.sprachenrat-saar.de/ ; 07.05.2020), diese Vision der Ge‐ staltung eines mehrsprachigen Raums, deren Kern eine besonders ausgeprägte Kompetenz der jeweiligen Nachbarsprache bildet, kritisch begleitet (Raasch 2003, Raasch & Wessela 2008). In diesem Sinne soll auf der anderen Seite der Grenze die Stratégie Alle‐ magne, die von der Académie de Nancy-Metz für die Stellung des Deutschen im französischen Schulwesen entwickelt wurde (vgl. Maccarini 2017), das Erlernen der Nachbarsprache in der Region Lothringen fördern. 13 Ein weiteres wichtiges politisches Dokument ist das Rahmenabkommen Pour une vision stratégique commune du développement des politiques éducatives en faveur du plurilinguisme et du transfrontalier, das im Juli 2019 zwischen der Académie de Nancy-Metz, der Université de Lorraine und den Departements der Région Grand Est unterzeichnet wurde (Dossier de Presse 2019). „Mener un travail spécifique en direction de la voie professionnelle“ ist eine der fünf Achsen dieses Abkommens. Bereits dieser kurze Überblick zeigt, dass die Bedeutung des Sprachenlernens und -lehrens in der grenzüberschreitenden Berufsbildung als Teil einer Nachbarsprachenpolitik durchaus erkannt wurde. 61 „Die Nachbarn verstehen” … in der grenzüberschreitenden Berufsbildung 14 https: / / www.ecml.at/ ECML-Programme/ Programme2020-2023/ tabid/ 4152/ language/ f r-FR/ Default.aspx; 15.05.2020. Die grenzüberschreitende Berufsausbildung ist damit gleich mehrfach poli‐ tisch gerahmt: auf europäischer Ebene durch die EU-Kohäsionspolitik seit den 2000er Jahren, auf nationaler deutsch-französischer Ebene durch den Aachener Vertrag und auf regionaler Ebene schließlich durch die oben kurz skizzierte Sprachenpolitik zu beiden Seiten der Grenze. 4 Und in der Praxis? Aus den vorangehenden Ausführungen geht klar hervor, dass grenzüberschrei‐ tende Berufsbildungsprogramme und die damit verbundene Mobilität sprach‐ liche und interkulturelle Kompetenzen erfordern. Hier besteht allerdings noch immer ein Desiderat. Zwar ist, wie einleitend erwähnt, mindestens seit Beginn der 2000er Jahre in ganz Europa und insbesondere in der Großregion (Kap. 2) die grenzüberschreitende Ausbildung zu einem immer wichtigeren Thema geworden, jedoch wurden die damit verbundenen Fragen des Sprachenlehrens und -lernens, ebenso wie das Thema der interkulturellen Kompetenz, nicht im nötigen Umfang und vor allem nicht parallel zu den politisch-adminis‐ trativ-ökonomischen Überlegungen entwickelt. Liegen zum Sprachenlehren und -lernen in Grenzregionen noch Arbeiten insbesondere im Hinblick auf die Lehrerbildung (z. B. Putsche 2013 & 2016, Putsche & Faucompré 2016 & 2017; Polzin-Haumann, Putsche & Reissner 2019) oder Einstellungen und Werturteile von Lernenden (Schwender 2018) vor, so fehlt es an spezifischen Konzepten und auch Materialien zum Lehren und Lernen der Nachbarsprache im Kontext grenzüberschreitender Ausbildung. Im Rahmen mehrerer Programme und Projekte wird versucht, diese Lücke zu füllen. Ein Beispiel ist das vom Goethe-Institut Strasbourg / Nancy ins Leben gerufene Projekt Grenzgänger, das didaktisches Material im Bereich der deutsch-französischen Ausbildungs- und Berufsmobilität von Jugendlichen sowie Seminare und Trainings anbietet (vgl. Goethe-Institut 2020). Weiterhin soll in einem Projekt, das von 2020 bis 2023 vom Centre européen pour les langues vivantes (CELV) des Europarates gefördert wird 14 , Fachwissen - auch das aus dem Projekt Grenzgänger - aus der Großregion und weiteren Grenzregionen gebündelt werden, um Richtlinien und Trainingsmodule für mehrsprachiges und interkulturelles Lehren und Lernen in Grenzregionen zu entwickeln und erproben. Den Erfahrungen aus dem saarländisch-lothringischen Grenzraum könnte hier Modellcharakter zukommen. Sicher wird dabei das von Raasch 62 Claudia Polzin-Haumann 15 http: / / cbs.uni-gr.eu/ en/ border-studies/ working-groups/ labour-and-education; 07.05.2020. entwickelte fünfstufige Modell zur Grenzkompetenz in (deutsch-französischen) Grenzregionen (vgl. Raasch 2005 & 2008) eine Rolle spielen. 5 Schlussbemerkungen und Ausblick Die grenzüberschreitende Berufsausbildung ist ein wichtiges Instrument in einem zusammenwachsenden Europa. Gerade an den Binnengrenzen ist Europa alltäglich erfahrbar; an den Nahtstellen zwischen den Mitgliedsstaaten werden Herausforderungen oft als erstes wahrgenommen, und konkrete Lösungen können entwickelt werden. Grenzregionen bieten Chancen: Mobilität und Mehrsprachigkeit können unter authentischen Bedingungen experimentell entwickelt werden. Schnell entstehen ein geteilter Erfahrungsraum und erste Vernetzungen. Und auf der Grundlage gemeinsamer Praktiken können dann gemeinsame Strukturen entwickelt werden, mit denen die Partner noch enger zusammenwachsen können. Zwar konnten in dem vorliegenden Beitrag viele Aspekte nur angerissen werden, gleichwohl ist deutlich geworden, dass in der grenzüberschreitenden Berufsausbildung bereits viel erreicht werden konnte: Es gibt einen tragfähigen politischen Rahmen und eine Vielzahl an Strukturen, Programmen und Ak‐ teuren, die sich einbringen, sowohl im Saarland als auch in Lothringen oder interregional. Damit kann die grenzüberschreitende Berufsausbildung als eine mögliche Lösung für wichtige zukünftige Herausforderungen gerade in den hier betrachteten Nachbarregionen (z. B. Alterung, Arbeitskräftemangel und Digitalisierung) angesehen werden. Dies kann allerdings nur dann der Fall sein, wenn die damit verbundenen Fragen des Sprachenlehrens und -lernens angemessen gelöst werden. Hierfür sind weitere Anstrengungen nötig. Ebenso wichtig ist, dass die zahlreichen Aktivitäten und Programme aufeinander abgestimmt sind und die Kommunikation zwischen den Akteuren (auf den unterschiedlichen Ebenen, d. h. Schulen, Unternehmen, Verbände etc., aber auch dies- und jenseits der Grenze) gut funktioniert. Auch in dieser Hinsicht besteht durchaus Verbesserungspotential. Für beide Aspekte kann die Universität der Großregion (UniGR) wertvolle Impulse geben, etwa die interdisziplinäre Arbeitsgruppe Cross-border Labour and Education des UniGR-Center for Border Studies 15 , und zwar nicht nur mit Forschungsbeiträgen in den verschiedenen an der Arbeitsgruppe beteiligten Disziplinen. In Veranstaltungen wie Formation professionnelle en transfronta‐ 63 „Die Nachbarn verstehen” … in der grenzüberschreitenden Berufsbildung 16 Der Gedanke der grenzüberschreitenden Vernetzung der verschiedenen Akteure im Wissenschaftsbereich, um so die komplexen Themen der grenzüberschreitenden Zu‐ sammenarbeit angemessen zu behandeln, wurde stark von der trinationalen Forscher‐ gruppe GRETI (Groupement de recherches transfrontalières interdisciplinaires) vorange‐ trieben (http: / / cbs.uni-gr.eu/ en/ border-studies/ working-groups/ greti; 07.05.2020). lier: État des lieux, défis, perspectives / Grenzüberschreitende Berufsausbildung: Bestandsaufnahme, Herausforderungen, Perspektiven (Dezember 2015) oder 2nd Forum of the Greater Region (Uni-GR CBS): Realities and visions of cross-border mobilitiy in education (November 2018) beispielsweise wurden verschiedene Akteure - auch grenzüberschreitend - zusammengebracht, um Bilanz zu ziehen, sich über gute Praxis, Grenzen und Hindernisse der grenzüberschreitenden Berufsausbildung auszutauschen und gemeinsam Desiderata zu formulieren (weitere Informationen auf der Homepage 16 ). Auch, wenn seit der Rahmenvereinbarung über die grenzüberschreitende Berufsausbildung in der Großregion (2014) das Angebot beträchtlich erweitert wurde (Kap. 2), bestehen noch immer Hindernisse, etwa im Hinblick auf nationale Unterschiede in den Ausbildungssystemen und die Anerkennung von Abschlüssen. Ebenso spielen z. B. das Prestige einer Berufsausbildung (im Unterschied zu einem Universitäts- oder Fachhochschulstudium) in den verschiedenen Ländern, die Traditionen des Sprachenlehrens und -lernens sowie die Einstellungen der Beteiligten (nicht nur zu sprachlichen Fragen) eine nicht zu unterschätzende Rolle, um nur wenige Beispiele zu nennen. Einige Weichenstellungen wurden unternommen, um den (sprachen)politi‐ schen Zielen näher zu kommen; es gibt aber auch ungelöste oder besser lösbare Fragen. Dass diese existieren, ist angesichts der komplexen Thematik nicht weiter ungewöhnlich. Wichtig wird es sein, diese Widersprüche und Desiderata konsequent zu bearbeiten. Denn Regionen wie die hier betrachtete stellen nur dann eine Chance (nicht nur) für junge Menschen dar, wenn diese sich auf dem grenzüberschreitenden Arbeitsmarkt auch zurechtfinden und vom benachbarten System profitieren können - womit wir wieder bei den dafür unerlässlichen sprachlichen und interkulturellen Kompetenzen wären, die auch dem Jubilar so am Herzen liegen. Wenn es, wie in der Rahmenvereinbarung von 2014 angestrebt, gelingen soll, „[…] die Großregion zu einem gemeinsamen Lebens-, Arbeits- und Wirt‐ schaftsraum zu entwickeln“ (RVGR 2014: 5) müssen diese wichtigen Aspekte von Anfang an mitgedacht werden, und zwar idealerweise integriert in die jeweils entwickelten Aktivitäten, nicht oder zumindest nicht nur in gesonderten Programmen. 64 Claudia Polzin-Haumann Bibliographie Wissenschaftliche Literatur Dörrenbächer, H. Peter (2018). Die Großregion: Ein grenzüberschreitender Berufsbil‐ dungsraum? In: Pallagst, Karina, Andrea Hartz & Beate Caesar (eds.). Border Futures - Zukunft Grenze - Avenir Frontière. Zukunftsfähigkeit Grenzüberschreitender Zusam‐ menarbeit. Hannover: Akademie für Raumforschung und Landesplanung, 286-302. Faucompré, Chloé & Julia Putsche (2015). Un exemple d‘activité pédagogique dans le cadre d’une didactique des langues en région frontalière: Le cas d‘un cours de français en 5. Klasse dans la ville de Kehl, Bade-Wurtemberg. In: Nouveaux cahiers d’allemand, 2 / 2015, 161-176. Faucompré, Chloé & Julia Putsche (2017). Déconstruire les représentations des futurs enseignants de langues face à l’enseignement en région frontalière. In: Elmiger, Daniel, Isabelle Racine & Françoise Zay (eds.). Processus de différenciation: des pratiques langagières à leur interprétation sociale. Neuchâtel: Université de Neuchâtel, 227-238. Lüsebrink, Hans-Jürgen, Claudia Polzin-Haumann & Christoph Vatter. (Eds.) 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Dabei wird der Terminus „Nähesprache“ hier nicht im strengen Sinne von Koch und Österreicher (1986) benutzt: Kriterium ist die Vertrautheit, die Kinder in dieser Sprache empfinden. Da Muttersprache für viele ein Hochwertwort ist - signalisiert es doch die Bedeutung dieser ersten Sprache(n) des Menschen für die Identitätsentwicklung - benutze ich dieses Wort im Folgenden weiterhin in Singular und Plural im Sinne von „Familiensprache(n)“ bzw. „Nähesprache(n)“. Mit der Muttersprache / Nähesprache - oder, wenn es mehrere sind, mit den Nähesprachen - entwickeln Kinder ihre eigene Persönlichkeit, ihr Selbst-Be‐ wusstsein und ihr Zugehörigkeitsgefühl zur Familie. Das gilt keineswegs nur für die personale und familiale Sozialisation, sondern ebenso für die sozio-kultu‐ relle, ist es doch die Muttersprache bzw. sind es doch die Nähesprachen, mit der Kinder auch in die Gesellschaft, in erste Welt- und Wertvorstellungen - z. B. der Religion - hineinwachsen. Und schließlich prägt sie die kognitive Entwicklung, indem sie die ersten Wahrnehmungen der Welt bewusst macht, hilft, die Welt in Worte zu fassen. Wenn wir akzeptieren, dass die Welt für Menschen erst durch Sprache(n) überhaupt als Welt fassbar wird - vom eigenen Namen über die Familie bis zur ersten Begrifflichkeit -, dann ist auch klar, dass die Muttersprache(n) oder die Mutter- und Vater-, die Oma- und Geschwistersprachen dabei die zentrale Arbeit leisten. Und gerade, weil diese Nähesprachen so untrennbar mit der Entwicklung der Persönlichkeit verbunden sind, bleiben ihre Prägungen auch dann erhalten, wenn sie nicht mehr das aktuelle Leben bestimmen. Sie sind Si‐ cherheitsinsel, Anker in Situationen der Unsicherheit und Ungewissheit. In aller Regel wirkt die Bestätigung und Anerkennung der Muttersprache(n) positiv auf die Selbsteinschätzung, die Bildungsaspiration und die Familiensolidarität. Eine zu frühe Unterbrechung der Sprachentwicklung in der Muttersprache, eine Bedrohung oder ein Verlust der Muttersprache, ehe eine relative Stabilität erreicht, d. h. zumindest eine erste Alphabetisierung erfolgt ist, kann Störungen in der Entwicklung der emotional-affektiven, der sozialen und der kognitiven Entwicklung der Persönlichkeit haben. Für eine große Zahl von Kindern aus Migrantenfamilien in unseren Schulen tritt eine solche Unterbrechung der Sprachentwicklung mit dem Eintritt in Kindergarten bzw. Schule ein. Ihre Muttersprachen werden nicht nur nicht weiterentwickelt, sondern oftmals abschätzig bewertet oder gar verboten. Am Anfang des Bildungsweges von Kindern mit Migrationshintergrund steht oftmals nicht der Blick auf das, was sie aus ihrer Familie mitbringen, auf das, was sie können, sondern eine Defizitzuschreibung: „Du kannst ja kein Deutsch“. Dass diese Kinder stattdessen eine oder in der Regel zwei und mehr Sprachen beherrschen, nutzt ihnen in diesem Zusammenhang nichts. Und dafür gibt es vor allem zwei Gründe: 1. Die Ablehnung der Muttersprachen, • weil unsere Gesellschaft sie als Indiz für „Integrationsverweigerung“ fehlinterpretiert, • weil wir selbst diese Sprachen nicht beherrschen und verstehen und uns dieser Kontrollverlust beunruhigt; das gilt auch und gerade für Lehrkräfte, • weil wir glauben, hier geborene Kinder der zweiten oder dritten Migrantengeneration hätten ohnehin keinen Kontakt mehr zu und keine Kenntnisse von ihren jeweiligen Herkunftssprachen, diese seien für die Kinder unwichtig und für schulische und berufliche Perspektiven hinderlich, und nicht zuletzt auch, • weil wir die Illusion haben, eine frühe Deutschförderung im Kinder‐ garten mache ein Nachdenken über Mehrsprachigkeit in der Schule überflüssig; 2. Kinder mit einer anderen Muttersprache als Deutsch stellen unsere Vor‐ stellungen von einem monolingualen Bildungswesen, in dem die einzig legitime die deutsche Sprache ist, in Frage (vgl. Gogolin 1994). Unser 70 Hans-Jürgen Krumm Bildungswesen präferiert die einsprachigen Kinder - ich bin versucht zu sagen -, weil sie, von der Schuleinschreibung, vom Kontakt mit den Eltern her und bis zur Kontrollierbarkeit dessen, was sie sagen, auch die „einfacheren“ Kinder sind. Durch die Defizit-Zuschreibung werden Migrantenkinder von vornherein als ‚Versager‘ gekennzeichnet, ehe sie mit dem Lernen richtig angefangen haben: Hier liegt eine große Gefahr früher Sprachstandsdiagnosen, wenn in diesen nur die Deutschkenntnisse abgefragt werden und nicht auch die Nähesprachen, und Kinder dann als ‚sprachlos‘ und nicht schulreif markieren, obwohl diese durchaus sprachreif sind, wenn auch in anderen Sprachen. Kinder empfinden das als Abwertung ihrer Sprachen und ihrer selbst. In Österreich z. B. werden Kinder, die vor der Schuleinschreibung einen Deutschtest nicht bestehen, so‐ gleich in separate, segregierte Deutschförderkurse abgeschoben, was die Kinder wie auch deren Eltern durchaus als Makel empfinden. Eine der Reaktionen auf die Erfahrung, dass die Muttersprachen unterdrückt werden und durch die Zweitsprache in Gefahr geraten, ist die Abwehr von Mehr‐ sprachigkeit und anderen Sprachen, Deutsch eingeschlossen, und der Rückzug in eine herkunftssprachliche Subkultur. Oder aber es entsteht Konfliktzweisprachigkeit; Oksaar (2003: 163) spricht von sprachlicher Heimatlosigkeit: Die einsprachige Gesellschaft zwingt Migranten schon in der Kindheit, sich zu entscheiden und provoziert so die Frage, wo man hingehört, sei es im Rollenkonflikt zwischen der Rolle als Sohn oder Tochter einer anderssprachigen Familie und dem Wunsch, Mitglied der deutschspra‐ chigen Peergroup zu sein, sei es auf Grund der Zuschreibungen, durch die man wegen das Namens, wegen des Aussehens oder wegen der Herkunft trotz aller Anstrengungen auf eine Existenz als Migrant fixiert bleibt. Der Abbruch der Entwicklung der Erstsprachen, bevor diese voll entwickelt sind, die Abwertung der mitgebrachten Familiensprache(n) und die Vermittlung von Wissen in einer Sprache, die das Kind ja erst lernen soll, resultieren in verzögerter und reduzierter Entwicklung der Erstsprache (z. B. im Bereich Begriffsbildung), in einem schulischen Wissen, das außerhalb der Erstspra‐ chenentwicklung bleibt, d. h. zwei Begriffssystemen und Sprachwelten, die unvermittelt nebeneinander stehen. Für die Betroffenen wird damit deutlich, dass die Erstsprache in Gefahr gerät, indem man z. B. neue Erfahrungen, neue Erkenntnisse nur in der Zweitsprache ausdrücken kann, weil die Erstsprache sich in der neuen Lebenswelt nicht mitentwickelt, man also zu Hause gar nicht mehr von dem erzählen kann, was man außerhalb der Familie in einer ganz anderen Sprache erlebt und in der Schule gelernt hat, oder gar, im schlimmsten Fall, weil man erfährt, dass die Verwendung der Erstsprache unerwünscht oder 71 Mehr Sprachen heißt mehr Chancen - ein Plädoyer für Nähesprachen gar verboten ist. Das aber behindert die Verarbeitung von neuen Erkenntnissen, die ja eigentlich, so funktioniert Lernen, in das schon vorhandene Wissen eingeordnet werden müssen. Der Muttersprachliche Unterricht / Herkunftssprachenunterricht trägt auf Grund seiner jetzigen Konstruktion ein Stück weit zu dieser Abwertung und Marginalisierung der Muttersprache bei: So wie für die deutschsprachigen Kinder Deutsch, so ist für die anderen eben der Muttersprachliche Unterricht Muttersprachenunterricht: Genau genommen gebührt ihm der gleiche Stellen‐ wert, der gleiche Stundenumfang, damit er zur stabilen Identitätsentwicklung beitragen kann, zumindest bis zum Abschluss der Alphabetisierung. Das Bildungswesen aber marginalisiert ihn: Man muss sich extra anmelden, in Österreich ist er als unverbindliche Übung, also nicht verpflichtend, ohne gebührende Bewertung der Leistungen, mit geringen Stundenzahlen, oft au‐ ßerhalb der schulischen Kernzeiten, und mit gleichfalls marginalisierten Lehr‐ kräften organisiert - wer ihn besucht, so könnte man die Botschaft verstehen, ist ebenso randständig wie dieses Unterrichtsangebot. 2 Voraussetzungen für eine erfolgreiche Sprachentwicklung von mehrsprachigen Kindern Die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Sprachentwicklung insgesamt, im Besonderen aber auch für einen erfolgreichen Erwerb der deutschen Sprache, sind immer noch nicht gegeben: 1. die Vermeidung von Defizit-Zuschreibungen schon bei Schuleintritt. In der Konsequenz bedeutet das, dass z. B. Sprachstands-Beobachtungen sich nie nur auf die deutsche Sprache beziehen dürfen, sondern immer die gesamte sprachliche Kompetenz der Kinder erfassen und ihnen also immer auch kommunikative Stärken und Fähigkeiten zugestanden werden; 2. die ebenso zentrale Anerkennung und Wertschätzung der Mutter‐ sprache(n) / Nähesprachen, z. B. dadurch, dass diese in der Schule sichtbar und hörbar gemacht werden. Es gibt inzwischen viele Schulen, die das mit großem Erfolg betreiben. Wirksamer noch als die bloße Wertschätzung der Muttersprachen wäre eine zwei- oder auch dreisprachige Erziehung, die sowohl die mitgebrachten Spra‐ chen festigt und fördert als auch die Sprache der neuen Lebenswelt entwickelt. Die Spracherwerbsforschung weiß seit langem, dass ein zweisprachiger oder mehrsprachiger Unterricht, der sich auf die Nähesprachen stützt, für die Ent‐ 72 Hans-Jürgen Krumm wicklung von Menschen mit anderen Erstsprachen sowohl im Hinblick auf eine stabile Persönlichkeitsentwicklung als auch im Hinblick auf einen erfolgreichen Erwerb der Zweitsprache wichtig und besonders positiv ist: „Zweisprachiger Unterricht, der sich auf die Muttersprache stützt, ist der Ausgangspunkt für langfristigen Erfolg“, so hat es der Europarat formuliert (PACE 2006, Report 10837, Gogolin 1988, Oksaar 2003 & Duarte 2011). 3 Sprachenlernen unter den Bedingungen der Mehrsprachigkeit Schule trennt die Sprachenangebote: Deutsch, Deutsch als Zweitsprache, Sprachförderkurse, Muttersprachlicher Unterricht und die Fremdsprachen - es gibt separate Fächer ebenso wie Lehrkräfte, die nicht immer voneinander wissen. Für das Sprachenlernen ist das nicht günstig, denn im Kopf der Kinder werden Sprachen nicht getrennt wie in einem Kasten mit verschiedenen Schubladen gespeichert, das Gehirn sieht keine verschiedenen Speicherorte für verschiedene Sprachen vor. Das Gehirn nutzt verschiedene Areale für unterschiedliche sprachliche Aktivitäten, nicht für verschiedene Sprachen. Es ist der Vorteil mehrsprachiger Migrantenkinder, dass sie längst gelernt haben, mit Mehrsprachigkeit umzugehen. Mehrsprachige Kinder - das ist ihr großer Startvorteil - müssen ja früh lernen, Ordnung in ihrer Sprachenwelt zu schaffen: Mit welcher Sprache muss ich welche Person anreden? Wie funk‐ tionieren meine verschiedenen Sprachen? Mehrsprachige Kinder entwickeln deshalb sehr früh eine erhöhte Sprachwahrnehmung und Sprachenbewusstheit. Ein kritischer Punkt in der Entwicklung mehrsprachiger Kinder ist die Leis‐ tungsbeurteilung: Das Bemühen von Schülern mit einer anderen Muttersprache um die deutsche Sprache kann leicht entmutigt werden, indem ausschließlich nach den Kriterien der Einsprachigkeit beurteilt wird. Verschiedenheit gleich zu behandeln, also mehrsprachige Kinder so wie einsprachige, ist nicht gerecht, sondern ungerecht. Bewertet man die sprachlichen Leistungen von Migranten‐ kindern nach den gleichen Maßstäben wie die diejenigen deutschsprachiger Kinder, so bleiben die meisten Migrantenkinder chancenlos - so sehr sie sich auch anstrengen, so große Lernfortschritte sie auch machen, sie werden gegenüber den meisten muttersprachlich deutschsprachigen Kindern durch die gesamte Schulzeit schlechter abschneiden, sie werden trotz Anstrengungen quasi bestraft und damit dauerhaft demotiviert. Insofern wäre hier eine dop‐ pelte Bewertung -einmal nach dem individuellen Lernfortschritt, zum andern durchaus auch gemessen an den Lehrplananforderungen - angebracht. 73 Mehr Sprachen heißt mehr Chancen - ein Plädoyer für Nähesprachen 4 Mehrsprachigkeit als Grundlage für die Entwicklung der Bildungssprache Deutsch Spätestens mit Klasse 3 und 4 tritt beim schulischen Lernen neben die Alltags‐ sprache die Bildungssprache: Eine mehr an der Schriftsprache orientierte Aus‐ drucksweise, das Verstehen immer komplexerer Texte - bildungssprachliche Kompetenz setzt ein hohes Maß an Sprachenbewusstheit, an De-Kontextuali‐ sierung, an Übersetzungsfähigkeit aus der Alltagssprache voraus. Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit sind für den Erwerb der Bildungssprache eine sehr gute Grundlage, denn mehrsprachige Kinder bringen dafür wertvolle Erfah‐ rungen mit: Das Laien-Dolmetschen zwischen den Sprachen in der Familie, die Erkenntnis, dass ein Tisch nicht ein Tisch ist, sondern dass Tisch lediglich die Benennung ist, dass der gleiche Gegenstand auch asztal (Ungarisch), cto (Serbisch) oder tavola (Italienisch) heißen kann, all das sind wichtige Schritte bei der bewussten Fokussierung auf die Trennung und den Zusammenhang von Inhalt und sprachlicher Form, wie er für die Bildungssprache und das Erschließen von Bedeutungen unumgänglich ist. Abstrahieren, Vergleichen und Unterscheiden sind Fähigkeiten, ohne die Bildungssprache nicht funktioniert. Aus einem richtig angelegten Mehrspra‐ chigkeitsunterricht bringen Kinder diese Fähigkeiten bereits ein Stück weit mit. Der personale Kommunikationsmodus wird abgelöst durch die „kognitiv-aka‐ demische Sprachfähigkeit“ (Cummins) - der Inhaltsaspekt, die Sache, das Fach tritt in den Vordergrund. Mehrsprachigen Kindern fällt dieser Sprachwechsel von der Alltagsin die Bildungssprache vielfach leichter, haben sie doch bereits Erfahrungen mit Sprachwechseln. Derzeit herrscht ein zu kurzsichtiger Blick auf Sprachförderung: Der Glaube, wenn man Migrantenkinder vor Schulbeginn sprachlich fördere, dann sei alles erledigt, ist falsch. Die Bildungssprache entwickelt sich erst mit dem zunehmend fachlichen Lernen - Förderung vor Beginn der Schulzeit macht eine Förderung in der Schule nicht entbehrlich - Spracherwerb ist eine langfristige Angelegenheit - und die bildungssprachlichen Anforderungen treten ja vor allem ab Klasse 3 und 4 auf. Mehrsprachige Kinder entwickeln bereits eigene Strategien im Umgang mit ihren vielen Sprachen, sie versuchen selbst, Ordnung in die Sprachen zu bringen. Das beginnt mit einfachen Einsichten, welche Sprache oder welche Sprachvarietät sie mit wem sprechen: Mit Mutter und Vater eventuell andere als mit Oma und Opa, andere wiederum mit den Peers und mit ihren Lehrerinnen und Lehrern. Da sich auch bei mehrsprachigen Kindern das Vergleichen von Sprachen gar nicht verhindern lässt, entwickeln sich bald auch weitergehende 74 Hans-Jürgen Krumm Einsichten in das unterschiedliche Funktionieren verschiedener Sprachen. Der Junge zum Beispiel, von dem die Frage stammt „Wieso die Tür, das Fenster - beides ist Loch in Wand? “, hatte versucht, sich die Genus-Regeln von der Bedeu‐ tung her zu ordnen, stößt damit aber an Grenzen. Genau hier brauchen Kinder Hilfe: Wie passt die neue Sprache in die schon vorhandene Sprachenwelt hinein, was unterscheidet sich und was ist gemeinsam? Wie kann ich sprachliche Fähigkeiten, die ich im Deutsch- oder im Muttersprachenunterricht oder auch im Fremdsprachenunterricht erwerbe, für die Lösung sprachlicher Aufgaben in allen anderen Unterrichtsfächern nutzen? Nur wenn Sprachen koordiniert erworben werden können, haben Kinder, die in zwei oder mehr Sprachen leben, Vorteile davon. Es geht um Gleichwertigkeit - deshalb sollte der sogenannte Muttersprachliche Unterricht eigentlich so wie der Deutschunterricht einfach sprachlich benannt werden: Türkischunterricht, Ungarischunterricht usw. Und es geht um die stärkere Integration dieser getrennten Fächer - etwa im Sinne eines Flächenfachs oder eines Gesamtsprachencurriculums. Optimal wäre eine durchgängige mehrsprachige Erziehung. Dass eine solche möglich ist, zeigt das österreichische Bundesland Niederösterreich: Seit gut 15 Jahren gibt es die niederösterreichische Sprachoffensive mit den niederösterreichischen Nachbarsprachen Tschechisch, Slowakisch und Un‐ garisch, so als hätte Albert Raasch Pate gestanden: Mehr als 15.000 Kinder in über 100 niederösterreichischen Kindergärten nahmen und nehmen daran teil; bisher ca. 35.000 Schülerinnen und Schüler sind es an den beteiligten 133 Schulen. Es ist schwer zu verstehen, weshalb dieses gut funktionierende Modell nicht längst in allen österreichischen und auch in deutschen Bundesländern Schule gemacht hat - und zwar in der Fläche, nicht bloß im Schulversuch. Bildungsgerechtigkeit, der Zugang zur Mehrsprachigkeit darf ja eigentlich nicht vom Wohnort abhängen. Der Vorteil mehrsprachiger Angebote im Gegensatz zum jetzigen Konzept des Muttersprachlichen Unterrichts ist, dass davon alle Kinder profitieren, nicht nur die Migrantenkinder: Es ist nach meiner festen Überzeugung die Aufgabe der Schule, alle Kinder zu einem Leben in einer mehrsprachigen Welt unter den Bedingungen der sprachlichen und kulturellen Vielfalt zu befähigen. Das bedeutet, 1. dass mehrsprachige Kinder nicht einsprachig gemacht werden dürfen, jedoch auch, 2. den einsprachigen Kindern diese Mehrsprachigkeit von Anfang an nicht vorzuenthalten und sie nicht auf Deutsch und Englisch zu beschränken. 75 Mehr Sprachen heißt mehr Chancen - ein Plädoyer für Nähesprachen Ein Schritt in die richtige Richtung wäre es, den Muttersprachlichen Unterricht zu einem Angebot für alle Kinder unabhängig von der Herkunft zu öffnen, wie das viele Schulen schon tun - die Lehrpläne sind vorhanden, die Lehrkräfte auch. Beispielhaft verweise ich auf die Sprachen-Volksschule in Wiener Neustadt: Sie beginnt in Klasse 1 mit drei Sprachen: Deutsch, Englisch und - je nach Familiensprache eines Teils der Schüler - Ungarisch oder Türkisch; d. h. hier hat jedes der Kinder seine Nähesprache als Sicherheitssprache; mit Englisch gibt es sodann eine Sprache, in der alle Kinder unabhängig von der Familiensprache gemeinsam als Nullanfänger beginnen, und es gibt jeweils eine Peer-Sprache, auf die man neugierig werden kann, weil ein Teil der Kinder sie schon mitbringt, Deutsch im einen, Türkisch oder Ungarisch im anderen Fall. Das wird in der Schule dann zu einer neuen Nähe-Sprache. Ein solches Konzept hat natürlich Voraussetzungen: Zusammenarbeit mit Eltern, Team Teaching, Zusammensetzung des Lehrerkräfteteams und viel Fortbildung. Aber das sind realistische Voraussetzungen. 5 Das Curriuclum Mehrsprachigkeit als Weg zu einer mehrsprachigen Schule Mit dem Curriculum Mehrsprachigkeit haben mein inzwischen leider verstor‐ bener Kollege Hans Reich und ich versucht, ein solches integriertes schulisches Angebot für diese möglich zu machen. Wir haben dieses Curriculum 2010 / 2011 für die Schulstufen 1-12 im Auftrag des österreichischen Unterrichtsmi‐ nisteriums entwickelt: Es zielt auf die schulische Unterstützung sprachlicher Bewusstwerdungsprozesse. Es expliziert und differenziert den Begriff der Spra‐ chenbewusstheit als Fähigkeit der Schülerinnen und Schüler, sich in der heutigen Welt sprachlicher Vielfalt zu orientieren, sich selbstbestimmt und zielbewusst neue sprachliche Qualifikationen anzueignen und sich in vielsprachigen Situationen kompetent zu bewegen. (Krumm & Reich 2011: 2; vgl. auch Reich & Krumm 2013). Das Curriculum versucht, Bezüge zwischen dem Muttersprachlichen Unterricht, dem Deutsch- und dem Deutsch als Zweitsprache-Unterricht, aber auch der ersten Fremdsprache und - zumindest exemplarisch - zu den sogenannten Sachfächern herzustellen. Gegliedert ist das Curriculum jeweils in drei - bzw. ab der Sekundarstufe - in vier Bildungsbereiche: 1. Wahrnehmung und Bewältigung vielsprachiger Situationen 2. Wissen über Sprachen ab Sekundarstufe 2: Vergleichen von Sprachen 76 Hans-Jürgen Krumm 3. Erarbeiten sozialer und kultureller Bezüge von Sprachen 4. Sprachlernstrategien Die kognitiven, bildungssprachlichen Aspekte kommen in konzentrierter Weise in dem Bereich des Erwerbs von Wissen über Sprachen bzw. des Vergleichens von Sprachen zum Tragen. Es geht um die Kompetenz, sprachliche Elemente, Strukturen und Regeln in mehreren Sprachen und eben auch in den Fächern des schulischen Unterrichts zu beschreiben und in Beziehung zueinander zu setzen. Es geht darum, die Sprachwahrnehmung der Kinder zu unterstützen, die unterschiedlichen Zusammenhänge zwischen Laut und Buchstabe mit den jeweiligen Sprachen in Verbindung zu bringen und erste Begriffe dafür zu etablieren, d. h. es geht hier um eine gezielte Entwicklung der Bildungssprache Deutsch - allerdings unter bewusster Einbeziehung und Nutzung der in der Klasse vorhandenen Nähesprachen: Mehrsprachig, sprachenübergreifend ist es leichter, das Unterscheiden und Vergleichen zu lernen als einsprachig. Ab Klassenstufe 3 nimmt der Mehrsprachigkeitsunterricht systematischeren Charakter an: Er vermittelt Strategien des Sprachenlernens, Begriffe und Fähig‐ keiten der vergleichenden Sprachanalyse und Kenntnisse zur Sprachenvielfalt auch außerhalb der unmittelbaren Erfahrungsmöglichkeiten der Schülerinnen und Schüler. Das Entdecken von sprachlichen Regularitäten, die Einsicht in die Funktion von Sprache wird in längeren Unterrichtssequenzen erarbeitet. Die Aneignung des Registers Bildungssprache wird damit als eine eigene Sprachlernaufgabe anerkannt, und zwar nicht nur als Bildungsaufgabe für den Deutschunterricht, sondern auch für den Sachunterricht. Zur Bewältigung dieser Aufgabe kann das Curriculum Mehrsprachigkeit grundlegende Lernfähigkeiten vermitteln. Dazu gehört auf dieser Schulstufe die Arbeit mit dem Sprachenportfolio, die Entwicklung zwei- oder dreispra‐ chiger Wortkarteien und die Einführung in die Benutzung zweisprachiger Wörterbücher, lauter auf Sprachenbewusstheit zielende Verfahren. Dazu bietet das Curriculum Themen und Materialien an und macht die Bezüge zu den vorhandenen Sprach- und Fachlehrplänen deutlich. In Südtirol wurde das Curriculum Mehrsprachigkeit für die dortige Schulsi‐ tuation adaptiert und erweitert und wird genutzt, um die Grenzen zwischen Sprachen und Sprachgruppen zu überwinden (vgl. Schwienbacher u. a. 2017). Durch Förderung der Mehrsprachigkeit kann die grenznahe Region eines Landes zusammen mit einer Nachbarregion jenseits der Grenze eine neue, grenzüberschreitende Identität bilden (Raasch 2004: 3). Was Albert Raasch hier für Grenzregionen formuliert hat, ist vielleicht auch eine Perspektive für das Bildungswesen: Mit Mehrsprachigkeit beizutragen 77 Mehr Sprachen heißt mehr Chancen - ein Plädoyer für Nähesprachen zu der Überwindung von Sprachgrenzen und zum Entstehen mehrsprachiger Identitäten in der Migrationsgesellschaft. Literatur Raasch, Albert (2004). Europäisches Projekt: Nachbarsprachen in Grenzregionen. Er‐ fahrungen und Ergebnisse. In: EURAC-Forum Mehrsprachigkeit in Grenzregionen 4 / 2004. (http: / / www.eurac.edu/ en/ research/ autonomies/ commul/ Documents/ LaBs/ r aasch_final.pdf). Raasch, Albert (2010). 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Waxmann: Münster. 78 Hans-Jürgen Krumm 1 Siehe dazu die Webseite der Académie Nancy-Metz: http: / / www4.ac-nancy-metz.fr/ all emand/ cursus_entree.html (20.02.20) Gemeinsame Lehramtsausbildung in der Großregion Ein Beispiel aus der Praxis und ein vielversprechender Ausblick Christina Reissner 1 Einführung In der saarländisch-lothringischen Grenzregion ist die Bildungspolitik geprägt von der besonderen geographischen Lage und der gemeinsamen Geschichte, die die Gegend seit der Römerzeit prägt. Auch die wechselhaften Geschehnisse im Laufe des 20. Jahrhunderts haben ihre Spuren hinterlassen, es kann von einer besonderen regionalen Identität in der Großregion ausgegangen werden (vgl. z.B: Cenoz & Gorter 2011: 1), von einem spezifischen entre-deux franco-allemand (Macaire 2015: 65). Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund ist die Bildungspolitik im Saarland insbesondere, was das Französischlehren und -lernen angeht, besonders aus‐ geprägt; es ist das einzige deutsche Bundesland, in dem alle Kinder in der Grundschule Französisch lernen. Programmatisch ist die Bildungspolitik an der Frankreichstrategie der saarländischen Landesregierung ausgerichtet (Staats‐ kanzlei 2014), die u. a. das Ziel „[] der Schaffung eines leistungsfähigen mul‐ tilingualen Raums deutsch-französischer Prägung“ (2014: 9) formuliert. Das Sprachenkonzept Saarland 2019 (Saarland Ministerium für Bildung und Kultur / Universität des Saarlandes 2019) gibt weitere Orientierungspunkte für das Sprachenlernen im Saarland, insbesondere auch für das Lehren und Lernen des Französischen als Schlüssel für das Miteinander mit den Nachbarn und den großregionalen Arbeitsmarkt (cf. 2019: 13ff). Auch die Académie Nancy-Metz hat im Rahmen ihrer stratégie Allemagne besondere Maßnahmen zur Stärkung des Deutschen im lothringischen Bildungssystem verankert 1 . In diesen bildungspolitischen Kontext ist auch die universitäre Ausbildung zu‐ künftiger Lehrkräfte einzuordnen - die Lehrenden der jeweiligen Nachbarsprache haben eine Schlüsselrolle inne, wenn es um die Vorbereitung der Kinder auf beiden Seiten der Grenze auf das Zusammenleben in der (Grenz-)Region geht. Im Fach Französisch setzen sich die Studierenden der Universität des Saarlandes im Rahmen der grundständigen Lehramtsausbildung mit spezifischen Fragen auseinander, die die Vermittlung der Nachbarsprache in einer Grenzregion mit sich bringt. Allerdings steht die Thematik im Lehramtsstudium selten zentral im Fokus, sie begegnet mehrheitlich eher als randständiges denn als transversales Element in den einschlägigen Lehrveranstaltungen. Eine Ausnahme bilden die Lehrveranstal‐ tungen im Bereich der romanistischen Mehrsprachigkeitsforschung und -didaktik; sie richten sich insbesondere in den letzten Jahren immer deutlicher in dieser Per‐ spektive aus. Insbesondere werden seit 2010 trinationale Seminare durchgeführt, in denen Studierende der Universitäten Luxemburg, Lothringens und des Saarlandes den „Umgang mit Wissen in mehrsprachigen Kontexten“ erfahren und erforschen können. Die Lehrveranstaltungen sind in die Universität der Großregion (Uni-GR; www.uni.gr.eu) eingebunden und finden seit 2010 regelmäßig statt. An der Uni‐ versität des Saarlandes sind die Teilnehmer vorrangig Studierende des Lehramtes Französisch für die Sekundarstufe und weiterer Französisch-Studiengänge (cf. Polzin-Haumann 2013; Reissner 2017; Polzin-Haumann, Putsche & Reissner 2019). Auch ein interdisziplinäres Seminarprojekt zwischen saarländischen Lehramts- und lothringischen Geographiestudierenden wurde bereits mit Erfolg durchge‐ führt; dabei entstanden Lehrmaterialien zum Thema Nachhaltigkeit, die gezielt für den Einsatz im französischsprachigen Geographie-Unterricht in der Grenzregion entwickelt wurden. Derartige Lehrveranstaltungen verdeutlichen immer wieder die großen Po‐ tentiale, die sich aus der spezifischen Grenzlage insbesondere für das Lehren und Lernen der Sprache der Nachbarn ergeben. Wie die Erfahrungen aus der schulischen Praxis zeigen, werden diese Vorteile für den Sprachenunterricht jedoch auf beiden Seiten der Grenze noch immer nicht konsequent genutzt. 2 (Sprach-)Unterricht in Grenzregionen Der Gedanke, den Unterricht in Grenzregionen an deren spezifische Charakte‐ ristika anzupassen, ist keineswegs neu; bereits in den 1990er Jahren forderte Albert Raasch eine „didactique des langues étrangères en régions frontalières“ (Raasch 1992 & 1999). Im Rahmen einer Referenzstudie zu bildungspolitischen Ansätzen für den Fremdsprachenunterricht in europäischen Grenzregionen (Raasch 2002) entwickelte er ein Grenzkompetenzmodell (Raasch 2005 & 2008) 80 Christina Reissner und identifizierte beispielsweise die grenzüberschreitende Lehrerausbildung und authentische Unterrichtsmaterialien als ,entgrenzende‘ Elemente für ein einiges Europa (Raasch 2002: 14). Sein theoretisches Modell definiert fünf für das Miteinander in (deutsch-französischen) Grenzregionen zentrale Bereiche: die landeskundliche sowie kontrastiv-landeskundliche Kompetenz, die Empa‐ thiekompetenz sowie die inter- und intrakulturelle Kompetenz (cf. Raasch 2005, 2008). Auch wenn mit Dominique Macaire die didactique frontalière, Grenzdidaktik, ebenso wie der pluringuisme, die Mehrsprachigkeit, mehrdeu‐ tige Begriffe sind, die anzusehen sind als „concepts nomades au sens de Stengers (1987), c’est-à-dire de notions que l’on peut qualifier d’évolutives et de complexes à la fois“, so finden sich inzwischen immer häufiger Ansätze, die zugrunde liegenden Prinzipien in deutsch-französische Lehr- und Lernkontexte zu integrieren (z. B. Faucompré 2014; Faucompré & Putsche 2017; Macaire 2015; Putsche 2016; Polzin-Haumann, Putsche & Reissner 2019). Generell gilt, dass sich grenzdidaktisch ausgerichtete Herangehensweisen an der unmittelbaren Lebenswelt der Lernenden orientieren können; so kann im Sprachenunterricht vergleichsweise leicht vermittelt werden, was den Alltag in der Region unmittelbar jenseits der Grenze ausmacht. Eine authentische Gestaltung des Unterrichts lässt sich hier leicht umsetzen. Dies gilt insbesondere auch für Begegnungen mit der französischsprachigen Nachbarschaft - sie lassen sich in der Grenzregion viel leichter realisieren als an Orten, wo die französischen Nachbarn geographisch weit entfernt sind. Vermittlung und Erwerb der o. g. (Grenz-) Kompetenzen liegen hier im wahrsten Wortsinne viel näher als andernorts. Dieser immense Vorteil für den Sprachenunterricht wird jedoch in der saarländischen Praxis nicht konsequent genutzt, wie die Erfahrung und erste Erhebungen dazu zeigen. Daher spielen die Sensibilisierung und Ausbildung zukünftiger Lehrkräfte für die damit verbundenen Fragen eine zentrale Rolle. In der Lehramtsausbildung für Französisch an der Universität des Saarlandes wird diesem Anspruch durch entsprechende Lehrveranstaltungen begegnet. In den Einführungsveranstaltungen für die Primarstufe werden sogar alle Studierenden mit der Thematik vertraut gemacht und für die Frage der Vermittlung der Nachbarsprache in der Grenzregion sensiblisiert. Um Studierende noch gezielter auf ihre Tätigkeit in den Grundschulen der Grenzregion vorbereiten zu können, ist seit einiger Zeit eine gemeinsame, grenzüberschreitende Primarschullehrerausbildung in Vorbereitung, die im folgenden Abschnitt skizziert wird. Anschließend illustrieren Beispiele aus der grenzüberschreitenden Lehre exemplarisch deren Besonderheiten. 81 Gemeinsame Lehramtsausbildung in der Großregion 3 Grenzüberschreitende Primarschullehrerausbildung in der Großregion: Das Projekt BiPrimar - ein deutsch-französischer Studiengang Schon seit geraumer Zeit wird in einer lothringisch-saarländischen Arbeits‐ gruppe die Einrichtung eines grenzüberschreitenden Studiengangs für Grund‐ schullehrkräfte diskutiert. Diesem Arbeitskreis gehören Akteure aus verschie‐ denen Institutionen beiderseits der Grenze an, auf der französischen Seite etwa Vertreter der Académie Nancy-Metz, dem Site biculturel de Sarreguemines de l’INSPÉ de Lorraine sowie auf deutscher Seite des saarländischen Bildungsmi‐ nisteriums, des Zentrums für Lehrerbildung, des Staatlichen Studienseminars für die Grundschule sowie der Universität des Saarlandes. Der Arbeitskreis hat ein erstes Konzept entwickelt, das zunächst die grundlegenden Rahmenbedin‐ gungen für einen grenzüberschreitendenden Studiengang umreisst und auch bereits erste Ansätze für seine mögliche konkrete Ausgestaltung entwickelt. Die Überlegungen werden im Folgenden kursorisch zusammengefasst dargestellt. Der projektierte Studiengang BiPrimar soll als Modellstudiengang zur grenzüberschreitenden deutsch-französischen Lehramtsausbildung konzipiert werden. Nach dem derzeitigen Planungsstand soll er in seiner Struktur beiden nationalen Ausbildungssystemen gerecht werden; dies stellt angesichts der unterschiedlichen Logik der in den beiden Staaten etablierten Systeme eine besondere Herausforderung dar. Die beiderseitige Bereitschaft, Kompromisse einzugehen und ggf. bestehende nationale Praktiken zu modifizieren, ist dabei unverzichtbar. Dass hier insbesondere die Abschlüsse der ersten Phase und der Zugang zur zweiten Ausbildungsphase (Licence und Master sowie Concours in Frankreich vs. erstes Staatsexamen und Vorbereitungsdienst im Saarland) kom‐ plexe Anforderungen mit sich bringen, liegt auf der Hand. Gerade diese beiden Mechanismen sind charakteristisch für die Lehramtsausbildung in den beiden Ländern, sie strukturieren den Parcours ganz wesentlich und sind nicht zuletzt rechtsverbindliche Institute im jeweiligen System. Als gangbarer Lösungsweg bietet sich hier - wie bei anderen grenzüberschreitenden Programmen, die das Bildungssystem betreffen - wohl am ehesten eine umfassende Neumodellierung an, die von vornherein transnational ausgerichtet ist und dennoch so weit wie möglich den Anforderungen beider beteiligten Systeme gerecht wird. Die inhaltliche und organisatorische Ausgestaltung des Studiengangs an sich ist deutlich weniger schwierig zu harmonisieren, bestehen doch bereits jetzt in fachlicher Hinsicht vielfältige Schnittmengen zwischen beiden Systemen. Zentral sollte dabei in jedem Fall der Leitgedanke sein, dass die Absolventen für die Tätigkeit in Grundschulen beiderseits der Grenze ausgebildet werden sollen 82 Christina Reissner und dabei für die Besonderheiten, das spezifische entre-deux der Grenzregion, als Potential und Zielsetzung ihres Handelns sensibilisiert werden. Die saarländi‐ schen Modulhandbücher und die maquettes, die Studienprogramme für die fran‐ zösischen Lehramtsstudiengänge, weisen in vielerlei Hinsicht Parallelen auf, die die Entwicklung eines gemeinsamen Studienparcours realistisch erscheinen lassen. So könnten die beteiligten Universitäten neben speziellen Angeboten für die BiPrimar-Studierenden auch grundständige Lehrveranstaltungen aus dem bestehenden Studienangebot integrieren und damit ein facettenreiches, individuell zu gestaltendes Studium in der Großregion ermöglichen. Die großen Potentiale für einen gemeinsamen Studiengang, der nicht nur die besonderen regionalen Gegebenheiten berücksichtigt, sondern auch konkret auf die Lehr‐ tätigkeit in dieser Region vorbereitet, sollten unbedingt genutzt werden, um ein innovatives, spezifisches Modell der Lehrerausbildung zu entwickeln. Die derzeitige Konzeption von BiPrimar sieht vor, dass die Studierenden an beiden beteiligten Universitäten eingeschrieben werden und über die ge‐ samte Ausbildungszeit gemeinsam in einem einphasigen Ausbildungsgang an beiden Standorten studieren. Im Zentrum einer dem Studium vorgeschalteten Praktikums- und Einführungsphase würden das Kennenlernen der beiden Schulsysteme und die sprachpraktische und interkulturelle Vorbereitung auf den Studiengang stehen; Schulpraktika in beiden Ländern und Begegnungen an Drittorten könnten kontinuierlich die interkulturellen, deutsch-französischen Kompetenzen der Studierenden fördern. Eine Verankerung des Studiengangs an der Deutsch-Französischen Hochschule würde schließlich die grenzüberschrei‐ tende Mobilität der Studierenden erleichtern und zudem seine internationale Anerkennung unterstreichen. In der aktuellen Feuille de Route III der saarländischen Landesregierung (2020) wird die Einrichtung dieses Studiengangs nachdrücklich begrüßt und die Unterstützung des Vorhabens durch die Landesregierung unterstrichen. Damit erfolgt ein wichtiges Signal an die Akteure beiderseits der Grenze, das Projekt BiPrimar weiter voranzutreiben und sich konkret für die weitere Planung und Umsetzung zu engagieren. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Überlegungen zur Einrichtung des gemeinsamen Studiengangs wurde im Wintersemester 2019 / 20 ein Pilotprojekt i.S.e. étude satélite realisiert, das Gegenstand der folgenden Ausführungen ist. 83 Gemeinsame Lehramtsausbildung in der Großregion 4 Grenzüberschreitende Primarschullehrerausbildung in der Großregion: Ein Beispiel aus der Praxis Mit Bezug auf den geplanten Studiengang BiPrimar wurde im Wintersemester 2019/ 2020 eine Lehrveranstaltung neu in das Studienangebot aufgenommen, die die konkrete grenzüberschreitende Zusammenarbeit in der Primarschullehrer‐ ausbildung in den Blick nimmt. Lehrende des Site biculturel de Sarreguemines de l’INSPÉ de Lorraine und des Lehrstuhls für Angewandte Linguistik und Didaktik der Mehrsprachigkeit der Universität des Saarlandes organisierten eine gemeinsame Lehrveranstaltung für Lehramtsstudierende der Primarstufe beider Institutionen. Die Seminarsitzungen fanden in Lothringen und Saarland statt. Das letzte Seminartreffen fand in Form eines Ateliers im Rahmen des saarlän‐ dischen Französischlehrertages 2020 statt, in dessen Rahmen die Ergebnisse der Arbeiten präsentiert wurden. Bei der Konzeption der Lehrveranstaltung konnte auf die guten Erfahrungen aufgebaut werden, die im Rahmen der weiter oben erwähnten „großregio‐ nalen Lehrveranstaltungen“ der Universität der Großregion gesammelt wurden. Durch die Einbindung der hier skizzierten Seminarveranstaltung in die UniGR wurden vor allem organisatorische Aspekte erleichtert, etwa die Mobilität der Studierenden über die Landesgrenzen hinweg, wodurch auch etwaige haftungs- und versicherungsrechtliche Fragen gelöst waren. 4.1 Allgemeine Organisation und grundlegende Prinzipien der Lehrveranstaltung Die Konzeption der gemeinsamen Seminarveranstaltung für Studierende der Primarschulstudiengänge basiert auf einem hohen Maß an Flexibilität bei allen Beteiligten; allein die verschiedenen akademischen Kalendarien und die hochgradig unterschiedlichen Prüfungsanforderungen stellten hier besondere Herausforderungen dar. So erhielten etwa die studentischen Teilnehmer auf der französischen Seite keine Benotung ihrer Leistungen, zudem war der zeitliche Aufwand um ein Vielfaches höher als für die eigentlich für sie vorgesehene Veranstaltung. In Blockveranstaltungen, die abwechselnd am Site biculturel der INSPÉ in Sarreguemines und der Universität des Saarlandes stattfanden, arbeiteten die Studierenden gemeinsam an dem Projekt der deutsch-französischen malette pédagogique zu unbeliebten Tieren, den animaux mal-aimés. Am Anfang der Veranstaltung stand die Frage der sprachlichen Organisation des Seminars. Die Zusammenarbeit der Studierenden sollte wegen der damit verbundenen Lernvorteile nach dem Tandem-Prinzip erfolgen, auch wenn die 84 Christina Reissner numerische Verteilung der Studierenden (ein Viertel deutsche, drei Viertel französische Teilnehmer) hierfür nicht ganz passend war. Dennoch bildeten die Kernprinzipien des Tandemlernens die Grundlage für das Seminarkonzept: die Zusammenarbeit der Studierenden sollte auf Autonomie und Gegenseitigkeit beruhen, auf der Basis partnerschaftlichen, auf Gegenseitigkeit angelegten und autonomen Lernens und den Aspekt des interkulturellen Lernens fokussieren. Es wurde verabredet, ein besonderes Augenmerk auf das Sprachenregime zu richten und vor allem darauf, dass das Deutsche angesichts der großen franzö‐ sischsprachigen Gruppe nicht allzu sehr in den Hintergrund rückte. Zudem war für das gemeinsame Arbeiten an diesem Projekt eine funktionierende Kommunikation unter den Teilnehmern auch außerhalb der Seminartreffen essentiell; hier waren sie in ihrer individuellen Autonomie gefordert, vor allem um die Kommunikation zu gewährleisten und die Arbeiten abzustimmen. Für den Austausch über die Projektarbeit stand die Tele-Tandem-Plattform des Deutsch-französischen Jugendwerks zur Verfügung (www.tele-tandem.net). Ein wesentliches weiteres Prinzip des Konzepts der Lehrveranstaltung war das der Co-Konstruktion, das sich durch das gemeinsame Projekt der Studie‐ renden konkretisierte, indem gemeinsam Materialien für die deutsch-französi‐ sche malette pédagogique entwickelt wurden. Die Unterrichtsmaterialien für den Deutschbzw. Französischunterricht in der Grundschule wurden am Fran‐ zösischlehrertag der Universität des Saarlandes in einem Atelier präsentiert (w ww.uni-saarland.de/ fakultaet-p/ franzoesischlehrertag/ ) und stehen inzwischen interessierten Lehrenden in der Grenzregion zur Verfügung (https: / / animaux-m al-aimes-unbeliebte-tiere2.webnode.fr). Die Seminarveranstaltung wurde auf der Basis der geschilderten Prinzipien realisiert. Es entstanden mannigfaltige und sehr kreative Ideen zu und mit sieben Tieren, die in der Großregion anzutreffen sind (Fledermaus, Fuchs, Maus, Maulwurf, Mistkäfer, Spinne und Wolf). Während sechs Gruppen zu jeweils einem Tier arbeiteten, widmete sich eine weitere Gruppe der Erstellung zusammenfassender Aktivitäten und Materialien, in denen alle diese Tiere nochmals thematisiert werden. Es wurden in den Gruppen Arbeitsblätter, Kopiervorlagen, Spielvorlagen und Spielmaterialien u.v.m. entwickelt, zudem jeweils in beiden Sprachen Hörversionen der Geschichten aufgenommen und Handreichungen für die Lehrenden erstellt. Eine letzte Gruppe erstellte ein eigenes Buch vom Maulwurf Herrn Tauppisch, der den Regenwurm und die Maus trifft und am Ende zu der Erkenntnis gelangt: „Ne juge pas les personnes que tu rencontres. Apprends à les connaître! “. Hier wurde in der Gruppe ge‐ meinsam eine Geschichte entwickelt und illustriert, in zwei Sprachen formuliert, 85 Gemeinsame Lehramtsausbildung in der Großregion Hörversionen dazu erstellt sowie eine Handreichung für den Unterrichtseinsatz entwickelt. Am Ende der Lehrveranstaltung waren die Studierenden aufgefordert, einen Fragebogen mit offenen und geschlossenen Fragen zu der Seminarveranstaltung und den erzielten Lernerfolgen auszufüllen. Im folgenden Abschnitt werden anhand von Ergebnissen und Auszügen aus dieser Befragung einige Aspekte der Zusammenarbeit der deutschen und französischen Studierenden herausge‐ griffen. 4.2 Die Zusammenarbeit unter den Studenten 4.2.1 Die Arbeit im Tandem - Wahrnehmung der Sprache und Sprachkompetenz Die eingangs des Seminars zum Umgang mit den Sprachen der Teilnehmer getroffenen Vereinbarungen wurden bei den binationalen Treffen nicht konse‐ quent eingehalten, wenn auch die grundlegenden Tandemprinzipien insgesamt berücksichtigt wurden, namentlich die Würdigung beider Sprachen, die part‐ nerschaftliche, auf Gegenseitigkeit angelegte und autonome Zusammenarbeit und das interkulturelle Lernen. Wie die Kommentare in der Abschlussevalu‐ ation zeigen, war nicht nur die unausgeglichene Anzahl der Sprecher der beiden Sprachen ein zentraler Faktor für die Schwierigkeiten bezüglich deren ausgeglichener Nutzung, sondern auch die sehr unterschiedlichen sprachlichen Repertoires und Kompetenzen der Teilnehmer in der jeweiligen Partnersprache: Die wohl zunächst größte Herausforderung beim ersten Aufeinandertreffen mit den französischen Studierenden war die doch recht großen Unterschiede in den sprachli‐ chen Fähigkeiten. […] Schön zu sehen war allerdings, dass die Franzosen dennoch versuchten sich so gut wie möglich einzubringen und in manchen Situationen auch einmal die deutsche Sprache nutzten (TN7) Die sprachlichen Kompetenzen der deutschen Kommilitonen wurden von den französischen Teilnehmern mehrfach unterstrichen: Les allemands ont fait de réels efforts pour s’exprimer en français. (TN19) Les allemands sont plus à l’aise à l’oral. (TN23) Les allemands parlent très bien le français. (TN26) Aber auch auf deutscher Seite wurde festgestellt: Die deutschen Studenten sind motivierter, auf der Fremdsprache zu kommunizieren. (TN4) 86 Christina Reissner Insgesamt wurde die Kommunikation im Verlauf der Veranstaltung durchweg positiv bewertet. Hinsichtlich der Diskussionen in den Präsenzveranstaltungen ist die Rückmeldung fast durchweg positiv: Abb. 1: « Die Diskussionen in der Veranstaltung waren produktiv. » Die Frage nach der Effektivität des Tandemprinzips für das Sprachenlernen wurde von 94 % der Studierenden bejaht, wenn auch in vielen Fällen mit der Einschränkung, dass idealerweise die beiden Sprachen unter den Lernern ausgeglichen verteilt sein sollten. Nos échanges n’étaient pas assez centrés sur l’allemand. En équilibrant les groupes, l’intérêt linguistique aurait été plus grand. (TN25) Beinahe alle Teilnehmer nahmen in der gewählten Vorgehensweise einen Mehrwert wahr, wie die folgenden Auszüge exemplarisch zeigen: […] on a tenté de communiquer dans les deux langues, ça nous a apporté du concret à nos apprentissages de la langue et du travail de coopération (TN11) […] cela nous pousse à parler la langue étrangère et à en apprendre plus sur leur culture. (TN10) c’est dans ces moments là que la barrière de la langue s’efface (TN17) cela rompt avec l’idée d’un cours standard où l’on n’apprend que par l’intermédiaire de polycopiés. Là, on a des personnes vivantes en face de nous. (TN30) 4.2.2 Die gemeinsame Erstellung der Lehrmaterialien In den einzelnen Arbeitsgruppen entwickelte sich nach den Rückmeldungen aus den Evaluationen eine Gemeinschaft; das gemeinsame Ziel der Erstellung der Materialien verband die Gruppen offensichtlich in besonderem Maße. Die Gruppe zur Geschichte von Herrn Tauppisch (eine Anspielung auf das mundart‐ 87 Gemeinsame Lehramtsausbildung in der Großregion liche Wort tauppisch, was soviel wie ungeschickt, tölpelhaft bedeutet) unterstrich diesen Aspekt bei ihrer Abschlusspräsentation am Französischlehrertag in besonderem Maße: Abb. 2: aus der Präsentation der Gruppe « Herr Tauppisch ». Das Engagement der Studierenden erwies sich insgesamt als weit überdurch‐ schnittlich; neben der regelmäßigen Anwesenheit in den Präsenzveranstal‐ tungen mussten sie sich zusätzlich zwischen den Terminen verständigen und abstimmen. 48 % der Teilnehmer kommunizierten nach den Angaben in der Befragung dazu „mindestens einmal wöchentlich“ miteinander, 12 % mehr als einmal wöchentlich. Nur ein Studierender gab an, während der dreimonatigen Laufzeit des Projekts nur viermal mit der Gruppe kommuniziert zu haben. Damit korrelieren auch die Angaben zur Qualität der Zusammenarbeit mit den Kommilitonen (Abb.3); die Zusammenarbeit mit den französischen Kollegen wurde von 87 % der deutschen Studierenden als „sehr gut“ bezeichnet, ein Studierender gab dabei „eher schlecht“ an (in einer Gruppe gab es grundlegende Probleme bei der Zusammenarbeit, in der Evaluation wurde zusammenfassend festgestellt): schlechte Kommunikation, weshalb die eigene Arbeit verhindert wurde (TN6). Die französischen Teilnehmer schätzten die Zusammenarbeit dagegen insge‐ samt positiv ein, 58 % von ihnen als „sehr gut“, je 21 % als „gut“ oder „eher gut“, negative Bewertungen gab es hier keine: 88 Christina Reissner Abb. 3: Die Zusammenarbeit mit den deutschen/ den französischen Kollegen In den Freitextantworten zur Erläuterung der Qualität der Zusammenarbeit wurden mit einer Ausnahme nur positive Enschätzungen gegeben: la collaboration s’est très bien passé, on a vite été à l’aise avec les uns avec les autres” (TN10); “l’entente était très bonne”(TN13); „bon relationnel“(TN15); “très bonne en‐ tente, coordination, coopération“(TN16); „Chacun a pu s‘investir et donner le meilleur de lui-même. C’était und belle coopération.“(TN17); „très bonne ambiance”(TN19); „tout s’est passé à merveilles”(TN25); „gute Kommunikation und Arbeitsteilung (TN3,4,9); „freundschaftliche, angenehme Atmosphäre“(TN4); „die Begegnung und der Austausch mit den französischen Studierenden war durchweg offen und herzlich“ (TN7); “La malette est le résultat d’une belle cooperation franco-allemande (TN9). Zusammenfassend illustriert die folgende Abb.4 die überaus positive Wahrneh‐ mung der gegenseitigen Wertschätzung während der Seminarveranstaltung: Abb. 4: « Die Studierenden zeigten untereinander eine wertschätzende Haltung.» 89 Gemeinsame Lehramtsausbildung in der Großregion Die Gruppenarbeit zu Herrn Tauppisch zeigt wohl am eindrucksvollsten den Esprit des Projekts; am Ende ihrer Präsentation erklärten die Studierenden: Abb. 5: aus der Präsentation der Gruppe « Herr Tauppisch » 4.3 Unterschiedliche Sichtweisen Die überwiegende Mehrheit der Studierenden stellte in der Abschlussevaluation Unterschiede zwischen den deutschen und französischen Perspektiven fest. Die Stellungnahmen lassen sich fast ausschließlich den Bereichen „Sprache / Sprachkompetenz“, „Kultur / Interkulturelles“, „Lehren und Lernen“ zuordnen. Zu diesen Aspekten werden im Folgenden jeweils exemplarisch Zitate aus den abschließenden Evaluationen der Lehrveranstaltung angeführt. Die Zusammenarbeit der Studenten geschah auf der Basis von Bilderbüchern; zu Beginn der Veranstaltung wurden beispielhaft einige einschlägige deutsche und französische Bilderbücher präsentiert, die Teilnehmer ergänzten die Samm‐ lung im Laufe der Zeit und bildeten deutsch-französische Gruppen. Bereits bei der Auswahl der Tiere zeigten sich erste Unterschiede in der Wahrnehmung und den Einstellungen der Studierenden beiderseits der Grenze: es bestanden deutliche Differenzen in der Einordnung verschiedener Tiere als unbeliebt / mal-aimé, so wurde etwa länger darüber diskutiert, warum der Maulwurf auf französischer Seite unbeliebt und bei den Deutschen im Gegensatz dazu geradezu beliebt ist. Auch wurden von den französischen Studenten deutlich mehr Tiere als unbeliebt aufgeführt, und es bestand häufig keine Einigkeit dar‐ über, welches Tier als unbeliebt anzusehen ist. Zusammenfassend wurde dieser Aspekt von knapp der Hälfte der Studierenden in ihren Abschlussreflexionen festgehalten, wie die folgenden Zitate beispielhaft zeigen: Es gibt sehr viele Unterschiede zu unbeliebten Tieren auf Seiten der Deutschen und der Franzosen (TN5); 90 Christina Reissner […] on a constaté des différentes représentations des animaux mal-aimés selon les cultures (TN 22). In den Kommentaren wird deutlich, dass die Studierenden im Rahmen ihrer Ak‐ tivitäten auch weit über das konkrete Thema hinaus gemeinsame Reflektionen anstellten: Nous avons conclu que les stéréotypes et les perspectives liées aux animaux étaient une construction sociale et culturelle. (TN25) So war bzw. wurde den meisten Teilnehmern die interkulturelle Dimension ihrer Aktivitäten im Rahmen dieser Lehrveranstaltung deutlich: Eine weitere Herausforderung stellten die verschiedenen Vorstellungen bei französi‐ schen und deutschen Studierenden dar. In Gesprächen konnte ich feststellen, dass die französische und deutsche Lehrerausbildung sehr verschieden ist, und deshalb auch die vorhandenen Kompetenzen der deutschen und französischen Studierenden sehr unterschiedlich sind. (TN7) Leurs manières de faire ou de voir les choses sont tantôt différentes, tantôt simi‐ laires/ semblables. (TN30) Les étudiants allemands ont une très grande facilité pour le numérique. (TN27) Schriftlichkeit hat bei den Franzosen einen höheren Stellenwert. (TN4) Unterschiedliche Vorstellungen von Lehren und Lernen. (TN4) Die Ausbildung ist sehr verschieden. (TN5) On a pu apercevoir des differences au niveau des enseignements. (TN10) 5 Bilanz und Perspektiven Die Auszüge aus den Evaluationen der Studierenden, die an der binationalen Lehrveranstaltung teilgenommen haben, verdeutlichen den besonderen Mehr‐ wert des grenzüberschreitenden Arbeitens. Die Einschätzungen, Erkenntnisse und Einsichten der Studierenden resultieren aus erlebten Situationen und realen Erfahrungen, aus der unmittelbaren Lebenswelt. Der Aspekt der Begegnung mit den Kommilitonen jenseits der nationalen Grenze unterstreicht die besonderen Charakteristika und Effekte dieses Veranstaltungsformats. Mit Dominique Macaire können die Erfahrungen im Rahmen des Pilotpro‐ jekts durchaus dahin gedeutet werden, dass auch im universitären Grenzraum Identitäten und Praktiken aufeinandertreffen, die sich letztlich auf ein gemein‐ sames, deutsch-französisches „entre-deux“ zurückführen lassen: un espace nouveau de confrontation des identités et des pratiques dites ,scolaires‘ des langues-cultures qui relève d’un entre-deux franco-allemand (Macaire 2015: 14) 91 Gemeinsame Lehramtsausbildung in der Großregion Wie gezeigt werden konnte, kommt dies im Falle des hier vorgestellten Projekt‐ seminars nicht nur in dem deutsch-französischen Lernkoffer zu unbeliebten Tieren als output des Seminars zum Ausdruck, sondern auch in den Stellung‐ nahmen der Studierenden. Sie haben die französische Sprache ganz im Sinne Albert Raaschs „nicht nur als Unterrichtsgegenstand, sondern als authentisches Kommunikationsmittel erlebt“ (Raasch 1992: 7) Auch die Perspektive, „die Fremdsprache nicht nur als zweckmäßiges Verständigungsmittel zu lehren, sondern zugleich auch als Ausdruck einer Kultur […]“ (ders.: 4) konnte ihnen durch das Lehrformat eröffnet werden. Sie sind beinahe einstimmig überzeugt davon, dass derartige Projekte zur Verbesserung ihrer Lehramtsausbildung, aber auch zu ihrer persönlichen Entwicklung beitragen. Das Interesse und der Bedarf bei den Studierenden für solche Angebote sind groß, und das gezeigte Engagement belegt deren Potential für die Lehramtsausbildung insbesondere für den Grundschulbereich. Der Verlauf und die Ergebnisse dieses Projektseminars geben allen Anlass, den geplanten Studiengang BiPrimar möglichst schnell auf den Weg zu bringen, um so die großen Vorteile der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zu institutionalisieren und nachhaltig zu verankern. Ich möchte diesen Beitrag beenden mit einem letzten Blick auf die von den Studierenden erstellte deutsch-französische Geschichte vom blinden Maulwurf Herrn Tauppisch und schließe mich der zusammenfassenden Feststellung eines der Autoren an. Das Seminar war “plus qu’un projet, une histoire! ”. Literatur Breugnot, Jacqueline (2008). La compréhension interculturelle en zone frontalière. In: Hélot, Christine & Britta Benert (edd.). Penser le bilinguisme autrement. Bern: Lang, 97-110. Cenoz, Jasone & Durk Gorter (Eds.) (2011). A Holistic Approach in Multilingual Educa‐ tion: Introduction. Special issue Toward a Multilingual Approach in the Study of Multilingualism, School Contexts. 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Saarbrücken. 94 Christina Reissner Sprachenlernen als Grenzerfahrung Hermann Funk 1 Einführung Wer hätte gedacht, dass die Definition von Grenze sich in dem Zeitraum, in dem ich an diesem Text gearbeitet habe - genauer, im zweiten Quartal des Jahres 2020 -, so grundlegend wandeln würde und Grenzen für eine Generation, die den Begriff nur noch in der abstrakten Begrifflichkeit der Sprachengrenze kannte, zumindest zeitweise wieder zu einer unüberwindbaren Barriere werden würden, wie sie seit dem Ende der Teilung Europas 1990 eigentlich auf diesem Kontinent der Vergangenheit anzugehören schien. Was 2015 zum Höhepunkt der Flüchtlingsbewegung bereits sichtbar und mit dem Brexit Realität wurde, dass das Schengener Abkommen und die Entwicklung in Richtung immer offenerer Binnengrenzen nicht unumkehrbar sind, erfährt nun in der Pandemie-Krise zwischenzeitlich einen traurigen Höhepunkt. Um es an einem Beispiel aus Albert Raaschs universitärem Wirkungsumfeld zu illustrieren: Die Grenzstation Goldene Bremm ist nun zum Zeitpunkt, an dem ich diesen Text schreibe, wieder so unüberwindbar wie einstmals die DDR-Grenze. Niemand außer LKWs kommt vorerst durch und der 8. Mai war dieses Jahr nicht wie üblich der „Nationalfeiertag” des Saarbrücker Einzelhandels. Die Schließung der Grenzen zwischen Deutschland und Frankreich, und nicht nur dort, hat allerdings auch gezeigt, wie eng eine Region wie SaarLorLux inzwischen zusammengewachsen ist und wie vielfältig und vielschichtig die Bindungen und die grenzübergreifende Infrastruktur sind. Ein Teil des Wirkens von Albert Raasch bezog sich auf fremdsprachliche Erfahrungen und Projekte in Grenzregionen - so der Untertitel eines von ihm herausgegebene Tagungsbandes (Raasch 2000). Der Band eröffnet den Blick auf eine Fülle regionaler und lokaler Initiativen und Projekte, deren Vielfalt immer noch beeindruckt. Es ging ihm in diesem Arbeitskontext, den er geprägt hat wie kein anderer, und an den in diesem Kontext aus aktuellem Anlass erinnert werden soll, stets um Sprachen und Lernerfahrungen in Regionen, in denen Wittgensteins viel zitiertes Wort „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“ (Wittgenstein 1922: Satz 5.6) dezidiert keine Gültigkeit hat. Mit diesem Text ist keine umfassende Bilanz der Entwicklung der Sprachen‐ didaktik und -praxis in Grenzregionen intendiert. Es soll lediglich eine Reihe sprachenpolitischer und fremdsprachendidaktischer Meilensteine im Zusam‐ menhang dargestellt werden, in denen sich das Arbeitsfeld der Mehrsprachig‐ keitsdidaktik weiterentwickelt hat. Im ersten Teil des Beitrags soll zunächst die allgemeine Entwicklung in der Grenzregion Saar-Lor-Lux-Rheinland / Pfalz-Wallonie“ dargestellt werden. Anschließend werden die Entwicklungen des Forschungs- und Arbeitsfeldes Sprachdidaktik in Grenzregionen am Beispiel der Dissertation von Dorothea Spaniel-Weise (2017) über die Entwicklung im deutsch-tschechischen Grenzraum skizziert werden. Abschließend soll dann der Beitrag des Companion Guide (2018) zum „Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen“ für die Entwicklung der Didaktik und Methodik des Lernens fremder Sprachen, der 2020 auf Deutsch erschienen ist, erörtert werden. 2 Asynchrone Entwicklung: Wirtschaft und Sprachenpolitik in der Großregion Saar-Lor-Lux In einer Pressemeldung des Statistischen Amtes des Saarlandes zum 16. Gipfel der Großregion Saar-Lor-Lux-Rheinland / Pfalz-Wallonie“ am 28.01. 2019 wird zur beruflichen Mobilität festgehalten. Täglich pendeln über 230 000 Berufstätige in eine andere der fünf Regionen, um dort ihrer Arbeit nachzugehen. Damit ist die Großregion der größte grenzüberschrei‐ tende Arbeitsmarkt in ganz Europa. Fast die Hälfte der Grenzgänger kommt aus Lothringen (113 000), und die beliebteste Zielregion für auswärtige Beschäftigte ist das Großherzogtum Luxemburg (176 000 Berufspendler aus allen Nachbarregionen, darunter 90 000 aus Lothringen). Im Saarland arbeiten etwa 16 000 Beschäftigte aus Lothringen und 27 000 aus Rheinland-Pfalz. Diesem Zustrom von 43 000 Einpendlern stehen umgekehrt 27 000 Saarländer gegenüber, die außerhalb des Landes ihrem Beruf nachgehen, und zwar überwiegend in Rheinland-Pfalz (über 17 000). (Saarland - Themenportale 2019) In den Jahren seit 2015 haben vor allem Fragen des Sprachenlernens in Verbindung mit Migration die sprachenpolitische Debatte in den deutschspra‐ chigen Ländern und im Bereich des Deutschen als Fremd- und Zweitsprache geprägt. Wie kaum ein anderer Bereich ist aber immer auch der Rahmen des Sprachenlernens in Grenzsituationen von bildungs- und sprachenpolitischen 96 Hermann Funk Entscheidungen geprägt. Dies gilt nach wie vor in besonderer Weise auch für das Erlernen des Französischen im Saarland, in Rheinland-Pfalz und Baden-Würt‐ temberg und des Deutschen in der neu formierten französischen Region Grand Est. Die besondere Sprachensituation in der Schweiz, in der die Nationalsprache Französisch in den letzten zwanzig Jahren ebenfalls durch das Englische zuerst im Kanton Zürich und dann landesweit unter Druck geraten ist, muss in diesem Kontext außen vor bleiben. In den aktuellen bildungs- und regionalpolitischen Debatten scheint das Sprachenthema in Grenzregionen nicht mehr präsent zu sein. Mit dem Total‐ ausfall des Gesamtverbandes Moderne Fremdsprachen als Nachfolgeverband des FMF, dessen saarländischer Landesverband in der Zeit von Albert Raasch ein wesentlicher Akteur in sprachenpolitischen Debatten war, ist die Stimme der Lehrkräfte in der öffentlichen Diskussion nicht mehr hörbar. In der letzten Ausgabe der Cahiers de la Grande Région (Mai 2020) spielt das Sprachenthema ebenfalls keine Rolle. Für Luxemburg erscheint die Sprachensituation aktuell noch am besten dokumentiert. Hier wird beispielsweise die Affinität junger Lu‐ xemburgerinnen und Luxemburger zum deutschsprachigen Fernsehprogramm (mehr als zum französischsprachigen) ebenso dokumentiert (Boersenberger 2014) wie die Konsequenzen, die sich aus der Migrationsentwicklung auf die Sprachensituation auch in Grenzregionen ergeben haben. Dem Bildungsportal des Saarlandes ist in Bezug auf die Fremdsprachen nur die unveränderte Tatsache zu entnehmen: Die meisten Gymnasien führen einen Sprachenzweig mit Französisch, Englisch oder Latein als erster Fremdsprache; im Regelfall kommt in Klassenstufe 6 eine zweite Fremdsprache (Englisch, Französisch oder Latein), in Klassenstufe 8 eine dritte Pflichtfremdsprache (Spanisch, Italienisch, Latein oder Französisch) hinzu. (Saarland - Bildungsserver 2018) Schon in den einleitenden Bemerkungen ist deutlich geworden, dass Entwick‐ lungen weder politisch noch sprachenpolitisch automatisch in die Richtung mehr Kontakte, weniger Grenzen verlaufen. Die Hoffnung, dass sich vertiefende Integrationsprozesse an Sprachgrenzen sozusagen automatisch zu größerer Sprachlernmotivation und mehrsprachigen Kompetenzen führen würden, hat sich nicht erfüllt. Tatsächlich wirken auch in Grenzregionen zunehmend überre‐ gionale Faktoren, wie sowohl die Zunahme des Interesses an der Fremdsprache Spanisch in Lothringen, als auch die drastische Abnahme des Interesses an Deutsch als erster Fremdsprache zugunsten des Englischen in den grenznahen polnischen Woiwodschaften demonstrieren. Unter zusätzlichen Druck geriet die Fremdsprache Deutsch nicht nur in der Region Grand Est auch durch Sprachen‐ 97 Sprachenlernen als Grenzerfahrung politik der Regierung Hollande, die de facto auf die Abschaffung des Deutschen als erste Fremdsprache abzielte und damit auch die etablierten Schulformen mit erweitertem Deutsch-Angebot wie die classes BiLangues (Goethe-Institut 2020) und die sections européennes gefährdete. Aktuell lernen in Frankreich nur noch drei Prozent der Schülerinnen und Schüler Deutsch als erste Fremdsprache und 16 % als zweite. Dem entspricht der Rückgang der Germanistik-Studierenden an den Universitäten (Auswärtiges Amt 2020: 20). Trotz einiger Korrekturen durch die Regierung Macron - so ist es wieder möglich für Kinder, die bereits in der Grundschule mit Deutsch begonnen haben, diese Fremdsprache im Collège als erste Fremdsprache zu wählen - hat diese Entwicklung der schulischen Mehrsprachigkeit in Frankreich nachhaltig geschadet. Die Weiterentwicklung von Initiativen und Konzepten bleibt daher für die Fremdsprachendidaktik ebenso auf der Tagesordnung wie die Weiterentwicklung der Sprachenpolitik regional und zentral. Das Wirken von Albert Raasch in beiden Feldern bleibt damit maßgebend und aktuell. Die tatsächliche Entwicklung verlief in diesen Feldern also weder linear noch widerspruchsfrei, wie auch die folgenden Beispiele belegen. Ein ebenso mutiger wie ermutigender und aufsehenerregender Schritt war die Initiative der damaligen Ministerpräsidentin des Saarlandes Kramp-Kar‐ renbauer im Jubiläumsjahr des deutsch-französischen Elysee-Vertrags 2013 zur Entwicklung des Saarlandes als einer zweisprachigen Region, der die Erkenntnis zu Grunde lag, dass Sprachenpolitik als Teil regionaler Strukturpo‐ litik in einem wirtschaftlichen Umfeld zunehmender regionaler Mobilität und Wirtschaftsdynamik zu verstehen ist. Dieser Ansatz war Grundlage jener von Kramp-Karrenbauer zusammen mit dem Koalitionspartner SPD entwickelten Frankreich-Strategie ihrer Landesregierung. Das Bundesland sollte innerhalb einer Generation als „Alleinstellungsmerkmal“ gegenüber anderen Bundes‐ ländern durch flächendeckenden Französischunterricht schon ab der ersten Grundschulklasse zweisprachig werden. „Die ‚Generation Elysee‘, also die Saar‐ länder, die im Jubiläumsjahr 2013 geboren sind und in 30 Jahren selbst Kinder bekommen, sollen für ihren Nachwuchs die Chance erhalten, beide Sprachen im Alltag- und Berufsleben zu beherrschen.“ So beschrieb Kramp-Karrenbauer vor der Presse ihre Vision, die sie den Saarländern nicht per Zwang und Verordnung, sondern im Bürgerdialog vermitteln wollte (Saarland 2020: 10). Deutsch als alleinige Amtssprache und die Rolle des Englischen als einer für den Beruf unverzichtbaren Weltsprache sollten durch den Plan eines „ganzheitlichen zivilgesellschaftlichen Projektes“ (ibid.), der Entwicklung der Französisch-Kom‐ petenz, nicht beeinträchtigt werden. 98 Hermann Funk Die Situation der Mehrsprachigkeit wird das Land mit einem besonderen Esprit erfüllen, der auch neue kosmopolitische Zielgruppen anlockt. Diese reizt die grenzüberschreitende „europäische“ Kulturmetropole, die auf eine Fülle an grenzüberschreitenden Kulturschaffenden und -stätten zurückgreifen kann und anders als in anderen europäischen Metropolen von kurzen Wegen profitiert. (Saarland 2020: 12) Zum Maßnahmepaket gehörte auch der Ausbau des Netzes der bilingualen Kindertagesstätten besonders im Elsass und Lothringen, die in der Absichts‐ erklärung einer deutsch-französische Qualitätscharta für bilinguale Kinder‐ tagesstätten unterschrieben wurde. Im Umsetzungsvertrag des sogenannten GuteKita-Gesetzes des Bundes wird auf ein Netz von mehr als 200 bilingualen Kitas des Saarlandes verwiesen, die ganzheitlich-alltagsintegriert und immersiv deutsch-französisch arbeiten (Gute-Kita-Gesetz o.J.: 11) und in denen schon Dreijährige mit beiden Sprachen aufwachsen. Das sind insgesamt etwa 40 % der Kitas des Saarlandes (zur entsprechenden Entwicklung in Sachsen vgl. Gellrich 2015). Zur sprachenpolitischen Erfolgsgeschichte gehören auch zahlreiche In‐ itiativen in Bezug auf die zweisprachige Berufsausbildung, insbesondere in der Automobilindustrie mit ihren großen Produktionsstandorten (Smart in Loth‐ ringen, Ford in Saarlouis, Saarland). Parallel zum Kita-Projekt wurde im Jahre 2013 auch die Fachstelle für grenzüberschreitende Ausbildung in Dillingen ge‐ gründet mit einem Angebot an lothringische Lycée-Schülerinnen und -Schüler bzw. Studentinnen und Studenten (Niveau Bac Pro und BTS). Sie können im Projekt Teile der Pflicht-Praxisphasen in einem saarländischen Betrieb absolvieren. Saarländische Auszubildende und Fachoberschüler können einen Teil ihrer Berufsausbildung bzw. ein Praktikum in einem französischen Betrieb absolvieren. Eine Pressemitteilung auf der Internetseite des Saarlandes meldete 2017 gestiegenes Interesse an diesem Angebot (Saarland - Themenportale 2017), was ich aus meinen persönlichen Erfahrungen in Lothringen bestätigen kann. Zwar wurde das strategische Projekt auch von der Nachfolgeregierung fortgeführt (Saarland 2020), und die Erfolge sind sichtbar, aber der Weg zu den visionären Zielen erscheint lang und man ist unwillkürlich an die beiden ersten Murphy-Gesetze erinnert: Alles dauert länger als man denkt, und nichts ist so leicht, wie es aussieht. Man kann vermuten, dass die Zeit der Grenzschließung von März bis Mitte Juni 2020 zwar vielen Menschen die Zusammengehörigkeit der Region bewusster werden ließ, wie viele aktuelle Nachrichten aus den Grenzgemeinden zeigen, und Fortschritte in Richtung regionaler Kooperation nicht unumkehrbar sind, aber die Prioritäten auch staatlichen Handelns waren hier eher ökono‐ misch und nicht kulturpolitisch bestimmt. Auf der Regionalkonferenz der 99 Sprachenlernen als Grenzerfahrung Region im Jahre 2019 scheint die Sprachenfrage keine Rolle gespielt zu haben. Im Mittelpunkt standen die berufliche Mobilität und die allgemeine Wirtschafts‐ entwicklung. 3 Sprach- und Bildungspolitik im deutsch-polnischen Grenzraum - eine Langzeitstudie Infrastrukturell wesentlich weniger differenziert ausgebaut ist die Situation in den Grenzregionen zu Polen und der Tschechischen Republik. Wegen der un‐ terschiedlichen Wirtschaftsdynamik und der vergleichsweise asymmetrischen Mobilität auf dem Arbeitsmarkt erscheint ein direkter Vergleich der Regionen wenig sinnvoll. Eine aktuelle Langzeitstudie gibt allerdings Einblicke in schuli‐ sche Entwicklungen, die die Entwicklungen von Sprachbedürfnissen und Ein‐ stellungen zur Mehrsprachigkeit genauer beschreiben. Die Dissertationsschrift mit dem ursprünglichen Titel Europäische Mehrsprachigkeit, bilinguales Lernen und Deutsch als Fremdsprache: Längsschnittstudien zum Nachbarsprachenlernen im ostsächsischen Grenzraum, vorgelegt von Dorothea Spaniel-Weise (2018), wurde inspiriert u. a. durch die Arbeiten von Albert Raasch, auf den sie sich auch an verschiedenen Punkten direkt bezieht. Spaniel-Weise (2018) fasst Modelle des mehrsprachigen fachlichen Lernens (Content and Language Integrated Learning, CLIL) ebenso zusammen wie den Zusammenhang zwischen Wirtschaftserfolg und Mehrsprachigkeit - wie ihn die große ELAN-Studie der EU (ELAN 2006) im Jahre 2006 belegt hatte -, wie die Ebene der theoretischen Positionen zur europäischen Identität, die in Habermas’ Forderung nach einer europäischen Diskurskultur (Habermas 2014: 111) und Foucaults Postulat des Nationalen als unverzichtbarem Ordnungsschema zum Ausdruck kommen. Dass Grenzkompetenz sich aus einer Fülle unterschiedlicher Faktoren wie Mobilität, Bildung und Mehrsprachigkeit zusammensetzt, die nicht automatisch im Zuge umfangreicher Maßnahmen top-down entstehen, zeigt die Verfasserin an vielen Beispielen. In ihrer historischen Betrachtung wird deutlich, dass bereits die deutsch-tschechisch-polnischen Grenzen in der Geschichte der DDR je nach politischer Lage im Nachbarland jeweils offener oder geschlossener waren, dass das Erlernen der Sprache des Nachbarn auf deutscher Seite nie besonders ausgeprägt war und dass die Aktivitäten etwa des deutsch-polnischen Jugendwerkes im Vergleich zum deutsch-französischen eher weniger umfangreich sind, bzw. auf zahlenmäßig geringeres Interesse in Deutschland stoßen. In dieser Asymmetrie liegt sicher das Grundproblem mangelnder Nachhaltigkeit von Einzelmaßnahmen begründet. 100 Hermann Funk Waren mit Konzepten wie bilinguales Sach-Fach-Lernen (CLIL & CLILIG) einst Hoffnungen auf ein europäisches Schulmodell verbunden, so zeigt die zurückgehende Zahl der Neueinrichtungen trotz aller ministeriellen Förderung und durch die KMK, dass sich diese Hoffnungen nicht erfüllt haben. Die Skepsis vieler Fachdidaktiker und Spracherwerbsforscher (Long 2019) mag dazu beigetragen haben, letztlich fehlten aber auch die infrastrukturellen bildungspo‐ litischen Voraussetzungen, vor allem in der Ausbildung von Fachlehrkräften mit entsprechender Fach-Qualifikation und fremdsprachlicher Kompetenz und in der Bereitstellung adäquater Lernmaterialien, die vom Markt so nicht hervorge‐ bracht werden und staatlicher Förderung bedurft hätten; und schließlich fehlte auch systematische Weiterbildung in Bezug auf zweisprachiges Team-Teaching. Kern der Studie von Spaniel-Weise sind Datenerhebungen in den bilingualen Schulen in Görlitz und Pirna. Die Datenerhebung, die in der Vorstudie der Jahre 2002-2004 aus einer Lerner-Befragung bestand und in der späteren Hauptstudie aus einer Expertenbefragung, die die Verfasserin in ihrer Methodik an Zydatiß anlehnt (Spaniel-Weise 2019: 178), sind umfangreich und dienen dem Ziel, die Forschungsfragen näher zu beleuchten. Tatsächlich gehen sie in ihren Details und im Umfang über dieses Ziel hinaus und erheben Daten, die einen Einblick in verschiedene Ebenen des schulischen Handelns, aber auch in die Motive, Haltungen und Einstellungen von Schülerinnen und Schülern in den Institutionen geben, jedoch auch in die Wirksamkeit und die Intentionen von Maßnahmen der sächsischen Kultusverwaltung. Wertvolle Aufschlüsse im Sinne einer konzeptuellen Ausrichtung liefern ebenfalls die Daten zu den Er‐ gebnissen der Sprachausbildung, sowohl in Bezug auf die erreichte Kompetenz als auch auf die Einstellungen der Schülerinnen und Schüler zu den jeweiligen Nachbarsprachen - und nicht zuletzt auf die strukturellen Defizite der angebo‐ tenen sprachlichen Bildung. Diese liegen vor allem in einer unzureichenden Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte für den Umgang mit mehrsprachigen Settings. Obwohl die Schülerinnen und Schüler sowohl ihren Unterricht als auch die interkulturelle Lernsituation in Grenznähe generell positiv einschätzen, bleiben doch Selbstzweifel an der erreichten Kompetenz, die auch durch die zi‐ tierten Sprachstands-Einschätzungen bestätigt werden. Kompetenzfortschritte wurden weniger durch den fremdsprachlichen Sach-Fachunterricht erreicht als durch Begegnungssituationen und geplante und informelle Sprachkontakte. Hier sind die dokumentierten Kontaktsituationen jeweils aufschlussreich. An dieser Stelle schließt sich der Kreis zu dem von Albert Raasch dokumentierten, umfangreichen Strauß an beispielhaften kontaktfördernden und -etablierenden Einzelmaßnahmen in der Region SaarLorLux um die Jahrtausendwende. Auch bei der untersuchten Zielgruppe ist mit der Zeit die Einschätzung der Bedeu‐ 101 Sprachenlernen als Grenzerfahrung 1 „Mediation ist ein außergerichtliches, vertrauliches und strukturiertes Verfahren, bei dem Parteien mithilfe eines oder mehrere Mediatoren freiwillig und eigenverant‐ wortlich eine einvernehmliche Beilegung ihres Konflikts anstreben (§ 1 Abs. 1 des Mediationsgesetzes vom 21.7.2012 - BGBl. I S. 1577).“ tung des Englischen als Voraussetzung beruflicher Kommunikation deutlich gestiegen. Diese Entwicklung wird auch auf tschechischer Seite durch bildungs‐ politische Maßnahmen, die trotz der geographischen Nachbarschaft zu zwei deutschsprachigen Ländern eindeutig das Englische durchgängig präferierten, gestärkt. 4 Der Begleitband zum Europäischen Referenzrahmen als didaktisch-methodischer Impuls Für die zukünftige Entwicklung der Pragmatik der interkulturellen Kommuni‐ kation gerade in Grenzregionen kann der im Mai auf Deutsch erschienene Begleitband zum Europäischen Referenzrahmen für Sprachen (2020) wichtige Impulse für eine Konkretisierung und Differenzierung der praktischen Lernziel‐ gestaltung und konkrete Übungsentwicklung geben. Dies gilt insbesondere für die Lernzielkategorie der Mediation. Die Übersetzung des englischen Begriffs mediation mit dem deutschen Begriff Mediation ist nicht unproblematisch, da der Begriff im Deutschen sowohl im Wirtschaftsleben gesetzlich definiert 1 ist, als auch in der psychologischen Praxis, in der er ein Konfliktmanagement durch einen neutralen Moderator beschreibt. Der bereits im Europäischen Referenzrahmen von 2001 verwendete Begriff der Sprachmittlung hätte sich hier eher angeboten. Gerade für die Beschreibung der kommunikativen Herausfor‐ derungen der interkulturellen Kommunikation in Grenzregionen enthält dieser Begriff ein lernzielgenerierendes Potenzial. Die Leitfrage ist dabei: In welchen Interaktionsformen und welchen Domänen der Sprachverwen‐ dung und auf welcher Textbasis findet in interkulturellen Settings in Grenzre‐ gionen Mediation statt und wie kann man sie auf der Lernzielebene beschreiben? In der gegenwärtigen Situation erscheint eine von den pragmatischen All‐ tagskontakten ausgehende Motivation, die Nachbarsprache zu lernen, nicht unbedingt in gleicher Weise zu entstehen wie früher. Die digitalen synchron‐ ischen Übersetzungsmöglichkeiten per App decken gerade im grundlegenden A1-Bereich inzwischen viele pragmatische Alltagsbedürfnisse ab - um in Saar‐ brücken einzukaufen oder touristisch unterwegs zu sein, sind beispielsweise Deutschkenntnisse kaum mehr erforderlich. Mittelfristig wird diese Entwick‐ lung digitaler Potenziale insbesondere den A1-Lernbereich aller Fremdsprachen verändern. Umso mehr muss die pragmatische Lernzielgestaltung den Fokus auf 102 Hermann Funk 2 Vgl. auch die Kritik von Burwitz-Melzer (2019). interkulturelle Kontakte und die verständnissichernde Weitergabe und Mittlung von Informationen an Dritte richten. Informationen aus gelesenen Texten in der eigenen oder einer anderen Sprache weitergeben, die intersprachliche Übersetzung gesprochener oder geschriebener Äußerungen, der Dialog über interkulturelle Beobachtungen, all das sind Lernziele, die auch im Anfangsun‐ terricht vorbereitet werden können und das Training von Alltagsdialogen, wie z. B. zum Thema Einkaufen ablösen werden. Im englischsprachigen Text des Companion Guide heißt es zu den Zielen der Mediation. In mediation, the user / learner acts as a social agent who creates bridges and helps to construct or convey meaning, sometimes within the same language, sometimes from one language to another (cross-linguistic mediation). The focus is on the role of language in processes like creating the space and conditions for communicating and / or learning, collaborating to construct new meaning, encouraging others to construct or understand new meaning, and passing on new information in an appropriate form. The context can be social, pedagogic, cultural, linguistic or professional. (Council of Europe 2020). Die Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Fremdsprachenforschung zum neuen Begleitband (DGFF 2020) enthält neben vielfach begründeter Kritik 2 an Methoden und Inhalten des Begleitbandes auch eine positive Wertung dieser Weiterentwicklung. In den Konzepten der drei neuen DaF-Erwachsenen-Lehr‐ werke der marktführenden Verlage Cornelsen, Klett und Hueber (Das Leben, Momente, und Netzwerk neu) ist diese Veränderung bereits in Ansätzen sichtbar. Die Materialien zeigen aber auch, dass die Umsetzung des allgemeinen Lernziel‐ bereichs Mediation sowohl auf der Ebene der Lernziele als auch im Übungsbe‐ reich weiterer Konkretisierung und didaktisch-methodischer Begleitung bedarf. Beschreibt man praktische Entwicklungen und konzeptuelle Einflussfak‐ toren auf die Didaktik des Fremdsprachenlernens in Grenzregionen, so muss schlussendlich die Entwicklung der Mehrsprachigkeitsdidaktik in den letzten zwanzig Jahren erwähnt werden, deren Forschungsergebnisse in großer Breite im Handbuch von Fäcke & Meißner (2019) dargestellt sind. Für Deutsch und Französisch als international typische zweite Fremdsprachen wird hier zum einen deutlich, dass sie nur in einer bildungspolitischen Rahmenkonstellation der Mehrsprachigkeit eine Zukunft haben, in der das Englisch nicht das Syn‐ onym für fremdsprachliches Lernen schlechthin ist. In dem Band wird in zahlreichen Beiträgen aus Theorie und Praxis anschaulich belegt, dass nur ein lokal und regional zu definierendes Gesamtsprachen-Curriculum unter 103 Sprachenlernen als Grenzerfahrung Einschluss der Herkunftssprachen der Migration, der Nachbarschaftssprachen und der internationalen Verkehrssprache Englisch in einem abgestimmten Konzept die Grundlage eines integrierten sprachlichen Kompetenzmodells sein kann. Auch im Elsass ist Arabisch eine Nachbarsprache, in Luxemburg vor allem Portugiesisch. 5 Fazit Dieser Beitrag war nicht der Versuch einer umfassenden Beschreibung der Entwicklung der Theorie und vielfältigen sprachenpolitischen Praxis in Grenz‐ regionen. Zusammenfassend kann man aber einige sprachenpolitische Erkennt‐ nisse festhalten: • Die allgemeinpolitischen und sprachenpolitischen Rahmenbedingungen, insbesondere die Offenheit der nationalen Sprachenpolitik gegenüber regionalen Bedarfsvarianten und Gegebenheiten bleibt für die Entwick‐ lungsmöglichkeiten regional bilingualer Sprachkompetenzen in Schule und Gesellschaft von zentraler Bedeutung. So ist auch der drastische Rückgang des Deutschen als erster Fremdsprache in den grenznahen polnischen Woiwodschaften, in Frankreich und in Ungarn in den letzten Jahren ein Beleg dafür, wie schnell sprachliche Kompetenzfortschritte auch in Grenzregionen verloren gehen können, wenn die nationale Bildungspolitik andere Schwerpunkte setzt. • Sprachbedarfe entstehen nicht automatisch aus der Sprach-Grenzsitua‐ tion heraus. Die subjektiven Motivationsstrukturen für die Wahl von Fremdsprachen sind komplexer und dynamischer. Die subjektiv ange‐ nommene und offiziell geförderte Bedeutung des Englischen in der beruflichen Kommunikation hat sich auch auf die Sprachbedarfs- und Sprachbedürfnissituation in den Grenzregionen ausgewirkt. • Das Zusammenwachsen der Grenzregionen hat sich zwar trotz politi‐ scher Rückschläge in der Vertiefung der europäischen Union wirtschaft‐ lich dynamisch entwickelt, eine analoge Entwicklung der Sprachbedarfe hat aber weder subjektiv noch gesamtgesellschaftlich stattgefunden. • In der beschriebenen Situation haben politische Initiativen wie die Fran‐ kreichstrategie des Saarlandes besonderes Gewicht, weil sie infrastruktu‐ relle Rahmen und Motive für praktische Projekte, Begegnungssituationen und Kooperationen sind, und damit bottom-up Bewegungen, die prakti‐ schen Fortschritt ermöglichen. Die Korrekturen an den Beschränkungen für Deutsch als Fremdsprache in der Regierungszeit Hollande in Frank‐ 104 Hermann Funk reich waren u. a. auch Ergebnis der Interventionen der Grenzregionen zur Bewahrung bilingualer Schulformen. Die Textsorte Festschrift-Beitrag legt ein persönliches Schlusswort nahe. Albert Raasch bin ich nach einem ersten zufälligen Treffen im Zug auf dem Rückweg von der GAL aus Darmstadt in meinem ersten universitären Dienstjahr 1980 immer wieder beruflich und - bei unserem Lebensstil unvermeidlich - in Zügen der Deutschen Bahn begegnet. Von jenem ersten Treffen ist mir seine freundlich-aufmunternde Art und die Aufgeschlossenheit, mit der er dem jungen Berufsanfänger begegnete, lebhaft in Erinnerung. Unaufdringlich-sou‐ veräne Sachkompetenz, Engagement und Freundlichkeit zeichneten seinen Arbeitsstil auch in den vielen Sitzungen aus, in denen wir uns in der Arbeit für den ehemaligen Fachverband Moderne Fremdsprachen oft begegneten. Sein sprachen- und fachpolitisches Engagement zeigt, dass er die im Fazit beschrie‐ benen Zusammenhänge stets im Blick hat. Literatur Auswärtiges Amt (2020). Deutsch als Fremdsprache weltweit. Datenerhebung 2020. Berlin: Auswärtiges Amt. (https: / / www.goethe.de/ de/ spr/ eng/ dlz.html; 16.06.2020). Begleitband zum Europäischen Referenzrahmen für Sprachen. Lehren. Lernen. Beurteilen. (2020). Stuttgart: Ernst Klett Verlag. Borsenberger, Monique (2014). Les pratiques culturelles des digital natives au Luxem‐ bourg. Les pratiques culturelles et linguistiques. In: Les Cahiers du CEPS 5 / 2014, 2-25. (https: / / statistiques.public.lu/ catalogue-publications/ cahiers-CEPS/ 2014/ 05-ling uistiques.pdf; 16.06.2020). Burwitz-Melzer, Eva (2019). Plurilinguale und plurikulturelle Kompetenz im CEFR Com‐ panion Volume (2018). In: Fäcke & Meißner (2019), 112-116. Council of Europe (2020). Common European Framework of Reference for Languages: Learning, Teaching, Assessment (CEFR). 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Beiträge aus dem Regionalschwerpunkt. In: Storz, C., F. Hinzmann, A. Hülsmann, U. Löbel & B. Dupke (Hrsg.) (in Vorb.). Tagungsband zur 46. Jahrestagung Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Reihe: Materialien Deutsch als Fremdsprache. Göttingen: FaDaF. Ludwig Wittgenstein (1922): Tractatus Logico-Philosophicus. Logisch-philosophische Ab‐ handlung. London: Keegan. Satz 5.6. 107 Sprachenlernen als Grenzerfahrung Mehrsprachigkeit im Spiegel der Vorstellungen der Akteure Georges Lüdi 1 Einleitung In den 1980er Jahren begann ein gemischtes Forschungsteam aus Neuchâtel und Basel eine Reihe von Untersuchungen zur sprachlichen Dimension der Migration. Dabei wurden zwei bis zu jenem Zeitpunkt recht weit auseinander‐ liegende Forschungsgebiete zusammengeführt, nämlich Mehrsprachigkeit und Zweitspracherwerb (siehe Lüdi & Py 1984, 1986, 4 2013). Inspiriert von den Überlegungen innerhalb des frankophonen Groupe de recherche en acquisition des langues, des Réseau Européen Acquisition des langues und eines Forschungs‐ projekts der European Science Foundation über Second Language Acquisition by Adult Immigrants, betrachteten wir den ungesteuerten Erwerb der Sprache des Gastlandes durch Arbeitsimmigranten als einen Fall aufkommender Zweispra‐ chigkeit bzw. Mehrsprachigkeit (Lüdi 1984). Dabei verglichen wir in einer ersten Phase Binnenwanderer und Einwanderer, später kamen unterschiedliche Typen von Migranten dazu. Mehrsprachigkeit definierten wir funktional als Fähigkeit, in anderen Kon‐ texten als denen von L1 zu kommunizieren, und dies unabhängig von den Erwerbsmethoden, dem erworbenen Kompetenzniveau und dem Abstand zwi‐ schen den Sprachen. Dies schloss offensichtlich sehr gute Fähigkeiten in meh‐ reren Sprachen nicht aus, machte es jedoch nicht zu einem bestimmenden Merkmal (vgl. später die Definition im GeR 2001). Idealiter sahen wir in der Mehrsprachigkeit viele Vorteile, die in den Folgejahren von der Forschung weitestgehend bestätigt wurden. So wurde ein Zusammenhang zwischen Mehrsprachigkeit und Kreativität beobachtet. Mehrsprachigkeit erweitert den Zugang zu Informationen, bietet alternative Möglichkeiten zur Organisation von Gedanken sowie neue Möglichkeiten, die umgebende Welt wahrnehmen. Darüber hinaus erhöht der Erwerb jeder neuen Sprache das Potenzial für kreatives Denken (Compendium-1 2009). Die wahr‐ scheinliche Erklärung dieser Vorteile hängt direkt mit der Integration mehrerer Sprachen in den Repertoires mehrsprachiger Menschen zusammen. Aufgrund ihrer Fähigkeit, mehrere aktive Sprachsysteme oder sogar konzeptuelle Räume zu verwalten, ist es wahrscheinlicher, dass kreative Analogien zwischen diesen Räumen auftreten, da relevante, aber unerwartete Assoziationen ausgewählt und irrelevante Informationen ausgeblendet werden. (Furlong 2009: 351). In Folgeuntersuchungen haben wir ähnliche Vorteile in sprachlich gemischten Gruppen beobachtet (Berthoud et al. 2013). Unsere Ergebnisse bestätigten frühere Untersuchungen, wonach gemischte Gruppen die Herausforderung vielfältiger und komplexer Aufgaben besser bewältigen können (Marquardt & Horvath 2001) und für die respektive Organisation von Vorteil sind (Kirton & Greene 2005). Es ist wahrscheinlich, dass die kognitiven und sozialen Vorteile nicht auf frühe Zwei-/ Mehrsprachigkeit beschränkt sind und die Arbeit in sprachlich gemischten Gruppen auch für späte und asymmetrische Mehrspra‐ chige gewinnbringend ist; sie stellt ein entscheidendes Argument für das Lehren und Lernen mehrerer Fremdsprachen dar. Aber sehen die Betroffenen das auch so? Wir waren erstaunt, von einem Westschweizer Informanten in Basel zu hören: j’ai l’impression qu’le fait de: d’acquérir euh: de de de de de . . ouais d’ê / d’être plus=habile dans une autre langue ça se fait toujours un peu au détriment d’sa lan/ d’sa propre langue et ça j’veux pas du tout alors parc’que j’s/ j’suis j’suis tout à fait euh . amoureux d’ma d’ma d’ma langue maternelle et: : j’entends j’entends l’rester. Er fürchtet sich vor einem Verlust seiner Muttersprache: «on a parfois l’impres‐ sion qu’les . francophones qui sont restés trop longtemps en Suisse allemande . euh: justement le / leur langue a tendance à se: à s’abâtardir un p’tit peu.» Die Vorteile der Mehrsprachigkeit nutzen und sich gleichzeitig vor ihr fürchten? Mehrsprachigkeit als Fluch oder als Segen? Angesichts dieses Di‐ lemmas eröffnete sich ein weiteres Forschungsfeld: Jenes der sozialen Vorstel‐ lungen der Gesellschaft und der Betroffenen von der Mehrsprachigkeit. 2 Zur Erforschung der Vorstellungen von mehrsprachigen Repertoires im Diskurs Bei Vorstellungen der Mehrsprachigkeit geht es weniger um das Bild, das sich der Einzelne davon macht, als um auf dessen soziale Dimension, als Form des kollektiven Wissens, welches sozial entwickelt und geteilt wird und zur Konstruktion einer gemeinsamen Realität beiträgt ( Jodelet 1984). Kollektive Überzeugungen sind bezüglich der Gemeinschaft, die sie trägt, gleichzeitig 110 Georges Lüdi strukturiert und strukturierend und resultieren aus komplexen diskursiven Praktiken (Duchêne 2005: 34 ff.). Zunächst geht es darum, was die Mitglieder einer Gemeinschaft sagen, wessen sie sich bewusst sind bzw. was sie in Interviews von sich preisgeben wollen. Das häufigste Narrativ bezüglich Mehrsprachigkeit ist: Mehrsprachige bewegen sich in unterschiedlichen Sprachgemeinschaften; sie passen ihre Sprache den Interaktionspartnern an. Diese Vorstellung findet man sowohl bei Fachleuten als auch im Alltagsdiskurs der Betroffenen: « avec mes amis arabes, je parle arabe. Je parle français avec mes amis de l’école ». Derartige Aussagen beinhalten häufig eine starke Identitätskomponente. Die von Cler & Cortier (2005) zitierten jungen Migranten begründen ihre Verwendung der Herkunftssprache bzw. des Französischen einerseits utilitaristisch, andererseits mit emotionalen und identitären Gründen, und machen dabei auch ihre doppelte Zugehörigkeit deutlich. Derartige Aussagen gründen auf „additiven” Modellen mehrsprachiger Re‐ pertoires, die aus getrennten Sprachsystemen bestehen, mit klaren Grenzen zwischen ihnen, nach dem Vorbild der Standardsprachen mit stabilen Normen, die im Prinzip innerhalb homoglossischer Sprachgemeinschaften separat er‐ worben und aktualisiert werden. Sehr schön illustrieren dies die von Krumm zitierten Worte eines in Österreich lebenden Schülers ungarischer Herkunft: Mein Herz ist ungarisch. Die wichtigsten Teile meines Körpers sind ungarisch. Mein Magen ist italienisch, weil ich italienische Küche liebe. Meine Beine sind deutsch, weil ich in einem deutschsprachigen Land lebe. Meine Arme sind Englisch, weil ich Englisch brauche, um zu arbeiten, wenn ich groß bin. (Krumm 2001: 89) Additive Modelle sind nicht falsch; sie prägen aufgrund ihrer starken Verbrei‐ tung unsere gesellschaftliche Wirklichkeit bis hin zu den vom Europarat erar‐ beiteten Evaluationsinstrumenten für Sprachkompetenzen wie das Europäische Sprachenportfolio. Freilich decken sie bei weitem nicht alle Beobachtungen ab. Vieles lässt sich mit „integrativen” Modellen besser erklären: Mehrsprachige Repertoires bilden sich in dieser Vorstellung aus dem Gebrauch heraus auf‐ grund einer mehrsprachigen Erwerbskompetenz (Bono 2008). Aus einer Reihe von Spracherfahrungen (plurilanguaging) bildet sich allmählich eine holistisch verstandene multicompetence (Cook 2008) oder Plurikompetenz heraus, welche aus Elementen aus unterschiedlichen Registern und Sprachen besteht, die zu einem sehr unterschiedlichen Grad beherrscht werden können. Weil die klaren Grenzen zwischen den Einzelsprachen oft verschwimmen (Lüdi & Py 2009), spielt in diesem Zusammenhang das Mischen von Sprachen, auch und gerade als Dimension der Vorstellungen von Mehrsprachigkeit, eine 111 Mehrsprachigkeit im Spiegel der Vorstellungen der Akteure 1 Er sprach allerdings von Völkern, nicht von Sprachen: «les peuples ne dégénèrent que par suite et en proportion des mélanges qu’ils subissent, et dans la mesure de la qualité de ces mélanges» (Gobineau, 1853 [1967], 186). 2 Beispiel aus: Exemplier_interactions_CASNAV_19_mars_2010-1.pdf. besondere Rolle. Als Phänomen ist es sehr verbreitet. Unter dem Einfluss norm‐ geprägter Einsprachigkeitsideologien galt Sprachmischung allerdings lange Zeit für viele als honteux, irrecevable, voire même en un sens maudit. Associée aux représentations sociales de l’impur, cette image est évidemment renforcée par tout ce que l’école, en particulier, véhicule en fait de valorisation de l’intégrité symbolique de la langue. (Cadiot 1987: 50) Das oben zitierte Beispiel von abâtardissement ist dafür typisch. Ohne so weit zu gehen wie Gobineau, für welchen Vermischung ein Indiz für Entartung (dé‐ génération) war 1 , wurde Sprachmischung allenfalls als Überbrückungsstrategie von Lernenden in Situationen sprachlichen Notstands toleriert (z. B. Faerch & Kasper 1983), noch häufiger aber mit einer stigmatisierenden doppelten Halbsprachigkeit von Kindern mit verunglückter zweisprachiger Erziehung assoziiert (Skutnabb-Kangas & Toukomaa 1976, Haugen 1977). Zwar hatte Schuchardt (1884: 6) schon im 19. Jahrhundert auf die Allgegenwart von Misch‐ sprachen verwiesen: „es gibt keine völlig ungemischte Sprache“. Aber erst zahlreiche Arbeiten zum code-switching in mehrsprachigen Gemeinschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben zu einem gewissen Umdenken geführt und mehrsprachige Rede als gesellschaftliches Phänomen identifiziert, welches für die meisten bi-/ multilingualen Gruppen charakteristisch ist und ein bedeutendes Indiz für eine echte mehrsprachige Kompetenz darstellt (Sankoff & Poplack 1979, Grosjean 1985, Heller 1988, Myers Scotton 1993a und b, Auer 1999 etc.). Ein ausgeprägtes Bewusstsein für gemischte Rede als signifikantes Merkmal ihrer Mehrsprachigkeit ist zum Beispiel bei jungen Migranten zu beobachten, wie die Informanten von Bouhassane (2007) 2 bezeugen: On mélange le français et l’arabe E : beaucoup de langues mélangées … est-ce que ça existe ? une personne quand elle parle elle mélange des langues ? Ouafa : oui ça existe E : ça existe Ouafa ? Ouafa : c’est comme ici … dehors … on mélange le français et l’arabe 112 Georges Lüdi 3 ich hab da zum ersten Mal ein Meeting einer total erneuerten Jury leiten müssen, zehn ganz neue Leute, oder? Sie mal zusammenbringen, da findet man eine Sprache, das ist eine Mischung zwischen Basler Hochdeutsch und Englisch, oder, das ist unser Esperanto, das wir jetzt gefunden haben, (…) da kommen kreative Prozesse in Gang; wir haben die Sprache [sc. Sprachkorrektheit] ausgeblendet, oder, und haben da in unserem Kauderwelsch-Esperanto diskutiert. E : ah très bien Souad: nous aussi chez nous Ra : moi aussi E : alors chez toi vous mélangez quoi Inès ? Inès : l’arabe français et l’italien E : et est-ce qu’on arrive à se comprendre et pourquoi on y arrive ? Bou : moi je parle le français l’italien l’arabe ma mère comprend un peu le français et l’italien et très bien l’arabe alors on peut se comprendre Sprachaufnahmen an vielen Arbeitsplätzen im Rahmen des D Y LAN -Projekts haben schlüssig nachgewiesen, dass mehrsprachige Rede (auch plurilanguaging genannt) auch außerhalb mehrsprachiger Gemeinschaften als eine häufige, effiziente — und anerkannte — Kommunikationsstrategie wahrgenommen wird (Berthoud et al. 2013). Ein Kadermitglied eines Basler Pharmaunternehmens wertete eine Sitzung einer gemischtsprachigen Versammlung ausgesprochen positiv: e Mischig zwüsche Basel-Hochdütsch-Änglisch ich ha jez z’erscht Mal es Meeting müesse leite mit dr komplett neue Jury, zäh komplett neu Lütt, oder, se Mal zämme bringe, de findet me ne Sprach, und es isch e Mischig zwüsche Basel-Hochdütsch-Änglisch, oder, s’isch irgend, üses Esperanto, wo mr do jez gfunde hei [] da chömme kreativi Prozäss chömme z’Gang [] vo de Sprach hei mr halt natürli müesse usblände oder hei de da i üsem Chuderwälsch-Esperanto hei mr hei mr das düre diskutiert 3 Wir schließen uns daher Otsuji & Pennycook (2010: 244) an, die einerseits vorschlugen, „to demythologise notions of language mixing along the fault line of bilingualism”, aber auch „to demythologise hybridity as if cultural and linguistic fixity also were not part of its apparatus”. 113 Mehrsprachigkeit im Spiegel der Vorstellungen der Akteure 3 Zum Status von Mischphänomenen (plurilanguaging) in der Interaktion Die Analyse von Interaktionen, in welchen Elemente aus verschiedenen Spra‐ chen verwendet werden, bietet einen anderen, vielversprechenden Zugang zu den Vorstellungen von Mehrsprachigkeit. Es geht darum, wie die Gesprächs‐ partner ihre Sprachgebrauchsmuster in dynamischen Kommunikationssituati‐ onen ständig aneinander anpassen und dabei den Status translinguistischer Markierungen gegenseitig aushandeln und sichtbar machen. Dies soll im Fol‐ genden an drei Beispielen illustriert werden. La cruauté des hommes P Mh . et cette réalité Ramuz la gé-né-ra-lise dans : le/ dans cet alinéa par une affirmation très forte très dure et précise … E Ah [c’est] . dernière phrase P Ouais E Elle ne pensait pas à la seule chose véritable qu’est la cruauté des hommes P Ouais . des hommes der Menschen ? der Männer ? E Des/ der Menschen . P Ah . ce serait intéressant de voir dans une traduction . vous traduire : z . traduisez ‘la cruauté des hommes‘ toute l’expression E Euh die Grausamheit . der Menschen P Mh … on peut se d’mander . moi j’traduirais quand même par ‘die Grausam‐ keit der Männer’ .. eh : mais . à discuter E Oui (sourit) mh mh .. P Pensez-vous que ce soit réel ? … pensez-vous que Ramuz ait raison de dire cela . que hommes . de sexe masculin ou nous tous . nous soyons cruels … Wir sind an der mündlichen Abiturprüfung in Französisch als Fremdsprache an einem Deutschschweizer Gymnasium. Thema der Prüfung ist ein literarischer Text von Ferdinand Ramuz. Die Lehrperson (P) initiiert ein „discourse related code-switching", um das an diesem Punkt nuanciertere begriffliche Potenzial des Deutschen auszunutzen, welches zwischen Mann-Mensch und Mann-Mann unterscheidet. Die Schülerin (E) akzeptiert den Wechsel, obwohl er eigentlich gegen die Anweisung verstößt, dass in der Prüfung ausschließlich Französisch gesprochen wird. 114 Georges Lüdi In einer exolingual-mehrsprachigen Situation definieren die beiden Akteure mit anderen Worten interaktiv ihre mehrsprachigen Repertoires als eine Menge von Ressourcen, die Elemente von Registern und verschiedenen Sprachen umfassen und zielgerichtet gemeinsam mobilisiert werden. Trotzdem werden Französisch und Deutsch als getrennte Sprachen gedacht; die Vorstellung der Zweisprachigkeit ist mit anderen Worten additiv: Die Schule unterrichtet in Fremdsprachen erster Linie, um mit den jeweiligen Muttersprachlern einspra‐ chig zu kommunizieren, was hier am Beispiel einer Diskussion eines literari‐ schen Textes in der Prüfungssituation praktisch simuliert wird: Ça t‘embêtrait LN (parle très vite) mais j’entends . toi par exemple . chais pas .quand-t si on t’disait d’aller passer à : : : une semaine .. chais pas .. à Genève… ça t’ .. ça t’embêtrait quoi ? Ou bien tu dirais : : oh .. j’va[is] chez ces welschs.. et puis .. comme ça .. parce que nous .. j’entends .. chais pas .. y a .. eh j’en connais beaucoup qui disent : alors là . chez les Suisses allemands .zut quoi + (pause de 6 secondes) LNN1 mmhm LNN2 je n’ai pas po.. pas compris du tout LN (même débit) mais . si tu veux . quand tu vas .. chais pas moi .. chais pas ..quand tu : : on te demande .. au fond . si j’te disais maintenant .. eh bien . tu viens une semaine chez moi . qu’est-ce que tu dirais .. oh ben mince . j’vais pas chez les .. ces Suisses romands . quoi . ça t’embêtrait . tu s’rais + (pause de 8 secondes) LNN2 (se gratte derrière l’oreille) goulp LN mais ça .. ça t’embêt’rait . ça s’rait quequ’chose pour toi qui t’ennuierait . qu’ça t’ … t’as pas envie d’aller le faire LNN2 (en se tournant vers LNN1) Was heisst ça t’embêtrait ? LN Keine Lust … eh LNN1 s’tuet dir nit … äh … passe güet . wettsch ned gärn goh LNN2 dert abe ? LNN1 ja . LNN2 (en regardant LNN1) momol. . (se tourne vers LN) mais oui 115 Mehrsprachigkeit im Spiegel der Vorstellungen der Akteure LN ça t’ .. ça t’plairait .. comme ça tu dirais pas .. eh .. oui . j’vais chez les Suisses romands . quoi .. LNN2 non (KORPUS Langental) Die Schweiz gilt als Musterbeispiel für institutionelle (und territoriale) Mehrsprachigkeit: vier Sprachen werden von unterschiedlichen Bevölkerungs‐ gruppen gesprochen, im Wesentlichen auch räumlich getrennt. Die Behörden bieten ihre Dienste in all den entsprechenden Sprachen an, um die Einspra‐ chigkeit der Betroffenen zu garantieren. Eine Vermischung der Sprachgruppen ist nicht vorgesehen, individuelle Mehrsprachigkeit wird — außer für die Mit‐ glieder der Verwaltung — nicht vorausgesetzt. Die Verständigung zwischen den Sprachgruppen wird in der Schweiz zwar als politisch-kulturelles Ziel genannt (zum Beispiel im Bundesgesetz vom 5. Oktober 2007 über die Landessprachen und die Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften), aber eine «ausgewogene Vertretung der vier Sprachgemeinschaften des Landes in den Departementen und in der Bundeskanzlei» als Voraussetzung für eine mehrsprachige Verwal‐ tung ist vorrangig. Allerdings legen die Bildungssysteme viel Wert auf den schulischen Erwerb einer zweiten Landessprache. Eines der Mittel dafür sind Austauschaktivitäten zwischen den Sprachgebieten (Klassen-, Lehrer- und Einzelschüleraustausch, gemeinsame Projekte mit Partnerschulen usw.) als Ergänzung des Unterrichts. In unserem Beispiel nehmen Gymnasiasten aus Bern und Neuenburg an einem Klassenaustauschprojekt teil. Die sprachlichen Repertoires der Schüler sind umgekehrt asymmetrisch; sie lernen jeweils in der Schule Französisch (LNN1 und LNN2) bzw. Deutsch (LN). Die Situation ist exolingual und sehr leicht mehrsprachig (Verwendung von etwas Deutsch durch LN; besseres mündliches Verständnis von Französisch seitens LNN1). Die Atmosphäre ist sehr kooperativ, aber der von den Gesprächspartnern gewählte (oder von den für den Austausch Verantwortlichen auferlegte) Modus ist einsprachig. Dabei bemüht sich LN nicht, ihre Aussage zu vereinfachen oder langsamer zu sprechen. Deshalb verwendet LNN2, der sie nicht versteht (je n’ai pas po.. pas compris du tout) eine translinguistische Formulierung (was heißt ça t’embêtrait ? ), um das Kommunikationshindernis zu überwinden. Beide Empfänger reagieren mit Übersetzungangeboten (LN keine Lust, LNN1 s’tuet dir nit… äh… passe güet. Wettsch ned gärn goh). Die Verwendung von Deutsch bzw. Schweizerdeutsch bleibt aber eine Kompensationsstrategie, deren Wirksamkeit allerdings durch die Existenz eines Raums für potenziell zweisprachige Rede 116 Georges Lüdi begünstigt wird. Letztlich schimmert die Vorstellung der territorialen Mehrspra‐ chigkeit durch, im Sinne welcher die Austauschschüler ihre mehrsprachigen Repertoires interaktiv zwar als Ressourcen aus Registern und verschiedene „Sprachen” definieren, die aber nur ausnahmsweise gemeinsam mobilisiert werden, um auftauchende Probleme zu überwinden. Die Grundvorstellung bleibt «additiv». Unser drittes Beispiel ist extrem exolingual-mehrsprachig. Aufgenommen wurde das Gespräch zwischen einem jungen Schweizer Assistenzarzt und einer portugiesischen Patientin in der Sprechstunde eines Basler Spitals. y me doile tambem moito la la spalda 1 M so hat es doch noch geklappt 2 P vous parlez français! 3 M <französisch. > (°oder°) spanisch? 4 ((manifeste son malaise)) 5 P espanisch. ja 6 M sie kommen von portugal hab ich gehört ja. 7 P °portugal° 8 M ja. (tratamos) en con español. 9 P <eetabo.> 10 ((très vite; sans doutes «está bem/ bom»)) 11 M ok. (..) bueno. (.) puede explicarme eh [tus problemas] síntomas. 12 P [eh tengo ma! l]e. a la cabeza? 14 M mmh 15 P eh duo-dolores y e (britisas)? 16 M mmh 17 P y me doile tambem moito la la spalda. 18 M la columna! due[le.] 19 P [la ]columna me doi molto! y e: (..) e +<cui> un poco+ 20 ((pr. Ital.; touche sa gorge)) 21 M ähä a- +aquí+ 117 Mehrsprachigkeit im Spiegel der Vorstellungen der Akteure 22 ((touche ea propre gorge))((il note tout ce qu’elle dit)) 23 P sí. ho pensato que la gri! pe? +por qu+ la ot[ra ] settimana 24 ((prononciation portugaise)) 25 M mmh] 26 P mine [(niña) (…) gr]ipe! y ahora] 27 M [ah? la niña? ] () 28 M e tiene también dolores [en los a]rticulaciones. (.) 29 P [sim sim] 30 M desde quándo tie[ne? ] 31 P [eh? ] desde iere 32 M desde ayer. ah. 33 P anteontem () 34 M tiene? fiebre. 38 P eh ontem a notte? noite un poco [de fiebre ] 39 M [un poco.] e quánto? 40 P e trentanove 41 M aou! ja. (Eigene Materialien; erstmals publiziert in Lüdi, Höchle Meier & Yanaprasart, (2016: 139 ff.)). Der Arzt (M) und die Patientin (P) sprechen keine gemeinsame Sprache. In den ersten Turns werden die möglichen Ressourcen erwähnt (Deutsch, Spanisch oder Portugiesisch) oder verworfen (Französisch) (l. 2-4). M. schlägt vor, Spa‐ nisch zu wählen (l. 7), eine Wahl, die P akzeptiert, aber auf Portugiesisch (l. 8). In Wirklichkeit ist das von P gesprochene „Spanisch" eine Mischung aus Spanisch, Portugiesisch und Italienisch. M scheint diese Mischung ziemlich gut zu verstehen. Allerdings ist gemeinsame lexikalischen Arbeit notwendig (me doile tambem muito la la spalda, umformuliert von M. als la columna duele und erneut von P als la columna me doi molto [l.14-16]). Trotzdem bleibt das gegenseitige Verständnis approximativ, was die Gesprächspartner zwingt, deiktische Gesten zu benutzen (l.16-17). Dabei beschränken sie sich auf das für die Diagnose des Arztes Wesentliche und vernachlässigen geringfügige lexikalische Unsicherheiten (iere -> ayer vs. anteontem). 118 Georges Lüdi 4 www.wesleycollege.net/ Our-Community/ Wesley-College-Institute/ Public-Education/ Global-Language-Convention/ Presentations/ ~/ media/ Files/ Wesley%2520College%252 0Institute/ Global%2520Language%2520Convention/ Alastair%2520Pennycook.ashx; 20. März 2010. Durch die Mobilisierung all ihrer Ressourcen beantworten M. und P. die von Pennycook formulierte Forschungsfrage: „In what ways do people draw on language resources, features, elements, styles as they engage in translin‐ gual, polylingual, metrolingual language practices? ”. 4 Solche Beispiele extrem exolingualen Sprechens bewegen sich außerhalb der Normen der üblichen mehrsprachigen Rede und stellen eine Form des kreativen Bastelns im Sinne von Lévy-Strauss (1962: 27) dar. Die Vorstellung der Mehrsprachigkeit, die von M und P einvernehmlich konstruiert wird, ist entschieden „integrativ“. Oder mit Møller: What if the participants do not orient to the juxtaposition of languages in terms of switching? What if they instead orient to a linguistic norm where all available linguistic resources can be used to reach the goals of the speaker? Then it is not adequate to categorise this conversation as bilingual or multilingual, or even as language mixing, because all these terms depend on the separatability of linguistic categories. I therefore suggest the term polylingual instead. (Møller 2008: 218) 4 Zum Status von Mischphänomenen (plurilanguaging) in der Interaktion Zunächst schienen unsere Beispiele eine traditionelle Vorstellung der Zwei- / Mehrsprachigkeit zu bestätigen, die zwischen dem einsprachigen und dem mehrsprachigen Modus der Implementierung multipler Ressourcen in komple‐ mentären Situationen unterscheidet (siehe bereits Grosjean 1985): Zweispra‐ chigkeit im Sinne des separate monolingualism (Heller 1999). Aber unser Weg führte uns recht weit von diesem Modell weg und erforderte das Beschreiten neuer erkenntnistheoretischer Räume, welche Dir, lieber Albert, natürlich bestens vertraut sind. Zunächst wählten wir ein soziokonstruktivistisches Konzept des (Zweit-)Spracherwerbs, bei der Kognition als geteilt und kontextuell (Mondada 2001) und sprachliche Strukturen als zeitlich, verzögert und emergent (Hopper 1998, Larsen-Freeman & Cameron 2008) verstanden werden, welche sich erst aus der Aktualisierung des gesamten Repertoires der Akteure ergeben, d. h. diesen nicht vorangehen. Daraus entwickelte sich die Hypothese, dass mehrsprachige Ressourcen aus Interaktionen entstehen, bei denen der Status translinguisti‐ 119 Mehrsprachigkeit im Spiegel der Vorstellungen der Akteure scher Markierungen von den Teilnehmern gegenseitig ausgehandelt wird. Mehrsprachigwerden wird demzufolge als sozio-kognitiver Prozess verstanden. Mit den Worten von Diane Larsen-Freeman & Lynne Cameron (2008): Embodied learners soft assemble their language resources interacting with a changing environment. As they do so, their language resources change. Learning is not the taking in of linguistic forms by learners, but the constant (co-)adaptation and enactment of language-using patterns in the service of meaning-making in response to the affordances that emerge in a dynamic communicative situation. Du hast Dich seit Jahrzehnten für Kohäsion durch den Erwerb von Nachbars‐ prachen an europäischen Grenzen stark gemacht. Du hast immer wieder unterstrichen, dass - gerade in Grenzregionen - die Kommunikation über die Sprachgrenzen hinweg für das konstruktive Zusammenleben zwischen den Nachbarn entscheidend ist, als Bestandteil des Lebenswissens der Bewohner - und unabhängig von der Perfektion der entsprechenden sprachlichen und kulturellen Ressourcen. Für Deinen diesbezüglichen Einsatz sind wir Dir alle von Herzen dankbar. Ad multos annos felices et faustos ! Literatur Auer, Peter (1999). From code-switching via language mixing to fused lects. Toward a dynamic typology of bilingual speech. 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Die Mehrheit der Menschen verfügt über mehr als eine Sprache als Instrument des Denkens und Kommunizierens, wie auch Oustinoff (2013) betont. Il faut rappeler que la majorité des habitants de la planète sont plurilingues et non monolingues. Le monolinguisme n’est pas la règle, mais l´exception. (…) Et ce n’est là que la face émergeante de l’iceberg: cette diversité linguistique foisonnante va de pair avec la même diversité sur le plan ethnique, culturel et religieux (Oustinoff 2013: 12). Sprachliche und kulturelle Diversität gehen Hand in Hand und stellen eine Konstante dar in der Geschichte der Menschheit. Sprachen sind zudem in ihrer Gestalt sehr unterschiedlich. Sie bilden hochkomplexe Strukturen aus und wandeln sich gemeinsam mit der jeweiligen Kultur. In der Tat sind es nur wenige Eigenschaften, wie etwa die Fähigkeit etwas zu verneinen, die sie alle teilen (Haspelmath 2001). Sprachliche Konstrukte sind in ihrer Sinnzuschreibung nicht eindeutig, denn nicht nur einzelne Lexeme können verschiedene Bedeutungen aufweisen, sondern identische Sätze vermögen es durch prosodische Verände‐ rungen oder Rekontextualisierungen - wie vor allem die linguistische Pragmatik seit vielen Jahren eindrucksvoll vor Augen führt -, ihre Aussage vollkommen zu verändern. Gemeinsprache ist stets vage und wir alle kennen die daraus entstehenden Missverständnisse im Alltag nur zu gut. Fachsprache versucht expliziter zu sein, schafft dies aber auch nur in spezifischen klar abgrenzbaren Kontexten. Die vielfältigen textbasierten Auseinandersetzungen vor Gericht verdeutlichen, dass selbst hochgradig verbindlichen Fachtexten wie Gesetzen ein Auslegungsspielraum innewohnt. Ambiguität ist damit geradezu charakte‐ ristisch für Sprache. Während Ambiguität im Deutschen ein wenig gebrauchter Fachbegriff ist, wird ambiguité im Französischen - wie auch im Englischen - auch gemeinsprachlich für Phänomene der Mehrdeutigkeit, Unentscheidbarkeit und Vagheit genutzt (Bauer 2018: 13). Diese Triade - Mehrsprachigkeit, Spra‐ chenvielfalt, Ambiguität - soll uns in der Folge beschäftigen. Den Ausgangspunkt bildet dabei die Tatsache, dass jede Einzelsprache, wie bereits von Humboldt (1936) feststellt, im Denken eine eigene Sicht auf die Welt erschließt. „So liegt in jeder Sprache eine eigenthümliche Weltansicht“, erläutert von Humboldt (1936: 58). Das Denken in der betreffenden Sprache ermöglicht lediglich Einsichten in eine sprachkulturell determinierte Wirklichkeit und niemals den Blick auf die Realität der Dinge, wie sie tatsächlich sind - nicht zuletzt auch aus Gründen, wie sie der neurobiologische Konstruktivismus wesentlich später ins Treffen führt. Aufgrund der kognitiven Abgeschlossenheit des menschlichen Gehirns sei es dem Individuum nicht möglich, objektives Weltwissen zu generieren. Der Erwerb von Wissen erfolgt stets vor dem Hintergrund spezifischer sozialer Bedingungen auf intersubjektive Art und Weise (Roth 1996, 2001). Wenn dieser Denkprozess - von Humboldt (1936) folgend - ausschließlich in sprachlicher Gestalt stattfindet, kann auch die Wahr‐ nehmung und Interpretation der Welt nur vor dem Hintergrund von Sprache(n) stattfinden. Das Gehirn konstruiert sich demgemäß auf sprachlicher Grundlage seine individuelle Wirklichkeit, welche in der Folge der Realität bestmöglich angenähert wird, denn nur so kann das Individuum seine Überlebens- und Fortpflanzungs-Chancen absichern. Wir denken und reflektieren die Welt damit ausschließlich durch sprachliche Filter. Ohne hier auf die Auswirkungen eingehen zu wollen, die es haben kann, wenn sprachliche Filter nicht vollumfänglich genutzt werden können, weil die entsprechende(n) Sprache(n) generell oder in bestimmten Domänen abge‐ wertet und als funktionsuntüchtig erklärt wird bzw. werden, sei hier auf die wissensprägende Wirkung von Sprache(n) hingewiesen. Unser Alltags- und Erfahrungswissen wird genauso sprachlich gespeichert wie das Fachwissen bestimmter Bereiche, so dass zwischen den Wissenseinheiten und Sprachen Transferbereiche entstehen. Ein guter Mediziner sollte ebenso wie eine ver‐ 124 Eva Martha Eckkrammer sierte Atomphysikerin in der Lage sein, hochkomplexe fachliche Prozesse in verständlichem Deutsch, Französisch, Italienisch etc. zu erklären. Wir müssen die Sprachfähigkeit damit stetig auf verschiedenen Ebenen weiterentwickeln und zwischen Sprachen und Registern transferieren. Dabei handelt es sich um einen lebenslangen Prozess, der in verschiedenen Phasen schulisch und beruflich unterstützt wird. In diesem Beitrag soll - auf die vorhergegangenen Überlegungen aufbauend - der Frage nachgegangen werden, warum Mehrsprachigkeit, sprachliche Vielfalt und Ambiguität in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen, wie dieser Zusammenhang sich konkret als sprachliche Normalität gestaltet und für eine Weiterentwicklung des Bildungswesens weltweit eine Rolle spielen sollte. Denn all die verschiedenen Sprachwelten bilden nach von Humboldt (1936) eben nur „Ansichten der einen Welt“ und sind aus diesem Grund „als Reichtum der Anschauung, nicht als Verlust einer Welteinheit zu verstehen“ (Flessner 2010: 880). Es geht damit stets um den Umgang mit verschiedenen Sichtweisen, Perspektiven und damit auch mit Ambivalenz im weitesten Sinne. Dabei betrachten wir - Link (2009: 20) folgend - Normalität als ein Schlüs‐ selkonzept moderner Kulturen und greifen ausschließlich auf eine deskriptive, statistisch objektivierbare Normalität zurück, denn ein präskriptiver Normalitätsdiskurs läuft in der Regel Gefahr, ideologisch unterwandert zu sein. Wenn es also etwa als abnormal oder nicht normal empfunden wird, dass Kinder im Vorschulalter bereits drei oder vier Sprachen sprechen, so ist eine solche Wahr‐ nehmung zumeist von einer monolingualen Grundeinstellung geprägt. Diese entspricht wiederum einer präskriptiven Normalität, wie sie viele europäische Nationalstaaten bei ihrer Entstehung im 19. Jahrhundert favorisierten. Dass eine solche frühkindliche Mehrsprachigkeit in bestimmten Regionen der Welt - auch statistisch gesehen (wenn es jemals in einem Zensus erfragt würde) - völlig normal ist, vergessen wir dabei. Kabatek (2005) geht sogar so weit, in den Raum zu stellen, dass Normalität „kein wissenschaftlicher, allenfalls ein statistischer Begriff “ sei und fügt pointiert hinzu: Wo er als ideologischer Begriff verwendet wird, hat die Wissenschaft dies aufzuzeigen und zu beschreiben, auf welchen objektiven Tatsachen er beruht. (Kabatek 2005: 26) Diese objektive Herangehensweise bleibt oftmals auf der Strecke, da, wie auch Bossong (1997) betont, sprachliche Normalität in der Regel nach dem Muster einer monolingualen Grundorientierung bewertet wird und damit nach der Richtschnur, dass ein Individuum sämtliche kommunikativen Handlungsmuster seines Alltags in einer Sprache abwickelt - innerwie außerhäuslich, formell wie informell. Aus dieser Perspektive müsste freilich der Wechsel in eine andere 125 Zum Wert der Mehrsprachigkeit als Normalität in Zeiten der Vielfaltsvernichtung Sprache im Alltag, in der Schule oder bei der Arbeit bereits als pathologisch be‐ trachtet werden, und die Mehrheit der Menschen würde nach diesem Kriterium zweifellos in einer krankhaften, abnormalen Sprachsituation leben (Bossong 1997). Mehrsprachigkeit mutiert dadurch per se zu einem pathologischen Zu‐ stand. Der Weg aus diesem Dilemma führt ausschließlich über die Anerkennung des statistischen Normalzustands, dass die Mehrheit der Menschen eben nicht in einer Sprache lebt, sondern in mehreren, und je nach Situation oder Domäne selbstverständlich die Sprache wechselt, Sprache verändert oder verschiedene Sprachen sogar mischt (wie im Falle von Code-Switching oder Kontaktvarie‐ täten, Kap. 3). In diesem Beitrag wird zunächst entlang aktueller Arbeiten von Suzanne Romaine auf den Zusammenhang von Sprachenvielfalt, Biodiversität und Armut eingegangen (Kap. 2), um einen genaueren Blick auf das „frankophone“ Afrika zu richten und die dortige sprachliche Domänenverteilung, insbesondere in der Bildung. In der Folge treten die Ambiguitätstoleranz und Mehrsprachigkeit in der Wissenschaft in den Mittelpunkt, um aktuelle Tendenzen zu einem wissenschaftlichen Monolinguismus zu beleuchten, obgleich nur die Nutzung verschiedener Sprachen es ermöglicht, keinen einseitigen Blick auf die Welt zu bekommen und in die Tiefe zu denken (Kap. 3). Die Werte, die sich mit individueller, institutioneller wie gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit verbinden lassen, werden dadurch deutlich - auch für den deutsch-französischen Kontext -, ebenso wie die Forderungen, an denen es festzuhalten gilt und die wir im Fazit formulieren (Kap. 4). Es ist offensichtlich, dass diese Forderungen an unterschiedlichen Orten, etwa auf Inseln oder in Grenzregionen, einer sehr unterschiedlichen Umsetzung bedürfen, im Kern jedoch international die gleichen bleiben. 2 Sprachliche Vielfalt Menschen sprechen heute immer weniger vielfältig, stellt Bauer (2018: 9) lapidar fest. Dies resultiert aus dem seit dem Beginn der Globalisierung und Koloni‐ sierung im 15. Jahrhundert anhaltenden virulenten Aussterben von Sprachen und Varietäten, welches dazu führt - so die Prognose der UNESCO (Paolillo 2005) - dass im Jahre 2050 die Hälfte der weltweit existierenden Sprachen (Varietäten bleiben hier außen vor) nicht mehr existieren werden (Paolillo 2005: 54). Vereinfacht dargestellt, „fressen“ große Sprachen kleinere auf, wobei sie von der Bildungspolitik in vielen Ländern - u. a. auch in Frankreich - 126 Eva Martha Eckkrammer 1 Goebl (1996: 149) spricht in Anlehnung an Louis-Jean Calvet von Glottophagie und diskutiert die „Sprachenfresserei“ mit Blick auf die Alte Romania. unterstützt werden. 1 Sind die letzten Sprecher und Sprecherinnen einer Sprache tot, dann geht damit auch die mit dieser Sprache verbundene spezifische Wahrnehmung der Welt („eigenthümliche Weltansicht“, von Humboldt 1936: 58) verloren. Dies bedeutet, dass die Wissensbestände dieser Kulturen ebenso verloren gehen, wie der Zugang zu ihrer Geschichte, ihrer Literatur, ihrer Weltsicht. Betrachtet man etwa die Situation des Okzitanischen in Frankreich, so sieht die Zukunft in manchen Regionen, wie etwa dem Limousin, sehr düster aus (Eckkrammer 2020). Die Sprachwissenschaft befasst sich mit diesem Phänomen seit längerem und richtet dabei konsequenterweise ein besonderes Augenmerk auf Minderheitensprachen (z. B. Goebl 1996, Nettle & Romaine 2000, Krauss 2006). Dabei wird immer wieder deutlich, dass die Bildungspolitik für Sprachverlust mitverantwortlich zeichnet, wie Romaine (2013) unter Rückgriff auf Daten von Skutnabb-Kangas (2000) verdeutlicht: Although encouraging developments are taking place in some countries, in most parts of the world schooling is still virtually synonymous with learning a second language. Education for minorities in many parts of the world still operates in ways that contradict best practices, with fewer than 10 % of the world´s languages used in education. (Romaine 2013: 13). Besonders perfide daran ist, so Romaine (2013), dass die seit den 1950er Jahren bekannte Verbindung zwischen Sprache und Bildung außerhalb der Expertenkreise kaum verstanden werde, so dass auch die direkte Kausalität zwischen Sprachgebrauch und Entwicklung weitgehend ignoriert wird und in nationalen wie internationalen Strategiepapieren fehle (Romaine 2013: 15). Hinzu komme, dass viele in Bildungsfragen konsultierte Berater weiterhin die populären Mythen verbreiten, dass Mehrsprachigkeit „spaltend, teuer und schädlich“ sei, so Romaine (2013: 15). Genau aus diesem Grund würden auch lokale Autoritäten monolingualen Modellen oftmals den Vorzug geben und damit große Teile der Bevölkerung ihres Rechts auf eine qualitativ hochwertige Bildung in ihrer eigenen Sprache berauben: „Excluding large portions of the population from their right to a quality education can delay economic growth and perpetuate conflict and political instability“, so Romaine (2013: 15) zu den Konsequenzen. Wenngleich die Abnahme sprachlicher Vielfalt bereits mit der Eroberung und Kolonisierung Afrikas, Amerikas (u. a. Rosenblat 1971 & 1977) und Asiens einsetzte, stimmt es nachdenklich, dass zwischen 1970 und 2005 neuerlich 20 % 127 Zum Wert der Mehrsprachigkeit als Normalität in Zeiten der Vielfaltsvernichtung 2 Außerhalb Afrikas sind es inklusive der Republique Française und ihren DOMs nur weitere acht Staaten, in denen das Französische kooffiziell ist, z. B. in Haiti neben dem Kreolischen, in Kanada neben dem Englischen oder in Luxemburg neben dem Deutschen und Letzeburgischen. der weltweit gesprochenen Sprachen ausgestorben sind (Harmon & Loh 2010: 97) und der Prozess weitgehend ungebremst anhält. Romaine (2008) verdeutlicht zudem die direkten Verbindungslinien zwischen der Biodiversität, der Armut und der Sprachenvielfalt, denn gerade in den Regionen mit der größten biolo‐ gischen Vielfalt leben die ärmsten Menschen des Planeten, welche wiederum die meisten Sprachen sprechen. Wenn die Organisation internationale de la francophonie (OIF) in ihrem aktuellen Zahlenwerk verkündet, dass dank Afrika ein Wachstum der Frankophonen in der Welt von 220 Millionen (bei 7 Milliarden Menschen also 3 % der Weltbevölkerung) im Jahre 2010 auf 700 Millionen im Jahre 2050 (bei einer geschätzten Weltbevölkerung von dann 9,1 Milliarden, also 8 %; cf. OIF 2020) gegeben sein wird, dann stimmt dies vor dem Hintergrund der von Romaine (2008 & 2013) extrapolierten Korrelationen zwischen Armut, Bildungszugang und sprachlicher Diversität mehr als nachdenklich. Laut OIF (2020) sollen 85 % der Frankophonen 2050 in Afrika leben und den Rang des Französischen als Weltsprache zumindest numerisch retten. Ein Blick auf die Entwicklung der letzten 100 Jahre sowie die Aktualität weist deutlich darauf hin, dass die afrikanische Frankophonie weitgehend utopisch ist. Mackey (1989: 5) hebt bereits hervor, dass 90 % der Afrikaner keine Kenntnisse in der offiziellen Sprache ihres Landes haben, welche vermeintlich als zentrales Kommunikationsmittel zwischen der Regierung und ihren Bürgern diene. Die Situation in den derzeit 21 afrikanischen Staaten, die in ihrer Verfassung das Französische anerkennen 2 , bildet diesbezüglich keine Ausnahme, wenngleich große Unterschiede gegeben sind - und dies unabhängig davon, ob das Franzö‐ sische als einzige offizielle Sprache gilt (Benin, Burkina Faso, Elfenbeinküste, Gabun, Guinea, Demokratische Republik Kongo, Kongo, Mali, Niger, Togo und Senegal) oder neben einer oder mehreren anderen Sprachen kooffiziellen Status hat. Ein Blick auf die zehn Staaten mit kooffiziellem Französisch verdeutlicht dies gleichermaßen: • Äquatorialguinea neben dem Spanischen und Portugiesischen • Burundi neben dem Kirundi • Djibouti neben dem Arabischen • Kamerun neben dem Englischen • die Komoren neben dem Shikomor und dem Arabischen • Madagaskar neben dem Malgache und dem Englischen 128 Eva Martha Eckkrammer • Ruanda neben Englisch und Kinyarwanda • die Seychellen neben dem Seselwa und dem Englischen • der Tschad neben dem Arabischen und • Zentralafrika neben dem Sango So lassen etwa die aus ehemals belgischen Kolonien hervorgegangenen Staaten (Demokratische Republik Kongo, Burundi und Ruanda) schon zu Kolonialzeiten mehr Raum für lokale Sprachen, und in Belgisch-Kongo kommt es sogar zur Einführung von Unterricht in Lingala, Kiluba, Kikongo und Kishwahili in den ersten drei Schuljahren - eine Politik die nach der Unabhängigkeit (1960) fortgeführt wird (Diao-Klaeger 2015: 507). In den französischen Kolonien erreicht die Skolarisierung in französischer Sprache nur einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung, die in der Regel im städtischen Raum lebt, und auch nach der Unabhängigkeit bleibt man einer zentralistischen Programmatik französischen Charakters treu (Diao-Klaeger 2015: 506 f). Eine inhaltliche wie sprachliche Neuorientierung im Bildungswesen ergibt sich nur punktuell, so dass das Observatoire de la langue française (OLF) 2014 zumindest für den Benin, Burkina Faso, Kamerun, Mali, Niger und den Senegal mehrsprachige Programme ins Treffen führt, in deren Rahmen vor allem im Grundschulbereich auch afrikanische Sprachen zugelassen werden (Diao-Klaeger 2015: 507). In manchen Staaten hat die Offizialisierung des Französischen eher symbolischen Charakter, jedoch kaum Auswirkungen auf den tatsächlichen Sprachgebrauch, z. B. dominiert in Äquatorialguinea als Vehikularsprache das Spanische, auf den Seychellen das Englische oder mittlerweile in der Praxis sogar das Kreolische. Überdies existieren - mit wenigen Ausnahmen wie etwa den Seychellen - über die offizialisierten Sprachen hinaus eine Vielzahl weiterer autochthoner Sprachen, denn 2110 und damit 30,5 % der weltweit existierenden Sprachen entfallen auf den afrikanischen Kontinent (Romaine 2013: 8). Gleichermaßen ist Afrika der Kontinent, auf dem ein Drittel der weltweit als absolut arm eingestuften Menschen (laut UN bedeutet dies, täglich weniger als einen Dollar zur Verfügung zu haben) leben, mit einer erschreckenden Tendenz (1995-2005), im Bereich Einkommen, Bildung und Gesundheitswesen noch weiter abzurut‐ schen (Romaine 2013: 9). Für die Bildung ist hervorzuheben, dass nach wie vor 87 % der Bevölkerung keinerlei muttersprachliche Bildungsangebote erhalten (Romaine 2013: 9) und damit - wenn überhaupt - stets in einer fremden Sprache alphabetisiert werden - mit fatalen Auswirkungen auf die Bevölkerung: Development experts have referred to the increasing ‘Africanisation’ of global po‐ verty, but sub-Saharan Africa in particular with the highest incidence and depth of poverty is the part of the globe most left behind by development. Most of Africa´s 129 Zum Wert der Mehrsprachigkeit als Normalität in Zeiten der Vielfaltsvernichtung languages and its poor people are concentrated in six of the world´s twenty most linguistically diverse countries (Chad, Democratic Republic of the Congo, Tanzania, Nigeria, Cameroon and Sudan). (Romaine 2013: 8 f) Das beschriebene Szenario betrifft somit viele Gebiete, in denen das Französi‐ sche offiziell als Vehikularsprache fungiert, mitunter aber nicht als die einzige Unterrichtssprache (z. B. in der Demokratischen Republik Kongo), wobei auch offiziell mehrsprachige Länder des vormaligen Gebietes der Afrique équatoriale française - wie der Tschad oder Zentralafrika - dem Französischen die Rolle der (fast) alleinigen Bildungssprache zugestehen. Genaue Zensus-Daten liegen in der Regel nicht vor, wie etwa Simo Bobda (2010) für den Kamerun bestätigt, um dann zu einer Einschätzung zu gelangen, die paradigmatisch erscheint: Cameroon is a Tower of Babel, further complicated by the absence of a serious language policy, which sets in competition English and French, the two official languages, the traditional exonormative norms and the local endonormative models for these colonial languages which are gaining more and more ground, Pidgin English, a fast-developing school slang known as Camfranglais, and some 286 languages. Patterns of domination include that of the colonial languages over the indigenous languages in the public domain, that of French over English, and that of Pidgin English over Standard English among Anglophones. (Simo Bobda 2010: 666) Der von der Linguistik seit langem evozierte Home-School-Mismatch bei der Alphabetisierung in einer Fremdsprache (Romaine 1995: 242) - so überhaupt Zugang zu Bildung gegeben ist - bleibt die Regel und führt in vielen post‐ kolonialen Kontexten (und auch in den Départements d’outre-mer (DOM), wie etwa Réunion oder Guadeloupe) zu einer meist kurzen oder holprigen Bildungskarriere mit geringem Effekt auf die ökonomischen Möglichkeiten: „Language is key to the empowerment of Africans”, schlussfolgert Romaine (2013: 8) explizit. Zieht man überdies die demographische Dynamik ins Kalkül, dass Afrika 2050 mehr als 90 % der jungen Frankophonen zwischen 15 und 29 Jahren beherbergen wird (OIF 2020), wird deutlich, dass diese jungen, mehrsprachigen Individuen das Französische (wie jede andere Kolonialsprache) nach Gutdünken vernakularisieren, hybridisieren bzw. es in verschiedenen lokal gefärbten (Lerner)Varietäten benutzen werden. Für die gesamte Frankophonie wird damit eine hochkomplexe und dynamische Mehrsprachigkeit die Regel darstellen, wenn das nicht ohnehin zum aktuellen Zeitpunkt bereits der Fall ist (Reutner 2015, Diao-Klaeger 2015). Ob dann das von Simo Bobda (2010) konstatierte Festhalten an der Kolonialsprache in Afrika als Schlüssel, sich in der globalisierten Welt zu behaupten, weiterhin gelten wird oder eine prise de conscience mit Blick auf die eigenen Sprachen dem Wechsel hin zu presti‐ 130 Eva Martha Eckkrammer geträchtigeren Sprachen ein Ende bereitet, kann derzeit nicht vorausgesehen werden. Denn die Wahrnehmungsmuster sitzen tief Many Africans are yet to be convinced that colonial languages are not undisputed and exclusive assets for global competition and that local languages are not factors of exclusion from this competition. Even the examples of Asian countries like Japan, Korea and Hong Kong which have developed using their local languages do not seem persuasive enough. (Simo Bobda 2010: 667) Wer damit tatsächlich als frankophon bezeichnet werden kann, ist gleicher‐ maßen zu überdenken, wobei der Bericht der OLF 2014, wie Diao-Klaeger (2015: 509) pointiert anmerkt, nicht mehr wie zuvor zwischen francophones und francophones partiels unterscheidet. Freilich sind - wie bereits angemerkt - die Erhebungen hinsichtlich der in der Gesellschaft verwendeten Sprachen meist unzureichend und lassen kaum klare Unterscheidungen zu. Wie auch immer man sich die Zahlen für die Frankophonie schönredet oder sie realistisch einschätzt, ein Abrücken von einem monozentristischen Normverständnis ist angesichts der Entwicklungen zweifelsohne das Gebot der Stunde, nicht zuletzt um die Realität aller teilweise frankophonen Länder (Kanada, Belgien, Schweiz etc.) abzubilden, die zweifellos ihre eigenen Standards entwickeln. Das spani‐ sche Lemma unidad en la diversidad (,Einheit in der Vielfalt‘), das auch von der Sprachakademie in Madrid propagiert wird, könnte hier zuträglich sein. Es gilt damit, Vielfalt nicht nur im Sinne einer allgemeinen Sprachenvielfalt zu fördern, sondern auch innerhalb einer einzigen Sprache dem Plurizentrismus Raum zu geben. Dass dies der Sprache selbst nicht schadet, führt die Entwicklung des Spanischen mit ihrem expliziten Abrücken vom Monozentrismus seit der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts deutlich vor Augen. Dafür ist allerdings die Toleranz und Akzeptanz von Ambiguität notwendig, welche heute - wie Bauer (2018: 12) unterstreicht - zunehmend abhandenkommt, da die Welt mehr und mehr vereindeutigt wird. Dass dies auch die Wissenschaft betrifft, soll im folgenden Kapitel schlaglichtartig beleuchtet werden. 3 Ambiguitätstoleranz und Mehrsprachigkeit in der Wissenschaft Wie wir zu Beginn bereits festgestellt haben, ist Sprache in der Regel nicht ein‐ deutig, sondern vage und unscharf. Sie lässt stets Spielraum für Interpretation, und wenn ein Lexem in einem Gebiet eine spezifische Semantik hat, bedeutet dies noch lange nicht, dass diese auch für ein anderes Gebiet gilt. Welche Art von Herausforderungen sich dadurch bei der Entwicklung von Fachterminologie, z. B. in der Wirtschaft, ergeben, konnte bereits punktuell aufgezeigt werden 131 Zum Wert der Mehrsprachigkeit als Normalität in Zeiten der Vielfaltsvernichtung (u. a. Eckkrammer 2018). Eine Weltsprache wie das Französische wird mit dieser Ambiguität also stets leben, und Frankreich muss, so es darauf abzielt, Fach‐ terminologien international zu akkordieren, zu einem Mechanismus finden, der es erlaubt, über die internationale Standardisierung von Termini mit den verschiedenen Ländern der Frankophonie auf Augenhöhe zu beraten. Davon wird auch die Gebrauchsfähigkeit des Französischen für bestimmte Bereiche in der Zukunft abhängen. Möchte man etwa weiterhin, dass Onkologen auf internationalen wissenschaftlichen Kongressen nicht nur auf Englisch kommu‐ nizieren, sondern auch noch das Französische verwenden, dann muss eine von allen frankophonen Wissenschaftlern anerkannte Terminologie zur Verfügung stehen. Andernfalls verliert die Sprache ihre Gebrauchsfähigkeit in bestimmten Domänen. Für die französische Wissenschaftskultur war die sogenannte Loi Fioraso, welche den Gebrauch des Englischen in der universitären Lehre erlaubt (Eckkrammer & Lescure 2015: 146 f), ein erster Schritt der Gebrauchsminderung, aber die zögerliche, mehrheitlich monozentristische Haltung bei der Standardi‐ sierung von Fachterminologien wiegt noch viel schwerer. Mehrere Sprachen als gleichwertige Wissenschaftssprachen anzuerkennen, bedeutet gleichermaßen eine höhere Ambiguitätstoleranz. Eine solche bildete sich für die romanischen Sprachen im Zuge der Vernakularisierung der Volks‐ sprachen im Spätmittelalter heraus, womit das Lateinische die Rolle der allei‐ nigen Wissenschaftssprache in Europa verlor. Das Deutsche, aber auch das Französische oder Spanische bildeten erst ab jenem Zeitpunkt eine wissen‐ schaftssprachliche Tradition mit ihren verschiedenen Textsorten - zumeist vor dem Hintergrund mittellateinischer Vorbilder - aus (Eckkrammer 2016 für die Medizin). Derzeit erleben wir hingegen eine gegenläufige, weitgehend ambiguitätsintolerante Entwicklung, die wir als Entvernakularisierung der Wissenschaft bezeichnen können. Das in den Naturwissenschaften bereits fest etablierte Enlish-Only als Publikations- und Vortragssprache, schwappt nach und nach auf die Rechts-, Sozial- und Geisteswissenschaften über (Mauranen, Pérez-Llantada & Swales 2010: 634, weiterführend Gnutzmann 2008), so dass das Deutsche - aber auch das Französische - wie andere Sprachen zunehmend unter Druck geraten, z. B. bei der Formulierung von Forschungsanträgen oder in der Lehre. In der Romanistik, die als vielsprachige, interkulturell-vergleichende Disziplin von jeher in Forschung und Lehre mehrere Sprachen gleichberechtigt nutzt, ist es besonders verstörend, wenn etwa dem Studienbüro oder akade‐ mischen Auslandsamt fremdsprachige Lehrveranstaltungen inneruniversitär zu melden sind, und bereitwillig eine ganze Liste an spanisch-, französisch-, italienischkatalanisch- oder portugiesischsprachigen Lehrveranstaltungen weitergeleitet wird und als Reaktion darauf eine Rückmeldung erfolgt, welche 132 Eva Martha Eckkrammer diesen Lehrveranstaltungen in Abrede stellt, fremdsprachig zu sein, mit dem Argument, dass sie nicht auf Englisch seien - und demgemäß nicht im Sinne einer Internationalisierung. Für eine genuine, wissenschaftlich notwendige Reflexionstiefe - das struktu‐ rierte Nachdenken - braucht es umfassende Sprachkompetenzen, da wir mittels Sprache denken (von Humboldt 1936: 50). Die Erlernung fremder Sprachen kann hier Abhilfe schaffen, unterliegt jedoch gewissen Einschränkungen. Die Erlernung einer fremden Sprache sollte daher die Gewinnung eines neuen Standpunkts in der bisherigen Weltansicht seyn, da jede das ganze Gewebe der Begriffe und der Vorstellungsweise eines Theils der Menschheit enthält. Da man aber in eine fremde Sprache immer mehr oder weniger seine eigne Welt - ja seine eigne Sprachansicht hinüberträgt, so wird dieser Erfolg nie rein und vollständig empfunden. (von Humboldt 1936: 59) Ein nicht-primärsprachliches akademisches Englisch wenig elaborierter Natur reicht damit nicht aus und behindert mehr, als es hilft - unabhängig davon, dass es unproblematisch ist, der internationalen scientific community die wichtigsten Ergebnisse von Studien im Nachgang auch auf Englisch zugänglich zu machen, denn die zeitgenössische maschinelle Übersetzung erlaubt dies durchaus unter der Voraussetzung sprachkompetenter und sachkundiger Nachbearbeitung. Wenn aber im internationalen Wissenschaftsbetrieb die meisten Publikationen, die nicht auf English erscheinen, gar keine Beachtung mehr finden, da ein Gutteil der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler es heute gar nicht mehr für notwendig hält, ausgeprägte Sprachfähigkeiten in mehreren Sprachen zu erwerben, um diese Texte rezipieren (und möglicherweise auch ausdrucksstarke fremdsprachige Texte verfassen) zu können, wird die Entvernakularisierung weiter fortschreiten und dazu führen, dass langfristig ganze sprachliche Register des Deutschen oder Französischen aussterben. Flessner warnt im Kontext der Rechtswissenschaften explizit vor dieser Entwicklung: Die Umstellung von Forschung und Lehre auf die englische Sprache als Leitmedium wird von Kultusministerien, zentralen Wissenschaftsorganisationen und Universi‐ tätsleitungen gern als Ausweis von Qualität und Internationalität gesehen und wird von diesen deshalb sogar vorangetrieben. Sie ist aber eindeutig das Gegenteil von von Humboldts Sprachauffassung und stößt allmählich auf zunehmenden Widerstand. Die Kritik verweist auf die Verengung der wissenschaftlichen Perspektiven durch das Leitmedium und namentlich auf die Bevorzugung englischer und amerikanischer Fragestellungen. (Flessner 2010a: 888) 133 Zum Wert der Mehrsprachigkeit als Normalität in Zeiten der Vielfaltsvernichtung Damit kehren wir nicht nur zu von Humboldt zurück, es geht um viel mehr als die Fähigkeit eine Sprache rezipieren oder gar in ihr denken zu können. Das thematische Spektrum der Wissenschaft wird sich gleichermaßen wie ihr Be‐ wertungssystem verengen, denn auch dieses wird mittlerweile fast sklavisch am Englischen ausgerichtet. Flessner (2010b: 90) betont dies mit Hinweis auf die in‐ ternational bemühten amerikanischen Zitationsindizes und ihrem „drastischen Ignorieren von Veröffentlichungen in anderen Sprachen als Englisch“. Dies leiste nach Flessner (2010b) - und ich bin froh hier nicht ausschließlich aus der Philologie heraus argumentieren zu müssen, sondern eine Rückendeckung aus der Rechtswissenschaft zu erhalten - „einer intellektuellen Selbstbeschränkung Vorschub“, die wissenschaftsfeindlich sei, denn „das Nichtwissenwollen und Nichtwissenkönnen wird zum wissenschaftlichen Standard erklärt“ (Flessner 2010b: 90). Die Viel- und Mehrsprachigkeit der Wissenschaft ist damit ebenso bedroht wie ihre Themenvielfalt und ihre breite Bewertungsgrundlage. Die Möglichkeit eines tieferen Verständnisses einer anderen Kultur - eines Perspektivenwech‐ sels - fällt weg. Für Europa scheint dies besonders gefährlich zu sein, da Mehr‐ sprachigkeit ein Charakteristikum des europäischen Raumes darstellt, das sich auch in ganz bestimmten Denkstrukturen und Identitätsmustern niederschlägt, wie sie Nies (2005) etwa im Kontext der deutschen und französischen Kulturwis‐ senschaften beschreibt oder Raasch (2002) für die europäischen Grenzregionen. Goebl (2009: 190) warnt seitens der Romanistik wiederum vor dem Verlust sprachlicher Breite, da dieser ein Vergessen von Kultur- und Wissensgütern nach sich zöge. Frath (2008) geht noch ein Stück weiter und stellt in seinem Fazit den Verlust der sprachlichen Universalität des Französischen in den Raum - eine Gefahr die sich auch für alle anderen Sprachen angesichts des drohenden Registerverlusts in der Wissenschaft ansetzen ließe: Avons-nous bien réfléchi à ce que nous faisons lorsque nous anglicisions nos univer‐ sités et la recherche ? Utiliser l´anglais comme lingua franca dans les sciences est une bonne chose : les scientifiques on besoin d´une telle langue pour la communication et les échanges. Mais pourquoi vouloir qu´elle remplace nos propres langues, surtout si elles sont universelles ? (Frath 2008: 71) „L´anglicisation amènera l´uniformité et la stérilité“, beschreibt Frath (2008: 62) die konkreten Effekte. Auf sprachlicher Ebene ist das zweifellos nicht der Fall. Denn das Aufzwingen einer Sprache - ob durch den (Post)Kolonialismus, z. B. das Französische oder Englische in Afrika, oder die soziale Domäne, wie etwa das Englische in der Wissenschaft - führt nicht zu Uniformität und Sterilität. Der internationale Wissenschaftsdiskurs ist auch im Englischen aus sprachlicher 134 Eva Martha Eckkrammer Ebene vielgestaltig und von einer Fülle von mündlichen und schriftlichen, nicht-primärsprachlichen akademischen Englishes geprägt, die seit geraumer Zeit Gegenstand intensiver Forschung sind (Mauranen 1993, Vassileva 2002 etc.). Ebenso verändert sich das Französische in Afrika und hybridisiert sich in verschiedenen Sprachkontaktsituationen so deutlich, dass bereits von einer Vernakularisierung französischer Varietäten gesprochen werden kann - z. B. mit Blick auf das Nouchi der Elfenbeinküste (Diao-Klaeger 2015) oder das Camfranglais in Kamerun (Simo Bobda 2010). Eine spezifische sprachliche Vielfalt ist auch innerhalb des akademischen Englisch gegeben und akzeptiert (Mauranen, Pérez-Llantada & Swales 2010). Was aber ausgedünnt und sogar ausgehöhlt wird, ist die Themenvielfalt und die Denktiefe, wie Frath (2008) und Flessner (2010b) mit einem kritischen Blick auf den Science Citation Index, den Social Sciences Citation Index und den auf diesen Datenbanken aufbauenden, einflussreichen Clarivate Analytics Impact Factor feststellen, die - von einem Medienunternehmen gesteuert - nicht nur wissenschaftlichen Monolinguismus und Konformismus befördern, sondern auch die wissenschaftlich sinnentleerten Aktivitäten von Zitationszir‐ keln. Denktiefe und Themenvielfalt gilt es für die Wissenschaft auch zu ihrem eigenen Schutz unbedingt zu erhalten, so dass analog gesagt werden muss, dass Sprachen auch ein Schlüssel zur Wissenschaft sind und wir als internationale wissenschaftliche Gemeinschaft tunlichst auf Mehrsprachigkeit und damit auf die notwendige Denktiefe und Themenvielfalt zu achten haben, sonst verkommt die Wissenschaft zu einem eintönigen Selbstzweck, einem selbstreproduktiven Einheitsbrei, der nicht mehr auf innovative Themen und kulturspezifische Problemlösungen ausgerichtet ist. 4 Fazit Um zu von Humboldt zurückzukehren, bleibt die zentrale Grundfrage unserer Zeit, ob wir den Reichtum der sprachlich geprägten Blicke auf die Welt (die jeweils einer Sprache innewohnende „eingenthümliche Weltansicht“ (von Hum‐ boldt 1936: 58)), den uns die Sprachenvielfalt in der Welt per se, aber auch die individuelle und gesellschaftliche Mehrsprachigkeit in ganz spezifischer Weise ermöglichen, tatsächlich aufgeben möchten und es gleichgültig ist, dass wir die Sprache unseres französisch- oder niederländischsprachigen Nachbarn nicht mehr verstehen und in Zeiten zurückfallen, in denen - wie im frühen deut‐ schen Nationalismus in der Zeit von Ernst Moritz Arndt (1769-1860) - massiv davon abgeraten wurde, die Sprache des unmittelbaren Nachbarn überhaupt zu erlernen. So stellt das Englische als lingua franca im deutsch-französischen Kon‐ 135 Zum Wert der Mehrsprachigkeit als Normalität in Zeiten der Vielfaltsvernichtung 3 Der 1991 gegründete Sprachenrat Saar, in den unser Jubilar viel Zeit, Expertise und Herzblut investierte, hatte hier unbestritten einen katalysatorischen Effekt, da er etwa zu einem sehr frühen Zeitpunkt bereits klare sprachpolitische Prioritäten der Region in den Raum stellte, u. a. die Relevanz von Mehrsprachigkeits-Erfahrungen im Kita-Alter und die Priorisierung des Französischen ab der Grundschule mit gut durchdachten Übergängen in den Sekundarschulbereich, stets in enger Kooperation mit der Wirtschaft. text - so sehr es in der basalen Kommunikation auch nutzt - ein unzureichendes Mittel wechselseitigen Verstehens und interkultureller Erkenntnis dar. Um die Kultur des anderen kognitiv zu erfassen, ist Sprachkompetenz unabdingbar; eine offizielle Mehrsprachigkeitspolitik, wie sie etwa das Saarland beschlossen hat, scheint damit mehr als begrüßenswert 3 . Allerdings ist es schwierig, Mehrspra‐ chigkeit zu verordnen, wenn die gelebte Praxis - etwa die Bildung ab Kita-Alter und das kulturelle Leben - nicht nachzieht und die entsprechenden (auch ungesteuerten) Möglichkeiten des Spracherwerbs schafft, z. B. durch das Zeigen von Filmen und Theaterstücken in der Fremdsprache. Gleichermaßen sind wir auf beiden Seiten der Grenze angehalten, sowohl die autochthone als auch die durch Migration entstandene herkunftssprachliche Spachenvielfalt bestmöglich zu erhalten. Das Bewusstsein des Wertes der Mehrsprachigkeit - im konkreten Fall einer Drei- oder Viersprachigkeit nach europäischem Muster - bildet die Grundlage für einen Erfolg der entsprechenden Politik. Dabei ist eine ausge‐ prägte Ambiguitätstoleranz, wie sie Bauer (2018: 17) als bestimmten Kulturen inhärent beschreibt, dringend notwendig. Denn es ist nicht zu erwarten - noch notwendig! -, dass die betroffenen Individuen in allen Sprachen eine standard‐ sprachlich ausgerichtete volle Kompetenz erwerben, d. h. das Hörverstehen, die Sprech- und Lesekompetenz sowie die Schreibfähigkeit voll - d. h. phonologisch, morpho-syntaktisch, lexikalisch, semantisch, stilistisch und graphisch (Romaine 1995: 13) - entwickeln. Auch eine gute Verstehenskompetenz bildet bereits einen Mehrwert im interkulturellen Dialog. Aus der Gesamtsicht sind also mehrere Faktoren auf unterschiedlichen Handlungsebenen ins Kalkül zu ziehen: 1. Die globale Vermeidung von Sprachtod und die Anerkennung von sprach‐ licher Diversität als schützenswertem Gut und als integralem Bestand‐ teil kultureller Diversität. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, dem Sprachverlust entgegenzuwirken - sowohl in den Ursprungsgebieten als auch in der Migration, d. h. auch in Europa nicht nur konsequent alle autochthonen Sprachen zu schützen, sondern gleichzeitig eine herkunfts‐ sprachenfreundliche Politik zu etablieren. Aus beiden Komponenten gemeinsam ließe sich eine gesellschaftlich erwünschte, konsolidierte Mehrsprachigkeit entwickeln. Eine solche konsolidierte Mehrsprachig‐ 136 Eva Martha Eckkrammer 4 These acht postuliert in der Folge für das Saarland: „Mehrsprachigkeit des Einzelnen wie des Landes ist die Voraussetzung für die Förderung der Standortbedingungen in Europa und für Europa. Es genügt schon lange nicht mehr, „Zweisprachigkeit“ zu verlangen; der Sprachenrat verlangt dringend: das Französische als Nachbarsprache („Frühbeginn“ und als „erste“ Fremdsprache in Klasse 5), das Englische anschließend (d. h. ab Klasse 6) als Weltsprache, weitere Sprachen (z. B. Spanisch, Italienisch) als Distanzsprachen (ab Klasse 8).“ (Sprachenrat Saar 2001). keit setzt allerdings die generelle Wertschätzung von individueller und gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit unabhängig von ihrer Genese auch als generelle Ambiguitätstoleranz voraus. 2. Die weltweite bildungspolitische Priorisierung von muttersprachlicher Erstbildung innerhalb eines sukzessive mehrsprachigen Curriculums, um akademischen Fortschritt und kulturüberschreitende Kommunikation ebenso gelingen zu lassen wie lebenslanges Lernen. Voraussetzung dafür ist eine Synchronisierung des Schulwesens mit den jeweiligen multilingu‐ alen Realitäten und damit die Integration regional relevanter Sprachen in die Bildungscurricula von der Grundschule bis zur höheren Bildung. Auf diese Weise erhält die Mehrsprachigkeit als normale Situation den ihr zu‐ stehenden Raum von der frühen Initiierung über die Bildungskarriere bis hin zur lebenslangen Ausfaltung mehrsprachiger domänenspezifischer Kompetenzen, um zuletzt auch eine wissenschaftliche Themenvielfalt und Denktiefe in verschiedenen Sprachen zu ermöglichen. 3. Die Anerkennung der Gleichwertigkeit von Sprachen per se, aber auch von Varietäten mit ihrer wichtigen regionalen und lokalen Gebrauchsfä‐ higkeit und identitätsbildenden Funktion, und damit ein Abschied von perfektionistischen, auf einen einzigen Standard zentrierten Formen der Sprachverwendung. Dies kann sowohl innerhalb einer Sprachgemein‐ schaft als auch mit Blick auf fremde Sprachen das Streben nach einer Kommunikations- und Denkfähigkeit in der Sprache erleichtern. Wollen wir also den Anschauungsreichtum und die daraus resultierende Vielfalt der Perspektiven auf die Welt nicht mindern, so gilt es, alle Formen der Mehrsprachigkeit aufzuwerten und zu schützen. Der Sprachenrat Saar hat dieses Desideratum in seiner achten These bereits im Jahre 2001 sehr klar formuliert, die mit der programmatischen Aussage beginnt „Mehrsprachigkeit ist das Gebot der Zukunft“ 4 . Dieses Diktum ließe sich auch auf die anderen hier angesprochenen Kontexte anwenden, denn Sprachen sind auch der Schlüssel für das Erreichen von globalen (Nachhaltigkeits)Zielen wie der Abschaffung von Hunger und Armut, der Bekämpfung globaler (Infektions)Krankheiten, dem Zugang zu Bildung, der Bekämpfung des Klimawandels und der Gleichstellung 137 Zum Wert der Mehrsprachigkeit als Normalität in Zeiten der Vielfaltsvernichtung der Geschlechter. Gleichzeitig ist Mehrsprachigkeit für die Kooperation und ein friedliches Zusammenleben auf dem Planeten unverzichtbar, denn nur, wenn wir versuchen, mit der Sprache des anderen zu denken, finden wir möglicherweise Zugang zu seiner Perspektive. Dies alles spricht dafür, den aktuellen Tendenzen der Vielfaltsvernichtung (Bauer 2018) aktiv entgegenzu‐ wirken - als Individuen und als Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen - und auf Romaine zu hören, wenn sie die Verbindungslinien für eine positive Entwicklung verdeutlicht: I have argued that the welfare of the poor, conservation of biodiversity, cultural-lin‐ guistic diversity, and sustainable development are inextricably linked. (Romaine 2013: 16) Vielleicht gelingt dann gemeinsam der Weg zu einer nachhaltig positiven Entwicklung der Welt. Literatur Bauer, T. (2018). Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust von Mehrdeutigkeit und Vielfalt. Stuttgart: Reclam. Bossong, G. (1997). Sprache und Identität in der hispanischen Welt. 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Die Leitlinie lautet Muttersprache + zwei Fremd‐ sprachen (möglichst umfassend), und zwar für möglichst viele Bürgerinnen und Bürger der EU. Das in zahlreichen EU-Dokumenten diese Formel begleitende Epitheton mindestens lenkt die Aufmerksamkeit auf eine breitere, zumindest rezeptive Mehrsprachigkeit. Sie erlaubt die rezeptive Teilhabe an den öffentli‐ chen Diskursen der Nachbarn, was als eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung einer bürgernahen und nationenübergreifenden Europäischen De‐ mokratie gilt (vgl. schon den Politologen von Kielmansegg 1992). Offensichtlich ist die Lesekompetenz in mehreren Sprachen auch von politischer Bedeutung (Meißner 2019a). Seit Jahrzehnten betont die Fremdsprachendidaktik die Wichtigkeit der Sprachenbewusstheit bzw. des intraund/ oder interlingualen Vergleichens von Sprachbeständen. Dies gilt zuvorderst für den Wortschatz. 1 Die Leserinnen und Leser finden weitere Informationen auf der Internetseite https: / / www.eurocomdidact.eu und insbesondere in Meißner (2018a). Um Missverständnissen entgegenzuwirken: Die primäre Fokussierung der Interkomprehensionsdidaktik auf das Lese- und Hörverstehen bedeutet auch einen möglichen ersten Schritt zum raschen Weiterbau des zielsprachlichen Kompetenzprofils zum Schreiben und Sprechen. Bekanntlich gibt es keine Sprech- und Schreibfähigkeit ohne Hör- und Leseverstehen. 2 Die Datenbank des KRM Die elektronische Datenbank wurde in mehreren Publikationen vorgestellt. 1 Zum rascheren Verständnis der Ausführungen seien hier (nochmals) kurz ihre wesentlichen Charakteristika skizziert. Inventar: Ziehung ▸ Die Einträge wurden für jede romanische Zielsprache einzeln - Fran‐ zösisch, Italienisch, Portugiesisch und Spanisch - aus den Core Vocabu‐ lary-Listen der Routledge Frequency dictionaries, core vocabularies for learners erhoben, deren Bestände auf einen Frequenzrang von <5000 beschränkt sind, sowie aus dem Lessico di Frequenza dell’Italiano Parlato (De Mauro et al. 1993). Das KRM-Inventar erfasst zudem die grund‐ wortschatzlichen Lemmata der Klett’schen Grundwortschatzlisten (z. B. Nickolaus 1972). Vor allem betrifft dies den Bezirk Sprachenlernen, auch bei einem Frequenzrang von >5000. Plurilinguale Serienbildung: Bedeutungsadäquanz, Frequenzrang, Formkongruenz ▸ Die Lemmata wurden erstrangig nach Bedeutungsadäquanz in sechs‐ sprachigen Serien zusammengestellt. Die romanischen Einträge wurden aus Gründen der semantischen und grammatikalischen Kategorisierung durch ihre deutschen und englischen Entsprechungen ergänzt. Ein se‐ kundäres Kriterium für die Aufnahme einer Vokabel in das KRM-Inventar war der Frequenzrang, ein weiteres (nachgeordnetes) die interlinguale Transparenz eines Lemmas. 144 Franz-Joseph Meißner ouvertement apertamente abertamente abertamte openly offen ouvert aperto aberto abierto open offen ouverture apertura aertura apertura opening Eröffnung abattre atterrare derrubar derrumbar demolish, knock out niederschlagen einstürzen kaputtmachen abattre abbattere abater abatir bring down niederschlage, abschießen betrüben Abb. 1: Beispiel für eine interlingual transparente mehrsprachige Serie abattre atterrare derrubar derrumbar demolish, knock out niederschlagen einstürzen kaputtmachen abattre abbattere abater abatir bring down niederschlagen abschießen betrüben Abb. 2: Das fr. Reduplikat abattre in seinen Serien Umfang des Corpus: ▸ Das Corpus umfasst ca. 9550 Serien und in diesen 38160 romanische Lemmata, zuzüglich der deutschen und englischen Adäquanzen. ▸ Um die romanischen Reduplikate bereinigt (s. u.), zählt der KRM 26789 intralingual-divergierende französische, italienische, portugiesische und spanische Lemmata. Interligalexe: ▸ Interligalexe sind Formantien unterhalb der Wortebene, die zwischen Spra‐ chen morphosemantisch erkennbar identisch oder ähnlich sind und einen interlingualen Identifikationstransfer nahelegen. Didaktisch erfüllen Inter‐ ligalexe den Zweck, den für die Interkomprehensionsdidaktik so wichtigen ‚lernökonomischen Filtereffekt‘ maximal zu ermöglichen. Dies ist für die zielführende Konstruktion romanischer Lernerwortschätze, insbesondere zur Förderung mehrsprachiger Lesekompetenz, relevant. Dass dieser Effekt mit der lexikodidaktischen Kompetenz der Lerner einhergeht, erklärt, weshalb die Bildung von interligalexikalischen Transferbasen variabel (lernerbezogen) gehandhabt werden muss. Generell gilt: Je geringer die lexikalische Kompetenz von Lernern ist, desto stärker müssen die Interli‐ galexe aufgrund einer ‚expandierten‘ Form an die betroffenen Lemmata erinnern; je besser die Lerner in der Lage sind, die unterschiedlichen Formen der Interlexeme zu semantisieren, desto weniger expansiv kann die Konstruktion der Interligalexe ausfallen. Zu unterscheiden ist daher zwi‐ schen reduktiven und expandierten Interligalexen (s. u.) (Meißner 2019b). 145 Englisch und der Erwerb des romanischen Kernwortschatzes 2 Zum Begriff Bedeutungskern: Die Interkomprehensionsdidaktik versteht hierunter denjenigen semantischen Anteil, den Interlexeme miteinander teilen. Als Gegenbegriff lässt sich Intersynonymie nennen, die nach Schaeder (1990) nur in Fällen strenger Monosemierung (z. B. in Fachterminologien) begegnet (auch Schröder-Sura 2019). Ein Bedeutungskern umfasst potentiell mehrere miteinander in enger Beziehung stehende Bedeutungen. Zum lexikographischen Problem der Homonymie in der Bildung bedeu‐ tungsadäquater mehrsprachiger Serien s. u. Meißner 2016. 4 der Interligalexe ausfallen. Zu unterscheiden ist daher zwischen reduktiven und expandierten Interligalexen (s.u.) (Meißner 2019b). expansiven und reduktiven Interligalexen Mit Ausnahme von fr. mercredi sind alle Lemmata durch den Bedeutungskern 2 'glauben, Glaubhaftigkeit' miteinander verbunden. 2 Zum Begriff Bedeutungskern: Die Interkomprehensionsdidaktik versteht hierunter denjenigen semantischen Anteil, den Interlexeme miteinander teilen. Als Gegenbegriff lässt sich Intersynonymie nennen, die nach Schaeder (1990) nur in Fällen strenger Monosemierung (z.B. in Fachterminologien) begegnet (auch Schröder-Sura 2019). Ein Bedeutungskern umfasst potentiell mehrere miteinander in enger Beziehung stehende Bedeutungen. Zum lexikographischen Problem der Homonymie in der Bildung bedeutungsadäquater mehrsprachiger Serien s.u. (Meißner 2016). Abb. 3: Mögliche Assoziationseffekte von expansiven und reduktiven Interligalexen Mit Ausnahme von fr. mercredi sind alle Lemmata durch den Bedeutungskern 2 ‚glauben, Glaubhaftigkeit‘ miteinander verbunden. Mit der interlingualen Kompetenz der Lerner ist zugleich an die hohe Nützlichkeit zu erinnern, die aus einer zumindest basalen Kenntnis der inter‐ phonologischen und orthographischen Regularitäten resultiert, wie sie Klein & Stegmann in den Sieben Sieben (2000) zusammengestellt haben. Pädagogisches Ziel: ▸ Das Inventar des KRM ist als ein Instrument zur Förderung von romani‐ scher Lesekompetenz und des Verstehens romanischer Sprachen angelegt. 146 Franz-Joseph Meißner 3 Über https: / / www.eurocomdidact.eu, den Microsoft-Shop oder Google Play erreichbar. ▸ Der KRM ist sowohl für eine präpädagogische lexikalische Inputanalyse grundlegend als auch für die Konstruktion von Übungen zu den Kern‐ wortschätzen der vier romanischen Zielsprachen sowie des Englischen. Solche Übungen liegen als Lern-Apps (EuroComDidact ToGo) für And‐ roid- und Windows-Systeme vor 3 . 3 Der Beitrag englischer Transferbasen zum romanischen Kernwortschatz Das Englische ist bekanntlich die weltweit verbreiteteste Sprache. Die Zahl der Menschen, die es tagtäglich lesend oder schreibend, hörend oder sprechend be‐ nutzen, übersteigt die seiner nativen Sprachteilhaber um ein Mehrfaches. Beides erklärt seine hohe potentielle Effizienz als Transfersprache für die Sprachen der europäischen Koiné, die ja keineswegs auf die Romania begrenzt sind (passim: Marx 2004, Kollmeyer 2007). Dieser besondere Status des Englischen betrifft auch seine Eigenschaft als zu lernende und für den Erwerb weiterer Sprachen zu nutzender Fremdsprache. Dies hat methodische Konsequenzen, was seine Eigenschaft als Brückensprache angeht. Vor diesem Hintergrund stehen die folgenden Ausführungen: 1. Sehr viele Lerner romanischer Sprachen verfügen bereits über operable Englischkenntnisse auf der Niveaustufe B1/ 2 des Gemeinsamen Europäi‐ schen Referenzrahmens für Sprachen (GeR 2001, auch Köller et al. 2006). Ihr potentielles Repertoire an Transferbasen übersteigt daher die Zahl der im KRM ausgezählten ‚Sprachenbrücken‘ ganz erheblich. Natürlich gilt dies prinzipiell auch für andere Fremdsprachen, die als Mutter- oder Brückensprachen eingesetzt werden können. 2. Franglais, Denglish, Spanglish… Nicht nur in Deutschland anzutreffende Bildungen wie for sale, outlet, shopping oder download bezeugen die umfangreiche Anwesenheit englischer Wörter (oder pseudoenglischer Kreationen wie dt. Handy oder Home Office [en. Innenministerium neben dt. Home Office], die ebenfalls Transferbasen liefern können) in unseren europäischen Wortschätzen. Allerdings sind die jeweiligen Entlehnungen in den verschiedenen Sprachen weder immer dieselben noch haben sie einen gleichen Status in deren Diaregistern. Auch dieser Sachverhalt lässt die folgenden Komputationen von Transferbasen deutlich kleiner erscheinen, als dies in den mentalen Lexika der Fall sein dürfte. 147 Englisch und der Erwerb des romanischen Kernwortschatzes 4 Im Unterschied zu dem verstellenden und im Grunde eurozentrischen Begriff des Internationalismus fasst Interlexem das gemeinte Phänomen neutral. 3. Die zu einem breiten Publikum hin geöffneten Fachsprachen entlehnen massenhaft aus dem Englischen. 4. Zahlreiche englische Lemmata haben eine morphosemantische Entspre‐ chung im Deutschen, während nur wenige deutsche Transferbasen (im KRM-Inventar <50) ohne englische Adäquanz sind. Lernpsychologisch bedeutet dies, dass deutschsprachige Lerner in den (auch) englischba‐ sierten Interlexemen 4 muttersprachliche Adäquanzen wiederfinden. 4 Zur Methodik der Komputation von lexikalischen Transferbasen Methodische Grundlage für die Komputation ist das um Reduplikate gekürzte Gesamtinventar des KRM in der Selektion ‚englische Transferbasen‘ (Selektor: *E* unter ACCESS): Es entsteht eine einfache Auflistung aller mit *E* gekenn‐ zeichneten Serien bzw. der morphosemantischen Adäquanzen des Englischen. Da die ACCESS-Datenbank des KRM ein Feld aufweist, das für die romanischen Zielsprachen die Unterscheidung zwischen Neueintrag (für Italienisch z. B. „I“) und Reduplikation („Iw“) erlaubt, werden bereits hier die intralingual divergenten von den reduplizierten Lemmata getrennt. Solche Reduplikationen entstehen in Serienbildungen, wo fehlende Intersynonymie bei vorliegender Interhomonymie die Wiederholung eines Lemmas in einer neuen Serie erfordert. So verlangen fr. accolade neben embrassement die Doppelung von it. abbraccio, pt. abraço und sp. abrazo. Für unsere Komputation sind indes die Reduplikate nicht relevant. Aber Vorsicht: Dies gilt nicht für intralinguale Homographien bei fehlender Intersynonymie: (z. B. fr. le mousse ramasse la mousse ~ dt. der Schiffsjunge sammelt Moos ~ sp. el grumete va a buscar musgo; it. príncipi ~ Fürsten/ it. princípi ~ Prinzipien). In solchen Fällen tritt ein und dasselbe Lemma - evtl. in leichter orthographischer Variation - zwei- oder mehrfach auf, wie Abb. 5 zeigt. Es wird nun eine um die Reduplikate reduzierte alphabetische Liste, die auch die englischen morphosemantischen Adäquanzen enthält, erstellt und nach EXCEL übertragen. Allerdings gehen, wie schon gesagt, die gefundenen englischen Adäquanzen über den im KRM inventarisierten Bestand hinaus. Romanisch-englische morphoseman‐ tische Adäquanzen wurden daher nicht auf die englischen Lemmata der Frequency Dictionaries for Learners (s. Davies 2005: 1 ff.) beschränkt (vgl. Abt in Abb. 4): 148 Franz-Joseph Meißner Abb. 4: Ausschnitt aus der EXCEL-Listung Abb. 5: Die Strecke prince bis princípio und ihre englischen und deutschen Adäquanzen Dass diese Adäquanzen interlingual mehr oder weniger orthographisch von‐ einander abweichen (vgl. die Spalten A und C), erklärt ebenfalls, weshalb einige englische Entsprechungen mehrfach genannt werden müssen (abad, abate). Dies ist auch der Fall, wenn Kongenere wie fr. abstrait und it. astratto in alphabetischer Reihung nicht hintereinander, sondern durch zahlreiche Lemmata voneinander getrennt stehen. Die Sortierung nach identischen eng‐ lischen Formantien zeigt die Reihung der morphosemantischen Adäquanzen. (Selbstverständlich gehen die englischen Adäquanzen nicht in die Zählung ein). Der Ausschnitt zeigt sowohl interlinguale Homonyme als auch interlinguale Reduplikationen. Letztere werden durch ø gekennzeichnet. Didaktisch gespro‐ chen, handelt es sich um Transferbasen. 149 Englisch und der Erwerb des romanischen Kernwortschatzes 5 Selbstverständlich verlangt eine Datenbank wie die des KRM eine ständige Pflege, was sehr leichte Abweichungen der Werte erklärt. Allerdings liegt das Bias bei einer angenommenen Abweichung von 50 Lemmata bei 0,5% und hat daher keine Relevanz. 5 Interlinguale Transparenz und Opazität im KRM Sprachen nicht getrennt voneinander, sondern sie vernetzend zu betrachten, zu lernen und zu lehren ist entscheidend für die Entwicklung von Sprachen- und Sprachlernbewusstheit bzw. Mehrsprachigkeit. Es gilt, das jeweils zwischen verschiedenen Sprachen Gemeinsame und Unterschiedliche zu erkennen und die Erkenntnisse dem Spracherwerbsprozess zuzuführen, was deklarative und prozedurale Effekte ergibt. Der KRM unterstützt dieses Anliegen, indem er neben dem Kriterium des Frequenzrangs auch das der interlingualen Transpa‐ renz/ Opazität - gemessen in fünf Transparenzklassen (4-0) - anwendet. Es handelt sich um die folgenden: TRANSPARENZ / OPAZITÄT KL. SELEKTOR BEISPIELE Serielle T. T4 RoS, RoSD, RoSED, RoSE absolu, assoluto, absoluto, abso‐ luto (absolute) T. mit 3 Kongeneren T3 RoS*-* abri, riparo, abrigo, abrigo T. mit 2x2 Kongeneren T2 RoS*2 ennuyer-annoiare; aburrar-ab‐ urrir (annoying) T. mit 2 Kongeneren T1 RoS*3 plaider, perorare, advogar, abogar (plead, advocate) serielle Opazität T0 oFk boucher, macellaio, açougueiro, carnicero Abb. 6: Transparenz- und Opazitätsklassen Abbildung 7 zeigt die Anteile der verschiedenen Transparenzklassen im Gesamt des KRM-Inventars 5 : 150 Franz-Joseph Meißner 6 Vgl. zur Kompilation des KRM: Meißner (ausführlich: 2016, 2018; bzw. www.eurocom didact.eu/ de/ romanischer-Kernwortschatz; neue Zählung am 11.08.2020). 9 neren abogar (plead, advocate) serielle Opazität T0 oFk boucher, macellaio, açougueiro, carnicero Abb. 6: Transparenz- und Opazitätsklassen Abbildung 7 zeigt die Anteile der verschiedenen Transparenzklassen im Gesamt des KRM-Inventars 5 : Abb. 7: Interlinguale Transparenzstufen (T4-T0) im KRM-Inventar 5 Selbstverständlich verlangt eine Datenbank wie die des KRM eine ständige Pflege, was sehr leichte Abweichungen der Werte erklärt. Allerdings liegt das Bias bei einer angenommenen Abweichung von 50 Lemmata bei 0,5% und hat daher keine Relevanz. 5606 1477 541 1049845 58,80% 15,50% 5,70% 11,00% 8,90% Serial Interlingual Transparency Rate: percentage and occurrences T4 (RoS, RoS-*, RoSD, RoSE*) T3 (*-* OR *3) T2 (*2) T1 (*3) T0 (oFk) Abb. 7: Interlinguale Transparenzstufen (T4-T0) im KRM-Inventar Die Summe der seriellen Okkurrenzen innerhalb der Selektion beträgt 9518. Aufgrund des nicht geklärten Status von jüngeren Entlehnungen aus dem Englischen in die romanischen Sprachen bleiben En-Markierungen (22) unbe‐ rücksichtigt (Typ: white, whisky, cool usw., z. B. in Italienisch). Der verbleibende Bias von 8 Fällen betrifft Toponyme oder lokale Prägungen (it. camorrista, sp. gaditano ‚aus Cádiz‘), die in den Frequenzwörterbüchern anderer Sprachen gänzlich fehlen. 6 Englisch als Transfersprache im Wechselspiel mit den romanischen Sprachen Wie umfangreich ist der Anteil der englischen Transferbasen mit den romani‐ schen Zielsprachen? 6 151 Englisch und der Erwerb des romanischen Kernwortschatzes 10 6 Englisch als Transfersprache im Wechselspiel mit den romanischen Sprachen Wie umfangreich ist der Anteil der englischen Transferbasen mit den romanischen Zielsprachen? 6 Abb. 8: Englisch-romanische Transferanteile aus intralingual differenzierter Zählung (Ʃ = 4640) 6 Vgl. zur Kompilation des KRM: Meißner (ausführlich: 2016, 2018; bzw. www.eurocomdidact.eu/ de/ romanischer-Kernwortschatz; neue Zählung am 11.08.2020). 1547 2814 224 41 14 Englisch-romanische Schnittmengen im KRM T4-"RoSE" T4-"RoSED" T3-"*E*-" T2-"*E*2" T1-"*E*3" Abb. 8: Englisch-romanische Transferanteile aus intralingual differenzierter Zählung (Ʃ = 4640) Ausgangspunkt ist das serielle Gesamt aller Datensätze (9548 Serien). Erfasst wird der Anteil der englisch-romanischen Transferbasen; es ergeben sich 4657 Okkurrenzen (48,77%) (Selektor: *E*). Abb. 8 zeigt die Komputationen der nicht-reduplizierten Lemmata (Selektor *E* in ROSmit z. B. für Spanisch Selektor S in Lsp). Die Ergebnisse: für FR 4154, IT 4212, PT 4221 und SP 4107 Fälle. Fazit: Der Anteil der englisch-romanischen Transferbasen aus intralingual nicht-reduplizierter Zählung beläuft sich für alle Zielsprachen zusammen auf 4655 Okkurrenzen. Nicht nach Sprachen differenziert, umfasst die Selektion „englisch-romanische Schnittmengen einschließlich intralingual reduplizierter Lemmata für FR, IT, PT und SP“ 18585 Lemmata. 7584 Fälle zählen allein die spanischen Lemmata ohne Reduplikate insgesamt. Abb. 9 zeigt die Stärken der unterschiedlichen Transparenzkategorien nach Zielsprachen. Der Selektor heißt in diesem Fall z. B. für das Französische (Feld Lfr = F mit Feld ROS- = *E*) usw. Selbstverständlich erlaubt die KRM-Datenbank weitere Filter, etwa (FR mit IT für RoS- = *E*). Letzteres ergäbe die morphose‐ mantischen Entsprechungen, welche das Französische mit dem Italienischen und dem Englischen teilt. Wie man in Abb. 9 sieht, sind die Selektionen für die einzelnen Zielsprachen in den Kohorten T3 bis T1 nicht exakt gleich groß. Der jeweilige Anteil der englischen Transferbasen mit den einzelnen romanischen Zielsprachen war daher pro Zielsprache einzeln zu vermessen. Dies erklärt Ziehungen wie „SP-Lemmata ohne Reduplikate“ (Feld SPRACHE=S mit Feld ROS-=*E*) bzw. „… mit Reduplikaten“ (Feld SPRACHE=Sw mit Feld ROS-=*E*). Sie selegiert aus der 152 Franz-Joseph Meißner Grundgesamtheit zu ‚Spanisch mit Englisch‘ die gemeinsamen Transferbasen (4107). Zur Kohorte T3 ist zu bemerken, dass die Datenbank die Abweichungen, d. h. den Opakenwert, innerhalb einer Serie zählt. Der Transparenzwert ergibt sich aus der Formel *-* minus *-x, wobei x Platzhalter für FR, IT, PT oder SP sein kann. Die Tabelle gibt den Transparenzwert wider. Zu den Eckwerten der Transferschnittmengen zwischen Englisch und den romanischen Sprachen: Fassen wir zusammen: 1. Die Zählung erfolgt aus intralingual formdivergenten Lexemen. 2. Die RoSE-Werte zeigen den Anteil englischer Transferbasen, die im Deutschen nicht vertreten sind. 3. Die RoSED-Werte zeigen den Anteil englischer Transferbasen, die auch im Deutschen vertreten sind. 4. Die T4-Klasse (Typ artiste, artista, artista, artista; aigu, acuto, agudo, agudo) besteht aus der Summe von RoSE, und RoSED-Selektionen. D.h. der Anteil der voll-seriellen Transferbasen aus dem Englischen beträgt in intralingual formdivergenter Zählung 4353 Serien. 5. *E*-* bzw. RoSE-* OR RosED-* zeigen in drei romanischen Sprachen transparente Serien mit englischer Transferbasis. 6. *E*2 umfasst jeweils zwei jeweils paarige Transparenzen (rôtir, arros‐ tire, assar, asar). 7. *E*3 umfasst zwei Transparenzen innerhalb der viersprachen Serie. 8. oFk steht für „ohne Formkongruenw“ bzw. voll opake Serien (Null-Transparenz). 9. Auf 9549 Serien zählen die vier romanischen Zielsprachen durch‐ schnittlich 7805 intralinguale Formdivergenzen. Pro Sprache sind dies für: FR 7632, IT 8254 (bei einer etwas größeren Grundmenge) PG 7747 und SP 7585 Lemmata. Was nun speziell die auf englische Formantien basierte romanische Interkom‐ prehension betrifft, so belegte Abb. 9, dass englische Transferbasen quasi in allen romanischen Zielsprachen in nahezu gleichem Umfang vertreten sind. 153 Englisch und der Erwerb des romanischen Kernwortschatzes T4 (RosE) T4 (RoSED) T3 (*E*-*) T2 (*E*2) T1 (*E*3) T0 (oFk) T4 mit FR 1543 2810 808 46 5 845 T4 mit IT 1543 2810 1443 37 4 845 T* mit PG 1543 2810 1338 46 5 845 T* mit SP 1543 2810 1307 37 3 845 T* gesamt 6136 11240 4896 166 17 3380 Transferschnittmengen zwischen Englisch und den einzelnen romanischen Zielsprachen aus intralingual formdivergenter Zählung T4 mit FR T4 mit IT T* mit PG T* mit SP T* gesamt Abb. 9: Transferanteile von Englisch in den einzelnen Zielsprachen (Die T0-Markie‐ rungen bilden keine Transferbasen und gehen nicht in die Summierungen Ʃ ein.) 154 Franz-Joseph Meißner 7 Ein kurzer Vergleich zwischen dem KRM- und dem Inventar der Routledge CORE-Vocabularies Die Machart des KRM hat natürlich Einfluss auf Qualität und Quantität der Selektionen. Dies erfordert ein Wort zur Kompilation und Verzeichnung der englischen Adäquanzen: Während für romanischen Lemmata nach der Fixie‐ rung der Bedeutungsadäquanz der Frequenzrang immerhin zweitrangig war, galt dies nur nachrangig für das Englische und Deutsche. Dies legt einen Vergleich mit dem core-inventory zum amerikanischen Englisch von Davies & Gardner (2010) nahe, das vorrangig nach dem Kriterium des Frequenzrangs zusammengestellt wurde. Der US-amerikanische Kernwortschatz verzeichnet in überschlagartiger Zählung 2715 romanische Transferbasen bei 5508 Einträgen; der Transferanteil beträgt mithin 49,26%. Umfangreiche Stichproben ergeben, dass die romanischen Lemmata in beiden Kernwortschatzlisten weitgehend formkongruent sind. Es handelt sich überwiegend um auf das Lateinische bzw. Romanische zurückgehendes Vokabular (Kultismen, Szientismen, neulateini‐ sche Kompositionen). Geht man über den Bereich des Kernwortschatzes hinaus in Richtung des theorienahen und wissenschaftlichen Bezirks, so wächst der Anteil der Interlexeme überproportioal an. 8 Interligalexe und ihre assoziative Potenz Interligalexe sind, wie gesagt, lexikalische Kompositionselemente unterhalb der Wortebene, die das Verständnis weiterer Wörter in unterschiedlichen Sprachen erklären. Abb. 10 bringt eine monolinguale Darstellung zum Spanischen, die von dem Simplex und Interligalex permear ausgeht. Interligalexe bestehen in dieser Auswahl aus dem Wortkern permea-, den Präfixen semi- und imsowie den Suffixen -ar, -cia, -able, -do, -abilidad, -ilizar, -izado, -ización, -lizante, -abilizado. Die Pfeile deuten auf Derivationen bzw. Erweiterungsmuster hin (impermeable zu impermeabilizar). Was nun die inter‐ linguale Lernökonomie betrifft, so begegnen die komponierten Lexeme auch in weiteren romanischen Sprachen (z.B.: it. permeare, permeanza, permeabile, semipermeabile, permeabilità, impermeabilità, impermeabile, impermeabilizzare, impermeabilizzante, permeabilizzato, impermeabilisazione). 155 Englisch und der Erwerb des romanischen Kernwortschatzes Abb. 10: Monolinguale Darstellung zu sp. permear Auch das Englische kennt mit der Ausnahme von impermeable… (rain coat, macintosh, trench coate) to permeate, permeable, permeability, permeation, permeably… und impermeable (wasserundurchlässig), impermeability…, wohin‐ gegen Impermeabilität im Deutschen ein kaum verbreitetes Fremdwort ist. Auf‐ fällig und typisch ist das aus dem lateinischen Supinum gebildete infinitivische englische Morphem -ate (permeate…; hesitate~hésiter, esitare…; irritate~irriter; operate~operieren…). Interligalexe lassen sich grob in zwei Kategorien unterscheiden: in solche, die - wie Prä-, In- und Suffixe - keine neuen Formantien ausbilden und daher in der Zahl begrenzt sind, und solche, die den lexikalischen Kern von Wörtern bilden und deren Anzahl variabel ist. Ein Wortkern wie permeaist zu einem gegebenen Zeitpunkt der Diachronie weder komponiert noch abgeleitet. Lat. MEARE (wandern, s. fortbewegen, strömen) bietet kaum Hilfe, da es semantisch zu den heutigen Formantien zu distant ist (pt./ sp. mear [sp. pissen/ pt. halbieren]). In sp. subtracción sind subund-ción morphematische Fixe, -tracist hingegen der eigentliche lexematische Kern. Das Englische teilt größtenteils die 156 Franz-Joseph Meißner im Romanischen vorhandenen Prä- und Suffixe - mit Ausnahme vor allem des -ing-Suffixes. Für die Interkomprehension stellen die Fixe aufgrund ihrer hohen Frequenz und Formkongruenz im Allgemeinen kein Hindernis dar. 9 Reichweiten möglicher interligalexikalischer Bildungen Die Wirksamkeit von Interligalexen ist für die mehrsprachige Rezeptionskom‐ petenz augenfällig. Die Bildung von Interligalexen ist indes alles andere als eindeutig. Als Kategorie der Interkomprehensionsdidaktik setzen Interligalexe zwei Dimensionen miteinander in Beziehung: die des Lehrens und Lernens einerseits und die der Interlexikologie andererseits. Die Wiedererkennbarkeit (Re-Identifikationstransfer) eines Wortes oder Interligalexes in einer neu zu erwerbenden Sprache hängt hochgradig von der Fähigkeit der Lerner ab, interlinguale (hier pan- oder teilromanische) Transferbasen zu erkennen. Hierbei stellen interphonologische und interorthographische Kenntnisse, wie sie die schon erwähnten Sieben Siebe des EuroComRom von Klein & Stegmann (2000) zusammenstellen, eine wirksame Stütze dar. Die folgende Synopse veranschaulicht die komplexe Problematik: Soge‐ nannte reduktive interligalexikalische Formen beeindrucken durch ihre Reich‐ weite, wie -abit-, -opt- und -notin Abb. 11 zeigen; die Reichweite von it. -abitwird erheblich erhöht, wenn Lerner einen Bezug zu -habitherstellen (können). Dann nämlich „demaskieren“ sie auch Entsprechungen in Deutsch, Englisch, Französisch, Portugiesisch und Spanisch. Damit erhöht sich zugleich potentiell die Zahl der ‚lernwirksamen Begegnungen‘ mit dem ‚Lernstoff ‘ bzw. dem Interlexem und seinen Derivaten (Abb. 10) erheblich. Fazit: Lexikalische Redundanzen dienen didaktisch der Festigung von Wort‐ formen und -inhalten; ihr gezielter und inzidenteller Einsatz ist eine mnemo‐ technische Strategie. Begegnen Interligalexe in mehreren sprachlichen Vari‐ anten, so festigen sie sowohl die morphosemantische Grundform als auch die Fixe und - notabene - die betroffenen interphonologischen und ortho‐ graphischen Regularitäten, welche die plurilingualen Varianten miteinander verbinden. Es geht - wie Horst G. Klein lehrte - um das schon erwähnte „Demaskieren“ vor allem der lexikalischen Komponenten von Wörtern, die gemeinsam eine morphosemantische Serie bilden. Natürlich sind auch die Fixe didaktisch keineswegs irrelevant: Die hochfre‐ quenten Fixe signalisieren Wortklassen (z. B. Substantive, Adverbien, Konju‐ gationsklassen, Personen, Tempora und Modi). Ihre Identifikation erlaubt die Identifikation von Satzstellungsmustern (z. B. Substantive > Subjekte oder Objekte; Verben in Verbindung mit den Konjugationsmorphemen [it. -o, -i, 157 Englisch und der Erwerb des romanischen Kernwortschatzes -a-e -iamo,…-vin amavano] > Prädikate; als Infinitive werden Verben z. B. im Spanischen zu Verbalsubstantiven, also zu möglichen Subjekten oder Objekten; im Englischen gekennzeichnet durch die -ing-Form (Touring meant travelling in style, breaking free from the herd); Adjektive und Adverbien > substantivische oder verbale Ergänzungen). 10 Apropos reduktive vs. expansive Interligalexe Hierarchisierung Assoziative Reichweite reduktives Interligalex expandiertes Interligalex Lemmata 1 abit- 1 abitaabitare, habitar, habiter; abitazione, habitation, ha‐ bitación, habitaç-o; abitante, habitant, habitante; coabitare,… coabitazione…; abitacolo, habitacle, habitáculo…; fr./ it./ pt./ en./ dt. habitat, sp. hábitat; fr. habitus… 2 abitoabito, habit (KIeidung), pt./ sp. hábito (Tracht≠Ge‐ wohnheit), en. habit (Gewohnheit, Amtskleidung), dt. Habitus 3 abituabituale, habituel, pt./ es. habitual; inhabituel…; ha‐ bitualmente… pt. habitualidade…, sp. habitualidad,…; habitude, abitudine, hábito (! ) abituare, habituer, pt./ sp. habituar; habituado… 2 -opt- 1 -opthelicopter, 2 -optait. optare, fr. opter, sp. optar, en. to opt… pt./ sp. adopter, fr. adopter, it. adottare, en. to adopt, dt. Adoptieren adoption, adopç-o… dt. kooptieren, en. to coopt, pt./ sp. cooptar, it. cooptare; cooptazione… -optipt. ótimo, it. ottimo, fr. optimal, sp. óptimo; fr. optimum, sp. óptimo; dt. Optimist, fr. optimiste, sp. optimista, it. ottimista; ottimismo, optimism, optimisme…; optimiser, ottimizzare, pt. otimizar, sp. optimizar; ótica, óptica, optique, optics, Optik; -(p)tion, --(p)zione, --(p)ción, --(p)ç-o, -en./ dt. --(p)tion; en.fr. option, opzione, opción, opç-o; 3 -not- -notait./ pt./ sp. nota, en./ fr. note, dt. Note; notaire, no‐ taio, notário, notario, notary, Notar; Notariat, no‐ tariado… ; en./ fr. notation, notazione, notación, notaç-o; anotación, annotazione…; annotare, an‐ 158 Franz-Joseph Meißner noter…; notable, notabile; prénoter, prenotare, pre‐ notar… ; prenotazione, prenotacion…; -notenote…; notevole, notamment -notinotice, notizia, noticia, notícia, Notiz; notifier, no‐ tificare, pt./ sp. notificar, notify; en./ fr. notion, no‐ zione, noçӓo, noción -notonotorisch, notorio, notoire, notorious…; 4 noct- -noctu, noctanocturne, notturno; noctambule, nottambulismo, sp. noctambular, notteggiare; pt. noctivago; noctí‐ flora 5 Buchstaben‐ folgen -ct- (-tt-) (439) abstraction, attraction, artefact, actividad, attrati‐ vità, actractivité, conflicto, conflitto, efectuar, di‐ dáctica, distinct, electro, … -tt- Mehr als 670 Okkurrenzen bestätigen die interpho‐ nologische Regel lat. CT> it. -tt-. Legende: ] = deutliche morphologische oder semantische Abweichung innerhalb der Serie. X = Platzhalter (Die Tabelle zeigt selbstverständlich nur exemplarische Daten) Abb. 11: Beispiele zu Bildung und Reichweite von Interligalexen Abb. 11 modelliert detailliert die Reichweiten bzw. die potentielle Lernwirksam‐ keit interligalexikalischer Formantien: Die auf das Italienische zurückgreifende Grundform -abitfasst interlingual weder morphologisch noch semantisch eindeutig. Zum einen ist das Fehlen des initialen -hein Alleinstellungsmerkmal des Italienischen, zum anderen ist -(h)abitim Bedeutungskern interlingual-po‐ lysemisch: fr. habiter, it. abitare, en. habitants, sp. habitación, it. abitazione (Bedeutungskern: wohnen; Zimmer, Raum, Haus); en. the habit, fr. habituer, it. abituare, fr. habitude, pt./ sp. hábito, it. abitudine (Gewohnheit, gewöhnen), fr. habits, it. abito (Kleidung). Die Bedeutung der Serien pt. habitar-habitaç-o… (wohnen, Wohnung) inferenziert mit fr. habiller, en. to habit s. o., it. abbigliare (kleiden, einkleiden) eine ‚Interferenzbrücke‘. Das Ineinandergreifen von Ho‐ monymien und Polysemien generiert natürlich auch falsche Freunde, was hier durch die Ähnlichkeiten mit habilité, hability, habilitade, habilidad (Fertigkeit, Geschick) weiter unterstützt wird. Auch die intralinguale Homonymie von to habit (dress) und the habit (custom) vergrößert die mögliche Konfusion. Dt. Habitus hat eine vergleichsweise enge Bedeutung; auch dies kann Lernern zu gegebener Zeit der Lernstrecke bewusst gemacht werden. Angesichts der Sachlage hilft pädagogisch nur der kontrastive Vergleich mit dem Ziel der Bewusstmachung der morphologischen und semantischen 159 Englisch und der Erwerb des romanischen Kernwortschatzes Unterschiede, bzw. des Wechselspiels zwischen interlingualer Homonymie und Polysemie. Dabei ist ein Rückgriff auf die Systemhaftigkeit bzw. die Ökonomie der Distribution von Benennung und Bezeichnung hilfreich. Ein ‚Hyper-Interligalex‘ -abiwürde zu 162 Lemmata führen und zur Konfusion der Kernbedeutungen (Ge‐ wohnheit; Fertigkeit; Geschick; Kleidungsstück, kleiden; wohnen, Wohnraum). Eine solche Ausweitung wäre pädagogisch nicht zielführend. Allerdings kann sie das interkomprehensionsdidaktisch wichtige Lernziel ‚lingual begründeter Umgang mit semantischer Mehrdeutigkeit‘ unterstützen. Zu -opt- und -not-: Auch für dieses ‚Hyper-Interligalex‘ empfiehlt sich Spezi‐ fizierung: Zwar wirft die Selektion -optnur die oben genannten Fälle aus, doch verkürzt die Form für die Memorisierung um wichtige semantische Merkmale, wie ein kurzer Blick offenbart: opter ≠ adopter ≠ optimiste ≠ ottimizzare ≠ optico. Solche Verkürzungen sind vor allem dann pädagogisch nicht hinnehmbar, wenn die Adressaten wenig Erfahrung mit Mehrsprachigkeit nutzbar machen können. Natürlich begegnen in den Selektionen auch immer wieder Formantien, die semantisch und etymologisch außerhalb der jeweiligen Reihe stehen, d. h. die einen Bedeutungskern nicht teilen, hier das Kompositum helicopter für -opt- und giovanotto für -not-. Die Tabelle zeigt in diesem Feld die Vorteile der Erweiterung von -notum die Vokale -a-, -e-, -i-; nicht jedoch um -u-. Ob sich dies in anderen Fällen anders darstellt, bleibt für die jeweiligen Sprachen und Lemmata zu prüfen. Apropos konsonantische Kompositionen: Die Selektion -notzeigt mit der Ausnahme von -nottekeine direkte Nachbarschaft mit Konsonanten. Der Digraph -ttist auf das Italienische und Französische sowie das Englische beschränkt (battre, mettre, battle, rattle und deren Komposita sowie allumette, assiette, fillette, buvette usw., attacher, attaque, atteindre, attendre, attention, better, twitter, putting, committee button usw.) sowie auf das Deutsche. Die Analyse der interlingual korrespondierenden Buchstabenkombinationen trennt deutlich in interkomprehensionsdidaktisch irrelevante (weil einfach fehlende) und relevante Buchstabenfolgen. Ein Beispiel hierfür liefert die Dar‐ stellung zum -tr-Nexus. In diesem und in vergleichbaren Fällen ist freilich auch die jeweilige interphonologische Korrespondenzregel zu berücksichtigen, z. B. fr./ en./ dt. -ct- ~ sp. -cc- (instrucción) ~ pt. -cç- oder -ç- (convicç-o neben instruç-o) ~ it.-z- (istruzione). Auch Buchstabenfolgen bilden interlinguale Transferbrücken. Einen weiteren Beleg stellt die Reihe: fr. -ut- ~ it. -lt- ~ sp. -ch-: couteau, coltello, pt. *cutelo, cuchillo. 160 Franz-Joseph Meißner 11 Einschätzung des Lernaufwandes Die KRM-Datenbank erlaubt auch die Komputation der nach vermutetem Lernaufwand eingestuften Lemmata bzw. der Interligalexe. Abb. 12 zeigt in einem Ausschnitts der Datenbank die Selektions- und Komputationskriterien in der EXCEL-Liste: Abb. 12: Lernökonomische Markierungen Zum Verständnis von Abb. 12 ist die Kenntnis der Markierungen notwendig: Spalten: A=Lemma; B=Lernaufwand; C=Anzahl der Zielu. disambiguierenden Sprachen, in denen das Lemma präsent ist D=Sprache; E=Transferbasis; F=Bedeutung (deutsch, evtl. erweitert um anderssprachige Transferbasis); G=englische oder deutsche Transferbasis oder proaktiver Transfer 161 Englisch und der Erwerb des romanischen Kernwortschatzes MARKIERUNG L=das entsprechende Lemma (oder eine morphosemantische Adäquanz) muss neu gelernt werden (abarcar, albañil…). "ß": der Vertreter kann aufgrund der Kenntnis eines anderen Lemmas (Transferbasis) erschlossen werden (fr. colline (L) > it. collina (ß)…). "$": das Lemmata ist vom Deutschen oder Englischen her erschließbar ("ß" fasst also weiter als "$"). Ein Verweis auf eine bestimmte romanische Sprache erfolgt optativ. "Ø": nicht mehr neu zu lernendes Lemma (der Unterschied zu "ß" und "$" ist graduell). "&": Lemma ist nicht Teil der ursprünglichen Kompilation des KRM-In‐ ventars; seine Inventarisierung erklärt sich aufgrund seiner Bedeutungsa‐ däquanz mit einem Wort innerhalb einer Serie (it. colomba zu colombe), das den Frequenzrang <5000 hat (verschiedene Vertreter einer Serie gehören nicht immer derselben Transparenzklasse an). "<": ein komponiertes Lemma ist aufgrund seines lexikalischen Formanden schon transparent: fr. défavoriser < dt. favorisieren, fr. favoriser; sp. desabo‐ tonear < botón. ">" verweist auf ein Ko-Lemma innerhalb der Serie. Die Sprachkennungen (fr., it., pt. oder sp.) erlauben die Zuordnung eines Lemmas zu einer der romanischen Zielsprachen, dem Englischen (en.) oder dem Deutschen (dt.). "]" deutet auf eine morphologische und/ oder semantische Distanz zu den seriellen Ko-Lemmata hin. „Zahlen“: Anzahl der morphosemantischen Transferbasen innerhalb der Serie. Der mögliche lernökonomische Effekt (Abb. 13) ist - nimmt man den Faktor Input für sich allein, ohne auf die lernerseitigen Variablen zu sehen - hoch signifikant (Abb. 2-4): Die Liste der ‚expansiven Interligalexe ohne intralinguale Reduplikate‘ umfasst 8613 Formantien. Anders gesagt, mit der Kenntnis dieser 8613 Interligalexe sind potentiell 38191 romanische Lemmata erschließbar. Der Filtereffekt entspricht dem Anteil der Differenz aus Minuend und Subtrahend, d. h. 77 %! 162 Franz-Joseph Meißner FAS - Formatvorlage 23 Abb. 13: Potentieller lernökonomischer Effekt durch expansive Interligalexe Setzt man des Weiteren die Kenntnis der interphonologischen Korrespondenzregeln voraus, so verkleinert sich diese Anzahl nochmals erheblich. Aus mehrsprachigkeitsdidaktischer Sicht ist es daher vordringlich, die Behandlung solcher zwischensprachlichen Korrespondenzen in den Unterricht bzw. das Curriculum einzubauen, und zwar möglichst früh (Morkötter 2016). Dies betrifft nicht nur das Lehren und Lernen romanischer Sprachen, sondern auch und gerade des Englischen (Jakisch 2016, 2018). 12 Rückläufige Formen und suffigale Interligalexe Im Zusammenhang mit einer „Euromorphologie“ betont Christian Schmitt die außerordentliche Fruchtbarkeit von Prä- und Suffixen im Bereich der Neubildungen - nicht zuletzt im Bezirk der Wissenschaften: 38191 8613 Lemmata Interligalexe Potentieller Ökonomisierungseffekt der expansiven Interligalexe im KRM Abb. 13: Potentieller lernökonomischer Effekt durch expansive Interligalexe Setzt man des Weiteren die Kenntnis der interphonologischen Korrespondenz‐ regeln voraus, so verkleinert sich diese Anzahl nochmals erheblich. Aus mehrsprachigkeitsdidaktischer Sicht ist es daher vordringlich, die Be‐ handlung solcher zwischensprachlichen Korrespondenzen in den Unterricht bzw. das Curriculum einzubauen, und zwar möglichst früh (Morkötter 2016). Dies betrifft nicht nur das Lehren und Lernen romanischer Sprachen, sondern auch und gerade des Englischen ( Jakisch 2016, 2018). 12 Rückläufige Formen und suffigale Interligalexe Im Zusammenhang mit einer „Euromorphologie“ betont Christian Schmitt die außerordentliche Fruchtbarkeit von Prä- und Suffixen im Bereich der Neubil‐ dungen - nicht zuletzt im Bezirk der Wissenschaften: "Es steht also außer Zweifel, daß diejenigen Suffixe, die auch in den übrigen romani‐ schen Sprachen wie dem Italienischen, Spanischen oder Portugiesischen produktiv sind, (…) ein eindeutiges Übergewicht besitzen, und daß die einst so produktive genuine Wortbildung zur Bildung neuer, auf die moderne Welt oder Technik referie‐ render Bezeichnungen so gut wie nicht mehr aktiviert wird." (Schmitt 1996: 127) Und zur Verbreitung der Suffixe notiert er: "Alle Formantien (griechischer Herkunft) sind ebenso im Deutschen bekannt, wie übrigens auch im Italienischen, Spanischen oder im Portugiesischen. Die einzigen 163 Englisch und der Erwerb des romanischen Kernwortschatzes Unterschiede betreffen die Orthographie sowie die Genus- und Numerusgrammeme." (Schmitt 1996: 132) Rückläufiges Suchen innerhalb der Datenbank erlaubt die vollständige Listung von Suffixen (nicht nur) innerhalb des KRM-Inventars. Auch hier sind starke Filter- und Lerneffekte möglich. Die Listung zum Suffix -ment erlaubt in Kombination mit der regulären Buchstabenfolge die Identifikation von interlingual-suffigalen Abweichungen (apprendimento ≠ fr. apprentissage, sp. apprendizaje; pt. antecipaç-o, it./ sp. antecipo). Zur Einschätzung der Formabweichungen und zur sprachlichen Sensibilisierung von Lernern sollten sie wissen: Die Kerne der Interlexeme sind stabiler als die (präfigalen) Wortanfänge oder die (suffigalen) -endungen. Die folgenden Zählungen, die an den gerade genannten Beispielen an‐ knüpfen, umfassen in serieller Komputation auch intralinguale Reduplikati‐ onen: Die invertierte Nachsilbe -ment (tnem-) erreicht 406 Okkurrenzen; die semantischen Entsprechungen zu en. -ion - -ion (noi-), -ión (noí-) 1212, zu denen sich it. -ione (enoi) mit 558 und --o (o--) mit 734 Treffern gesellen - belaufen sich auf 2910 kernwortschatzliche Fälle. Es ist zu prüfen, ob und in welchem Umfang solche divergierenden Wortbildungsmuster probabilistische Aussagen zur Fehlerprophylaxe erlauben. Die Daten sind brauchbar, wenn es um die Konstruktion von Übungen geht und um die Besprechung der Ergebnisse dieser Übungen. FAS - Formatvorlage Abb. 15: Rückläufige Formantien zu -ment Suchroutinen wie die hier vorgestellten erlauben die materielle Füllung von Übungen zum Sprachvergleich. Sie können als App über die genannte Webseite angefordert werden. 13 Interkomprehensionsdidaktische Relevanz Wie zahlreiche empirische Studien nachdrücklich nahelegen, ist die Hineinnahme der Interkomprehension in die didaktische Steuerung des Fremdsprachenunterrichts eine mächtige Strategie zur Beförderung von Sprachenbewusstheit und Sprachlernkompetenz. Beide Begriffe greifen, wie die Fachdidaktik seit Jahrzehnten betont (z.B. Raabe 2001), auf das systematische und durchaus auch systemische Vergleichen von semantisch, morphologisch und funktional ver- Abb. 14: Rückläufige Formantien zu -ment Suchroutinen wie die hier vorgestellten erlauben die materielle Füllung von Übungen zum Sprachvergleich. Sie können als App über die genannte Webseite angefordert werden. 164 Franz-Joseph Meißner 13 Interkomprehensionsdidaktische Relevanz Wie zahlreiche empirische Studien nachdrücklich nahelegen, ist die Hinein‐ nahme der Interkomprehension in die didaktische Steuerung des Fremdspra‐ chenunterrichts eine mächtige Strategie zur Beförderung von Sprachenbewusst‐ heit und Sprachlernkompetenz. Beide Begriffe greifen, wie die Fachdidaktik seit Jahrzehnten betont (z. B. Raabe 2001), auf das systematische und durchaus auch systemische Vergleichen von semantisch, morphologisch und funktional vergleichbaren Beständen aus einer und/ oder aus verschiedenen Sprachen zu. Es gibt wohl keine belastbare Publikation, die heutzutage behaupten könnte, zwischensprachliches Vergleichen beeinträchtige die Sprachlernwirksamkeit. Die auch von den Ergebnissen der Wissenschaften vom Lernen generell breit plausibilisierte Wirksamkeit der Sprachen miteinander verbindenden Didaktik der Mehrsprachigkeit - und in ihrem Kern des interkomprehensiven Ansatzes - fokussieren sowohl auf Mehrsprachenbewusstheit als auch auf Mehrsprachenwachstum. Während Sprachenbewusstheit ihren Ort schon in den Einstellungen (attitudes, savoir-être) der Lerner findet, ist individuelles Mehrsprachenwachstum im Fokus des interkomprehensiven Ansatzes: Ohne eine Mehrung von sprachlichen Wissensbeständen gibt es kein Sprachen‐ wachstum! Dabei liegt der erste Zugriffspunkt der Interkomprehensionsme‐ thodik in der ‚Weckung‘ des lernerseitig bereits vorhandenen latenten Wissens (dormant knowledge). Dies gilt sowohl in einzelzielsprachlicher als auch in mehrsprachiger Perspektive. Dabei sind Auswahl, Anordnung und Zeitpunkt der Präsentation des (mehr)sprachlichen Inputs in den Sprachcurricula von hoher Relevanz. Natürlich interagieren Sprachenwachstum, Sprachenbewusst‐ heit, Sprachlernkompetenz und Sprachenkönnen miteinander. Schon aufgrund dieser Eigenschaften ist die Interkomprehensionsdidaktik eine Fächer- und Sprachen übergreifende Transversaldidaktik, die einzelzielsprachliche Didak‐ tiken nicht ersetzen kann, sondern diese bereichern will. Die KRM-Datenbank und ihre Apps sind Instrumente zur Optimierung des sprachlichen Inputs und zur Erzeugung mehrsprachiger Lesekompetenz. Diese lässt sich in viel kürzerer Zeit entwickeln als z. B. die anderen funktionalen Kompetenzen. Die Interkomprehension kann daher auch als Einstiegsmodul in das Erlernen einer ‚neuen‘ Fremdsprachen fungieren (Bär et al. 2005). Mehrsprachige Übungen bieten viele Anknüpfungspunkte zur Umformung des trägen Wissens in lernrelevante Wissensschemata. Um Lerner in die Vorteile des reflexiven Mehrsprachenerwerbs zu versetzen, bedarf es allerdings lehrseitig auch einer detaillierten Kenntnis des mehrsprachigen Inputs bzw. des Sprach‐ baus und vor allem der Wortschätze. Diese Kenntnis ist die Voraussetzung für 165 Englisch und der Erwerb des romanischen Kernwortschatzes 7 Vgl. www.eurocomdidact.eu die optimale Planung, Konstruktion und Anordnung des Inputs für eine Lehr- und Lernstrecke. Auch hierzu findet der KRM seinen praktischen Zweck. Die Optimierung des Inputs geht mit Übungen und Übungsformaten sowie ihrer inhaltlichen Füllung einher. Folgende Vorteile sind zu nennen 7 : ▸ die aus der elektronischen Frequenzlexikographie kontrollierte und empi‐ risch höchst belastbare Eingrenzung des kernwortschatzlichen Inventars. Auf der Ebene der Lemmata: ▸ ihre Anordnung und Präsentation in vier bzw. sechssprachigen Serien und die hiermit verbundene Kontrastierung der bedeutungsadäquaten Lemmata, ▸ die Anbindung des zielsprachlichen Vokabulars an disambiguierende deutsche und englische Bedeutungsadäquanzen, ▸ die variierbare Selektion und Präsentation des Materials in Verbindung mit einer Vielzahl pädagogisch relevanter Selektoren, welche auf kon‐ krete Lernsituationen und didaktische Bedarfe antworten, ▸ das Englische muss in all diesen Selektionen bzw. Übungen eingebunden werden. Auf der Ebene der Interligalexe: ▸ die Filtereffekte ausübenden Formantien machen mehrsprachige Wortfa‐ milien sichtbar und reduzieren so den für den Erwerb von Lesekompetenz notwendigen Lernaufwand (vgl. Abb. 10 und das dort Gesagte), indem sie unterhalb der Wortebene morphosemantische Transferbrücken zur Verfügung geben. ▸ die Generierung neuer Übungstypen, die eine Ergänzung der interligale‐ xikalischen Formantien hin zu den betroffenen Lemmata in bestimmten oder in mehreren Sprachen erfordern, ▸ die Erstellung von übereinzelsprachlichen Wortfamilien. Das Englische nimmt an diesen morphosemantischen Korrespondenzen teil. Auf der Ebene der interphonologischen Korrespondenzregeln: ▸ Demonstration und Einübung solcher Regeln durch umfassende Bereit‐ stellung entsprechender Lemmatareihen (z. B. [A] fr. cher~it./ pt./ sp. caro; chien-cane-can-canito; cheveux-capelli-cabelo-cabello; [B] abdicare, irritar, hésiter, abdicate, irritate, hesitate; usw., [C] acoustique-acustico-acústico, acústico [Realisierung des / u/ -Lautes]) u. a. m. Das KRM-Inventar erwei‐ 166 Franz-Joseph Meißner tert die in den Sieben Sieben gegebenen Beispiele zu den dort dargelegten interphonologischen Regeln. ▸ Demonstration und Einübung interphonologischer Regeln auf der Grund‐ lage relevanter Buchstabenkombinationen. Ein Beispiel von vielen mög‐ lichen: fr. -CT- ~ it. -tt-, -z-, Ø (instinct ~ istinto) ~ pt. -ct- (acto), -c- (funcionar), -ç- (action~aç-o), -Ø- (conducteur~condutor, distinto), -cç- (convicç-o), -it- (defeituoso, respeito), -í- (vítima), -ut- (doutor, outubro) ~ sp. -ct- (actual), -cc- (acción), -c- (función), Ø (distinto)). ▸ Das Englische zeigt dieselben interlingualen Muster wie das Französische. Auf der Ebene der Suffixe: ▸ Inversive Schreibungen zeigen im interlingualen Vergleich im Bereich der Suffix interlinguale ‚Brüche‘ (Typ: apprendimento ~ aprendizaje) an und können zur Fehlerprophylaxe eingesetzt werden. Aus Gründen der Platzökonomie können an dieser Stelle keine Übungsformate und ihre Wirkungen auf die Nachhaltigkeit dargestellt und erörtert werden (vgl. Meißner; 2005, speziell zum Englischen: Klein & Reissner 2006). Last but not least: Um Fehldeutungen zu vermeiden, sei daran erinnert, dass sich ausschließlich aufgrund der Ähnlichkeit von Wörtern noch keine konkrete Aussage zu realen Transferleistungen von individuellen Lernern treffen lässt, was seit Bieritz (1974) zahlreiche Studien bestätigt haben. Dennoch ist die morphosemantische Adäquanz die materiale Grundlage für Prozesse der interlingualen Lernökonomie. Empirische Arbeiten zum Identifikationstransfer setzen die Relevanz der materialen Ähnlichkeiten als selbstevident voraus (u. a. Bär 2009). Diese zu kennen und zu lehren, ist eine notwendige Kompetenz didaktischen Steuerungswissens. Bibliographie Bär, Marcus (2009). Förderung von Mehrsprachigkeit und Lernkompetenz. 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Eine sprachwissenschaftliche akademische Laufbahn mehrsprachig und plurikulturell leben - dargestellt am Beispiel einer individuellen Sprachbiographie Nadine Rentel 1 Einführung Ein immer größerer Anteil von Individuen wächst zweibzw. mehrsprachig auf oder erwirbt im Laufe des Lebens mehrsprachige Kompetenzen. Mehrsprachig‐ keit wird im vorliegenden Beitrag in dem Sinne verstanden, dass sowohl die Personen, die im frühen Kindesalter ungesteuert eine weitere Sprache erlernen, als auch Individuen, die zu einem späteren Zeitpunkt im Rahmen eines gesteu‐ erten, institutionalisierten Kontextes fremdsprachliche Kompetenzen erwerben, unter diesen Begriff subsumiert werden. Es ist bekannt, dass die Tatsache, mehr als eine Sprache zu beherrschen, Einflüsse auf die kognitiven Fähigkeiten einer Person haben - hier ist insbesondere an die Problemlösungskompetenz zu denken - sowie sich auf der Ebene der Persönlichkeit widerspiegeln kann. 1 Im Rahmen zahlreicher Einzelstudien wurde das Phänomen der individuellen Mehrsprachigkeit empirisch erforscht. Solche Studien legen den Fokus auf ausgewählte Einzelaspekte individueller Mehrsprachigkeit, wie beispielsweise Sprachgebrauchs- und Spracherwerbskontexte, Einstellungen zu Sprachen oder unterschiedliche Kompetenzen in den beherrschten Sprachen (vgl. z. B. Hnízdo 2016 & Murrmann 2018). Auch wird in der Mehrsprachigkeitsforschung der Frage nachgegangen, mittels welcher didaktischen Ansätze und Strategien die individuelle Mehrsprachigkeit im institutionellen Rahmen gefördert werden kann und welche besonderen Herausforderungen sich aus der mehrsprachigen Lehre ergeben (vgl. z. B. Kelly 2015 sowie Chen, Yan-Zhen & Hélot 2018). Der Jubilar Albert Raasch, dem diese Festschrift gewidmet ist, ist neben un‐ zähligen linguistischen Forschungsgebieten im Bereich der Mehrsprachigkeits‐ forschung ausgewiesen. Hinzu kommt, dass sich sein langjähriger Wirkungsort Saarbrücken an der Kreuzung unterschiedlicher Sprach- und Kulturräume ver‐ orten lässt - neben der deutsch-französischen Grenzregion ist hier insbesondere auf die mehrere Staatsgrenzen überschreitende Europaregion SaarLorLux (für einen erhellenden Überblick bestehender Initiativen in der Region vgl. Raasch 1998) zu verweisen. Unter den zahlreichen Publikationen Albert Raaschs zur Thematik des Sprachenlehrens und -lernens in Grenzregionen sei an dieser Stelle lediglich stellvertretend für das wissenschaftliche Oeuvre eine bereits auf das Jahr 1988 zurückgehende Publikation verwiesen, in deren Rahmen der Jubilar schon frühzeitig auf die spezifischen Anforderungen des Fremdspra‐ chenlernens im Saarland eingeht (Raasch & Biegel 1988.). Eine gegenwärtig forcierte, institutionell bzw. politisch gewollte Anstrengung zur Förderung der Mehrsprachigkeit, die Auswirkungen auf die individuelle Mehrsprachigkeits‐ kompetenz haben kann und soll, ist die im Rahmen der saarländischen Sprachen‐ politik verankerte Frankreichstrategie der saarländischen Landesregierung (vgl. Holl 2014). Im Kontext der Frankreichpolitik des Saarlandes, mittels derer ein Alleinstellungsmerkmal gegenüber anderen Bundesländern erworben werden soll, wird angestrebt, dass bis zum Jahr 2043 das Französische - gleich nach dem Deutschen - den Status der zweitwichtigsten Verkehrs- und Umgangssprache innehaben soll. Um dieses Ziel zu erreichen, werden in Zukunft zahlreiche Maß‐ nahmen im saarländischen Bildungssystem implementiert, die die Ausbildung einer französischen Sprachkompetenz bereits ab der frühkindlichen Bildung sicherstellen sollen. Aus den angeführten Gründen erscheint es uns sinnvoll und aktuell, sich zu Ehren Albert Raaschs dem Porträt einer mehrsprachigen und sich zwischen den Kulturen bewegenden Sprachwissenschaftlerin zu widmen, die darüber hinaus einen engen wissenschaftlichen und persönlichen Bezug zu Saarbrücken hat. Auch wenn das Französische in diesem speziellen Kontext keine Rolle spielt, ist es doch beeindruckend zu sehen, mit welcher Selbstverständlichkeit sich die für das Interview ausgewählte Person zwischen den Sprachen und Kulturen bewegt. Im Rahmen eines qualitativen Leitfadeninterviews wurde die Interviewpart‐ nerin im Mai 2019 zu ihrem Spracherwerbskontext, zur Rolle der von ihr beherrschten Sprachen im beruflichen und privaten Alltag, zu unterschiedli‐ chen sprachlichen Kompetenzen sowie zu ihren Einstellungen hinsichtlich von Sprache befragt. Die Ergebnisse dieses Interviews werden im vorliegenden Beitrag beschrieben und diskutiert - und dies stets, ohne den Bezug zum 172 Nadine Rentel Saarland und speziell zu Saarbrücken aus den Augen zu verlieren. Im Vorfeld erfolgen einige Überlegungen zur Wahl der Erhebungsmethode sowie eine kurze Beschreibung der Durchführung des Interviews. Auch wenn sich vermutlich im Vergleich zu bereits durchgeführten Studien keine völlig neuen Analysekategorien aus den Daten ableiten lassen, so hoffen wir, dass sich die Lektüre für den Jubilar kurzweilig und interessant gestaltet. 2 Der Erhebungskontext Das genannte Interview wurde im Mai 2019 im Rahmen eines Moduls zur Mehr‐ sprachigkeit durchgeführt, welches sich an der Westsächsischen Hochschule Zwickau an Studierende des Masterstudiengangs Regionale und Europäische Projektentwicklung wendet. Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen des von der Deutsch-Französischen Hochschule geförderten Programms kommen aus Deutschland, Frankreich und der Tschechischen Republik und verbringen im Rahmen des viersemestrigen Masterstudiums jeweils ein Semester an einer der Partneruniversitäten. Studienbeginn ist jeweils im Wintersemester an der Uni‐ versité de Bretagne Sud (Lorient), bevor die Kohorte im Sommersemester an der Westsächsischen Hochschule Zwickau studiert. Im dritten Semester erfolgt die Lehre an der Universität Budweis, bevor die Studierenden im vierten Semester den Ort ihres Praktikums frei wählen können. Im Kontext der ausschließlich auf Englisch oder Französisch abgehaltenen Lehrveranstaltung, in deren Rahmen das Interview durchgeführt wurde, beschäftigen die Studierenden sich sowohl auf theoretischer Ebene als auch praxisbezogen mit unterschiedlichen Aspekten der institutionellen und individuellen Mehrsprachigkeit. Der zu erwerbende Leistungsnachweis umfasst eine mündliche und eine schriftliche Teilleistung. Während die Studierenden im Laufe des Semesters einen frei zu wählenden wissenschaftlichen Aufsatz aus dem Forschungsbereich der Mehrsprachigkeit in englischer Sprache vorstellen und kritisch diskutieren müssen, haben sie nach Semesterabschluss die Aufgabe, eine eigene, qualitativ orientierte Studie im Bereich der individuellen Mehrsprachigkeitsforschung durchzuführen. Zu diesem Zweck werden ihnen im Seminar die notwendigen methodischen Grund‐ lagen der qualitativen, empirischen Sozialforschung vermittelt. Da ein Großteil der Teilnehmer und Teilnehmerinnen nicht über ausreichende Erfahrungen bezüglich der Konzeption und Durchführung qualitativer Interviews verfügt, werden unterschiedliche Interviewtechniken und die sich daran anschließenden Möglichkeiten der Transkription und Annotation der Daten vorgestellt und gemeinsam erprobt. Die wissenschaftliche Methode des qualitativ orientierten Leitfadeninterviews erschien der Seminarleiterin und Autorin am geeignetsten, 173 Eine sprachwissenschaftliche Laufbahn mehrsprachig und plurikulturell leben 2 Zum narrativen Interview vgl. beispielsweise Schütze (1983). um ausgewählte Aspekte individueller Mehrsprachigkeit zu erfassen, da einer‐ seits durch die Ausformulierung der Leitfragen sichergestellt wurde, dass die relevanten Themenbereiche im Verlauf der Interviews angesprochen würden, andererseits aber ausreichend Freiraum für die Schilderung darüber hinausge‐ hender Erfahrungen gewährt werden konnte. Das narrative Interview, dessen Verlauf im Vergleich zum Leitfadeninterview nahezu völlig offen ist, wurde hin‐ gegen als nicht primär geeignet angesehen, da im Rahmen des durchgeführten Interviews von einigen Hypothesen ausgegangen wurde, die sich in der Art und Anordnung der Fragen widerspiegeln. Die Überprüfung dieser Hypothesen hätte durch das narrative Interview lediglich in eingeschränkter Form garantiert werden können. 2 So wurden auch im Sommersemester 2019 Interviewpartner mit einer mehr‐ sprachigen Spracherwerbsbiographie eingeladen, mit der Gruppe der Studie‐ renden über ihre Erfahrungen zu sprechen. Die Interviews wurden aus Kosten- und Zeitgründen größtenteils per Skype durchgeführt. Die Studierenden be‐ kamen etwa 14 Tage vor den geplanten Interviews die Aufgabe, die Leitfragen zu entwickeln, welche dann wiederum gemeinsam im Seminar diskutiert und ge‐ gebenenfalls angepasst wurden. Jeweils eine Teilnehmerin bzw. ein Teilnehmer des Moduls war dann verantwortlich für die Durchführung des Interviews. Eine vollständige Transkription der Interviewdaten war nicht vorgesehen, da dies Bestandteil der von den Studierenden anzufertigenden Forschungsarbeiten war, die wiederum die Durchführung eigener Interviews erforderte. Lediglich ausgewählte Passagen wurden zu Übungszwecken transkribiert, um die Vor- und Nachteile unterschiedlicher Arten der Transkription deutlich zu machen. Das im Folgenden diskutierte Interview wurde somit von uns inhaltsorientiert transkribiert und im Anschluss einer qualitativen Inhaltsanalyse (nach Mayring 2010) unterzogen. Das Interview hat eine Gesamtdauer von 33: 55 Minuten und wurde in deutscher Sprache durchgeführt. Zwar beherrscht die Interview‐ partnerin nach eigenen Angaben das Englische als Konferenzsprache, da das Deutsche jedoch ihre zuerst erworbene L2 ist, in der sie sich am sichersten fühlt, äußerte sie den Wunsch, das Interview auf Deutsch durchzuführen. Die deut‐ schen Muttersprachler im Seminar hatten dabei die Aufgabe, den tschechischen Teilnehmern und Teilnehmerinnen, deren Kompetenzniveau mit A1/ A2 nicht ausreichte, um dem Interview vollständig zu folgen, zentrale Aussagen simultan ins Französische oder ins Englische zu dolmetschen. Die Interviewpartnerin war zum Zeitpunkt des Interviews 47 Jahre alt und stammt ursprünglich aus Bulgarien. Am Skype-Interview nahm sie von ihrer 174 Nadine Rentel 3 Das Kürzel S1 bezeichnet die Studierende, die für die Durchführung des Interviews verantwortlich war und die Moderation auf der Basis der gemeinsam erarbeiteten Fragen übernommen hat, IP ist die Interviewpartnerin; L1 bezeichnet die Leiterin der Lehrveranstaltung, die zum Zeitpunkt des Interviews anwesend war und gegen Ende einige spontane Fragen stellte, die sich aus dem Gesprächsverlauf ergaben. 4 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurden die Äußerungen der Interviewpartne‐ rinnen sprachlich leicht geglättet, da der Fokus der Analyse auf dem Inhalt und nicht auf der sprachlichen Form des Interviews lag. Die vorgenommenen Glättungen betreffen beispielsweise Abbrüche, Wiederholungen oder Verzögerungsphänomene. Privatwohnung der bulgarischen Hauptstadt Sofia aus teil, wo sie eine wissen‐ schaftliche Stelle am germanistischen Institut der Kliment-Ohridski-Universität innehat. Privat lebt sie in Athen und pendelt daher regelmäßig zwischen Sofia, Athen und häufig auch Deutschland hin und her, wo ihre wissenschaftliche Qualifikation erfolgte. Technische Probleme traten zu keinem Zeitpunkt des Interviews auf. 3 Ergebnisdiskussion 3.1 Die Motivation für den Erwerb des Deutschen Zu Beginn des Interviews erfragten die Studierenden die Motivation für den Erwerb des Deutschen als Fremdsprache und leiteten im Anschluss auf die Frage über, ob der Fremdsprachenerwerb dazu beigetragen habe, die spätere Berufswahl zu beeinflussen. 3 Nach allgemeinen Informationen zum Ablauf des Interviews, der Einholung des Einverständnisses der Interviewpartnerin, dass das Gespräch aufgezeichnet und in anonymisierter Form zu wissenschaftlichen Zwecken verwendet werden dürfe, wurde der Gesprächsbeginn seitens der Studierenden signalisiert: 4 S1: Genau, dann starten wir. IP: Okay. S1: Wir haben gehört, dass Sie Deutsch an der Universität unterrichten, und wie kam es denn dazu, dass Sie ausgerechnet Deutsch so intensiv gelernt haben und dann auch noch Linguistik studiert Als Motivation für den Erwerb des Deutschen wird der Wunsch der Mutter der Interviewpartnerin angeführt, ein bestimmtes Bildungsziel zu erreichen und sich durch das Erlernen des Deutschen von Lernenden anderer Fremdsprachen abzugrenzen. Hinzu kommt, dass in der damals geltenden Bildungspolitik Bulgariens der Fremdsprachenerwerb nicht verpflichtend im Curriculum ver‐ 175 Eine sprachwissenschaftliche Laufbahn mehrsprachig und plurikulturell leben ankert war. Aufgrund des jungen Lebensalters der Interviewpartnerin zum Zeitpunkt der Entscheidung für den Erwerb der ersten Fremdsprache spielten eigene Interessen und Vorlieben somit keine Rolle. Ausschlaggebend war die Auffassung der Erziehungsberechtigten, Deutsch als Alleinstellungsmerkmal anzusehen, mit dessen Beherrschung sich womöglich im späteren Leben der Tochter verbesserte berufliche Chancen verbinden könnten. Offen bleibt im Interview jedoch, worin genau der Mehrwert des Deutschen lag - abgesehen von der Tatsache, dass zum damaligen Zeitpunkt vergleichsweise wenige Schülerinnen und Schüler Deutsch lernten. Deutlich wird jedoch in jedem Fall eine utilitaristische und strategische Einstellung der Entscheidungsträgerin im Hinblick auf die Sprachwahl; andere Beweggründe wie beispielsweise ein kurzfristig zu konstatierender Bedarf, die Sprache zu erlernen, lassen sich aus den Interviewdaten nicht ableiten: IP: [lacht] Jetzt muss ich weit ausholen. Also, ich hab angefangen, Deutsch zu lernen bereits in der ersten Klasse, und als ich in die erste Klasse ging, war eigentlich eine Fremdsprache an den Schulen überhaupt nicht vorgesehen. Meine Mutter hat allerdings darauf bestanden, dass ich Deutsch lerne, weil alle anderen eine andere Fremdsprache gelernt haben, zu meiner Zeit Englisch, Französisch und auch Russisch, aber eben nicht Deutsch. Also, das, was dahintersteckte, war also, dass meine Mutter wollte, dass ich irgendwie eine andere Sprache lerne. So. Und wie gesagt, ich hab sehr früh damit angefangen, aber richtig intensiv dann ab der 8. Klasse, als ich aufgenommen wurde in ein deutsches Sprachgymnasium. Soll ich noch weiter erzählen, oder wollen Sie mich schon jetzt unterbrechen [lacht]. 3.2 Beweggründe für die Aufnahme eines Germanistikstudiums Nach der Schilderung der früh erfolgten Entscheidung für das Deutsche als L2 wollten die Studierenden erfahren, was genau die Interviewpartnerin dazu bewegte, sich dem Deutschen aus wissenschaftlicher Perspektive zu widmen und ein Germanistikstudium aufzunehmen: S1: Und wie haben Sie - und warum haben Sie sich dazu entschieden, Linguistik zu studieren, wie ging’s dann quasi auf dem sprachlichen Weg weiter? Bezüglich dieser Frage stellt die Interviewpartnerin ihre allgemeine Begabung und das Interesse für den Erwerb von Fremdsprachen heraus und verweist auf ihr durch den Unterricht an einem deutschen Gymnasium in Sofia her‐ vorgerufenes, ursprüngliches Berufsziel, Dolmetscherin und Übersetzerin zu 176 Nadine Rentel werden. Nach der Aufnahme eines Germanistikstudiums an der Universität des Saarlandes wurde ihr jedoch klar, dass es sich bei der Germanistik als wissenschaftlicher Disziplin nicht nur um den Bereich des Übersetzens und Dolmetschens handelt, sondern dass die Germanistik als Philologie viel weiter gefasst ist. Diese neue Perspektive führte dann zu einer Verschiebung der Interessen der Interviewpartnerin in Richtung auf allgemeinere linguistische Fragestellungen und ließ den ursprünglichen Berufswunsch in den Hintergrund treten: IP: Also, ich hab irgendwann gemerkt, dass mir Sprachenlernen gar nicht so schwerfällt, und wir hatten mal bereits im Gymnasium paar Übersetzungsübungen, und ursprünglich wollte ich eigentlich Dolmetscherin und Übersetzerin werden. Und dann kam ich an die Uni und da hat sich herausgestellt, also, dass Germanistik nicht so sehr mit Übersetzen und Dolmetschen zu tun hat. Ja, und da hab ich Interesse eben an linguistischen Fragestellungen entwickelt und hab dann mich mit Übersetzen bzw. mit dieser Idee, Übersetzerin und Dolmetscherin zu werden, überhaupt nicht mehr beschäftigt. Also ich hatte einen kleinen Anstoß, als ich hier in Sofia angefangen habe, aber richtig jetzt, dass ich mich beruflich damit beschäftige, hab ich das in Saarbrücken entwickelt, wo ich dann auch Deutsch studiert habe 3.3 Die Einstellung der Interviewpartnerin zu den von ihr beherrschten Sprachen Der internationale Werdegang der Interviewpartnerin zog die Frage seitens der Seminargruppe nach sich, welche Sprachen sie beherrscht: S1: Also, Sie kommen aus Sofia, Sie waren in Saarbrücken, und leben jetzt in Athen. Wie viele Sprachen sprechen Sie da? Obwohl in der Frage der unterschiedliche Stellenwert der beherrschten Spra‐ chen nicht explizit thematisiert wird, geht die Interviewpartnerin in ihrer Antwort unmittelbar darauf ein, indem sie Präferenzen formuliert: IP: Also, äh, ich spreche nur [lacht] Deutsch, äh, Griechisch, ähm, und äh Bulgarisch, also jetzt, äh, wie soll ich sagen, tagtäglich, zur Not Englisch, zur Not auch Russisch. Es wird eine Abstufung vorgenommen in Bezug auf die persönlichen Vorlieben, die unterschiedlichen Sprachen zu verwenden. Deutlich wird, dass neben der Muttersprache Bulgarisch die L2 Deutsch und die L3 Griechisch in der 177 Eine sprachwissenschaftliche Laufbahn mehrsprachig und plurikulturell leben alltäglichen Kommunikation dominieren, wohingegen das Englische und das Russische lediglich „zur Not“, das heißt in bestimmten Verwendungskontexten, aktiviert werden. Die Studierenden sind beeindruckt von der mehrsprachigen Kompetenz ihrer Interviewpartnerin und möchten wissen, inwieweit diese im Alltag zwischen den von ihr beherrschten Sprachen wechseln muss und was diesen Sprachwechsel jeweils motiviert: S1: Das ist viel [lacht]. Passiert es Ihnen dann oft am Tag, dass Sie zwischen Sprachen wechseln müssen. Bezüglich dieser Frage weist die Interviewpartnerin darauf hin, dass der Sprach‐ wechsel für sie ein alltägliches Phänomen sei, der jedoch abhängig von der konkreten Kommunikationssituation und damit verbunden von den sprachli‐ chen Kompetenzen der jeweiligen Kommunikationspartnern und -partnerinnen sei. Eine wichtige Differenzierung liegt hinsichtlich des Unterschieds zwischen privaten und öffentlichen Kommunikationssituationen vor. Da das Phänomen des Code Switching in Abschnitt 3.4 (Gebrauchskontexte) näher betrachtet wird, soll an dieser Stelle der entsprechende Auszug aus dem Transkript nicht vorweggenommen werden. Die Leiterin der Lehrveranstaltung möchte wissen, welche emotionalen Einstellungen die Interviewpartnerin zu den von ihr beherrschten Sprachen hat. Die Interviewpartnerin schildert auf diese Frage hin ihre Einstellungen zu den verschiedenen Sprachen, welche für sie jedoch eng verbunden sind mit den vorliegenden oder auch mangelnden Kompetenzen bezüglich der Ausdrucksfähigkeit in ihnen. Deutlich wird, dass die Probandin Fremdsprachen eher als Werkzeuge mit einem bestimmten Zweck sieht und sie weniger mit Emotionen verbindet: L1: Meine Herzenssprache ist ja das Französische. Hast Du auch eine Sprache, mit der Du die meisten positiven Emotionen verbindest? Ist es dann das Deutsche, oder eher nicht? IP: Also ich würde sagen, dass ich mittlerweile sowohl das Deutsche als auch das Griechische genauso lieb hab, also ich hab schon Deutsch immer sehr gemocht, das muss ich ehrlich sagen, denn sonst hätte ich mich nicht damit beschäftigt, und als ich angefangen habe, irgendwie Griechisch zu sprechen, da war ich irgendwie oft frustriert und dachte, das gibt’s doch gar nicht, also ich kann auf Griechisch gar nichts sagen, im Deutschen klingt das viel besser, und so weiter, aber je mehr Kompetenzen Du erwirbst, desto mehr lernst Du auch die Sprache kennen und siehst, dass eben das Griechische andere Möglichkeiten hat, die es wiederum im Deutschen nicht gibt. Also ich würde jetzt wirklich nicht sagen, dass ich die eine Sprache mehr mag als die 178 Nadine Rentel anderen, sondern ich würde wirklich mittlerweile sagen, dass ich die beiden genauso wie meine Muttersprache sehe, also gar keinen Unterschied. Ich finde auch, das ich hab ja am Anfang gesagt, dass ich, wenn ich mit meinem Mann spreche, alle drei Sprachen verwende, und das zeigt ja nur, dass ich zwischen diesen drei Sprachen doch nicht unterscheide. 3.4 Sprachgebrauchskontexte Für die Interviewpartnerin scheint Code-Switching, wie bereits weiter oben kurz erwähnt, ein alltägliches Phänomen zu sein, mit dem sie jeden Tag kon‐ frontiert wird. Sie nimmt jedoch eine Differenzierung in Abhängigkeit von der konkreten Kommunikationssituation vor und stellt heraus, dass sie im Rahmen der privaten Kommunikation mit ihrem Ehepartner drei Sprachen verwendet, wobei das Deutsche die Rolle der Hauptsprache innehat. Dies begründet sie mit dem gemeinsamen privaten Hintergrund, da ihr Ehemann und sie sich in Deutschland kennengelernt und dort einige Zeit gemeinsam verbracht haben, so dass diese gemeinsame Geschichte auch heute noch einen Einfluss auf die Wahl der dominierenden Sprache hat. Es wäre ja auch denkbar gewesen, dass durch den gegenwärtigen Lebensmittelpunkt Athen das Griechische diese Rolle einnimmt: IP: Es passiert mir mindestens einmal am Tag, also wenn ich mit meinem, mit meinem Ehemann rede, dann reden wir die drei Sprachen ge‐ mischt, und also immer, wobei also Deutsch immer die Hauptsprache ist, weil wir uns in Deutschland kennengelernt haben. Aber es passiert mir auch an der Uni, wenn ich unterrichte, also falls ich, also weil bei uns sind eigentlich alle Veranstaltungen auf Deutsch, nur auf Deutsch, aber wenn ich jetzt merke, dass, ähm, die Studierenden mich nicht verstehen, dann, äh, ja, dann rede ich bisschen Bulgarisch, um das zu erklären, so ich switche da schon oft zwischen Sprachen auch. Im beruflichen Kontext dominiert Deutsch als Unterrichtssprache, da dies die institutionelle Vorgabe ist. Lediglich bei Verständnisproblemen seitens der Ler‐ nenden greift die Interviewpartnerin auf die Muttersprache Bulgarisch zurück. 3.5 Spracherwerbskontexte Weiterhin gehen die Studierenden auf die Frage ein, ob in der Erinnerung der Interviewpartnerin der Erwerb des Griechischen im Vergleich zum Deutschen herausfordernder war, da dieser erst später erfolgte: 179 Eine sprachwissenschaftliche Laufbahn mehrsprachig und plurikulturell leben S1: Eine Frage kam noch auf, und zwar, als Sie Griechisch gelernt haben, im Vergleich zu Deutsch - war es schwierig? Oder schwieriger? IP: Es war unheimlich schwierig also ich muss sagen … Aber dazu muss ich sagen, dass ich Griechisch ganz anders gelernt habe als Deutsch. Deutsch habe ich natürlich angefangen, gesteuert zu lernen, und Griechisch hab ich ungesteuert gelernt, das heißt ganz genau umge‐ kehrt, ich hab wirklich zunächst nur zugehört, und dann irgendwann hab ich angefangen, mich in den Gesprächen einzumischen, bisschen was zu sagen, und erst dann viel später hab ich angefangen, mir selbst was beizubringen, wie heutzutage beispielsweise auch. Wo ich diesen phraseologischen Aufsatz lese und erstaunt bin, dass ich wirklich zu 100 Prozent alles verstehe. Aber das liegt nicht an meinen wahnsinnig guten Griechischkenntnissen, sondern es liegt daran, dass die Terminologie in der Phraseologie ziemlich ähnlich ist. Das heißt, es ist mehr der Inhalt, es ist mir vollkommen präsent, und jetzt, wo ich das lese, also es läuft ganz gut, bin ich sehr zufrieden mit meinem heutigen Tag. Die Interviewpartnerin stellt Unterschiede im individuellen Erleben des ge‐ steuerten gegenüber dem ungesteuerten Fremdsprachenerwerb heraus. Das Deutsche erlernte sie bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt in ihrem Leben - und dies ausschließlich in einem institutionellen, gesteuerten Kontext. Das Griechische hingegen spielte erst im weiteren Verlauf ihres Lebens eine Rolle und wurde von der Interviewpartnerin über einen längeren Zeitraum hinweg erlernt. Dabei beschreibt sie einen chronologischen Ablauf des Sprachlernprozesses: während sie in einer ersten Phase lediglich zuhörte und so rezeptive Kompetenzen erwarb, folgte in einer zweiten Spracherwerbsphase das Mitreden in ausgewählten Kommunikationssituationen. Erst als letzte Stufe berichtet die Interviewpartnerin von autodidaktischen Bemühungen, den Erwerb des Grie‐ chischen zu systematisieren und zu vertiefen. Gegen Ende der Interviewpassage spricht sie von der Rolle der Terminologie für das Verstehen linguistischer Fachtexte. Interessanterweise lag zu Beginn seitens der Interviewpartnerin keinerlei Motivation vor, das Griechische überhaupt zu erlernen, was dazu führte, dass sich der Spracherwerbsprozess relativ langfristig gestaltete. Aufgrund der Tatsache, dass ihr Ehemann das Deutsche sehr gut beherrschte, lag keine pragmatische Notwendigkeit vor, die Sprache zu erlernen. Weitere Motive - wie etwa ein allgemeines Interesse an der griechischen Sprache - führt die Interviewpartnerin nicht an. Der auslösende Moment für den Erwerb des Griechischen war dann eine Situation, in der die Sprache ausschlaggebend für die Verständigung der Interviewpartnerin mit der Verwandtschaft ihres Ehemannes war, die keine Fremdsprachen beherrschte: 180 Nadine Rentel IP: Das hat sehr lange gedauert, ich hatte eigentlich so zu Beginn nicht so richtig vor, Griechisch zu lernen, weil mein Mann […] eigentlich sehr gut Deutsch spricht, also es bestand überhaupt kein Bedürfnis jetzt, mit ihm Griechisch zu reden. Aber ich weiß, wann ich zum ersten Mal angefangen habe, richtig zu reden, es war in einer gezwungenen Kommunikationssituation, und zwar hat mich mein Mann gelassen bei lauter griechischen Verwandten, und er hatte den Raum verlassen. Und ich hatte gar keine andere Wahl, als Griechisch zu reden, weil die Verwandten waren damals alle über 60 waren und die konnten gar keine Fremdsprache. Ja, und da habe ich angefangen zu sprechen. Aber, wie gesagt, ich kann’s nicht so abschätzen, weil ich hab’s nur sporadisch davor gelernt. 3.6 Die Selbsteinschätzung der Interviewpartnerin in Bezug auf unterschiedliche sprachliche Kompetenzen Die Leiterin der Lehrveranstaltung wirft die Frage auf, ob die Interviewpartnerin ihre Kompetenzen im Griechischen in allen Bereichen als gleichwertig einstufen würde: L1: Aber würdest Du denn sagen, dass Deine Kompetenzen im Griechi‐ schen in allen Bereichen gleich sind, also produktiv, rezeptiv, münd‐ lich, schriftlich, oder …? Diesbezüglich nimmt die Interviewpartnerin eine Differenzierung in Abhängig‐ keit von unterschiedlichen Kommunikationsbereichen vor: IP: Nein, würde ich nicht sagen. Also ich hab sicherlich ein C2-Niveau in alltäglicher Kommunikation, da hab ich überhaupt keine Probleme, ich kann auch zu Behörden gehen und mich verständlich machen, auch gar kein Problem. Beim Lesen ist es so, dass es, also es kommt einfach darauf an, also ich würde mich da irgendwie zwischen B1 und C1 einschätzen, und schriftlich kann ich nicht ganz genau beantworten, weil ich eigentlich sehr, sehr selten Griechisch schreibe und wenn, dann in der Regel private E-Mails, also an Freunde, die Griechen sind, und nicht so gut Deutsch verstehen. Und ansonsten hilft mir mein Mann, insofern ist meine schriftliche Kompetenz noch nicht ganz gut, aber ich habe vor, sie zu entwickeln. Auf die Frage, ob die Interviewpartnerin in allen Sprachen (Bulgarisch, Deutsch, Griechisch) denkt, macht sie deutlich, dass ihre L2 und L3 mittlerweile auf einer Stufe mit der Muttersprache zu sehen sind; der argumentative Beleg ist aus ihrer Sicht der simultane Gebrauch aller drei Sprachen mit dem Ehemann. Weiterhin träumt die Interviewpartnerin sogar in den Fremdsprachen Deutsch 181 Eine sprachwissenschaftliche Laufbahn mehrsprachig und plurikulturell leben und Griechisch, was die Gleichwertigkeit dieser beiden Sprachen zusätzlich stützt: IP: Wenn ich im Schlaf rede, dann spreche ich Deutsch. Meine Mutter hat erzählt, dass ich, da ich ja öfter in Sofia bin, dass ich manchmal im Schlaf Griechisch rede, also ich weiß es nicht. Also ich denke normalerweise entweder in Deutsch oder in Griechisch, glaube ich. Wie gesagt, das kommt irgendwann, und irgendwann ist man in allen drei Sprachen zu Hause, wie gesagt, man unterscheidet das gar nicht, aber es gibt etwas, was ich auf Bulgarisch nicht kann: ich kann auf Bulgarisch nicht schimpfen. Ich kann auf Bulgarisch auch nicht, dass ich vulgäre Ausdrücke tagtäglich verwende, aber ich könnte die auch nicht verwenden. Also, zum Beispiel, ich entschuldige mich jetzt für das Beispiel, aber ein anderes fällt mir jetzt nicht ein: also, „Scheiße“ könnte ich auf Bulgarisch gar nicht sagen. Überhaupt nicht. Also es gibt da schon eine gewisse Barriere. Wahrscheinlich zeigt das doch, dass das Bulgarische doch irgendwie emotional näher ist, weiß ich nicht. Auf Griechisch und auf Deutsch habe ich kein Problem, sowas zu sagen, aber auf Bulgarisch kann ich das nicht, nein. Die Interviewpartnerin berichtet, dass sie in ihrer Muttersprache nicht schimpfen oder fluchen kann, wohingegen ihr dies in der L2 und L3 ohne Probleme möglich ist. Sie äußert die Hypothese, dass dies durch die größere emotionale Nähe zur L1 begründet sein könnte, während für die L2 und L3 eine größere Distanz vorzuliegen scheine. Somit wäre der Tabubruch, der aus dem Fluchen in der Muttersprache resultiert, aus Sicht der Interviewpartnerin größer, als dies für den Gebrauch der Fremdsprachen in diesem Kommuni‐ kationsbereich der Fall wäre; denn Fluchen ist potenziell immer mit einem drohenden Gesichtsverlust und mit sozialen Sanktionen im frühkindlichen Spracherwerb verbunden: Indeed, as Dewaele has demonstrated, many multilinguals choose to swear in their second, third, fourth, etc., language, as they feel distanced from its taboo and unen‐ cumbered by the connotations and social repercussions of employing it. Conversely, however, some multilinguals experience linguistic and expressive liberation through swearing in a newly acquired language; it enables them to express their emotions by harnessing the kind of taboo expressions they would feel uncomfortable using otherwise. (Horan 2013: 290) In jedem Fall wird der Zusammenhang zwischen Sprache und Gefühlen aus dieser Äußerung ersichtlich (zur Funktion des Fluchens vgl. auch Schramm & Wüstenhagen 2014). Weiterhin kann man aus der Aussage der Interview‐ partnerin ableiten, dass sie das kommunikative Repertoire des Fluchens im Deutschen und Griechischen beherrscht, was wiederum ein Indiz für das hohe 182 Nadine Rentel Kompetenzniveau der Sprecherin ist. Diese Feststellung geht einher mit der Forderung von Fremdsprachendidaktikern und -didaktikerinnen, Ausdrücke des Fluchens in einem kompetenzorientierten Fremdsprachenunterricht zu thematisieren (vgl. dazu unter anderem Horan 2013). S1: Sprechen Sie dann vor allem mit Ihrer Familie Bulgarisch? Oder auch bei der Arbeit? IP: Mit meinen Eltern spreche ich ausschließlich Bulgarisch. Mit meiner Schwiegermutter spreche ich ausschließlich Griechisch, mit meinem Schwager zwei Drittel Griechisch und bisschen Deutsch, weil der bisschen Deutsch kann, also er versteht schon, aber ist jetzt nicht perfekt, also Familie ist ja auch nicht so, was man mit den Sprachen da spricht. Meine Mutter kann eigentlich Deutsch, aber ich würde nie auf die Idee kommen, mit ihr Deutsch zu reden. 3.7 Kulturell bedingte Unterschiede auf der Ebene der Lehr- und Lerntraditionen in Deutschland und Bulgarien Neben Fragen zur Sprachbeherrschung und Sprachenwahl erfragen die Studie‐ renden eventuell vorliegende Unterschiede hinsichtlich der Lehr- und Lerntra‐ ditionen in Deutschland und Bulgarien: S1: Ähm, da Sie jetzt insgesamt an drei Unis waren, haben Sie deutliche Unterschiede in der akademischen Kultur kennengelernt, ähm, in Sofia jetzt, in Saarbrücken und in Griechenland, in Athen? In diesem Zusammenhang berichtet die Interviewpartnerin von einem ersten „Kulturschock“, den sie bei der Aufnahme ihres Studiums in Deutschland an der Universität des Saarlandes erlebte, wo sie mit der völligen Wahlfreiheit be‐ züglich der Zusammenstellung der von ihr zu belegenden Lehrveranstaltungen überfordert war. Im Gegensatz zum deutschen Hochschulwesen waren bzw. sind in Bulgarien die Curricula mehr oder weniger vorgegeben. Auch werden im Interview unterschiedliche Prüfungsformen und individuelle Lernstile der Studierenden thematisiert, an dieser Stelle jedoch nicht weiter vertieft: IP: Also, in Griechenland war ich nicht an der Uni, ich lebe nur dort, aber, ja, es gibt auf jeden Fall kulturelle Unterschiede, das beginnt bei der Art und Weise, wie man unterrichtet. Ich kann mich ganz genau erinnern, wie geschockt ich war, als ich nach Saarbrücken ging, und auf einmal hieß es, ja, Frau X, Sie dürfen sich alle Lehrveranstaltungen aussuchen. Ja, also, an sowas war ich überhaupt nicht gewöhnt, hier in Sofia ist es immer noch so, dass vor allem Pflichtveranstaltungen 183 Eine sprachwissenschaftliche Laufbahn mehrsprachig und plurikulturell leben überwiegen, und es gibt dann Wahlpflichtveranstaltungen, so das heißt solche, die man sich aussuchen kann nach Interessen und so weiter, aber das, was überwiegt, sind die Pflichtveranstaltungen. Also, wie gesagt, es beginnt schon damit, dass man nicht so große Wahlmöglichkeiten hat, und natürlich hat das Ganze auch später dann Auswirkungen, beispielsweise bei uns gibt es zum größten Teil mündliche Prüfungen und nicht so sehr Klausuren. Also ich persönlich mache immer alles schriftlich, aber wie gesagt, das, was überwiegt, sind mündliche Prüfungen. Es gibt dann natürlich Unterschiede, was das selbstständige Arbeiten der Studierenden betrifft, es gibt dann weniger Referate. Ich wünschte mir, dass es anders wäre, das ist aber nicht der Fall. Und es gibt auch natürlich Unterschiede dann, wenn man die Studierendenseite guckt, dann in Bezug auf Lernstile und so weiter und so fort, also wenn Sie mich was ganz Konkretes fragen, dann … aber Unterschiede gibt es auf jeden Fall. Nach Aussage der Interviewpartnerin betreffen die von ihr wahrgenommenen Unterschiede auf der Ebene der akademischen Konventionen in Bulgarien einer‐ seits und in Deutschland andererseits vor allem den unterschiedlichen Grad an Autonomie und Eigenverantwortung auf Seiten der Lernenden, welche nach den Erfahrungen der Interviewpartnerin vor allem im deutschen Hochschulkontext stärker gefordert sind. 3.8 Die kulturelle Selbstverortung der Interviewpartnerin Weiter interessieren sich die Studierenden für die Selbstverortung der Inter‐ viewpartnerin aufgrund ihres mehrsprachigen und plurikulturellen Hinter‐ grunds. Konkret geht es um die Frage, ob sie sich in einen spezifischen national-kulturellen Kontext einordnet oder sich vielmehr eine transkulturelle Identität zuschreibt. S1: Ja, ach so, hatten dann diese drei Kulturen, die Sie kennengelernt haben, viel Einfluss auf Ihr Verständnis von sich selbst, also sehen Sie sich als Bulgarin vor allem oder auch als Europäerin oder Weltbürgerin oder auch bisschen als Griechin oder Deutsche? IP: Also, wie bereits gesagt, ich fühle mich irgendwie in allen drei Kulturen mittlerweile zu Hause, und in Deutschland fühle ich mich tatsächlich als Deutsche, in Bulgarien als Bulgarin, und in Griechenland auch teilweise als Griechin. Klar, gleichzeitig aber gibt es so was wie „in allen Kulturen zu Hause und in allen wiederum auch fremd“, denn es gibt irgendwie Situationen, wo man doch, also ich gehör da nicht richtig dazu. Also ich fliege sehr oft, und wenn ich nach Athen fliege, dann identifizieren mich die Flugbegleiterinnen sofort vom Aussehen her als Nicht-Griechin, und die sprechen mich dann entsprechend auf Englisch an. So, daraufhin also spreche ich dann Griechisch, absichtlich, und verlange nach einer Zeitung. Diese Zeitung ist eine Qualitätszeitung, die, ich würde sagen, 50 Prozent der Griechen nicht 184 Nadine Rentel verstehen, weil sie so kompliziert geschrieben worden ist, und dar‐ aufhin gibt es ein Staunen über die Zeitung und dann auf einmal spürt man, ich bin doch Griechin, ja. Also, wenn ich diese Zeitung lesen kann, denken die, und das sieht man dann direkt, dann bin ich doch Griechin. Aber mir ist auch passiert, es ist nicht mal fünf Tage her, dass man mich am Sofioter Flughafen ebenfalls auf Englisch anspricht, und sich wundert, also ich wär Bulgarin. Und ja, die Situationen gibt es immer wieder. In der Antwort der Interviewpartnerin spiegelt sich die Komplexität ihrer kultu‐ rellen Identität wider: Sie stellt heraus, dass ihre gefühlte Zugehörigkeit zu einer spezifischen Kultur von ihrem aktuellen Aufenthaltsort abhängig sein kann und dass sich trotz der langjährigen Vertrautheit mit den unterschiedlichen Kulturen stellenweise das Gefühl des Nicht-Dazugehörens einstellen kann. Interessant ist die im zweiten Teil der Interviewpassage beschriebene Strategie, Dritten die kulturelle Zugehörigkeit mittels sprachlicher Kompetenzen zu signalisieren. 3.9 Die Motivation für das Einschlagen einer wissenschaftlichen Laufbahn Im weiteren Verlauf des Interviews geht es um die allgemeine Motivation der Interviewpartnerin für eine wissenschaftliche Laufbahn. Obwohl diese Frage, strenggenommen, für die Mehrsprachigkeitsforschung nicht von primärer Re‐ levanz ist, soll der entsprechende Interviewpassus an dieser Stelle vorgestellt werden. Im Hinblick auf die Saarbrücker Prägung des Jubilars wird die Rolle der akademischen Lehrerin der Interviewpartnerin an der Universität des Saarlandes als ausschlaggebend für die Berufswahl herausgestellt. S1: Warum haben Sie sich allgemein für eine akademische Karriere ent‐ schieden? IP: Schwierig, also, wie gesagt, irgendwann hab ich so ein großes lei‐ denschaftliches Interesse an Linguistik entwickelt, und dann auch das Angebot, in Saarbrücken, an der Universität des Saarlandes, zu promovieren. Das Angebot war schwer abzuschlagen, weil ich bei einer sehr berühmten Linguistin promoviert habe, die Frau Barbara Sandig, die leider nicht mehr lebt, und dann, also in dem Moment, in dem ich mich für die Promotion entschieden habe, war es klar, dass ich mich da damit beschäftigen werde. Als Antwort auf die Frage, welche Bereiche in der (germanistischen) Sprachwis‐ senschaft gegenwärtig intensiv beforscht werden, unterstreicht die Interview‐ partnerin die Bedeutung der kontrastiven Linguistik, die es erlaubt, kulturelle Unterschiede herauszuarbeiten. Es wird deutlich, dass die Interviewpartnerin 185 Eine sprachwissenschaftliche Laufbahn mehrsprachig und plurikulturell leben ihre eigenen interkulturellen Erfahrungen vor dem Hintergrund der Wissen‐ schaftsdisziplin einordnet und auf diese Weise auf der Metaebene reflektiert. S1: Und die Linguistik ist zwar ein weites Feld, aber was sind aus Ihrer Perspektive so die großen Fragen, die gerade bearbeitet werden oder die Felder? IP: Also die Frage ist sehr allgemein, ich versuche, sie bisschen einzu‐ engen. Also ich finde, dass gerade und vielleicht ist das für Sie alle besonders relevant, gerade bei kontrastiven Untersuchungen kommt sehr viel Interessantes heraus über verschiedene Kulturen, und zwar, wenn man sich, mit Sprache beschäftigt, so wirklich intensiv, und kontrastiv arbeitet, das heißt, das weiß Frau Rentel natürlich auch sehr gut, vielleicht auch besser als ich, also kommt auch noch viel An‐ deres, was charakteristisch ist für bestimmte Kulturgemeinschaften, und noch interessanter wird es, wenn man mit mehreren Sprachen arbeitet und sie untersucht, und dann kommt wiederum, also die Unterschiede sind irgendwie auf der Oberfläche, aber je intensiver man sich damit beschäftigt, dann kommen auch Gemeinsamkeiten zwischen den Kulturen heraus. Also, ein Beispiel will ich geben - ich hab gesagt, bis heute Morgen beschäftigte ich mich mit Phraseologie, und immer wieder mal, und ich hab, also ich lese einen Aufsatz auf Griechisch über Phraseologismen, und da hab ich mir den Spaß gemacht, zu gucken, also diese griechischen Phraseologismen, welche Entsprechungen haben die im Deutschen und im Bulgarischen. […] Aus den Aussagen der Interviewpartnerin mag man ableiten, dass die geschil‐ derten metasprachlichen Reflexionsprozesse, welche Fragen des Sprachver‐ gleichs und der Kontrastiven Linguistik aus wissenschaftlicher Perspektive be‐ treffen, ebenfalls den eigenen Spracherwerbsprozess positiv beeinflusst haben. Das Beispiel verweist zudem treffend auf ein aktuelles Forschungsinteresse Albert Raaschs, das in der Beschreibung des mehrsprachigen Wissenschaftsdis‐ kurses besteht (vgl. Raasch 2018). 4 Zusammenfassung und Ausblick Die Auswertung der Interview-Daten zeigt, dass die Interviewpartnerin eine primär utilitaristische Einstellung zum Fremdsprachenerwerb zu haben scheint: Der ausschlaggebende Grund, in frühem Lebensalter das Deutsche zu erlernen, basierte auf dem Bestreben einer dritten Person, sich auf diese Weise aus der Masse der Lernenden anderer Fremdsprachen hervorzuheben und sich so ein Alleinstellungsmerkmal zu erwerben. Auch im weiteren Verlauf des Lebens der Interviewpartnerin war der Erwerb von Fremdsprachen in erster Linie durch kommunikative Notwendigkeiten bedingt. Dennoch werden Präferenzen bezüglich des Gebrauchs der beherrschten Fremdsprachen genannt, da die Inter‐ 186 Nadine Rentel viewpartnerin einige Sprachen weniger gern verwendet als andere; zudem führt sie die Schwierigkeit, in ihrer Muttersprache ein substandardliches Register zu verwenden, auf einen höheren Grad emotionaler Nähe zur Sprache zurück. Code-Switching bezeichnet die Interviewpartnerin als ein Alltagsphänomen und differenziert dabei zwischen privaten und beruflichen Kommunikationssituati‐ onen. Was den Erwerb unterschiedlicher Fremdsprachen zu unterschiedlichen Zeitpunkten in ihrer Biographie angeht, so stellt sie Unterschiede zwischen dem gesteuerten und dem ungesteuerten Erwerb heraus. In Hinblick auf die Forderungen, die der Jubilar Albert Raasch in Bezug auf das Fremdsprachen‐ lernen im Laufe seiner Karriere aufgestellt hat, ist die Interviewpartnerin ein idealer Beleg dafür, wie ein lebenslanger Lernprozess dazu beitragen kann, individuelle Mehrsprachigkeit zu festigen und auszubauen (vgl. Raasch 2010). Neben rein sprachlichen Fragen wurden Besonderheiten in den Lehr- und Lerntraditionen hinsichtlich der Universitätskontexte erfragt, die der Interview‐ partnerin vertraut sind. Diesbezüglich unterstreicht sie teilweise grundlegend voneinander abweichende Auffassungen in ihrem Heimatland Bulgarien, wo sie an der Universität tätig ist, und Deutschland, wo sie einen Großteil ihrer akademischen Sozialisierung verbrachte. Aufschlussreich war zudem die Selbst‐ verortung auf kultureller Ebene. In diesem Kontext ist die Interviewpartnerin einerseits der Auffassung, dass sie über eine transkulturelle Identität verfüge, zugleich schildert sie aber Situationen, in denen sie sich, kulturell gesehen, heimatlos fühlt. Regelmäßig mit fremdkulturellen Zuschreibungen konfrontiert, die ihrem Selbstbild zuwiderlaufen, hat sie die Strategie entwickelt, die von ihr gewünschte kulturelle Zugehörigkeit in Interaktionskontexten sprachlich zu signalisieren. Literatur Chen, Yan-Zhen & Christine Hélot (2018). The notion of plurilingual and pluricultural competence in the teaching of foreign languages in France. In: Language Education and Multilingualism 1 / 2018, 168-187. 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Eine Zusammenschau von Initiativen zur Förderung des Standortes Sar-Lor-Lux (unter besonderer Mitwirkung der Universität des Saarlandes. In: Autexier, Christian et al. (Hrsg.). Frankreich-Forum. St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag, 141-164. Raasch, Albert (2010). Förderung der Mehrsprachigkeit durch lebenslanges Lernen. In: ZMI (Zentrum für Mehrsprachigkeit und Integration Köln) 2, 7-11. Raasch, Albert et al. (2018). Förderung der Mehrsprachigkeit im europäischen Wissen‐ schaftsdiskurs unter besonderer Berücksichtigung des Deutschen und des Französi‐ schen als Wissenschaftssprachen - status quo und Perspektiven. In: Raasch, Albert et al. (Hrsg.). Mehrsprachigkeit im Wissenschaftsdiskurs. Ein Panorama der Möglichkeiten und Schwierigkeiten. Baden-Baden: Nomos, 13-17. Schütze, Fritz (1983). Biographieforschung und narratives Interview. In: Neue Praxis 13, 3, 283-293. Schramm, Stefanie & Claudia Wüstenhagen (2014). Das Alphabet des Denkens: Wie Sprache unsere Gedanken und Gefühle prägt. Berlin: Rowohlt. 188 Nadine Rentel 1 Im Titel des vorliegenden Beitrags wurde die Bezeichnung Wissensminima dem Wort Grundwissen vorgezogen, weil damit eher die Vielfalt und Vielzahl von Wissen ausge‐ drückt wird, auf die im 4. Kapitel näher eingegangen wird. Sprachminima und Wissensminima Karl-Heinz Eggensperger 1 Einführung Auf der Startseite seines Internetauftritts fragt Albert Raasch zuerst: „Was inter‐ essiert Sie? “ Damit manifestiert sich eine Grundeinstellung: die Orientierung an den Leserinnen und Lesern bzw. in seinen Forschungsarbeiten die Lernerorien‐ tierung. Gerne möchte ich darauf antworten: „Mich interessieren Publikationen zum Grundwortschatz und zum Thema des vorliegenden Beitrags, also zu der Frage Lässt sich das Konzept der Grundwortschatzlexikographie zur Konstitution von Wissensminima  1 für den studienbezogenen Fremdsprachenunterricht weiter‐ entwickeln“? 2 Sprachminima Auch heute noch und in aller Zukunft wird der Unterricht einer Fremdsprache nur den Erwerb eines begrenzten Wortschatzes erlauben. Es zu erforschen, mit welchen minimalen Ausdrucksmitteln im Fremdsprachenunterricht ein curricular definiertes Ausdrucksvermögen zu vermitteln ist. Albert Raasch brachte dieses Ziel auf folgenden Nenner: Sprachminima definieren wir also als die Inventare lernzielrelevanter Sprachmate‐ rialien, die mit dem Ziel der didaktischen Transparenz und der ökonomischen Unterrichtsgestaltung erstellt werden. (Raasch 1977: 72) Raasch bezog damals klar Stellung auf den drei grundlegenden Forschungsfel‐ dern der Grundwortschatzlexikographie: 1. der Datengrundlage 2. der Selektion 3. der Darstellung der Sprachminima bzw. der ausgewählten lexikalischen Einheiten 2.1 Datengrundlage Albert Raasch forderte schon im Jahre 1972, ein Corpus zusammenzustellen, dem Grundsituationen der Begegnung mit Franzosen zugrunde liegen, und es statistisch auszuwerten: Primäre Aufgabe ist die Reflexion über ein lernzieladäquates Corpus von Texten. (Raasch 1972: 237) Als Datengrundlage für die Auswahl der Sprachminima scheiden damit Fre‐ quenzlisten aus, die mit anderen Zielsetzungen erstellt worden waren, z. B. solche wie diejenigen von Juilland (1970) oder Engwall (1984). 2.2 Selektion Auch heute noch dürfte es an objektiven Kriterien dafür mangeln, welche Ein‐ heiten des Wortschatzes zentral sind und wie eine Selektion für den Grundwort‐ schatz aussehen könnte. Auch in der Kontroverse um eine frequenzorientierte bzw. kommunikativ-pragmatisch begründete Selektion vertritt Raasch aufgrund seiner konsequenten Lernerorientierung eine klare Position: Das Inventar der Mindestmaterialien ergibt sich damit aus der Definition der jewei‐ ligen Lernziele; es ist nicht das Ergebnis maximaler Reduktion, sondern die explizite Definition eines Lehr- und Lernzielniveaus. (Raasch 1977: 71) Diese Position und die oben postulierte didaktische Transparenz führen zu einer diskursiven, intersubjektiv begründeten Auswahl von Katalogen mit Themen und Situationen sowie lexikalischen Einheiten, die die Lernziele des VHS-Zertifikats konkretisieren (Pädagogische Arbeitsstelle des Deutschen Volkshochschul-Verbandes 1984). 2.3 Darstellung der Sprachminima Die sprachökonomische Perspektive, die Orientierung an realer Sprachverwen‐ dung und kommunikativen Aufgaben und deren linguistische Beschreibung, wie sie in den erwähnten Katalogen zum Ausdruck kommt, illustrieren funda‐ mentale Unterschiede zwischen Raasch und dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen. Die Diskussion verlagert sich auf sprachenüber‐ greifende Deskriptoren zur Beschreibung und vertikalen Differenzierung von Sprachniveaus. Dies gilt auch für den Ergänzungsband. In den Companion Vo‐ lume (Council of Europe 2018) werden zwar neue Deskriptoren aufgenommen, 190 Karl-Heinz Eggensperger aber Kompetenzziele sind inhaltsneutral; es fehlen empirische Sprachdaten. Die Nutzer sind aufgerufen, die Skalen auf ihre jeweilige Sprache bezogen umzusetzen. Die für den Fremdsprachenunterricht unumgängliche Auswahl sprachlicher Einheiten wird nicht thematisiert. 3 Forschungsgegenstand Wissensminima Kehren wir zu der eingangs gestellten Frage zurück, ob sich das Konzept der Grundwortschatzlexikographie für die Konstitution von Wissensminima für den studienbezogenen Fremdsprachenunterricht weiterentwickeln lässt, d. h. mit anderen Worten, nicht nur einen quantitativ deutlich begrenzten Ausschnitt des Gesamtwortschatzes abzubilden, sondern auch einen begrenzten Wissensausschnitt und dessen Bezeichnungen zu ermitteln vermag? Diese Frage stellt sich uns ab etwa Mitte der 1990er Jahre im Zusammenhang mit neuen Lehr- und Lernkontexten. Im Rahmen von internationalen Studi‐ engängen werden Fachlehrveranstaltungen an Universitäten in einer Fremd‐ sprache angeboten (Eggensperger 2016a: 239 f). In fremdsprachlichen Fachlehr‐ veranstaltungen können die Fremdsprache und jenseits des Sprachwissens angesiedelte Wissensbestände nicht voneinander getrennt werden. Es erscheint zunächst fraglich, ob studienbezogener Fremdsprachenunterricht überhaupt angeboten werden soll. Das Ziel traditioneller Lehre besteht gewissermaßen im Transport didaktisch aufbereiteten Wissens vom Lehrenden zu den Lernenden. Der Lehrende präsentiert und erklärt die zu lernenden Inhalte nach seinen Vorstellungen in vorgeplanter Form. Er hat in erster Linie die Vermittlung von Fachwissen im Blick. Aus der Perspektive dieser traditionellen Lehrphilosophie ist studienbezogener Fremdsprachenunterricht überflüssig. Zweifel sind aber dahingehend angebracht, ob Lernende das notwendige Fremdsprachenniveau tatsächlich mitbringen (Müßig-Trapp & Schnitzer 1998: 90). Die Analyse studentischer Prüfungsarbeiten unterstreicht in der Tat den Be‐ darf an Fremdsprachenunterricht mit Fachbezug (Eggensperger 2016b: 120-124). Die Relevanz von studienbezogenem Fremdsprachenunterricht bestätigt die didaktische Analyse von fachtypischen Studientexten (Eggensperger 2018b: 149-151). Es wäre allerdings ein verkürzter Ansatz, ausgehend von der Notwendigkeit von Fremdsprachenunterricht aus der Perspektive von Studierenden in inter‐ nationalen Studiengängen Wissensminima zu bestimmen. Mit Albert Raasch ist zunächst zu fragen, welche Fremdsprachenkenntnisse Studierende in inter‐ nationalen Studiengängen benötigen (Eggensperger 2014: 129-136). Auf dieser Grundlage können Lehrende den Unterricht mit dem Ziel einer fachbezogenen 191 Sprachminima und Wissensminima Fremdsprachenkompetenz planen. Ein Vorschlag zur Modellierung dieser Kom‐ petenz wird in Eggensperger (2018a: 247-249) unterbreitet; anhand eines sprach- und fachübergreifenden Lehrplankonstrukts werden maßgebliche Faktoren zur Entwicklung von Curricula für das Lernziel studienbezogene Fremdsprachenkom‐ petenz beschrieben (Eggensperger 2020: 227). Insgesamt gesehen, zeigt sich zwischen dem Konzept der Grundwortschatz‐ lexikographie und Forschungen zur Konstitution von Wissensminima für den studienbezogenen Fremdsprachenunterricht ein fundamentaler Unterschied in der Datengrundlage. An die Stelle von Sprachmaterialien, die für die Bewälti‐ gung bestimmter kommunikativer allgemeinsprachlicher Aufgaben nötig sind, tritt Wissen zur Bewältigung hochschulbezogener sprachlicher Situationen, wie sie im Kontext von Fachlehrveranstaltungen in einer Fremdsprache er‐ wartet werden müssen. Dabei handelt es sich um ein in sich verknüpftes Zusammenspiel von Sprachwissen, Fachwissen, Methodenwissen und Wissen um Lernstrategien (Eggensperger 2020: 228). Mit Wissensminima als einer zentralen Teilkomponente des studienbezo‐ genen Fremdsprachenunterrichts kann man daher das notwendige komplexe Grundwissen für die Bewältigung studienrelevanter kommunikativer Anforde‐ rungen bezeichnen. Allerdings ist mit dieser fach- und sprachenübergreifenden Definition erst eine Zwischenetappe erreicht. Die Konzepte der Selektion und Darstellung sind im folgenden Kapitel fach- und sprachbezogen zu entwickeln, denn Grundwissen im oben definierten Sinn kann im studienbe‐ zogenen Fremdsprachenunterricht nicht global erworben werden, sondern überwiegend bezogen auf eine bestimmte Sprache, bestimmte Themen und Aufgaben. 4 Wissensminima zum reformierten französischen droit des obligations (Schuldrecht) Die folgenden Überlegungen stützen sich u. a. auf eigene Erfahrungen mit Stu‐ dierenden im internationalen Doppelstudiengang Deutsches und Französisches Recht, der von der Deutsch-Französischen Hochschule gefördert und seit 1994 an der Universität Potsdam durchgeführt wird (Eggensperger 2016a: 239-241). Zwischen den allgemeinsprachlichen Französischkenntnissen der Abiturienten und den fachsprachlichen Anforderungen des internationalen Doppelstudien‐ gangs klafft eine erhebliche Lücke, die sich als Hindernis für einen optimalen Zugang erweisen kann. Deshalb wird ein propädeutischer Kurs mit 20 Stunden Unterricht zur fachsprachlichen Vorbereitung auf die Lehrveranstaltungen und 192 Karl-Heinz Eggensperger 2 https: / / jura-potsdam-paris.de/ brueckenkurs/ ; 30.04.2020. 3 https: / / jura-potsdam-paris.de/ wp-content/ uploads/ 2019/ 06/ Br%C3%BCckenkurs-Pro gramm.pdf; 30.04.2020. Prüfungen des Studiengangs in französischer Sprache durchgeführt. 2 Im Jahre 2019 wurde mit diesem Kursformat in der Bundesrepublik Deutschland Neu‐ land betreten. Der Kurs antizipiert fremdsprachliche Studieninhalte mehrerer Rechtsgebiete, 3 um Transparenz über die Anforderungen von Fachvorlesungen zu schaffen und den Studierenden durch einen zeitlichen Vorlauf einen weniger stressbelastenden Studieneinstieg zu ermöglichen. Das begrenzte Stundenvolumen des Kurses verlangt eine sorgfältige Auswahl der Studieninhalte. Die folgenden Überlegungen zu Wissensminima setzen eine frühere Publikation zur makrostrukturellen Planung von studienbezogenem Fremdsprachenunterricht fort (Eggensperger 2020: 226-231). Im vorliegenden Beitrag rückt die Planung der Mikrostruktur in den Mittelpunkt. Die Unter‐ richtsinhalte zum droit des obligations konkretisieren dabei die sprach- und fachübergreifenden Grundlagen. Im Mittelpunkt der Unterrichtsplanung steht der Gedanke, dass Lernende aktiv Informationen verarbeiten und dadurch Kenntnisse erwerben, die die wei‐ tere Informationsverarbeitung beeinflussen (Eggensperger 2020: 232). Lernen findet auch in einem instruktionalen Kontext statt. Aus instruktionspsycholo‐ gischer Perspektive kann Lernen im Unterricht als eine Form von Wissens‐ erwerb in der Interaktion mit Aufgaben aufgefasst werden (Astleitner 2006: 20). Deshalb bedeutet im vorliegenden Zusammenhang die Unterstützung von Lernprozessen das Lernen unter dem Einfluss des Lehrens. Auch das durch Anleitung erworbene, selbstgesteuerte Lernen wird im Folgenden vereinfacht ausgedrückt durch Lernen. Jedoch sollte im Unterricht mit Studierenden in erster Linie selbstbestimmtes, intrinsisch motiviertes Lernen gefördert und nur im erforderlichen Maße Unterstützung durch Instruktion angeboten werden (Prenzel 1996). 4.1 Modellierung der Wissensminima zum droit des obligations In Ergänzung zu dem erwähnten sprach- und fachübergreifenden Lehrplan‐ konstrukt (Eggensperger 2020: 227) modelliert das folgende Konstrukt sprach- und studienfachbezogenes Grundwissen zum reformierten französischen droit des obligations. Damit sollen die Zusammenhänge zwischen studienrelevanten kommunikativen Anforderungen, Stadien der Wissensverarbeitung und studi‐ enrelevanten Inhalten veranschaulicht werden: 193 Sprachminima und Wissensminima Abb. 1: Wissensminima (droit des obligations) Aus dem Modell wird zunächst der Zusammenhang zwischen Sprach-, Me‐ thoden- und Fachwissen (im Modell unter dem Kästchen Studienrelevante Inhalte) sowie dem Wissen um Lernstrategien (Eggensperger 2020: 232 f.) dargestellt. Aus der Untersuchung studentischer Prüfungsarbeiten resultiert das Primat der Studienfachinhalte gegenüber dem Sprachwissen (Eggensperger 2016b: 120-123). Analog zur Grundwortschatzforschung wird nun vielleicht erwartet, dass Kriterien zur Selektion aus dem Modell abgeleitet werden können, z. B. Relevanz, Gebräuchlichkeit, Nützlichkeit u. ä. für ein bestimmtes Rechtsgebiet wie das Schuldrecht. Aus unserer Sicht führt dieser Weg nicht zum Ziel. Dagegen gibt eine Aussage von Juilland im Zusammenhang der Grundwortschatzforschung einen weiterführenden Denkanstoß: There are, in fact, as many basic vocabularies as there are uses for them. ( Juilland et al. 1970: XIII) In Abwandlung dieser kaum zu widerlegenden Feststellung ließe sich im vor‐ liegenden Zusammenhang formulieren: Es gibt nur Wissensminima in Bezug zu bestimmten studienrelevanten kommunikativen Anforderungen. Damit rücken die 194 Karl-Heinz Eggensperger 4 Die fachsprachlichen Anforderungen im Studiengang Deutsches und Französisches Recht werden in einer früheren Publikation beschrieben (Eggensperger 2016b: 243-247). Studierenden und ihre Erwartungen an den studienbezogenen Fremdsprachen‐ unterricht in den Vordergrund. Sie schreiben sich auch in fakultative Kurse ein, wenn sie darauf zählen können, eine im Studienfach verwertbare fremdsprach‐ liche Handlungskompetenz zu erlangen. Es gilt deshalb, mit entsprechenden Aufgaben Lernprozesse zum Erwerb dieser Handlungskompetenz zu initiieren und zu unterstützen (Kap. 4.2). Jeder Studierende wird dann sein persönliches Wissensminimum zur Lösung jeder Aufgabe zusammenstellen. Dem Lehrenden obliegt es dann, solche Aufgaben zu stellen, die auf die Anforderungen 4 im Fach zugeschnitten sind, und ebenso Mittel und Werkzeuge zur Bewältigung bzw. zur Problemlösung zur Verfügung zu stellen. 4.2 Aufgaben zur Unterstützung von Lernprozessen für die Rezeption fachtypischer Texte Als studienrelevante kommunikative Anforderungen gilt es im betreffenden Rechtsgebiet in erster Linie, die Vorschriften des allgemeinen Vertragsrechts, livre III, titre III, sous-titre I des Code civil zu verstehen (Tabelle 1, linke Spalte). Dafür wird eine Aufgabensequenz vorgeschlagen, die an kognitionswissen‐ schaftlich begründeten Stadien der Informationsverarbeitung ausgerichtet ist (Tabelle 1, mittlere Spalte). Folgende Aufgabenkategorien sind vorgesehen: 1. Aufgaben mit Bezug zum BGB, um Vorwissen zu aktivieren; 2. Aufgaben zum Aufbau von Vorwissen, d. h. zur Systematik des Rechtsge‐ biets; 3. Vorschriften zur ersten Anwendung schuldrechtlicher Bestimmungen zur Aktivierung von Kenntnissen zur Methode der Fallbearbeitung aus dem deutschen Recht. Eine zusammenfassende Aufgabe zur Fachlexik schließt die Sequenz ab. Die erste Aufgabe geht von einem Begriffsschema aus: 195 Sprachminima und Wissensminima Abb. 2: Begriffsschema Code civil livre III, Titre III) Folgende Fragen könnten sich anschließen: 4.2.1 Definieren Sie die allgemeinsprachliche und rechtssprachliche Bedeutung von obligation, obligation juridique, fait und fait juridique 4.2.2 Wo finden sich im Code civil, titre III, sous-titre I, dem BGB vergleichbare Vorschriften zu Rechtsgeschäft, Willenserklärung, Vertrag, zur Anfechtung, Stellvertretung und Minderjährigenrecht? Aufgabe 4.2.1 soll die Studierenden auf die Unterscheidung zwischen semanti‐ schen Merkmalen gemeinsprachlicher lexikalischer Einheiten und den Tatbes‐ tandsmerkmalen von Rechtsbegriffen aufmerksam machen. Obligation bedeutet im allgemeinsprachlichen Zusammenhang Verpflichtung, als Rechtsbegriff ein Schuldrechtsverhältnis zwischen Personen. Die zahlreichen allgemeinsprachli‐ chen Bedeutungen des Begriffs fait unterscheiden sich vom Rechtsbegriff durch einen bestimmbaren rechtlich festgelegten Inhalt. Aufgabe 4.2.2 soll das Vorwissen aus dem deutschen Recht aktivieren. Die Studierenden sollen erkennen, dass sich die Systematik des Rechtsgebiets im Code civil und im BGB unterscheidet. Der Begriff droit des obligations ist folglich nicht vollkommen äquivalent mit dem deutschen Begriff Recht der Schuldverhältnisse, Für die Übersetzung von Rechtstexten bedeutet dies, dass nicht von einer Sprache in eine andere Sprache übersetzt wird, sondern immer von der Sprache einer bestimmten Rechtsordnung in die Sprache einer anderen bestimmten Rechts‐ ordnung. 196 Karl-Heinz Eggensperger Das folgende Schema aktiviert wieder Vorwissen aus dem deutschen Recht. Die Aufgabe könnte zum Vergleich mit den Quellen schuldrechtlicher Verbind‐ lichkeiten beider Rechtssysteme führen. Abb. 3: Quellen schuldrechtlicher Verbindlichkeiten 4.2.3 Woraus ergeben sich im Code civil, art. 1100, schuldrechtliche Verbindlich‐ keiten? Ergänzen Sie die vier Kästchen. 4.2.4 Auch der Code civil unterscheidet zwischen vertraglichen und gesetzlichen Schuldverhältnissen. Woraus ergeben sich die gesetzlichen Schuldverhältnisse? Das 3. Schema thematisiert einen Grundbaustein des Rechtsgeschäfts, die Willenserklärung. Es reaktiviert wieder das Vorwissen aus dem deutschen Recht und veranschaulicht die Tatbestandsmerkmale des Begriffs. Daraus ergibt sich folgende Aufgabe: 4.2.5 Welche Tatbestandsmerkmale hat der Begriff Rechtsgeschäft im Code civil? Ergänzen Sie das obere Kästchen in Tabelle 4 und geben Sie den Fundort an. Abb. 4: Willenserklärung 197 Sprachminima und Wissensminima Schließlich werden die Studierenden durch das folgende Schema auf die Auf‐ gabe 4.2.7 vorbereitet. Sie werden dazu angehalten, die Rechtsquellen für die einzelnen Bestimmungen der Vertragsabschlusslehre zu identifizieren: 4.2.6 Ergänzen Sie die Fundorte der Sections 1 à 4. Abb. 5: Rechtsquellen zum Vertragsschluss 4.2.7 Helfen Sie Hocine, sein Problem zu lösen Die folgende Übung wurde den Studierenden in der Anfangsphase einer Vorle‐ sung zum droit des obligations von einer Dozentin der Rechtswissenschaften vorgelegt. Es handelt sich strenggenommen nicht um einen Fall, sondern um eine simulierte Rechtsberatung oder auch eine situativ eingekleidete Suche nach Rechtsvorschriften sowie deren Verstehen und erste Anwendung. Für Jura-Stu‐ dierende ist es eine Selbstverständlichkeit, dass im sozialen Zusammenleben auftretende Sachverhalte unter Zuhilfenahme der (Gemein-)Sprache erfasst und mit Hilfe von Rechtsvorschriften geregelt werden. Lors de la fête des voisins de votre immeuble vous vous êtes présenté comme étudiant en droit. Vos voisins ayant toute confiance en vos capacités viennent vous voir pour vous exposer leurs problèmes. Hocine, votre voisin du 5e est dans l’embarras. Le 2 septembre 2017, il a publié une annonce pour vendre un tableau offert par sa belle-mère. Il a indiqué dans son annonce le prix demandé de 300 euros et a ajouté une photographie du tableau. Le 6 septembre 2017, Hocine a reçu un courrier de Madame DUPE lui proposant d’acheter le tableau pour un prix de 200 euros. Dès le lendemain, Hocine a envoyé un courrier à Madame DUPE dans lequel il a écrit : « je suis d’accord pour vous vendre le tableau au prix de 250 euros » . 198 Karl-Heinz Eggensperger Le 9 septembre 2017, la femme d’Hocine, tombant par hasard sur l’annonce du tableau en lisant le journal, lui a rappelé combien elle adore ce tableau et lui a signalé qu’elle refuse de le vendre. Immédiatement, Hocine a envoyé un courrier à Madame DUPE pour l’informer qu’il retire son offre. Le 12 septembre 2017, il a reçu la réponse de Madame DUPE lui indiquant qu’il était d’accord de lui vendre le tableau et qu’il n’a pas le droit de retirer sa proposition. Hocine vous demande quelles sont les conséquences du retrait de sa proposition ? Übersetzung: Auf der Nachbarschaftsparty Ihres Hauses haben Sie sich als Jurastudent vorgestellt. Ihre Nachbarn vertrauen Ihren Fähigkeiten und kommen mit ihren Problemen zu Ihnen. Hocine, Ihr Nachbar im 5. Stock ist in Schwierigkeiten. Am 2. September 2017 veröffentlichte er eine Anzeige zum Verkauf eines von seiner Schwiegermutter geschenkten Gemäldes. Er gab in seiner Anzeige den geforderten Preis von 300 Euro an und fügte ein Foto des Gemäldes hinzu. Am 6. September 2017 erhielt Hocine einen Brief von Madame DUPE, in dem sie vorschlug, das Bild für 200 Euro zu kaufen. Am nächsten Tag schickte Hocine einen Brief an Frau DUPE, in dem er schrieb: „Ich bin damit einverstanden, Ihnen das Bild für 250 Euro zu verkaufen“. Am 9. September 2017 stieß Hocines Frau beim Lesen der Zeitung zufällig auf die Anzeige des Gemäldes. Sie erinnerte ihn daran, wie sehr sie dieses Bild liebe, und sagte ihm, dass sie sich weigere, es zu verkaufen. Sofort sandte Hocine einen Brief an Madame DUPE und teilte ihr mit, dass er sein Angebot zurückziehe. Am 12. September 2017 erhielt er die Antwort von Madame DUPE. Sie teilte ihm mit, dass er mit dem Verkauf des Gemäldes an sie einverstanden war und dass er kein Recht habe, sein Angebot zurückzuziehen. Hocine fragt Sie, welche Folgen die Rücknahme seines Angebots haben werde. Aus den Lehrveranstaltungen zum deutschen Recht kennen die Studierenden den Gutachtenstil. Sie können ihre Methodenkenntnisse nutzen, weil für die Falllösung im französischen Recht keine spezifischen Regeln vorgegeben werden (Eggensperger 2016a: 247). Das bedeutet, dass die Studierenden ein‐ gangs Thesen formulieren. Anschließend prüfen sie diese Thesen im Laufe des Gutachtens. Am Ende steht das Ergebnis. Dieses Verfahren kann auf die vorliegende simulierte Rechtsberatung über‐ tragen werden: 1. These: Die Anspruchsgrundlage von Frau DUPE ist ein wirksamer Kauf‐ vertrag. 2. These: Hocine und Frau DUPE könnten einen wirksamen Kaufvertrag abgeschlossen haben. 199 Sprachminima und Wissensminima 3. Erläuterungen zu den Thesen: • Ein wirksamer Kaufvertrag kommt zustande durch eine Einigung zwischen den Parteien über den Kaufgegenstand und den Preis (art. 1110, 1128, 1582, 1583). Aber es ist fraglich, ob dieser Vertrag die Voraussetzungen erfüllt, um wirksam zu werden, d. h. im konkreten Fall zwei empfangsbedürftige Willenserklärungen, Angebot und Annahme, und die Einigung beider Parteien über die wesentlichen Elemente des Vertrags, d. h. hier Kaufgegenstand und Kaufpreis. Sind die Voraussetzungen erfüllt? 4. Prüfung der Thesen: • Hocine hat am 02.09.2017 ein Angebot mit allen wesentlichen Ein‐ zelheiten unterbreitet (art. 1113, 1114, 1172). • Aber die Voraussetzungen für die Annahme des Angebots sind nicht erfüllt (art. 1118, al. 1 er ). • Die Empfängerin hat ihrerseits ein Angebot unterbreitet (1118, al. 3). • Auch für dieses Angebot sind die Voraussetzungen nicht erfüllt, denn Hocine hat es nicht angenommen, sondern ein neues Angebot unterbreitet. • Die Empfängerin hat dazu geschwiegen. Folglich hat sie zu diesem Zeitpunkt, vor dem 09.09.2017, das Angebot von Hocine nicht ange‐ nommen (art. 1119). • Hocine scheint sein Angebot zurückgezogen zu haben, bevor eine Annahme ausgesprochen worden war (art. 1115, 1116). • Außerdem wurde keine Einigung über den Kaufpreis erzielt. 5. Ergebnis: Hocine hat mit der Rücknahme seines Angebots nicht rechtswidrig gehandelt. Ein Kaufvertrag ist nicht zustande gekommen. Frau DUPE kann nicht die Herausgabe des Bildes gegen Zahlung von 250 Euro verlangen. Am Ende der Sequenz steht eine Aufgabe zur Fachlexik. Die Studierenden sollen wesentliche Begriffe aus den vorhergehenden Aufgaben in Form einer Zuordnungsaufgabe wiederholen und festigen, z. B. einige zentrale Begriffe des Vertragsschlusses wie die Definition (6m), das Angebot (4a), die Annahme (7b) und die Rücknahme des Angebots (9 g). Dabei soll wieder deutlich werden, dass Rechtsbegriffe durch Tatbestandsmerkmale bestimmt sind. Die Gesamtheit der Merkmale bildet den Begriffsinhalt, durch den der einzelne Rechtsbegriff von anderen abgegrenzt werden kann. 4.2.8 Notieren Sie in der mittleren Spalte den Buchstaben mit der zutreffenden Definition für jedes Element der linken Spalte: 200 Karl-Heinz Eggensperger 1. a) 2. b) 3. c) 4. d) 5. e) 6. f) 7. g) 8. h) 9. i) 10. j) l’obligation juridique l) proposition faite par une personne à une autre en vue de la conclusion d’un contrat le consentement e) le consentement d’une personne à une offre (de contrat) qui lui a été faite la déclaration de volonté d) une opération juridique qui consiste en une manifestation d’au moins d’une déclaration de volonté ayant pour objet et pour effet de produire une conséquence juridique l’offre f (la pollicitation) a) acte par lequel, dans la formation de l’acte juridique, le consentement s’est extériorisé, exprimé sous une forme quel‐ conque (oralement, par écrit, par geste etc.) le contrat n) accord de deux ou de plusieurs volontés en vue de créer des effets de droit la formation de contrat m) personne qui se lie par contrat ; partie au contrat l’acceptation b) une manifestation de volonté contraire par laquelle l’auteur d’un acte ou d’une manifestation unilatérale de volonté en‐ tend revenir sur sa volonté et la retirer comme si elle était non avenue l’acte juridique c) tout contrat doit répondre à trois con‐ ditions relatives au consentement, à la capacité, au contenu licite et certain la rétractation g) toute mesure justifiée par la violation d’une obligation la responsabilité extra‐ contractuelle k) la nullité relative sanctionne l’incapacité ou un vice du consentement 201 Sprachminima und Wissensminima 11. k) 12. l) 13. m) 14. n) 15. o) 16. p) la sanction i) toute obligation pour l’auteur du fait dommageable de réparer le dommage en indemnisant la victime le fait juridique o) un lien de droit unissant deux personnes et en vertu duquel l’une, le créancier, est en droit d’exiger quelque chose de l’autre, le débiteur les conditions de vali‐ dité d’un contrat h) entre présents, le contrat est formé par l’échange des consentements entre l’off‐ rant et l’acceptant la nullité relative d’un acte juridique j) un accord de volontés entre deux ou plusieurs personnes destiné à créer, mo‐ difier, transmettre ou éteindre des obli‐ gations la capacité p) fait quelconque auquel la loi attache une conséquence juridique qui n’a pas été nécessairement recherchée par l’auteur du fait le contractant f) aptitude à acquérir un droit et de l’exercer 5 Zusammenfassung Vielleicht wirft der Titel des vorliegenden Beitrags die Frage auf: Handelt es sich bei Wissensminima um eine Fiktion? Es scheint auf den ersten B(K)lick so, denn Google antwortet lapidar: „Es wurden keine mit deiner Suchanfrage - „Wissensminima“ - übereinstimmenden Dokumente gefunden.“ (30.04.2020) Es wäre falsch, daraus abzuleiten, dass sich bisher niemand mit der Auswahl von Grundwissen beschäftigt hat. Aber das Gegenteil, dass gegenwärtig eine in‐ tensive Fachdiskussion über Sprach- und Wissensökonomie im Fremdsprachen‐ unterricht, speziell im studienbezogenen Fremdsprachenunterricht stattfindet, trifft auch nicht zu. Diese Diskussion anzustoßen, beabsichtigt der vorliegende Beitrag. Im Lernkontext internationaler Studiengänge vermittelt studienbezo‐ gener Fremdsprachenunterricht Allgemein- und Fachsprache, d. h. er bezieht auch die Begriffe des betreffenden Fachgebietes und dessen Wissensstruktur 202 Karl-Heinz Eggensperger mit ein. Statt Wissensminima zu definieren, wird vorgeschlagen, Lernprozesse zur Bewältigung von studienrelevanten kommunikativen Anforderungen zu initiieren. Ganz im Sinne der Lerner-Orientierung Albert Raaschs werden Wissensminima von den Studierenden gezielt zur Lösung von studienrelevanten Anforderungen konstituiert. Sprachminima und Wissensminima stellen kom‐ plementäre Forschungsfelder einer studienbezogenen Fremdsprachendidaktik dar. In diesem Sinne kann sich der Ansatz von Albert Raasch als zukunftsträchtig erweisen. Literatur Astleitner, Hermann (2006). Aufgaben-Sets und Lernen: Instruktionspsychologische Grund‐ lagen und Anwendungen. Frankfurt a. Main, Berlin, Bern, Wien [u. a.]: Lang. Council of Europe (2018). Common European framework of reference for languages: learning, teaching, assessment. Companion volume with new descriptors. (http: / / www. coe.int/ lang-cefr; 30.04.2020). Coste, D., B. North & J. Trim in Zusammenarbeit mit J. Sheils (2001). Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: lernen, lehren, beurteilen. Übersetzung: Quetz, J. in Zusammenarbeit mit R. Schieß & U. Sköries. Übersetzung der Skalen: G. 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Mit der immer brüchiger werdenden inneren Kohäsion und den zugleich wachsenden Anforderungen der Europäischen Union (EU) im globalen Zusammenhang stellt eine Stärkung der sozialen Dimension europäischer Politik im Übergang zu den 2020er Jahren eine zentrale Herausforderung dar. Im Folgenden werden nach einer kurzen Darstellung des wachsenden sozial‐ politischen Handlungsdrucks die Entwicklungen und Probleme europäischer Sozialpolitik erläutert, um abschließend einige ausgewählte Handlungsoptionen aufzuzeigen. Ein Beitrag zur sozialen Dimension europäischer Politik in dieser vorwiegend sprachwissenschaftlich und fremdsprachendidaktisch geprägten Festschrift lässt sich nicht nur mit der Bedeutung des Themas für die europäische Zu‐ sammenarbeit rechtfertigen, sondern auch mit der Offenheit von Professor Albert Raasch für interdisziplinäre Fragestellungen und vor allem mit seinem uneingeschränkten europäischen Engagement. Die Bemühungen von Professor Raasch zur Entwicklung der Zweisprachigkeit in der Großregion SaarLorLux und seine vielfältigen Anstrengungen zur Förderung der deutsch-französischen kulturellen Zusammenarbeit sind wertvolle Bausteine für das europäische Einigungswerk, das es heute mehr denn je zu verteidigen gilt. 1 Vgl. Tagesspiegel, 28.01.2010 „Sardinen stoppen Salvini“. Der Kandidat des Partito Democratico (PD) kam auf 51,4%, der Lega Kandidat auf 43,6% der Stimmen. Zeitgleich konnte sich in Kalabrien die Rechtskoalition durchsetzen. Die der Berlusconi-Partei Forza Italia angehörende neue Präsidentin erhielt 55,4% der Stimmen. 2 Innere Kohäsion, Stabilität und Handlungsfähigkeit der Europäischen Union Wachsende geopolitische Spannungen, eine zunehmende Zahl von politischen und wirtschaftlichen Krisen und Konflikten, die Gefährdung der vom Multi‐ lateralismus geprägten internationalen Ordnung und die gewandelte Rolle der USA und Chinas zwingen die EU im globalen Kontext, ihr Gewicht und ihren Einfluss zu stärken, um ihrer gewachsenen Verantwortung gerecht zu werden und ihre Stellung im ökonomischen und politischen Konkurrenzkampf zu behaupten. Zugleich muss sie Antworten finden auf die großen Fragen des Klimawandels, der Bewältigung neuer Flüchtlingsbewegungen und der Digitalisierung, die sowohl im globalen Kontext als auch innerhalb der Union und ihrer Mitgliedsstaaten tiefgreifende soziale und wirtschaftliche Umbrüche zur Folge haben. Die vielfach angemahnte Stärkung der Europäischen Union darf deshalb nicht nur in der Außenperspektive definiert werden, sondern muss zugleich die Fliehkräfte und inneren Schwächen der Union in den Blick nehmen. Der Austritt Großbritanniens ist ein Indiz der Schwächung und des Verlustes der Anziehungskraft der Europäischen Gemeinschaft und hat eine Verschiebung der inneren Kräfteverhältnisse und Handlungsbedingungen zur Folge. Nationale Egoismen und der Einfluss populistischer und europafeindlicher Bewegungen und Parteien zeigen sich nicht nur im Drama des Brexits, sondern auch in vielen anderen Mitgliedstaaten der EU. In Frankreich verweisen die Proteste der Gelbwesten und der weiterhin bestehende Druck des rechtsex‐ tremen Rassemblement National, in Deutschland die Erfolge der AfD auf den erhöhten politischen Handlungsdruck. Die unter Giuseppe Conte gebildete Koalitionsregierung der Fünf-Sterne-Bewegung und der Sozialdemokratie in Italien steht trotz des unerwarteten Rückschlags für die Rechtspopulisten bei der jüngsten Regionalwahl in der stark umkämpften und seit Jahrzehnten als Hochburg der Linken geltenden Region Emilia-Romagna weiterhin unter dem Druck von Matteo Salvini und seiner rechtspopulistischen Lega  1 . Auch in anderen west- und nordeuropäischen Ländern (Österreich, Niederlande, Finnland, Dänemark und Schweden) sind rechtspopulistische Parteien fester Bestandteil des Parteiensystems. In Polen trägt die an der Regierung befindliche Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) und in Ungarn die rechtskonservative Fidesz mit Ministerpräsident Victor Orban zur Aushöhlung der demokratischen 206 Sabine von Oppeln 2 Vgl. Europäisches Parlament, Ergebnisse der Europawahl 2019 (www.europarl.europa .eu/ electio-results-2019; 22.01.2020). Staatsordnung bei. Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament (EP) im Jahre 2019 ist der Rechtsruck zwar nicht in dem gefürchteten Ausmaß eingetreten. Dennoch konnten die Konservativen und Reformer (EKR) und die neu gegründete rechtspopulistische Fraktion Identität und Demokratie (ID) mit insgesamt 135 Sitzen ihren Stimmanteil im EP in bisher noch nicht gekannter Weise erhöhen 2 . Der Erfolg populistischer und europafeindlicher Bewegungen und Parteien und der Niedergang der traditionellen (Volks-)Parteien sind Zeichen der Erosion des inneren Zusammenhaltes der EU und zeugen von einer Spaltung der Gesellschaften. Der Gruppe jener, die den globalen Veränderungen optimistisch entgegensehen und davon profitieren, stehen immer größere Bevölkerungsteile gegenüber, die sich vor dem Hintergrund sozialer und politischer Enttäuschung mit dem Angebot extremer populistischer Kräfte identifizieren. In einer Studie über die Anhängerschaft der AfD wurde die Unzufriedenheit mit der eigenen Lebenslage als stärkstes Motiv zur Wahl rechtspopulistischer Parteien hervor‐ gehoben. Dabei wurde betont, dass nicht unbedingt die objektive soziale Lage, sondern die subjektive Wahrnehmung der eigenen Lebenslage entscheidend sei. Das Gefühl vor möglichen Krisen nicht genügend gewappnet zu sein, soziale Abstiegsängste und die Angst vor den Folgen der Globalisierung, denen nicht mit einer angemessenen Politik der Regulierung begegnet wird, habe sich bis weit in die Mittelschicht verbreitet und mit einem wachsenden Unbehagen an der wachsenden sozialen Spaltung gepaart (vgl. Funke & Mudra 2018: 94 ff). Neben Fragen der Flüchtlingspolitik und dem Rekurs auf die mit der Globalisie‐ rung einhergehenden Gefühle der Überfremdung werden die sozialen Probleme und Ängste von populistischen Parteien und Bewegungen zur Diskreditierung der herrschenden politischen Klasse und der europäischen Zusammenarbeit genutzt. Die Verschärfung der sozialen Disparitäten zwischen und innerhalb einzelner Mitgliedstaaten, die Vergrößerung der Einkommensschere, die Zunahme pre‐ kärer Einkommen, der Kaufkraftverlust wachsender Bevölkerungsteile und die trotz einer leichten Verbesserung gegenüber dem Krisenjahr 2009 weiterhin zu verzeichnende hohe Quote der von Armut und sozialer Ausgrenzung be‐ troffenen Bevölkerungsteile sowie die in den südlichen Ländern anhaltende Arbeitslosigkeit, von der insbesondere die Jugendlichen betroffen sind, stehen im Widerspruch zu den ehrgeizigen sozialen Zielsetzungen der EU (vgl. Art. 3 EUV, Art. 9 AEUV). Die Grenzen der Austeritätspolitik, die seit der Einführung des Binnenmarktes und der Währungsunion die europäische Politik geprägt 207 Europäische Sozialpolitik: Herausforderungen, Probleme und Handlungsansätze hat, haben sich insbesondere in den südlichen Ländern im Verlauf der Finanz- und Schuldenkrise gezeigt und zur Diskreditierung der EU beigetragen. Noch im Herbst 2019 ist in Griechenland die Zahl derer, die der EU kein Vertrauen entgegenbringen, mit 62 % am höchsten, gefolgt von Frankreich (58 %) Groß‐ britannien (56 %), Italien (52 %) und Spanien (51 %) (Standard-Eurobarometer 92 - 2019). Verstärkt wird die Verunsicherung der Bevölkerung nicht zuletzt mit der Aufnahme und Integration von Flüchtlingen und Migranten, mit der Verän‐ derung der Arbeitswelt im Zuge der Flexibilisierung und der Digitalisierung sowie mit dem Klimawandel. Die Stärkung der sozialen Dimension europäischer Politik stellt nicht nur auf nationaler, sondern auch auf europäischer Ebene eine zentrale Herausforderung dar, wenn die innere Kohäsion, Stabilität und Handlungsfähigkeit der Gemeinschaft und ihrer Mitgliedstaaten als Grundlage ihrer Selbstbehauptung im globalen Kontext gestärkt werden soll. 3 Entwicklung und Probleme europäischer Sozialpolitik: Große Ziele geringe Kompetenzen Im Verlauf der europäischen Integration war die Sozialpolitik jahrzehntelang ein vernachlässigtes und von Anfang an vom Prinzip der Marktschaffung dominiertes Politikfeld. Erst im Kontext der Einrichtung des Binnenmarktes und der Realisierung der europäischen Währungsunion erfolgte ein Ausbau der gemeinschaftlichen Sozialpolitik und eine Intensivierung der Debatte über die soziale Dimension europäischer Politik. Wichtige Etappen dieser Entwicklung waren die Einheitliche Europäische Akte, mit der im Bereich der Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz der qualifizierte Mehrheitsentscheid eingeführt und eine erste Grundlage zur Entwicklung des Dialogs der Sozialpartner auf europäischer Ebene geschaffen wurde. Einen weiteren Schritt stellte das Sozi‐ alabkommen dar, das im Zuge der Verabschiedung des Maastrichter Vertrages - mit Ausnahme Großbritanniens - von allen Mitgliedstaaten unterzeichnet und 1997 mit dem Amsterdamer Vertrag in das Vertragswerk der EU integriert wurde. Wichtige Neuerungen waren die Festschreibung eines Zielkatalogs gemeinschaftlicher Sozialpolitik, die Verankerung des qualifizierten Mehrheits‐ entscheids für die Einführung von Mindeststandards in den Bereichen des Arbeitsschutzes und der Gleichstellung der Geschlechter sowie die Einführung des Sozialpartnerverfahrens, das neben das herkömmliche Legislativverfahren gestellt wurde und den Sozialpartnern die Möglichkeit eröffnete, den Inhalt einer Rahmenvereinbarung zu bestimmen. (vgl. zum chronologischen Überblick über die europäische Sozialpolitik u. a. Falkner 1994 & 1998 und Falkner, Obermaier 2008 & Leibfried 2014). 208 Sabine von Oppeln Mit der vorläufigen Vollendung des Binnenmarktes stagnierten die Anstren‐ gungen zur sozialpolitischen Regulierung (vgl. u. a. Falkner 2000 sowie Graziano & Hartlapp 2005). Fortan standen die zunehmende Standortkonkurrenz und der häufig als Rückbau wahrgenommene Umbau der Sozialstaaten im Mittelpunkt des Interesses. Die Zielsetzungen gemeinschaftlicher Politik wurden auf die Kernbereiche der sozialen Sicherung ausgeweitet und ein Instrumentarium zur Koordination der nationalen Politiken aufgebaut, das vor allem in jenen Berei‐ chen zur Anwendung gelangt, in denen die Kompetenzen nicht auf Gemein‐ schaftsebene, sondern bei den Nationalstaaten liegen (vgl. zur Offenen Methode der Koordinierung Preunkert 2009). Dies betrifft insbesondere die Politik der sozialen Inklusion und die von der Gemeinschaft propagierte Modernisierung der im nationalen Kompetenzbereich liegenden Systeme der sozialen Sicherung. Mit der Verabschiedung der Lissabon-Strategie im Jahre 2000 wurde das ehr‐ geizige Ziel verfolgt, die EU zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt zu entwickeln und zugleich die Beschäftigungsquote durch ein dauerhaftes Wachstum zu erhöhen sowie einen größeren sozialen Zusammenhalt zu gewährleisten. Im Mittelpunkt dieser von den mehrheit‐ lich sozialdemokratisch geführten Regierungen eingeleiteten Politik stand der Versuch, eine angebotsorientierte Politik der Marktliberalisierung und der Wachstumsförderung mit einer Politik der sozialen Kohäsion zu verbinden. Mit dem Übergang vom nachsorgenden zum aktivierenden Sozialstaat (vgl. Lamping & Schridde 2004) und dem vom Ziel der Kostenminderung geleiteten Umbau der Systeme der sozialen Sicherung hoffte man den Herausforderungen zunehmender Standortkonkurrenz entsprechen und zugleich die Grundfesten des Sozialstaatsmodells bewahren zu können. Die gleichermaßen mit Lob und Hass überschüttete Hartz-IV-Reform der Regierung Gerhard Schröders ist ein prominentes Beispiel dieser Politik. Mit dem Scheitern der Lissabon-Strategie und der Verabschiedung der Nachfolgestrategie Europa 2020 (Europäischer Rat 2010) wurde die Frage der sozialen Dimension europäischer Politik immer weiter in den Hintergrund gedrängt. Eine Zuspitzung sozialer Verwerfungen in‐ nerhalb und zwischen den Mitgliedstaaten hatte die Finanzkrise von 2008/ 2009 und die europäische Schuldenkrise zur Folge. Schließlich war es die Europäische Kommission, die eine Wiederbelebung der sozialpolitischen Debatte einleitete. Diese fand ihren vorläufigen Abschluss mit der Proklamation der Europäischen Säule Sozialer Rechte (ESSR) auf dem Sozialgipfel in Göteborg im November 2017. Abermals wurden weitreichende soziale Ziele proklamiert, ohne dass der Bestand gemeinschaftlichen Rechts und die Steuerungsfähigkeit der Union im Feld der Sozialpolitik ausgebaut wurde. 209 Europäische Sozialpolitik: Herausforderungen, Probleme und Handlungsansätze Insgesamt ist die Sozialpolitik von einem Accessoire zu einem bedeutenden Feld europäischer Politik geworden, das durch die komplexe Struktur des europäischen Mehrebenensystems gekennzeichnet ist. Mit der zunehmenden Verflechtung und gegenseitigen Abhängigkeit der nationalen und europäischen Handlungsebenen wächst die Gefahr einer Blockierung der Sozialpolitik. Einer‐ seits wird die Handlungsfähigkeit der nationalen Wohlfahrtsstaaten durch die direkten und indirekten Eingriffe der europäischen Ebene eingeschränkt. An‐ dererseits kann die europäische Ebene die sozialpolitische Handlungsschwäche der nationalen Ebene nicht kompensieren. Die EU erscheint deshalb eher als Gefährder sozialer Standards denn als handlungsfähiger sozialpolitischer Akteur. Probleme für die Stärkung des sozialen Zusammenhalts ergeben sich erstens aus der engen Bindung der Sozialpolitik und der angrenzenden Bereiche der Arbeitsmarkt-, Lohn- und Einkommenspolitik in den Mitgliedstaaten an die dominierenden Vorgaben der Märkte und der haushaltspolitischen Stabilität. Mit der Standortkonkurrenz im europäischen und globalen Rahmen geraten die sozialen Systeme der Mitgliedstaaten zunehmend unter Konkurrenzdruck. Überdies wird dem EUGH immer wieder eine an den Prinzipien der Markt‐ schaffung und der Freizügigkeit orientierte Rechtsprechung vorgeworfen, die eine Aushöhlung und Schwächung der nach wie vor national organisierten Sozialsysteme zur Folge hat. Durch die Rechtsprechung des EUGH werde, so die Kritik, den ökonomischen Grundrechten der Vorrang vor den sozialen Grund‐ rechten eingeräumt und das liberale Modell der Marktwirtschaft gegenüber dem Modell der sozialen Marktwirtschaft gestärkt (vgl. u. a. Leibfried & Stephan 2014, Ferrera & Maurizio 2005, Scharpf & Fritz 2008, Scharpf & Fritz 2009 und zur Gegenposition Obermaier 2009). Zweitens ist das Instrumentarium gemeinschaftlicher Sozialpolitik nach wie vor begrenzt. Mittel für redistributive Maßnahmen stehen nur in geringem Maße zur Verfügung. Überdies wird die Abschöpfung der Mittel aus den Strukturfonds gerade in den wirtschaftlich schwächeren Ländern durch das Erfordernis der Ko-Finanzierung erschwert. Die Regulierung durch Verordnungen und Richtli‐ nien konzentriert sich auf die für die Marktintegration wichtigen Bereiche der Freizügigkeit und Mobilität von Arbeitnehmern, der sozialen Sicherheit und des sozialen Schutzes der Arbeitnehmer, der Gesundheit und Sicherheit am Arbeits‐ platz, des Arbeitsrechts sowie der Gleichstellung und Nichtdiskriminierung. Der Erfolg der auf den Kernbereich der sozialen Sicherheit abzielenden Bemühungen zur Koordination der nationalen Sozialpolitiken ist dagegen aufgrund der Ab‐ hängigkeit vom politischen Willen der Mitgliedstaaten begrenzt. Auch das mit dem ESSR eingerichtete soziale Scoreboard, das über die Festsetzung einer Reihe 210 Sabine von Oppeln 3 Rede zur Eröffnung der Plenartagung des Europäischen Parlaments, Ursula von der Leyen, Kandidatin für das Amt der Präsidentin der Europäischen Kommission, Straß‐ burg, 16. Juli 2019, pdf. von Indikatoren die Vergleichbarkeit der sozialen Lage in den Mitgliedstaaten verbessern und eine Grundlage für die Einleitung von Reformen bieten soll, wird bisher kaum als Anreiz nationaler Reformpläne genutzt (vgl. Hacker 2018: 265 ff). Drittens wird die Konsensfindung und Vertiefung der Zusammenarbeit im Bereich der Sozialpolitik durch die Vielfalt sozialpolitischer Traditionen, Wertvorstellungen und Strukturen (vgl. u. a. Bazant & Schubert 2008 und ebenso Esping-Andersen 1990), die unterschiedlichen Vorstellungen hinsichtlich der sozialen oder liberalen Gestaltung der Marktwirtschaft und das Wohlstandsge‐ fälle zwischen den Mitgliedstaaten erschwert. Diese strukturell begründete Interessenvielfalt ist mit der Zunahme der Zahl der Mitgliedstaaten noch ange‐ stiegen und behindert - gepaart mit einem Mangel oder sogar Rückgang sozialen Vertrauens und transnationaler Solidarität - die Ausweitung gemeinschaftlicher Politik (vgl. Lamping 2008: 614 f. und Börner 2014). 4 Ansatzpunkte und Handlungsoptionen für eine Stärkung der Sozialpolitik in der Union Die Spielräume für eine Stärkung der europäischen Sozialpolitik sind durch die institutionellen und finanziellen Schranken der Sozialpolitik im europäischen Mehrebenensystem ebenso begrenzt wie durch die Dominanz des marktlibe‐ ralen Modells und einer an der Geldwertstabilität orientierten Fiskalpolitik. Die Zunahme der Konkurrenz im europäischen und globalen Rahmen, die Ausweitung nationaler Egoismen sowie die Schwäche der Gewerkschaften und der sozialdemokratischen Parteien, die traditionell zu den stärksten Verfechtern einer sozialen Politik in Europa gehörten, lassen optimistische Szenarien eher unwahrscheinlich erscheinen. Dennoch lassen sich in jüngster Zeit auch Anzei‐ chen für eine Veränderung der Rahmenbedingungen sozialer Politik in der EU ausmachen. Nicht nur die Wiederbelebung der sozialpolitischen Debatte und die Verabschiedung der ESSR unter dem ehemaligen Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker, sondern auch die Ankündigungen der neuen Präsidentin der Kommission wecken zumindest begrenzte Hoffnungen. Bereits in ihrer Bewerbungsrede vor dem Europäischen Parlament hat Ursula von der Leyen erste Ideen für ein „starkes soziales Europa“ vorgestellt 3 , die im Januar 2020 im Arbeitsprogramm für die Kommission (Europäische Kommission, 2020) konkretisiert wurden. Geplant sind u. a. die Einführung von Mindestlöhnen, 211 Europäische Sozialpolitik: Herausforderungen, Probleme und Handlungsansätze eine europäische Arbeitslosenrückversicherung und die Entwicklung eines Ak‐ tionsplans zur Umsetzung der ESSR. Hoffnungen auf die Umsetzung sozialer Re‐ formprojekte konzentrierten sich nicht zuletzt auf die im zweiten Halbjahr 2020 laufende deutsche Ratspräsidentschaft. Frankreich und Deutschland könnten in enger Zusammenarbeit mit der Kommission hierbei eine Schlüsselrolle spielen. Über neue von französischer Seite seit Jahrzehnten geforderte sozialpolitische Initiativen könnten beide Länder ihrer mit dem Austritt Großbritanniens noch wachsenden europapolitischen Verantwortung gerecht werden und ihrer ins Stocken geratenen Zusammenarbeit neuen Schwung verleihen. Dabei fällt mit dem Austritt Großbritanniens, das sich traditionell jeglichen Bemühungen zur Ausweitung der sozialpolitischen Zusammenarbeit widersetzte, ein wichtiger Gegenspieler weg. Die Durchsetzungskraft der südeuropäischen Länder, die wie Frankreich eher von der Tradition des staatlichen Interventionismus geprägt sind und eine Lockerung der Austeritätspolitik sowie eine aktivere Konjunktur‐ politik einfordern, könnte dadurch gestärkt werden. Schließlich kann eine Stärkung der Sozialpolitik weder über den häufig von Rechtspopulisten eingeforderten Weg der Re-Nationalisierung und des Protektionismus gestärkt werden noch über einen Sprung zur Schaffung eines europäischen Sozialstaates (Busch, Bischoff & Funke 2018: 199 ff). Selbst in der Präambel der ESSR wird eine Ausweitung der im Vertragswerk festgeschrie‐ benen Aufgaben und Befugnisse der Union ausgeschlossen (Art. 18). Zudem wird die Wahrung der Vielfalt der Traditionen und Kulturen und das Recht der Mitgliedstaaten zur Gestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit und ihrer Staatshaushalte festgeschrieben (Art. 19). Vor diesem Hintergrund kon‐ zentrieren sich die hier vorgestellten Handlungsoptionen auf einen mittelfristig angelegten pragmatischen Mittelweg mit drei übergeordneten Zielen: Erstens sollte es um eine Stärkung der Solidarität und der Konvergenz zwischen den Mitgliedsstaaten gehen. Hierzu wären die bereits in der Diskussion befindli‐ chen Mindeststandards für Mindestlöhne und Mindesteinkommen ein wichtiger Ansatzpunkt. Bei der Bemessung dieser Mindeststandards müssten die existie‐ renden nationalen Durchschnittwerte berücksichtigt werden. Perspektivisch könnten die an die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Mitgliedstaaten an‐ gepassten Mindeststandards auf weitere in der ESSR propagierte Rechte ausge‐ weitet werden. Zu begrüßen wäre außerdem die Realisierung der europäischen Arbeitslosenrückversicherung. Parallel zu diesen Maßnahmen sollte aber auch eine grundsätzliche politische Debatte über die Möglichkeiten zur Verbesserung der wirtschafts- und fiskalpolitischen Rahmenbedingungen zur Angleichung der wirtschaftlichen Leistungskraft der Mitgliedstaaten und zum Abbau der Einkommensunterschiede geführt werden. Die immer wieder ins Stocken gera‐ 212 Sabine von Oppeln 4 Das Europäische Semester dient der wirtschafts- und fiskalpolitischen Abstimmung der Mitgliedstaaten der EU. Es erstreckt sich auf die ersten sechs Monate eines jeden Jahres und berührt die Politikbereiche Strukturreformen im Einklang mit der Strategie 2020, Fiskalpolitik und Vermeidung übermäßiger makroökonomischer Ungleichgewichte (vgl. https: / / www.consilium.europa.eu/ de/ policies/ european-semester; 27.01.2020). tene Reform der Eurozone und die Neubestimmung der Leitlinien europäischer Politik, die eine Vereinbarkeit unterschiedlicher Wirtschafts- und Sozialmodelle ermöglichen sollten, müssten im Mittelpunkt dieser Anstrengungen stehen (vgl. Hall 2015). Zweitens geht es um die Stärkung der sozialen Dimension in der Governance des europäischen Mehrebenensystems. Zur Korrektur der Dominanz wirtschafts- und fiskalpolitischer Zielsetzungen sollte der Wachstums- und Stabilitätspakt um sozialpolitische Konvergenzkriterien ergänzt werden. Überdies wären eine Politik der schrittweisen Steuerharmonisierung und eine effektive Bekämpfung der Steuerflucht eine wesentliche Voraussetzung zur Sicherung der für die Sozialpolitik erforderlichen Ressourcen der Mitgliedstaaten. Überdies sollten im Rahmen der laufenden Verhandlungen über den Finanzrahmen der EU für die Jahre 2021 bis 2027 die Mittel für die Belange der sozialen Kohäsion nicht zugunsten der drängenden Fragen der Klimapolitik und der Digitalisierung ge‐ kürzt, sondern eher erhöht werden. Weiterhin könnte der Rat für Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz (EPSCO) durch gemeinsame Sitzungen mit dem Rat der Finanzminister (ECOFIN) aufgewertet und damit die Abstimmung zwischen wirtschafts- und sozialpolitischen Zielsetzungen in den Beratungen des Europäischen Semesters 4 verbessert werden. Nicht zuletzt sollte die ESSR analog zum Katalog der Grundrechte in das Primärrecht der Gemeinschaft integriert werden. Hierdurch wären die in der ESSR verbrieften Rechte einklagbar. Zugleich könnte eine zu einseitige Orientierung der Recht‐ sprechung des EUGH an den Vorgaben der Freizügigkeit auf dem Binnenmarkt korrigiert werden. Darüber hinaus könnte das sozialpolitische Scorebord, das flankierend zur ESSR für den Vergleich der sozialen Entwicklung in den Mitgliedstaaten eingerichtet wurde, zur Überprüfung der nationalen Strategien für den sozialen Fortschritt und zur Konditionierung der Vergabe der Mittel aus dem Europäischen Sozialfonds genutzt werden (vgl. Hacker 2018: 271 f). Drittens geht es um die Berücksichtigung sozialpolitischer Belange im Rahmen der neuen Herausforderungen der Digitalisierung, des Klimawan‐ dels und der Migration. Neben umfangreichen Maßnahmen der Umschulung und Wiedereingliederung der Beschäftigten in den von der Digitalisierung betroffenen Bereichen erfordern die Digitalisierung und Flexibilisierung der Arbeitswelt eine Überprüfung und gegebenenfalls eine Reform der bestehenden 213 Europäische Sozialpolitik: Herausforderungen, Probleme und Handlungsansätze Richtlinien für den Schutz der Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz, zu arbeitsrechtlichen Bestimmungen und zur Gleichstellungspolitik. Das europäi‐ sche Regelwerk darf nicht mehr nur auf das Normal-Arbeitsverhältnis abzielen, sondern muss auch befristete Arbeit, Arbeit auf Abruf ohne feste Arbeitszeiten und selbständige Beschäftigung sowie neue Beschäftigungsformen, z. B. auf digitalen Plattformen, einbeziehen. Die mit der Digitalisierung einhergehenden neuen Formen eines die Gesundheit und das familiäre Leben belastenden Stresses, z. B. durch die Entgrenzung von Arbeits- und Privatleben, müssen in der gemeinschaftlichen Gesetzgebung berücksichtigt werden. Der von der Europäischen Kommission im November 2019 vorgestellte Green Deal (Europäische Kommission 2019), mit dem bis zum Jahre 2050 die Klima‐ neutralität der Union erreicht werden soll, gibt vor, soziale und klimapolitische Ziele zu verbinden. Konkrete Maßnahmen oder verbindliche Vorgaben zur Erreichung dieser Ziele stehen indes noch aus. Ebenso steht die Finanzierung des Programms noch auf tönernen Füßen. Nicht auszuschließen ist jedoch, dass die erforderlichen Umstrukturierungen im Bereich der Industrie wie auch in der Landwirtschaft zu beträchtlichen Strukturkrisen ganzer Regionen führen, die einer sozialen Abfederung durch umfangreiche Sozialpläne und die Entwicklung alternativer Beschäftigungsmöglichkeiten bedürfen. Diese können nur in enger Zusammenarbeit der Gemeinschaft mit den Mitgliedstaaten und den betroffenen Regionen entwickelt werden. Gleichermaßen könnten die angestrebten Veränderungen der Lebensverhältnisse und Verhaltensweisen in den Bereichen Verkehr, Ernährung und Wohnen zu einer Verschärfung sozialer Disparitäten führen, die nur durch kostenintensive Subventionsprogramme abgemildert werden können. Der noch in weiter Ferne stehende Konsens der Mitgliedstaaten und die Finanzierung werden Schlüsselfragen bei der Umset‐ zung der ehrgeizigen klimapolitischen und sozialen Zielsetzungen des Green Deals sein. Schließlich wird - trotz einer vorübergehenden Entspannung - die Frage der Migration ein Thema europäischer Politik bleiben, das mit den Folgen des Klimawandels sogar noch eine weitere Zuspitzung erfahren wird. Die Aufnahme und Integration von Flüchtlingen und Migranten stellt per se eine soziale Herausforderung dar, der die EU nicht durch Abschottung, sondern nur durch die Entwicklung einer gemeinschaftlichen Politik der Kontrolle und Steuerung der Zuwanderung und durch eine gerechte Verteilung der Lasten zwischen den Mitgliedstaaten gerecht werden kann. Zugleich sind die Stärkung des sozialen Zusammenhalts innerhalb und zwischen den Mitgliedstaaten und eine zügige Integration der Zugewanderten zentrale Voraussetzungen für eine erfolgreiche Bekämpfung der in der Bevölkerung gewachsenen Gefühle der Benachteiligung 214 Sabine von Oppeln und der zunehmenden gesellschaftlichen Polarisierung. Die Einrichtung eines Inklusionsfonds zu einer vom Prinzip der Ko-Finanzierung ausgenommenen Förderung von Infrastrukturmaßnahmen in jenen Gemeinden, die sich durch die Umsetzung erfolgreicher Konzepte zur Integration von Flüchtlingen und Migranten bewähren, könnte ein durchaus bedenkenswertes Instrument zur Förderung der Aufnahmebereitschaft in den Mitgliedstaaten darstellen (vgl. Busch, Trost, Schwan, Bsirske u. a. 2016: 26 ff). Insgesamt ist die Stärkung des sozialen Zusammenhalts innerhalb und zwi‐ schen den Mitgliedstaaten ein zentrales Feld europäischer Politik. Zur Bewälti‐ gung der kontinuierlich wachsenden sozialpolitischen Herausforderungen sind eine enge Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten - wie auch zwischen den Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft - und eine Stärkung des Solidar‐ prinzips erforderlich. Zugleich birgt die Sozialpolitik innerhalb der EU großen Konfliktstoff, sowohl im Verhältnis der Mitgliedstaaten zueinander als auch zwi‐ schen den Vertretern unterschiedlicher Interessengruppen. Neben den vielfäl‐ tigen Fragen der sozialpolitischen Kompetenzen, Instrumente und finanziellen Ressourcen, die die Grundprobleme der Gestaltung der europäischen Politik zwischen Intergouvernementalismus und Supranationalität berühren, stehen die Wirtschafts- und Sozialmodelle der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft zur Disposition. Eine offene transnationale Auseinandersetzung, an der die Zivilgesellschaften und die intermediären Gruppen gleichberechtigt teilhaben müssen, wäre ein wichtiger Schritt zur Entwicklung neuer Lösungsansätze und zum Abbau des Misstrauens gegenüber der Politik. Letztlich hängt die Stärkung der sozialen Dimension europäischer Politik von der Entwicklung der politischen Kräfteverhältnisse und vom Voluntarismus der politischen Ak‐ teure auf gemeinschaftlicher und nationaler Ebene ab. Überdies sind konkrete Pläne zur Umsetzung und Finanzierung der anspruchsvollen Zielsetzungen und Versprechungen der Gemeinschaft zwingend erforderlich, wenn die sozialpoli‐ tische Glaubwürdigkeit der Gemeinschaft wiederhergestellt werden soll. Eine enorme Zuspitzung erfahren all diese Herausforderungen mit den finanziellen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Corona-Krise. Die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten wird mit dieser Krise zu einer Kernfrage des Bestandes des europäischen Einigungswerkes. Literatur Börner, Stefanie (2014). Die Konstruktion transnationaler Solidarität durch EU-Sozialpo‐ litik. In: Knodt, Michèle & Anne Tews (Hrsg.). Solidarität in der EU. 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In: Amtsblatt der Europäischen Union C326 / 13. Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (konsolidierte Fassung) (AEUV) (26.10.2012). In: Amtsblatt der Europäischen Union C326 / 47. 217 Europäische Sozialpolitik: Herausforderungen, Probleme und Handlungsansätze Das Französische in der Debatte Anglizismen und écriture inclusive: Chance oder Bedrohung der Sprache? Lutz Götze 1 L’écriture inclusive Frankreich ist hin- und hergerissen. Ähnlich wie in Deutschland gibt es in Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit vehemente Auseinandersetzungen darüber, ob die Landessprache im Zuge der Globalisierung durch Anglizismen überfrachtet sei oder nicht; andererseits stehen sich die Befürworter und Gegner einer „geschlechtsneutralen“ oder „gendergerechten“ Sprache - im Französischen écriture inclusive - eher mit eingezogenem Visier gegenüber, als dass sie an einem Kompromiss interessiert scheinen. Schließlich bereitet die Sprache der SMS-Botschaften vielen Französinnen und Franzosen immer größere Probleme, weil sie nur noch selten der Norm der langue de Molière entspricht. Zuerst zu Deutschland: Der Rat für deutsche Rechtschreibung, der im Jahre 2022 ein grammatisches Regelwerk der Zukunft mitsamt einem Amtlichen Wörterverzeichnis vorlegen soll, hat gerade beschlossen, das heikle Thema der Diskriminierung von Frauen in der öffentlichen Diktion vorerst auf Eis zu legen und die sprachliche Entwicklung abzuwarten: Es birgt zu viel Sprengstoff! Wie sieht es nun in Frankreich am Ende des Jahres 2019 aus? Die Académie Française hat im Dezember 2018 vehement die écriture inclusive verdammt, aber - in einer Art akademischer Dialektik - zwei Monate danach der féminisation des noms de métiers et de fonctions zugestimmt. Zwei Mitglieder der hochwohl‐ löblichen Akademie hatten sich daraufhin im Magazin des Figaro dazu geäußert: Während Dominique Bona - als Frau vom Gegenstand betroffen, weil sie allzu häufig in der Vergangenheit Post erhalten hatte, die an M. Dominique Bona adressiert war - die Änderung begrüßt und von einem „Festtag“ spricht, ist ihr männlicher Akademie-Kollege Frédéric Vitoux deutlich reservierter: Er sieht Chaos und Unentschiedenheit in der französischen Sprache voraus und verweist darauf, dass sich Nathalie Sarraute stets auteur genannt hatte, keineswegs aber auteure oder gar autrice. Ebenso lehnt er ab, von einer Frau als einer cheffe zu sprechen, schon gar nicht von einer écrivaine. Probleme entstünden obendrein, wenn eine Zeugin vor Gericht erschiene: Müsse dann von la témoin gesprochen werden? Umgekehrt warnt das Akademie-Mitglied vor der Maskulinisierung im Falle von *un sentinelle oder *un ordonnance. Ganz schlimm, so Vitoux, aber würde es, wenn feministische Linguistinnen die Déclaration des droits de l´homme, weil vermeintlich sexistisch, umschreiben wollten in Les droits humains oder Les droits de la personne. Sie bewiesen damit schlechterdings nur ihre Unbildung: Schließlich stamme homme nicht von vir im Lateinischen ab, sondern von homo, der die menschliche Spezies als solche bezeichne und keineswegs lediglich das natürliche männliche Geschlecht. Verweisen darf ich noch auf die semantischen Probleme bei einer geschlechts‐ neutralen Umwandlung der Anrede eines Notars oder Anwalts: Monsieur le maître! - etwa Madame la maîtresse? Die Wogen glätten sich derzeit mitnichten. Linguistisch gesprochen: Der Un‐ terschied zwischen Genus (grammatisches Geschlecht) und Sexus (natürliches Geschlecht) ist nicht aufzuheben und wird immer wieder zu Kompromissen führen, die das eine oder andere Geschlecht benachteiligen. Das Deutsche hat, wie das Schwedische, immerhin drei Genera und kann, wie im Schwedischen bereits geschehen, im Zweifelsfall auf das Neutrum ausweichen - unabhängig von der Überlegung, ob das eine sinnvolle Alternative ist. Das Französische hat - der Überzeugung Richelieus 1635 bei der Gründung der Académie Française folgend, nach der erst die einheitliche Sprache ein Land wirklich einige - neben anderen Eingriffen in das Sprachsystem das dritte Genus, also das ne-utrum des Lateinischen, abgeschafft und sich auf zwei Genera verständigt: das masculin (non marqué) und das féminin (marqué). Mancher (oder manche) Protagonist(in) der écriture inclusive hält das heute übrigens für einen „Kardinal“-Fehler! 2 Le globish oder ein reines Französisch? Ein weiteres Minenfeld tut sich auf, wenn die Rede auf die Anglizismen in der französischen Sprache kommt. Ähnlich wie im Deutschen sind sofort zwei Lager auszumachen: Die eine Partei verweist auf die im Zuge der neoliberalen Globalisierung der Welt notwendige Übernahme englischsprachiger Ausdrücke in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und sogar im Alltagsleben, denen man sich nicht verschließen könne, wenn man nicht hoffnungslos zurückfallen wolle. Die andere Seite betont den Verlust, den jede Einzelsprache durch eine 220 Lutz Götze neue lingua franca erlitte, nämlich das Englisch-Amerikanische. Nehmen, in Frankreich, die Einen achselzuckend hin, wenn es in Werbeanzeigen Only Lyon, Montpellier unlimited, Sarthe me up, Lorraine Airport oder Sèvres outdoors heißt und der jüngst verstorbene Sprachphilosoph Michel Serres beklagt: „Il y a plus de mots anglais sur les murs de Paris qu´il n´y avait de mots allemands sous l´Occupation“ ( Jaigu 2019), so versuchen die Académie Française und andere Organisationen, dagegen anzugehen und geeignete Neuschöpfungen für angelsächsische Lexeme im Französischen zu bilden: ordinateur für Computer ist einer der erfolgreichen Neologismen, andere scheinen eher missglückt. Freilich weist Michel Serres darauf hin, dass das Wort computer oder neu: comput aus dem Französischen stamme: compter (Serres & Polacco 2018: 57). In der Loi Toubon wurde vor 25 Jahren dem Öffentlichen Dienst untersagt, in offizi‐ ellen Verlautbarungen eine andere als die französische Sprache zu benutzen. Ein Kampf gegen Windmühlen? Zahlreiche Naturwissenschaftler beklagten daraufhin vehement, dass sie sich ins wissenschaftliche Abseits begäben, wenn sie, statt auf Englisch, in französischer Sprache Vorträge hielten oder Artikel publizierten. Niemand verstünde sie; das Französische als Wissenschaftssprache habe ohnehin abgewirtschaftet. Entsprechend habe Jean Tirole bei Gelegenheit der Entgegennahme des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften seine Dankesrede in englischer Sprache gehalten. Gegenwind frischt in jüngster Zeit auf, befördert durch den immer wieder aufgeschobenen, aber jetzt in greifbare Nähe gerückten, Austritt Großbritan‐ niens aus der Europäischen Union. Warum - so die Optimisten - sollte gerade jetzt das Englische in Europa noch die alles dominierende Sprache sein? „La nouvelle urgence est la préservation des éco-systèmes culturels“, schreibt Le Figaro. Die Diversität der Kulturen sei mithin das Gebot der Stunde, die „Einheit in der Vielfalt“. Dazu sei das Französische besonders geeignet, berge es doch eine Vielzahl von Wörtern aus ehemaligen Kolonialgebieten und anderen Ländern in sich und sei schon von daher eine Sprache der Multikulturalität: algèbre, algorithme und tarif stammten aus dem Arabischen, fourchette und sonate aus dem Italienischen, es gebe sogar Wörter aus dem Aztekischen: haricot (Serres & Polacco 2018: 54). In den französischen Tageszeitungen Le Figaro und Le Monde wird diese Hoffnung nicht einmal für unbegründet gehalten. Das Anwachsen der Bevöl‐ kerung in den alten Kolonialgebieten - vor allem im westlichen Afrika nördlich und südlich der Sahara - könnte die Grundlage einer neuen Frankophonie in der globalisierten Welt bedeuten: Die derzeit 274 Millionen Sprecher des Französischen als Erst- oder Zweitsprache sollen, so die Schätzungen, im Jahre 2050 auf 750 Millionen steigen. Dies würde die Bedeutung der französischen 221 Das Französische in der Debatte Sprache erheblich steigern - vorausgesetzt allerdings einerseits, alle diese Menschen betrachteten Französisch als ihre Muttersprache und nicht die lingua franca Englisch, und andererseits, sie vermischten das Französische nicht mit Elementen ihrer lokalen und regionalen Sprachen, wodurch das Französische das gleiche Schicksal erführe wie jetzt das Englische, nämlich seine Pluralisie‐ rung: Chinese English, Japanese English, Singapore English, Somali English, Kenia English, Caribbean English, Russian English etc. Dann wäre der Traum von einer Wiederbelebung des français pur endgültig ausgeträumt. 3 Das Französische als Grundlage des Englischen Als Wilhelm der Eroberer, Guillaume le Conquérant, im Jahre 1066 die Schlacht von Hastings mit seinem Heer gewonnen hatte und den Thron Englands bestieg, fand er eine Insel vor, die keine Einheitssprache hatte, sondern eine Vielzahl regionaler Varianten aufwies. Über dreihundert Jahre hinweg wurde Französisch so zur offiziellen Sprache. Doch der anglo-normannische patois war dem der Ile-de-France sehr ähnlich: Man verstand sich ohne Dolmetscher. Als sich später beide voneinander entfernten, brachen Streitereien um die Thronnachfolge in Paris aus: einer der Gründe für den Hundertjährigen Krieg zwischen England und Frankreich. Die dreihundertjährige Herrschaft Frankreichs aber hinterließ enorme Spuren im Englischen, übrigens bis zum heutigen Tage. Jenen Franzosen, die heute die Sorge um die, ihrer Meinung nach, zu vielen Fremdwörter aus dem Englischen in der französischen Sprache umtreibt, wird deshalb gern geantwortet, so schlimm sei es ja nun doch nicht bestellt. Schließlich gebe es jede Menge von englischen Wörtern, die in Wahrheit französischen Ursprungs sind. Sie verweisen auf Beispiele wie flirter, das auf das alte conter fleurette zurückgehe, ebenso management auf ménagement und mail auf das alte französische malle-poste. Andere französische Beispiele im Englischen seien: bottle / bouteille, tower / tour oder flower/ fleur (Gilbert 2019: 21). Sogar der Wahlspruch der britischen Monarchen seit Heinrich VI. sei französisch: Dieu et mon droit. Der Hosenbandorden des englischen Königshauses ziere noch heute manche Zeitung: Honi soit qui mal y pense, zu Deutsch: „Ein Schelm, wer Böses dabei denkt“. Obendrein entstamme die britische Hymne God save the Queen einem Lied von Jean-Baptiste Lully, einem Freund Molières, zu Ehren des Sonnenkönigs Ludwig XIV - aus allerdings frivolem Anlass entstanden. Der französische Theaterdichter Lorànt Deutsch fasst es in seinem Werk Romanesque so zusammen: 222 Lutz Götze „Les Anglais nous doivent 63 % de leur vocabulaire, les deux devises de leur royaume, et jusqu´à leur hymne! “ (Deutsch 2019: 51) Also kein Grund zur Besorgnis, alles nur ein Sturm im Wasserglas, ein Hirnge‐ spinst aufgeregter Sprachpuristen? Wohl doch nicht! 4 Conclusio Es steht zu befürchten, dass die Dominanz des Englischen - Brexit hin oder her - weltweit weiter zunehmen wird und das Französische in den Rang einer Drittsprache absinkt. Auch die Geburtenrate im frankophonen Afrika wird daran nichts ändern. Eher im Gegenteil: Ein Großteil der kommenden Generationen wird den Kontinent verlassen und Ausbildung oder Studium im anglophonen Teil der Welt anstreben. Sie werden auf junge Menschen aus der ganzen Welt treffen und mit ihnen konkurrieren müssen: in den Vereinigten Staaten von Amerika, in Kanada, in England sowie in Fernost, vor allem in Japan und China. Selbst in Europa gewinnt das Englische in Schule und Hochschule immer mehr an Bedeutung, da internationale Schulen und Universitäten in wachsendem Maße Kurse in englischer Sprache anbieten - übrigens allzu häufig bei miserabler Beherrschung des Englischen und entsprechend simplifizierter Argumentation -, weil sie der irrigen Meinung sind, damit ihren Zöglingen eine internationale Karriere zu ermöglichen. Ich habe - zusammen mit einer Vielzahl von Kollegen aus unterschiedlichen Philologien - zwar bereits vor Jahren auf diesen Unfug hingewiesen und betont, dass mit der Nivellierung oder gar Beseitigung der Wissenschaftssprache Deutsch auch die Wissenschaften selbst - egal, ob Natur- oder Geisteswissenschaften - beschädigt werden, zumal die Spitzenforschung Zug um Zug aus Deutschland verdrängt wird, doch unsere Rufe verhallten im Nichts. Genauer: Stattdessen haben Politik und Öffentlichkeit, in den deutschsprachigen Ländern wie in Frankreich oder in Polen, ihr Heil in einer forcierten Digitalisierung aller Bereiche des Lebens gesucht, mit zumindest drei Folgen: Zum einen ist das Englische die Sprache des Internets und wird es auch bleiben. Die neuen Medien festigen mithin die Position des Englischen und bauen sie aus. Zum Zweiten ist die Sprache der neuen Medien eine syntaktische wie seman‐ tische Verkürzung der Sprache bis hin zur Verrohung der Ausdrucksweise - im Deutschen wie im Französischen. Und zum Dritten führt eine derart reduzierte Sprache zur Verkümmerung geistiger Grundfertigkeiten wie dem Lesen und dem Schreiben bis hin zur Verblödung. Schon heute klagen Lehrer diesseits und jenseits des Rheins 223 Das Französische in der Debatte über erschreckende Lese- und Rechtschreibschwächen ihrer Schülerinnen und Schüler. Eine Besserung ist nicht in Sicht. Kein Postscriptum Und dennoch: Der Jubilar hat sich zeit seines Lebens und Wirkens für die Förderung der Mehrsprachigkeit und damit für eine Verbesserung des Französi‐ schen in Deutschland wie des Deutschen im westlichen Nachbarland eingesetzt und gekämpft. Sein Engagement im Deutsch-Französischen Sprachenrat und in anderen nationalen und internationalen Organisationen für ein besseres Stu‐ dium fremder Sprachen und damit Kulturen ist Legende und vielfach gewürdigt worden. Dies sei hiermit erneut geschehen. Denn Albert Raasch wusste von Anfang an, dass Einsprachigkeit eine Krankheit und also heilbar sei. Er wusste aber vor allem, dass Sprachen die Völker verbinden und Konflikte abbauen, ja: Kriege verhindern können. Dafür sei ihm gedankt! Literatur Bona, Dominique (2019). Il fallait prendre acte dans le vocabulaire de l’épanouissement de la femme dans la société. In: Le Figaro Magazine, 28 juin 2019. Paris, 50ff. Deutsch, Lorant (2019). Raconter l´histoire du français, c´est comme visiter un monu‐ ment. In: Le Figaro Magazine, 28 juin 2019. Paris, 54f. Gilbert, Muriel (2019). Le français, langue officielle de l’Angleterre. In: Le Monde 16 juillet 2019. Paris, 21. Jaigu, Charles (2019). Écriture inclusive, orthographe SMS, anglais… La langue française fait de la résistance. In: Le Figaro, 27 / 06 / 2019. (www.lefigaro.fr/ langue-francaise/ actu-des-mots/ ecriture-inclusive-orthograp he-sms-anglais-la-langue-francaise-fait-de-la-resistance-20190627; 04/ 07/ 2020). Serres, Michel (2014). Éloge de la philosophie en langue française. Paris : Champs essais. Serres, Michel & Michel Polacco (2018). Défense et illustration de la langue française aujourd’hui. Paris : Editions Le Pommier / Humensis. 224 Lutz Götze 1 Est spécifique une cooccurrence de deux ou plusieurs mots lorsque sa fréquence dans un corpus dépasse la fréquence prévisible sur la base d’une distribution aléatoire des mots. Pour déterminer le degré de spécificité d’une combinaison de mots, nous utilisons le calcul probabiliste de « log likelihood ». Cooccurrences spécifiques dans la presse francophone africaine et hexagonale Peter Blumenthal 1 Cooccurrences de mots et associations verbales Comme le rappelle Albert Raasch dans une contribution parue en 2003, on peut observer le langage sous deux aspects complémentaires, qu’il appelle « Sprach‐ konzepte » : le langage soit en tant que système soit en tant qu’activité sémiotique du locuteur désireux de s’exprimer. On sait que la paternité de ce principe d’opposition, qui a connu de nombreux avatars depuis le début du 19 e s., est souvent attribuée à W. von Humboldt (ergon et energeia). Mais on sait aussi que la linguistique du dernier demi-siècle s’est moins intéressée aux deux pôles de cette opposition qu’aux zones intermédiaires, celles qui relèvent, à des degrés divers, des deux aspects à la fois, comme les « normes » de Coseriu (1952). Nous nous référons à cette théorie rediscutée par Raasch parce qu’elle nous fournit des repères pour l’étude des thèmes qui nous intéressent ici, à savoir les cooccurrences et les associations. L’affinité entre les deux conceptions du langage mentionnées et nos sujets consiste en ceci : le phénomène des cooccur‐ rences spécifiques comporte des traits qui le rapprochent du pôle systématique (‘ergon’), alors que les associations se prêtent à une interprétation dans laquelle prévaut l’aspect de production (‘energeia’). Par ‘cooccurrences spécifiques 1 ’, nous entendons des groupements de mots présents au niveau des textes ; il s’agit, plus précisément, de combinaisons plus ou moins stéréotypées, parfois figées, appartenant, en principe, à l’usage collectif. Les associations au sens psychologique du terme sont des unités mentales, souvent susceptibles d’être verbalisées, dont l’émergence peut varier d’un individu à l’autre. Toutefois, 2 Problème discuté par De Deyne e.a. (2019) pour l’anglais. 3 Comme le Dictionnaire des combinaisons de mots, Paris : Le Robert, 2007. malgré ces orientations opposées (collectif vs individuel), les deux phénomènes peuvent se recouvrir partiellement 2 . Il existe de nombreux points communs entre les études consacrées à ces deux phénomènes : • Elles peuvent conduire à des documentations lexicographiques : à des dictionnaires d’associations évoquées par les mots, d’une part, à tout un ensemble de dictionnaires renseignant sur divers aspects de la com‐ binatoire 3 ; d’autre part, ces études révèlent par ailleurs une identité partielle des phénomènes en question, dans la mesure où une partie de nos associations libres et supposées spontanées reposent en réalité sur nos souvenirs de combinaisons entendues (cf. Le Ny 2005 : 218-231 ; ex. : manger - pain). • En linguistique appliquée, ces travaux permettent l’élaboration de maté‐ riaux pour l’enseignement d’une langue étrangère. • Sur un plan plus théorique, elles peuvent contribuer aux recherches sur les variétés d’une langue et à la tentative de caractériser ces dernières selon des critères cognitifs (cf. Blumenthal 2013). Une telle caractérisation impliquerait l’analyse de ce que les associations et les combinaisons typiques au sein d’une communauté linguistique peuvent nous montrer sur l’interprétation des choses du monde (« univers imaginaire ») au sein de la variété. Compte tenu de toutes les convergences et complémentarités méthodologiques entre les deux approches mentionnées, lesquelles représentent des stratégies aptes à jeter un jour nouveau sur l’organisation du lexique dans certaines variantes du français, on peut attendre, à moyen terme, des avantages de leur synergie. La comparaison des résultats des deux enquêtes devrait nous montrer si ceux-ci se confirment ou s’infirment réciproquement et indiquer dans quelle mesure ils sont complémentaires ou incompatibles. Cependant, faute d’études systématiques sur les associations, les conditions d’une telle exploitation contrastive des résultats ne sont pas encore réunies pour la partie de la francophonie qui sera bientôt, numériquement, la plus importante et qui nous intéresse de plus près ici : le français en Afrique. En attendant, nous essaierons de déblayer le terrain par quelques tests préa‐ lables et mettrons au point une méthode applicable à l’étude des cooccurrences spécifiques, qui permettra de décrire un domaine sémantique dans deux variétés 226 Peter Blumenthal du français. Le tout en espérant créer ainsi, à plus longue échéance, les préalables d’une comparaison avec les résultats des tests d’association. 1.1 Un premier exemple : désir Pour illustrer les affinités entre associations et cooccurrences, nous commen‐ çons par nous pencher sur le cas du nom désir. Dans le Dictionnaire des associations verbales du français (2008), désir (n° 985) comporte une série d’associ‐ ations qui correspondent partiellement aux cooccurrents les plus fréquents (pas forcément les plus spécifiques) du même mot dans certains corpus électroniques, comme celui des romans de Proust. Dans ce Dictionnaire, les noms amour et plaisir se trouvent également au nombre des accompagnateurs les plus en vue. Reste une différence de taille entre les deux types de regroupements de mots : l’article 985 montre que les sujets testés ont largement retenu l’acception érotique ou sexuelle de désir, laquelle a guidé leurs associations - de façon bien compréhensible. Certes, l’univers sémantique de Proust, fortement érotisé, va dans le même sens. Mais les grands ensembles de textes moins « polarisés » sur la sexualité reflètent toute la polysémie du mot-pivot ; ainsi, dans les romans français de la deuxième moitié du XX e siècle, le profil combinatoire de désir comporte bien moins de cooccurrences de type sexuel que la Recherche de Proust. Puisque la polysémie fait partie de la structure de pratiquement tout mot, il importe, pour certaines recherches, d’avoir en vue les associations libres d’un mot autant que ses cooccurrents, les deux listes pouvant être en intersection ou complémentaires. 1.2 Problèmes de comparabilité Dans ces comparaisons entre cooccurrences et associations, il convient cepen‐ dant de tenir compte de l’éventuelle polarité entre l’individuel (l’auteur d’un texte, le sujet d’expérience d’un test d’association) et le plus ou moins collectif (les habitudes associatives de groupes représentatifs de la société). Car du moins dans les corpus littéraires, on rencontre parfois des préférences combinatoires totalement caractéristiques d’un seul individu, qui reflètent une volonté stylis‐ tique ou rhétorique, par exemple la propension à certaines images. La même observation vaut pour les associations : celles-ci peuvent ne renvoyer qu’aux particularités psychiques d’un individu. Il apparaît donc clairement que, dans ces études, une grande prudence méthodologique s’impose : les cooccurrences spécifiques calculées pour un certain corpus ou même pour tous les corpus existants ne permettent jamais de conclure à ce qui se passe à un niveau aussi général que celui de la « langue » au sens saussurien. En revanche, elles nous permettent de nous faire une idée des habitudes combinatoires existant au 227 Cooccurrences spécifiques dans la presse francophone africaine et hexagonale 4 Cf. Bilhaut 2007 sur les relations entre thème et univers de discours. 5 Une excellente étude de l’espace variationnelle se trouve dans Berruto 1986 ; v. surtout le chapitre sur les facteurs situationnels de la variabilité, auxquels appartiennent l’intention communicative et les domaines thématiques (152-197). 6 Toutefois, les psychologues ont noté dès les années 1960 que des facteurs comme l’âge et le sexe influent sur le comportement associatif (cf. Hörmann 1977 : chap. VI (71-86)). niveau d’un journal, des journaux d’un pays, peut-être même de l’ensemble de la presse francophone. Par ailleurs, ces exemples devraient nous inciter à procéder à des différenciations supplémentaires, puisque l’on peut observer, pour de nombreux mots, que la combinatoire stéréotypée varie fortement, dans le même journal, selon la rubrique thématique. Ces quelques réflexions suffisent pour esquisser les contours d’une future discipline linguistique dédiée à l’étude variationnelle de la combinatoire des mots. Les normes sous-jacentes à cette combinatoire dépendent entre autres du style personnel et des différents rôles sociaux du locuteur, du média (qui peut être le message, comme nous le savons depuis McLuhan (1993), du type de texte, de l’intention communicative, des domaines thématiques et des univers de discours 4 , pour ne pas parler des variantes diastratiques, diatopiques et diaphasiques telles que Coseriu (1976 : 27) les a analysées. 5 Quant aux expériences d’association, il est fort possible qu’elles dépendent de variables moins nombreuses, étant donné que les variétés relevant du type de texte, de l’intention communicative et du thème traité se trouvent neutralisées ou réduites à une sorte de degré zéro de la production langagière. 6 C’est bien ce dernier phénomène qui fait apparaître les limites de la comparabilité entre associations et cooccurrences. La prise en compte de tous les facteurs de variation mentionnés ci-dessus constituerait, dans le cas des cooccurrences, une grille d’analyse si lourde que les arbres empêcheraient de voir la forêt. La forêt qui nous intéresse ici est africaine ; elle représente plus particulièrement la combinatoire de certains noms dans la presse de l’Afrique subsaharienne comparée à la combinatoire des mêmes mots dans la presse de la France. Ce projet de confronter globalement deux mondes journalistiques n’est pas sans susciter des objections d’ordre méthodologique : les différences stylistiques à l’intérieur de chacune de ces sphères ne sont-elles pas trop importantes pour autoriser la comparaison des deux grands corpus régi‐ onaux (v. ci-dessous 3.) ? En effet, si la variance statistique des phénomènes était importante à la fois en Afrique et en France, la comparaison de valeurs moyennes calculées pour chacune des zones géographiques n’aurait pas beaucoup de sens. Or, l’homogénéité à l’intérieur de chacun des deux groupes de journaux s’est avérée relativement forte, et cela sur la base de calculs statistiques mettant en 228 Peter Blumenthal relief les scores de similarité entre les voisinages des noms étudiés. Ceux-ci proviennent du domaine de la vie psychique et en particulier de l’affectivité, d’une sphère dont on aurait pu penser que les traits communs l’emportent sur les dissemblances dues aux conditions de vie en Afrique et en Europe. La réalité linguistique que nous allons découvrir dément souvent cette attente. 2 Types de cooccurrences Pour classifier les combinaisons qui caractérisent les mots à comparer, nous avons besoin de critères. Dans la présente étude pilote, nous pourrons nous contenter de quelques considérations sur l’origine des cooccurrences, leur degré de généralité, leur contribution à la mise en perspective des référents et les domaines thématiques dont elles relèvent. 2.1 Linguistique vs extralinguistique Le fait que certains mots se trouvent associés de façon plus ou moins stéréotypée sur l’axe syntagmatique peut s’expliquer par deux types de causes, linguistiques ou extralinguistiques (cf. Le Ny 2005 : 229-231). Les causes linguistiques corre‐ spondent au figement, donc à la combinatoire préfigurée par les structures inhérentes au système de la langue, à la norme collective ou à différentes formes d’usage ; appartiennent à cette rubrique, entre autres : • les cooccurrences se retrouvant dans les proverbes, les locutions et les expressions toutes faites (casser + pipe, casser + tête, damer + pion), • les constructions à verbe support (faire + proposition, porter + plainte, partir + en voyage), • les collocations (souvenir + impérissable, retirer + argent). • Les causes extralinguistiques correspondent : • soit aux rapports entre les référents dans le monde des objets (ainsi dans le cas des contiguïtés spatiales comme chaise + table) et des évènements (cf. les composantes de schémas d’action du type répondre + à une question, manger + au restaurant), • soit à la volonté d’un auteur ou d’un groupe de personnes de favoriser quantitativement des cooccurrences pour promouvoir une certaine vision de la réalité auprès du destinataire, par exemple dans un but idéologique (cf. Klemperer 1975 : 41). Face à cette ébauche de classification des cooccurrences spécifiques basée sur l’opposition entre les conditionnements linguistique et extralinguistique se pose le problème de certains types de combinaisons syntagmatiques qui 229 Cooccurrences spécifiques dans la presse francophone africaine et hexagonale 7 Dont le cas quantitativement très important des locutions propres à certaines régions, par exemple faire la propreté ‘nettoyer’ en français camerounais. ne semblent clairement ressortir à aucun des deux pôles. Cela vaut pour les antonymes (bon / mauvais, vendre / acheter) ou les mots dont les référents appartiennent à la même classe (pomme / poire, les jours de la semaine). Nous postulons pour ces cooccurrences un statut intermédiaire entre les deux formes de conditionnement, puisqu’elles sont liées d’une part par une relation sémantique, donc linguistique (par exemple l’antonymie), de l’autre par une relation extralinguistique, puisqu’elles réfèrent à des objets ontologiquement comparables et souvent contigus. Les catégories traitées ci-dessus comportent deux dimensions transversales qui nécessitent des présentations à part : les oppositions entre le collectif et l’individuel (2.2) et entre les perspectivisations fortes ou faibles (2.3). 2.2 Usage général vs usage particulier Les cooccurrences spécifiques relevées dans les textes analysés peuvent être communes à un grand nombre de corpus divers ou bien n’appartenir qu’à un usage particulier, voire à celui d’un seul auteur. Le pôle de plus grande généralité est constitué soit par des figements, donc des structures inhérentes à la langue, soit par des cooccurrences de type extralinguistique avec un emploi commun à un maximum de variétés du français ; ce dernier usage reflète la perception de la réalité qui se rapproche du bon sens commun à l’intérieur de la communauté des locuteurs. Au pôle opposé, celui des particularismes, correspond un type de cooccurrence idiosyncrasique, restreint à ce que l’on a pu appeler le langage privé d’un individu. Face à ces pôles, dont la définition relève provisoirement plus d’une vision de l’esprit que d’une recherche à base empirique, la linguistique devra essayer de déterminer les critères permettant de classifier le nombre quasiment infini de réalités intermédiaires 7 entre le tout à fait général et le strictement particulier - tâche à laquelle nous ne nous astreindrons pas dans le cadre de cette contribution. Pour illustrer des cooccurrences particulières au sens indiqué, des combinai‐ sons donc qui portent la marque des habitudes d’association propres à un individu ou un groupe de personnes, on peut penser à tel romancier ou poète qui a tendance, dans un acte de création littéraire, à favoriser le rapprochement de deux domaines de la réalité, correspondant à deux champs sémantiques. La probabilité est grande alors de rencontrer dans son œuvre des cooccurrences spécifiques de représentants de deux domaines thématiques que le commun des mortels ne s’aviserait pas forcément de fusionner. Voici un exemple de 230 Peter Blumenthal 8 En français, on parlerait peut-être mieux de « mise en perspective », définie par le Petit Robert (1993 : 1646, sous perspective) ainsi : « Mettre qqch. en perspective, en exposer toutes les dimensions et présenter l’arrière-plan, le contexte. » 9 Cf. Geeraerts & Cuyckens (2007: 6) : « The perspectival nature of linguistic meaning implies that the world is not objectively reflected in the language: the categorization function of the language imposes a structure on the world rather than just mirroring objective reality. Specifically, language is a way of organizing knowledge that reflects the needs, interests, and experiences of individuals and cultures. » cette situation : dans quelques romans, Claude Simon montre une véritable prédilection pour des comparaisons et des métaphores mettant en jeu les équidés et les femmes (cf. Blumenthal 2006) - parallèle qui ne semble pas faire écho aux correspondances prévues par le lexique mental collectif. À un degré de particularité bien moindre, on peut évoquer les cas, plus banals, d’endoctrinement politique ou idéologique qui se fondent sur l’alliance, conclue pour les besoins de la cause, entre des mots que l’on voit plus rarement ensemble dans la vie non politique. Ainsi, la cooccurrence fréquente entre amour et des noms du type patrie et nation dans la presse africaine s’explique évidemment par les trop nombreuses citations de beaux discours patriotiques tenus par les grands ténors de la vie publique. Dire que dans la presse hexagonale, la combinaison la plus typique d’amour est histoire d’amour… Les univers de discours dans lesquels figure ce nom semblent bien différents. 2.3 Perspectivisation 8 forte vs perspectivisation faible À la différence de l’opposition essentiellement quantitative traitée à la dernière section, le problème de la perspectivisation est d’ordre qualitatif. Nous enten‐ dons par perspectivisation, phénomène souvent étudié par les cognitivistes, le fait que les accompagnateurs spécifiques d’un mot à l’intérieur d’un corpus thématiquement à peu près cohérent peuvent refléter une certaine vision du référent du mot-pivot. 9 Cette orientation peut aller de pair avec la sélection préférentielle d’une acception du mot-pivot. Commençons par un exemple très simple de perspectivisation déjà mentionné ci-dessus : si le nom amour se présente si spécifiquement avec histoire, c’est que ce dernier mot représente pour ainsi dire l’unité de mesure appropriée à ce que la communauté linguistique entend de façon plus ou moins prototypique par « amour », à savoir une réalité de quelque durée, mais limitée dans le temps. L’histoire d’amour normale n’est probablement ni la douce et perpétuelle relation entre Philémon et Baucis ni une unique et furtive rencontre galante, mais un enchaînement progressif de faits qui connaît un début, un milieu et… une fin digne de ce nom, représentant davantage qu’une simple cessation des activités. Bref, la remarquable fortune de la combinaison ‘histoire’ + ‘amour’, du 231 Cooccurrences spécifiques dans la presse francophone africaine et hexagonale 10 Cf. « en fait il s’est imaginé que j’étais devenue froide et ça l’a horriblement blessé dans son amour-propre » (S. de Beauvoir). moins dans le monde occidental, en dit long de l’idée que l’on se fait couramment de l’amour érotique (à ne pas confondre avec le très durable amour de la patrie, jadis si important en Europe et toujours prisé par de nombreux orateurs en Afrique (v. ci-dessous). Après cette illustration d’un exemple de perspectivisation rudimentaire, passons à des situations plus complexes. Dans les romans français de la deu‐ xième moitié du XX e siècle documentés dans la base Frantext, le nom composé amour-propre est souvent entouré de mots qui véhiculent une certaine vision du référent, vision dont la longue définition du mot donné par le Petit Robert fournit des éléments d’explication : Sentiment vif de la dignité et de la valeur personnelle, qui fait qu’un être souffre d’être mésestimé et désire s’imposer à l’estime d’autrui. Conformément à cette signification, les contextes stéréotypés d’amour-propre mettent souvent en relief des facteurs qui risquent de porter atteinte à ce sentiment ou qui spécifient les réactions de l’individu qui voit sa dignité menacée. 10 La perspectivisation par le contexte n’est que le reflet linguistique de la vision du référent dans un imaginaire collectif : comment s’offre-t-il à la perception de l’observateur, quel est son environnement factuel et son rôle dans l’enchaînement des causes et des effets ? La perspectivisation résulte ainsi d’une certaine construction conceptuelle du référent, en général abstrait, ainsi que de la manière conventionnelle d’exprimer celle-ci par des mots. Mais puisque les mots et les concepts qu’ils véhiculent sont indispensables dès la phase de la construction du référent, de même que l’imagination des objets qui l’entourent dans le monde réel, la perspectivisation se situe au-delà de l’opposition entre le linguistique et l’extralinguistique. Le type de perspectivisation consacré par l’usage général doit être distingué des visions de la réalité qu’essaient d’imposer les cooccurrences réitérées qui émanent exclusivement soit d’un individu, soit d’un groupe de personnes (usage particulier, cf. ci-dessus 2.2). Celles-ci semblent toujours correspondre à la volonté de construire une certaine perspective de la réalité. Nous avons insisté ci-dessus sur la relation entre l’environnement stéréotypé du mot-pivot et la conceptualisation de son référent. Cette relation est probab‐ lement faite d’interactions entre le mot-pivot et son voisinage, dans la mesure où les accompagnateurs attitrés du mot représentent à la fois des symptômes de sa perspectivisation habituelle et des facteurs qui contribuent à rendre celle-ci 232 Peter Blumenthal 1) 2) 3) explicite. Mais n’oublions pas que les cooccurrences les plus spécifiques ont souvent un caractère banal et ne servent qu’à l’actualisation du mot-pivot. Cela vaut par exemple pour le cas d’une grande partie des verbes supports, comme dans le cas de la combinaison faire + amour qui est dans beaucoup de corpus presque aussi spécifique que celle d’histoire + amour. Souvent, les combinaisons privilégiées ne comportent donc pas une mise en perspective particulière du référent du mot-pivot. Nous plaidons donc pour une conception graduelle de l’apport de la combinatoire à la perspectivisation, qui peut être plus ou moins forte. 2.4 Bilan provisoire Pour caractériser les cooccurrences spécifiques, nous avons retenu jusqu’ici trois paramètres : leur conditionnement par des facteurs linguistiques (figement) ou extralin‐ guistiques leur nature plus ou moins collective la force de la perspectivisation. Nous avons vu qu’il s’agit dans chacun des cas d’oppositions graduelles : 1) il existe des sphères de transition entre le linguistique et l’extralinguistique ; 2) on peut imaginer une infinité de solutions intermédiaires entre le collectif (par exemple une cooccurrence spécifique dans l’ensemble de la francophonie) et l’individuel (dans le cas extrême, le tic linguistique d’une personne) ; 3) entre une combinaison grammaticalisée ou lexicalisée, vidée de toute capacité à orienter la perception du référent, et une forte mise en perspective de celui-ci par le voisinage stéréotypé du mot pivot, de nombreux degrés sont possibles. L’un des intérêts de cette classification est de fournir des critères pouvant ori‐ enter la recherche dans les corpus. Puisque nous avons pour but de dégager des différences entre des variétés du français, notre point de départ sera quantitatif et s’articulera sur la dimension 2). Une fois certaines particularités combinatoires établies, nous demanderons dans quelle mesure celles-ci correspondent à des facteurs linguistiques ou extralinguistiques (dimension 1) ou à une mise en perspective particulière (dimension 3). À titre d’exemples de résultats possibles pour les dimensions 1) et 3), on peut imaginer des cooccurrences à motivation extralinguistique dues à telle réalité d’un pays africain n’ayant pas d’équivalent en France (régime à parti unique, conflits interethniques) ; ou bien des combinaisons de mots stéréotypées référant au mode de scrutin français. Quant au conditionnement linguistique en tant que facteur de différenciation au sein du monde francophone, on 233 Cooccurrences spécifiques dans la presse francophone africaine et hexagonale relèvera de nombreuses constructions figées (locutions, proverbes) propres à certaines zones (faire son plein d’œuf ‘être plein à craquer’ au Cameroun). En ce qui concerne enfin la perspectivisation, nous avons déjà attiré l’attention sur l’importance de ce phénomène dans le domaine affectif. 2.5 Types de procès Puisque nous considérons avec Halliday & Matthiessen (2004 : 170) que les types de propositions, axées sur diverses classes sémantiques de prédicats, participent de la construction et de la modélisation de notre expérience, nous faisons l’hy‐ pothèse que les domaines de la réalité correspondant aux divers types de procès sont a priori pertinents pour la formation de cooccurrences et d’associations caractéristiques de divers corpus. Nous tenons donc ces types pour des cadres dans lesquels l’analyse comparée de la combinatoire des mots peut se révéler particulièrement fructueuse. Halliday & Matthiessen (2004 : 248) distinguent les types de procès suivants (nous maintenons la terminologie anglaise) : « mate‐ rial », « mental », « relational », « behavioural », « verbal » et « existential ». Sans avoir étudié méthodiquement les convergences et divergences entre les journaux hexagonaux et africains sur la base de ces six domaines ontologiques, nous pouvons souligner dès maintenant l’intérêt réel de ces distinctions pour nos recherches, et cela surtout à propos de la sphère « verbale » (ou « com‐ municative »). Il s’est en effet avéré que de nombreux noms de nos corpus, surtout dans la sphère psychique, s’accompagnent de préférence de verbes de communication (ou de refus de communication) et désignent des actes de langage : exprimer sa joie, réaffirmer sa volonté, cacher son malaise etc. Nous verrons en particulier que les habitudes combinatoires peuvent diverger de ce point de vue en Afrique et en Europe, puisque certains noms se combinent de façon spécifique avec des verbes communicatifs dans l’une des régions du monde francophone, avec d’autres verbes ailleurs. Dans ce qui suit, nous parlerons de « voisinage communicatif » pour désigner une combinatoire qui reflète le fait d’exprimer (ou le refus de le faire) les objets du monde extérieur ou intérieur par un acte de langage. 3 Corpus Pour notre comparaison entre cooccurrences spécifiques dans des textes prove‐ nant d’Afrique noire et de l’ancienne métropole, nous nous servirons de corpus de presse (Diwersy 2010), en attendant de les compléter par des corpus littéraires que nous sommes en train de constituer en scannant des romans francophones africains. Pour l’Afrique, nous nous appuierons sur un échantillon de la presse 234 Peter Blumenthal francophone d’environ 40.100.000 de mots, comportant Cameroon Tribune (2005, 2006, 2008), Mutations (2007, 2008 ; camerounais), Fraternité Matin (2007, 2008 ; ivoirien) et Le Soleil (2007, 2008 ; sénégalais). Ce corpus sera comparé à divers journaux hexagonaux, nationaux ou régionaux. Pour disposer d’un corpus hexagonal (39.600.000 de mots) équivalent à l’africain sur le plan quantitatif, nous avons réuni la moitié d’une année du Monde (les mois pairs de l’année 2002, 12.800.000 de mots) et une année de Sud Ouest (année 2002, 26.800.000 de mots) - en espérant parvenir, grâce à ce mélange de styles sensiblement différents, à un regroupement de textes à peu près représentatifs des diversités qui se rencontrent dans la presse de France. 4 Études de cas 4.1 Amour Commençons par l’étude de l’environnement d’un nom dont l’usage semble hyper-ritualisé, parce qu’instrumentalisé idéologiquement dans la presse afri‐ caine (v. ci-dessus 2.2) : amour. Tableau 1: Cooccurrents spécifiques d’amour dans un échantillon de presse africaine (fenêtre de 5 mots à gauche [= G] et à droite [= D], noms, verbes, adjectifs, prépositions) 235 Cooccurrences spécifiques dans la presse francophone africaine et hexagonale Après la préposition pour, servant de charnière entre le mot-pivot et ses arguments, se présentent dans le contexte droit quelques noms à connotation positive, dont la valeur idéologique (politique et/ ou religieuse) apparaît à l’évidence : patrie, prochain, Dieu, solidarité, tolérance, pardon. Le nom paix, placé à gauche, appartient au même paradigme sémantique. Voici quelques citations susceptibles d’illustrer le type de contexte : […] des dizaines de milliers d’élèves des écoles primaires ont entretenu l’assistance par les chants patriotiques aussi engagés les uns que les autres soutenus par les thèmes faisant la référence à la conscience civique des Camerounais : l’amour de la patrie, la fierté nationale, l’honnêteté, la lutte contre la corruption etc. (Cameroon-Tribune 2005) Dans ce processus si important de l’histoire de la Côte d’Ivoire, elle [Miss Côte d’Ivoire] entend parcourir le pays, de concert avec le ministère de la Réconciliation nationale, pour parler de paix, d’amour, de pardon et de fraternité aux jeunes. (Fraternité Matin 2008) Il n’est pas inintéressant de noter qu’amour s’emploie typiquement au sein de coordinations avec ses accompagnateurs attitrés, auxquels il est lié par une affinité paradigmatique. Dans Le Monde, nous rencontrons une image presque totalement différente de l’environnement d’amour. Tableau 2: Cooccurrents spécifiques d’amour dans Le Monde 2002 (fenêtre de 5 mots à gauche [= G] et à droite [= D], noms, verbes, adjectifs, prépositions) 236 Peter Blumenthal Le profil combinatoire du même mot dans Sud Ouest 2002, qui débute également par histoire, ressemble à celui du Monde. Les valeurs érotiques des mots du voisinage sautent aux yeux : histoire d’amour, amour fou, déclaration d’amour, faire l’amour etc. Ces mêmes valeurs, sans être inexistantes dans la presse africaine (v. la troisième place d’histoire au tableau 1.) n’y occupent que les rangs inférieurs du profil calculé pour les 50 accompagnateurs les plus spécifiques. Que faut-il conclure à cet égard de la comparaison entre presse africaine et presse hexagonale ? Il nous semble probable que le paradigme des accompagnateurs d’ordre politique dans la presse africaine représente un pur produit de la propagande faite par les détenteurs du pouvoir et ne reflète pas nécessairement le comportement associatif du locuteur moyen. Mais si l’on voulait dépasser dans ce domaine le stade des hypothèses, il faudrait s’appuyer sur d’autres données, par exemple les profils combinatoires obtenus à partir de corpus africains littéraires ou des expériences d’association auprès d’un échantillon représentatif de la population. Jusqu’à preuve du contraire, nous considérons donc que la combinatoire affichée au tableau 1 correspond à un « usage particulier » (v. plus haut 2.2) et à une forte perspectivisation (v. 2.3) du mot amour, utilisé à des fins de manipulation. Tout ceci concourt à montrer que le profil combinatoire africain relève d’un conditionnement extralinguistique. 4.2 Tristesse La tristesse n’étant guère un sentiment idéologiquement exploitable, la compa‐ raison des profils offre davantage de chances que le cas d’amour de renseigner sur des sensibilités authentiques différant d’un continent à l’autre. Les diffé‐ rences combinatoires qui se manifestent sont d’ailleurs trop subtiles pour pouvoir faire l’enjeu d’une manipulation politique de gros calibre. Observons d’abord les accompagnateurs les plus spécifiques (avec indication de la zone gauche ou droite et du score de log likelihood) : Presse africaine : 1 : (se) lire (D) : 339 ; 2 : désolation (D) : 293 ; 3 : avec (G) : 194 ; 4 : profond (G) : 163 ; 5 : grand (G) : 150. Le Monde 2002 : 1 : profond (G) : 109 ; 2 : exprimer (G) : 97 ; 3 : colère (D) : 79 ; 4 : avec (G) : 74 5 : infini (G) : 72. Sud Ouest 2002 : 1 : avec (G) : 249 ; 2 : colère (D) : 70 ; 3 : apprendre (G) 59 ; 4 : disparition (D) ; 5 : infiniment (G) : 54. La combinatoire de tristesse dans Sud Ouest est hautement stéréotypée, étant donné que quatre sur cinq des accompagnateurs les plus spécifiques appartien‐ nent au même type de phrase standard des nécrologies : « c’est avec infiniment de tristesse que nous apprenons la disparition de […] ». 237 Cooccurrences spécifiques dans la presse francophone africaine et hexagonale Le seul mot se trouvant en dehors de ces phrases toutes faites est colère, en très bonne position aussi dans Le Monde. Voici deux exemples typiques de la cooccurrence tristesse/ colère dans les quotidiens hexagonaux : S. F. avoue un mélange de tristesse et de ‹ très grande colère › (Sud Ouest 2002) Les socialistes ont dit leur tristesse et leur colère, hier soir. ‹ Après la tristesse et la colère du 21 avril, personne ne s’est démobilisé. Au contraire ›. Nombreux débats. Il s’agit en effet la plupart du temps de coordinations des deux noms, qui désignent le vécu de personnes exprimant leurs émotions ; le verbe exprimer figure d’ailleurs au deuxième rang des accompagnateurs dans Le Monde. En revanche, l’accompagnateur verbal de loin le plus spécifique de tristesse, souvent coordonné avec désolation, dans la presse africaine est (se) lire, exprimer étant très rare ; exemples : La tristesse et la désolation se lisent encore sur le visage du couple Samè Mboulè. La voix s’étrangle lorsque Jacques Samè évoque les circonstances de la mort de son fils de 18 mois. Samedi matin, la tristesse se lisait sur le visage des commerçants, propriétaires des établissements ainsi sinistrés. D’une manière générale, la tristesse est moins un sentiment exprimé qu’une attitude relevée par des observateurs extérieurs. Le référent de tristesse est donc vu sous des angles opposés, subjectif en France, objectif en Afrique. Chacune des perspectives pourrait se combiner avec l’un ou l’autre des ac‐ compagnateurs nominaux spécifiques, colère ou désolation. Mais quand on regarde bien les contextes, on se rend compte que colère va dans le sens d’une subjectivité exprimée qui prélude à une éventuelle réaction au malheur arrivé, alors que désolation renforce l’idée de prostration causée par une catastrophe. Ces quelques observations sur les accompagnateurs les plus spécifiques, qui relèvent de réseaux associatifs différents, donnent à penser que le référent de tristesse correspond à des perspectivisations différentes dans nos corpus africains et hexagonaux : la tristesse des journaux africains ne semble pas être la même que celle de la presse hexagonale. Il est vrai qu’une telle explication par la perspectivisation a quelque chose de provisoire, sorte de bouche-trou en attente d’une analyse psychosociale plus fine. 238 Peter Blumenthal 4.3 Solitude Solitude, le troisième mot dont nous allons discuter dans cette série, ne désigne pas un sentiment, mais une situation ou un état. Sa pertinence affective ressort du fait qu’il entre souvent dans le syntagme sentiment de solitude. L’étude comparée de solitude soulève un problème méthodologique en raison de l’énorme différence fréquentielle entre les corpus africain (87 occurrences) et hexagonal (563 occurrences) : dans la presse africaine, solitude est un mot rare. Et pourtant, 87 occurrences auraient statistiquement suffi pour établir un profil combinatoire approximatif… si ces emplois ne se signalaient pas par une grande particularité : ils proviennent majoritairement soit de citations de personnalités françaises soit de contextes où il est question de littérature (surtout l’Étranger de Camus) ou d’art français. Ainsi, dans un effort certainement louable, les nègres du président Sarkozy ont-ils essayé de tenir compte, dans la préparation de discours à prononcer lors de voyages en Afrique, des sentiments qu’ils supposaient auprès d’Africains. Cette tentative donne des phrases du type suivant à propos des jeunes candidats à l’émigration : […] pour laisser derrière soi les lieux familiers où l’on a été heureux, l’amour d’une mère, d’un père ou d’un frère et cette solidarité, cette chaleur, cet esprit communautaire qui sont si forts en Afrique. Je sais ce qu’il faut de force d’âme pour affronter le dépaysement, l’éloignement, la solitude. Je sais ce que la plupart d’entre eux doivent affronter comme épreuves, comme difficultés, comme risques. (N. Sarkozy cité par Le Soleil 2007) Puisque ce discours présidentiel a été cité ou paraphrasé à maintes reprises dans la presse africaine, dépaysement et éloignement comptent parmi les ac‐ compagnateurs les plus spécifiques de solitude dans le corpus africain. Or, tout cela n’est qu’une douce illusion, due à l’effort d’empathie fait par un Européen en Afrique. Vu que le corpus journalistique ne fournit pas de résultats exploitables sur solitude, j’ai essayé d’explorer les associations autour de ce mot par quelques conversations avec des amis africains, en l’occurrence guinéens. J’ai cru comprendre que la solitude, dans un environnement africain, peut passer pour le stigmate du « méchant », isolé par ses congénères. Dans la presse hexagonale, solitude est la fois fréquent et très typé quant à son voisinage. Ainsi dans Sud Ouest, les accompagnateurs les plus spécifiques de solitude sont rompre, briser, isolement, souffrir, grand, pesant, vulnérabilité. Exemple : Dans l’appartement d’en face, une dame est seule. Il est 10 heures et elle attend lundi. Pour rompre sa solitude, les bénévoles de la société Saint-Vincent-de-Paul et des 239 Cooccurrences spécifiques dans la presse francophone africaine et hexagonale équipes Saint-Vincent organisent, une fois par mois, un ‹ dimanche pour tous ›, un moment de partage et d’amitié autour d’une animation. Depuis longtemps, la solitude a été reconnue comme l’un des fléaux de nos sociétés occidentales modernes, et toute commune ou paroisse française qui se respecte propose des programmes pour combattre surtout l’isolement des personnes âgées. Mais dans les sociétés africaines, le phénomène de la solitude semble trop exotique pour qu’une perspectivisation élaborée, fondée sur une combinatoire plus ou moins stéréotypée, se mette en place. 4.4 Volonté Que l’on n’imagine pas, sur la foi des exemples discutés jusqu’ici, que la combinatoire des mots du vaste domaine psychique suive toujours des voies divergentes en Afrique et en Europe. Les contraintes liées au jargon prédomi‐ nant du genre de texte ou à la thématique traitée peuvent être si fortes que nous nous trouvons face à des profils combinatoires presque identiques dans les deux corpus. Cette observation vaut pour le nom volonté, qui forme avec l’adjectif bon l’unité polylexicale bonne volonté ‘disposition à bien faire, à faire volontiers’ (Petit Robert 1993 : 2413, sous volonté) extrêmement fréquente dans les trois types de journaux étudiés. Voici les listes des cooccurrents les plus spécifiques : Corpus africain : bon, politique, réaffirmer, afficher, manifester, tra‐ duire, exprimer, gouvernement. Le Monde 2002 : bon, politique, afficher, réaffirmer, afficher, mani‐ fester, gouvernement. Sud Ouest 2002 : bon, politique, avoir, réaffirmer, afficher, faire, réel, marquer, affirmer. Mis à part bon (v. ci-dessous), collocatif de loin le plus spécifique, volonté s’avère être un nom à voisinage presque totalement communicatif, du moins dans le langage politique et journalistique. En poussant plus loin l’analyse, on découvre aisément la principale raison de ce comportement combinatoire : la recherche d’effets d’annonce de la part des hommes politiques. « Réaffirmer sa volonté de… » dans la bouche d’un homme politique, c’est en général réitérer une promesse publique, donc accomplir un certain acte de langage. Comme le montrent les autres verbes spécifiques, volonté se prête surtout à cette finalité 240 Peter Blumenthal 11 Notons en passant que d’autres actes de langage du domaine politique souvent rapportés par la presse apparaissent sous des formes très différentes en Afrique et en Europe (Blumenthal 2010 et 2013). 1) 2) pragmatique dans le corpus journalistique 11 . Il n’est pas étonnant que notre corpus des romans français de la deuxième moitié du XX e siècle se comporte très différemment à cet égard, comme le montrent les lexèmes accompagnateurs spécifiques : 1 : bon ; 2 : mauvais ; 3 : Dieu ; 4 : imposer ; 5 : dernier ; 6 : puissance ; 7 : indépendant ; 8 : plein ; 9 : mettre ; 10 : éduquer. La combinaison bonne volonté, qui n’est pas contrebalancée par son antonyme mauvaise volonté dans la presse, y figure le plus souvent dans la construction de complément déterminatif du type hommes de bonne volonté (formule provenant du Nouveau Testament), où elle assume le rôle d’une épithète laudative. 5 Résultats Nous nous sommes penchés sur un petit nombre de cas de figures illustrant diverses relations entre les combinatoires de quelques noms du domaine de l’affectivité dans la presse africaine d’une part et dans la presse hexagonale de l’autre. Amour (différences motivées par des facteurs extralinguistiques), tris‐ tesse (différences s’expliquant par des perspectivisations divergentes), solitude (absence d’un profil africain) et volonté (grande similarité) représentent des cas totalement dissemblables. Théoriquement, il est facile de compléter ce début de classification. Ainsi peut-on penser à des types de figement divergents en France et en Afrique (causes « linguistiques ») ou encore au cas inverse de celui de solitude : l’existence d’un profil caractéristique du côté africain, absence de profil en France. Le nombre total des cas de figures possibles est prévisible à partir de nos critères présentés plus haut (cf. 2.). S’il est trop tôt pour procéder à un bilan quantitatif, quelques tests préalables portant sur une quarantaine de noms d’affects ont montré l’importance de deux facteurs de différenciation : l’aspect de communication : pour un nom comme joie, les accompagnateurs portant sur l’aspect communicatif se trouvent aux premiers rangs en Afrique (exprimer sa joie), alors qu’ils s’avèrent bien moins spécifiques en France. Comme nous l’avons vu, le contraire, ou presque, vaut pour l’antonyme tristesse, en France typiquement complément d’objet d’un verbe communicatif ; le degré d’intensité (attribuable à la perspectivisation) : il est frappant que les noms d’affect comportent typiquement des expressions d’un haut degré 241 Cooccurrences spécifiques dans la presse francophone africaine et hexagonale en Afrique : il est question de beaucoup d’enthousiasme, beaucoup d’émotion, grand bonheur, où l’intensification s’exprime plus discrètement en France. Malgré ces quelques avancées en direction d’une étude systématique, il est certain que nous avons à peine soulevé un coin du voile qui couvre les différences combinatoires - et corollairement associatives - entre le vocabulaire de la vie psychique dans les presses africaine et française. Cependant, d’un point de vue méthodologique, le terrain semble provisoirement déblayé : la comparaison des profils combinatoires de mots-pivots et l’exploitation des résultats sur la base des critères esquissés plus haut ont fourni un cadre expérimental susceptible de servir dans les comparaisons entre combinatoire et expériences d’association. Nous ne sommes pas encore en mesure d’anticiper, même sous forme d’hypothèses, les résultats de telles comparaisons, mais nous avons pu préciser les questions à poser dans ce cadre. La question la plus générale peut se formuler ainsi : les différences entre les cooccurrences spécifiques des deux variétés correspondent-elles aux différences entre les associations observables dans les mêmes régions ? Les questions plus particulières résultent des critères discutés plus haut (chapitres 2. et 4.) ; en voici un seul exemple : les associations autour d’amour présentent-elles, comme les cooccurrences spécifiques, des traces d’un conditionnement extralinguistique (cf. 4.1) ? L’objectif global de cette recherche reste la découverte de voies permettant de décrire, mais aussi de mesurer les divergences et les convergences qui se font jour dans l’évolution de la francophonie, et cela aux niveaux de la combinatoire lexicale et de la conceptualisation des mots. Bibliographie Berruto, G. (1986). La variabilità sociale della lingua. Turin : Loescher. Bilhaut, F. (2007). Analyse thématique automatique fondée sur la notion d’univers de discours. In: Revue de linguistique, psycholinguistique et informatique 1. (http: / / discou rs.revues.org/ index184.html ; 29/ 12/ 2019). Blumenthal, P. (2006). Fragments d’un univers associatif. In: Albers, I. & W. Nitsch (éds.). 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Sprache und Identität in frankophonen Kulturen. Wiesbaden: Springer, 209-222. 243 Cooccurrences spécifiques dans la presse francophone africaine et hexagonale 1 https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Saarl%C3%A4ndischer_Verdienstorden; 24.02.2020. 2 https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Verdienstorden_der_Bundesrepublik_Deutschland; 24.02.2020. Angewandte Linguistik und Übersetzungswissenschaft Heidrun Gerzymisch 1 Einleitung Albert Raasch ist als Person und Wissenschaftler hoch angesehen und dekoriert. Für seine Verdienste im Saar-Lor-Lux-Raum wurde ihm im Jahre 2000 der Saarländische Verdienstorden 1 verliehen, 2013 erhielt er das Verdienstkreuz am Bande der Bundesrepublik Deutschland 2 . Zu seinen Forschungsfeldern gehört die Angewandte Sprachwissenschaft mit Schwerpunkt Fremdsprachendidaktik, die er maßgeblich mitgestaltet hat. Als Mitglied der Universität des Saarlandes und des von Albert Raasch geleiteten Sprachenrats ist es mir eine Freude, den Jubilar mit diesem Beitrag zu seinem Festtag beglückwünschen zu dürfen. Der Beitrag widmet sich der Sprach- und Übersetzungswissenschaft und diskutiert - aus der Perspektive der Translationswissenschaft - Gemeinsam‐ keiten und Unterschiede der beiden Disziplinen anhand einer Auswahl von Begriffen, die für ihre Beschreibungskategorien und ihre Anwendungsfelder charakteristisch sind. 2 Begriffliches und Einordnung Die Angewandte Sprachwissenschaft oder Angewandte Linguistik (AL) ist ein Teil‐ bereich der allgemeinen Sprachwissenschaft. Als ‚angewandte‘ Wissenschaft nicht grundlagenforschungsorientiert, lässt sich ihre begriffliche Basis nur schwer fassen. Sie versteht sich vom Umfang her als ‚interdisziplinär‘, reicht in mehrere Fachdisziplinen hinein und beschäftigt sich grundsätzlich mit der Sprachbeschreibung, insbesondere - aber nicht nur - mit Lexik und Grammatik, sowie mit Problemen aus Natur-, Kultur-, Informations-, Rechts- und Geisteswissen‐ schaften unter sprachwissenschaftlichem Gesichtspunkt. Ebenfalls zum Aufgaben‐ gebiet der Angewandten Linguistik zählt die Anwendung linguistischer Theorien, Methoden und Erkenntnisse aus der linguistischen Grundlagenforschung zur Klärung sprachbezogener Probleme auf anderen Gebieten. (https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ An gewandte_Linguistik; 24.02.2020). Ihre Ränder erscheinen daher unspezifisch - fuzzy. Sie umfasst nach dieser Auffassung auch die Übersetzungswissenschaft, soweit es die Lokalisierung von Software und technischer Dokumentation betrifft, ebenso wie mehrere sogenannte Bindestrich-Linguistiken (ibid). Im Zuge des wissenschaftlichen Fortschritts erweitern sich stetig Inhalte und Problembereiche und so integriert die AL heute auch kommunikationswis‐ senschaftliche Bereiche. Der ‚Gesellschaft für Angewandte Linguistik‘ (GAL) e. V. zufolge definiert sich die Angewandte Linguistik über eine Vielzahl von Arbeitsfeldern, die als ‚Sektionen‘ gefasst sind (unter ihnen auch wiederum die Übersetzungs- und Dolmetschwissenschaft) und bündelt „Aktivitäten und Initiativen, die sich auf die Erforschung und Optimierung von Kommunikati‐ onsprozessen im Alltag und in professionellen Anwendungsfeldern richten“ (https: / / gal-ev.de; 24.02.2020). Die Übersetzungswissenschaft, die unter dem Terminus Translationswissen‐ schaft (TW) heute sowohl das Übersetzen als auch das Dolmetschen umfasst, positioniert sich vielfach ebenfalls interdisziplinär als ‚integrative Disziplin‘ (vgl. dazu exemplarisch Kalverkämper 1999), obgleich eingeräumt wird, dass Integration nicht nur als eine Relation von einer Disziplin zu einigen anderen (Nachbar-)Disziplinen zu verstehen ist, sondern „als Integration hin zu einer Schaffung von Neuem.…“ (Kalverkämper 1999: 60). Dabei bleibt das integrativ ‚Neue‘ allerdings häufig nur eine Summe und Diskussion seiner Teile. Als Ausweg aus diesem Dilemma schlagen wir deshalb vor, dass sich beide Dis‐ ziplinen, AL und TW, über Fragestellung(en), die aus einer relevanten Daten‐ menge ihres Phänomenbereichs zu formulieren sind, eine wissenschaftliche Lösung in Form eines Modells entwickeln, dem wiederum Methoden zugeordnet werden, die dann im Phänomenbereich zur Anwendung kommen. Diesen Weg gehen Gerzymisch & Mudersbach (1998) mit einem Vorschlag zu wissenschaft‐ lichen Methoden der Translationswissenschaft, die später von June Sunwoo (2013) weitergeführt werden. Dies lässt sich am Beispiel der theoretischen, em‐ pirischen und angewandten Dolmetschwissenschaft graphisch folgendermaßen skizzieren: 246 Heidrun Gerzymisch Abb. 1: Dolmetschen: Phänomen - Fragestellung - Modell 247 Angewandte Linguistik und Übersetzungswissenschaft Die Grafik veranschaulicht das Ineinandergreifen und Zusammenwirken der Bereiche am Beispiel der Dolmetschwissenschaft. Danach konstituiert sich die angewandte Dimension einer Disziplin über die Anwendung von Modellen und Methoden auf den jeweiligen Phänomenbereich - in unserem Fall auf Übersetzungen und Dolmetschungen. Das Problem der Abgrenzung zu den Nachbardisziplinen wird über die Art der Fragestellung - bezogen auf den jeweiligen Phänomenbereich und die Antwort auf diese Fragestellung - in Form von Modellen und Methoden gelöst. 3 Beschreibungskategorien im Fokus Zu den zentralen Arbeitsfeldern der AL gehören Lexik und Grammatik, jedoch nicht unbedingt im kontrastiven Vergleich. Zwar gehören auch lexikalische und grammatische Kategorien zum Beschreibungsinstrumentarium der Translati‐ onswissenschaft, allerdings naturgemäß stets mit interkultureller Perspektive und insgesamt mit unterschiedlichen Schwerpunkten als in der AL. Deutlich im Vordergrund steht bei der TW der Text als Gegenstand der Betrachtung mit Fragen der (kontrastiven) Semantik, z. B. der Frage nach einem kontextspezifischen Bedeutungsbegriff (exemplarisch die Leksemantik Klaus Mudersbachs 1983, in der Anwendung u. a. Gerzymisch 1996, Floros 2003 & Gorius 2013) und die interkulturelle Pragmatik, z. B. mit der Frage nach interkulturellen Diskurspräferenzen (House 1996 & Gerzymisch 2018: 242f). Aus Fragestellungen um Text und Diskurs entwickeln sich seine Beschreibungskate‐ gorien Kohärenz, Thema-Rhema-Gliederung und Isotopie (exemplarisch Gerzy‐ misch 1996, 1999, 2004 & 2015), immer natürlich aus sprachvergleichender bzw. interkultureller Perspektive (vgl. Kalverkämper 1999: 60). Im Folgenden sollen grundlegend unterschiedliche Dimensionen der Sprach- und Übersetzungswis‐ senschaft herausgegriffen und exemplarisch diskutiert werden. 3.1 Handeln und Beobachten: Operationalisieren Ist für die Angewandte Sprachwissenschaft ‚Beobachten‘, d. h. Reflektion und Analyse, also die Beobachter-Perspektive des außen stehenden Dritten (vgl. dazu die Theta-Perspektive des Hexagon Modells (Mudersbach 2007) prägend, so ist die Translation grundsätzlich an die handelnden Teilnehmer gebunden, es wird - u. U. in mehreren Sprachen und über mehrere Kanäle - von einem zum anderen ‚über-tragen‘, ‚transportiert‘. Daher sind die Beschreibungs‐ kategorien der TW, auch und insbesondere, wenn sie von anderen Disziplinen entlehnt werden, immer zweckgebunden reduziert auf ihre Verwendung ‚zum Zweck der Translation‘ zu verstehen. Dies bedeutet zwar u. U. einen Verzicht 248 Heidrun Gerzymisch 3 „Als teilnehmende Person ordnen wir den Personen im Rahmen einer Kommunikation Indizes zu, z. B. P und Q und können dann „die Sicht des Q aus der Sicht des P“ abkürzen durch: „Q/ P“. Eventuell hat P auch noch eine Hypothese über die Hypothese des Partners Q über ihn: P/ Q/ P. - Der außen stehende Beobachter B, z. B. in Form der Translatorin, dagegen kann sich in jeden der beiden Partner hypothetisch hineinver‐ setzen (P/ B bzw. Q/ B) oder sie kann nach ihren eigenen Kriterien eine Außenposition (/ B) einnehmen.“ 4 Im Folgenden wird zur besseren Lesbarkeit die Genusmarkierung alternierend ver‐ wendet, das jeweils andere Genus ist stets ‚mitverstanden‘. auf die vertiefende akademische Diskussion der Gültigkeit und Angemessenheit des Begriffs als Erklärungswert für die jeweilige Disziplin; zum anderen aber genügt seine Qualität der Notwendigkeit der praktischen Umsetzung und Handhabung des Begriffs, seiner Operationalisierung. Wird ein Konzept oder Begriff zu Translationszwecken ‚angewandt‘, muss er zur Anwendung ‚taugen‘, d. h. so handlungsorientiert ausgestattet sein, dass man ihn im Sinne einer Gebrauchsanweisung verwenden kann. Aus der Frage der (mangelnden) Operationalisierbarkeit ergeben sich einer‐ seits Monita aus dem Wissenschaftsbereich dahingehend, dass in der TW mit Begriffsklärungen sehr großzügig umgegangen werde. Die TW wird daher mitunter nicht ausreichend differenzierend oder fälschlich begrifflich als ‚ober‐ flächlich‘ wahrgenommen. Auf der anderen Seite klagen die handelnden Über‐ setzer und Dolmetscher, dass sie mit ‚theoretischen‘ Begriffen nichts anzufangen wissen, was notgedrungen dann der Fall ist, wenn diese nicht operationalisiert und damit nicht angewendet werden können. Beispiele dafür sind mitunter hermeneutische, kognitive, aber auch linguistische Beschreibungsapparate und Kategorien (zur Diskussion vgl. Gerzymisch-Arbogast 2002: 19 ff). Die grundsätzliche Unterscheidung zwischen Teilnehmer- und Beob‐ achter-Perspektive wird erstmalig von Klaus Mudersbach (1997) theoretisch fundiert und findet sich in seiner translatorischen Anwendung beschrieben als Handlungsmodell der Übersetzungshandlung bei Sunwoo (2011: 33-39) sowie bei Gerzymisch (2011 & 2013). Das Prinzip lautet: Bei der Betrachtung einer intentionalen Interaktion zwischen zwei Personen P und Q ist zu wählen, ob man die Interaktion von außen beschreiben will (Beobachter-Po‐ sition) oder ob man sich in einen der Teilnehmer (P oder Q) hineinversetzen und die Innensicht dieser Person von der Interaktion beschreiben will. (Mudersbach (1997: 11) 3 . Werden die beiden Perspektiven in der Translationshandlung nicht auseinan‐ dergehalten, dann ergibt sich dadurch theoretisch leicht der Fehlschluss, dass den handelnden Personen ein Wissen zugeschrieben wird, das nur der außen stehende Beobachter bzw. Konstrukteur / Translator 4 haben kann. Umgekehrt 249 Angewandte Linguistik und Übersetzungswissenschaft lassen sich generell bei der Annahme eines großen gemeinsamen Vorwissens viele Details in der Kommunikation aussparen, so dass beispielsweise schwer verständliche (fachliche) Texte aus der Sicht eines Autors oder einer Autorin auch für ein Vertrauen in das Niveau und das Lesevermögen ihrer Leserinnen sprechen können und eine allzu deutliche Explikation der Translatorin das Autor-Leser-Verhältnis möglicherweise verfälscht. Innerhalb der Theoriebildung tritt der Außenstehende - hier der Translator oder die Translatorin - als ,Konstrukteur‘ der Kommunikationspartner sowie der Situation auf, d. h. er/ sie ordnet ihnen die wechselseitigen Hypothesen im Sinne von Anmerkung 3 zu, die für die jeweilige Translationssituation relevant sind. Zusätzlich kann die Situation aus der eigenen Sicht konstruiert werden, z. B. wenn man annimmt, dass man getäuscht wird. Der Dolmetscher oder die Dolmetscherin muss sich also in jeden der beiden Kommunikationspartner hypothetisch hineinversetzen oder eine Außenposition einnehmen können (wie dies z. B. auch Psychologen in der Paarberatung tun, wenn sie beide Partner in den Blick nehmen). Die Überlegung des Perspektivenwechsels bei der Translation führt zu komplexen Kommunikationsprozessen und -modellen z. B. bei der Audiode‐ skription (vgl. Bernd Benecke 2012). Eine Fehlleistung entsteht, wenn man die Unterschiede zwischen den Perspektiven nicht beachtet bzw. wenn man nicht hinreichend deutlich darstellt - wie dies zum Beispiel im Fall des Bundestagsprä‐ sidenten Jenninger geschah. Ihn kostete die mangelnde Perspektivierung 1988 sein Amt, als er das Stilmittel als ‚erlebten Rede‘ anlässlich einer Gedenkstunde zu den Progromen vom 9. und 10. November 1938 in einer Rede vor dem Parla‐ ment nicht als solche kennzeichnete und dadurch den unglücklichen Eindruck erweckte, er distanziere sich nicht (ausreichend) vom Nationalsozialismus. Dann schreibt man leicht einem Anderen beispielsweise Gefühle, Intentionen oder logische Fähigkeiten bzw. Rationalität oder einen objektiven Wissensstand zu, die die Betreffende nicht haben kann. Beim Übersetzen wird dies oft deutlich, wenn die Übersetzerin in der Annahme, ihre Leser seien nicht in der Lage, ein Wörterbuch zu konsultieren oder könnten sich einen ihnen unbekannten Begriff oder Sachverhalt nicht erschließen oder ‚googeln‘, inhaltlich allzu viel Information im Sinne einer ‚Explizitierung‘ oder definitorischen Umschreibung (vgl. dazu Koller 8 2011: 270 ff.) hinzufügt. 3.2 Mittlung vs Vermittlung von Text und Botschaft Konstitutiv für das Phänomen Mittlung ist das ‚Über-setzen‘, die Übertragung, wobei das ‚über-tragen‘, deutlich macht, dass es hier um eine Handlung geht - die Handlung des Mittelns für andere - also um Kommunikation im Gegensatz 250 Heidrun Gerzymisch 5 Zum Verhältnis von Handlung und Reflexion in der Translation vgl. Gerzymisch (2011). 6 Zur Operationalisierung des Übersetzungszwecks vgl. Sunwoo (2012). 7 Vgl. hier das Mudersbach’sche Textanalysemodell, das auch für den Autor unterschied‐ liche Zielsetzungen, u. a. die eigene Zielsetzung, unterscheidet (Sunwoo 2012: 85 ff). zum Vermitteln mit bestimmten Lehr- und Lernzielen in der Sprachlehrfor‐ schung und Angewandten Sprachwissenschaft. 5 Dabei kann die Mittlung im Rahmen des Diskursdolmetschens in einer Triade (Partner A und B sowie Dolmetscherin I erfolgen oder im Rahmen einer Übersetzung auch im Dialog zu einem (gedachten) Publikum, wobei das Phänomen der Selbstübersetzung hier als Ausnahme betrachtet werden muss. Konstitutiv für die Translation ist weiter ein vorgegebener Zweck 6 der Kommunikationsmittlung, eine Variable, die Spillner (1997, s.w.u.) allerdings auch für den expliziten Sprach- und Kulturvergleich fordert. Der Zweck wird in der Regel von außen gesetzt, kann aber auch vom Mittelnden selbst gegeben werden 7 , wenn er nicht explizit von außen vorgegeben wird. Konstitutiv für die Dolmetschmittlung ist neben dem Mittler (I) zudem ein Sender (A), ein Empfänger (B) und eine Botschaft (M bzw. MI oder MII), deren Eigenschaften determiniert werden durch eine Reihe von Einflussfaktoren, nach Jiang (2011: 110 ff) sog. ‚Filtern‘, unter ihnen kulturelle Gegebenheiten und situative Bedingungen, aber auch individuelle Kompetenzen und Entschei‐ dungen (vgl. dazu auch Gerzymisch 2013: 3 ff). Dabei besteht die gemittelte Kommunikation nach dem Tetraden-Modell (Mudersbach 2008) aus der Bot‐ schaft (M) des Kommunikationspartners (A), die als gemittelte Botschaft (MI) dem Kommunikationspartner (B) zugetragen wird, der diese Botschaft MI - so wie sie verstanden worden ist - ‚beantwortet‘ bzw. auf sie reagiert, was wiederum als M II gedolmetscht an den Kommunikationspartner (A) geht und von diesem wiederum - mit den erwähnten möglichen Einschränkungen - ‚verstanden‘ werden kann. Die folgenden Schaubilder verdeutlichen diese triadische Kommunikation (vgl. Lihua Jiang 2011: 110-112): 251 Angewandte Linguistik und Übersetzungswissenschaft Abb. 2: Mittlung zwischen A und B über I (nach Jiang 2011: 110) Abb. 3: Mittlung zwischen B nach A über I (nach Jiang 2011: 110f) Dabei impliziert die Mittlung einer Äußerung von Kommunikationspartner A zu Kommunikationspartner B, dass sie beim ‚Transportieren‘ über die Verstehens- und (Re)produktionsprozesse des Translators abläuft und je nach Sprache und Kultur, Norm und Situation modifiziert zu MI bzw. MII wird. Gemittelt wird daher nicht das, was A sagt, sondern das, was die Translatorin I verstanden hat, was A gesagt hat und das, was er auf der Basis des von ihr Verstandenen 252 Heidrun Gerzymisch für B, so wie sie ihn antizipiert, (re)produzieren kann. Umgekehrt wird Kom‐ munikationspartner B auf der Basis des von ihm Verstandenen nicht dem Kommunikationspartner A ‚antworten‘, sondern auf das, was die Dolmetscherin I auf der Basis dessen, was bzw. wie sie die Äußerung von B verstanden hat und auf dieser Basis für A, so wie sie ihn einschätzt, (re)produziert hat. Die Schaubilder verdeutlichen, welche Dimensionen bei der Mittlung eine Rolle spielen: das individuelle Verstehen des Ausgangstextes zum Zweck der Translation, vor dem Hintergrund dieses Verständnisses dessen (Re)Produktion in einer (oder mehrere) Zielbotschaften in Einschätzung und Antizipation der Verstehenslage des Rezipienten. Dabei muss berücksichtigt werden, dass der weitere Verlauf der Kommunikationsmittlung abhängt vom Verstehen und der Einschätzung der Translatorin, wobei sich diese Lage mit jeder Äußerung / Botschaft ändern kann. Wir können also zusammenfassen, dass der Prozess der Mittlung aus zwei auf den aktuellen Text / Diskurs gerichteten Dimensionen besteht: einer Ver‐ stehensleistung und einer (Re)produktionsleistung. Hinzu kommt als dritte Determinante das Wissen der Translatorin um die beiden in Rede stehenden Sprachen und Kulturen in einer systemhaften, auf die involvierten Sprachen und Kulturen bezogenen Vergleichsrelation, dem sogenannten Transfer. Diese Phasen greifen ineinander, können aber methodologisch getrennt voneinander betrachtet werden: Abb. 4: Drei Phasen der Mittlung 253 Angewandte Linguistik und Übersetzungswissenschaft 3.3 Vergleich und Transfer Hier treffen sich AL und TW in der Transfer-Phase als systembezogene Ver‐ gleichsdimension, die in der TW wie in der AL synchron und sprachsystemhaft erfolgt - allerdings im Rahmen der Mittlung vor dem Hintergrund des beim Translator vorhandenen Sprach- und Kulturwissens zweckgebunden an die Ge‐ gebenheiten und als Teil der translatorischen Leistung, wie das obige Schaubild verdeutlicht (vgl. ausführlich Gerzymisch 1996: 245 ff). Hier ist es für die AL vor allem Spillner (1997: 110), der den Vergleich als synchrone Betrachtung präzise verortet und für jeden wissenschaftlichen Vergleich fordert, dass dieser explizit unter Angabe des Vergleichszwecks und der Vergleichsmethode zu erfolgen habe, für die er eine methodische Schrittfolge postuliert. Diese Forderungen decken sich weitgehend mit den translatorischen Leitgedanken (Gerzymisch 2013: 19 ff). Wegweisend für den Transferbegriff in der TW ist Spillners Forde‐ rung nach einer semantisch-funktionalen Kategorie eines tertium comparationis, die „von den beiden zu vergleichenden Sprachen / Kulturen unabhängig ist“ (Spillner 1997: 110). Über das Transduktionsverfahren (Gerzymisch 1996: 248 f) wird diese Forderung für die Translationswissenschaft theoretisch eingelöst und später methodisch fundiert (Gerzymisch & Mudersbach 1998): als atomistische Repräsentation eines tertium comparationis in Form einer Aspektmatrix (vgl. Benecke 2013: 91-94), einer hol-atomistischen Repräsentation als semantisches Netz (exemplarisch vgl. Floros 2003, vgl. insbesondere Kembou 2019: 212), sowie einer holistischen Repräsentation als funktionales Holon (exemplarisch Gerzymisch 1999: 92 f und 2007). 4 Ausblick Nach dieser skizzenhaften Darstellung einiger Berührungspunkte und Diffe‐ renzen zwischen der AL und der TW fragen wir uns, ob sich beide Disziplinen dem eingangs zitierten Postulat als ‚integrative Disziplin‘ im Sinne einer „Schaf‐ fung von Neuem.…“ näherkommen können. Nach Humboldt „braucht man nur ein dreifaches Streben des Geistes rege und lebendig zu erhalten: -einmal alles aus einem ursprünglichen Prinzip abzuleiten ….-ferner alles einem Ideal zuzubilden; -endlich jenes Prinzip und dieses Ideal in Eine Idee zu verknüpfen“ (Wilhelm von Humboldt 1809 / 1810: 195 f.). So fragen wir, ob wir aus dem ursprünglichen Prinzip des Miteinander-Spre‐ chens in unterschiedlichen Sprachen - also aus der mehrsprachigen Kommuni‐ kation - das Ideal der universalen Kommunikation (im Sinne Jaspers) ableiten und dieses mit der Idee der gemittelten Kommunikation (House 2004) zum Lehr- und Lernziel einer Didaktik verknüpfen können, in der sowohl die 254 Heidrun Gerzymisch Angewandte Linguistik, als auch die Translationswissenschaft und darüber hinaus die Kommunikations- und Kulturwissenschaft ihren Platz hätten. Oder bleibt eine solche Didaktik der universalen Kommunikation ganz im Humboldtschen Wissenschaftssinn „etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes“ (Wilhelm von Humboldt 1809 / 1810: 203)? Literatur Benecke, Bernd (2013). Audiodeskription als Partielle Translation: Modell und Methode. Dissertation an der Universität des Saarlandes. Band 3 der Reihe mitSPRACHE. Zürich [u. a.]: LIT Verlag. Fickert, Jan (2011). 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Alle, die einmal studentische Übersetzungen korrigieren mussten, kennen die „Schrägstrich-Lösungen“ - eine stille Aufforderung an die Lehrkraft, sich das „Richtige“ auszusuchen. Zu meiner Zeit lautete die beliebteste Frage im Übersetzungsunterricht: „Wie müssen wir dieses Wort / diesen Satz etc. übersetzen? “ und die Antwort war regelmäßig: „Das kommt darauf an…“. Worauf es ankam, darüber herrschte keine Einigkeit: auf die Textsorte, auf die verfügbaren potentiellen Äquivalente, auf den Kontext, den unmittelbaren oder den weiteren, den sprachlichen oder den sachlichen. Irgendwie lernten wir, diese wenig hilfreichen und zuweilen widersprüchlichen Anleitungen zu befolgen, so gut es eben ging, um eine gute Note und letztendlich das Diplom-Zeugnis zu bekommen. Danach hatte man es dann, sofern man vom Übersetzen immer noch nicht genug hatte, mit Auftraggebern und Auftraggeberinnen zu tun, die nicht einmal sagten, worauf es (ihnen) ankam, sondern nur forderten, man solle „einfach übersetzen“. Wenn das so einfach wäre… Aus skopostheoretischer Sicht kommen einem diese Anekdoten wie Echos aus einer fernen Vergangenheit vor, denn wir wissen ja jetzt: „Eine Handlung wird von ihrem Zweck bestimmt“ (Reiß & Vermeer 1984 & 1991: 101), und wenn Übersetzen eine Handlung ist, also eine Aktivität, die mit einer Intention verbunden ist, dann wird auch Übersetzen von seinem Zweck oder „Skopos“ bestimmt. Das wird als „Regel“ bezeichnet, ist also eine Gewissheit! Aber was der Skopos einer bestimmten Übersetzungsaufgabe ist, woher er kommt, wer darüber entscheidet, das lässt schon wieder eine Reihe von Zweifeln aufkommen. In diesem Beitrag möchte ich zeigen, wie ein Top-down-Verfahren dazu beitragen kann, Ungewissheit und Zweifel im Übersetzungsprozess wenigstens bis zu einem gewissen Grad zu überwinden. Nach einer kurzen Darstellung des Übersetzungsprozesses aus skopostheoretischer Sicht soll dieser Prozess an konkreten Beispielen veranschaulicht werden. Als Material dient Christiane Oliviers populärwissenschaftliches Buch Les enfants de Jocaste: L’empreinte de la mère (Olivier 1980) und die beiden Überset‐ zungen ins Englische - Jocasta’s Children: The Imprint of the Mother (Olivier 1989a, Übers. George Craig) - und Deutsche - Jokastes Kinder: Die Psyche der Frau im Schatten der Mutter (Olivier 1989b, Übers. Siegfried Reinke). 2 Der Übersetzungsprozess Vom Standpunkt der Skopostheorie (Vermeer 1978, ausführlicher im ersten Teil von Reiß & Vermeer 1984 & 1991), deren Anwendung in Ausbildung und Praxis des Übersetzens meist als „Funktionalismus“ bezeichnet wird, beginnt jeder professionelle Übersetzungsprozess mit einem Auftrag. Eine Person oder Institution benötigt eine Übersetzung eines bestimmten Textes und beauftragt eine Übersetzerin oder einen Übersetzer bzw. eine Übersetzungsagentur mit deren Herstellung. Diese Beauftragung impliziert irgendeine Form von „Auf‐ trag“, dessen Formulierung von „Bitte übersetzen, möglichst bis morgen 10 Uhr! “ bis zum ausgefeilten, juristisch wasserdichten Arbeitsvertrag, in dem außer Abgabetermin und Honorar alle möglichen Bedingungen spezifiziert sind, reichen kann. In jedem Fall aber steckt hinter diesem Auftrag ein „Ziel“, eine „Absicht“ - auch wenn die Auftraggeber, die ja meist keine Experten für Übersetzung sind, diese nicht so ohne Weiteres formulieren können. Es liegt also an den Übersetzungsprofis, dieses Ziel zu eruieren, gegebenenfalls durch Nachfragen, in Routine-Aufträgen vielleicht nur durch die Rückfrage: „Wie immer? “ Nur anhand der Informationen über Zweck, Adressatenkreis, Medium, Ort und Zeit der erwarteten Rezeption können wir uns ein Bild davon machen, was für eine Art von Text verlangt ist. Dies nennen wir „Zieltext-Profil“. Im nächsten Schritt ist das Zieltext-Profil mit dem vorliegenden Ausgangs‐ text-Material abzugleichen. Ist der Auftrag überhaupt durchführbar? Wenn ja, wie muss das „Material“, das der Ausgangstext zur Verfügung stellt, verarbeitet 260 Christiane Nord werden, damit das erwünschte Ziel so effizient wie möglich erreicht werden kann? Es wird eine globale Strategie für das gesamte Projekt entworfen, die als Richtlinie für alle Entscheidungen auf allen Ebenen gelten soll. Erst dann geht es an die Produktion des Zieltextes, der am Schluss in einer Phase der Qualitätskontrolle mit dem aus der Interpretation des Übersetzungsauftrags gewonnenen Zieltext-Profil verglichen werden kann. Erfüllt er die aus dem Übersetzungsauftrag abgeleiteten Erwartungen, oder muss man eventuell noch nachbessern, weil der Prozess an irgendeiner Stelle nicht optimal durchgeführt wurde? Dieser Prozess ist kein geschlossener Kreislauf, auch wenn ich es zunächst „Zirkelmodell“ genannt habe (vgl. Nord 1988 & 2009: 38), sondern ähnelt eher einer Schleife mit zahlreichen Rückkopplungen, kleinen Umwegen für Recherche und Dokumentation oder Revisions- und Korrekturvorgängen (daher in der englischen Terminologie looping-model; Nord 1991 & 2005: 39). Levý vergleicht diesen Prozess mit einem strategischen Spiel, in dem Übersetzer ihre Entscheidungen jeweils auf der Grundlage aller zu einem bestimmten Zeitpunkt vorhandenen Informationen treffen müssen. …denn der Übersetzungsprozeß hat den Charakter eines AUF DER KENNTNIS ALLER INFORMATIONEN BERUHENDEN SPIELS; der Übersetzungsprozeß ist also ein Spiel, in welchem jeder Zug, der auf einen anderen folgt, durch die Kenntnis vorausgehender Entscheidungen und aus ihnen resultierenden Situation beeinflußt wird (dies gilt z. B. für das Schachspiel, dagegen nicht für Kartenspiele). (Levý 1967/ 1981: 220, Übersetzung und Hervorhebung; W. Wilss). Ungewissheit und Zweifel können in allen Phasen des Prozesses auftreten: bei der Interpretation des Übersetzungsauftrags (besonders, wenn dieser unklar oder sehr komplex ist), bei der Analyse des Ausgangstextes, bei der Planung der Transferstrategie, bei der Produktion des Zieltextes und in der Qualitätskon‐ trollphase, sowie jeweils auf allen Rängen von Sprache und Kultur. Sie können verschiedene Ursachen haben. In der Ausbildung entstehen Zweifel oft aufgrund mangelhafter Sprach- und Kulturkenntnisse beider Seiten, bei fehlendem Sach- oder Fachwissen oder mangelnder translatorischer Kompetenz. Diese Art von Ungewissheit und Zweifel kann dadurch reduziert werden, dass der Schwierig‐ keitsgrad der Aufgabe dem Leistungsniveau der Studierenden angepasst wird (vgl. Nord 1988/ 2009: 171). Eine zu schwierige Aufgabe führt zu einem so hohen Grad von Ungewissheit, dass die Lernenden auch das nicht zeigen können, was sie bereits beherrschen. In der Praxis ergibt sich Unsicherheit eher aus Defekten oder Unklarheiten im Ausgangstext sowie - leider allzu oft - aus mangelnder Translationskompetenz. Diese Art Ungewissheit kann möglicherweise durch 261 Im Zweifel für den Skopos ein funktionales Top-down-Vorgehen reduziert werden, wie es im Folgenden dargestellt wird. 3 Top-down gegen den Zweifel Wir schauen uns also jede Ebene des Prozesses an, beschreiben die Ursachen des Zweifels und die Möglichkeiten, ihn erfolgreich zu überwinden. 3.1 Zweifel bei der Interpretation des Auftrags Wie bereits erläutert, spezifiziert der Übersetzungsauftrag explizit oder (meis‐ tens! ) implizit die Situation, für die der Zieltext benötigt wird (Adressatenkreis, Medium, Zeit und Ort der Rezeption, intendierte kommunikative Funktionen). Die Interpretation des Auftrags ermöglicht es dem Translator zu entscheiden, wie der Zieltext aussehen soll und welche Makrostrategie zu einem Zieltext führt, der dem Zieltext-Profil entspricht. Hier kann eine funktionale Überset‐ zungstypologie dazu beitragen, Unsicherheit und Zweifel zu überwinden. Schon immer haben Übersetzer festgestellt, dass sie sich zu Beginn jedes Übersetzungsprozesses für einen von zwei Übersetzungstypen entscheiden müssen. Cicero, Hieronymus, Luther, Schleiermacher, Nida und viele andere haben daher zwei grundsätzlich verschiedene Arten des Übersetzens klassifi‐ ziert, und zwar, um es in heutiger Terminologie auszudrücken, ausgangstexto‐ rientiertes und ziel(adressaten)orientiertes Übersetzen (Nord 1997/ 2018: 44). Je nach ihrer eigenen Lebens- und Übersetzungssituation haben sie dann die eine dieser beiden Strategien zur „einzig wahren“ erhoben. Aus funktionaler Perspektive haben beide Strategien ihre Berechtigung, die Entscheidung für die eine oder die andere hängt eben vom Skopos des Translationsprozesses, also der intendierten Funktion des Zieltextes ab. In meiner funktionalen Typologie (Nord 2011: 19-26) nenne ich die beiden Typen „dokumentarische“ und „instrumentelle“ Übersetzung. Eine dokumen‐ tarische Übersetzung orientiert sich am Ausgangstext, indem sie ein oder mehrere Merkmale einer ausgangskulturellen Kommunikationssituation, in der ein ausgangskultureller Sender mit ausgangskulturellen Adressaten unter ausgangskulturellen Bedingungen kommuniziert, „dokumentiert“. Je nach dem dokumentierten Aspekt unterscheiden wir die Interlinearversion, in der die sprachlichen Strukturen des Ausgangstextes im Fokus stehen, die wörtliche Übersetzung (auch: grammar translation), die den Wortlaut des Ausgangstextes „so wörtlich wie möglich und nur so frei wie nötig“ reproduziert, die philologi‐ sche Übersetzung, bei der Form und Inhalt des Ausgangstextes dokumentiert und gegebenenfalls durch Paratexte wie Anmerkungen oder Glossare erläutert 262 Christiane Nord werden, und die exotisierende Übersetzung, bei der Form, Inhalt und Situation des Ausgangstextes unter Hervorhebung kultureller Alterität dargestellt werden. Eine instrumentelle Übersetzung ist dagegen ein eigenständiges Kommuni‐ kationsinstrument in der Zielkultur, in der das vom Ausgangstext bereitgestellte „Material“ so verarbeitet wird, dass der Zieltext alle Anforderungen an einen zielkulturellen Text der betreffenden Sorte erfüllt. Hier unterscheiden wir auf der nächsten Ebene die funktionskonstante Übersetzung, die in der Zielkultur dieselben Funktionen erfüllen soll wie der Ausgangstext in der Ausgangskultur, die funktionsvariierende Übersetzung, bei der bestimmte Ausgangstextfunkti‐ onen nicht oder nicht ganz in der Zielkultur realisiert werden können, z. B. aufgrund einer großen zeitlichen, örtlichen oder kulturellen Distanz, und die korrespondierende Übersetzung, die besonders bei der Übertragung von Lyrik eingesetzt wird und bei der es darum geht, in der Zielkultur ein Analogon zum literarischen oder poetischen Status des Ausgangstextes herzustellen. Eine solche Spezifizierung von Übersetzungstyp und Übersetzungsform kann bei der Interpretation des Übersetzungsauftrags Unsicherheit und Zweifel redu‐ zieren, da es sich hier um eine binäre Entscheidung handelt, welche die Weichen für alle weiteren Entscheidungen stellt. In der Ausbildung sollten die Lernenden von der ersten Stunde an erfahren, was ein bestimmter Übersetzungsauftrag jeweils für die Wahl des Übersetzungstyps bedeutet. Praktiker wiederum sollten versuchen, möglichst viele Informationen über die Zieltextsituation zu erlangen, indem sie zum Beispiel den Auftraggeber kontaktieren und die Vertragsbedin‐ gungen aushandeln. Außerdem sollten sie sich für einen Übersetzungstyp und eine Übersetzungsform entscheiden, bevor sie mit dem Übersetzen anfangen. Im Fall unseres Textmaterials haben die beiden Übersetzer den Ausgangstext in ähnlicher Weise interpretiert, sind jedoch zu unterschiedlichen Schlussfol‐ gerungen gelangt, wie wir bei der Analyse der Beispielstellen sehen werden. Beide schreiben in einem Vorwort über ihre Interpretation. Das könnte man als Beschreibung eines Eigen-Auftrags betrachten. Der englische Übersetzer George Craig schreibt in seinem Vorwort, wie er die Aufgabe des Übersetzers bei diesem Text sieht: The intensely personal, first-hand nature of the arguing puts it closer to eager, even impatient speech than to systematic exposition. But then that mode itself, for her, is bound up with the ideology whose falsity she wants to show. The translator must try, then, to follow her in her changes of tempo and tone, her preference for questions over statements, her yokings of private and public, her inventions and her repetitions. It seems overwhelmingly worthwhile. (Craig in Olivier 1989a: viii; Hervorhebung C. N.) Der deutsche Übersetzer sieht seine Aufgabe völlig anders: 263 Im Zweifel für den Skopos (1) Christiane Oliviers Material kommt aus der Sprache, in der sich das Denken und Fühlen des Individuums wie der Gesamtgesellschaft ausdrückt. Ein Gedankenaus‐ tausch mit der Autorin bestätigt diese Sicht. Das vorliegende Buch ist daher reich an Metaphern und Wortspielen, die möglichst wortgetreu ins Deutsche übertragen wurden. Wenn dies erforderlich schien, wurde versucht, den Sinn durch Anmerkungen zu verdeutlichen. (Reinke in Olivier 1989b: 179; Hervorhebung C. N.) Aus diesen wenigen Zeilen wird bereits klar, dass der englische Übersetzer auf eine instrumentelle Übersetzung abzielt, während der deutsche Übersetzer eher an eine dokumentarische Übersetzung denkt. 3.2 Zweifel in Bezug auf die Pragmatik Generell reproduziert eine dokumentarische Übersetzung die Pragmatik der Aus‐ gangssituation. Hier müssen sich die Rezipienten des Zieltextes gewissermaßen in die Situation der ausgangskulturellen Empfänger versetzen und daraus dann schlussfolgern, was der Text indirekt für sie in ihrer eigenen Situation bedeuten kann. Das heißt, die Zieltextrezipienten müssen den „Transfer“ von der Aus‐ gangszur Zielsituation selbst bewerkstelligen, einschließlich der deiktischen Verweise auf die Ausgangssituation, die der Text enthält. Daher sind öfter Paratexte (z. B. Anmerkungen, Vorwort, Glossare) nötig, um die pragmatische Kluft zwischen den beiden Situationen zu überbrücken. Das gilt besonders für Übersetzungen, die zwischen zeitlich, örtlich und kulturell weit voneinander entfernten Kulturen vermitteln sollen (z. B. Bibelübersetzungen, Übersetzungen chinesischer Literatur für Europäer). Hier kann eine exotisierende Übersetzung, die den Zielempfängern sprachlich und stilistisch einen Zugang zu der fremden Kultur ermöglicht, gute Dienste leisten. Instrumentelle Übersetzungen werden dagegen in der Regel an die neue Prag‐ matik der Zielsituation angepasst. Hier bewirkt der Translator den „Transfer“ und erlaubt es den Zielempfängern dadurch, das Gelesene mit ihrer eigenen Situation und Erfahrung zu verknüpfen: Beispiel: Dans quelle nouvelle littérature, dans quelles étranges bandes dessinées (si ce n’est celles de C. Bretécher) voyons-nous le père « paternant » son enfant? (Olivier 1980: 55) • Where are the new novels, where are the way-out cartoons (apart maybe from those of Claire Bretécher) that show us a father ‘mothe‐ ring’ his child? (Olivier 1989a: 34; Übers. George Craig) 264 Christiane Nord 1 Der Nachname wird in allen drei Korpustexten als Brétecher angegeben, bei den Ausgaben von Les Frustrés und Die Frustrierten dagegen mit Bretécher. • Wo in der neuen Literatur, in welchen noch so ausgefallenen Comics (außer in denen von Claire Bretécher) sehen wir den Vater beim „Be‐ vatern“ seines Kindes? (Olivier 1989b: 49; Übers. Siegfried Reinke) Wie Beispiel 1 zeigt, nehmen beide Übersetzer an, dass ihre Leserschaft mit der französischen Cartoonistin Claire Bretécher und ihren Arbeiten vertraut sind, zumindest dann, wenn die Initiale des Vornamens aufgelöst wird. 1 Da der Zeitabstand zwischen dem Erscheinen des Originals und der Publikation der beiden Übersetzungen relativ groß ist, wäre eine Explizitierung wie „die fran‐ zösische Feministin“ in Craigs instrumentell-funktionskonstanter Übersetzung wohl angebracht. In Reinkes dokumentarisch-philologischer Übersetzung ist dies die einzige Referenz auf die Ausgangskultur, die nicht in einer Fußnote erklärt wird. Damit wird seine übliche Strategie durchbrochen. Darüber hinaus ist die deutsche Übersetzung von paternant ein Problem, das sich aus der unklaren Pragmatik ergibt. Die kreative Wortbildung bevatern hat den Nachteil, dass sie nach dem Vorbild von bemuttern eine negative Konnota‐ tion hat und so in einem Kontext, in dem es um eine positive Rollenveränderung von Vätern geht, die Stelle inkohärent macht. Im Englischen funktioniert fathering (analog zu mothering) problemlos. Abb. 1: Claire Bretécher, Les Frustrés 4, Paris 1979 (ohne Seitenangabe) 265 Im Zweifel für den Skopos (2) Mir selbst ist zu dieser Stelle spontan die in Abb. 1 abgedruckte Zeichnung Claire Bretéchers aus Les Frustrés 4 eingefallen, auf welche Olivier vermutlich anspielt. Les Frustrés 4 wurde 1989 als Die Frustrierten 4 in Deutschland publiziert, und die englische Version kam erst 1992 in Großbritannien heraus. Daher wäre für Menschen, die mit diesen Cartoons nicht vertraut sind, vermutlich eine Paraphrase angebracht, die sich genau auf die abgebildete Szene bezieht. • Welcher moderne Roman, welcher noch so originelle Cartoon (ausge‐ nommen vielleicht die der französischen Feministin Claire Bretécher) zeigt einen Vater beim Windelnwechseln oder Fläschchengeben? (Übers. C.N.) Im Folgenden geht es um die lokale Deixis. Beispiel: Le père, dans nos pays latins, n’est pas destiné à s’occuper du « petit », que ce soit le sien ou celui des autres. (Olivier 1980: 55) • In ‘Latin’ countries like France, the father has not been brought up to look after the baby - his own or anybody else’s. (Olivier 1989a: 54; Übers. George Craig) • Der Vater ist in unseren romanischen Ländern* nicht dazu bestimmt, sich um das „Kleine“ zu kümmern, sei es das eigene oder das der anderen. * Dies dürfte auch auf andere Länder zutreffen (Anm. d. Ü.) (Olivier 1989b: 49; Übers. Siegfried Reinke) Der englische Übersetzer bleibt seiner Strategie treu und macht den Bezug auf Frankreich explizit, der ja die kritische Haltung der Autorin gegenüber ihrem Land verdeutlicht. Die deutsche Übersetzung ist für deutsche Leser inkohärent, weil sie sich ja nicht in einem „romanischen Land“ befinden. Die Fußnote ist darüber hinaus schlichtweg überflüssig, denn auf den Gedanken, dass diese Bemerkung auch auf andere Länder, zum Beispiel auf Deutschland, zutrifft, wären sich die deutschen Leser und Leserinnen vermutlich schon selbst gekommen. Eine solche Bevormundung (um nicht zu sagen: Bevaterung! ) der Leserschaft hat in einer dokumentarischen Übersetzung nichts zu suchen. 3.3 Zweifel auf der Ebene der Kultur Die Entscheidung auf der Ebene der Pragmatik ist binär: es gibt nur ein Entweder-Oder. Auf der Ebene der Kultur, die wir als Gesamtheit der Verhaltens‐ normen und -konventionen betrachten, die in einer Gruppe oder Gesellschaft „üblich“ sind, ist das nicht so einfach. In einer dokumentarischen Übersetzung 266 Christiane Nord (3) können manche Verhaltenskonventionen aus der Ausgangskultur übernommen und andere an die Zielkultur angepasst werden, und das gleiche gilt für die in‐ strumentelle Übersetzung, so dass man hier jeweils von Fall zu Fall entscheiden muss, ob Reproduktion oder Anpassung für eine funktionsgerechte Übersetzung die adäquate Lösung ist. Es gibt ja auch Normen und Konvention für das Übersetzen oder vielmehr: für die Lösung bestimmter Übersetzungsprobleme. In manchen Kulturen werden zum Beispiel Eigennamen üblicherweise in ihrer ausgangskulturellen Form beibehalten, während sie in anderen phonetisch, orthographisch oder auch morphologisch adaptiert werden. Sogar in Fällen, in denen die Schreibweise beibehalten wird, verändert sich ja manchmal die Aussprache (und damit ge‐ wissermaßen auch die Kulturzugehörigkeit einer fiktiven Person). Denken wir an Alice im Wunderland, die in der italienischen Fassung zu „Alitsche“ wird, aber auch in der deutschen und der französischen Fassung durch die unterschiedliche Aussprache gewissermaßen ihre „Nationalität“ wechselt, während sie in der spanischen Fassung zu Alicia und in der finnischen Fassung zu Liisa adaptiert wird (und trotzdem ein englisches Mädchen bleibt). Beispiel: Que demande M. P. Chaunu, professeur d’histoire moderne, dans les colonnes d’un article publié dans Marie-France en janvier 1978, sous la rubrique: « Sommes-nous trop ou pas assez nombreux ? » (Olivier 1980: 187) • Let us look at the demands put forward by Mr P. Chaunu, a professor of modern history, in an article published in Marie-France in January 1978, under the heading: ‘Are there too many of us or too few? ’ (Olivier 1989a: 143; Übers. George Craig) • Was fordert ein Monsieur P. Chaunu, Professor für moderne Ge‐ schichte, unter der Überschrift: „Sind wir zu viele, oder sind wir nicht zahlreich genug? “ in den Spalten eines in Marie-France* zu jener Zeit veröffentlichten Artikels? * Französische Frauenzeitschrift (Anm. d. Ü.) (Olivier 1989b: 170; Übers. Siegfried Reinke) In diesem Beispiel geht es um die kulturspezifische Art und Weise, in der auf Personen Bezug genommen wird. Dies ist einer der wenigen Fälle, in denen der englische Übersetzer nicht seiner üblichen Adaptationsstrategie folgt, sondern das Verhalten der französischen Autorin nachahmt. In Paralleltexten aus dem Internet finden wir Referenzen wie z. B. the [distinguished, conserva‐ tive] French historian Pierre Chaunu, obwohl die Verwendung des Titels Mr 267 Im Zweifel für den Skopos zumindest im Englischen nicht unüblich ist. Im Deutschen dagegen steht bei Personenreferenzen niemals der Titel Herr, geschweige denn Monsieur, weil dadurch ein deutlich abwertender oder ironischer Tonfall hervorgerufen wird - besonders, wenn noch der unbestimmte Artikel vor dem Titel steht. In deutschen Paralleltexten heißt es typischer Weise der [bekannte] französische Historiker Pierre Chaunu. Auch in einer dokumentarischen Übersetzung wird die Bezugnahme auf eine Person normalerweise an die zielkulturellen Konventionen angepasst - ausge‐ nommen den seltenen Fall, in dem es darum geht, speziell diese Konvention zu „dokumentieren“. Die Erklärung, dass Marie-France eine französische (! ) Frauenzeitschrift ist, dürfte wieder ein Zeichen dafür sein, dass der Übersetzer die Rezeptionsfähigkeit und das Weltwissen seiner Leserschaft unterschätzt. Diese Entscheidung sollte auf der Ebene der Pragmatik getroffen werden. Selbst für Leser, denen Marie-France kein Begriff ist, obwohl die Zeitschrift an allen Bahnhofskiosken ausliegt, dürfte der Kontext (un article publié dans… + Frauenname) hinreichend klarmachen, dass es sich um eine französische Frauenzeitschrift handelt. Noch eine andere Kleinigkeit zeigt, dass der deutsche Übersetzer nicht wirklich sein Handwerk versteht (vielleicht ist das Übersetzen ja auch nicht sein Handwerk! ): Während man im Französischen typischer Weise etwas dans les colonnes eines Artikels lesen kann (selbst wenn dieser nicht in Spalten gedruckt sein sollte), ist dies im Deutschen absolut unüblich. Die Entscheidung für eine dokumentarisch-philologische Übersetzung impliziert ja nicht, dass man alle stilistischen Normen und Konventionen der Ausgangskultur reproduzieren muss. 3.4 Zweifel auf der Textebene Die Skopostheorie definiert den Text als „Informationsangebot“. Aus diesem Angebot wählen Rezipienten das, was sie verarbeiten können (oder wollen) (vgl. Reiß & Vermeer 1984/ 1991: 35 ff). Übersetzer und Übersetzerinnen sind Rezipienten des ausgangskulturellen Informationsangebotes. Wenn sie aus der fremden in die eigene Kultur und Sprache übersetzen, gehören sie nicht einmal zum Adressatenkreis des Ausgangstextes, und das bedeutet natürlich eine Menge Unsicherheit und Zweifel bei der Interpretation des Ausgangsangebots. Um für „ihre“ Adressaten nun die adäquaten Informationsangebote auswählen zu können, müssen sich Translatoren in deren Lage versetzen und sich vor‐ stellen können, was für sie neu, interessant und verstehbar ist, damit sie den Zieltext für die Funktionen rezipieren können, die vom Übersetzungsauftrag vorgesehen sind. Aber eine Garantie gibt es nicht: Textproduzenten generell - 268 Christiane Nord (4) und Übersetzer im Besonderen - können niemals sicher sein, dass ihr Text genau so rezipiert wird, wie sie es sich wünschen. In dieser Hinsicht ist der folgende Fall besonders interessant. Beispiel: Après tout, Freud n’a-t-il pas découvert les règles sous-jacentes à une foule de jeux dont nous usions jusque-là en toute innocence ? Celui de la bobine n’est-il pas un des plus connus (l’enfant symbolise l’absence de la mère au moyen d’un objet qu’il envoie au loin, pour le récupérer l’instant d’après) ? (Olivier 1980: 47-48) • After all, did Freud not discover the rules underlying many of the games we had up till then played in all innocence? Among the best-known games do we not find the one with the cotton reel (in which the child invents a symbolic representation of its mother’s absence by an object which it throws away, then immediately brings back)? (Olivier 1989a: 29-30; Übers. George Craig) • Hat nicht schließlich Freud selbst die unterschwelligen Regeln einer Vielzahl von Spielen aufgedeckt, die wir bis dahin in aller Unschuld gespielt haben? Ist nicht eines der bekanntesten das Diabolo-Spiel* (das Kind symbolisiert die Abwesenheit der Mutter durch ein Objekt, das es von sich entfernt, um es im nächsten Moment zurückzu‐ holen)? * Anm. d. Ü.: (ital. von diavolo = Teufel) Kinderspielzeug, Doppel‐ kreisel, der auf einer an zwei Stäben befestigten Schnur rotiert, in die Höhe geworfen, wieder auf der Schnur aufgefangen wird. (Olivier 1989b: 44; Übers. Siegfried Reinke) Es scheint irritierend, dass ein „Spiel mit der Garnrolle“ zu den bekanntesten Spielen gehören soll, obwohl wir davon doch noch nie etwas gehört haben. Und das gilt für französischsprachige Leser genauso wie für englisch- oder deutschsprachige. Aus diesem Grunde hat der deutsche Übersetzer wohl - ganz entgegen seiner sonst so dokumentarischen Strategie - nach einem Spielzeug gesucht, das einer Garnrolle ähnelt, und ist auf das Diabolo gestoßen. Das Problem mit dem Diabolo ist, dass Oliviers Beschreibung nicht dazu passt, ganz abgesehen davon, dass die Etymologie, die der Übersetzer überflüssigerweise anfügt, falsch ist. Diabolo hat nichts mit ital. diavolo zu tun (was hätte hier auch der Teufel zu suchen? ), sondern kommt von dem griechischen Verb diaballein („wegwerfen“). Der Doppelkreisel hängt ja nicht an der Schnur, sondern wird in die Luft geworfen. Wenn man schon nach einem passenden deutschen Spiel sucht, wäre vermutlich ein Jo-Jo der Sache nähergekommen. Aber darum geht 269 Im Zweifel für den Skopos es hier gar nicht, sondern es geht um eines der bekanntesten Beispiele für ein Spiel, das Freud bei seinem 18 Monate alten Enkel beobachtet hat und in seinem Aufsatz „Jenseits des Lustprinzips“ (1922/ 2017) beschreibt. Im Falle der deutschen Fassung geht es also um die „Rück-Übersetzung“ eines aus dem Deutschen ins Französische übersetzten Quasi-Zitats, in der natürlich die originale Freud’sche Formulierung verwendet werden sollte. Die Unsicherheit war hier durch das fehlende Fachwissen bedingt. Nun lässt es sich heute trefflich darüber lästern, dass der Übersetzer das Informationsangebot hier falsch gedeutet hat, aber in den 1980er Jahren hätte man die Gesammelten Werke Siegmund Freuds durchblättern müssen, um das zu finden, was heute mit ein paar Klicks auf dem Computer-Bildschirm erscheint. Eine Suche nach „Spiel mit Garnrolle“ führt ja unmittelbar zu dem deutschen Originaltext und auch zu einer englischen Übersetzung, in der von „a wooden reel with a piece of string wound round it“ die Rede ist: […] Dieses brave Kind zeigte nun die gelegentlich störende Gewohnheit, alle kleinen Gegenstände, deren es habhaft wurde, weit weg von sich in eine Zimmerecke, unter ein Bett usw. zu schleudern, so daß das Zusammensuchen seines Spielzeuges oft keine leichte Arbeit war. Dabei brachte es mit dem Ausdruck von Interesse und Befriedigung ein lautes, langgezogenes o-o-o-o hervor, das nach dem übereinstimmenden Urteil der Mutter und des Beobachters keine Interjektion war, sondern »fort« bedeutete. Ich merkte endlich, daß das ein Spiel sei und daß das Kind alle seine Spielsachen nur dazu benütze, mit ihnen »fortsein« zu spielen. Eines Tages machte ich dann die Beobachtung, die meine Auffassung bestätigte. Das Kind hatte eine Holzspule, die mit einem Bindfaden umwickelt war. Es fiel ihm nie ein, sie zum Beispiel am Boden hinter sich herzuziehen, also Wagen mit ihr zu spielen, sondern es warf die am Faden gehaltene Spule mit großem Geschick über den Rand seines verhängten Bettchens, so daß sie darin verschwand, sagte dazu sein bedeutungsvolles o-o-o-o und zog dann die Spule am Faden wieder aus dem Bett heraus, begrüßte aber deren Erscheinen jetzt mit einem freudigen »Da«. Das war also das komplette Spiel, Verschwinden und Wiederkommen, wovon man zumeist nur den ersten Akt zu sehen bekam, und dieser wurde für sich allein unermüdlich als Spiel wiederholt, obwohl die größere Lust unzweifelhaft dem zweiten Akt anhing. (Freud 1922/ 2017: 8-9) Das Beispiel zeigt überdies, wie wichtig eine Top-down-Vorgehensweise ist. Aus der Analyse der Gesamtsituation (Autor, Zeit, Intentionen, etc.) wissen wir, dass Christiane Oliviers Psychologie „anti-freudianisch“ ist. Ihre Kenntnis der Werke Freuds ist hervorragend, und sie zitiert häufig daraus, direkt oder indirekt. Dieses Wissen leitet unsere Interpretation der in Beispiel 4 zitierten Stelle, die sonst eher inkohärent erscheinen und ein hohes Maß an Unsicherheit her‐ 270 Christiane Nord (5) vorrufen würde. Der deutsche Übersetzer zitiert normalerweise die deutschen Titel von Freuds Werken, was darauf hinweist, dass er mit diesen Texten gut vertraut ist. Jenseits des Lustprinzips wird jedoch nicht explizit zitiert, daher hat er vermutlich gerade diesen Text übersehen. 3.5 Zweifel auf der Ebene der Phraseologie Natürlich übersetzen professionelle (funktionale) Translatoren keine isolierten Sätze oder Phraseologismen, sondern Phraseologismen-im-Kontext, und der Kontext reduziert normalerweise die Unsicherheit in Bezug auf die Interpreta‐ tion, wie wir auch in Beispiel 4 gesehen haben. Metasprachliche Referenzen auf eine bestimmte Wendung können aber durchaus eine ausgangsspracheno‐ rientierte Wiedergabe verlangen. Wenn in der Zielsprache keine ähnliche oder gleiche Wendung vorhanden ist, hilft nur ein „Shift“, eine Verschiebung, und jede Verschiebung produziert unweigerlich Unsicherheit. Beispiel: La femme « tombe » enceinte, vous connaissez l’expression. Comme si brutalement elle avait un accident, quelque chose qu’elle n’aurait pas prévu et qui la ferait trébucher. (Olivier 1980: 60) • The women ‘gets’ pregnant, in the phrase everyone knows. As if with brutal suddenness she had contracted something by accident, something that would lay her low. (Olivier 1989a: 39; Übers. George Craig) • Die Frau „gerät in Umstände“*. Sie kennen den Ausdruck. Als ob sie ganz plötzlich einen Unfall hätte, etwas das sie nicht hätte voraussehen können, etwas das sie „stolpern ließ“. * Im frz. Original „La femme ‚tombe‘ enceinte…“; dadurch schließt sich der folgende Gedanke eines Unfalls („accident“) im Original logischer an. (Olivier 1989b: 54; Übers. Siegfried Reinke) Hier kommentiert die Autorin mit ironischem Unterton den französischen Ausdruck tomber enceinte, um die Ideologie aufzudecken, die in scheinbar unschuldigen Redewendungen steckt. Beide Übersetzer sind sehr unsicher, was sie mit dieser Stelle machen sollen, weil weder die englische noch die deutsche Sprache einen ähnlichen Ausdruck für eine Schwangerschaft bietet. Der englische Übersetzer bleibt bei seiner instrumentellen Strategie und wählt den üblichen englischen Ausdruck to get pregnant. Das Problem hierbei ist, dass dies nicht wirklich ein Phraseologismus ist und auch, zumindest bei mir, nicht die Vorstellung von „brutal suddenness“ hervorruft. 271 Im Zweifel für den Skopos (6) Der deutsche Übersetzer hätte, wenn er bei seiner dokumentarischen Stra‐ tegie geblieben wäre, durchaus zu einer wörtlichen Übersetzung greifen können, zusammen mit einem Zusatz wie „wie wir auf Französisch sagen“. Stattdessen kreiert er eine deutsche Wendung, in Umstände geraten, vermutlich in Analogie zu den „anderen Umständen“, was weder eine dokumentarisch-wörtliche Über‐ setzung, noch eine Adaptation ist, die zu einer instrumentellen Übersetzung führen würde. Dadurch wird auch der Folgesatz (Sie kennen den Ausdruck) un‐ sinnig, denn die Leser und Leserinnen kennen diesen Ausdruck natürlich nicht, weil er nicht existiert. In seiner Anmerkung gibt er dann den französischen Ausdruck wieder und vergisst dabei das Einzige, was er über seine Leser sicher weiß: Sie können nicht Französisch, sonst würden sie das Original lesen. Für eine konsistente instrumentelle Übersetzung ins Deutsche hätte man sich in einem Thesaurus ein wenig in dem Wortfeld „Schwangerschaft / Geburt“ umschauen können und wäre dann vermutlich auf das Verb niederkommen gestoßen. Zwar hätte die Verwendung dieses Verbs (es ist ja auch kein Phraeo‐ logismus) noch weitere Transformationen erfordert, aber man hätte doch einen kohärenten Text produzieren können, etwa so: • Die Frau „kommt nieder“, sagt man. Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass das so klingt, als hätte sie plötzlich einen Unfall, bei dem etwas Unerwartetes auf sie herabfällt, das sie zu Boden wirft? (Übers. C.N.) 3.6 Zweifel auf der Wortebene Auf der Wortebene entsteht Unsicherheit durch Polysemien, falsche Freunde, das Fehlen eines Äquivalents in der Zielsprache („Null-Äquivalenz“) etc. Nor‐ malerweise lösen sich solche Probleme von selbst durch den sprachlichen, kulturellen oder pragmatischen Kontext, sofern nicht eine „konkordante Über‐ setzung“ angestrebt wird, wie das bei manchen Bibelübersetzungen der Fall ist. Der deutsche Übersetzer scheint so eine konkordante Übersetzung anzustreben, zum Beispiel mit dem französischen Wort discours, das die Autorin in verschie‐ denen Kontexten mit jeweils unterschiedlicher Bedeutung verwendet. Gleich in den ersten Zeilen ihres Vorworts verdeutlicht Olivier ihre Position zwischen den Extremen: Beispiel: Il y a le discours analytique : recherché, compliqué, étudié pour vous écarter, vous semer, vous éberluer vous qui n’êtes pas analystes… Il y a le discours féministe : discours coloré, imagé, sexué, fait pour que vous entriez, compreniez, même si vous n’êtes pas féministe, d’autant que vous n’êtes pas féministe… Et il y a ceux qui ne se reconnaissent ni dans l’un 272 Christiane Nord ni dans l’autre parce que, de toute façon, ils refusent d’être extrémistes. Me tenir entre ces deux discours, ne pas m’isoler en adoptant le premier, ne pas vous submerger en parlant le second. Parler le langage du milieu, celui que ne met de côté ni l’affect ni l’intellect. Entre femme et analyste, c’est-à-dire porter les deux extrêmes, garder ensemble l’émoi et le verbe, refuser d’être ou plus femme ou plus analyste, refuser de me diviser ou de me spécialiser. (Olivier 1980: 5, Avant-propos) • Psychoanalysis has its language: sophisticated, complicated, de‐ signed to drive away any of you who are not analysts, to throw you off the track, blind you with science. Feminism has its language: high in colour and imagery, sexualized, made to allow you in, to let you understand, even if you’re not a feminist, most of all if you’re not a feminist. Then there are those who don’t feel at home in either because in any event they refuse to be extremists. Must stay somewhere between these two languages; not cut myself off from you by taking up the first, not swamp you by talking the second. Must talk instead the language of the centre, which leaves out neither emotion nor intellect. Must be woman and analyst, that is, keep up the two extremes, keep together the orderedness and the disorder of feeling, refuse to be either more woman or more analyst, refuse to split or specialize. (Olivier 1989a: ix, Introduction; Übers. George Craig) • Es gibt den analytischen Diskurs: spitzfindig, gekünstelt, kompli‐ ziert, um Sie, den Nicht-Analytiker, zu verblüffen und auf Distanz zu halten… Es gibt den feministischen Diskurs: farbig, bildhaft, sexualisiert, dazu da, um Sie einzubeziehen und verstehen zu lassen, selbst wenn Sie kein(e) Feminist(in) sind - oder gerade weil Sie es nicht sind… Und es gibt jene, die sich weder in dem einen noch in dem anderen wiedererkennen, weil sie auf jeden Fall extreme Positionen ablehnen. Für mich ist die Mitte entscheidend. Ich will mich nicht isolieren, wenn ich mich in den ersten Diskurs begebe, und Sie nicht überschwemmen, wenn ich den zweiten verwende. Ich möchte versuchen, die Sprache der Mitte zu sprechen, die sowohl das Gefühl als auch den Intellekt berücksichtigt: Frau und Analytikerin zu sein heißt, beide Extreme in sich zu tragen, sich nicht teilen zu lassen. (Olivier 1989b: 9, Vorwort; Übers. Siegfried Reinke) Schon eine oberflächliche Analyse des weiteren Kontexts zeigt, dass Olivier keine Linguistin ist und discours und langage als Synonyme benutzt. Im Deut‐ 273 Im Zweifel für den Skopos (7) (8) schen dagegen ist Diskurs (ähnlich wie discourse im Englischen) ein linguisti‐ scher Terminus. Daher widerspricht die deutsche Übersetzung geradezu der von der Autorin eingenommenen Mittel-Position. Es zeigt sich wieder einmal, dass „Treue zum Wort“ häufig „Verrat am Sinn“ zur Folge hat, wie auch in den beiden folgenden Fällen deutlich wird. Beispiele: Discours imaginaire (Olivier 1980: 7) • Voices off (Olivier 1989a: x; Übers. George Craig) Imaginärer Diskurs (Olivier 1989b: 9; Übers. Siegfried Reinke) […] le premier discours, car avant le transférentiel il y eut le Transmaternel. (Olivier 1980: 6) • […] the earliest language of all. For, long before the transferential, there was the transmaternal. (Olivier 1989a: viii; Übers: George Craig) • […] ist es notwendig, bis zum allerersten Diskurs zurückzugehen, denn vor der Übertragung gab es das ›Transmütterliche‹*, das, was von der Mutter zu uns kommt. * Wortschöpfung der Autorin: im Original „transmaternel“, in Anleh‐ nung an „transférentiel“, die später einsetzende Übertragung (Anm. d. Ü.). (Olivier 1989b: 8; Übers. Siegfried Reinke) In Beispiel 7 bezieht sich discours auf eine virtuelle Diskussion zwischen den zitierten Autoren, während dasselbe Wort in Beispiel 8 die erste Verbindung oder Interaktion zwischen der Mutter und ihrem ungeborenen Kind beschreibt. In beiden Fällen ergibt Diskurs im Deutschen keinerlei Sinn. Der englische Übersetzer gibt die jeweilige Bedeutung sinngemäß wieder und folgt damit seiner üblichen Strategie. Auf der Wortebene kann sogar die Morphologie zu Unsicherheit und Zweifel führen. Im Französischen und Englischen kann man mit einem lateinischen Stamm und einem lateinischen Präfix ohne Weiteres ein neues Wort bilden, während im Deutschen ein lateinisches Präfix (trans-) mit einem germanischen Stamm (mütterlich) nicht normgerecht kombinierbar ist. Je nach Adressaten‐ kreis könnte im Deutschen auch ein Latinismus wie transmaternell oder trans‐ maternal verwendet werden, aber das ist auf der Ebene der Pragmatik zu entscheiden. 274 Christiane Nord 4 Schlussbemerkung Jeder Translationsprozess birgt Unsicherheit und Zweifel, und ein funktionaler Ansatz kann keinen zweifelsfreien Prozess versprechen. Wir haben jedoch zu zeigen versucht, dass ein Verfahren, das auf der obersten Ebene des Über‐ setzungsauftrags beginnt und dann Schritt für Schritt über die Ebenen von Pragmatik, Kultur, Sprache und Text bis hinunter zur Wortebene führt, die Wahlmöglichkeiten und damit auch die Unsicherheiten verringert. Der Übersetzungsauftrag verlangt eine Entscheidung für einen der beiden Übersetzungstypen mit einer der dazugehörigen Übersetzungsformen und stellt damit die Weichen für den weiteren Prozess. Je nach dem gewählten Überset‐ zungstyp wird dann entweder die Pragmatik des Ausgangstextes beibehalten (dokumentarische Übersetzung) oder für den Zieltext eine neue Pragmatik festgelegt, die der Situation der zielkulturellen Empfänger entspricht (instru‐ mentelle Übersetzung). Damit enden aber auch die binären Entscheidungen. Auf der Ebene der Kultur können Normen und Konventionen jeweils ent‐ weder reproduziert oder adaptiert werden, wobei dies unter anderem durch Translationskonventionen oder durch die Konventionen der Zielkultur bedingt ist, in der ja durchaus auch ausgangskulturelle Konventionen vorhanden sein können. Manche zielkulturellen Konventionen „funktionieren“ auch in der Zielkultur, während andere verständnishemmend wirken oder sogar zu Miss‐ verständnissen führen. Auf der Ebene der Sprache können wir durchaus davon ausgehen, dass in der Regel die Normen der Zielsprache Geltung haben, aber das ist keineswegs eine Regel - es gibt Fälle, besonders in metasprachlichen Kontexten, in denen die ausgangssprachlichen Normen übernommen werden können oder sogar übernommen werden müssen. Auch wenn wir weiter zu den Ebenen von Phrase, Wort oder sogar Morphemen „hinuntersteigen“, kann es noch immer Gelegenheiten für Unsicherheit und Zweifel geben. Wenn beispielsweise zwei oder mehr Lexeme die Anforderungen der höheren Ränge erfüllen würden, können Kontext-Restriktionen oder letzten Endes auch ideolektale Präferenzen der übersetzenden Person für eine Lösung herangezogen werden. In der professionellen Übersetzungspraxis erscheint ein solches Top-down-Verfahren vielleicht zu zeitaufwendig, um angesichts des branchen‐ üblichen Zeitdrucks effizient zu sein. Wenn solch ein Verfahren jedoch von An‐ fang an - schon in der Ausbildung - praktiziert wird, können Übersetzerinnen und Übersetzer diese Art, mit Unsicherheit und Zweifel umzugehen, internali‐ sieren und so mit der Zeit zu mehr Sicherheit beim Übersetzen gelangen. Die Berufung auf ein Gespräch mit der Autorin kann keine Sicherheit gewährleisten, 275 Im Zweifel für den Skopos wenn diese die Zielsprache nicht beherrscht und vor allem keine Übersetzerin ist. Literatur Bretécher, Claire (1979 & 1989). Les Frustrés 4. Paris : Claire Bretécher. Freud, Sigmund (1922 & 2017). Jenseits des Lustprinzips, 8-9. (http: / / sigmund-freud.net/ wp-content/ uploads/ 2017/ 12/ Jenseits-des-Lustprinzips.pdf; 03.12.2019). Levý, Jiři (1967 & 1981). Übersetzung als Entscheidungsprozess. In: Wilss, Wolfram (Hrsg.). Übersetzungswissenschaft. Darmstadt: Wissenschaftl. Buchgesellschaft, 219-236. Englische Fassung: Translation as a Decision Process. In: To Honor Roman Jakobson: Essays on the Occasion of his Seventieth Birthday, 11 October 1966. Vol. I-III. Janua Linguarum Series Maior, 31, 32, 33. Den Haag / Paris: Mouton. Nord, Christiane (1988 & 4 2009). Textanalyse und Übersetzen. Theoretische Grundlagen, Methode und didaktische Anwendung einer übersetzungsrelevanten Textanalyse. Tü‐ bingen: Julius Groos. Nord, Christiane (1997 & 2 2018). Translating as a Purposeful Activity. Functionalist Ap‐ proaches Explained. Completely revised and updated. London & New York: Routledge. Nord, Christiane (2011). Funktionsgerechtigkeit und Loyalität. Theorie, Methode und Didaktik des funktionalen Übersetzens. Berlin: Frank & Timme. Olivier, Christiane (1980). Les enfants de Jocaste : L’empreinte de la mère. Paris : Éditions Denoël. Olivier, Christiane (1989a). Jocasta’s Children: The Imprint of the Mother. (Übers. George Craig). London & New York: Routledge. Olivier, Christiane (1989b). Jokastes Kinder: Die Psyche der Frau im Schatten der Mutter. (Übers. Siegfried Reinke). München: dtv. Reiß, Katharina & Hans J. Vermeer (1984 / 2 1991). Grundlegung einer allgemeinen Trans‐ lationstheorie. Tübingen: Niemeyer. Vermeer, Hans J. (1978). Ein Rahmen für eine allgemeine Translationstheorie. In: Lebende Sprachen 23, 99-102. 276 Christiane Nord 1 Verfügbar auf der Homepage des Europarats / Council of Europe www.coe.int/ lang-ce fr. 2 Zusammen mit seinen Partnern, der KMK (= Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland), der Schweizerischen Konferenz der Kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) und dem Österreichischen Sprachdiplom (ÖSD, BM: BWK = Österreichisches Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur), verfügbar auf www.goethe.de/ referenzrahmen. 3 Vgl. seine Website https: / / sites.google.com/ site/ raaschalbert/ bibliographie-albert-raasc h-2. Mediation im Begleitband zum Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen Herausforderungen und Chancen für den Fremdsprachenunterricht in der Weiterbildung Rudi Camerer / Jürgen Quetz 1 Zur Entstehung des GeR Das Dokument Common European Framework of Reference for Languages: Teaching, Learning, Assessment (CEFR) / Cadre européen commun de référence pour les langues: apprendre, enseigner, évaluer (CECR) wurde 2001 vom Eu‐ roparat auf Englisch und Französisch 1 vorgelegt und im gleichen Jahr vom Goethe-Institut 2 in einer deutschen Fassung unter dem Titel Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: lernen, lehren, beurteilen (GeR) veröffentlicht. Der CEFR / GeR hat sich weltweit als unverzichtbares Instrument für die Erstellung von Curricula, Lehrwerken und internationalen Testsystemen durchgesetzt, ebenso für Institutionen und Administrationen, die Sprachenan‐ gebote planen. Über 40 Übersetzungen sind Beweis für seine internationale Durchschlagskraft und davon, dass vor allem die Idee einer mehrsprachigen Kompetenz bzw. Bildung und die sechs Referenzniveaus (A1, A2, B1 bis C2) zum Standard wurden. Albert Raasch hat diese Entwicklung in zahlreichen sprachenpolitischen Publikationen mitgetragen und kommentiert 3 . 4 Wir zitieren den GeR im Folgenden in der Druckfassung von Langenscheidt als „Europarat 2001: Seitenzahl“. 2 Der GeR als sprachenpolitisches Dokument Dass der GeR eine solch große Wirkung erreichte, lag zwar in erster Linie an den Kompetenzbeschreibungen auf den Referenzniveaus; dessen ungeachtet wollte der Europarat ein zwar nicht neues, aber bislang doch wenig beachtetes Konzept von Mehrsprachigkeit wieder in den Fokus des öffentlichen Interesses rücken: Mehrsprachigkeit unterscheidet sich von Vielsprachigkeit, also der individuellen Kenntnis einer Anzahl von Sprachen [ und] betont die Tatsache, dass sich die Spracherfahrung eines Menschen in seinen kulturellen Kontexten erweitert. [] Diese Sprachen und Kulturen [] bilden [] gemeinsam eine kommunikative Kompetenz, zu der alle Sprachkenntnisse und Spracherfahrungen beitragen und in der die Sprachen miteinander in Beziehung stehen und interagieren. (Europarat 2001: 17) 4 Das war in Europa vor allem deshalb wichtig, weil der „Schengenraum“ eine große Freizügigkeit unter europäischen Bürgern und Bürgerinnen erlaubt und eine hohe Arbeitsmigration zur Folge hatte. Das betraf zunächst „Gastarbeiter“ aus Italien, Spanien und Portugal, später aber auch Türken, obgleich diese nicht EU-Bürger sind. Bei den verschiedenen Generationen dieser Zuwanderer war das Phänomen Mehrsprachigkeit zu beobachten, denn ihre Sprachen kon‐ kurrieren nicht miteinander, sondern stützen und fördern sich gegenseitig. Dazu tragen auch die in der Schule gelernten Sprachen bei. Im GeR wurde zwar das Konzept Mehrsprachigkeit propagiert, schlug sich aber nicht in konkreten Skalen und Deskriptoren nieder. Mehrsprachigkeit wurde zunächst als allgemeines Prinzip formuliert, das einer Konkretisie‐ rung bedurfte. Da Mehrsprachigkeit auf verschiedenen Kompetenzniveaus vorkommt, bedarf es oft der Mittlung zwischen Sprachen durch Personen, die beider dieser Sprachen mächtig sind. Auf Deutsch gibt es dafür den traditio‐ nellen Begriff der Sprachmittlung, auf Englisch Mediation. Vor allem das Konzept von Mediation bedurfte einer gründlichen theoretischen Basis, weil es in der deutschen Fremdsprachendidaktik als eher sekundär gegenüber Übersetzen und Dolmetschen galt - Kompetenzen, die man eher Spezialisten für diese Tätig‐ keiten zuschrieb und die deshalb im Bildungsbereich von Schule und Weiterbil‐ dung kaum erwähnt wurden. Im schulischen Fremdsprachenunterricht hatte man sich ja von der Grammatik-Übersetzungsmethode verabschiedet und war im kommunikativen Fremdsprachenunterricht zum Training des Sprechens, des Hör- und des Leseverstehens sowie des Schreibens übergegangen. 278 Rudi Camerer / Jürgen Quetz 5 Wir zitieren aus der deutschen Fassung: Europarat (2020). Begleitband zum GeR. Stuttgart: Ernst Klett Sprachen. 3 Der GeR als sprachdidaktischer Neubeginn Insofern war der GeR ein sprachdidaktischer Neubeginn, als er über die Schu‐ lung solcher Fertigkeiten und Kompetenzen hinaus den Blick darauf lenkte, dass Lernende sich immer in einem Übergangsstadium zwischen ihrer Erstsprache und der Zweit- oder anderen Fremdsprachen befinden, die sie lernen oder im informellen Kontexten außerhalb des Bildungswesens erwerben. Das kam aber noch nicht klar zum Ausdruck, weil die Autoren keine belastbare Lerntheorie formulierten. Im Gegenteil: Der GeR ist im Bereich des Lernens höchst eklek‐ tisch und eher skeptisch gegenüber aktuellen Ansätzen in der lerntheoretischen Forschung. Folglich blieben die wegweisenden Ansätze vor allem zu einer Neukonzeption von Mediation ungenau und wurden im Bildungsbereich im Grunde nur oberflächlich als Mittlung zwischen zwei Sprachen aufgegriffen. Die Aufmerksamkeit der Fremdsprachendidaktik richtete sich zunächst in erster Linie auf die Skalen mit Beispieldeskriptoren für verschiedene Kompe‐ tenzen - die zu dem sensationellen Erfolg des GeR beitrugen und zur Basis von allerlei Zwecken wurde - von Curricula und Lehrwerken über Normierungen von Schulabschlüssen und Qualifikationen, auch für Tests für Zuwanderer und vieles andere mehr. 4 Der Begleitband zum GeR von 2018 / 2020 Nach langer Vorarbeit unter Mithilfe vieler Experten und Berater erstellten Brian North, Tim Goodier & Enrica Piccardo einen Begleitband zum GeR (CEFR Companion Volume), der im Jahre 2020 auf Englisch, Französisch und Deutsch erscheint 5 . Dieser Begleitband ist eine interessante Erweiterung des GeR in vielfacher Hinsicht. Zunächst einmal betonen North, Goodier & Piccardo, dass der Begleitband den GeR keineswegs ersetzen oder ablösen soll, sondern vor allem eine Erweiterung darstellt, weil sich die Welt verändert hat (z. B. bei der Mediennutzung und auf dem Gebiet der Online-Kommunikation) oder weil in verschiedenen Verwendungskontexten ein Bedürfnis nach Komplettierung durch weitere Skalen entstanden sei (z. B. in der Schule nach Skalen zur Literatur bzw. kreativen Texten allgemein und generell beim Fremdsprachenlernen eine Auffächerung des Anfangsniveaus in zwei Stufen, A1 und „vor A1“, was die Entwicklung von Kompetenzen auf diesem Niveau besser erfassbar macht): 279 Mediation im Begleitband zum Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen Das war unmittelbar plausibel, aber darüber hinaus war im Rahmen der Arbeit des Europarats das Bedürfnis entstanden, einer Reduzierung des GeR auf die sogenannte „Globalskala“ entgegenzuwirken, die die Rezeption des GeR in der allgemeinen Öffentlichkeit ebenso wie in weiten Kreisen der Fachöffentlichkeit seit 2001 geprägt hatte. Bemerkenswert am Begleitband ist somit, dass er, anders als der GeR, die „Globalskala“ in einem Anhang versteckt und sich darauf konzentriert, dass Sprachnutzende und Lernende ihre Kompetenzen in den verschiedenen Bereichen sehr individuell entwickeln. Je nach Sprachbedürfnissen und den Erfordernissen in verschiedenen Verwen‐ dungszusammenhängen bilden sich ungleichmäßige Kompetenzprofile heraus, wie der Begleitband an einem Beispiel erläutert: Abb. 1: Europarat 2020: 47 Dies bremst einen Vorwurf aus, der dem GeR von Anfang an gemacht wurde und immer wieder gemacht wird, dass er nämlich für unerwünschte Normierungen missbraucht werden kann, wie etwa für Türhüterfunktionen bei der Zuwan‐ derung, bei der Abschirmung von Zugängen zu höheren Bildungsformen im Schulwesen usw. Die Bedeutung differenzierter Kompetenzprofile war bereits 2001 benannt und als Begründung für die insgesamt 54 Deskriptorenskalen gegeben worden. Dies wurde in der Rezeption des GeR aber oft übersehen, 280 Rudi Camerer / Jürgen Quetz obgleich sich die Autoren des GeR - John Trim, Daniel Coste, Brian North und Joseph Sheils - große Mühe gaben, das an vielen Stellen hervorzuheben. Darüber hinaus ging es darum, die Ansätze zur Mehrsprachigkeit (Plurilin‐ gualität) und zur kulturellen Vielfalt (Plurikulturalität“) über den GeR hinaus zu erweitern (z. B. in FREPA/ CARAP, A Framework of Reference for Pluralistic Approaches to Languages and Cultures. Damit war auch die Präzisierung des Konzepts von Mediation verbunden (vgl. Coste & Cavalli 2015). Der neue Begleitband von 2018 / 2020 stellte den GeR von 2001 folglich auf ein anderes Fundament, bei dem Mediation eine völlig neue Rolle erhielt. Sie war jetzt nicht eine von mehreren Kompetenzen neben den bekannten, sondern ein zentraler Faktor im Gefüge der Kompetenzen, wie die Abbildung 2 aus dem Begleitband zeigt: Abb 2: Beziehungen zwischen Rezeption, Produktion, Interaktion und Mediation (Quelle: Europarat 2020: 40) Mediation findet laut Begleitband, nicht notwendigerweise nur zwischen Spre‐ chern verschiedener Sprachen, sondern allgemein im Alltagsleben statt - zum Beispiel bei einer Mediation juristischer Art. In fremdsprachlicher Kommuni‐ kation wird dabei ein kultureller „dritter Ort / “Third place” (Kramsch 1993: 233 ff.) geschaffen, an dem sich Sprecher verschiedener Sprachen verständigen und ihre Interessen aushandeln können. Der Fokus liegt dabei auf der gemeinsamen Konstruktion von Bedeutung in sozialen, pädagogischen, kulturellen, sprachli‐ chen oder beruflichen Kontexten. Das ist ein völlig anderes Konzept als das traditionelle der Übersetzung bzw. des Dolmetschens. Der Begleitband unterscheidet zwischen einer kognitiven und einer bezie‐ hungsrelevanten Mediation. Auf der kognitiven Ebene geht es darum, dass Sprachmittler / innen versuchen, das, was jemand sagt, an einen oder mehrere Rezipienten zu vermitteln. Auf der Beziehungsebene geht es um die Schaffung eines Ortes (im übertragenen Sinn, wie bei Kramsch), der diese Zusammenarbeit ermöglicht. Das erleichtert, die Auflösung heikler Situationen und Konflikte. Der Begleitband entwirft folgende Systematik: 281 Mediation im Begleitband zum Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen Abb.3: Quelle: Europarat 2020: 112; PowerPoint von Rudi Camerer, unveröffentl. 2020 Die Aufgabe bei Mediationsaktivitäten besteht darin, Brücken zwischen den Gesprächspartnern zu schlagen. Das ist ganz etwas Anderes als traditionelles Dolmetschen und Übersetzen, weil es bei dieser Art von Mediation auch darum geht, Vertrauen zu schaffen, um ein tieferes Verstehen zwischen den Partnern herzustellen und ihnen dabei zu helfen, Schwierigkeiten zu umgehen, die aus unterschiedlichen Blickwinkeln entstehen könnten. Diese Überlappung zu interkultureller kommunikativer Kompetenz, ver‐ bunden mit einer Rolle als Mittelnde zwischen Kulturen, ist in der Fremdspra‐ chendidaktik nicht völlig neu. Neu sind aber Fertigkeiten wie „Kommunikation in heiklen Situationen und bei Meinungsverschiedenheiten erleichtern“ (Euro‐ parat 2020: 138 f.). Diese Kompetenzen benötigen auch Scheidungsanwälte oder Schlichter zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften, ohne dass zwangsläufig eine Fremdsprache eine Rolle spielen würde, obgleich es durchaus vorstellbar ist, dass die oben zitierten interkulturellen Kompetenzen eine Rolle spielen können. Die theoretische Erweiterung des Bereichs ist bemerkenswert und richtungs‐ weisend. Es müssen nämlich auch Mediationskompetenzen und Mediationsst‐ 282 Rudi Camerer / Jürgen Quetz 6 Die Anhänge findet man nicht in der gedruckten Fassung des Begleitbandes, sondern auf der Homepage des Ernst-Klett-Verlags. rategien formuliert werden, die in muttersprachlicher Kommunikation eine Rolle spielen. 5 Zum Konstrukt von Mediation im Begleitband Die Autoren und Autorinnen des Begleitbandes betonen wiederholt, dass nur ein holistisches Verständnis plurikultureller Kompetenzen angemessen sei. Ein separates Benennen verschiedener Aspekte sei nur in der Reflexion, nicht aber in der Praxis möglich (Europarat 2020: 53, 118 u. a.). Beispielswese können Fähigkeiten wie Daten oder eine Grafik erklären, Einen dichten Text erläutern, Mit vorhandenem Wissen verknüpfen (all dies Aspekte kognitiver Mediation) wichtige Komponenten der Fähigkeit sein, die Zusammenarbeit in einer Gruppe zu fördern oder die Kommunikation in heiklen Situationen und Konflikten zu erleichtern (also von Aspekten beziehungsrelevanter Mediation). Es ist jedoch praktisch unmöglich, eine kognitive Mediation durchzuführen, ohne dabei die betreffenden Beziehungsfragen zu berücksichtigen. Wirkliche Kommunikation erfordert eine ganzheitliche Integration beider Aspekte. (Eu‐ roparat 2020: Anhang 5 6 ) Der Hinweis auf die meist entscheidende Rolle der Beziehungsarbeit - man kann auch sagen: von Vertrauensbildung - greift eine zentrale These kommunikationstheoretischer Schlüsselwerke der 1960er Jahre auf, der zu Folge „Jede Kommunikation einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt [hat], wobei Letzterer den Ersteren bestimmt und daher eine Metakommunikation ist“ (Watzlawick, Beavin & Jackson 1969: 50 ff.). So verspätet diese Klarstellung im Begleitband auch kommen mag, so wichtig ist sie für das Verständnis des neuen Ansatzes. Die folgenden Überlegungen zu künftigen Herausforderungen und Chancen des Fremdsprachenunterrichts knüpfen hier an. Denn zahlreiche Deskriptoren der Skalen zur beziehungsrelevanten Mediation beschreiben Rollenzuweisungen, verbunden mit Persönlichkeitsmerkmalen, die über die Beschreibung rein sprachlicher kommunikativer Kompetenzen deutlich hinaus‐ gehen. Als Beispiel seien hier typische Deskriptoren aus zwei ausgewählten Skalen zitiert: MEDIATION ALLGEMEIN: C1: Kann als Sprachmittlende/ r effektiv handeln und dazu beitragen, eine positive Interaktion zu sichern, indem er / sie verschiedene Perspektiven interpretiert und 283 Mediation im Begleitband zum Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen 7 Das Verzeichnis Testverfahren, die sogenannte Trierer Liste, führt derzeit 7979 Tests dieses psychometrischen Modells auf. Verzeichnis Testverfahren (Stand Januar 2020) https: / / www.psyndex.de/ pub/ tests/ verz_teil1.pdf. 8 Vgl. die sechs als konsensfähig bezeichneten Grundpositionen bei Omoniyi and White (2006: 2): (1) identity is not fixed, (2) identity is constructed and may vary, (3) contexts are moderated by social variables and are expressed through language, (4) identity is salient in every communicative context, (5) identity informs social relationships and communicative exchanges, and (6) more than one identity may be articulated equating an interactive system of identities management. Vgl. auch Camerer 2014. mit Mehrdeutigkeiten umgehen kann, mögliche Missverständnisse antizipiert und mit diplomatischem Geschick interveniert, um das Gespräch in eine positive Bahn zu lenken. B1: Kann mit Menschen verschiedener Herkunft zusammenarbeiten und dabei Inter‐ esse und Empathie zeigen, indem er / sie einfache Fragen stellt und beantwortet, Vorschläge macht und darauf reagiert, sie nach ihrer Zustimmung fragt und alterna‐ tive Möglichkeiten aufzeigt. Gespräche über Konzepte und Ideen fördern: C2: Kann in einer Diskussion zu komplexen abstrakten Themen die Gedankenent‐ wicklung und die Richtung des Gesprächs mit gezielten Fragen wirksam leiten und andere ermutigen, ihre Argumentation näher auszuführen. C1: Kann mit Bezug auf verschiedene Beiträge eine Reihe offener Fragen stellen, um logisches Argumentieren anzuregen (z. B. Hypothesen bilden, Rückschlüsse ziehen, analysieren, begründen und vorhersagen). B2: Kann Gruppenmitglieder ermutigen, Informationen und Gedanken der anderen aufzugreifen, um ein Konzept oder eine Lösung vorzuschlagen. (Hervohebungen R.C. und J.Q.) Deutlich ist, dass Merkmale wie Empathiefähigkeit, Fairness, diplomatisches Geschick oder Motivationsfähigkeit nicht als Ausdruck einer wie auch immer verstandenen Persönlichkeit verstanden werden. Das ist wichtig festzuhalten, weil beispielsweise in der interkulturellen Trainingspraxis psychologische Per‐ sönlichkeitsmodelle nach wie vor eine maßgebliche Rolle spielen, auf deren Grundlage Menschen mittels Fragebögen einer Reihe von Persönlichkeitstypen zugeordnet werden. 7 Für die Autoren des GeR sind die zitierten Persönlichkeits‐ merkmale dagegen Ausdruck kommunikativen Handelns - ein Verständnis übrigens, das im Wesentlichen dem Stand der Fachdiskussionen zur Persönlich‐ keitstheorie entspricht. 8 284 Rudi Camerer / Jürgen Quetz 9 Vgl. die entsprechende Passage im Begleitband: Solch ein Profil kann zeigen, wie die Kompetenz einzelner Sprachverwendender/ Lernender fast immer ungleichmäßig ist, eben eine ‚Teilkompetenz‘. Diese ist in der Regel beeinflusst durch den häuslichen Hintergrund, durch die Anforderungen der Situationen, in der die Personen sich befand, und durch die Erfahrung, die auch transversale Kompetenzen umfasst, die im allgemeinen Bildungsprozess im Berufsleben durch die Benutzung anderer Spra‐ chen erworben wurden. Die Profile zweier Sprachverwendenden/ Lernenden können daher zwar auf dem gleichen Niveau sein, sind aber wahrscheinlich nicht absolut identisch, weil sie die Lebenserfahrung der jeweiligen Person widerspiegeln sowie ihre angeborenen Fähigkeiten, was der GeR (Abschnitt 5.2) als ‚Allgemeine Kompetenzen‘ beschreibt. (Europarat 2020: 48). 10 Klett 2018. Linie 1 - A2.2 11 Cornelsen 2019. Basis for Business. B2. Dessen ungeachtet dürften nicht alle Sprachnutzenden / Sprachlernenden zu derartigen Rollenübernahmen bereit oder fähig sein. Wie weit und unter welchen Umständen solche Merkmale kommunikativer Kompetenzen im Ein‐ zelfall einzulösen sind, hängt von einer Vielzahl von Bedingungen ab, darunter dem Kontext und dem persönlichen Bildungs- und Erfahrungshintergrund. 9 Festzuhalten ist, dass ausnahmslos alle Skalen zur beziehungsrelevanten Me‐ diation anspruchsvolle Rollenvorgaben enthalten und die dazu erforderlichen Persönlichkeitsmerkmale explizit oder implizit ansprechen. Die als Mediation beschriebenen beziehungsgestaltenden Kompetenzen sind somit unverzicht‐ bare Bestandteile des Kompetenzmodells insgesamt und sollten in Curricula und Tests künftig stärker in den Vordergrund gerückt werden. 6 Mediation in Lehrwerken, Curricula und Tests Bereits 2018 erschien der GeR-Begleitband in seiner ersten, inzwischen leicht revidierten Fassung. Seitdem haben mehrere (deutsche) Verlage für Lehrwerke der Erwachsenenbildung die innovativen Anregungen aufgegriffen. So werden beispielsweise in einem aktuellen Lehrwerk für DaF / DaZ auf Niveau A2.2 nicht-konfrontative Konfliktlösungs-Strategien trotz stark eingeschränkten sprachlichen Repertoires geübt, ein Beispiel eines differenzierten Kompetenz‐ profils. 10 Ein aktuelles Lehrbuch für Business English auf Niveau B2 spricht kulturell unterschiedliche Strategien des Beziehungsaufbaus in geschäftlichen Kontexten an. 11 So ausbaufähig und verbesserungsfähig solche Ansätze in Zukunft auch sein dürften, haben verschiedene Lehrwerks-Autoren und Verlage die neuen Ansätze des Begleitbands offenbar verstanden und sich auf den Weg gemacht. Von maßgeblichen Testanbietern kann dies (noch) nicht gesagt werden, denn nach wie vor bieten sie Tests gemäß dem reduzierten Verständnis der GeR-Niveaustufen an, wie es sich - in Fortschreibung jahrzehntelanger 285 Mediation im Begleitband zum Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen 12 https: / / www.occupationalenglishtest.org/ test-information/ speaking/ siehe auch Ségui, B. (2019). 13 https: / / www.managerseminare.de/ Trainerbuch/ Trainingskonzepte. Praxis - nach 2001 durchgesetzt hatte. Die kommunikativen Kompetenzen der Kandidaten werden zwar mit bewährten Testmethoden evaluiert, jedoch summarisch einer einzigen GeR-Niveaustufe zugeordnet. In der Praxis führen solche Testverfahren oft zu fragwürdigen Niveau-Bestätigungen von Schulen und Hochschulen. Vorstellbar und wünschenswert wären daher Tests, die beispielsweise ein sprachliches Niveau von B1 mit Mediations-Fertigkeiten für B2 oder höher verbinden und dokumentieren. Als derzeit einzige Ausnahme sei der Occupational English Test (OET) ge‐ nannt, ein internationaler high-stake test für Mitarbeitende im gesundheitlichen Pflegebereich. Als Reaktion auf eine empirisch belegte Nicht-Übereinstimmung von getesteten kommunikativen Fertigkeiten einerseits und den im Pflegebe‐ reich benötigten Fertigkeiten anderseits wird der Test derzeit aktualisiert. Als kritisches Kommunikations-Kriterium wird unter anderem die Fähigkeit zum Beziehungsaufbau und zur Empathie-Entwicklung genannt. 12 Tests haben be‐ kanntlich einen starken Washback-Effekt. Daher sollte der Aktualisierung und Weiterentwicklung von Fremdsprachentests hohe Bedeutung zugesprochen werden. 7 Mediation und Team-Management Neues Terrain betritt der Begleitband, wenn Fertigkeiten beschrieben werden, die für die Zusammenarbeit in einer Gruppe erforderlich sind, wobei glei‐ chermaßen an soziale, pädagogische, kulturelle, sprachliche oder berufliche Kontexte gedacht wird (GeR Bb 2020: 112). Wir wählen berufliche Kontexte und dafür insbesondere die Skalen Interaktion organisieren und Gespräche über Konzepte fördern. Unser Ziel ist es, deren Bezug zum Team-Management anzusprechen, denn zu Aspekten und Konzepten des Team-Managements liegen zahlreiche Vorarbeiten und Erfahrungen aus anderen Forschungs- und Trainingsbereichen vor. Diese dürften in der Fremdsprachendidaktik bisher selten eine Rolle gespielt haben, könnten sich aber als hilfreich für die weitere konzeptionelle Entwicklung des Fremdsprachenunterrichts erweisen. Eine thematische Übersicht zum Team-Management findet sich beispiels‐ weise für den deutschen Trainingsmarkt auf den Seiten des Weiterbildungspor‐ tals von managerSeminare. 13 Aus der Fülle der weltweit zur Verfügung stehenden Arbeiten und Ansätze wählen wir zwei Autoren aus, deren Arbeiten sich über Jahrzehnte hinweg als einflussreich erwiesen haben und deren Ansätze hier 286 Rudi Camerer / Jürgen Quetz kurz skizziert werden sollen: Ed Schein und Etienne Wenger. Ed Schein ist emeritierter MIT-Professor, gilt als Begründer der Organisationskultur-Analyse und hat internationale Firmen in Phasen der Umorganisation und Krisenbewäl‐ tigung beraten. Etienne Wenger steht für das Konzept der Communities of Practice (CoP), das in der Organisationsberatung ebenso wie in der Pädagogik weltweit Einfluss gewonnen hat. Auch Wenger bezieht seine praktischen Erfahrungen aus der Beratung internationaler Firmen. Ed Scheins Grundposition wird in seinem Klassiker The Corporate Culture Survival Guide (1999, heute 3. Auflage) klar formuliert: Culture cannot be assessed by means of surveys or questionnaires because one does not know what to ask, cannot judge the reliability and validity of the responses, and may not want to influence the organization in unknown ways through the survey itself. (Schein 1999: 101) Stattdessen genügten meist Gespräche (Schein spricht von etwa einem halben Tag) und die richtigen Fragen an die richtigen Personen einer Organisation, um eine zutreffende Vorstellung von der betreffenden Organisationskultur zu erhalten. Über viele Jahre entwickelte Schein diesen Ansatz weiter und liefert in seinen Büchern vielfältige Episoden und Erfahrungen aus Re-Organisations‐ prozessen internationaler Firmen, an denen er beteiligt war und bei denen kulturelle Missverständnisse oft eine maßgebliche Rolle spielten. Die Titel seiner jüngsten Publikationen kennzeichnen Typ und Stil der Gespräche, die er als effektiv erfahren hat und Lernenden empfiehlt: Humble Inquiry: The Gentle Art of Asking Instead of Telling (2013), Humble Consulting: How to Provide Real Help Faster (2016), Humble Leadership: The Power of Relationships, Openness, and Trust (2018). Schein ist kein Sprachwissenschaftler, daher bleiben seine Anmerkungen zur Bedeutung und den Besonderheiten „guter Kommunikation“‘ allgemein. Interessant im vorliegenden Zusammenhang ist vor allem die Bedeutung, der er vertrauensvollen Beziehungen zumisst, und seine Definition verschiedene Beziehungstypen, die in einer Organisation nebeneinander existieren können. Er unterscheidet zwischen vier Stufen des Umgangs miteinander: Minus 1: Total impersonal domination and coercion Level 1: Transactional role and rule-based supervision, service, and most forms of „professional” helping relationships Level 2: Personal cooperative, trusting relationships as in friendships and in effective teams 287 Mediation im Begleitband zum Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen Level 3: Emotionally intimate total mutual commitments (Schein 2018: 24) Level-2-Beziehungen zwischen Team-Leader und Mitarbeitenden sind laut Schein eine zentrale Voraussetzung für den Erfolg einer Organisation. Ganz ähnlich hat Etienne Wenger sieben Prinzipien beschrieben, die typisch seien für eine Community of Practice (CoP), seinen Ausdruck für gut und über formale Zuständigkeiten hinweg funktionierende Teams. Auch Wengers Blick ist nicht auf Sprache gerichtet, daher bleiben auch seine Formulierungen allgemein. Dennoch wird bei jedem der folgenden sieben Punkte deutlich, dass es ihm im Kern um effektive Kommunikation geht: From our experience, we have derived seven principles: Design for evolution. [Damit ist die grundsätzliche Prozesshaftigkeit von CoP gemeint, 52] Open a dialogue between inside and outside perspectives. [Damit ist die Ein‐ beziehung von Vertretern einer Außenperspektive in die interne Kommunikation gemeint, 54 f.] Invite different levels of participation. [Damit sind variable, statt dauerhaft festgelegte Rollen und Aufgaben innerhalb einer CoP gemeint, 56] Develop both public and private community spaces. [Damit ist die Verbindung von beruflichen und privaten Kommunikations-Räumen gemeint, 58 f.] Focus on value. [Damit ist der Mehrwert von CoP gemeint, der sich z. B. in informeller Kommunikation quer zu Hierarchie-Beziehungen ausdrückt, 60] Combine familiarity and excitement. [Damit ist ein Mix aus Routine-Aktivitäten mit Events gemeint, die der Beziehungsgestaltung dienen, 62] Create a rhythm for the community. [Damit sind regelmäßige Meetings, Telekon‐ ferenzen, Website-Aktivitäten und z. B. informelle Lunches gemeint, 62] (Wenger, McDermott & Snyder 2002: 51 ff.) Schein und Wenger sagen im Kern das Gleiche: dass für erfolgreiches Team-Management Beziehungen innerhalb des Teams erforderlich sind, die von Vertrauen und gegenseitigem Respekt geprägt sind. Erfolgreiches Team-Ma‐ nagement beinhaltet selbstverständlich auch mehr als das, beispielsweise Budgetplanung und -überwachung, Ressourcenbeschaffung, technische Infra‐ struktur, Berichtswesen und mehr. Wie Führung und Zusammenarbeit in der 288 Rudi Camerer / Jürgen Quetz täglichen Zusammenarbeit kommuniziert und praktiziert wird, steht jedoch für Schein und Wenger im Zentrum einer Vertrauenskultur, die der Schlüssel für erfolgreiches Team-Management ist. Die organisations-psychologischen und organisations-soziologischen Stu‐ dien von Schein und Wenger lassen Lücken offen, denn ihre Beschreibung von Teams, ihren internen Beziehungen und deren Gestaltung durch Kommu‐ nikation und Interaktion wird nicht mit sprachlichem Material unterlegt. Zu denken wäre an Diskursstrategien und benennbares kommunikatives Verhalten z. B. auf International English (ELF). Diese Lücken können durch Deskriptoren des Begleitbands gefüllt werden. So könnte ein Kompetenzprofil, das den Anforderungen an effizientes Team-Management gerecht wird, beispielsweise mit den folgenden Deskriptoren beschrieben werden: Interaktion organisieren B2: Kann Einzel- und Gruppenarbeit unaufdringlich überwachen und eingreifen, um eine Gruppe erneut auf die gestellte Aufgabe zu fokussieren oder um ausgewogene Beteiligung sicherzustellen. / Kann die verschie‐ denen Rollen der Teilnehmer / innen im kooperativen Prozess erklären und klare Anweisungen für die Gruppenarbeit geben. Soziolinguistische Angemessenheit B1: Ist sich der wichtigsten Unterschiede zwischen den Sitten und Gebräuchen, den Einstellungen, Werten und Überzeugungen in der betreffenden Gesellschaft und in seiner / ihrer eigenen bewusst und achtet auf entsprechende Signale. Plurikulturellen Raum fördern B1: Kann Kommunikation über Kulturen hinweg unterstützen, indem er / sie Gespräche initiiert und durch einfache Fragen und Antworten Interesse und Empathie ausdrückt. Wortschatzspektrum B1: Beherrscht ein Wortschatzspektrum in Zusammenhang mit vertrauten Themen und Alltagssituationen. (Europarat 2020) Für Curriculum-Entwickler, Lehrbuchautoren und Testkonstrukteure sollte es künftig darum gehen, das passende sprachliche Material und angemessene Diskursstrategien zu definieren, die Teamfähigkeit für Leitende und Team-Mit‐ glieder ermöglichen und kulturelle und situative Unterschiede berücksichtigen. In Kontexten aus Arbeitswelt und Organisationen ist Beziehungsmanagement die zentrale Herausforderung, mit anderen Worten: die durch Kommunikation und Interaktion von Vorgesetzten wie Mitarbeitenden gemeinsam kreierten Konstrukte von Identitäten, Rollen und Beziehungen, auf deren Grundlage ihre Zusammenarbeit möglich wird. 289 Mediation im Begleitband zum Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen Zahlreiche konventionelle Trainingsanbieter unterschätzen dies. Viele ihrer Trainingskonzepte sind „sprachlos“, insofern praktisches sprachliches Kommu‐ nizieren im Rahmen der (meist einbis zweitägigen) Kurse eine untergeordnete Rolle spielt. Beispiele finden sich zuhauf, nicht zuletzt in zahlreichen kritischen Artikeln des Harvard Business Review, wie etwa dem von Beer, Finnström & Schrader (2016), von Deborah Rowland (2016) oder von Ron Carucci (2018). Schulungsangebote für Team-Management, die der Rolle kommunikativer Kompetenzen z. B. in International English den angemessenen Rahmen bieten, fehlen dagegen weitestgehend. Hier wäre eine wichtige künftige Aufgabe des Fremdsprachenunterrichts für Erwachsene zu sehen, für die der Begleitband die Grundlagen liefert. Nicht zuletzt angesichts digitaler Übersetzungshilfen, die heute meist kostenlos und in beeindruckender Qualität zu haben sind, wäre der Mehrwert eines Fremdsprachentrainings so überzeugend zu kommunizieren. Positive Beziehungsgestaltung als Schlüssel zur erfolgreichen Zusammenar‐ beit ist nicht nur die Kernaussage des vorliegenden Beitrags, sondern kenn‐ zeichnet unser Motiv, diesen Aufsatz Albert Raasch zu widmen. Wir hatten mehrfach die Gelegenheit, mit Albert Raasch zusammenzuarbeiten, und haben seine ausgesprochene Team-Fähigkeit immer sehr geschätzt. Albert Raasch hat Zeit seines Lebens praktiziert, was er predigt. Und wie ein Kollege einmal sagte, war er stets the true gentleman unter den Romanisten Europas. Wir teilen das und gratulieren ihm herzlich zu seinem runden Geburtstag. Literatur Beer, Michael, Magnus Finnström & Derek Schrader (2016). Why Leadership Training Fails - and What to Do About It. In: Harvard Business Review, October 2016. (https: / / h br.org/ 2016/ 10/ why-leadership-training-fails-and-what-to-do-about-it; 20.4.2020). Berger, Peter L. & Thomas Luckmann (1970). Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a. Main: S. Fischer. Camerer, Rudi (2014). Testing intercultural competence in (International) English: Some basic questions and suggested answers. In: cercles-2014-0012, 207-236. (https: / / w ww.researchgate.net/ publication/ 270526488_Testing_intercultural_competence_in_I nternational_English_Some_basic_questions_and_suggested_answers; 14.04.2020). Carucci, Ron (2018). When Companies Should Invest in Training Their Employees - and When They Shouldn’t. In: Harvard Business Review, October 2018. 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Boston, Massachusetts: Harvard Business School Press. 291 Mediation im Begleitband zum Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen 1 Projekt "Sprachenangebotsverbund Saarland-Lothringen, EU-Programm Interreg II, Projektnummer 94.00.10.031C (95) 2271. 2 zum Beispiel Raasch 2004, das mir nicht nur im Rahmen des genannten und der folgenden EU-Projekte schnell zum unentbehrlichen Ratgeber wurde und noch immer prominent in meinem Regal steht. Lexikalische Polyfunktionalität als Problem bei Wörterbüchern im Kontext der Fremdsprachendidaktik Hans Giessen 1 Einleitung Albert Raasch habe ich meine ersten Erfahrungen mit einem EU-Projekt zu verdanken. 1 Seine Beschäftigung mit der Mehrsprachigkeitsthematik im deutsch-französischen, aber auch weit darüber hinausgehend im europäischen und globalen Kontext führten fast zwangsläufig zu einer gewissen Dominanz von sprachpolitischen Interventionen, und in der Tat ist beispielsweise auch unsere bisher letzte gemeinsame Veröffentlichung in diesem Zusammenhang zu sehen (Giessen, Krause, Oster-Stierle & Raasch 2018). Mit diesem Beitrag möchte ich aber einen Schritt zurück gehen und mich einem anderen Thema widmen, das jedoch die elementare Voraussetzung für Mehrsprachigkeit und Kulturtransfer ist. Wie Albert Raasch eindrucksvoll selbst belegt, liegt diese Voraussetzung in der genauen Kenntnis landeskundlicher und kultureller Themen, vor allem aber in einer überzeugenden kommunikativen Kompetenz sowie einer souveränen Sprachbeherrschung. Grundlage für diese ist wiederum die Kenntnis der Grammatik, vor allem aber der jeweiligen Lexik. Auch hier war Albert Raasch mit sehr nützlichen, anwendungsorientierten, gleichzeitig theoretisch fundierten Arbeiten nachhaltig aktiv. 2 Mir selbst wurden - seit ich überwiegend im Ausland tätig und dort mit Themen der Fremdsprachendidaktik befasst bin - die Probleme, die sich für Sprachlerner und -lernerinnen im Bereich der Lexik ergeben, zunehmend bewusst. So mag es sich um einen weiteren Berührungspunkt handeln. In jedem Fall hoffe ich, dass Albert Raasch die folgenden Überlegungen nicht ganz uninteressant finden möge. Vielen Dank für die angenehme und stets bereichernde Zusammenarbeit, die sich hoffentlich noch lange fortsetzen wird! 2 Höflichkeit als kulturelles und als linguistisches Phänomen Bei jeder Art menschlicher Interaktion spielt Höflichkeit eine Rolle, wenngleich in kulturell gebundener und damit sehr unterschiedlicher Art und Weise (Brown & Levinson 1978). Diesbezüglich war die Analyse von Höflichkeits‐ lexemen schon lange ein Thema der Linguistik. Da Sprache der Kommuni‐ kation und insbesondere auch der Etablierung und Aufrechterhaltung eines gesellschaftlichen status quo dient, ist in jedem Kulturkreis bedeutsam, wie dieses Ziel erreicht werden soll - was man also in verschiedenen Kulturen beziehungsweise Sprachen in einer bestimmten Situation sagt oder sagen muss. In diesem Zusammenhang kann man nun verschiedene sozial wie kulturell unterscheidbare ,Höflichkeitsstile‘ (so der Titel des von Lüger 2002 herausge‐ gebenen Sammelbands) erkennen und beschreiben wie auch in ihrer Funktion analysieren. Einschränkend sei gemäß herrschender Meinung in der kontrastiven For‐ schung (vgl. Dittmar 2012) darauf hingewiesen, dass funktionale Äquivalente nicht unbedingt durch die gleichen sprachlichen Mittel gebildet werden müssen - mitunter können sogar nichtsprachliche Mittel entsprechende Funk‐ tionen übernehmen, und selbst eine scheinbare Null-Äquivalenz muss nicht bedeuten, dass in einem anderen Sprach- und Kulturkreis nicht ebenfalls funk‐ tional und vor allem sozial-gesellschaftlich ähnliche Funktionen erfüllt werden, wenngleich vielleicht eben über soziale und nicht über sprachliche Normen. Aus all diesen Gründen werden bereits seit dem 19. Jahrhundert (Bréal 1897), spätestens aber seit der pragmatischen Wende in der Linguistik kommunikative Phänomene nicht nur bezüglich simpler Entsprechungen auf der direkten Wort- und Strukturebene, sondern aus einer breiteren soziopragmatisch-funktionalen Perspektive untersucht. Es geht um Sprechakte, beziehungsweise allgemein um Sprachhandeln; vielleicht sollte man sogar adäquater von einem Kulturhandeln sprechen, da eben nicht nur sprachliches Handeln eine Rolle spielt, sondern verschiedene Verfahrensweisen zur Lösung der kommunikativen Aufgaben eingesetzt werden, inklusive unterschiedlicher Konventionen und der ihnen zugrundeliegenden Normen. Das gesprächsanalytisch-sprachhandlungsorientierte Vorgehen führt dazu, dass soziale Kommunikation dynamisch als in der Situation selbst immer wieder erneut hergestellte, gegebenenfalls modifizierte und auf den Rezipienten 294 Hans Giessen (a) (b) (c) (d) (e) zugeschnittene Mittel der Signalisierung und Herstellung gemeinsam geteilter, relevanter sozialer und interaktiver Bedeutung“ gesehen und interpretiert wird (Selting & Hinnenkamp 1989: 6). Dies gilt selbstverständlich auch für Höflichkeitsstile. Immer steht im Vorder‐ grund, wie die entsprechenden gesellschaftlichen Funktionen erreicht werden können. 3 Definitionen und Funktionen Coulmas (1981: 117 ff) unterscheidet im von ihm als Routineformeln bezeich‐ neten Ausdrucksinventar zwischen sogenannten psychoostensiven Formeln, die dazu dienen, den Gesprächs‐ gegenstand positiv oder negativ beurteilen zu können, Höflichkeitsformeln, die konventionelles Verhalten steuern, Gesprächs(phasen)steuerungsformeln, Verzögerungsformeln, die dazu dienen, Pausen zu füllen und somit als peinlich empfundene Leerzeiten gar nicht erst aufkommen zu lassen, sowie metakommunikative Formeln, die zur Verständnissicherung beitragen sollen und mit deren Hilfe eigene Redebeiträge gelegentlich auch kommentiert werden. In phraseologischen Arbeiten werden Höflichkeitsformen unter anderem in kommunikative Formeln (Fleischer 1997) oder Wendungen (Kempcke 2000), situative Schematismen (Zenderowska-Korpus 2004: 79-97), und schließlich in pragmatische oder kommunikative Phraseologismen (Wotjak 2005; Burger 2010: 56 ff.) unterschieden. Fraglich ist, ob routinegestützte Höflichkeitsformeln tatsächlich phraseolo‐ gisch sind. In jedem Fall gibt es Überlappungen. Sosa Mayor (2006: 64) meint, dass solche Routineformeln über die Grenzen des Phraseologischen hinaus‐ gehen und „quer zu dieser Gruppe“ stehen. Zumindest sind solche Formeln für die Phraseologie eher periphere Phänomene, denn die drei klassischen phraseologischen Merkmale Polylexikalität, Festigkeit und Idiomatizität (im Sinne einer übertragenen, oft bildhaften Bedeutung) gelten bei ihnen nur eingeschränkt (Burger 2010: 14 f). So kommt bitte zwar als Einworteinheit vor. Immer wieder wird dieses Wort aber mit fakultativen Komponenten ergänzt. Zumindest belegt die fakultative Erweiterbarkeit beziehungsweise funktionale Gleichwertigkeit beispielsweise von bitte und bitteschön oder bitte sehr in gewissen Situationen seine Abwan‐ delbarkeit. Allerdings gilt das Kriterium der Festigkeit auch innerhalb der 295 Lexikalische Polyfunktionalität 3 Vgl. dazu ausführlicher nochmals Burger 2010: 56 ff sowie Stein 2004. Idiomatik, also der Phraseologie im engeren Sinne, als relativ (Burger 2010: 25 ff) mit schwer zu ziehenden Grenzen insbesondere zwischen okkasionellen Modifikationen und noch immer usuellen Varianten. Zudem ist der Einsatz einer dieser usuellen Varianten in gewissen Kommunikationssituationen erwartbar und ihr Fehlen oder ihre nicht angemessene Verwendung kann zu kommunika‐ tiven Pannen führen. Bezüglich des Kriteriums der Idiomatizität fehlt bei bitte die bildhafte Über‐ tragbarkeit; aber auch diese Feststellung ist weniger eindeutig, als es scheint, denn vom Ausdruck, auf den bitte zurückgeht (das Verb bitten in der ersten Person Singular) wirkt eine zumindest verblasste beziehungsweise verschobene Bedeutung nach (siehe auch Burger 2010: 30). Zumindest weist beispielsweise Na bitte! im Vergleich zu bitte, bitteschön oder bitte sehr bereits einen sehr viel größeren Idiomatizitätgrad auf. In jedem Fall handelt es sich also um Phraseologie im weiteren Sinne‘. Übergreifend gilt für alle Definitionen und Begrifflichkeiten, dass die Funk‐ tion solcher Ausdrücke nur teilweise inhaltlicher Art ist. Ein wichtiger As‐ pekt liegt bei der Bewältigung typischer und sozial immer wieder ähnlich auftretender Kommunikationssituationen, auf die aber (ebenfalls immer wieder ähnlich) rekurriert werden muss, um soziale Irritationen zu vermeiden. Dies ermöglichen die entsprechenden Ausdrücke gerade aufgrund ihrer Präfabri‐ ziertheit während der Ausführung von bestimmten Routinehandlungen. Damit erleichtern sie die Formulierungs- und Interpretationsarbeit in der spezifischen sozialen Situation und garantieren Verhaltenssicherheit, denn gerade aufgrund des Routinecharakters wird das Fehlen in entsprechenden Situationen als irritierend und sozial unangemessen empfunden. 3 4 Korpus Die Tatsache, dass kommunikative Rituale und Routinen kulturspezifisch sind, hat verschiedene Konsequenzen - nicht zuletzt müssen sie daher auch im Fremdsprachenunterricht besonders beachtet werden - und kann zu unter‐ schiedlichen Forschungsfragen führen: • Welche semantischen Nuancen besitzt ein spezifischer Ausdruck? • Wie werden spezifische Kommunikationsintention verbalisiert, beispiels‐ weise eine Aufforderung, ein Dank, ein Wunsch, eine Kontaktherstellung oder die Beendigung eines Kontakts? 296 Hans Giessen • Welche außersprachlichen Einflüsse und Zwänge bestimmen das Sprach‐ verhalten? Voraussetzung zur Untersuchung dieser Fragestellungen ist, ein aussagekräf‐ tiges Korpus aus dem Kontext der spezifischen Sprache beziehungsweise Kultur nutzen zu können. Natürlich wäre es besonders hilfreich, kommunikative Routineformeln mit Hilfe authentischen Sprachmaterials darstellen zu können - dies vor allem auch deshalb, weil sich Sprache ja beständig wandelt und daher bereits existierende Sammlungen veralten. Im Sinn einer gewissen Forschungseffektivität ist es aber kaum möglich, eigenhändig eine solche Sammlung zu erstellen, denn es wären sehr umfangreiche auf einer möglichst breiten Situationspalette beruhende Korpora notwendig. Die Alternative einer hermeneutisch erstellten Sammlung - die je nach Sprachkompetenz und Erfahrungsschatz des jeweiligen Forschers oder der Forscherin durchaus ergiebig sein kann - impliziert immer die Gefahr des Zufälligen und vor allem das Risiko, dass Varianten fehlen, die dem Forscher oder der Forscherin aus sozialen oder regionalen Gründen ungeläufig sind. So ist die Nutzung einer lexikographischen Bestandsaufnahme zwar nur die zweitbeste Lösung; aus Praktikabilitätsgründen scheint es aber keine Alternative zu geben. Dabei ist natürlich zu beachten, dass mit Hilfe von Wörterbüchern lediglich die bereits vorstrukturierte und mithin gefilterte Beschreibung lexikalischer Phänomene untersucht werden kann, nicht die authentische Sprache selbst. Zudem reduzieren auch Wörterbücher - ebenfalls aus Praktikabilitätsgründen (und bereits aus so simplen Zwängen wie einer vom Verlag limitierten Seitenzahl) - sprachliche Phänomene auf Abstraktionen und Verallgemeinerungen. Mithin muss davon ausgegangen werden, dass auch hier nicht jeder authentische Beleg dokumentiert ist. Dies macht auch der folgende Überblick deutlich. Im Folgenden wird das Lemma bitte in drei einsprachigen Wörterbüchern untersucht. Zwei davon sind Lernerwörterbücher: • Als eher akademisch orientiertes Standardwerk gilt das von Günter Kempcke erstellte Wörterbuch Deutsch als Fremdsprache (Kempcke 2000). • Auf einen breiteren Lernermarkt zielt das Langenscheidt Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache Deutsch-Deutsch (Götz 2015), das explizit und signifikanterweise damit wirbt, „laut Marktforschungsinstitut GfK den 1. Platz beim Verkauf von Fremdsprachen-Wörterbüchern“ zu belegen (Götz 2015: 5). • Das dritte benutzte Wörterbuch ist das allgemeine Einsprachenwörter‐ buch Duden Deutsches Universal Wörterbuch (Dudenredaktion 2015). 297 Lexikalische Polyfunktionalität Dass Kempckes Wörterbuch Deutsch als Fremdsprache um eine im akademischen Sinn korrekte und umfassende Darstellung bemüht ist beziehungsweise sein muss, scheint einleuchtend. Aber auch die weite Verbreitung von Langenscheidts Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache und des Werkes Duden Deutsches Universal Wörterbuch stellt in unserem Kontext nicht unbedingt einen Nachteil dar, denn beide Wörterbücher müssen darauf achten, von einer breiten Käufer- und Leserschaft akzeptiert zu werden, auch wenn vielleicht nicht auf akademi‐ sche Diskussionen eingegangen werden kann. In jedem Fall müssen aber das Sprachgefühl und der Kenntnisstand des interessierten Laien bestätigt werden, so dass auch hier eine akzeptable Darstellung zu erwarten ist. Es wird insbesondere beim Blick auf das Lemma bitte rasch deutlich, dass das Lexem mehrere Funktionen aufweist. Dabei unterscheidet sich die Anzahl der angegebenen Gebrauchsversionen von Wörterbuch zu Wörterbuch. Um dies zu verdeutlichen, werden Exzerpte aus den Wörterbüchern darge‐ stellt. Zur besseren Lesbarkeit werden mit einer Tilde markierte Wortbestand‐ teile ausgeschrieben. Vor allem werden hier die unterschiedlichen Funktionen von bitte einer Strukturierung unterzogen, um sie zwischen den drei Wörterbü‐ chern vergleichbar zu machen. 5 Lexikographische Untersuchung: Das Lemma bitte in den drei Wörterbüchern 5.1 Das Lemma bitte im Wörterbuch Deutsch als Fremdsprache (Kempcke 2000) Man merkt an verschiedenen Detailaspekten, dass sich Kempckes Wörterbuch Deutsch als Fremdsprache an ein eher akademisches Publikum wendet und sich von daher von den massenpopuläreren Wörterbüchern unterscheidet. Insbeson‐ dere bezeichnet Kempcke explizit kommunikative Wendungen und beschreibt ihren situativen Gebrauch. Diese Wendungen werden bei der entsprechenden Gebrauchsvariante eines Lemmas aufgeführt. Dagegen listet Kempcke Idiome, mithin Phraseologismen im engeren Sinn, pauschal und ohne Zuordnung zu Varianten am Ende des Artikels auf. Auch Einzelwörter werden selten explizit als kommunikative Wendungen aufgeführt. Mitunter ist es also trotz des Bemühens um akademische Korrektheit nicht immer leicht, genau nachzuvollziehen, was Kempcke im Einzelfall unter einer kommunikativen Wendung versteht. Für Kempcke ist bitte satzwertig; aus diesem Grund weist er das Lexem keiner Wortart zu: 298 Hans Giessen Kempcke 2004: 168 Anmerkungen HG bitte steht für einen Satz; --> auch bitten 1. allein stehend; als höfliche Antwort; betont 1.1. als bejahende Antwort auf jmds. Frage, die ein Angebot enthält: „Möchten Sie eine Tasse Kaffee? “ „Bitte“ / „Ja, bitte“ (,ja, gern; danke ja‘)! Funktionsbereich 1 1.2. als bejahende Antwort auf jmds. Frage, die einen Wunsch ausdrückt: „Darf ich mich setzen? “ „Bitte! “ (,ja, natürlich‘)! „Darf ich das Fenster öffnen? “ „Bitte! “ Funktionsbereich 2 1.3. als Antwort auf jmds. Dank: „Ich danke Ihnen herzlich für Ihre Mühe! “ „Bitte“ / „Bitte sehr (gern geschehen)“ (,Sie brauchen sich nicht zu bedanken, ich habe es gerne getan‘)! Funktionsbereich 3 2. allein stehend od. isoliert; betont od. unbetont 2.1. als höfliche Aufforderung, Bitte: bitte treten Sie näher / treten Sie bitte näher / treten Sie näher, bitte! ; bitte, nehmen Sie Platz / nehmen Sie bitte Platz / nehmen Sie Platz, bitte! ; würden Sie mir bitte helfen? ; bitte, helfen Sie mir! reichen Sie mir bitte doch die Butter / würden Sie mir bitte die Butter reichen? ; bitte, wie spät ist es (,könnten Sie so freundlich sein, mir zu sagen, wie spät es ist‘)? Funktionsbereich 4 2.2. allein stehend als Aufforderung an jmdn., der angeklopft hat, einzu‐ treten: „Bitte“ (,herein‘)! Funktionsbereich 5 2.3. in den kommunikativen Wendungen wie bitte (,würden Sie so freundlich sein, ihre Äußerung zu wiederholen‘)? sagt jmd. in höflicher Form zu jmdn., wenn er nicht verstanden hat; Funktionsbereich 6 der Nächste, bitte! höfliche Form der Aufforderung, mit der derjenige gebeten wird, einzutreten, der an der Reihe ist; Funktionsbereich 7 na bitte! (,habe ich es nicht gleich gesagt‘) sagt jmd. wenn das eintritt, womit er ohnehin gerechnet hat und wenn er sich somit bestätigt sieht; Funktionsbereich 8 Vgl. danke --> bitten 299 Lexikalische Polyfunktionalität bes. Kind bitte bitte machen, durch mehrmaliges Zusammenschlagen der Hände eine Bitte ausdrücken‘: mach erst bitte, bitte! ) hier irrelevant Tab. 1: Das Lemma bitte im Wörterbuch Deutsch als Fremdsprache (Kempcke 2000) Die ersten drei Varianten sind reaktiv, beinhalten also bezüglich Semantik und Funktion eine Form des Zulassens. Im Funktionsbereich 1 wird ausgedrückt, dass ein zuvor (in Form einer Frage formuliertes) Angebot angenommen wird (1.1.). Im Funktionsbereich 2 wird die zuvor gestellt Frage nach der Erlaubnis bejaht, etwas tun zu dürfen (1.2.). Im Funktionsbereich 3 wird auf eine Dankes‐ äußerung reagiert (1.3.). Dagegen verweist (2.1.) auf den Funktionsbereich 4, bei dem impositive Sprachhandlungen durch bitte sowohl bei imperativförmigen direkten als auch bei frageförmigen indirekten Aufforderungen abgemildert werden. In der Tat übernimmt bitte häufig eine solche abmildernde Funktion, insbesondere bei Imperativformen wie auch bei möglicherweise unhöflich wirkenden infinitivi‐ schen Aufforderungen (wie Skalpell bitte oder bitte aufpassen; vgl. auch Engel & Tomiczek 2006). Bezüglich (2.2.) kann diskutiert werden, ob hier wirklich ein eigener Funk‐ tionsbereich angesprochen ist oder ob es sich nicht vielmehr um einen situati‐ onsspezifischen Sonderfall des zweiten Funktionsbereichs handelt, denn das Anklopfen, auf das mit dem Lexem bitte geantwortet wird, kann auch als Frage (darf ich eintreten) interpretiert werden. Die Funktionsbereiche 6 bis 8 finden sich alle bei Punkt 2.3.: Jeweils handelt es sich um Mehrwortverbindungen.; im Fall von wie bitte und der Nächste, bitte! dominiert ein gewisser Aufforderungs-Charakter. Funktionsbereich 6 hat zudem eine gewisse inhaltliche Nähe zu den Funk‐ tionsbereichen 5 und 2: Wenn sich ein Kunde beispielsweise in eine Warte‐ schlange stellt, drückt er damit indirekt seinen Wunsch beziehungsweise eine Bitte aus, in für ihn selbst wie für die anderen Kunden akzeptabler Zeit bedient zu werden. Insgesamt kann daher zum Schluss dieses Überblicks über die bei Kempcke (2004) beobachtbaren Funktionsbereiche festgehalten werden, dass es sich nur selten um tatsächlich distinkte Unterscheidungen handelt. Eher kann von einem Kontinuum zwischen den Polen initiativ und reaktiv gesprochen werden. Beim Idiomblock bitte bitte machen handelt es sich nicht um eine Funktion im Rahmen des Untersuchungsgegenstands, sondern um einen nominativen beziehungsweise referentiellen Phraseologismus. 300 Hans Giessen Zudem scheint eine weitere Beobachtung von Interesse: Kempcke (2004) führt explizit Beispiele an, durch die deutlich wird, dass bitte in allen Stellungs‐ varianten auftreten kann (am Anfang einer Äußerung, in der Mitte wie auch am Ende). Steht bitte in der Endposition, ist ein Komma üblich, das auf eine prosodische Pause verweist, während bitte in der Satzmitte ohne Kommata erscheint und mithin in den ,normalen‘ Redefluss integriert ist. Dies wiederum kann als Hinweis darauf interpretiert werden, dass die Satzwertigkeit von bitte weniger eindeutig ist, als auch Kempcke selbst meint. 5.2 Das Lemma bitte in Langenscheidts Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache (Götz 2015) Im Langenscheidt Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache wird bitte als Partikel kategorisiert. Es werden zehn durchnummerierte Funktionsbereiche beschrieben, die teilweise identisch mit denjenigen von Kempcke (2004) sind (wobei es bei sprachbeschreibenden Werken eher verwundern würde, gäbe es keine Gemeinsamkeiten), die aber dennoch auch Unterschiede verdeutlichen: Götz 2015: 179 Anmerkungen HG bit·te Partikel 1. betont und unbetont; verwendet, um einen Wunsch, einen Vorschlag eine Aufforderung o. ä höflich auszudrü‐ cken: Reichst du mir mal die Butter, bitte? ; Nehmen Sie bitte Platz! ; Du musst Bitte / bitte sagen! Funktionsbereich 4 2. betont und unbetont; verwendet, um einen Wunsch, eine Aufforderung o. Ä zu verstärken Würden Sie mir bitte erklären, was hier vor sich geht? Funktionsbereich 9 3. betont; verwendet (als Antwort auf eine Frage), um Zustimmung auszudrücken: „Kann ich das Salz haben? “ - „Bitte! “ „Darf ich das Fenster aufmachen? “ - „Bitte! “ Funktionsbereich 2 4. betont; bitte (sehr / schön) verwendet als höfliche Antwort, nachdem sich jemand bei einem (mündlich) bedankt hat: „Vielen Dank! “ - „Bitte (schön).“ Funktionsbereich 3 5. betont; bitte (sehr / schön)! verwendet, um jemandem etwas anzubieten Funktionsbereich 10 6. betont; (ja,) bitte! verwendet, um etwas anzunehmen, das einem jemand anbietet <-> (nein,) danke: Funktionsbereich 1 301 Lexikalische Polyfunktionalität „Möchten Sie noch einen Kaffee? “ - „( Ja,) bitte! “ 7. betont; ja, bitte? verwendet, besonders wenn man den Telefonhörer abnimmt oder die Haustür aufmacht. Man fordert damit jemanden auf, zu sagen, warum er angerufen hat oder gekommen ist. Funktionsbereich 11 8. (‘wie) bitte? verwendet, um jemanden aufzufordern, das zu wiederholen, was er gerade gesagt hat, meist weil man es akustisch nicht verstanden hat. Funktionsbereich 6 9. ‘wie bitte? verwendet um Erstaunen auszudrücken: Wie bitte? Hat er das wirklich gesagt? Funktionsbereich 12 10. betont; na bitte! gespr.; verwendet, um auszudrücken, dass man mit etwas ohnehin gerechnet hat: Na bitte! Was habe ich gesagt? Sie kommt doch nicht! Funktionsbereich 8 Tab. 2: Das Lemma bitte in Langenscheidts Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache (Götz 2015) Wie bereits erwähnt: Viele Funktionsbereiche decken sich, und es würde eher verwundern, wenn dies nicht der Fall wäre. Neu hinzugekommen sind jedoch vier Funktionsbereiche (Funktionsbereich 9, 10, 11 und 12); dafür fehlt im Vergleich zu Klempcke (2004) ein Hinweis auf die Funktionsbereiche 5 und 7 - auch wenn man diskutieren kann, ob sich Punkt 7 nicht zumindest noch in einer gewissen Nähe zu Funktionsbereich 5 befindet. Dass es vier neue Funktionsbereiche gibt und dass zwei Funktionsbereiche, die Kempcke (2004) auflistet, fehlen, ist in der Tat sogar eher erstaunlich. Die Vollübereinstimmungen umfassen also lediglich die Hälfte der Funktions‐ bereiche! Wenn dies bereits bei Wörterbüchern so deutlich der Fall ist, bedeutet das, dass hermeneutische oder quantitativ-empirische Verfahren zur Gewin‐ nung eines Korpus wohl noch vielfältiger, aber auch schwerer methodisch behandelbar wären. Der neu hinzugekommene Funktionsbereich 9 in Punkt 2 verweist auf ein initiatives bitte als Unterstreichung oder gar Verstärkung einer Aufforderung. Der Funktionsbereich steht also im Kontrast zum abmildernden bitte im Sinn von des Funktionsbereichs 4, wie er in Kempckes Punkt 2.1. beschrieben ist. Ein zehnter Funktionsbereich wird in Punkt 5 aufgelistet. Hier ist bitte ein Begleiter beim Anbieten. Unklar ist, ob es sich um ein initiatives (der Sprecher bietet einen Gegenstand oder eine Dienstleistung an) oder ein reaktives bitte handelt (der Sprecher überreicht etwas oder führt eine Tat in Folge einer geäußerten Bitte beziehungsweise eines Wunsches aus). 302 Hans Giessen Als neuer Funktionsbereich 11 wird hier Punkt 7 bezeichnet, obgleich auf den ersten Blick eine gewisse semantische Nähe zum Funktionsbereich 5 (Punkt 2.2. bei Kempcke 2004) zu bestehen scheint. Doch dort drückt bitte eine Auffor‐ derung aus; hier aber wird das Lexem bitte mit einem Fragezeichen verbunden, kann also nicht diese Funktion haben. Vielmehr scheint es sich reaktiv um den Wunsch zu handeln, herauszufinden, wer hier den Kontakt sucht (offenbar, bevor die Tür geöffnet wird und man dies sieht; offenbar auch als erste Worte nach Abheben des Telefonhörers, um eine Selbstpräsentation zu erzwingen - ein Verhalten, das seit dem Beginn diese Jahrzehnts und der gesellschaftlichen Durchsetzung des Smartphones, bei dem Nummern und Telefonpartner ange‐ zeigt werden, immer seltener und nur noch bei Überraschungsanrufen Dritter Einsatz findet). Schließlich gibt es einen neuen Funktionsbereich 12: bitte als Signal der Über‐ raschung beziehungsweise gar des Unglaubens. Erneut besteht ein Unterschied zum scheinbar ähnlich gelagerten Funktionsbereich 6, wo aber recht eindeutig ein problematisches Verständnis aus akustischen Gründen ausgedrückt wird, während wir hier eine psychoostensive, reaktive Nutzung des Lexems bitte vorfinden. Es fehlen dagegen bitte eben als Eintrittsaufforderung (der Funktionsbereich 5, auf den gerade verwiesen wurde; vgl.Kempcke 2004, Punkt 2.2.) sowie bitte im Sinn von der Nächste, bitte! (Funktionsbereich 7; vgl. Kempcke 2004, Punkt 2.3.). Insgesamt haben wir also überraschend große Unterschiede zwischen beiden Wörterbüchern; dies zeigt, wie schwierig es (insbesondere im Fremdsprachen‐ unterricht) ist, alle semantischen Funktionsbereiche eines Wortes darzustellen (und in der Folge auch zu vermitteln). Bevor Duden Deutsches Universalwörterbuch (Dudenredaktion 2015) unter‐ sucht wird, scheint bezüglich Götz (2015) noch eine kurze Anmerkung zu Punkt 1 nötig: Die Phrase Du musst Bitte / bitte sagen! stammt offenbar erneut aus einem spezifischen sozialen Kontext, nämlich der Kindererziehung. Im Kontext einer Übertragung handelte es sich daher eher um eine zitatartige oder eine metasprachliche Äußerung. 5.3 Das Lemma bitte im Duden Deutsches Universalwörterbuch (Dudenredaktion 2015) Hier wird das Lexem bitte ebenfalls als Partikel bezeichnet; dies war übrigens in früheren Auflagen des Duden nicht der Fall, wo man sich nicht festlegen wollte und lediglich darauf verwiesen hat, dass es sich um eine Ableitung aus der ersten Person Singular des Verbs bitte handele (ich bitte). In fünf der sechs 303 Lexikalische Polyfunktionalität Punkte des im Vergleich zu den Wörterbüchern eher knappen Betrags wird das Lexem zudem explizit als „Höflichkeitsformel” charakterisiert: Dudenredaktion 2015 Anmerkungen HG bit|te Partikel 1. Höflichkeitsform zur Unterstreichung einer Bitte, einer Frage o. ä.: Beispiele: bitte[,] helfen sie mir doch! Funktionsbereich 4 / Funktionsbereich 9 wie spät ist es[,] bitte? entschuldige bitte! Funktionsbereich 4 Wendungen, Redensarten, Sprichwörter Funktionsbereich 13 bitte, bitte machen (familiär: durch mehrmaliges Zusam‐ menschlagen der Hände eine Bitte ausdrücken) 2. Höflichkeitsformel zur Unterstreichung einer [höflichen] Aufforderung Beispiele: der Nächste, bitte! ja, bitte? (Sie wünschen? ) bitte weitergehen! bitte, bedienen Sie sich! Funktionsbereich 4 Vgl. auch Funktionsbereich 5 / Funktionsbereich 7 3. Höflichkeitsformel als bejahende Antwort auf eine Frage Beispiel: „Nehmen Sie noch etwas Tee? “ - „Bitte [ja]! “ Funktionsbereich 1 4. Höflichkeitsformel als Antwort auf eine Entschuldigung oder Dankesbezeigung Beispiel: Funktionsbereich 14; „Vielen Dank für Ihre Bemühungen! “ - „Bitte [sehr, schön]! “ Funktionsbereich 3 5. Höflichkeitsformel zur Aufforderung, eine Äußerung, die nicht [richtig] verstanden wurde, zu wiederholen Beispiel: [wie] bitte? Funktionsbereich 6 6. Wendungen, Redensarten, Sprichwörter na bitte! (na also, das habe ich doch gleich gesagt! ) Funktionsbereich 8 Tab. 3: Das Lemma bitte im Duden Deutsches Universalwörterbuch (Dudenredaktion 2015) 304 Hans Giessen Trotz der (relativen) Kürze des Beitrags listet auch der Duden zehn Funktions‐ bereiche auf; allerdings fehlen die Funktionsbereiche 2, 10, 11 und 12 der Lernerwörterbücher. Es gibt also eine große Deckung mit Kempcke (2004), von dem nur Funktionsbereich 2 nicht wieder aufgegriffen wurde; dagegen werden die Erweiterungen des Langenscheidt-Wörterbuchs (Götz 2015) nicht berücksichtigt: Die Funktionsbereiche 11 und 12 tauchen hier nicht auf. Aller‐ dings gibt es im Duden-Wörterbuch auch zwei weitere, hier erstmals auftretende Funktionsbereiche (13 und 14). Der geringere Umfang führt offenbar auch zu einer weiteren Komprimierung beziehungsweise Abstraktion, und so werden in Punkt 1 drei Funktionsbereiche zusammengefasst, von denen zwei den anderen Wörterbüchern als eigene Gebrauchsvarianten jeweils auch eigene Punkte wert waren. In Punkt 1 wird auch ein neuer Funktionsbereich der Entschuldigung einge‐ führt; hier erstaunt, dass dieser Funktionsbereich bisher noch nicht vorhanden war. Auch die damit verbundene quittierende Beantwortung einer Entschuldi‐ gung aus Punkt 4 hat in den Lernwörterbüchern gefehlt und wird hier als neuer Funktionsbereich 14 interpretiert. 6 Zusammenfassung Die Darstellung belegt ein nur bedingt einheitliches Vorgehen der Wörter‐ bücher. Dieser Sachverhalt ist insbesondere aus dem Blickwinkel der Fremd‐ sprachendidaktik nicht unproblematisch. Es dürfte schwer sein, von „außen” alle semantischen, situativ verschiedenartigen Funktionen eines Wortes zu erkennen, wenn die Darstellung in den Wörterbüchern nur teilweise konsistent ist. Aus Lernersicht ist immerhin vorteilhaft, wenn meta-argumentative Struk‐ turen in den Wörterbüchern bei einer Systematik helfen. Dies ist bei Kempcke (2004) mit der sichtbar herausgearbeiteten Dialektik zwischen reaktiv und initiativ der Fall; auch die Duden-Fokussierung auf Höflichkeitsformeln kann so bewertet werden. Die verschiedenen Funktionsbereiche und die Tatsache, dass es keine De‐ ckungsgleichheit in den (nur! ) drei untersuchten einsprachigen Wörterbüchern gibt, lässt vermuten, dass wohl noch weitere, hier nicht gefundene Funktionsbe‐ reiche existieren. Nun ist es ein alter Topos der Linguistik, dass sich eine Sprache nie in ihrer Gänze beschreiben lassen können wird. Zumindest aber wäre von Interesse, herauszufinden, wieso es (gerade hier, beim Lexem bitte, also einem sozial elementaren Teil der Sprachkulturgemeinschaft jenseits beispielweise von Fachsprachen) zu solchen Divergenzen gekommen ist. 305 Lexikalische Polyfunktionalität Literatur Bréal, Michel (1897). Essaï de sémantique, science des significations. Paris : Hachette. Brown, Penelope & Steven C. Levinson (1978). Universals in Language Usage: Politeness Phenomena. In: Goody, Esther N. (Ed.) (1978). Questions and Politeness: Strategies in Social Interaction. Cambridge: Cambridge University Press, 56-310. Burger, Harald ( 4 2010). Phraseologie. Eine Einführung am Beispiel des Deutschen. Berlin: Erich Schmidt (Grundlagen der Germanistik 36). Coulmas, Florian (1981). Routine im Gespräch. Zur pragmatischen Fundierung der Idio‐ matik. Wiesbaden: Athenaion. Dittmar, Norbert (2012). Grundlagen der Soziolinguistik. Berlin: de Gruyter. Dudenredaktion (Hrsg.) (2015). 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Die TechnoPlus Englisch Suite - vom computerbasierten Sprachlernprogramm zu mobilen Angeboten 1 Christine Sick 1 Einführung 1.1 Die Forschungskooperation e&mLanguageLearning Seit 1993 besteht die Forschungskooperation e&mLanguageLearning (vormals: Distance Learning mit Multimedia) zwischen dem Bereich Angewandte Spra‐ chen / Campus Alt-Saarbrücken der htw saar (Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes) und dem Saarbrücker Softwareunternehmen EUROKEY Software GmbH. Sie hat sich das technologiegestützte Lehren und Lernen von Fremdsprachen, insbesondere im Bereich der Ingenieurwissen‐ schaften, zum Gegenstand ihrer Forschung gemacht und entwickelt - basierend auf entsprechenden Bedarfs- und Bedürfnisanalysen - Fremdsprachenlernma‐ terialien für E-Learning, Mobile Learning und Blended Learning Settings. Abb. 1: Die TechnoPlus Englisch Suite 1.2 Institutioneller Hintergrund Das Team Angewandte Sprachen am Campus Alt-Saarbrücken der htw saar ist für die Vermittlung von Fremdsprachen in 20 Bachelor- und Master-Studi‐ engängen vorwiegend im Bereich der Ingenieurwissenschaften zuständig. Da entsprechende Englischkenntnisse bei den Absolventinnen und Absol‐ venten dieser Studiengänge als selbstverständliche Schlüsselqualifikation vor‐ ausgesetzt werden, ist Englisch ein integraler und obligatorischer Bestandteil der Curricula in allen Bachelor-Studiengängen sowie Voraussetzung zur Zulas‐ sung zu den Master-Studiengängen, in denen weitere Kurse in der Fremdsprache teilweise obligatorisch, teilweise fakultativ, angeboten werden, bzw. zu einem rein englischsprachigen Master-Studiengang. Diese Lehrveranstaltungen sind eine Mischung aus General English, Business English und Technical English und haben stets einen direkten inhaltlichen Bezug zum jeweiligen Studiengang. Sie sollen die Studierenden mindestens auf Niveau B2 des Europäischen Referenzrahmens vorbereiten. Bei Studienbeginn wird von den Studierenden als Eingangsniveau das Niveau B1 erwartet. Tatsächlich nehmen jedoch viele Studierende das Studium auf, die dieses gewünschte Eingangsniveau noch nicht nachweisen können. Da wegen der Nähe zu Frankreich im Saarland Französisch in der Regel die erste Fremdsprache ist, verfügen viele Studienanfänger sogar über keinerlei Vorkenntnisse in Englisch. Infolge dieser großen Bandbreite an Lernerbiographien sind alle Lerner‐ gruppen durch eine große Heterogenität gekennzeichnet. Um mit dieser Hetero‐ 310 Christine Sick genität proaktiv umzugehen, wurden an der htw saar / Campus Alt-Saarbrücken eine Reihe von Maßnahmen eingeführt. So können Studierende ihre Vorkenntnisse bereits einige Wochen vor Stu‐ dienbeginn über einen Online Placement Test überprüfen lassen und, sollte das gewünschte Eingangsniveau noch nicht nachgewiesen werden können, an einem Englisch-Präsenz-Brückenkurs teilnehmen. Während des Studiums werden außerdem Tutorien sowie eine spezielle Fremdsprachenlernberatung zur Stärkung der Lernerautonomie angeboten. Schließlich hat sich der Einsatz und die Integration von CALL, E-Learning und Mobile Learning in den kom‐ munikativen Lernprozess für diese Lernergruppe als sehr vorteilhaft erwiesen. Während es Ende der neunziger Jahre bereits eine Vielzahl multimedialer Sprachlernprogramme für Business English gab, mangelte es jedoch lange an Programmen für die spezielle Zielgruppe der Studierenden der Ingenieurwis‐ senschaften, die Fertigkeiten sowohl im Bereich Business Englisch als auch des Technischen Englisch benötigen. Mit der Entwicklung des multimedialen Sprachlernprogramms TechnoPlus Englisch durch die Forschungskooperation konnte diese Lücke geschlossen werden. 2 TechnoPlus Englisch Abb. 2: Eröffnungsbildschirm TechnoPlus Englisch Die erste Version des multimedialen Sprachlernprogramms für Technisches Englisch und Business Englisch, TechnoPlus Englisch, wurde 2001 veröffentlicht. Im Jahre 2011 erschien mit TechnoPlus Englisch 2.0 die aktualisierte, völlig überarbeitete und substantiell erweiterte Version dieses Sprachlernprogramms. 311 Die TechnoPlus Englisch Suite 2.1 Die Zielgruppe TechnoPlus Englisch richtet sich an erwachsene, deutschsprachige Lerner mit guten Grundkenntnissen des Englischen auf mindestens dem Niveau B1 des Europäischen Referenzrahmens, die sich - sei es im Studium oder in der (innerbetrieblichen) Weiterbildung - auf die fremdsprachliche Bewältigung ihrer ingenieurwissenschaftlichen Tätigkeit vorbereiten möchten. 2.2 Die didaktische Konzeption Das Lernprogramm ist wesentlicher Baustein des bedarfs- und bedürfnisorien‐ tierten, kommunikativ ausgerichteten Fremdsprachenkonzepts der htw saar am Campus Alt-Saarbrücken, das im Sinne des Blended Learning neben den klassischen kommunikativen multimedialen Unterrichtsformen auch Elemente des E-Learning und des Mobile Learning sowohl in den Lehrveranstaltungen als auch in freien Selbstlernphasen integriert. Folglich eignet sich das Lernpro‐ gramm für den Einsatz sowohl im Selbststudium als auch im kommunikativen Unterricht, etwa in einem Multimedia-Computersprachlabor, sowie in einem Blended Learning Setting. 2.3 Die zugrundeliegende Bedarfs- und Bedürfnisanalyse Bei der Entwicklung von TechnoPlus Englisch wurde zurückgegriffen auf Er‐ gebnisse eines zuvor mit dem damaligen Kollegen an der htw saar, Prof. Gerhard Bleymehl, und der Firma EUROKEY durchgeführten Forschungspro‐ jektes zur „Entwicklung eines bedarfs-und bedürfnisorientierten Fremdspra‐ chenkonzeptes für Ingenieure und Wirtschaftsingenieure in Hochschule und Wirtschaft unter Einsatz von Computer-Assisted Language Learning (CALL) und Techniken des Distance Learning“. Basierend auf den damals vorliegenden Forschungsergebnissen aus dem Bereich der Bedarfs-und Bedürfnisanalysen sowie Fremdsprachen-Audits wurde ein Analyse-Instrumentarium entwickelt, das im Rahmen einer Pilotstudie in dem Unternehmen Eberspächer dazu diente, den Fremdsprachenbedarf und die Bedürfnisse der beiden Zielgruppen in diesem Unternehmen unter besonderer Berücksichtigung der Elemente des CALL und des Distance Learning zu analysieren. Das Fremdsprachen-Audit ergab, dass sich eine bedarfs- und bedürfnisorien‐ tierte Sprachausbildung für ingenieurwissenschaftliche Studiengänge nicht auf die Vermittlung des Technischen Englisch beschränken darf, sondern in hohem Maße auch klassische Elemente des Business English enthalten muss - eine Schlussfolgerung, die von einer Bedarfsanalyse von Hans Platzer & Désirée Verdonk aus Österreich bestätigt wird: 312 Christine Sick „First - and most obviously - the dichotomy of business vs. technical English breaks down in the workplace with certain aspects of Business English being even more relevant for engineers than for business people proper. It, therefore, looks as if an English curriculum for engineers requires a substantial Business English component on top of technical English.” (Platzer & Verdonk 2014: 166) 2.4 Die Hauptkomponenten von TechnoPlus Englisch Mit seinen beiden Hauptkomponenten setzt das Lernprogramm TechnoPlus Eng‐ lisch, das aufgrund seines kommunikativen Ansatzes ein integriertes Training der vier Grundfertigkeiten des Lese- und Hörverstehens sowie - soweit in einem Sprachlernprogramm möglich - der Sprech- und Schreibfertigkeit ermöglicht, diese von Bedarfsanalysen (z. B. Platzer & Verdonk 2014, Sick & Bleymehl 1999) geforderte Integration von Business English und Technischem Englisch um. Der Business English Teil von TechnoPlus Englisch, die sogenannten Situations, beschäftigt sich mit sieben kommunikativen Grundsituationen aus dem Berufs‐ leben: • Enquiries: Anfragekorrespondenz verstehen und selbst verfassen • Arrangements: Termine vereinbaren • Negotiating: Verträge verhandeln • Meetings: An Besprechungen teilnehmen oder diese leiten • Order processing: Aufträge abwickeln und Probleme bei der Abwicklung bearbeiten • Presentations: Präsentationen verstehen und selbst halten • Applying for a job: Sich um eine Stelle bewerben Abb. 3: Auswahlseite für Business Englisch (Situations) 313 Die TechnoPlus Englisch Suite Hierbei handelt es sich um eigenständige Lerneinheiten, die es den Lernern - im Falle der fünf ersten Situations - jedoch auch erlauben, Geschäftsprozesse über mehrere Stationen hinweg zu begleiten: von der ersten Kontaktaufnahme über eine Terminabsprache bis hin zu Vertragsverhandlungen und einem Meeting. Im Bereich des Technischen Englisch bietet das Programm 23 Engineering Topics, die neben den Situations den zweiten Programmschwerpunkt darstellen. Diese Lerneinheiten basieren auf authentischen Texten beziehungsweise Videos aus verschiedenen Bereichen des Ingenieurwesens und trainieren insbesondere das Video- und Leseverstehen sowie den Wortschatz und die für das Technische Englisch relevanten Grammatikkapitel. Abb. 4: Auswahlseite für Technisches Englisch (Engineering Topics) Diese Lerneinheiten stammen aus den Bereichen Electrical Engineering, Mecha‐ nical Engineering, Civil Engineering, Biomedical Engineering, Computer Science and Communications Engineering sowie Mechatronics and Sensor Technology. Grundlage dieser Lerneinheiten sind einerseits authentische Lesetexte zu den Themen Airbag Systems, Shape Memory Alloys, Machine Elements, Recycling, CAD / CAM, Aluminium, Simply Save Gasoline, When Art Blows the Fuse, iPill, An Artificial Heart, Sensors and Actuators und Materials. Ein mehrstufiger Zugang zu den Texten ermöglicht auch Lernern mit geringeren Vorkenntnissen ein erfolgreiches Arbeiten mit dem Lernprogramm. In den anschließenden Übungs‐ phasen werden Leseverstehen sowie Wortschatz- und Grammatikkenntnisse auf vielfältige Weise trainiert. Andererseits wurden einer ganzen Reihe von Engineering Topics authentische Videos aus Forschung, Wissenschaft und Industrie zugrunde gelegt. Die Themen 314 Christine Sick reichen von CAD Software und Microchips über A Welding Robot, Airbag Sensors, ESP, Ford eKa, Fuel Cell Vehicles bis hin zu RFID, Smart Grid, DC Motor Design, Hoover Dam und Wind to Hydrogen. Auch in diesen Engineering Topics werden nach der mehrstufigen Präsentation des Videos insbesondere Videoverstehen sowie Wortschatz und Grammatik trainiert. Die inhaltliche und technische Konzeption von TechnoPlus Englisch verfolgt den Ansatz, dem Lerner eine freie Navigation durch das Programm zu ermög‐ lichen, jedoch eine didaktisch sinnvolle Arbeitsstruktur vorzuschlagen, da die einzelnen Übungen in den verschiedenen Bereichen einerseits zwar inhaltlich aufeinander aufbauen, andererseits aber auch unabhängig voneinander bear‐ beitet werden können. In jedem Lernmodul stehen dem Lerner daher über die sogenannten Infobuttons umfangreiche didaktische Hintergrundinformationen zur Verfügung, welche die Struktur des jeweiligen Moduls erklären und dem Lerner die Vorgehensweise verdeutlichen. Die eingesetzten Materialien wie Videos, Lese- und Hörtexte oder Grafiken sind je nach Einsatzform authentisch - etwa bei den Engineering Topics - oder wie bei den Situations didaktisch aufbereitet. Die Auswahl der Inhalte stützt sich auf die Bedarfs- und Bedürfnisanalysen der Forschungskooperation und orientiert sich somit an den Anforderungen der technischen Arbeitswelt und den Bedürfnissen ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. In der Version 2.0 sind zudem die Erfahrungen aus dem langjährigen Einsatz der ersten Version von TechnoPlus Englisch in der Sprachausbildung an der htw saar eingeflossen. Das Lernprogramm wird schließlich abgerundet durch eine Sektion, die sich auf die wichtigsten grammatischen Kapitel des Technischen Englisch (Fragen, Gebrauch der Zeiten, Aktiv - Passiv, Adjektive - Adverbien und Bedingungssätze) konzentriert, und ein programmbezogenes Lexikon in Form einer zweisprachigen Wortliste, das zusätzlich auch einen vom Programm unabhängigen Grundwortschatz enthält. 2.5 Die technologischen Aspekte von TechnoPlus Englisch Technisch gesehen, handelt es sich bei TechnoPlus Englisch um ein unab‐ hängiges, PC-basiertes multimediales Sprachlernprogramm, das den Lernern erlaubt, nach eigenem Tempo vorzugehen und nach eigenen Bedürfnissen bestimmte Hilfsfunktionen in Anspruch zu nehmen. So werden die Lesetexte und die Verschriftungen der Videos beispielsweise nicht nur als plain text, sondern auch als enriched text präsentiert, in dem alle Lexeme, die nicht zu den häufig gebrauchten Wörtern des Englischen gehören, optional über Vokabel-Zooms mit einer englischen Definition und der deutschen 315 Die TechnoPlus Englisch Suite Entsprechung erklärt werden. Bei den Lesetexten können die Lerner während der Lektüre optional auch stets eine Audioversion hinzuschalten. Die Übungstypen umfassen plain text, enriched text, multiple choice exercises, true/ false exercises, fill-in exercises, bild- und textbasierte matching exercises, drop-down menu exercises, jumbled letters exercises, jigsaw puzzles, listen and speak exercises sowie crossword puzzles. Ein hohes Maß an Interaktivität wurde durch die Implementierung einer Rechtschreibkontrolle, verschiedener Arten von adaptivem Feedback, exten‐ siver Fehler-Antizipationen sowie die Berücksichtigung von Mehrfachant‐ worten verwirklicht. Die zweite Version von TechnoPlus Englisch konnte dabei von den umfangreichen Erfahrungen beim langjährigen Einsatz von dessen erster Version in der Lehre an der htw saar profitieren, da eine Sammlung von typischen Fehlern die Grundlage für den massiven Ausbau im Bereich der Fehler-Antizipationen und abgestimmten Rückmeldungen bildete: Abb. 5: Beispiel für Fehlerantizipationen und abgestimmte Rückmeldungen „Fenster“ zum Distance Learning über ein Videokonferenzsystem oder z. B. Skype sowie E-Mail ermöglichen darüber hinaus in einem Blended Learning Setting eine optimale Einbindung in einen kommunikativen Fremdsprachen‐ unterricht, um insbesondere die produktiven Fertigkeiten des Sprechens und Schreibens zu trainieren. Dies wird überdies durch vielfältige Verknüpfungs‐ möglichkeiten zwischen den Situations einerseits und den Engineering Topics andererseits unterstützt. So lassen sich z. B. alle Engineering Topics nutzen, um die Fertigkeit des Präsentierens, die Gegenstand einer der Situations ist, einzuüben. 316 Christine Sick 3 TechnoPlus Englisch Online Extensions 3.1 Die Nachfrage nach mobilen Angeboten Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von TechnoPlus Englisch 2.0 im Jahre 2011 bahnte sich bereits ein Paradigmenwechsel im Bereich des computergestützten Lehrens und Lernens von Fremdsprachen an. Mit der wachsenden Verbreitung mobiler Endgeräte stieg einerseits die Nachfrage nach einem Onlinezugang zu den Lerneinheiten, sowohl von den Laptops der Studierenden via Internet als auch von ihren Smartphones und Tablets. Andererseits wurden und werden sowohl seitens der Lerner als auch der Lehrenden weitere Engineering Topics nachgefragt. 3.2 Entwicklung der Online Extensions mit dem e&mLearning Publisher (emLP) Aufgrund der oben beschriebenen Nachfrage wurde im Rahmen der mittlerweile in e&mLanguageLearning umbenannten Forschungskooperation entschieden, künftige Erweiterungen des Lernprogramms ausschließlich in Form von Online Extensions mit dem von der Partnerfirma EUROKEY im Rahmen der Kooperation entwickelten e&mLearning Publisher (emLP) zu erstellen. Dieses Autorentool erlaubt es auch Lehrenden, die über keine speziellen Programmierkenntnisse verfügen, ihre eigenen Lernmodule für das E-Learning und das Mobile Learning zu entwickeln und diese auf die speziellen Bedürfnisse ihrer Lerner abzu‐ stimmen. Der emLP unterstützt eine große Bandbreite an Übungstypen, wie sie zum größten Teil bereits in TechnoPlus Englisch verwendet wurden. Als neue Übungstypen kamen zusätzlich Ordnungsübungen und Tests hinzu. 3.3 Inhaltliche Ausrichtung der Online Extensions Die erste Online Extension, King’s Cross, basiert auf einem Video über das Beleuchtungskonzept des neu renovierten Bahnhofs King’s Cross in London. Sie zeigt, wie einfach neuer Content mit dem Webauthor des emLP online erfasst werden kann und wie dieser Content dann vom emLP per Mausklick automatisch auf den verschiedenen Ausgabegeräten veröffentlicht wird. Der Layout- und Interaktions-Manager, das Herzstück des emLP, justiert dabei das Layout des Contents automatisch für die Größe des jeweiligen Ausgabegerätes. Zudem passt er auch die Interaktionsform an das jeweilige Endgerät an. So wird etwa eine Zuordnungsübung, die am PC als drag&drop-Übung ausgegeben wird, am Tablet automatisch als tap&tap-Übung und am Smartphone durch einen Übungstyp realisiert, bei der die zuzuordnenden Begriffe in Seifenblasen durch die richtige Zuordnung zum Platzen gebracht werden: 317 Die TechnoPlus Englisch Suite Abb. 6: TechnoPlus Englisch Online Extension King’s Cross Die TechnoPlus Online Extensions werden vierteljährlich veröffentlicht. Sie sollen - wie die bereits veröffentlichten Extensions Cylinder Deactivation, Inflatable Safety Belts, The Next Generation of Wind Power und Turbines of the Deep zeigen - die unterschiedlichsten Themen aus dem Bereich des Ingenieurwesens abdecken. Weitere in der Entwicklung befindliche Online Extensions umfassen How Things Work, An Introduction to Smart Grids, Building the Shard, sowie The Electric Car Market. Die Lerner haben dabei erstmals auch die Wahl zwischen einer speziellen Version für deutsche Lerner und einer English Only Version. 318 Christine Sick Abb. 7: Startbildschirm TechnoPlus VocabApp 4 TechnoPlus VocabApp 4.1 Der Bedarf für eine mobile Wortschatztrainer-App TechnoPlus Englisch und seine Online Extensions legen den Schwerpunkt - wie skizziert - auf die integrierte Schulung der vier grundlegenden kommunikativen Fertigkeiten Leseverstehen, Hör- / Sehverstehen und - soweit mit einem Lernpro‐ gramm möglich - Sprech- und Schreibfertigkeit. Der Wortschatz wird zwar in allen Programmbereichen mittrainiert, aber seine Vermittlung steht nicht im zentralen Fokus dieses Programms. Erfahrungen mit der Zielgruppe der Studierenden der Ingenieurwissen‐ schaften zeigen jedoch, dass fast ausnahmslos alle Studierenden - je nach Niveaustufe - große bis sehr große Defizite im Bereich des Wortschatzes haben. Dies betrifft den Grundwortschatz, der eigentlich auf dem Eingangsniveau B1 bereits beherrscht werden sollte, ebenso wie den für den späteren beruflichen Einsatz relevanten Wortschatz des Business English und des Technischen Eng‐ lisch. Sowohl die Lehrenden als auch die Lerner selbst konstatieren in diesem Zusammenhang, dass bei Letzteren häufig weder die Bereitschaft noch die Strategien und Routinen für den Wortschatzerwerb angemessen ausgeprägt sind. Die Studierenden, die sich dieser Defizite in der Regel bewusst sind, fragen die Nutzung von Ansätzen des E-Learning via Internet sowie des Mobile Learning über verschiedene mobile Endgeräte, wie z. B. Smartphones und Tablets, für den Wortschatzerwerb jedoch explizit nach. Mobile Endgeräte sind bei Studie‐ renden bereits weit verbreitet. Eine im Sommersemester 2014 erstmals bei allen 319 Die TechnoPlus Englisch Suite 2 Die Ergebnisse wurden in Sick (2014: 5-11) veröffentlicht. Bachelor-Studierenden am Campus Alt-Saarbrücken durchgeführte Befragung 2 ergab, dass 95,85 % der Befragten ein Smartphone besaßen und 35,92 % über ein Tablet verfügten. Eine erneute Umfrage (Sick 2019) ergab, dass nunmehr mehr als 99 % ein Smartphone besitzen und etwas weniger als die Hälfte der Studierenden über ein Tablet verfügen. Diese Endgeräte werden für viele Zwecke - jedoch selten für das Fremd‐ sprachenlernen im Allgemeinen und den gezielten Wortschatzerwerb im Be‐ sonderen - genutzt. Im Jahre 2014 gaben noch 63,7 % der Befragten an, dass sie ihr Smartphone überhaupt nicht zum Sprachenlernen verwenden. Bei den Tablet-Besitzern waren dies sogar 84,69 %. Gegenüber 2014 zeigte sich im Jahre 2019, dass die Zahl derer, die ihr Smartphone bzw. Tablet nicht für das Sprachlernen nutzten, auf 48,52 % respektive 69,13 % sank. Trotz der flächendeckenden Verbreitung der Smartphones, die laut der Umfrage aus dem Jahr 2019 zu mehr als 90 % ständig online sind, und der großen Verbreitung von Tablets zeigt sich hierin, dass die sogenannten digital natives nicht auch automatisch digital (language) learners sind. Dies wird umso deutlicher, wenn man bedenkt, dass von vielen Befragten bereits das Nachschlagen eines Wortes als Lernen eingestuft wird. Der geringen Nutzung der weitverbreiteten Endgeräte für das Sprachen‐ lernen stehen jedoch konkrete, sehr detaillierte und in den Umfragen eben‐ falls erhobene Bedarfsäußerungen und Erwartungen der Studierenden an eine mobile Wortschatztrainer-App entgegen. Die zunehmende Nutzung mobiler Endgeräte und das Interesse, Smartphones und Tablets für den Spracherwerb zu nutzen, gilt es daher insbesondere bei der eher weniger fremdsprachenaffinen Zielgruppe der Studierenden der Ingenieurwissenschaften nutzbar zu machen. Aus diesem Grund wurde im Rahmen eines weiteren Forschungsprojektes mit dem Kooperationspartner EUROKEY in Ergänzung zu dem multimedialen Sprachlernprogramm TechnoPlus Englisch und seinen Online Extensions eine mobile Wortschatztrainer-App entwickelt, die ebenfalls kontinuierlich erweitert und weiterentwickelt wird. 4.2 Die inhaltliche Konzeption der TechnoPlus VocabApp Da in TechnoPlus Englisch der Grundwortschatz als bekannt vorausgesetzt wurde, liegt der Schwerpunkt der TechnoPlus VocabApp in ihrer ersten Version in der themen- und kontextbezogenen Schulung des Grundwortschatzes. Dazu wurde der Grundwortschatz aus TechnoPlus Englisch auf seine beson‐ dere Relevanz für die Zielgruppe der Studierenden der Ingenieurwissenschaften 320 Christine Sick und ihre spätere Berufstätigkeit hin analysiert. Etwa 1600 Wörter wurden danach in 37 Themenbereiche eingeteilt, aus denen die Lerner die für sie jeweils besonders relevanten Vokabelpakete auswählen können: A new job • Arranging meetings • At a restaurant • At university • At the hotel • Business correspondence • Buildings • Cause and effect • Doing business • Companies • Conjunctions • Cooking • Days, months & seasons • Describing people • Describing things • Describing things & people • Describing trends • Drink • Food • Fruit & vegetables • Human body • Important adverbs • Important verbs • Medical conditions • Medical treatment • Money • Negotiating • Parts of buildings • Prepositions • Presenting • Socializing • Studying • Technology • Telephoning • Transportation • Travelling • Weather Jeder Themenbereich wurde wiederum nach Schwierigkeitsgrad weiter in überschaubare Pakete von 10 bis 18 Vokabeln eingeteilt, die jeweils im Kontext und mit Audiounterstützung trainiert werden. Neben dem Grundwortschatz enthält die VocabApp außerdem in enger Abstimmung mit TechnoPlus Englisch und den neuen Online Extensions weitere Vokabelpakete zu den Engineering Topics im Bereich des Technischen Englisch sowie den Situations im Bereich des Business Englisch. 4.3 Die vier Lernmodi der TechnoPlus VocabApp Innerhalb der leicht zu bewältigenden Vokabelpakete wird jede Vokabel in vier verschiedenen Lernmodi trainiert: Abb. 8: TechnoPlus VocabApp (Lernmodi) 321 Die TechnoPlus Englisch Suite Im ersten Lernmodus, dem Revising, kann der Lerner zunächst entscheiden, ob die Vokabel ihm bereits bekannt ist oder nicht, und lernt außerdem die Aussprache und den Kontext von unbekannten Vokabeln kennen. Im zweiten Lernmodus, dem Learning, werden dem Lerner zunächst alle von ihm als unbekannt eingestuften Vokabeln vorgestellt. Dabei muss das gesuchte Wort in einem Beispielsatz aus vorgegebenen Buchstaben zusammengesetzt werden. Auch hier wird die richtige Lösung durch eine Audioaufnahme des Beispielsatzes unterstützt. Im dritten Lernmodus, dem Practising, wird das Vokabular anhand einer deutsch-englischen Zuordnungsübung in Form einer Seifenblasenübung (s. oben) trainiert. Im vierten und letzten Lernmodus, dem Applying, werden die Vokabeln schließlich in einem zweiten Beispielsatz in Form einer Einsetzübung ange‐ wendet. Dabei wird - wie bereits bei TechnoPlus Englisch - die Interaktivität durch die Rechtschreibkontrolle, umfangreiche Fehler- und Antwort-Antizipa‐ tionen sowie die Berücksichtigung von Mehrfachantworten gesteigert. Eine Vertonung des jeweiligen Beispielsatzes unterstützt auch hier die Lerner. In allen vier Lernmodi protokollieren eine detaillierte Statistik und Lern‐ standskontrolle den Lernerfolg. 4.4 Weiterentwicklung der TechnoPlus VocabApp Bei der Entwicklung der App-Technologie wurde darauf geachtet, dass sie auch von anderen Institutionen, wie z. B. Hochschulen und Bildungseinrichtungen sowie Firmen, genutzt werden kann, um eine eigene Wortschatztrainer-App (für jegliches Sprachenpaar und/ oder jeglichen Themenbereich) zu produzieren, die an den besonderen Bedürfnissen ihrer Lerner ausgerichtet ist. Neben der Ergänzung der App um weitere Themengebiete im Bereich des Business English und des Technischen Englisch wird die TechnoPlus VocabApp ak‐ tuell auch durch die Einführung von Quizzes mit Game-typischen Belohnungs- und Motivationselementen sowie ein hochschulweites Wettkampfmodul gami‐ fiziert. Damit reagiert die Forschungskooperation auf den in der oben erwähnten Umfrage ebenfalls häufig geäußerten Wunsch nach mehr spielerischen und kompetitiven Elementen, um die Motivation zum Wortschatzlernen weiter zu steigern. 5 Schlussbemerkung und Ausblick Mit TechnoPlus Englisch wurde ein Sprachlernprogramm entwickelt, das spe‐ ziell auf die Zielgruppe von Studierenden der Ingenieurwissenschaften und 322 Christine Sick 3 Die Entwicklung und der Einsatz der ersten Version dieses Lernprogramms in der Lehre in den technischen Studiengängen an der htw saar wurde am 17.02.2005 mit dem Landespreis Hochschullehre 2004 ausgezeichnet. Die TechnoPlus Englisch Suite belegte im Jahr 2017 den Zweiten Platz beim „David Riley Award for Innovation In Business English And ESP“ der Business English Special Interest Group (BESIG) der International Association of Teachers of English as a Foreign Language (IATEFL) und erhielt im Jahr 2018 das Comenius EduMedia Siegel der Gesellschaft für Pädagogik, Information und Medien e.V. deren Fremdsprachenbedarf im Bereich des Technischen Englisch und des Business English zugeschnitten ist. Das Programm, das im Rahmen des Tech‐ nologietransfers von der Partnerfirma EUROKEY vermarktet wird, wird in der Ingenieurwissenschaftlichen Fakultät der htw saar in allen Bachelor- und Master-Studiengängen flächendeckend eingesetzt und steht darüber hinaus allen Studierenden der htw saar - also nicht nur den Studierenden der Inge‐ nieurwissenschaften - sowie allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der htw saar zum kostenlosen Download über das Learning Management System Moodle zur Verfügung. Neben der kontinuierlichen Entwicklung weiterer Engineering Topics in Form von Online Extensions zur Erweiterung von TechnoPlus Englisch sowie der TechnoPlus VocbApp wird der emLP am Campus Alt-Saarbrücken derzeit auch eingesetzt, um Materialien für das neue, über das Learning Management System Moodle zur Verfügung gestellte m&eLanguageLearningPortal@CAS zu entwi‐ ckeln. So wurde in einem ersten Schritt im Rahmen des Qualitätspakts Lehre ein prep course English erstellt, der das Angebot der Präsenzbrückenkurse und der Fremdsprachenlernberatung insbesondere für die Zielgruppe derjenigen Studierenden, die bei Studienbeginn das gewünschte Eingangsniveau B1 noch nicht nachweisen können, ergänzt. Durch die Bereitstellung umfangreicher Selbststudienangebote mit hoher Interaktivität konnte die aus mehreren Forschungs- und Entwicklungsprojekten hervorgegangene TechnoPlus Englisch Suite zusammen mit einer Reihe weiterer E-Learning und Mobile Learning Materialien in den vergangenen Jahren zu einer kontinuierlichen Verbesserung des Fremdsprachenlehrens und -lernens im Bereich der Ingenieurwissenschaften an der htw saar beitragen. 3 Literatur Platzer, Hans & Désirée Verdonk (2014). English for Technical and? or? versus? Business Purposes: Selected survey results. In: Proceedings of the 7th Austrian UAS Language Instructors’ Conference Vienna, 23-24 May 2014, 164-171. 323 Die TechnoPlus Englisch Suite Raasch, Albert (1994). Fremdsprachen-Audits. In: Europäische Kommission (Hrsg.). LINGUA - Fremdsprachen - Audits und Bedarfsanalyse. Akten des Symposiums Saar‐ brücken 1994. Luxemburg: Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, 31-36. Raasch, Albert (1995). 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Sick, Christine (unter Mitarbeit von Lisa Rotter und Miriam Wedig) (2015). TechnoPlus Englisch VocabApp. Saarbrücken: EUROKEY. Sick, Christine (2015). TechnoPlus Englisch goes mobile - vom computerbasierten Sprach‐ lernprogramm zu mobilen Angeboten. In: Busch-Lauer, Ines-Andrea (Hrsg.). Facetten der Fachsprachenvermittlung - Hands on ESP Teaching, 233-249. Sick, Christine (unter Mitarbeit von Lisa Rauhoff und Miriam Wedig) (seit 2016). Online Extensions zu ‚TechnoPlus Englisch‘. Saarbrücken: EUROKEY. Sick, Christine (2019). Umfrage zur Nutzung mobiler Endgeräte zum Fremdsprachenerwerb. Unveröffentlicht. 324 Christine Sick Grammatik und Prosodie Zur Interdependenz von Syntax und Intonation und zum deutschen Wortakzent Norbert Gutenberg 1 Syntax und Intonation In den letzten Auflagen der Dudengrammatik sind glücklicherweise einige der zum Sprachganzen gehörenden Elemente der Prosodie im Kapitel Intonation wieder vertreten; im Abschnitt Gesprochene Sprache werden sogar den Grund‐ einheiten der geschriebenen Sprache (Buchstabe, Wort, Satz, Text) grundlegende Einheiten der gesprochenen Sprache gegenübergestellt (Laut, Wort, die funk‐ tionale Einheit, Gesprächsbeitrag, Gespräch). Dabei ist funktionale Einheit das Äquivalent zu Satz: die elementare Sinneinheit (Duden 1165). Diese Abschnitte stehen aber unverbunden nebeneinander: die Kapitel Intonation und gespro‐ chene Sprache werden genauso wenig miteinander in Verbindung gebracht wie Intonation und funktionale Satzperspektive. Dagegen betont die Sprechwissen‐ schaft die wechselseitige Abhängigkeit verbaler und prosodischer Kategorien, sowohl auf der Ebene von Text und Gespräch als auch der Syntax und der Wortbildung. Wir unterscheiden daher zwischen einem Grammatikbereich, in dem verbale und prosodische Regeln nur interpendent konstruiert werden können, und einem, der die prosodische Dimension nicht besitzt, z. B. Flexion. Deswegen werden bestimmte grammatische Kategorien hier behandelt als Phä‐ nomene, die nicht rein verbal sind, sondern eben auch intonatorisch beschrieben werden müssen. Zu dem prosodiedeterminierten Grammatikbereich gehören Wortakzente, Teilbereiche der Wortbildung, Interjektionen und Satzwörter bzw. Satzäquivalente, bestimmte Aspekte der Partikel und die Satzgliedstellung, Thema-Rhema-Struktur, Satzfeld und Satzklammer, Vorfeld-Mittelfeld-Nach‐ feld etc. Bevor wir auf in den konventionellen Grammatiken besprochenen Kategorien wie Satzgliedstellung, Satzwörter u. ä. zu sprechen kommen, müssen einige Grundkategorien erläutert werden, die auch die in der Dudengrammatik (1) (2) nicht erklärten Zusammenhänge zwischen funktionale Einheit, Gesprächsbei‐ trag, Satz verdeutlichen. Gesprächsbeitrag ist eine Kategorie, die in keiner Weise grammatisch deter‐ miniert ist, genauso wenig wie die Bestimmung Gespräch. Gesprächsbeiträge sind ebenso gut fünfminütige Einlassungen wie Interjektionen. Gespräch und Gesprächsbeitrag sind Kategorien der Pragmatik, die als De‐ terminanten mündlichen Sprachgebrauchs begriffen werden können, also an Wortwahl und Satzbau mündlicher Rede erkennbar sind. Als Beispiel für solche Konsequenzen in der Grammatik stehen z. B. die Deiktika, die ja nur situativ und kontextabhängig funktionieren können, und viele Eigenheiten mündlichen Sprachgebrauchs, die sich mit den im Folgenden erläuterten Kategorien durchaus regelhaft begründen lassen. Daneben gibt es viele grammatische Erscheinungen, die Konsequenzen für prosodische Merkmale haben, ohne selbst von der Prosodie ko-determiniert zu sein. Demgegenüber existieren viele prosodische Muster, die mit sprachlichen überhaupt nicht unmittelbar interagieren, wie z. B. Emotion und Affekte aus‐ drückende Merkmale. Mit der funktionalen Einheit, die die Dudengrammatik der Schriftkategorie Satz parallel stellt, kommen wir zu den sprachlichen und sprecherischen Mustern, die in wechselseitiger Abhängigkeit stehen. In Grammatiken ist hier, wenn überhaupt, von Prosodie oder Intonation in ihrem Verhältnis zur Syntax die Rede. Natürlich gibt es auch eine Beziehung zwischen sprachlichen und sprecherischen Kategorien in der Lautbildung. Sie steht aber unterhalb einer Ebene von Text- oder Äußerungsproduktion. Auf der Ebene von Text- und Äußerungsproduktion sind nicht segmentale, sondern suprasegmentale sprecherische Parameter des Sprechstils relevant, nämlich (dazu detailliert weiter unten) Gliederung (Pausen), Kadenzen (Melodieführung vor Pausen), Schweren (Akzentuierung). Sprachlicherseits ist hier von Einheiten wie Wort, Syntagma, Nebensatz, Satz zu reden. Zu systematisieren ist der Zu‐ sammenhang, wenn wir von einer Kategorie ausgehen, die sowohl Sprachliches als auch Sprecherisches impliziert: Ausspruch. Das ist eine Äußerungseinheit, die von der Sinnintention determiniert ist, nicht von grammatischen Kategorien. Sinnintentionen können nur in Kontexten und Situationen konzipiert werden. Das bedeutet, dass Kontext und Situation für die Formulierung grammatischer und prosodischer Regeln berücksichtigt werden müssen. Ein Ausspruch kann sein: „Ja“ als Antwort auf die Frage „Warst du’s? “ „In einem ganzen Satz“ auf die Frage „Wie soll ich antworten? “ 326 Norbert Gutenberg (3) (4) (5) (6) „Antworte in einem ganzen Satz“ als Vorschrift des Lehrers „Wenn ich es mir recht überlege, dann lieber nicht“ Zwei Sinnschritte, die ein Satzgefüge bilden, als Antwort auf die Frage „Willst du? “ „Bundeskanzler Gerhard Schröder hat gestern auf einer Dringlichkeitssit‐ zung des Kabinetts Bundesverteidigungsminister Scharping entlassen.“ Vier Sinnschritte als Informationseinheiten: der Leadsatz einer Nachricht „Frühling, ja, du bist’s. Dich hab’ ich vernommen“ als lyrisch-expressive Kommentierung des Wetterwechsels (1), (2), (3) sind Aussprüche, die aus einem einzigen Sinnschritt bestehen, wobei deutlich wird, dass Sinnschritt zwar mit Satz zusammenfallen kann (3), aber nicht muss (1), (2). Sinnschritt ist also eine Einheit, die grammatisch eine gewisse Geformtheit haben muss, z. B. (2) als Wortgruppe, Syntagma, aber auch aus einem einzigen Wort, ja einer Interjektion oder einer Exklamation bestehen kann - Pfui! Im Situationshorizont von (2) kann der Sinnschritt nicht weiter untergliedert werden: In einem wäre hier widersinnig, wohl aber möglich als Antwort auf die Frage: Wie wollen Sie den Kuchen haben, in Stücken oder - ? (4) - (6) sind Sätze, die - (4) - aus zwei Sinnschritten bestehen, die selber einmal ein Nebensatz, einmal eine - schriftgrammatisch gesprochen - Ellipse sind, die - (5) - aus vier Informationseinheiten (= Sinnschritten) eines Hauptsatzes bestehen, die - (6) - aus zwei Sinnschritten bestehen, die jeweils ein Hauptsatz sind. (6) könnte auch aus drei Sinnschritten bestehen: Frühling als Anrede, Ja, du bist’s als Ausruf (= erster Hauptsatz), dann der zweite Hauptsatz. Damit sind alle Vorkommensweisen von Aussprüchen erfasst. Dass (6) auch aus drei Hauptsätzen oder aus zwei Hauptsätzen und einem Nebensatz oder zwei Nebensätzen und einem Hauptsatz bestehen können, ist nur folgerichtig. Zwei Kriterien für Ausspruch, bzw. Sinnschritt liegen auf der Hand: • 1. die Mitteilungsabsicht des Sprechenden, 2. die grammatische Geformt‐ heit in Abhängigkeit vom Sinnhorizont der Sprechsituation (ein Wort - Syntagma - Nebensatz - Hauptsatz). Ein drittes Kriterium ist in den Trennungsstrichen von (4) - (6) angedeutet: Es ist die sprecherische Gliederung. Die Striche deuten an, dass es eines Innehaltens im Sprechen bedarf, um eine Sinnschrittgrenze zu kennzeichnen, einer Pause. Auch das Ausspruchsende ist eine Pause, aber sie ist minimal länger, und das Ausspruchsende kennt immer eine Absenkung der Melodie, ein ‚Sprechen auf Punkt‘. Das kann auch die Ausspruchsteile kennzeichnen, in (5) kann sogar der ‚Schröder‘ - themensetzend - auf Punkt gesprochen sein, aber 327 Grammatik und Prosodie der Kontext macht die Informationseinheit zum Sinnschritt, der weiterer Einheiten bedarf, um in einem Ausspruch zu einer Gesamtinformation komplettiert zu werden. Daher ist die Stimmsenkung ‚auf den Punkt‘ auch nur ein Test, ob es sich um einen Sinnschritt handeln kann, aber kein obligatorisches Merkmal. Sinnschritte, die Teile von Aussprüchen sind, haben meist eine schwebende oder steigende Melodie an ihrem Ende. Aussprüche sind also 1. Einheiten, die inhaltlich und prosodisch abgeschlossen sind, sie werden von einem rhythmisch-melodischen Spannungsbogen mit starkem finalem Spannungsabfall umschlossen und entsprechen oft Sätzen; 2. Manchmal bestehen sie aus nur einem Sinnschritt (s. u.). Das sind prosodische Einheiten, die nicht abgeschlossen sind (Teilaussprüche); sie erfordern inhaltlich und oft auch prosodisch eine Ergänzung durch mindestens eine weitere Einheit. Weitere Beispiele für Sinnschritte aus Hörfunknachrichten: - Einwortäußerung: „und weiterer Anstieg der Gaspreise.“, „Das meldet das Verbraucherportal“, - Wortgruppe: „Sechzehn Uhr- die Themen: “, „Das Wetter: “, - Nebensatz: „weil Gas zurzeit zehn Prozent billiger importiert wird.“, - Einschübe: „Personenbezogene Informationen über sechs Millionen Straftäter, darunter Fingerabdrücke, verdächtige Kfz-Kennzeichen oder Merkmale der Erbsubstanz DNA, sollen in ihr gesammelt werden.“, - satznahe Formulierungen, satzfreier Sinnschritt, z. B. im Themenüber‐ blick: „Neue Warnstreiks bei der Post“, - Hauptsatz: „Hier ist der Verkehrsservice: “. Zwei Merkmalskategorien sind bisher vorgestellt: Gliederung und Kadenz (= Melodieverlauf an Gliederungsstellen). Beispiel (6) enthält den Hinweis auf ein drittes Merkmal: die Schwere. Angesichts der Expressivität der beiden Gedicht‐ 328 Norbert Gutenberg zeilen erhält der zweite Hauptsatz eine ‚Schwere‘ an ungewöhnlicher Stelle: Dich hab’ ich vernommen; Eine Beschwerung: Dich hab’ ich vernommen, ist logisch zwar möglich, aber recht ‚unlyrisch‘, nicht passend zum überschwäng‐ lichen Ausdruck der Freude. Hier gibt es weiteren Erklärungsbedarf: Während Gliederung und Kadenzie‐ rung ganz durch ein Merkmal bezeichnet werden (‚Tonhöhenbewegung‘ fallend ‚Pause‘), so kann ‚Schwere‘ durchaus unterschiedlich realisiert werden: durch Tonhöhenbewegung, Lautstärkegipfel, Ritardando, vorangehende Staupause, größere Deutlichkeit oder manchmal durch alles zusammen, wobei einmal Lautstärkegipfel, einmal Tonhöhenbewegung Führungsgröße sein können. Be‐ rücksichtigt man diese Komplexität auf der Merkmalsebene, dann darf man auch von Betonung oder Akzent sprechen. Gemeint ist die prosodische Markierung des Sinnkerns. Sinnkern ist die Bezeichnung für das, was andernorts Rhema heißt oder Focus, der Bestandteil im Sinnschritt, um dessentwillen er überhaupt geäußert wird, das worauf er auch äußerstenfalls reduziert werden kann: Ja für Dazu sage ich: ja! . Sinnkern ist das, was sowohl als Schwerevorstellung als auch als semantischer Kern im Sprechdenkprozess konzipiert wird als Zielgedanke der Äußerung, noch bevor über ihre Formulierung entschieden ist (Wahl des Wortes oder Wortblockes für die Kernmitteilung, Realisierungs‐ form der Hauptschwere). Gegenbegriff zu Rhema ist Thema, das, worüber gesprochen wird, im Verhältnis zu dem, was dazu gesagt wird, Gegenbegriff zu Focus ist Horizont, das, was als Rahmen vorhanden ist, im Verhältnis zu dem, worauf man sein Augenmerk richtet, was man ‚fokussiert‘. Jeder Sinnschritt hat also einen Sinnkern, den man als die überwiegende Schwere hört, falls noch andere ‚Schweren‘ vorhanden sind, ‚Neben-Betonungen‘: die ‚Über-Schwere‘. Entscheidend dabei ist, dass das faktisch akzentuierte Wort - auch wenn die Akzentuierung inhaltlich falsch ist - vom Hörer immer als Rhema verstanden wird. Zusammenfassend: Sobald eine Gliederungseinheit mehr als ein Wort umfasst, entsteht eine Akzentstruktur, die die Ebene Wortakzent überlagert: der Sinnakzent (Schwere). Er ist zwar determiniert durch die Sinnintention des Sprechenden, unterliegt aber auch Positionsregeln. Diese lassen sich mit dem Thema-Rhema-Schema fassen - das auch Topic-Comment-, Fokus-Horizont- oder Anknüpfung-Sinnkern-Schema heißen könnte. Diese Positionsregel gilt nur für ‚sachliche‘, nicht emotional aufgeladene Sprecheinheiten, die eher informieren als Affekte ausdrücken (s. u.). Rhema / Fokus / comment / Sinnkern tragen den Sinnkernakzent. Linguistisch bedeutet dies, dass es nicht von Wortart, Satzglied usw. abhängt, welches Wort den Akzent erhält, sondern nur von der Sinnintention, dass 329 Grammatik und Prosodie aber Wortstellungsregeln und Akzentregeln für Wortgruppen dazu führen, dass grammatische Konstruktionen von Regeln der Akzentuierbarkeit abhängen. Phonetisch werden Akzente gebildet aus einer Kombination prosodischer und lautlicher Eigenschaften, im Deutschen geordnet nach Rang: Modifikation der Signalfrequenz, Intensitätssteigerung, Dehnung, hohe Artikulationspräzi‐ sion. Melodiekonturen am Ende von Sprecheinheiten (Teilaussprüche und Aus‐ sprüche) sind eine Möglichkeit, den Zusammenhang zwischen benachbarten Sprecheinheiten zu markieren. Für das Vorlesen sachlicher Texte wie Nach‐ richten gilt: Eine stark fallende Endmelodie markiert stärker einen gedanklichen Abschluss oder die Intensität einer Behauptung. Eine schwebende - progre‐ diente - Melodie deutet stärker auf das Weiterführen des mit der Pause nur vorläufig abgeschlossenen Gedankens in der nächsten Sprecheinheit hin. Eine steigende Sprechmelodie kennzeichnet einen Teilgedanken (Teilausspruch) als ergänzungsbedürftig und macht die folgende Sprecheinheit zur inhaltlichen Komplettierung notwendig. Damit taucht der Zusammenhang zur Interpunk‐ tion auf, insofern es sich um das Sprechen von Text handelt (s. u.). Warum das so ist, lehrt ein Blick auf die kindliche Sprachentwicklung: Noch bevor Kinder Sprache im vollen Sinne verwenden, haben sie mit mindestens einem Jahr prosodische Konturen, die von Erwachsenen eindeutig als aussagend, auffordernd, fragend etc. verstanden werden, ohne dass auch nur irgendein semantischer Gehalt im vollsprachlichen Sinne, auch nur der Einwort‐ satz, schon vorhanden wäre. In der kindlichen Kommunikationsentwicklung ist die prosodische Kontur primär. Sie drückt eine Kommunikationsintention aus, die später semantisch (Einwortsatz) und dann auch syntaktisch (Zwei- und Mehrwortsatz) differenziert wird. Wem es schwer fällt, sich solche prosodischen Konturen ohne verbale Füllung vorzustellen, der möge es mit Partikeln wie ja, so, na, am besten aber mit hm durchprobieren: hier haben wir ‚protosprachliche‘ Kommunikationsmuster, die ohne verbal-semantischen Gehalt sehr eindeutig als Äußerungen des Auffor‐ derns, Fragens oder des Zweifelns (steigend), der Zustimmung (fallend), des Erstaunens (steigend-fallend), des zweifelnden Nachfragens (fallend-steigend) usw. interpretiert werden. Diese prosodischen Muster werden im Rahmen der Sprachentwicklung verbal gefüllt. Es entstehen die sogenannte Einwortsätze, die auch in der vollständig ausgebildeten Sprache noch vorkommen: Hoppla (fallend), Papa (fallend), und: Papa (steigend) Ball (steigend). Die Konturen können zusammengefügt werden, es entsteht der 2-Wort-Satz: Papa Ball (steigend-fallend). Sinnvollerweise ist bei allen drei Konturen von ‚Sinnschritten‘ zu reden, als Terminus für sprachlich relativ abgeschlossene Aussprüche, die kommunikativ 330 Norbert Gutenberg als vollgültige Äußerungen im Dialog akzeptiert werden. Zu illustrieren ist dies mit dem berüchtigten Lehrer-Schüler-Dialog, in dem der Lehrer die aufgestellte Regel selbst widerlegt: Lehrer: Antworte in einem ganzen Satz! Schüler: Wie soll ich antworten? Lehrer: In einem ganzen Satz. Der Schüler könnte weiter fragen: In einem ganzen Satz? Und der Lehrer antworten: Ja! - womit wir wieder beim sogenannten Ein-Wort-Satz angekommen wären. Dies zeigt, dass die prosodische Kontur entscheidend ist, die, ab vollständigem Spracherwerb, zwar semantisch-syntaktisch gefüllt wird, aber eben nicht nach den Maßgaben der ‚Satzgrammatik‘, sondern denen der dialogischen Notwendigkeit. Für das Sprechen ist also ‚Sinnschritt‘, nicht ‚Satz‘ die entscheidende Kategorie. Aber auch die Kategorie ‚Satz‘ ordnet sich, beim Sprechen, in die prosodische Kontur ein; dies lässt sich wie folgt entwickeln: der Sinn (= Aussageabsicht) erzeugt Sprachgestalt (Wortwahl, Syntax) und Schallform (Betonung, Intonation, Klang‐ farbe usw.) in Akteinheit. Folglich muss man von der Sprechdenk-Funktion ausgehen, um die sprachliche und sprecherische Struktur der Äußerung zu ver‐ stehen, aber auch das geschriebene Sprachwerk (‚Text‘) und die Möglichkeiten seiner sprecherischen Realisierung. Zurück zu unserem Gedicht: Mit den beiden Fassungen (Schwere ganz vorn - Schwere ganz hinten) haben wir zwei Grundpläne für den Sinnschritt. Plan 1) ist fallend mit Schwere am Anfang: Dich hab’ ich vernommen. Das ist der Grundplan für einen affektgeladenen Sinnschritt, den Ausruf. Plan 2) ist steigend-fallend mit Schwere hinten: Dich hab’ ich vernommen. Das ist der Grundplan für den aussagenden, den informierend-sachlichen Sinnschritt. Plan 1) findet sich übrigens auch bei der Frage zum Ausspruchsbei‐ spiel (2) mit der Schwere ganz vorn: Wie soll ich antworten? Diesmal aber mit steigender Melodie! Nun haben wir alles zusammen: Sinnschritte haben Melodiekonturen mit Schweregipfeln. Die Konturen werden verstanden als Realisierungen elemen‐ tarer kommunikativer Grundmuster: Ausruf, Frage, Aufforderung etc. (s. o.). Sie werden durch Pausen begrenzt, sie können aber auch durch (stauende) Pausen gegliedert werden. Schweregipfel bezeichnen Sinnkerne. Es gibt zwei Grundpläne: 1. Anfangsschweren gehören zum Grundplan des expressiven Sprechens, 2. Endschweren zu dem des ‚sachlichen‘ Sprechens. Der Hörer nimmt immer die letzte Schwere für die wichtigste, unabhängig von ihrer eventuellen Lautstärke. Das ist bedeutsam für zwei-gliedrige Sinnschritte, bei denen im ersten Teil eine Bezugsschwere ist: Frühling, ja du bist’s (steigend-fallend) (eine der möglichen Fassungen für den ersten Hauptsatz in Beispiel (6)). Es ist aber auch bedeutsam für den expressiven Grundplan: Er wird nur dann realisiert, wenn nach der Anfangsschwere keine mehr folgt. Nehmen wir 331 Grammatik und Prosodie den Sinnschritt als Skala, so nimmt mit dem ,Nach-vorne-Rücken‘ der letzten Schwere die Expressivität sukzessive zu. Hier liegt der Grund für die so genannte Wortblockregel (Aufzählungen und Syntagmen - ein grüner neuer Hut - werden auf dem letzten Wort beschwert) und für den Kontrastakzent (Schwere rückt von Hut auf neuer (= nicht ein alter) oder auf grüner (= nicht ein gelber). Fallen nun Sinnschritt mit Ausspruch und Ausspruch mit Hauptsatz zu‐ sammen, so erhält die Sinnschritt-Kontur eine syntaktische Fügung, die Grund‐ pläne des Sinnschritts werden ‚Satzpläne‘: Vorfeld Mitte Nachfeld + Personalform des Verbs + Das flektierte Verb wird grundsätzlich in Mittelstellung gesetzt, Vorfeld und Nachfeld je nach Denkfunktion gefüllt. Erste Konsequenz: Es gibt keine syntak‐ tisch begründeten Satzgliedregeln darüber hinaus; die Satzgliedfolge bestimmt sich nicht durch die grammatische Funktion, sondern durch die Denkfunktion des Wortinhalts. Anders ist dies mit der Wortstellung in den Satzgliedern oder Syntagmen. Dies und die Rolle der klanglichen Mittel werden deutlich bei den zwei Gestalten, die je nach Redeabsicht der Grundplan annehmen kann: I. Ausdrucksstelle (gefühls- oder willenswertiges Sinnwort) Geschehen (Personal‐ form des Verbs) Ergänzungen und Erläuterungen z.B.: Ich gehe heute spazieren. (Schwere am Anfang, fallend) II. Anschluss an vorher Gege‐ benes Geschehen (Personal‐ form des Verbs) Eindrucksstelle (Sinnwort als Denkergebnis) z.B.: Ich gehe heute spazieren (Schwere hinten, steigend-fallend) Unschwer ist I. mit dem zu identifizieren, was auch Emphase genannt wird oder expressiv. II. entspricht der Thema-Rhema-Gliederung oder dem Hori‐ zont-Fokus-Schema. Zum Satzplan gehören die Elemente der Schallform, frei‐ lich nicht alles, was an Sprechausdruck, Prosodie, Intonation i.w.S. existiert, sondern die drei, die nunmehr schon mehrfach erwähnt wurden: 1. Schwere / Akzentuierung, 2. Melodiebewegung - Kadenzierung, 3.Gliede‐ rung. 332 Norbert Gutenberg Durch 3. werden die Wortgefüge gebildet, 2. drückt Abschluss und Fortgang des Gedankens aus, 1. kennzeichnet die Sinnkerne der Gefüge und hebt als stärkste Schwere das Sinnwort des Gefüges hervor, das die dominierende Vorstellung (Rhema, Fokus) enthält. Jedes Satzglied, jede Wortart kann domi‐ nierende Vorstellung sein, vorausgesetzt, sie steht bei I. (Ausdrucksstelle) im Vorfeld, bei II. (Eindrucksstelle) im Nachfeld oder ist die Personalform des Verbs (Geschehen). An die Stelle von Satzgliedern können Gliedsätze treten, für die folgender Satzplan gilt: Ausgangspol Satzeinleitung Beliebige Gliederung Zielpol Geschehen An der Melodie- und Schwerekontur ändert das nichts. Meist sind die Ne‐ bensätze Sinnschritte in Aussprüchen; Relativsätze allerdings sind meist mit ihrem Bezugssubstantiv zu einem Syntagma verbunden: der Mann, der auf der Treppe steht - gerade nicht mit Pause beim Komma, sondern ein Sinnschritt. Bis hierhin ist der Zusammenhang von Tonhöhenbewegung, Pausierung und Akzentuierung (Sprechstil) und Ausspruch - Sinnschritt - Satz (Sprachstil) abgehandelt. Aber das Verhältnis von Sprach- und Sprechstil auf der Ebene ‚Sinnschritt - Ausspruch - Satz‘ impliziert noch weiteres, was ihre absolut wechselseitige Bestimmtheit deutlich macht. Wenden wir uns im Sprachstil nun dem Parameter ‚Klammerbildung - syntaktische Tiefe‘ zu. Stilistiken verdammten den Schachtelsatz als unschön und vor allem unverständlich. Was den Schachtelsatz ermöglicht, ist die für das Deutsche charakteristische Klammerbildung. Man versteht darunter die Möglichkeit, meist gar die syntaktische Notwendigkeit, zwischen Artikel und Substantiv, Verb und abgetrennter Vorsilbe, Hilfszeitwort und Partizip Satz‐ glieder einzufügen, die vom Sinn her eng zusammengehören. Diese Definition zeigt schon, dass es das Kind mit dem Bade auszuschütten hieße, zusammen mit dem Schachtelsatz auch die Klammerbildung insgesamt zu verwerfen. Vielmehr ist sie eine funktionale Möglichkeit der deutschen Syntax, gedankliche Einheiten grammatisch zu ‚klammern‘ - unter einer Bedingung: dass sie nicht überdehnt ist! Was heißt das? Die Antwort findet sich nicht in der Syntax, sondern in einer anthropologischen Konstante des Zeit-Erlebens. Menschen gliedern die Zeit in Erlebniseinheiten von drei Sekunden gemessener Dauer, die sie als gleichzeitig wahrnehmen: Alles was in diesen drei Sekunden geschieht, geschieht ‚gleichzeitig‘, wird als Einheit ohne Zeitverlauf erlebt. Folglich sind auch gesprochene Äußerungen bzw. Teile von Äußerungen, die als Einheit intendiert und verstanden werden, drei Sekunden lang. Bei Versen, den Sinn‐ 333 Grammatik und Prosodie schritten der Dichter, wurde in 17 Sprachen genau diese Drei-Sekunden-Dauer gemessen. Sinnschritte, die länger als drei Sekunden dauern, sind überdehnt. Diese Drei-Sekunden-Konstante scheint auch mit dem Ultrakurzzeitge‐ dächtnis etwas zu tun zu haben - z. B. beim ‚Sich-selber-Hören‘ beim Sprechen; wir wissen, dass Sprecher die abgetrennte Vorsilbe ihres Verbs nicht mehr finden, wenn sie ihre Klammer überdehnen -, dann ist es logisch, dass die Sprechgeschwindigkeit von der Sprechplanung sub specie Klammer, bzw. Sinn‐ schrittdauer abhängt! Wenn in nicht-alltagssprachlicher Rede die Klammern, bzw. der Sinnschritt mit komplizierten Wörtern gefüllt werden sollen, vielsil‐ bigen wie ‚Kanzleramtsminister‘, dann wird unsere Sprechplanung versuchen, auch dies in drei Sekunden unterzubringen, folglich erhöht sich unser Sprech‐ tempo. Nicht nur wegen des Sprechtempos, sondern auch wegen der Semantik sind Vielsilbler schwer verständlich. Beschleunigt sich das Tempo weit über 300 Silben pro Minute hinaus, so leidet die artikulatorische Präzision, es wird auch durch Undeutlichkeit unverständlich. 400 Silben pro Minute sind die für das Deutsche gemessene Obergrenze, für Hörfunknachrichten wurden Werte zwischen 320 und 370 Silben gemessen; eine mittlere Sprechgeschwindigkeit für das Hochdeutsche beträgt zwischen 250 und 280 Silben pro Minute, die Pausen nicht mitgerechnet. Der intrasubjektive mentale Prozess, bei dem Prosodie und Sprachgestalt gleichzeitig und interdependent in Abhängigkeit von der Sinnintention erzeugt werden, heißt Sprechdenken. Sprechdenkprozesse können auf unterschiedliche Art ablaufen. Wir haben festgefügte, fast formelhafte Formulierungen parat, die wir äu‐ ßern, ohne nachzudenken: Solche Routinen stehen der Alltagssprache für Stan‐ dardsituationen zur Verfügung als Grußformeln, Standardfragen (Könnten Sie mir sagen, wo es hier zum Bahnhof geht? ), Aufforderungen (Gib mir mal das Salz! ) usw. Sie werden geäußert wie ‚aus einem Guss‘ ohne jegliches Nachdenken, auch ohne Pausen. Sprichwörter und Sentenzen gehören dazu; Satzwörter und Interjektionen sind die Grenzfälle. Sinnschritte fallen hier mit Sätzen bzw. Satz-Aquivalenten zusammen. Man nennt diese Art der Formulierung setzendes Sprechen. Wir reden ins Unreine, wissen noch nicht genau, was wir sagen wollen, die verbale Planung ist chaotisch, es gibt viele Brüche, Fehler, Korrekturen, Versprecher, Füllwörter, die Prosodie ist nicht vom Sinn determiniert, sondern vom Chaos der verbalen Planung, Pausen sind nicht Gliederungssignale für Hörer, sondern bedingt durch Wortfindungsprobleme und Planungsschwierig‐ keiten. Akzente sind selten Sinnakzente, sondern eher rhythmisch bedingt oder durch die Mitteilungsintensität, weniger durch die Sinnintention; häufig ist die 334 Norbert Gutenberg Melodie vor Pausen schwebend oder steigend, außer am absoluten Ende der Äußerung des Turns, nicht an potentiellen Ausspruchsenden. Die sprecherische Gliederung hat mit Sinnschritten nur in Ausnahmefällen tun. Man nennt diese Art der Formulierung reihendes Sprechen. Unser Sprechdenken ist klar und eindeutig, weil unsere Sinnintentionen präzise sind: Wir wissen, was wir sagen wollen. Unserer Konzentration sind die semantischen und syntaktischen Repertoires problemlos zugänglich. Wir formulieren ohne Brüche, Füllwörter, Verzögerungen, Umplanungen in einfa‐ chen (3-Sekunden! ) Sinnschritten, die sich zu wohlgeformten Aussprüchen und Sätzen zusammenfügen. Gliederung und Akzente sind sinnadäquat und stimmen mit der Syntax überein. Der Hörer kann leicht folgen. Das nennt man fügendes oder Sinnschrittsprechen, mündliche Elaboriertheit. Es stimmt überein mit dem Produkt aus einem sprechorientiert geschriebenen Text und einem gekonnten, sinnfassenden Lesen. Von Grammatikalität kann folglich zu 100 % nur bei setzendem und fügendem Sprechen die Rede sein. Das reihende Sprechen verstößt gegen viele der Regeln grammatischer Wohlgeformtheit, die am Schreiben gewonnen wurden, eventuell auch am setzenden und fügenden Sprechen. Man mag die Vorkommnisse reihenden Sprechens beschreiben, wie es in vielen gesprächsanalytischen Publikationen geschieht, es ist zweifelhaft, ob ihm eigene grammatische Muster abzugewinnen sind (außer denen gewisser systematischer Abweichungen von der Schriftgrammatik). Es scheint eher pragmatisch fassbar zu sein als grammatisch. Außerdem ist es nur deskriptiv sinnvoll, nach Regeln reihenden Sprechens zu suchen. Im Rahmen einer normativen Grammatik geht es um Muster, die man auch als zu lernende Normen setzen würde. Dies gilt für deskriptive Muster reihenden Sprechens nicht. Beim freiformulierenden, fügenden oder Sinnschrittsprechen werden prosodische Regeln genauso wenig intentional angewendet wie lexikalische, morphologische oder syntaktische (nur bei Korrekturen von Fehlern geschieht das). Vielmehr entstehen Sprachgestalt und prosodische Kontur nach Maßgabe der Sprechintention in Akteinheit. Prosodische Regeln sollten deswegen für frei‐ formulierendes Sinnschrittsprechen als eher deskriptiv, nur für sinnfassendes Lesen von Texten als eher präskriptiv verstanden werden. Zwar sind in den bisherigen Erläuterungen der prosodischen Kategorien schon Regeln enthalten. Sie sollen im Weiteren aber systematisch entfaltet werden. Das geschieht am besten, wenn man als erstes den Zusammenhang von In‐ terpunktion und Prosodie betrachtet, weil landläufig Interpunktion als Sprech‐ anweisung verstanden wird. Dieser Auffassung wird häufig widersprochen, wobei der Widerspruch nur teilweise berechtigt ist, vor allem beim Komma. 335 Grammatik und Prosodie Insgesamt ist der Zusammenhang von Prosodie und Interpunktion durchaus differenziert zu betrachten. Wir sind damit in dem Bereich des sinnfassenden Le‐ sens, für das die Beziehungen zwischen Interpunktion und Prosodie präskriptiv gefasst werden können. Prosodisch sind Punkt, Strichpunkt und Ausrufezeichen in einer Hinsicht äquivalent. Sie markieren immer eine Pause, der eine mehr oder weniger entschiedene Stimmsenkung vorausgeht. Die Tiefe der Stimm‐ senkung ist dabei weniger unterschieden nach der Eigenart des Satzzeichens (etwa: ‚Ausrufezeichen tiefer als Strichpunkt‘), sondern eher nach der textuellen Verteilung: Punkte und Ausrufezeichen können Paragraphen und Abschnitte beenden, Pausendauer und Stimmsenkung sind folglich ausgeprägter. Strich‐ punkte können das nicht. Ihre prosodische Realisierung ist dieselbe wie die von Punkten und Ausrufezeichen innerhalb von Abschnitten. Punkte und Ausrufezeichen sind also eher als Markierungen komplexer Aus‐ sprüche aufzufassen, Strichpunkte als Markierungen einfacher Aussprüche oder gar Sinnschritte, ebenso Punkte innerhalb von Abschnitten. Als Markierungen von Sinnschrittgrenzen können Strichpunkte und Punkte natürlich auch mit progredienter Kadenz gesprochen werden. Fragezeichen sind immer Markierungen eines Sinnschritt-Endes, aber nicht immer müssen sie mit steigender Kadenz gesprochen werden. Ob sie mit fallender oder steigender Kadenz gesprochen werden, markiert eher die Art des Fragens als den Fragemodus an sich. Sogar Du gehst? mit Fallton kann dennoch als Frage verstanden werden, je nach Kontext, Situation, Intention und Intensität: Seh ich wirklich richtig: Du gehst? (mit Fallton). Gedankenstriche, Spiegelstriche markieren immer Sinnschritt-, mitunter sogar Ausspruchsgrenzen. Gedankenstriche vor und nach einem Syntagma, Einzelwort etc. haben dieselbe Funktion wie Klammern: Sie markieren die Zäsur vor und nach einem Einschub (s. o.). Das wirklich schwierige Satzzeichen ist das Komma. Es gibt viele Fälle, bei denen es prosodisch vollkommen belanglos ist: alle Aufzählungen etwa, bei denen das Komma als Konnektor steht, statt und: Substantivketten wie Essig, Öl, Pfeffer, Salz und Sahne, ebenso attributive Reihungen mit Adjektiven (die gelben, grünen, roten, schwarzen und blauen Sandalen) oder Genitiv- und Präpositionalattribute (die Angriffe der Rechten, der Liberalen, der Sozialisten und der Ultralinken; die Vorwürfe aus dem Gewerkschaftslager, von den Grünen, aus der Bauernschaft und von den Kirchen). Das Komma hat in all diesen Fällen überhaupt keine prosodische Konsequenz. Das wird auch von den professionell oder nicht-professionell Vorlesenden so realisiert, besser: Das Komma wird nicht realisiert! Die Tatsache, dass in den Beispielen das Konnektor-Komma prosodisch irrelevant ist, hindert nicht daran, dass in den Beispielen mit den 336 Norbert Gutenberg Attributketten (nicht in den Beispielen mit Substantiv- und Adjektivreihungen) durchaus Sinnschritt-Gliederungen möglich sind, die - etwa in einer Rede - dem Ausspruch mehr Emphase verleihen: Die Angriffe der Rechten, der Liberalen, der Sozialisten, und der Ultralinken. Die Vorwürfe aus dem Gewerkschaftslager, von den Grünen, aus der Bauernschaft und von den Kirchen. Die Gliederungsmöglichkeit ist aber nicht wegen des Kommas gegeben. Sie existierte auch, wenn die Interpunktionsregel kein Konnektorkomma vorsähe. In Gedichten wird manchmal die Interpunktion durch die Vers-Enden ersetzt (Von daher inspiriert sich auch die hier verwendete Zeilenschreibweise! ). In anderen Fällen führt ein (systematisch) fehlerhafter Deutschunterricht zu (systematisch) falscher Komma-Interpretation. Das gilt z. B. für Relativsätze und andere Nebensätze. Formulierungen wie der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte (Titel eines großartigen Buches von Oliver Sacks), der Spion, der aus der Kälte kam (noch ein großartiges Buch), das Kind, das die Treppe heruntergefallen war (kein Buchtitel) werden natürlich ohne Zäsur beim Komma gesprochen, das Komma ist hier nicht mehr als ein Konnektor. Anders bei folgendem Beispiel: Von den Schülern wird ein literarisches Grundwissen verlangt, das sie dazu befähigt, literarische Texte zu lesen, sie zu bewerten. Unter der Voraussetzung, dass von literarischem Grundwissen noch keine Rede war, lässt sich dieser Satz/ Ausspruch in folgende Sinnschritte gliedern: Von den Schülern wird ein literarisches Grundwissen verlangt, - das sie dazu befähigt, literarische Texte zu lesen und - sie zu bewerten, … Hier ist deutlich, dass der Relativsatz sehr wohl mit Zäsur abgetrennt werden kann, wenn er eine thematische Progression zum vorhergehenden Sinnschritt ist. Ist das literarische Grundwissen aber nicht Rhema, sondern schon bekannt, muss es heißen: Von den Schülern wird ein literarisches Grundwissen verlangt, das sie dazu befähigt, literarische Texte zu lesen, … Also ohne Zäsur vor den Relativpronomen! Der Satz ist gleichzeitig ein Beispiel für den Umgang mit dem Komma vor dem erweiterten Infinitiv mit zu. Auch hier erst einmal keine Zäsur nach befähigt, weil das sie dazu befähigt niemals ein eigener Sinnschritt 337 Grammatik und Prosodie ist. Der Sinnschritt ist bei lesen zu Ende, ein weiterer Sinnschritt folgt, der sehr wohl mit Zäsur abgetrennt wird, obwohl auch er ein erweiterter Infinitiv mit zu ist, der von befähigt abhängt; aber er ist thematische Progression. Analog zu den Relativsätzen sind mit Komma abgetrennte Ergänzungssätze (dass-, ob-, w-Sätze und Infinitivsätze mit zu (s. o.) zu behandeln. Nicht automatisch führt das Komma zu einer Zäsur. Der Kontext entscheidet, ob der Hauptsatz als Sinnschritt behandelt werden kann und dann mit einer Zäsur abgetrennt wird. Ohne Zäsur: Sie teilte uns mit, dass sie nach München umzieht. und Sie fragte, wann der Zug ankommt. Eventuell mit Zäsur: Dass er sich schlecht benimmt, ärgert mich. Unter der Voraussetzung, dass das schlechte Benehmen noch nicht bekannt ist, sind das zwei Rhemata, folglich zwei Sinnschritte, also eine Zäsur beim Komma (Aber nicht wegen des Kommas! ). Was so verwirrend klingt, wenn man vom Komma her denkt, ist einfach, wenn man vom Sinn her denkt. Entwickeln wir unsere Gedanken in Sinn‐ schritten, frei formulierend, tauchen Satzzeichen ohnehin nicht auf. Beim sinnfassenden (Vor-)Lesen von Texten entdecken wir beim Aufgliedern in Sinnschritte, dass einige Satzzeichen Indikatoren sind (.! ? ; -), andere nicht: außer dem Komma z. B. auch der Doppelpunkt. In dem Beispiel, das wir gerade vor uns haben, könnte auch ein einfacher Punkt, ein Strichpunkt oder ein Gedankenstrich stehen, also ist hier der damit synonyme Doppelpunkt als Zäsur zu realisieren. Anders beim Doppelpunkt vor wörtlicher Rede. Und dann sagte er: „Wie lange noch? “ - Sie entgegnete: „Gar nicht.“ Es gibt keinen Automatismus, der zu einer Zäsur beim Doppelpunkt führte. In der Erzählung kommt es darauf an, was gesagt wird. Die verba dicendi sind nur Redeeinleitungen, die auch nicht betont werden (s. auch weiter unten). Eine Zäsur nach sagte er ist nur dann geboten, wenn aus dem Kontext heraus auf dann ein Akzent liegt, der ja ein Kontrast-Akzent wäre (s. o.). Dann wäre der Satz bis sagte er ein Sinnschritt. Für Anführungszeichen bei wörtlicher Rede gilt dasselbe wie für Doppelpunkte: Sie haben erst einmal keine prosodische Bedeutung. Anführungszeichen innerhalb von Sätzen, die bestimmte Wortwahlen iro‐ nisch oder kritisch kenntlich machen, können Indikatoren für Sinnschritte sein. Sie entsprechen dann einem Doppelpunkt oder Gedankenstrich: Wenn die Wirtschaft schrumpft, dann darf man das nicht zugeben. Man redet von ‚Minuswachstum‘ - mit einer Zäsur vor ‚Minuswachstum‘. Solche Anführungszeichen können auch Einschübe kennzeichnen (s. o.). Selbst wenn bestimmte Satzzeichen ziemlich eindeutig Sinnschrittgrenzen markieren, gar Ausspruchsgrenzen, so empfiehlt es sich doch, nicht von der Interpunktion auszugehen, sondern von der Sinn-Intention. Das ist vor allem 338 Norbert Gutenberg wichtig beim Schreiben von Texten, die vorgelesen werden sollen, z. B. Nach‐ richten in Hörfunk und Fernsehen. Mit der Diskussion der Interpunktion haben wir von den prosodischen Parametern die Gliederung und z.T. auch die Kadenzierung behandelt. Die Akzentuierung ist von der Interpunktion überhaupt nicht betroffen. Es gibt keine Satzzeichen für Sinnkerne. Akzente werden allenfalls durch nicht genormte graphische Mittel angedeutet wie Fettdruck, Unterstreichung, Kursivschrift, Majuskeln. 2 Wortakzent Wenn einzelne Wörter zu Sinnschritten werden (wobei hier nicht nur an Satzäquivalente gedacht ist), dann wird deutlich, dass Sinnakzente (Schweren, Betonungen) mit dem Wortakzent des Sinnwortes (Ausnahme: Kontrastakzent, s. u.) zusammenfallen. Für die Wortakzentuierung im Deutschen gibt es Regeln, die im Vergleich zum Französischen (Wortakzent immer auf der letzten Silbe) recht kompliziert sind. Wortakzente sind als solche immer hörbar; normaler‐ weise verwechseln wir sie nicht mit Sinnakzenten in Satz, Ausspruch oder Sinnschritt, d. h. wir hören sie auch nicht als Nebenakzente. Der Sinnkern des Sinnschrittes wird sehr klar eben nicht nur gehört, sondern verstanden - als Rhema, Focus, dominierende Vorstellung der (Teil-)Äußerung. Auch für Wort‐ akzente gilt, was weiter oben für Akzentuierung/ Beschwerung gesagt wurde: Es handelt sich auf der Ebene der auditiven Merkmale nicht um eine 1: 1-Zuordnung von Form und Funktion. Lautstärke-, Tonhöhen-, Tempo- und Artikulations‐ veränderungen finden gleichzeitig und interagierend statt, wenn auch häufig Lautstärkegipfel die Führungsgröße sind, und vor allem in nicht-akzentuierten Silben die Artikulation unpräziser ist bis hin zu Verschleifungen und Elisionen. Das ist ein Merkmal, das die Prosodie des Deutschen auszeichnet: Akzentsilben werden, außer dass sie Lautstärkegipfel tragen und auch Tonhöhengipfel, auch langsamer und vor allem präziser artikuliert. Die Akzentregeln werden kritisch in Beziehung gesetzt zum Deutsche-Aus‐ sprache-Wörterbuch der Halleschen Sprechwissenschaft von 2009 (hier im Text Hallesches Wörterbuch genannt, bei der Bezugnahme darauf heißt es dann entsprechend immer Hallesche Beispiele). Insbesondere: Wir fassen die Rhythmisierungsphänomene bei der Wortakzentuierung, die bei Mehrsilbern zu Nebenakzenten führen, ebenso die Nebenakzente bei Komposita nicht als norm‐ gerecht auf, obwohl natürlich solche Akzentuierungen realiter vorkommen. Vor allem Akzentabweichungen im nachdrücklich sein wollenden öffentlichen Sprechen können nur als falsch gedachte Kontrastakzente verstanden werden, 339 Grammatik und Prosodie sind also nicht normgerecht. Hallesche Beispiele: Globalisierung, Demokratie, Terrorismus. Für alle Akzentregeln gilt, dass der Sinnakzent des Sinnschritts oder Aus‐ spruchs sie aufheben kann. Das gilt vor allem für Kontraste: Hallesches Beispiel: Optimismus vs. Pessimismus. Weiterhin teilen wir überwiegend nicht die Ak‐ zentbegründungen des Halleschen Wörterbuchs bei den „einfachen fremden Wörtern” (s. u.). Wir übernehmen im Folgenden die Hallesche Einteilung: 1. Einfache deutsche Wörter Normalerweise wird die Stammsilbe betont, auch wenn das Wort flektiert oder mit Prä- oder Suffixen versehen ist: versuchen, gefangen (Stamm ist einsilbig). Bei zweisilbigen Stämmen wird die erste Silbe betont: Arbeit, Antwort, beantwortet, bearbeiten, verarbeiten (Stamm ist zweisilbig). Ausnahmen: Es werden betont das Präfix Ur-: Ursache, Urheber, Ursprung. Das kann verstanden werden als Variante der Regeln für Determinativkomposita (s. u.). Das Suffix -ei: Schweinerei, Stümperei. Das -ei entsteht durch Diphtongierung aus dem französischen Suffix -ie (Fleischerei - Boucherie), das als Endsilbe im Französischen immer betont wird. Der Akzent bleibt erhalten wie auch in fran‐ zösischen Fremdwörtern auf -ie (Parfumerie). Das Präfix un-, wenn das negierte Grundwort als solches existiert: Unsinn, unverfroren, unbekannt, Unart, Unfall. Es heißt aber unsäglich und unaussprechlich, weil die mit unmodifizierten Grundwörter nicht gebraucht werden. Unfug ist eine Ausnahme, entweder wegen der Synonymie mit Unsinn, oder weil Unhier nicht als Präfix empfunden wird oder weil Fug wenigstens in einer Redewendung noch vorkommt: mit Fug und Recht. Es werden betont die Präfixe miss- und wider-: Das gilt durchgehend bei Substantiven und Adjektiven: Missgunst, missgünstig, missvergnügt, Wider‐ part, Widerhall, widerspenstig. Es gilt bei Verben, wenn den Präfixen miss- und widernicht der Stamm, sondern andere Präfixe folgen: missverstehen, aber: widersprechen, missglücken. Hier trägt die Stammsilbe den Akzent, weil miss- und wideroffenbar wie die Präfixe be-, ge-, zer-, verempfunden werden. Die Ausnahmen widerhallen, widerklingen werden offenbar als Verbalisierungen der Substantive Widerhall und Widerklang empfunden. Präfixe, die nicht fest zum Verb gehören (sogenannte ,trennbare Verben‘): anfangen, ich fange an. Bei Zu‐ sammensetzungen, die mit dem gleichen Präfix einmal fest, einmal unfest sind, gilt für die feste Zusammensetzung die Grundregel: Stammsilben-Betonung. In diesen Fällen ist der Akzent bedeutungsunterscheidend: übersetzen - übersetzen umfahren - umfahren überprüfen - überprüfen 340 Norbert Gutenberg überlegen - überlegen wiederholen - wiederholen Diese Funktion, vergleichbar mit Tönen, gibt es selten: August - August Blutarm - blutarm (Hallesche Beispiele) Dagegen: wiederentdecken, weil hier der Stamm zweisilbig und -ent kein Präfix ist. Wieder als Präfix bei trennbaren Verben und deverbativen Nominalkompo‐ sita wird offenbar als Adverb empfunden (deutlich bei der Trennnung: er stellte es wieder her) und ändert deswegen am Wortakzent nichts: Wiederherstellung, wiederherstellen, Wiederaufnahme, wiederaufnehmen. Es werden alltagssprach‐ liche Abkürzungen auf der ersten Silbe betont, wenn es sich um Zweisilbler handelt: Stasi, Nazi, Sozi, Hiwi, Zivi. Diese Formen werden offenbar als Wörter empfunden, so dass die Grundregel gilt: Stammsilbenbetonung, und die ist vorne! Es werden dreisilbige Abkürzungen häufig auf der zweiten Silbe betont. Bei Gestapo erklärt sich das aus dem Wortgruppenakzent: geheime Staatspolizei. Ebenso Unesco (Hallesche Beispiele). Dagegen aber auch Mifrifi (mittelfristige Finanzplanung), Benelux (was sich aus dem Wortgruppenakzent für Aufzäh‐ lungen erklärt), aber: Helaba; Buchstabenwörter werden immer auf der letzten Silbe betont (außer bei Kontrastierungen): DIHK, AG, GEW, KDW; Phänomene, wie das Kohlsche CDUCSU sind als misslungene Kontrastbetonungen zu werten: CDUCSU. Es werden betont die Flexionsendungen auf -ier-: marschieren, mar‐ schiert, parieren, spezifizierst du usw. bis hin zu -ierin Substantivierungen: Armierung. Es handelt sich hier um ein generalisiertes Fremdwortmorphem für Verben, ursprünglich aus dem Französischen, aber auch übertragen auf Übernahmen aus dem Lateinischen (sezieren). Die französische Infinitivendung -ir (venir, courir, gémir) wird unterschiedslos auf alle Verbübernahmen aus dem Französischen übertragen (marcher, parer, armer, changer, grouper, etc.). 2. Einfache fremde Wörter Wenige Fremdwörter werden deutschen Betonungsregeln unterworfen. Wo immer es möglich ist, bleibt der fremdsprachige Wortakzent erhalten. Das Deutsche ist gegenüber fremdsprachigen Lautungen und Akzentuierungen relativ tolerant, das Fremde bleibt, wo immer möglich, erhalten. Das gilt auch für ältere Übernahmen, die z.T. seit Jahrhunderten im Deutschen existieren. Hier haben wir z.T. die griechischen oder lateinischen Ursprungsakzente konserviert oder den Akzent, den das Französische dem Fremdwort gegeben hat, von wo aus es ins Deutsche übernommen wurde (von da aus erklären sich die zahlreichen Akzente auf der letzten Silbe! ). Das gilt für die Halleschen Beispiele: Idee, 341 Grammatik und Prosodie Philatelie, analog, kompakt, konspekt, Kostüm, Zertifikat, Universität, generös, konträr, die allesamt aus dem Französischen stammen, wobei -tät eine Suffix‐ bildung ist, die sich von lat. -tas und frz. -té inspiriert, -üm, -akt sind aber keine Suffixe! Hier handelt es sich um französische Endbetonungen. Deutsche Suffixe, die an Fremdwörter aufgehängt werden, tragen in der Tat nie den Wortakzent, sondern entweder die Silbe davor (allergisch) oder die Akzentsilbe des Grundwortes (phantasievoll, gnomenhaft). Auch bei Museum, Realismus, Pathos wirkt nicht eine Regel, die die Betonung fremder Suffixe verböte, sondern es handelt sich um lateinische, bzw. griechische Originalbeto‐ nungen. Kognak ist ein interessanter Fall: frz. wird betont cognac. Vielleicht wegen der eingedeutschten Schreibung entsteht ein Stammsilben-Akzent. Das gilt nicht bei Büro, Restaurant, wohl aber bei einigen anderen aus Frankreich stammenden Spirituosen: Armagnak, Calvados. Informatiker hat seinen Wortak‐ zent auf dem a nicht deswegen, weil -iker nicht betont werden dürfe als fremdes Suffix. Das Suffix ist -er und ist deutsch wie in Metzger und Schreiner und wird deswegen nicht betont. Das Grundwort heißt Informatik - analog zu Rhetorik, Ästhetik, Kybernetik. Das in der Tat fremde Suffix -ik wird nicht betont, weil die ursprünglich griechischen Wörter über das Lateinische zu uns gekommen sind: rhetorica, aesthetica. Informatik ist eine lateinische Analogiebildung. Das Suffix -or wird im Singular nicht akzentuiert (wie im Lateinischen), wohl aber im Plural (wie im Lateinischen): doctor - doctores, orator - oratores. Deswegen auch Professor - Professoren, Mentor - Mentoren, Tutor - Tutoren, Autor - Autoren. Nebenakzente auf vielsilbigen Fremdwörtern sind nicht normgerecht. Natür‐ lich heißt es klar Falsifikation, Technologie, Transsubstantiation, Invulnerabilität etc. 3. Komposita Es sind zu unterscheiden: Determinativ- und Kopulativkomposita. 3.1. Determinativkomposita: Bei zweigliedrigen Determinativkomposita wird ein Grundwort durch das Davor-Setzen eines Wortes näher bestimmt. Der Akzent des bestimmenden Wortes wird Wortakzent (Nebenakzente auf der Akzentsilbe des bestimmten Wortes sind dokumentiert, aber können nicht als normgerecht gelten). Beispiele: Bürgermeister, Schreinermeister, Auswahlverfahren. Determi‐ nativkomposita können auch dreigliedrig sein: Oberbürgermeister. Im Prinzip gilt dieselbe Akzentregel, weil der determinierte Teil des Kompositums als Lexem gilt (wie Bürgermeister): Hallesche Beispiele: Reiseaktentasche, Kinder‐ schreibgarnitur. Aktentasche und Schreibgarnitur kommen auch als solche im Lexikon vor und werden durch Reise und Kinder näher bestimmt. Diese Teile er‐ halten folglich den Akzent. Sind die Komposita mehr als dreigliedrig, gelten die‐ 342 Norbert Gutenberg selben Regeln: Regenwassersammelbecken. Regenwasser determiniert als Lexem (sonst haben wir einen Kontrastakzent) das Lexem Sammelbecken. Der Akzent des Kompositums liegt folglich auf dem Wortakzent des Bestimmungswortes des Kompositums: Regenwassersammelbecken. Alle anderen Akzentmöglichkeiten sind Kontrastakzente, die von der Sinnschrittakzentuierung her zu bestimmen sind. Das gilt auch für Beispiele wie Betriebssportgemeinschaft und Unfallver‐ sicherungsträger, die ganz klar Determinativkomposita sind, gleichgültig ob wir gedanklich Betriebs|sportgemeinschaft segmentieren oder Betriebssport| gemeinschaft, Unfall|versicherungsträger oder Unfallversicherungs|träger. Am Akzent ändert das nichts, die Segmentierung ist auch nicht hörbar. Es gibt auch den umgekehrten Fall. In den Halleschen Beispielen Badewannenhalte‐ rung und Kugelschreibermine wird jeweils ein Nicht-Kompositum durch ein Kompositum determiniert, das als solches im Wörterbuch steht. Damit wird der Wortakzent des zweigliedrigen, bestimmenden Kompositums zum Wort‐ akzent des dreigliedrigen Kompositums. Manchmal werden Kopulativ-Kompo‐ sita zu Bestimmungswörtern: Schwarz-Weiß-Malerei, Analog-Digital-Wandler, Erbsen-Bohnen-Eintopf (Hallesche Beispiele). Dann wird der Akzent des Kopu‐ lativkompositums zum Gesamtakzent. (Zur Akzentuierung der Kopulativkom‐ posita s. u.) Interessant sind davon abweichende Phänomene wie Tageshöchsttempera‐ turen und Dateienunterverzeichnis (Hallesche Beispiele). Hier scheinen Determi‐ nativa in ein Kompositum einzurücken: Tagestemperatur wird näher bestimmt durch höchst, das aber nicht davor treten kann - *Höchsttagestemperatur -, folglich Temperatur näher bestimmt - und den Akzent behält. Gleichzeitig ist ein Kontrastakzent denkbar zu Tagestiefsttemperatur. Ein Akzent Tageshöchsttem‐ peratur wäre ganz klar ein Kontrastakzent. Analog ist Dateienunterverzeichnis zu erläutern. 3.2. Kopulativkomposita: Hier werden Glieder gleicher Ordnung kombiniert. Oft werden sie mit Bindestrich geschrieben. Dabei wird immer der Akzent des zweiten Wortes zum Akzent des Kompositums: schwarzweiß, Rheinland-Pfalz, deutsch-französisch, analog-digital. Dies gilt auch bei drei- und mehrgliedrigen Kopulativ-Komposita. Der Akzent rückt immer aufs letzte Glied (wie bei Aufzäh‐ lungen als Sonderfall von Wortgruppen/ Wortblöcken s. u.). ‚schwarz-rot-gold‘ (Hallesches Beispiel), oder Vater-Mutter-Kind, Butter-Eier-Käse. 4. Wortgruppenakzentuierung Bei dem weiten Begriff von ‚Wortgruppen‘ des Halleschen Wörterbuchs sind eigene Regeln eigentlich überflüssig. Genaugenommen ließen sie sich aus den Akzentuierungsregeln für Sinnschritte ableiten, weil Wortgruppen, Wortblöcke 343 Grammatik und Prosodie oder Syntagmata meist Sinnschritte bilden. Wenn wir aber unter Wortgruppen nicht jede Art der Fügung von Wörtern zu Sinneinheiten verstehen, sondern Aufzählungen, Syntagmen und andere lexikalisierte Fügungen, dann können Regelformulierungen sinnvoll sein, wenn man sie in Beziehung setzt zur Sinnschrittakzentuierung. In Aufzählungen trägt immer das letzte Glied den Akzent (genau wie bei drei- und mehrgliedrigen Kopulativ-Komposita): Karl, Franz und Egon; Deutschland, Frankreich und Italien; du, er und ich. Jede andere Akzentuierung ist denkbar - aber nur als Kontrastakzentuierung. Sie ist dann kein normaler Wortgruppenak‐ zent. Wenn Aufzählungen in die Rhema-Position eines Sinnschritts oder Satzes rücken, oder selber einen Sinnschritt konstituieren, ist das der normale Akzent. Bei Funktionsverbgefügen liegt der Akzent immer auf dem Verbalsubstantiv, das vom Grundverb gebildet wird, das durch das Funktionsverbgefüge ersetzt wird: ändern - eine Änderung vornehmen. Ein Akzent eine Änderung vornehmen ist ein Kontrastakzent (= … nicht sie unterlassen), der in Aussprüchen/ Sätzen wohl vorkommen kann. Diese Grundregel gilt unabhängig von der Art des Funktionsverbgefüges, gleichviel ob das Verbalsubstantiv akkusativisch oder präpositional angeschlossen wird: ein Gespräch führen, Zurückhaltung üben, in Anspruch nehmen, zur Anwendung kommen. Bei Syntagmen, Wortblöcken wie Preis-, Mengen- und Zeitangaben, auch Adjektiv-Substantivfügungen, Sub‐ stantiv- und Adjektivfügungen, Substantiv-Relativsatzfügungen (Relativsatz ist Attribut) liegt der Akzent auf dem letzten unemphatisch betonbaren Wort: drei Euro; fünf Kilo; 18 Grad; 17 Uhr; ein kleines, grünes Männlein; der Traum des Kelten; der Mann ohne Eigenschaften; der Spion, der aus der Kälte kam. Davon abweichende Betonungen wären immer kontrastiv und/ oder emphatisch. Na‐ türlich ist die Zahl in 3 Euro etc. wichtiger als die Währungsangabe. Dennoch wird der Ausdruck 3 Euro als Sinneinheit empfunden, folglich hinten betont. Ein kleines, grünes Männlein etc. wird behandelt wie eine Aufzählung, der Spion, der aus der Kälte kam wie ein Sinnschritt, bei dem das Rhema betont wird. Fügungen wie der Mann dort oder der Hund da drüben werden nicht hinten betont, weil solche Adverbien, ob in attributiver Stellung oder zum Verb gehörig, nur im Kontrast, also deiktisch betont werden. In Redewendungen, idiomatischen Ausdrücken, Phraseologismen gilt entweder die Regel der Aufzählungen und Kopulativkomposita oder die Analogie zur Sinnschrittbetonung, bei der das rhematische Element betont wird: Mit Mann und Maus, mit Kind und Kegel, Hinz und Kunz, Kreti und Plethi; sich einen Ast lachen, jemanden auf die Schippe nehmen, jemanden für dumm verkaufen, jemanden an der Nase herumführen (bei einer Betonung auf dem Verb würde der metaphorische Charakter verloren 344 Norbert Gutenberg gehen und die Wendung wörtlich zu verstehen sein: jemanden an der Nase herumführen). Literatur Anders, L.-Chr., E.-M. Krech, E. Stock & U. Hirschfeld (2009). Deutsches Aussprachewör‐ terbuch. Berlin & New York: De Gruyter. Die Dudenredaktion ( 8 2009). Duden - Die Grammatik. Der Duden in zwölf Bänden; Bd. 4. Berlin: Duden. Drach, E. (1937 / 11 1963). Grundgedanken der deutschen Satzlehre. Darmstadt: Wissen‐ schaftliche Buchgesellschaft. Gutenberg, N. (1998). Einzelstudien zu Sprechwissenschaft und Sprecherziehung. Arbeiten in Teilfeldern. Darin: Sprechdenken - Hörverstehen - Leselehre. Göppingen: Kümmerle, 425-462. Stock, E. (1996). Deutsche Intonation. Leipzig: Langenscheidt. Winkler, Chr. (1962). Lesen als Sprachunterricht. Ratingen: Henn. Winkler, Chr. ( 4 1984). Die Klanggestalt des Satzes. In: Duden - Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. Berlin: Duden, 637-666. 345 Grammatik und Prosodie Jean-Jacques Rousseau und das neue Naturgefühl Zum Wandel des Naturverständnisses in der literarischen Landschaftsdarstellung in Frankreich Uwe Dethloff 1 Zu den ideengeschichtlichen Voraussetzungen einer neuen Naturkonzeption in Frankreich im 18. Jahrhundert Die Naturdarstellung in der französischen Literatur von der Klassik bis zur Romantik erfährt eine grundlegende Wandlung. Das Thema Mensch - Natur‐ beziehung, das in unserer Gegenwart zu einem Topthema in der politischen, ökonomischen und ökologischen Diskussion avanciert ist, war bereits zur Zeit des Naturapologeten Rousseau in den Fokus der Theorie und Praxis des menschlichen Miteinander gerückt. Das Narrativ „Zurück zur Natur“ war in der Mitte des 18. Jahrhunderts geprägt von der Vorstellung, dass nur die Befreiung des Menschen - d. h. des citoyen - von den zerstörerischen Zwängen der Feudalverhältnisse und der Eigentumsideologie zur Auflösung der gesellschaftlichen Ungleichstrukturen führen könne. Insbesondere in Rousseaus Schriften wird die Natur zum Gegenbild der Verderbtheit der Gesellschaft erhoben. Zugleich führt die mit Rousseau lancierte Neubewertung der Natur zu einer Veränderung der literarischen Funktionen und Ausdrucksformen in der literarischen Naturbeschreibung. Die Natur erhält bei ihm eine herausragende Therapiefunktion für den Menschen, dem ein Ausweg aus seinem Leiden am Ungenügen der Gesellschaft in Aussicht gestellt wird. Im Gefolge wird der Rückzug des Individuums in eine unberührte, idyllisch-exotische oder sich wild gebärdende Natur ein bevorzugtes Thema einer Generation von französischen Autoren, die eine ungeahnte Signalwirkung für das Naturverständnis der Romantik erlangen sollten. Wenn man die ideengeschichtlichen Voraussetzungen des veränderten Na‐ turgefühls und die diese spiegelnden literarischen Landschaftsdarstellungen an der Schwelle der Romantik in den Blick nimmt, dann wird deutlich, welche 1 Dies ist die Kernthese von Ritter (1963). grundlegenden Neuerungen in der Mensch-Naturgestaltung mit Rousseau in‐ itialisiert werden. Nachdem das geozentrisch-anthropozentrische Weltbild des Mittelalters mit seiner im Zentrum stehenden Heilsbestimmung des Menschen von einem evolutiven Weltbild abgelöst ist, wird die für das mittelalterliche Denken bestimmende Vorstellung der Einheit von Gott und Welt durch einen Naturbegriff bestimmt, der nicht mehr für jedes Ding eine von Gott gegebene, unveränderliche Bestimmung postuliert, das heißt Natur wird nicht mehr primär als Ausdruck der vom göttlichen Willen dekretierten, ursprünglichen Ordnung postuliert. In diesem überkommenen, am Wesenhaften der Natur orientierten Denksystem des Mittelalters kam der individuellen Beziehung von Natur-Mensch kein spezifisches Erkenntnisinteresse zu, da Natur und Mensch als integrativer Bestandteil einer höheren göttlichen Ordnung ange‐ sehen werden, die ihre Sinnhaftigkeit aus der heilsgeschichtlichen Erfüllung bezieht. Die Anschauung der äußeren Natur als Ausdruck des Göttlichen erfolgt über die theologisch-philosophische Reflexion in der klösterlichen Ab‐ geschiedenheit 1 und nicht primär über das sinnliche Erfassen der vielgestaltigen Erscheinungsformen von Natur. Erst nach der Aufkündigung des Einheitsmo‐ dells von Gott und Welt und mit der Etablierung der Naturwissenschaft auf der Basis der Beobachtung der Erscheinungsformen von Natur werden deren Gesetze erkannt, mit denen der vernünftig planende Schöpfer diese ausgestattet hat. Gott hat als Architekt dem Menschen eine Natur verfügbar gemacht, die als Produkt vernünftiger und - wie Leibniz postuliert - vollkommener Gestal‐ tung aus eigenem Antrieb die göttlichen Intentionen an sich selbst autonom umsetzt. Damit erhält die Natur als Objekt wissenschaftlicher Beobachtung und Erforschung ihres Werdens und Funktionierens eine ganz neue Bedeutung. Einerseits wird sie Gegenstand einer neu ausgerichteten Naturwissenschaft und andererseits zugleich auch Objekt ästhetischer Erfahrung und Ziel des ästhetischen Landschaftserlebnisses (Groh & Groh 1989: 58 ff.). Zunächst ist grundsätzlich noch im frühen 18. Jahrhundert - so auch in Frankreich - der in der Bukolik und Georgik der Antike gepflegte Topos des locus amoenus lebendig. Dieser Topos eines ideal schönen Naturausschnitts, zu dessen Ingredienzien ein lichter Hain, eine Quelle, ein Bach, Blumen und Vogel‐ gesang gehören, findet sein Gegenstück im Verlauf des 18. / 19. Jahrhunderts im locus terribilis, einer öden, unwirtlichen, toten Landschaft, z. B. im Gebirge, in der Wüste und der unkultivierten Wildnis. Vorbilder der amönen Naturansichten, die lange Jahrhunderte normengebend waren, sind Vergil (Bucolica, Georgica) 348 Uwe Dethloff 2 Vgl. Groh & Groh (1989: 76): „ […] vom Typischen, Konstanten und Regelmäßigen zum Individuellen, Veränderlichen, Unregelmäßigen…“ 3 Vor allem auch der Ire Edmund Burke eröffnet die Perspektive zu einem spontanen Erleben der erhabenen, wilden und furchterregenden Natur (Burke: 1757). und Horaz (Oden) mit ihren idyllischen Landschaftsbildern und mit dem Lob der Abkehr von aktiver Lebens- und Berufszugewandtheit. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts verliert nun das traditionelle ästhetische Vorbild der belle nature zusehends an Autorität und Richtschnurfunktion. Hier gewinnt die Naturauffassung der Physikotheologie, wie sie an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert in England aufkommt - so besonders unter dem Einfluss der Werke von Thomas Burnet (1681), John Ray (1691) und William Derham (1713) - an Bedeutung. Die veränderte Naturkonzeption der Physikotheologen fußt auf der Vorstellung von der optimalen Zweckmäßigkeit der Natur und auf der Annahme eines mit Weisheit, Allmacht und Güte ausgestatteten Schöpfers, der die Natur mit einer sinnvollen Ordnung ausgestattet hat. Diese holistische Ausgangshypothese führte zu einer Aufwertung der bis dato als menschenfeind‐ lich angesehenen, wilden, zerstörerischen Naturphänomene, die aus der Natur‐ betrachtung ausgeklammert waren. Damit wird das Naturverständnis und deren Darstellung ausgeweitet; das Unregelmäßige, Veränderliche, das Individuelle wird revalorisiert 2 , denn sie sind Bestandteil der Schöpfung und des Wesens Gottes. Die gesamte Natur ist also Ausdruck der göttlichen Weltordnung, deren Erhabenheit sich dem Betrachter über die sinnliche Aufnahme ihrer schönen wie auch wilden Erscheinungsformen mitteilt. Die physikotheologische Kon‐ zeption der äußeren Natur als Produkt und Manifestation des göttlichen Ord‐ nungswillens impliziert demzufolge eine Fokussierung und Rehabilitierung des Furchterregenden, Grässlichen, Ungeordneten und Unzähmbaren in der Natur. Nicht primär der schönen, nützlichen Natur, sondern ihrer Unwirtlichkeit, ihrer furchteinflößenden Urkraft gilt ab dem 18. Jahrhundert progressiv die besondere Aufmerksamkeit des Menschen. Das Kriterium des Naturschönen weitet sich aus zum Naturerhabenen, dessen sinnliche Aufnahme dem Betrachter ein „an‐ genehmes Grauen“ vermittelt, das Carsten Zelle (1987) in seiner grundlegenden Studie zur Ästhetik des Schrecklichen im 18. Jahrhundert als ein essentielles Wirkungskriterium in der Begegnung des Menschen mit der schrecklich-erha‐ benen Natur beschrieben hat 3 . Wilde, unberührte Landschaften, die sich in der Unendlichkeit und Tiefe der Perspektive verlieren, gelten fortan als schön und erhaben zugleich; sie ermöglichen die Anschauung des Göttlichen in seiner Gesamtheit. Die Opposition von nützlich / schön und nutzlos / hässlich ist in der physikotheologischen Theodizee aufgehoben. Der Blick des Betrachters richtet sich auf die Natur als Ganzes. Im Gefolge dieses Blickes auf die Schöpfung 349 Jean-Jacques Rousseau und das neue Naturgefühl 4 Raymond (1993) hat die Rolle der Alpen für die Ausbildung einer veränderten Naturauffassung detailliert beleuchtet. 5 Wir zitieren nach der Ausgabe des zweiten Discours in den Editions Ligaran (2015). Die Seitenangaben beziehen sich im Folgenden auf diese Ausgabe. wird die Bergwelt der Alpen in den Blick genommen. Die Alpen werden zum modischen Schauplatz wild-erhabener Natur, die intensive Empfindungen und tiefe Ergriffenheit beim schaudernden Betrachter auslöst 4 . 2 Die Pionierrolle Jean-Jacques Rousseaus Das Bedürfnis des Menschen im 18. Jahrhundert, die Natur in ihrer komplexen Vielgestaltigkeit zu schauen und zu erleben, findet einen besonderen Impuls durch die theoretischen Traktate und literarischen Werke Jean-Jacques Rous‐ seaus. Wenn sich Geoffroy Atkinson in seiner Beschreibung des sentiment de la nature auch dagegen verwahrt, dass das Naturgefühl erst mit Rousseau in Mode komme (Atkinson 1960: 84), so ist der Verfasser der Nouvelle Héloïse ohne Zweifel der große Initiator der theoretischen wie auch literarischen Neubestimmung der Natur nach der Klassik. Eine besondere Rolle kommt hier Rousseaus zweitem Discours, einem Wettbewerbsbeitrag für die Académie de Dijon von 1755, zu. 2.1 Le Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi des hommes (1755) Rousseaus vielbesprochener Traktat, welchen er als Beitrag einer Preisaus‐ schreibung bei der Académie de Dijon eingereicht hatte, gewinnt in der fran‐ zösischen Aufklärung eine große Bedeutung für eine Neubewertung der Rolle der Natur in der Menschheits- und Zivilisationsgeschichte. Eine detaillierte Textbetrachtung fördert gerade auch für unsere Gegenwartsdiskussionen über die Zerstörung des Natur- und Klimagleichgewichts erstaunliche Grundposi‐ tionen Rousseaus zutage 5 . Folgen wir also zunächst Rousseaus Argumentation im zweiten Discours mit Blick auf ihre Relevanz für sein Naturverständnis. Der Mensch hat seinen état naturel verlassen (3) und sich dadurch seine diversen maux zugefügt, die er hätte vermeiden können, wenn er seinen Naturzustand des einfachen Lebens und seinen Existenzmodus als Einzelmensch bewahrt hätte (7). Dieser Naturzustand war gekennzeichnet durch die Abwe‐ senheit von Behausung, Kleidung, von jeglichen Bequemlichkeiten und insbe‐ sondere von jeglichen philosophischen Betrachtungen über die menschliche Existenz (8). Sein Fortbestehen sicherte er durch zufällige Zeugungsakte („toute femme est bonne pour lui“; S. 22), denn eine dauerhafte Bindung von Mann und 350 Uwe Dethloff Frau - habe sie auch ihre Vorteile - sei von der Natur nicht vorgesehen (72, Anm. 12). Dies führt zu dem radikalen Schluss im Text Rousseaus, dass nichts so „misérable“ für den Menschen im Urzustand gewesen sei wie „l’homme sauvage ébloui par les lumières“, denn er brauchte im Frühzustand zum Existieren nur seine Überlebensstrategien (18). Die Vorstellung von Eigentum, Gerechtigkeit, das Gefühl für Rache und Eifersucht, das Trachten nach „considération“ und die „vanité“ waren ihm fremd. Der Mensch wurde graduell böse mit dem wach‐ senden Grad an Ungleichheit in der Bildung und der Gesellschaftskonstitution (26). Die Quelle der Übel und der Misere, in die die Menschheit im Verlaufe ihrer Entwicklung gerät, ist das Eigentum; der Kampf um dasselbe führe zu Krieg und Verbrechen (27). Daraus folge - man fühlt sich an die Entwicklungen der Menschheit in der Jetztzeit erinnert -, dass chacun commença à regarder les autres et à vouloir être regardé soi-même (…). Celui qui chantait ou dansait mieux, le plus beau, le plus fort, le plus adroit, ou le plus éloquent, devint le plus considéré ; et ce fut les premiers pas vers l’inégalité, et vers le vice en même temps (31). Ehrgeiz und Besitzgier, so Rousseau, führen zu Zwietracht unter den Menschen, die Ungleichheit wird gespeist vom „désir caché de faire son profit au dépens d’autrui“ (35-36). Das Recht auf Eigentum müsse demzufolge in einem fortge‐ schrittenen Stadium der Menschheitsgeschichte durch Gesetze geregelt werden; deren Einhaltung werde von einem ausgeprägten Beamtentum garantiert. Damit würden le pouvoir arbitraire - auf Willkür basierende Machtstrukturen - und letztlich der Despotismus etabliert. Der état naturel weicht dem état civil, in dem der homme sociable dominiert - er, der nur „in der Meinung der Anderen (über)leben kann“ (50). Rousseaus Conclusio ist schließlich von einer zeitlosen Aktualität: …il est manifestement contre la loi de la nature […] qu’un enfant commande à un vieillard, qu’un imbécile conduise un homme sage, et qu’une poignée de gens regorge de superfluités, tandis que la multitude affamée manque du nécessaire (50). In den Anmerkungen zu seinem zweiten Discours spricht Rousseau im Übrigen eine Reihe von Fehlentwicklungen an, welche die Menschheit ins Verderben stürzen würden: die Ausbeutung der Natur, die im Gegensatz stünde zu dem daraus resultierenden Nutzen (59), die Besitznahme von Ländereien durch neue, arme Völker, das Problem der Überbevölkerung der Erde, das durch Gesetze, wissenschaftliche Studien und die Künste nicht gelöst werden kann… (62, 64). Es lässt sich also festhalten, dass der zweite Discours Rousseaus von einem ausgeprägten Geschichtspessimismus getragen ist. Am Beginn der Mensch‐ 351 Jean-Jacques Rousseau und das neue Naturgefühl heitsgeschichte steht der Einzelmensch, der im Naturzustand existiere (Rous‐ seau sagt nicht „vegetiere“! ) und dessen Urerfahrung die Einsamkeit sei. Der Mensch sei zunächst ein «promeneur solitaire», der erst allmählich immer komplexere Bedürfnisse entwickele. Um diese zu befriedigen, schlössen sich die Menschen zusammen, um gemeinsame Anstrengungen zu unternehmen, allerdings ohne nach Privateigentum zu streben oder die Mitmenschen für ihre eigenen Bedürfnisse auszubeuten. Wenn man Rousseau richtig deutet, ist dieser gesellschaftliche Urzustand die Morgendämmerung der vie sociale, die ohne Privateigentum und ohne Ausbeutung des Nächsten funktioniere. Und dort, so ist mit Rousseau zu folgern, hätte die Geschichte der Menschheit zu ihrem Wohl aufhören sollen: Der Mensch lebt im Naturzustand, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, und weiß seine Nächsten mit dem gleichen Bedürfnisanspruch an seiner Seite, ohne von moralischen Kategorien wie vices, vertus oder devoirs bestimmt zu sein. Der unverfälschte Naturzustand in dieser frühen Phase der Menschheitsgeschichte wird zum Garanten einer vernünftigen, friedvollen, sozialen Utopie, in der das Eigenwohl und das Gemeinwohl harmonisch aufein‐ ander abgestimmt sind. Nach dem Discours über die Ungleichheit von 1755, in dem der Fortschrittsoptimismus der Aufklärer relativiert wird, hat sich Rousseau endgültig mit den Aufklärern Voltaire, Diderot und den Enzyklopädisten entzweit. Er gerät in den nachfolgenden Jahren immer stärker in den Gefühlszustand der Verein‐ samung und ergeht sich in permanenter Selbstrechtfertigung. Die in seinen theoretischen Schriften gerichtete Anklage an die société dépravée führt zu seiner eigenen gesellschaftlichen Isolierung, an deren Ende die Rêveries du promeneur solitaire (1778) stehen. In dieser Bestandsaufnahme seiner gesell‐ schaftsabgewandten Lebensphilosophie hat Rousseau die Vereinzelung des Menschen und seinen Rückzug in die glücksstiftende Naturlandschaft an seinem eigenen Beispiel illustriert. 2.2 Rêveries du promeneur solitaire (1778) Die „Träumereien“, die Rousseau während seiner letzten zwei Lebensjahre verfasst hat, stellen am Ende seines Lebens eine Art Bilanz seines Fühlens, Schaffens und seiner daraus geformten Lebenseinstellung dar. Die Rêveries, „cet ouvrage philosophique qui est une espèce de journal de ses pensées pendant les promenades auxquelles il s’était livré dans les derniers temps de sa vie…“ (Rousseau 2001, Introd. Crogiez: 1), haben als Rousseaus lebensphilosophisches Vermächtnis für sich selbst und für die Nachwelt zu gelten. Da er sich im Laufe seines Lebens wegen seiner z.T. antireligiösen Denkansätze immer wieder verstecken musste, geriet er zunehmend auch in die räumliche Isolation, die 352 Uwe Dethloff 6 Rousseau, Rêveries, Ausgabe Michèle Crogiez, 2001: 162. Zitate im Folgenden aus dieser Ausgabe. er zur Standortbestimmung seines Lebens nutzte. Die Themen seiner zehn Promenades kreisen um permanente Selbstbespiegelung und um Selbstmitleid, um die Natur und die Einsamkeit als Hort der Selbstfindung und der Abgrenzung von der verderbten Stadtgesellschaft. Die Natur als Asyl, fern vom Lärm und den Zwängen des städtischen Lebens, steht im Zentrum der Bestandsaufnahme über sein Dasein. Eine intakte Natur lässt ihn seine Sorgen vergessen, die bukolische Landschaft in der Einsamkeit wird für ihn zum „paradis terrestre“ 6 fern von der Bosheit der Menschen. Über allem steht bei Rousseau in seinen „Träumereien“ die tiefe Überzeugung, dass „…la plus sauvage solitude [lui] paraît préférable à la société des méchants, qui ne se nourrit que de trahisons et de haine“ (139). Die Natur ist für Rousseau ein mythischer Ort, ein Antonym für das urbane Leben und insbesondere auch ein zu schützendes Gut. In unserem heutigen Kontext der Naturverschmutzung und Klimadebatte entwickelt Rousseau bereits am Ende des 18. Jahrhunderts die ganz moderne Vision von der menschen- und naturfeindlichen Wirkung der Bergwerke und Schmieden: Der Bergarbeiter würde dort aufgerieben, die Natur zerstört: [Le mineur] fouille les entrailles de la terre, il va chercher dans son centre aux risques de sa vie et aux dépens de sa santé des biens imaginaires à la place des biens réels qu’elle lui offrait d’elle-même quand il savait en jouir […]. Là, des carrières, des gouffres, des forges, des fourneaux, un appareil d’enclumes, de marteaux, de fumée et de feu succèdent aux douces images des travaux champêtres. Les visages hâves des malheureux qui languissent dans les infectes vapeurs des mines, de noirs forgerons, de hideux cyclopes, sont le spectacle que l’appareil des mines substitue au sein de la terre à celui de la verdure et des fleurs, du ciel azuré, des bergers amoureux et des laboureurs robustes sur sa surface (140). Zerstörerische Industriekultur gegen blühende, gesunde Landwirtschaft: Bereits Rousseau antizipiert diesen ganz modern anmutenden Gegensatz in der Diskus‐ sion über naturgemäßes Wirtschaften. Das maßgeblich von Rousseau initiierte, veränderte Naturgefühl generiert eine neue Empfindsamkeit, die an der Wende zum 19. Jahrhundert literarisch ausgestaltet wird. Natürlich hat le sentiment de la nature bereits vor Rousseau bei einer Reihe von weniger bedeutenden französischen Autoren der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine gewisse Rolle gespielt (vgl. Atkinson 1960). Aber der Rousseausche normative Naturbegriff, wie er insbesondere in seinem zweiten Discours und in seinen Rêveries zum Ausdruck kommt, darf als 353 Jean-Jacques Rousseau und das neue Naturgefühl 7 Jean Ehrhard hat die Entwicklung des Naturbegriffs zwischen 1660 und 1760 untersucht. Beim Rousseauschen Naturbegriff betont er vor allem dessen kritische Funktion (Ehrhard 1970: 423). der eigentliche Nährboden für die im Gefolge geradezu epidemisch um sich greifende Naturbegeisterung im Adel und aufgeklärten Bürgertum gelten. Die zentralen Antagonismen Rousseaus wie Naturzustand - Gesellschaftszustand, Naturmensch - Kulturmensch, Natur - geschichtliche Entwicklung laufen bei ihm auf die Laudatio einer frühmenschlichen Kulturphase hinaus, in der die Entfremdung des Menschen durch Eigentum und Selbstsucht noch nicht fortgeschritten sei. Seine Grundthese, der Kulturmensch befinde sich in einem bedauernswerten Zustand der Korruption durch Eigenliebe, begründet seinen Geschichts- und Gesellschaftspessimismus, dessen Aporie er normativ versucht aufzulösen, indem er in der gelebten Empfindsamkeit und Tugend das adäquate Instrument zur Überwindung - wenn nicht Negierung - der künstlichen Schranken zwischen den Menschen sieht. 7 Eine Annäherung an den frühkulturellen, von zivilisatorischer Dekadenz unberührten Naturzustand scheint ihm persönlich und auch gesellschaftlich der einzige Weg für ein glück‐ liches, zufriedenes Leben zu sein. Damit schafft er sich eine Lebensperspektive außerhalb der Thesen eines philosophischen Optimismus à la Leibniz; das heißt er baut auf ein privates und zugleich privatives Glückskonzept, das aus seinem Nicht-Glücklichsein in der zivilisierten Welt der Menschen erklärbar wird. Ab 1770 ist denn auch bonheur bei den französischen Literaten unter dem Einfluss Rousseaus zunehmend mit dem Verzicht auf gesellschaftlichen Erfolg und Vergnügungsstreben konnotiert (Mauzi 1960: 78). Glücksvorstellungen speisen sich aus dem Konzept der vertu, welche auf der antimaterialistischen Verpflichtung des Menschen auf gelebte und vorgelebte Empfindsamkeit fußt. Charakteristisch für die Ausbildung des neuen Naturgefühls ab den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts ist auch, dass das Rousseausche Paradoxon, ei‐ nerseits seiner Natur widerstehen, das heißt seine Leidenschaften, Triebe und sein Streben nach gesellschaftlichem Ansehen unterdrücken zu müssen und andererseits sich der unverfälschten Natur anheimgeben zu sollen, dem Natur-Enthusiasmus seiner Anhänger keinen Abbruch tut. Die Natur wird zum Hort eines zufriedenen und zugleich tugendsamen Lebens; in ihr und durch sie wird die empfindsame Seele angerührt. Die geschichtsphilosophische Begründung eines für die Menschheit optimalen Frühzustandes im zweiten Discours einerseits und die in den Rêveries beschworene « force salvatrice » der von der Zivilisation noch nicht verdorbenen Natur andererseits bilden ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts den Nährboden für eine Neugestaltung der literarischen Landschaft im französischen Roman. 354 Uwe Dethloff 8 Jean-François de Saint-Lambert : Les Saisons, 1769; Jacques Delille : Les Jardins, ou l’art d’embellir les paysages, 1782. 9 Heinz-Dieter Weber betrachtet die Beschreibung des ständigen Wechselspiels der Natur als einen Aspekt der Verzeitlichung der Natur im 18. Jahrhundert (Weber 1989: 97-131). 3 Die Gestaltung literarischer Landschaft im französischen Roman ab 1760 Von literarhistorischer Bedeutung sind im Rahmen der literarischen Naturge‐ staltung Rousseaus Julie ou la Nouvelle Heloïse (1761), Bernardin de Saint-Pierres Paul et Virginie (1787), Senancours Oberman (1804) und vor allem Chateaubri‐ ands Erzählungen Atala (1801) und René (1802). Ohne Zweifel ist Rousseau der erste Romancier in Frankreich, der in Antizipation der autobiographisch geprägten Rêveries in seinem Briefroman La Nouvelle Héloïse dem Naturerleben und der Landschaftsdarstellung eine Schlüsselrolle zuweist. Bei Rousseau wird Natur nicht nur wie in der poésie descriptive eines Saint-Lambert oder Jacques Delille 8 wahrgenommen, inventarisiert und Form von Szenen, Tableaux oder spectacles theatralisiert (Rusam 1992: 20-30), sondern in spezifischer Weise empfindsam erlebt. Dabei gerät die Naturdarstellung nicht primär zu einer Korrespondenz-Natur im Sinne einer subjektiven Durchseelung der Landschaft, welche das Herz des Menschen bis zur Entrückung und Entzückung anrührt und zum Echo innerer Befindlichkeit wird. Bei Rousseau gestaltet sich das „Antönen an Seele und Gemüt“ (Seel 1991: 98) durch die Landschaft in einer Form, die auf der im zweiten Discours von 1755 begründeten Opposition von nature und civilisation fußt. Der Rousseausche Primat des Gefühls („Exister pour nous c’est sentir“) (Rousseau, Emile 1961: 353) läuft nicht auf eine Transzendierung der sinnlichen Erfahrung der Natur hinaus, die sich zu einer Überwältigung des Gemüts durch das Naturerhabene oder zur Vergegenwärtigung der göttlichen Weltordnung steigert. Saint-Preux, der männlichen Hauptfigur des Briefromans La Nouvelle Héloïse, geht es zunächst einmal nur darum, sich einen Land‐ schaftstyp auszuerwählen, der seinem tiefen Bedürfnis nach Ruhe und innerem Frieden entgegenkommt. 3.1 Rousseau, Julie ou la Nouvelle Héloïse Dieses Bedürfnis nach innerem Frieden wird im 23. Brief des ersten Romanteiles deutlich: Saint-Preux ist wegen seiner Trennung von Julie bedrückt und ergeht sich in den Walliser Alpen, die ihn wegen ihrer majestätischen Felsen, ewigen Sturzbäche und Wasserfälle, ihrer tiefen Schluchten, dunklen Wälder und blühenden Almwiesen in Bann schlagen. Seine besondere Bewunderung gilt dem Wechselspiel von Licht und Schatten 9 zu den verschiedenen Tageszeiten 355 Jean-Jacques Rousseau und das neue Naturgefühl 10 Die Seitenangaben im Text beziehen sich im Folgenden auf diese Textausgabe. und den weiten Ausblicken auf das Hochgebirge. Die Schweizer Alpen verhelfen ihm zu einem angenehmen „état paisible“ (Rousseau, La Nouvelle Héloïse 1967: 44) 10 , die reine Bergluft wird zum Katalysator für seine „paix intérieure“ und seine „volupté tranquille“ (45). Die Erfahrung der großartigen Natur wird zum Ur-Erlebnis der Läuterung und Ich-Findung. Il me semble qu’en s’élevant au-dessus du séjour des hommes, on y laisse tous les sentiments bas et terrestres, et qu’à mesure qu’on approche des régions éthérées, l’âme contracte quelque chose de leur inaltérable pureté (45). Dieser „enchantement du paysage“ (46) verstärkt sich für Saint-Preux im Kontakt mit den Bewohnern des Wallis. Das Bergvolk lebt offensichtlich noch in einem nicht depravierten Naturzustand. Mit ihrer praktisch gelebten Solidarität untereinander kommen die Bergbewohner fern aller ständischen Differenzie‐ rung dem gesellschaftlichen Frühzustand, dem Rousseau in seinem zweiten Discours das Wort redet, noch recht nahe. In der Tat sind Geldherrschaft und Eigentumsstreben in dieser abgeschieden lebenden Gesellschaft noch in einem erträglichen Lot, so dass Saint-Preux in der noch nach dem Naturgesetz funk‐ tionierenden bäurischen Enklave eine natürliche Lebens- und Gesellschaftsform verwirklicht sieht (46-47). Man sieht also, dass sich hier die ursprüngliche Berglandschaft und die nature non-dépravée der Menschen gegenseitig bedingen und ein Gegenbild zur Verderbtheit des Zustandes einer fortgeschrittenen Vergesellschaftung der Menschen entworfen wird. Im 23. Brief des ersten Teils der Nouvelle Héloïse erscheinen der spezifische Naturbegriff Rousseaus und die ästhetische Landschaftserfahrung des Helden in origineller Weise enggeführt. Die Anschauung der unberührten Alpenwelt konnotiert das verlorene Paradies des frühkulturellen Urzustandes des Menschen aus dem zweiten Discours und bewirkt zugleich die innere Einkehr und den Seelenfrieden des empfindsamen Betrachters Saint-Preux. Die Bergnatur ermöglicht den Aufschwung aus den gesellschaftlichen Niederungen und stellt das Refugium (Trahard 1932: 197) bereit, in dem das rastlose, leidenschaftsgeplagte Individuum mit sich selbst ins Reine kommt. Im Gegensatz zu der in der Tradition der Physikotheologen stehenden Landschaftsgestaltung führt die seelische Erhebung Saint-Preux‘ nicht zur Sakralisierung des Landschaftsbildes im Sinne eines Raumes der Gottesoffenbarung. Landschaft wird vielmehr zu einem gefühlsbesetzten Ort, der dem Betrachter zu innerer Ruhe verhilft und zugleich den „refus de la société policée“ suggeriert. Statt metaphysischer Extase erfährt Saint-Preux aus der Schweizer Berglandschaft mit seinen Bewohnern einen ganz und gar 356 Uwe Dethloff weltlichen Zustand euphorischer Entrücktheit, in dem er sich gesellschaftlicher Vorurteile und Zwänge enthoben fühlen darf. Die Landschaft ist zugleich exemplum für Rousseaus geschichtsphilosophische Grundmaxime und Kulisse für die existentielle Erfahrung einer heilsamen Sedierung der Leidenschaften. Die therapeutische Funktion von Landschaft wird im Übrigen von Saint-Preux anlässlich seiner Spaziergänge im Elysium Julies bestätigt: Ce matin je me suis levé de bonne heure et avec l’empressement d’un enfant je suis allé m’enfermer dans l’île déserte. Que d’agréables pensées j’espérais porter dans ce lieu solitaire, où le doux aspect de la seule nature devait chasser de mon souvenir tout cet ordre social et factice qui m’a rendu si malheureux (364 f). Der hier zum Ausdruck kommende Naturenthusiasmus Saint-Preux’ steht also im Dienste seiner Gesellschaftskritik. Natur ist einmal mehr an das Bewusstsein der Künstlichkeit des Gesellschaftszustandes gekoppelt. Insgesamt betrachtet, erlaubt das Naturerlebnis und die ihm zugeordnete ursprüngliche Landschaft die konsequente Hinwendung des Helden auf sein Selbst. Anstatt der Überwäl‐ tigung des Gemüts durch die erhabene Gottesnatur bewirkt das ästhetische Erleben von Landschaft bei Saint-Preux alias Rousseau eine existentielle Selbst‐ erfahrung des Ich, das losgelöst von den Prämissen des irdischen Wertekanons zu einer gleichsam stoischen, weltabgewandten Befreitheit findet. Rousseau hat diesen Zustand im Übrigen in seiner fünften Promenade der Rêveries detailliert beschrieben: Mais s’il est un état où l’âme trouve une assiette solide pour s’y reposer tout entière et rassembler là tout son être, sans avoir besoin de rappeler le passé ni d’enjamber sur l’avenir ; où le temps ne soit rien pour elle, où le présent dure toujours sans néanmoins marquer sa durée et sans aucune trace de succession, sans aucun autre sentiment de privation ni de jouissance, de plaisir ni de peine, de désir ni de crainte que celui seul de notre existence, et que ce sentiment seul puisse la remplir tout entière […]. Tel est l’état où je me suis trouvé souvent à l’île de St-Pierre dans mes rêveries solitaires, soit couché dans mon bateau que je laissais dériver au gré de l’eau, soit assis sur les rives du lac agité, soit ailleurs au bord d’une belle rivière ou d’un ruisseau murmurant sur le gravier. De quoi jouit-on dans une pareille situation ? De rien d’extérieur à soi, de rien sinon de soi-même et de sa propre existence, tant que cet état dure on se suffit à soi-même comme Dieu (Rousseau 2001 (Crogiez) : 112-113). 3.2 Senancour, Oberman Eine vergleichbare Erfahrung wie Saint-Preux macht auch Oberman in dem Briefroman von Senancour, der in der Tradition einer enthusiastischen Rous‐ 357 Jean-Jacques Rousseau und das neue Naturgefühl 11 Senancour, Oberman, Ausg. Béatrice Didier 1984: 59. Zitate und Seitenangaben im Folgenden nach dieser Ausgabe. seau-Rezeption steht. Im ersten Romanteil ist es ebenfalls das Alpenerlebnis, das dem Ich-Erzähler die Künstlichkeit des Lebens in der Gesellschaft vor Augen führt: „Je sentis s’agrandir mon être ainsi livré seul aux obstacles et aux dangers d’une nature difficile, loin des entraves factices et de l’industrieuse oppression des hommes“ 11 . Auch Oberman findet in der urwüchsigen Bergland‐ schaft mit ihren tief eingeschnittenen Tälern, schneebedeckten Gipfeln und tosenden Sturzbächen die „terre primitive“ wieder (Senancour 1984: 155). Der Wanderer über dem Nebelmeer - Caspar David Friedrich hat diesen ja in seinem berühmten Gemälde (1818) verewigt - fühlt sich auf den Berghöhen der „vie commune“ entrückt (156). Es überfällt ihn ein Gefühl ungestümer Freude und des inneren Friedens (74). Oberman ist jedoch - darin geht er über seinen litera‐ rischen Vorgänger Saint-Preux hinaus - empfänglich für das Naturerhabene und begreift die sich in die Unendlichkeit dehnenden Gebirgsketten als Ausdruck der großartigen, harmonischen göttlichen Ordnung: Mais cette vue des sommets abaissés sous les pieds de l’homme, cette vue si grande, si imposante, si éloignée de la monotone nullité du paysage des plaines, n’était pas encore ce que je cherchais dans une nature libre, dans l’immobilité silencieuse, dans l’air pur. Sur les terres basses, c’est une nécessité que l’homme naturel soit sans cesse altéré, en respirant cette atmosphère sociale si épaisse, si orageuse, si pleine de fermentations, toujours ébranlée par le bruit des arts, le fracas des plaisirs ostensibles, les cris de la haine et les perpétuels gémissements de l’anxiété et des douleurs. Mais là, sur ces monts déserts, où le ciel est plus immense ; où l’air est plus fixe, et les temps moins rapides, et la vie plus permanente ; là, la nature entière exprime éloquemment un ordre plus grand, une harmonie plus visible, un ensemble éternel : là, l’homme […] respire l’air sauvage loin des émanations sociales ; son être est à lui, comme à l’univers : il vit d’une vie réelle dans l’unité sublime (Brief VII, 61). Diese zentrale Passage von Oberman weist charakteristische Elemente der literarischen Landschaft im frühromantischen Roman Frankreichs auf: • Die unberührte Landschaft als heilsamer Ort des Selbstvergessens und der Bewusstwerdung der Negativität gesellschaftlicher und kultureller Niederungen; • Das Naturerlebnis als ästhetische Erfahrung des Naturerhabenen. Die konkrete Landschaft löst über die Transzendierung sinnlicher Erfahrung die contemplatio der göttlichen Ordnung und ihrer Harmonie aus. 358 Uwe Dethloff 12 Dies ist der Titel von Bernardins umfangreicher theoretischen Schrift zum Naturver‐ ständnis. Landschaft als Gegenbild der Gesellschaft und Landschaft als Offenbarung der Werke Gottes verbinden sich hier im intensiven Höhenrausch des promeneur solitaire. 3.3 Bernardin de Saint-Pierre und Chateaubriand Im Rahmen einer Bestandsaufnahme von charakteristischen Aspekten des Na‐ turerlebens und der Landschaftsdarstellung in der französischen Frühromantik ist ohne Zweifel auch Bernardin de Saint-Pierres Roman Paul et Virginie von Bedeutung (Ausg. Pierre Trahard, Garnier Frères (1958)). Der ungeahnte Erfolg dieser Darstellung des Schicksals zweier Naturkinder rührt nicht zuletzt daher, dass sie einerseits die Rousseauschen Leitideen wie sensibilité und vertu in Szene setzt und zum anderen dem zeitgenössischen Publikum die exotische Land‐ schaft als Inbegriff des (verlorenen) irdischen Paradieses nahebringt. In einer eigentümlichen Mischung aus exotischem Realismus (vgl. hierzu auch Hudde 1975: 105-108) und der Verinnerlichung der üppigen, fremdartigen Naturland‐ schaft durch die Romanpersonen stilisiert der Erzähler das Naturparadies der Ile-de-France zum Tugendspender schlechthin. Zudem illustrieren Fauna und Flora der exotischen Landschaft Bernardins These von der kreatürlichen und pflanzlichen Harmonie. Bernardins Naturbeschreibungen evozieren die Opposition von Natur- und Gesellschaftszustand eher implizit: Im Vordergund steht die exotische Vielfalt und Üppigkeit der Natur, die eine Art Wunschraum für die alternative Lebensform des empfindsamen Naturmenschen bereitstellt. Wir haben bei den drei bisher behandelten Autoren Rousseau, Senancour und Bernardin de Saint-Pierre drei Funktionen der literarischen Landschaft in der französischen Frühromantik ausmachen können • die Landschaft als Abbild der von Gott geschaffenen kosmischen Ord‐ nung, • die Landschaft als Gegenbild zur überzivilisierten, tugendschädlichen Gesellschaftspraxis und • die Landschaft als konkrete Beschreibung exotischer Landschafts- und Wuchsformen, in denen sich das Individuum der „harmonies de la nature“ 12 bewusst wird. Es ist noch auf eine weitere Variante der literarischen Landschaft im Roman der frühen französischen Romantik einzugehen, wie sie vor allem für Cha‐ teaubriands Erzählprosa typisch ist. Nachdem im 18. Jahrhundert das ut-pic‐ 359 Jean-Jacques Rousseau und das neue Naturgefühl tura-poesis-Prinzip und die Norm des Naturschönen progressiv vom Anspruch der empfindsamen Ästhetik auf emotionale Wirkung überlagert werden (vgl. Wagner 1985: 52), nimmt die subjektive Funktionalisierung der Natur eine noch spezifischere Form an. So ist in Chateaubriands René die Natur nicht mehr alternatives Erlebens- und Lebensmodell oder subjektiv besetzte, beseelte Stim‐ mungslandschaft, sondern sie wird zur Metapher für die seelische Verfassung des Subjekts, die auf die Natur übertragen wird. Konkrete Landschaft gerät zur Interaktion zwischen dem Ich und der Objektwelt; literarische Landschaft übermittelt den subjektiven Erlebensprozess des Individuums. Die äußere Natur ist nur noch Erlebnis-Anlass für das sich den Stürmen seiner Seele hingebende, narzisstisch-romantische Ego. Landschaft manifestiert sich in Form einer ‚Land‐ schaft der Seele‘ (vgl. auch Keller 1991: 325 ff): La solitude absolue, le spectacle de la nature, me plongèrent bientôt dans un état presque impossible à décrire. Sans parents, sans amis, pour ainsi dire seul sur la terre, n’ayant point encore aimé, j’étais accablé d’une surabondance de vie. Quelquefois je rougissais subitement, et je sentais couler dans mon cœur, comme des ruisseaux d’une lave ardente […]. Je descendais dans la vallée, je m’élevais sur la montagne, appelant de toute la force de mes désirs l’idéal objet d’une flamme future ; je l’embrassais dans les vents, je croyais l’entendre dans les gémissements du fleuve… (Chateaubriand 1962 (René): 209 f). Levez-vous vite, orages désirés, qui devez emporter René dans les espaces d’une autre vie ! Ainsi disant, je marchais à grands pas, le visage enflammé, le vent sifflant dans ma chevelure, ne sentant ni pluie ni frimas, enchanté, tourmenté ; et comme possédé par le démon de mon cœur (Chateaubriand 1962 (René): 214). Die Natur ist hier das, was René in sie hineinsieht, hineinfühlt, und was er sich aus ihr herauswünscht. Äußere Aspekte der Landschaft konstituieren, ja sie sind gleichsam auch Gedanken und Gefühle des Individuums René. Das Stöhnen des Flusses und die herbeigesehnten Gewitterstürme stehen für das Schmachten des vor Liebesverlangen vergehenden Helden, für die Stürme seiner leidenschaftlichen Sehnsucht nach einem geliebten Wesen. Die Gewitterszene in Atala ist nach dem gleichen Muster komponiert. Die Entflammung der Sinne, „l’orage du cœur“, wie es im Text heißt (Chateau‐ briand 1962 (Atala): 90) findet ihr Pendant in dem Schauspiel eines gewaltigen Gewittersturms. Die Frequenz greller Blitze und die Gewalt der Sturmböen im Urwald signalisieren die unvermeidlich scheinende Entladung der Leidenschaft zwischen den beiden Liebenden Atala und Chactas. Der paysage extérieur wird zur Metapher des paysage intérieur, das Naturereignis ist transponiert zum 360 Uwe Dethloff seelischen Prozess. Die Objektwelt der äußeren Landschaft ist immer auch schon Ausdruck der Seelenlandschaft des romantischen Ich (Rusam 1992: 53). 4 Fazit und Ausblick Wir können zum Abschluss der Analyse von literarischen Beispielen einer veränderten Naturgestaltung in der französischen Prosa des 18. Jahrhunderts und beginnenden 19. Jahrhunderts feststellen, dass sich der Entwicklungsbogen im Prozess des Erlebens von Natur und dessen literarischer Umsetzung bei der Landschaftsbeschreibung von der Natur als Refugium für den leidenden Menschen sowie als Gegenbild zur verderbten Gesellschaft bis hin zur Natur als Metapher für die Seelenlandschaft des Ich spannt. Die klassische Doktrin, gemäß der die belle nature - die schöne bzw. die geschönte Natur - in Malerei und Dichtung zum Gegenstand künstlerischer Gestaltung deklariert wird, hat sich überlebt. Ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird die klassische Imitatio-Doktrin in Frankreich endgültig von ihrem engen Korsett befreit. Die Naturdarstellung weitet sich zur Darstellung von exotischem Realismus und insbesondere zur Wiedergabe von Bildern des Erhabenen, Unendlichen, Unverfälschten - Bilder, die auf die physiokotheologische Tradition verweisen. Über allem steht die Vorstellung von der force salvatrice einer intakten, vom Gesellschaftlichen noch nicht kontaminierten Natur, die dem Menschen einen Rückzugsort der Ich-Findung und Heilung von den Symptomen seiner Zivilisa‐ tionsschädigung bereitstellt. Rousseau hätte im 21. Jahrhundert gewiss ein Schockerlebnis, würde er sich darüber bewusst, dass er in der Natur heutzutage wohl kaum noch einen Therapieplatz für sein Leiden an der zivilisierten Gesellschaft finden könnte. Zweihundertfünfzig Jahre später - die Rêveries von Rousseau sind von 1778 - ist aus der amönen, geschönten Natur der Antike und Klassik, wie auch der erhabenen, wildbedrohlichen Natur der Nachklassik und Romantik eine von Grund auf bedrohte Natur geworden, die es erdumgreifend zu bewahren, wenn nicht zu retten gilt. Was hätte Rousseau wohl gefühlt, gedacht, gesagt, wenn er mit den Fakten und Problemen des Naturzustandes auf unserem Erdball im 21. Jahrhundert konfrontiert wäre? Heute kämpft die Menschheit nur sporadisch mit den Gefühlen heilsamen Erschauderns im Angesicht einer großartigen, überwältigenden Natur, heute geht es um die Grunderschütterung unserer Existenzbedingungen, ausgelöst durch den Klimawandel, die rapide Erderwärmung und die Natur-Überlastung durch den Menschen. Wir machen uns Sorgen um die Einhaltung einer ökologischen und sozialverträglichen Nachhaltigkeit, um Klimaflucht, erneuerbare Energiegewinnung, um lebenser‐ 361 Jean-Jacques Rousseau und das neue Naturgefühl haltende Formen der landwirtschaftlichen Nutzung unseres Erdballs, um Emis‐ sionsreduktion auf der Erde, um eine Einschränkung der Massentierhaltung usw. Die Natur als Refugium für das zivilisationsgeplagte Individuum - als schöne, idyllische, exotische, monumentale, gewaltige Natur - befindet sich heutzutage fast nur noch in eigens ausgewiesenen oder geschaffenen Naturre‐ servaten, und der moderne Mensch gibt ein Vermögen für die Dienstleistungen der Tourismusindustrie aus, um als Pauschalbesucher im Kollektivrummel eine vermeintlich intakte Naturwelt besichtigen und ablichten zu können. Die Natur ist nicht mehr - wie bei Rousseau - die Retterin der Menschen, sondern der Mensch muss die Natur retten. Literatur Atkinson, Geoffroy (1960). 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Von diesem Konsens ist man inzwischen weit entfernt. In dem Maße, wie Kompetenzorientierung auch bedeutet, vor allem solche Fähigkeiten anzustreben, die präzise gemessen werden können und damit operationalisierbar und evaluierbar sind, in dem Maße, wie die Testbarkeit zur zentralen Richtschnur wird, fällt es schwer, Einstellungen, Haltungen und kulturelles Lernen, so auch z. B. die Wertschät‐ zung von Literatur oder überhaupt bestimmter Verstehensleistungen, als wich‐ tige Ziele anzuerkennen und mit Nachdruck zu fordern. Was zählt, ist allein der evaluierbare Output. Auch die sogenannten Kann-Deskriptoren des GeR sorgen dafür, Inhaltliches eher vage wahrzunehmen oder ganz aus dem Blick geraten zu lassen; entsprechend schwammig fallen demzufolge etwa die Aus‐ führungen zum Leseverstehen aus (vgl. Lüger 2013: 88). Die inhaltlich-the‐ matische Beliebigkeit ist offenbar, wie inzwischen von verschiedenen Seiten 1 Verwiesen sei auf Zydatiß (2005), Rekus (2007), Rössler (2007) sowie auf verschiedene Beiträge in Lüger & Rössler (2008); eine Kritik der Kompetenzorientierung mit der Einordnung in ökonomische Zusammenhänge findet sich bei Wernsing (2016). 2 Es soll hier nicht der Eindruck erweckt werden, als gelte das Gesagte ausschließlich für das Textverstehen oder für den Bereich kulturellen Lernens. Selbst das Wort‐ schatzlernen kommt oft ohne die Einbeziehung eines mehr oder weniger eindeutigen kommunikativen Rahmens nicht aus - so schon Raasch (1979). aufgezeigt, der Preis von Abrufbarkeit und Evaluierbarkeit. 1 Insofern kann nicht verwundern, wenn bezüglich der als einseitig betrachteten Ausrichtung an Output-Phänomenen und Kompetenzen kritische Stellungnahmen gelegentlich zu Bewertungen führen wie „Entkulturalisierung“ (Zydatiß) oder - wegen der politisch wohlklingenden Inanspruchnahme des Bildungs-Begriffs - „Etiketten‐ schwindel“ (Rössler), „neoliberale Bildungsabkehr“ (Wernsing). Mit welcher Leichtfertigkeit inhaltliche Komponenten des Fachstudiums häufig zur Disposition gestellt werden, zeigt sich nicht zuletzt auch an der Ballast-Metaphorik, mit der Vertreter der Hochschulrektoren-Konferenz oder aus den Führungsetagen von Universitäten die bildungspolitische Diskussion immer wieder bereichern. Gerade wenn von studentischer Seite ein gewisses Unbehagen an den Anforderungen des Studiums geäußert wird, folgen - medienwirksam - meist sehr schnell Ankündigungen des Typs, man werde für eine Entschlackung, für eine Verschlankung der Studiengänge sorgen. Module werden oft pauschal als inhaltlich überfrachtet angesehen, es gelte daher, sie zu entrümpeln oder abzuspecken. Positive Schlagzeilen (und hohe Absolventenzahlen) sind wichtiger als die Argumente von Fachvertretern, die um den Erhalt eines gewissen Minimalniveaus bemüht sind. Eine Folge wird so zumindest deutlich: Kompetenzen und Kompetenzstandards laufen leicht Gefahr, als bildungstechnokratische Manövriermasse zu fungieren. Mit Blick auf die skizzierten Rahmenbedingungen und die damit verbundene fremdsprachendidaktische Neuausrichtung haben sich ebenfalls die Vorausset‐ zungen für landeskundliches Lernen und kulturwissenschaftliches Arbeiten verändert: Das Textverstehen entzieht sich weitgehend einer quantitativen Er‐ fassung, die Kann-Deskriptoren sind nicht geeignet, interpretativ Gewonnenes in Form von Output-Kategorien aufzuschlüsseln oder zu vermessen. Gerade die Einordnung gegebener Aussagen in gesellschaftspolitische oder historische Zusammenhänge, in Kontexte einer Zielkultur, verschließt sich einer solchen Herangehensweise (Lüger 2016). 2 Es ist von daher kein Zufall, wenn die Autoren des GeR in dieser Hinsicht große Zurückhaltung walten lassen. Um die angesprochene Problematik weiter zu konkretisieren, ist eine De‐ monstration am Objekt notwendig. Dazu werden zwei politische Reden her‐ 366 Heinz-Helmut Lüger 3 Beide Reden sind im Anhang dieses Beitrags vollständig wiedergegeben. (i) (ii) (iii) (iv) angezogen. Nur so können die Komplexität und die Vielschichtigkeit des Textverstehens anschaulich werden. 2 Zentrale Texthandlung Zum Verstehen sprachlicher Äußerungen reicht es bekanntlich nicht, lediglich die vorgefundenen Ausdrucksformen dekodieren zu können. Hinzu kommen in der Regel auch Annahmen darüber, was ein Textproduzent mit dem Geäußerten gemeint hat: Außer der Wortschatzkenntnis und Grammatikbeherrschung braucht man zum Ver‐ stehen von Gesagtem eine Kenntnis der Person, ihrer Einstellungen und Gewohn‐ heiten, Kenntnis und Einschätzung der Situation und des Kommunikationsablaufs, Wissen von der Welt, in der man lebt und auf bestimmte Weisen nach Regeln miteinander kommuniziert. Wenn man Glück hat, kann man mit seinen Annahmen das vom Sprecher / Verfasser Gemeinte wenigstens annähernd treffen; oft aber ist das Verstandene nur eine ungenaue, unvollständige oder überinterpretierende Rekonstruktion des Gemeinten; und verschiedene Hörer / Leser kommen dabei meist zu teilweise verschiedenen Ergebnissen. (von Polenz 1985: 300) Dem Zitat lassen sich wenigstens folgende Konsequenzen entnehmen: Sprachliche Äußerungen kann man grundsätzlich insofern als kompakt betrachten, als sie meist mehr zu verstehen geben als ausgedrückt wird; das Textverstehen unterliegt einer prinzipiellen Flexibilität und kann unterschiedlich ausgreifend bzw. tiefgehend erfolgen; eine vollständige Übereinstimmung zwischen dem Bedeuteten oder Ge‐ meinten und dem Verstandenen ist eher die Ausnahme als die Regel; je nach Wissensvoraussetzungen sind vom Textrezipienten verschiedene Bedeutungen (als Verstehensresultate) zuschreibbar. Zur Veranschaulichung ein Satz aus dem Redetext 3 von Jacques Chirac: (1) [4] Au seuil d’un nouveau septennat qui affirme la volonté du changement, il me paraît particulièrement nécessaire de rappeler que rien de grand, ni de solide, ni de durable ne peut être accompli sans référence à la continuité profonde de notre histoire telle que Paris en porte témoignage […]. Mit dem Ausdruck au seuil d’un nouveau septennat kann ein Hörer / Leser aufgrund seines Sprachwissens problemlos den ‚Beginn einer neuen Amtszeit 367 Reden über Geschichte 4 Zum ,Kontextwissen‛, zur „Berücksichtigung des kommunikativen Gesamtzusammen‐ hangs“ vgl. die immer noch sehr lesenswerten Ausführungen von S.J. Schmidt (1973). Widersprüche und Scheinwidersprüche zu den Thesen Schmidts finden sich in der (unnötig konfrontativen) Auseinandersetzung bei Picht (1980). von sieben Jahren‘ verbinden; dies könnte man (mit von Polenz) als die Ebene des Bedeuteten bezeichnen. Doch damit nicht genug: Bedingt durch die Kom‐ paktheit des Geäußerten gibt es eine Reihe von Inhalten, die sich als Mitbedeu‐ tetes beschreiben lassen (vgl. (i)): Es handelt sich nämlich um die Amtszeit des französischen Staatspräsidenten, die Zeitdauer von sieben Jahren ist zum gegebenen Zeitpunkt in der Verfassung der V. Republik festgelegt, ebenso die Wichtigkeit des Präsidentenamtes und die Notwendigkeit einer allgemeinen demokratischen Wahl, um ein solches Amt zu bekleiden. All dies braucht nicht eigens ausformuliert zu werden, es wäre ausgesprochen unökonomisch gegenüber den Rezipienten, für die das Mitbedeutete gleichsam in der Äußerung von ((1) [4]) impliziert ist. Nicht Teil des Sprachwissens sind hingegen solche Aspekte, die man zusammenfassend dem Kontextwissen zuordnen kann. 4 So verweist un nouveau septennat auf den Wahlsieg François Mitterrands gegen den Amtsvorgänger Giscard d’Estaing, auf den erstmaligen Erfolg eines Linkskan‐ didaten seit Beginn der V. Republik, auf verschiedene politische Veränderungen. Diese Verstehenskomponenten gehen über das Bedeutete und Mitbedeutete hinaus und sind abhängig von der Detailliertheit des Kontextwissens aufseiten des Rezipienten; sie machen den Bereich des Gemeinten aus. Schon hier wird erkennbar, wie schwer es ist, klare Grenzen zu ziehen (vgl. (ii)): Je vertrauter ein Hörer / Leser mit der politischen Umbruchsituation ist, umso mehr wird er, ausgelöst durch die Äußerung (1) [IV], diesbezüglich anschließen können. Darüber hinaus sind noch weitere Zuschreibungen möglich, bei von Polenz (1985: 302) als „Mitgemeintes“ bezeichnet: Wenn Chirac nun vom nouveau septennat spricht, kommen auf Rezipientenseite möglicherweise Deutungen in Betracht, die für die genannte Amtszeit eine insgesamt pessimistische Perspektive unterstellen; dies ist schon deshalb nicht ganz von der Hand zu weisen, da Chirac der Partei Rassemblement pour la République angehört, diese sogar 1976 gegründet hat und damit im politischen Spektrum Frankreichs der konservativen Rechten angehört. Die Wahl des Sozialisten Mitterrand im Mai 1981 zum Staatspräsidenten war für die Parteigänger Chiracs mit Sicherheit eine Enttäuschung, insofern mag die Zuordnung negativer Einstellungen durchaus realistisch sein. Denkbar wäre ebenso ein Verstehen der Äußerung in (1a) als Ankündigung einer ausführlicheren Stellungnahme zur bevorstehenden siebenjährigen Amtszeit Mitterrands, eine Erwartung, die der Folgetext jedoch nicht erfüllt. Als Mitgemeintes kann man auch die Art der Rollenpräsentation 368 Heinz-Helmut Lüger 5 Zur Vertiefung, wenn auch auf der Basis unterschiedlicher theoretischer Ansätze, vgl. Schmidt (1973), Schwarze (1973), Hörmann (1980), Bartsch (1984) und Thimm (2001). Chiracs annehmen: Wird der Bürgermeister von Paris sich als würdevoller Gastgeber zeigen, der ausschließlich seine institutionsgebundene Aufgabe sieht, oder ist mit einer gewissen Fortsetzung der politischen Rivalität zu rechnen? Aus dieser Sicht käme dem von Chirac gewählten Ausdruck auf der Ebene der Text‐ organisation sogar eine sequenzeröffnende Funktion zu; die Wortverbindung nouveau septennat - ergänzt durch den Relativsatz qui affirme la volonté du changement - wäre damit ein durchaus polyvalenter Ausgangspunkt - eine Kongruenz zwischen dem vom Redner (Mit)Gemeinten und dem vom Hörer / Leser (Mit)Verstandenen erschiene in der Folge, da allzu undiplomatisch, eher unwahrscheinlich (vgl. (iii)). Schließlich kann es - relativ unabhängig vom Gemeinten des Redners - je nach Adressatengruppe zu ganz unterschiedlichen Einschätzungen kommen, z. B. sind hinsichtlich des genannten Machtwechsels sowohl tendenziell zustimmende wie auch eher negative, ablehnende Einstel‐ lungen mit dem Geäußerten assoziierbar (vgl. (iv)). Angesichts des breiten Spektrums von Deutungsmöglichkeiten bestätigt sich: Äußerungs- oder Textverstehen geht über reines Sprachverstehen hinaus; es ist nichts objektiv Gegebenes und nichts klar Abgegrenztes, je nach Kontextwissen und Verarbeitungstiefe ergeben sich abweichende Zuschreibungen. Diese Fest‐ stellungen gelten nicht nur für einzelne Textkomponenten, sie sind auf den Gesamttext übertragbar. 5 Im Zentrum der Rede Chiracs steht ohne Frage die Bedeutung der Hauptstadt Paris - und das vor dem Hintergrund der französischen Geschichte. Ausgangs‐ punkt ist zunächst die Erinnerung an die wichtige Rolle von Paris für die Entwicklung Frankreichs; hieran schließt sich eine übergreifende Aussage an, wonach - wie in (1) [4] formuliert - die „continuité profonde de notre histoire“ für die Zukunft des Landes eine entscheidende Bedeutung habe. Auch die Rede Mitterrands orientiert sich an wichtigen historischen Begebenheiten, trifft aber eine andere Auswahl: 369 Reden über Geschichte 6 Zu verschiedenen Elementen und Verfahren nationaler Identitätsbildung in Frankreich vgl. Thiesse (2001) und Renöckl (2015). Abb. 1: Entwürfe nationaler Identität Während es bei Chirac vor allem um bekannte Sachverhalte geht, die für die politische Einheit Frankreich stehen, für die Verteidigung nach außen und überhaupt für die Nationswerdung, kommen für Mitterrand andere identi‐ tätsstiftende Elemente in Betracht: Hier stehen in erster Linie Auseinanderset‐ zungen, Kämpfe um republikanische Werte (égalité , sursaut populaire, combats), aber auch die gemeinsame Befreiung im Zeichen von Brüderlichkeit und Gerechtigkeit (France libérée, fraternité, justice) im Vordergrund. Beide Redner entwerfen ein Bild nationaler Identität, das sich aber je nach den antizipierten Erwartungen der eigenen Anhängerschaft deutlich unterscheidet. 6 Lediglich bei der grundsätzlichen Bedeutung von Paris und von Charles de Gaulle gibt es Übereinstimmung. Mit dieser Diskrepanz hängt dann auch die jeweilige argumentative Ausrich‐ tung zusammen, vorausgesetzt, man will hier überhaupt von Argumentationen sprechen. Auf den ersten Blick nämlich könnte man als wichtigstes Ziel die Durchführung eines feierlichen Akts - hier die Abwicklung eines Antrittsbesu‐ 370 Heinz-Helmut Lüger ches des neu gewählten Staatspräsidenten - annehmen. Dem wird man kaum widersprechen wollen, und zumindest die ersten Passagen der Redetexte sind der Begrüßung bzw. der anschließenden Dankesäußerung gewidmet. Doch würde es der Funktion der Beiträge widersprechen, wollte man ihr politisches Wirkungspotential für sekundär halten. Die Redner wollen durchaus etwas vermitteln, von ihrer Position überzeugen und auf diese Weise an exponierter Stelle politische Werbung betreiben. Wie schon angedeutet, ist Chirac daran gelegen, seine Idee von der conti‐ nuité profonde de notre histoire ((1) [4]) zu propagieren, dies mit der Abfolge bestimmter geschichtlicher Etappen und Ereignisse zu begründen und diesen Gedanken letztlich in einen Appell münden zu lassen, der das Bewahren der V. Republik als vorrangige Aufgabe, als haute mission des Staatspräsidenten bezeichnet. Wenigstens einem Teil der Hörer / Leser dürfte dabei noch geläufig sein, mit welcher Vehemenz Mitterrand es war, der mit seiner 1964 erschienenen Streitschrift Le Coup d’État permanent die von de Gaulle initiierte Verfassung der V. Republik verdammte und sie, unter Wahrung des demokratischen Scheins, als Beginn einer absoluten Monarchie brandmarkte. Natürlich sind seitdem einige Jahre vergangen, und vormalige Gegner der Verfassung haben sich mit ihr arrangiert und versucht, ihren Vorteil daraus zu ziehen. Trotzdem dürfte der Umstand, gerade Mitterrand zu diesem Zeitpunkt mit einem solchen Appell zu konfrontieren, nicht ohne eine gewisse Brisanz sein. In (1’) ist das Geflecht akzeptanzstützender Feststellungen und Mitteilungen wiedergeben, mit denen die in (1) dominierende Aufforderungshandlung - nämlich der Appell zur Kontinuitätswahrung ((1) [9]) - abgesichert werden soll: (1’) 371 Reden über Geschichte a) b) c) Im Vergleich dazu nehmen sich die Äußerungen Mitterrands nicht ganz so eindeutig aus. An die obligatorische rituelle Einbettung ((2) [2]) anschließend, entwickelt der Redner ein eigenes Bild von der französischen Geschichte und vor allem von den bevorstehenden Aufgaben für die Zukunft. Ein Anknüpfen an die Tradition der V. Republik, wie dies bei Chirac ein zentrales Anliegen ist, wird jedenfalls nicht gefordert. In Übereinstimmung mit den mehrfach erklärten republikanischen Werten wird die Nähe zur Basis, zur Bevölkerung betont, wobei speziell auch die Bedeutung der kommunalen Ebene zur Sprache kommt (vgl. [8], [10]). Nähesprachliches überwiegt dann auch ab dem Abschnitt [10]. Als Kontrast zu einer Darstellungsweise, die als abstrakt und dozierend wirken könnte, formuliert Mitterrand nun in der Ich-Form; Geschichte wird konkret und als persönlich erlebt geschildert: „Un grand souvenir m’habite en cet instant, c’était le 25 août 1944“ ([11]). Auch Gefühle spielen eine Rolle, hier in Kombi‐ nation mit dem inklusiven nous: „l’émotion sacrée qui nous étreint tous, hommes et femmes, en ces minutes qui dépassent chacune de nos pauvres vies“ ([11]). Nicht zufällig dürfte in dem Zusammenhang ebenfalls das dreifache Vorkommen des Schlüsselworts fraternité (bzw. der entsprechenden Adjektivform) sein (vgl. [10]-[12]). Gegenüber der Rede Chiracs fallen besonders drei Unterschiede auf: die direkte Ansprache der Bevölkerung (sie ist schließlich der eigentliche Adressat), das persönliche Involviertsein (vgl. den Prononomengebrauch sowie die situationsspezifischen Details), der Versuch, die eigene Glaubwürdigkeit zu stärken und die Emotionalisierung der Adressaten zu stimulieren (vgl. in (2’) die gestrichelten Pfeile): Es fällt schwer, für den Redetext (2) sogleich eine zentrale Texthandlung, eine Hauptthese, auszumachen. Wenn hier dafür plädiert wird, die Aufforderung, die Zukunft im Sinne von Brüderlichkeit und Gerechtigkeit zu gestalten ([12]), als eine solche anzusehen, dann basiert das auf den bisher angeführten Textmerk‐ malen. Als Stützung dieser Handlung kommen in Betracht: die verschiedenen Mitteilungen zur langwierigen und schwierigen Durch‐ setzung demokratischer Rechte, die Positivbewertungen bezüglich der von Solidarität geprägten Ereignisse im Jahre 1944, der Aufruf (in [13], [14]), unnötige interne Konfrontationen zugunsten gemeinsamer Anstrengungen zu vermeiden. In (2’) sind die genannten Relationen schematisch abgebildet: 372 Heinz-Helmut Lüger (2’) 3 Graduelles Textverstehen Die Argumentationsstruktur veranschaulicht Relationen, die zwischen den Komponenten eines Textes bestehen. Sie soll außerdem deutlich machen, inwieweit sich subsidiäre, akzeptanzstützende Sprachhandlungen von überge‐ ordneten, einen Abschnitt oder den ganzen Text dominierenden Handlungen unterscheiden lassen. Dabei interessiert allenfalls am Rande, welche Inhalte, welche propositionalen Gehalte jeweils vermittelt werden. Dieser Aspekt soll im Folgenden noch einmal aufgegriffen werden, und zwar hinsichtlich der oben erwähnten Unterscheidung zwischen Bedeutetem und Mitbedeutetem einerseits und Gemeintem und Mitgemeintem andererseits. Schon bei der kurzen Betrachtung des Beispiels (1) [4] zeigte sich, wie groß das Bedeutungspotential selbst kleiner Redeauschnitte sein kann. Um nicht in der Vielfalt von Details zu ertrinken, erscheint es ratsam, sich zunächst einen Überblick bezüglich der inhaltlichen und sprachlichen Besonderheiten des gegebenen Textes zu verschaffen - dies nicht zuletzt auch mit Blick auf frankreichkundliche Lehrveranstaltungen. Hilfreich könnte etwa ein Kriterien‐ raster wie in Abb. 2 sein. Bezüglich der Syntax des Redetexts (1) ist eine Tendenz zu komplexen Strukturen offensichtlich, wozu vor allem zahlreiche Attribuierungen beitragen. Der Wortschatz ist aufgrund der Würdigung von Paris naturgemäß geprägt von einer hohen Frequenz positiv wertender Ausdrücke; rhetorisch wäre we‐ nigstens der mehrfache Rückgriff auf sogenannte Dreierketten festzuhalten 373 Reden über Geschichte (z. B. rien de grand, ni de solide, ni de durable). Auf der Textebene haben wir es mit einer rituellen Rahmung der Rede zu tun, der Hauptteil ist überwiegend chronologisch strukturiert, wobei de Gaulle und die V. Republik die größte Aufmerksamkeit erfahren. Die Kommunikationssituation wird stark bestimmt von den Zwängen und Erwartungen, wie sie für offizielle Antrittsbesuche dieser Art gelten. Bei der Einschätzung der aktuellen politischen Situation spielt in erster Linie der sensationelle Wahlsieg Mitterrands eine Rolle; mit diesem Ereignis eng verbunden ist jedoch die anschließende Auflösung der Assemblée nationale. Die dann erwartbare präsidiale Mehrheit gilt 1981 als Komplettierung des Machtwechsels. Dies wird in den beiden Reden zwar mit keinem Wort erwähnt, aber den Beteiligten ist der Sachverhalt natürlich vollkommen präsent. Historische Aspekte gehören im gegebenen institutionellen Rahmen zu den absolut unverzichtbaren Themen. Gerade wenn es darum geht, von Paris und von Frankreich ein Bild zu entwerfen, mit dem sich ein Großteil der Wähler identifizieren kann, liegt es nahe, wichtige geschichtliche Etappen nochmals Revue passieren zu lassen und ihre Bedeutung für die Herausbildung des heutigen Frankreich herauszustreichen. Insofern ist es auch kein Zufall, wenn sowohl Chirac wie auch Mitterrand diese Möglichkeit ausführlich für ihre Sicht der Dinge in Anspruch nehmen. Deutsch-französische Vergleiche stehen dabei nicht im Vordergrund. Abb. 2 Kriterienraster für die Textanalyse 374 Heinz-Helmut Lüger Für die Rede Mitterrands ließe sich leicht eine analoge Skizze anfertigen. Zu berücksichtigen wären in dem Fall besonders die bereits erwähnten Unter‐ schiede bezüglich der Einschätzung der aktuellen Situation und der Auswahl historischer Ereignisse. Auf der Grundlage eines solchen Überblicks können sich sodann Schwer‐ punkte für eine vertiefende Weiterarbeit ergeben. Hierzu exemplarisch nur einige Beispiele. Für Chirac nehmen die V. Republik und die Person Charles de Gaulles einen zentralen Platz in dessen Frankreich-Bild ein (vgl. (1) [7]). Erster Anknüpfungspunkt für die inhaltliche Vertiefung könnte die Thematisierung des appel du 18 juin sein: Wann und in welchem Zusammenhang kam es zu diesem Aufruf ? Inwiefern ist er politisch bedeutsam? Zur Klärung solcher Fragen trägt zunächst eine Beschäftigung mit dem Aufruf selbst bei: An wen richtet er sich, wozu wird aufgerufen, wie sind die äußeren Umstände, welche Resonanz löst er aus? Sinnvoll wäre, anschließend auf die Rolle Frankreichs im Zweiten Weltkrieg einzugehen, das Vichy-Regime und auch die Libération zu betrachten und dabei ebenfalls das Handeln de Gaulles zu verfolgen. Fragen wegen des Mitbedeuteten und (Mit)Gemeinten dürften - zumindest für nicht eingeweihte Hörer / Leser - ebenso mit der Erwähnung des Jahres 1958 ent‐ stehen: Was macht das Jahr überhaupt zu einem so wichtigen Datum? Chirac erwähnt eine neue Verfassung und die Gründung der V. Republik. All dies wird nur plausibel, wenn man wenigstens die Schwächen und das Scheitern der IV. Republik zum Gegenstand macht und außerdem die Prioritäten der nun maßgeblich auf de Gaulle zugeschnittenen Verfassung berücksichtigt. Ergänzend könnte man auf die Amtszeiten de Gaulles bis 1969 und die Ziele der gaullistischen Partei (UNR ➛ RPR) eingehen: (1’)[7] Als zweites Beispiel sei die von Chirac angeführte histoire nationale genannt (vgl. (1) [3]). Hier ließen sich einerseits die Bedeutsamkeit von Paris erörtern - und zwar in politischer, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht -, andererseits 375 Reden über Geschichte die territoriale Entwicklung Frankreichs seit dem 10. Jahrhundert. Wesentlich für das Verständnis wäre es, die jahrhundertelange Entwicklung auch unter dem Gesichtspunkt einer systematisch betriebenen Politik der Zentralisierung zu sehen, die praktisch alle Bereiche umgreift, die religiöse Uniformierung ebenso wie die sprachliche und die territoriale: (1) [3]’ Eine Veranschaulichung bietet die in Abb. 3 wiedergegebene Karte, die - ausgehend von der zunächst äußerst begrenzten Krondomäne unter Hugues Capet - die sukzessiven territorialen Zugewinne verzeichnet: Abb. 3: Territoriale Erweiterungen (nach Citron 1991: 219) 376 Heinz-Helmut Lüger In der Rede Mitterrands sind ebenfalls mehrere historische Daten angesprochen; herausgegriffen sei hier nur das Jahr 1870: (2) [7]’ Um zu verstehen, was 1870 geschehen ist, sind verschiedene Fakten in Erinne‐ rung zu rufen, die die Ausführungen Mitterrands voraussetzen (und nicht eigens formuliert werden). Daran anschließend wird eine zeitgenössische Karikatur herangezogen, die an einige aus heutiger Sicht kaum noch präsente Sachverhalte erinnert (Abb. 4): Abb. 4: Que le peuple veille ! ! ! ! (Georges Pilotell 1870) (aus: Reichardt 2018: 67) 377 Reden über Geschichte Das Jahr 1870 steht für die Auslösung des Deutsch-französischen Kriegs, für das Ende des Second Empire und speziell auch für die Schlacht von Sedan am 2. September. Bereits zwei Tage später kommt es zur Ausrufung der Republik. Möglicherweise ist dieses Ereignis von Mitterrand bei der Nennung von 1870 sogar primär gemeint. Das Wiederauftrumpfen der Republik ist ebenfalls Gegenstand der Pilotell-Karikatur in Abb. 4: Sie zeigt eine wehrhafte Marianne als Verkörperung der Französischen Republik (mit Säbel, Brustpanzer und phrygischer Mütze). Zu ihren Füßen die Opfer verschiedener Staatsstreiche: die Verfassung von 1792, die 1799 (am 18. Brumaire) durch die Konsulats-Ver‐ fassung ersetzt wurde (mit anschließender Alleinherrschaft Napoleons), die Juli-Revolution von 1830, die mit der Inthronisierung von Louis-Philippe von Orléans ihr Ende fand (die Birne mit der Aufschrift „Poire d’Orléans - 1830“ verweist auf die Darstellung Louis-Philippes in den Karikaturen seiner Zeit), schließlich die 1848 ausgerufene II. Republik, die Louis Napoléon Bonaparte durch seinen Staatsstreich vom 2. Dezember 1851 und den Beginn des Second Empire beendete. Aus dem Gesagten dürfte eines deutlich geworden sein: Es ist grundsätzlich schwierig, eine klare Grenze für das Textverstehen anzugeben; der Aspekt der Verarbeitungstiefe schließt scharfe Konturen aus. Das (Mit)Gemeinte und das (Mit)Verstandene sind offene Größen, und im Falle der hier zugrundegelegten Redetexte setzen sowohl Chirac wie auch Mitterrand verschiedene Wissensbe‐ stände als kollektiv verankert voraus. Von daher bedürfen viele Sachverhalte, die einem Nichtmuttersprachler keineswegs selbstverständlich erscheinen müssen, keiner weiteren Versprachlichung mehr - eine größere Explizitheit wäre kommunikativ sogar unangemessen. Darüber hinaus bestätigen die Ausführungen eine schon oft formulierte Einsicht: Landeskundliches Lernen und kulturwissenschaftliches Arbeiten sind unabdingbar für das Verfügbar‐ machen von Kontextwissen; damit sind sie wichtige Vorbedingungen für das Textverstehen generell, dies auch und gerade jenseits des quantitativ Evaluierbaren. Literatur Bartsch, Renate (1984). Norms, tolerance, lexical change, and context-dependence of meaning. In: Journal of Pragmatics 8, 367-393. Christ, Herbert (1979). Landeskundeunterricht im Rahmen des Fremdsprachenunter‐ richts. In: Kleine, Winfried (Hrsg.), 74-83. Citron, Suzanne (1991). Le mythe national. L’histoire de France en question. Paris : Éditions ouvrières. 378 Heinz-Helmut Lüger Hörmann, Hans (1980). 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Wiederabdruck in: Le Monde 23.5.1981. [1] [2] [3] [4] [5] [6] Wernsing, Armin Volkmar (2016). Lonely Rider. Das neoliberale Subjekt und die Bildung. In: Beiträge zur Fremdsprachenvermittlung 57, 3-22. Zydatiß, Wolfgang (2005). Bildungsstandards und Kompetenzniveaus im Englischunter‐ richt. Frankfurt / M.: Lang. Anhang Redebeispiel (1): Jacques Chirac 7 Monsieur le Président de la République, Conformément à la tradition, à peine investi de votre nouvelle mission, vous avez tenu à venir saluer, ici à l’Hôtel de Ville, à travers ses élus et son Maire, le peuple de Paris. Paris mesure aujourd’hui tout l’honneur que vous lui faites. Depuis les origines de notre histoire nationale, c’est à Paris en effet que se sont produits les grands événements devenus signes et symboles que le destin a donnés à notre peuple pour qu’il y puise son inspiration et les principes de son unité et de sa grandeur. Au seuil d’un nouveau septennat qui affirme la volonté du changement, il me paraît particulièrement nécessaire de rappeler que rien de grand, ni de solide, ni de durable ne peut être accompli sans référence à la continuité profonde de notre histoire telle que Paris en porte témoignage ; de cette histoire que votre culture, Monsieur le Président, vous permet d’embrasser dans sa richesse et dans son exigeante obligation. C’est pourquoi je voudrais m’arrêter un instant pour évoquer cette histoire de Paris, qui fait corps avec l’histoire de France et qui retentit dans l’histoire du monde. Paris était bien ce lieu choisi par le destin lorsque la ville, à l’appel de Sainte Geneviève, la bergère de Nanterre chantée par Péguy, se dressa pour saluer l’occident ; elle l’était lorsque Jeanne d’Arc, montant à l’assaut de la porte Saint Honoré, préfigurait le retour de la France à l’unité et l’indépendance ; elle l’était encore lorsqu’Henri IV, mettant fin sous ses murs aux guerres de Religion, restaurait l’État et montrait les chemins nécessaires de la tolérance ; elle l’était aussi quand les États généraux proclamèrent devant la nation et devant l’univers, les droits de l’homme. 380 Heinz-Helmut Lüger 8 http: / / www.mitterrand.org/ 21-mai-1981-la-Gauche-entre-dans-l-Histoire-de-la-Ve-Re publique.html (2.11.2019). [7] [8] [9] [10] [11] [12] [1] [2] [3] Enfin comment, en ce jour, ne pas évoquer, selon les propres termes du Général de Gaulle, Paris outragé, Paris brisé, Paris martyrisé, dont la pensée inspira au chef de la France Libre l’appel du 18 juin. Et c’est dans Paris, à quelques pas de cet Hôtel de Ville, sur la place de la République que, le 4 septembre 1958, le Général de Gaulle présenta au peuple français le projet de constitution qui allait fonder la V ème République, rastaurant l’État au dedans et au dehors, et plaçant à la tête de cet État un arbitre national, élu par tous les citoyens, chargé d’assumer le fonctionnement régulier des institutions, ayant le droit de recourir au jugement du peuple souverain, répondant de l’indépendance, de l’intégrité, de l’honneur et du salut de la France. Telle est aujourd’hui la haute mission dont vous êtes investi, Monsieur le Président. Les Français, tous les Français, peuvent être fiers de ce qu’a réalisé la France durant les vingt-trois premières années de la V ème République. Je forme des vœux pour que, durant les prochaines années, et sous votre présidence, la France soit en mesure de poursuivre son chemin dans la voie du progrès, de la justice et de l’indépendance nationale selon sa vocation telle que l’histoire l’a léguée aux Français. C’est le souhait, Monsieur le Président de la République, que j’exprime au nom de Paris qui vous accueille aujourd’hui. (Allocution prononcée par M. Jacques Chirac, Maire de Paris, à l’occasion de la réception solennelle à l’Hôtel de Ville de M. François Mitterrand, Président de la République française, jeudi 21 mai 1981) Redebeispiel (2): François Mitterrand 8 Monsieur le Maire, Mesdames, Mesdemoiselles, Messieurs, M. le Maire, je vous remercie des vœux que vous venez d’exprimer pour la réussite de cette nouvelle période qui vient de commencer dans l’histoire de la République, ainsi que des souhaits que vous formulez pour le changement dont la France vient d’affirmer la volonté. Il est bien vrai que je viens ici conformément à une tradition, mais plus encore que la tradition, l’histoire m’en fait un devoir. A Paris est née, un jour de l’été 1792, la première République française, elle nous 381 Reden über Geschichte [4] [5] [6] [7] [8] [9] [10] [11] [12] proposa, avec un temps d’avance, le suffrage universel et avec lui ces mots nouveaux qui devaient faire depuis le tour du monde, les Droits de l’Homme et du Citoyen. Difficile et douloureuse enfance, si souvent combattue, parfois même abattue, mais renaissant chaque fois du sursaut populaire. Oui, c’est à Paris qu’on peut le mieux parler de République et de liberté. Et c’est à l’Hôtel de Ville de Paris qu’on peut le mieux parler de République et d’égalité. Premier contre-pouvoir, face au château du seigneur, l’Hôtel de Ville s’affirme comme la maison commune, vieux face-à-face du roi et du prévôt, de la cour et de la ville et plus tard en contrefaçon de Versailles et de la Commune. 1830, 1848, 1870, 1871, à quoi bon égrener les dates, beaucoup sont devenues des fêtes, mais n’oublions pas qu’elles furent d’abord des combats. L’absolutisme ne pardonne pas au pouvoir municipal. A celui-ci, moins qu’à tout autre. Ce n’est pas un hasard si Napoléon Bonaparte supprima le Conseil municipal de Paris au bénéfice des Préfets, ce n’est pas un hasard si Louis-Napoléon à son tour accrut la tutelle de l’État sur la ville. Victor Hugo disait : « Qui adresse la parole à Paris, s’adresse au monde entier. » Je préfère aujourd’hui, à travers vous, m’adresser à toutes les communes de France. J’ai été Maire, je suis encore Conseiller municipal, je sais qu’ici bat le cœur de Paris, que c’est ici enfin qu’on peut parler et que je dois parler de République et de fraternité. Un grand souvenir m’habite en cet instant, c’était le 25 août 1944. Depuis quelques jours, Paris avait pris les armes, le Comité parisien de libération et le Conseil de la résistance avaient fait de cet Hôtel de Ville, après la Préfecture de police, le symbole, la tête de proue de la France libérée, libérée par elle-même. 25 août, 26 août, j’ai vécu ces jours, il y a 37 ans, j’étais là, parmi d’autres, pour recevoir le Général de Gaulle, comme lui et comme tant d’autres, j’écoutais la profonde rumeur de la foule qui montait vers les fenêtres, comme lui et comme tant d’autres, je ressentais, ainsi qu’il a écrit dans ses „Mémoires de Guerre“, l’émotion sacrée qui nous étreint tous, hommes et femmes, en ces minutes qui dépassent chacune de nos pauvres vies. A cette minute-là, la France était fraternelle. Vous l’avez dit, M. le Maire, il y a beaucoup à faire. Mais rien ne se fera sans la fraternité et rien sans la justice. 382 Heinz-Helmut Lüger [13] [14] [15] [16] En cet instant où il est possible d’abandonner ne serait-ce qu’un moment l’âpreté des compétitions politiques, qui mieux, que le Président de la République, mesure l’effort à accomplir ? Qui mieux que lui peut exprimer la profonde volonté d’union de notre peuple ? Chacun restera bien entendu fidèle à ses choix et à ses préférences et je n’entends pas déroger moi-même aux engagements que j’ai souscrits devant le suffrage universel pour répondre à l’aspiration au changement des Françaises et des Français qui m’ont fait confiance. Le débat, l’expression des différences, sont légitimes, sont même néces‐ saires dans une démocratie, mais au-delà des confrontations j’en appelle à la cohésion de notre pays, source de vitalité, garantie de notre puissance, pour affronter les problèmes du temps. Oui, M. le Maire, il y a beaucoup à faire. Paris, ville des lumières, est aussi celle de l’imagination parce qu’elle est une ville de mémoire. Sachons à présent inventer l’avenir. Vive Paris ! Vive la République ! (Allocution prononcée par M. François Mitterrand, Président de la Ré‐ publique française à l’Hôtel de Ville, jeudi 21 mai 1981). 383 Reden über Geschichte Welche Projekte muss, soll, kann und darf man sich leisten? Wiederaufnahme einer Debatte mit Albert Raasch Britta Hufeisen 1 Einführung Mit diesem Beitrag möchte ich einen Diskurs zwischen dem Jubilar Albert Raasch und mir wiederaufnehmen und noch einmal darüber nachdenken, welche Projekte wir durchführen müssten, sollten, könnten und dürften, was und wie wir heute forschen, und in welchen Bereichen wir forschen können und sollen. Dabei geht es sowohl um die Auswahl wissenschaftstheoretisch relevanter Themen und die angemessene Forschungsmethodik als auch - und das wird der Gegenstand meiner Überlegungen sein - um die Finanzierung bzw. Förderung von Forschung allgemein und von praxisorientierten (und damit bedauerlicherweise allzu oft forschungsfreien) Projekten im Speziellen. Es geht um Fragen danach, was geforscht wird, welche Forschung gefördert wird, inwiefern Forschungsförderung zugleich als Forschungssteuerung bezeichnet werden kann, und inwiefern Förderinstitutionen durch ihre Forschungsförde‐ rung gezielt in die Forschung eingreifen. Es handelt sich daher bei diesem Beitrag nicht um einen Forschungsbericht oder die Debatte einer wissenschaftlichen Frage, sondern um die Betrachtung der derzeitigen Möglichkeiten der Forschungsförderung, die aus meiner Sicht wenig wagemutig ist und sich auf Bewährtes konzentriert oder enge Vorgaben in Bezug auf Themen und Forschungsmethoden macht und keine Garantie für eine selbstlose Begutachtung gibt (oder geben kann? ). Es geht auch um Projekte, die zwar spannend sind, aber keine Drittmittel generieren. Inwiefern sind dies dann in der heutigen Zeit für uns Projekte, um die wir uns bewerben dürfen, können und sollen oder gar müssen? Diese Themen beschäftigten Albert Raasch und mich eine längere Weile, weshalb ich ihm diese Überlegungen in seiner Festschrift überreichen möchte. Es ist sicher nicht falsch, festzustellen, dass sich (auch) in der Angewandten Linguistik im Vergleich zu der Zeit, als ich den Jubilar kennenlernte, andere Re‐ geln zu forschen eingebürgert haben. Zu Beginn der 1990er Jahre war die Gesell‐ schaft für Angewandte Linguistik (GAL), in der Albert Raasch und ich besonders aktiv waren und sind, eine fast avantgardistische und immer schon sprachen‐ übergreifende Vereinigung, die einerseits mit einer verlässlichen Struktur der Sektionen thematisch einen wissenschaftlich begründeten Rahmen absteckte, die andererseits Innovationen und neue Ideen ermöglichte und unterstützte, indem sie Arbeitskreise (die jeweils am Sonnabend einer der Jahrestagungen stattfanden) zu neuen oder gar unerhörten Themen zuließ und ermunterte. Heute sind diese Hürden etwas höher, und es gibt keine Arbeitskreise mehr, die man einfach so vorschlagen und durchführen könnte. Aber es besteht die Möglichkeit, einen Forschungsfokus zu beantragen, der dann durch den Vorstand und den Beirat der GAL genehmigt oder abgelehnt wird. Mit einem solchen Forschungsfokus wird sowohl dem sektionenübergreifenden Kooperieren als auch dem etwas dauerhafteren und kontinuierlicheren Arbeiten, als es im Rahmen der Sektionentagungen oder gar der großen Kongresse möglich wäre, Raum und Zeit gegeben. In einem Zweijahres-Rhythmus wird geprüft, ob es den Forschungsfokus noch braucht, wie es zum Zeitpunkt des Entstehens dieses Beitrags gerade für den Forschungsfokus Geflüchtete entschieden wurde. Aber auch für die großen Kongresse können thematische Symposien vorgeschlagen werden, die über die einzelnen Sektionengrenzen hinausgehen. Dies zeigt erneut die innovative Kraft der GAL, weswegen sie als eine der besten Vereinigungen in diesem Feld bezeichnet werden kann und weswegen der Jubilar und ich ihr seit Jahren ununterbrochen die Treue halten. An einem der ersten Arbeitskreise zu L3 in den frühen 1990er Jahren - unser Ziel war damals die genauere Erforschung zweiter und weiterer Fremdsprachen - nahm auch Albert Raasch teil, der mit seiner Thematik Mehrsprachigkeit in Grenzregionen einen weiteren Aspekt zu den Fragen des institutionellen Mehrsprachenlernens beitrug und außerdem als Romanist ebenfalls - aus heutiger Perspektive - klassische zweite Fremdsprachen wie Französisch oder Spanisch vertrat. Damals ging es um Fragen danach, wie zweite und weitere Fremdsprachen gelernt werden, inwieweit sich dies vom Lernen einer ersten Fremdsprache unterscheidet, wie man das forschungsmethodisch sauber untersuchen könne und ob diese Fragen vor dem Hintergrund diverser L2-Erwerbsmodelle wissenschaftstheoretisch überhaupt legitim seien (vgl. z. B. Raasch 1990, Hufeisen 1995). Im Rahmen dieser L3-Arbeitskreise, von denen es etliche gab, bevor die Thematik in der GAL-Sektion Mehrsprachigkeit einen festen Platz erhielt, ging 386 Britta Hufeisen es allein um wissenschaftstheoretische und forschungsmethodische Fragen. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass es je um Geld ging. Das hat sich inzwischen grundlegend geändert, auch in den Geisteswissenschaften (man hört aus den MINT-Fächern, dass dies dort schon länger oder schon immer so gewesen sei). Im Rahmen einer Professur mit einer Qualifikationsstelle (oder auch zweien) sind tatsächlich freie Themen zu vergeben oder zu initiieren. Wenn jedoch weitere Themen bearbeitet werden sollen oder wenn mehr junge Leute forscherisch tätig werden sollen, müssen Drittmittel beschafft werden - die bei den meisten W-Professuren ohnehin das Maß aller Dinge und meist relevanter als Publikationen oder Forschung selbst sind. Ich beispielsweise hatte in meinen „Zielvereinbarungen“ (= in Anführungsstrichen, weil sie nie mit mir vereinbart wurden, sondern mir per Hauspost und ohne Gelegenheit zur Rücksprache zugestellt wurden) jahrelang ausschließlich das Erfordernis, jährlich zwei Ziffern mitzuteilen bzw. überprüfen zu lassen: die Zahl der bei mir abgeschlossenen Promotionen (= ich hatte pro Jahr eine Promotion zum Ende zu führen), und die Menge der Drittmittel, die ich im Jahr einzuwerben hatte (= bei mir waren es 100.000,-€ pro Jahr). So werden wir, wenn wir in den Genuss der Leistungszulagen gelangen möchten, um ein Gehalt zu erzielen, welches sich der früheren C-Besoldung annähert, diese Zielvereinbarungen zu erfüllen versuchen, was uns zu menschlichen Lemmingen macht, die eben das forschen, wozu es Forschungsförderung gibt. 2 Wer bestimmt, was relevante Themen sind? Diese Drittmittel können bei den europäischen oder den großen nationalen Forschungsinsitutionen wie z. B. dem Europäischen Forschungsrat (= ERC), der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) oder dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), bei Stiftungen oder anderen Institutionen be‐ antragt werden. Bei einigen wenigen Institutionen kann man jede Forschungs‐ idee einreichen, bei den meisten aber gibt es (inzwischen) Programme oder Ausschreibungen, und nur zu diesen ausgeschriebenen Inhalten kann man For‐ schungsprojekte einreichen. Zu diesen ausgeschriebenen Forschungsthemen muss die eigene Forschungsidee passen. Wenn man entsprechend Geld ein‐ werben möchte oder soll, muss man die eigene Forschung gegebenenfalls thematisch anpassen. Das klingt nach einer besonders edlen Form der Prosti‐ tution. Wenn ich keine Förderinstitution für mich interessierende Themen finde, kann ich das Thema entweder nicht beforschen oder beforschen lassen oder übernehme das selbst im Rahmen meiner eigenen Zeit, die allerdings 387 Welche Projekte muss, soll, kann und darf man sich leisten? zunehmend für andere Dinge des universitären Alltags verbraucht werden muss (siehe dazu auch weiter unten). Alle Bewerbungen um Forschungsförderung werden verständlicherweise und korrekterweise begutachtet. Diese Begutachtungen werden unterschied‐ lich gestaltet und verschieden komplexen Verfahren unterzogen. Oft sind sie doppelblind organisiert, das heißt, dass weder die Begutachteten wissen, wer ihren Antrag begutachtet, noch, dass die Gutachtenden wissen, wessen Antrag sie begutachten. Oft ist das Verfahren allerdings auch nur halbblind, so dass die Begutachteten nicht wissen, wer ihren Antrag begutachtet, aber die Gutachtenden wissen, wessen Antrag sie bewerten. Dass bei der zweiten Art des Verfahrens die Objektivität - sofern man sie überhaupt systematisch unterstellen darf - vielleicht nicht immer und in jedem Falle gewahrt werden kann, scheint evident, was man immer dann besonders deutlich merkt, wenn in einem Gutachten die fehlende Berücksichtigung bestimmter Literatur beklagt wird und man bei der Recherche feststellt, dass die Entstehung der fehlenden Literatur besonders einem bestimmten Forschungsort zuzuordnen ist. Indem Stiftungen Themen in Programmen ausschreiben, die in ihren Sta‐ tuten als Fördergegenstände festgelegt sind oder die ihren derzeitigen Zielen entsprechen, ist es naheliegend, dass auch nur Anträge zu solchen oder sehr ähnlichen Themen eingereicht zu werden brauchen. Mittlerweile gilt diese Festlegung von Themen in spezifischen Ausschreibungen auch für öffentliche Institutionen. Hier wird besonders deutlich, dass vonseiten des zuständigen Bundes- oder Landesministeriums die Grenze zwischen Forschungsförderung und Forschungssteuerung zunehmend verschwimmt, denn wer das Geld gibt und die Themen festlegt, bestimmt natürlich auch, was erforscht wird. Die Frage muss erlaubt sein, wie legitim dieses Vorgehen ist, und was mit den viel zitierten verrückten Ideen oder ungewöhnlichen Fragen ist, deren Bearbeitung so ausschließlich in die eigene Zeit fallen und so für eine Person bearbeitbar sein müssen. Es muss gefragt werden dürfen, inwiefern man auf regulären Stellen noch die Muße hat, sich in der eigenen Zeit ausgiebig mit einem Thema zu befassen, es gedanklich auszuarbeiten, um dann daran auch noch zu forschen (vgl. Deutscher Hochschulverband 2020). 3 Wer bestimmt, welche Anträge finanziell unterstützt werden? Die Gutachtenden verfügen, indem sie Empfehlungen für oder gegen eine Förderung aussprechen dürfen, über eine große Macht, und es ist zu hoffen, dass sich alle mit dieser Aufgabe Betrauten dieser Macht bewusst sind und dass sie seriös damit umgehen. (Das bedeutet auch, dass man als Begutachtete 388 Britta Hufeisen nicht nach einiger Zeit nach einer Ablehnung eben diese Forschungsfrage woanders als in den eigenen Daten finden möchte.) Bei der Begutachtung gilt es auch, der Versuchung zu widerstehen, nur solche Anträge gutzuheißen, die den eigenen Forschungsvorstellungen entsprechen oder die schon die wesentlichen Ergebnisse vorwegnehmen können, weil sie vor der Antragstellung im Grunde schon so intensiv beforscht sein mussten, dass bereits zuverlässige Ergebnisse vorgelegt werden können. Aus interdisziplinären Arbeitsgruppen weiß ich von den völlig unterschied‐ lichen Fächerkulturen bei der Betrachtung von Forschungsanträgen. Während offenbar oft in den MINT-Fächern die GutachterInnen, wenn sie einem An‐ trag skeptisch gegenüberstehen, ihn eher bewilligen, weil sie sehen wollen, was dabei herauskommt, scheinen die GutachterInnen aus den Geisteswissen‐ schaften bei Zweifeln sehr schnell zu ablehnenden Urteilen zu kommen. Diese Berichte und auch eigene Erfahrungen haben dazu geführt, dass ich - in meiner Eigenschaft als Gutachterin - ungewöhnliche Anträge eher positiv als negativ bewerte und eine Förderung befürworte. Warum soll man ,verrückt‘ oder ungewöhnlich scheinende Projekte ausbremsen, über deren zukünftigen Erfolg man eigentlich genau so wenig weiß wie über konventionelle Projekte, deren Ergebnisse vermeintlich bereits absehbar sind? Leibnitz’ Ideen des binären Zahlensystems galten lange Zeit als ,verrückt‘, und er hätte heute vermutlich nur geringe Chancen auf Forschungsförderung. Seine Ideen sind aber heute anerkannt als unentbehrliche Grundlagen der Computertechnik (vgl. Breger 2009, 388 oder Bréard 2016: 282). Wer kennt noch Erich Moritz von Hornbostel, der als einer der ersten auf die Kulturspezifik und -angemessenheit von For‐ schungsmethoden (und übrigens auch Intelligenztests) hinwies und der anfangs überhaupt nicht ernst genommen wurde (vgl. Müller & Wendelborn 1998, 55 ff)? Heute sind seine Erkenntnisse Allgemeingut. Auch er würde heute vermutlich nicht gefördert werden. 4 Wie objektiv können Gutachten sein? Ein Forschungsthema, die Relevanz von Vorfremdsprachen für das Lernen von Deutsch als L3, (vgl. Bartelheimer, Hufeisen & Janich 2017 & 2018, Fischer & Hufeisen 2010 & 2012), für das ich erfolglos sowohl bei einer großen und angesehenen Fördereinrichtung als auch bei zwei ebenso großen Stiftungen Anträge gestellt hatte, wurde schließlich doch finanziert - und zwar von dem Wissenschaftsministerium eines Bundeslandes. Die Kritikpunkte der ver‐ schiedenen Förderinstitutionen waren jeweils völlig unterschiedlich, d. h. die Punkte, die die GutachterInnen einer Institution kritisierten, wurden von denen 389 Welche Projekte muss, soll, kann und darf man sich leisten? einer anderen Institution geradezu gelobt. Bei einer großen und angesehenen Förderinstitution reichten wir nach der Ablehnung eine verbesserte Version des Antrags ein, die wir akribisch entlang der Einwände der GutachterInnen überarbeitet hatten. Unser Antrag wurde dann leider erneut abgelehnt, aller‐ dings wegen völlig neuer und vorher überhaupt nicht relevanter Kritikpunkte; das Gutachtergremium hatte gewechselt, und die neue Gruppe legte nun auf vollkommen andere Punkte Wert - wo bleiben hier die Objektivität, Konsistenz und Zuverlässigkeit für die Begutachteten? Dass es mehr und mehr Leute gibt, die daher bei manchen Förderinstitutionen keine Anträge mehr stellen, ist verständlich. Sind sie deshalb ohne Erfolg, wenn sie beispielsweise stattdessen woanders in dem Maße Drittmittel einwerben, wie sie sie für die Bearbeitung der anstehenden Forschungsfragen benötigen? Ich jedenfalls stelle bei diesen Förderinstitutionen nur noch selten Anträge, weil ich genügend Drittmittel bei anderen Förderinstitutionen einwerbe (dazu mehr auch weiter unten) und mich daher keineswegs für unerfolgreich halte. 5 Wie systematisch kann man Projekte vorbereiten bzw. was muss man vorher investieren? Ein anderes Thema, das Gesamtsprachencurriculum (vgl. z. B. Hufeisen 2018a & b), für das ich zunächst gar keine Forschungsförderung in Anspruch nehmen wollte, weil ich anfänglich noch gar keine konkreten Forschungsfragen hatte, welches ich aber dennoch ausprobieren wollte, konnte ich beim Europäischen Fremdsprachenzentrum (EFSZ) in Graz in einem Projekt platzieren. Das EFSZ ist eine europäische praxisorientierte Institution, die Forschung - wie auch ERASMUS+ - geradezu ablehnt und argumentiert, dass Forschung für die fremdsprachliche Praxis nicht notwendig und erst recht nicht gewünscht sei. Daher finanzierte ich selbst die Begleitforschung des Praxisprojekts, indem ich dafür meine Landesqualifikationsstelle zur Verfügung stellte (vgl. Henning 2019). Es gab weitere Begleitforschungsarbeiten, die wichtige Hinweise auf die Umsetzbarkeit und die Wirksamkeit des Gesamtsprachencurriculums gaben. Ein ERASMUS+-Folgeprojekt (bei dem aus dem Antrag die Forschungskom‐ ponente wegen Nutzlosigkeit herausgestrichen worden war) verbreiterte die wissenschaftliche Basis um praxisbezogene Aussagen dazu, was gelingende Beispiele im schulischen Alltag sind und wie diese charakterisiert werden können (vgl. Allgäuer-Hackl et al. 2015 & 2018). Mit weiteren Publikationen der Begleitforschung vergrößerte sich das Inter‐ esse an dieser linguistisch und spracherwerbstheoretisch fundierten hochpoli‐ tischen Schulentwicklungsmaßnahme, so dass ich zum Zeitpunkt des Verfas‐ 390 Britta Hufeisen sens dieses Beitrages eine Promotionsstelle einwerben konnte, auf der die Implementation eines Gesamtsprachencurriculums an einer konkreten Schule finanziert wird; ein zweites Projekt auf ministerieller Ebene steht kurz vor der Förderung. Diese Ergebnisse sind immer auf bestimmte und konkrete Schulen bezogen und daher niemals förderfähig durch eine größere Finanzinstitution, aber trotzdem ziehen erfolgreiche Projekte weitere Projekte nach sich, für die man dann doch Forschungsförderung erhalten kann (in dem Sinne, dass bereits feststeht, dass das Projekt erfolgreich zu einem Abschluss geführt werden kann). Das heißt, dass dort, wo bereits erfolgreiche Projekte durchgeführt wurden, eher Förderungen genehmigt werden als bei Erstanträgen. Diese ermöglichen begleitete Grundlagenforschung bzw. die Arbeit an Theorien und Modellen (vgl. Hufeisen 2018a und Hufeisen & Jessner 2019) sowie die praxisorientierte Arbeit, die wir der Gesellschaft dafür schulden, dass sie unsere Stellen finanziert (vgl. Hufeisen 2019). 6 Welches ist das richtige Geld? Und warum ich kein Projekt mit Albert beim Europäischen Fremdsprachenzentrum in Graz durchführen konnte Die Universitäten haben unterschiedliche Regeln bezüglich der forschungsför‐ dernden Institutionen, nach dem Motto: Geld ist Geld, Hauptsache, die Summe der Leistungsorientierung wird erfüllt. Es gibt aber durchaus auch Universi‐ täten, die klar sagen, dass ein Euro von ERC, DFG oder BMBF wertvoller als ein Euro einer anderen Institution ist, und dass das Einwerben der prestige‐ trächtigeren Institutionen als wertvoller erachtet wird als das Einwerben der gleichen Summe einer anderen Institution. Gänzlich nutzlos für die deutsche Drittmittelquote sind Projekte wie die des EFSZ, einer eigentlich außerordent‐ lich sinnvollen europäischen Institution, die den Kontakt zwischen den Ländern hält, die interdisziplinäres Arbeiten ermöglicht und die ganz hervorragende und innovative Projekte fördert. Aber: Erstens sind diese Projekte praktisch immer forschungsfrei, was es für Universitätsbeschäftigte meist schwierig macht, ihre Beteiligung zu rechtfertigen, und zweitens läuft die durchaus nicht unerhebliche Finanzierung dieser Projekte ausschließlich über das EFSZ selbst und nicht über die Konten der beteiligten Projektmitglieder oder gar der Projektverantwortlichen. Damit bedeuten diese Projekte für Menschen, die heute in Deutschland an einer Universität beschäftigt sind, viel - zwar spannende - Arbeit, aber keinerlei Drittmittelförderung, mit der die Leistung auch an der Heimatuniversität dokumentiert werden könnte. Darum konnte ich mich vor einigen Jahren nicht an einem ausgeschriebenen hochinteressanten 391 Welche Projekte muss, soll, kann und darf man sich leisten? Projekt am EFSZ beteiligen, für das der Jubilar Albert Raasch mein Engagement erbeten hatte. Albert Raasch zeigte sich bestürzt über diese Entwicklungen in unserer Forschungsinfrastruktur und zugleich erleichtert, dass er noch andere Zeiten kennenlernen konnte. Interessant ist sicher der (Neben-)Effekt, dass ich durch meine diversen erfolgreichen, aber auch durch meine ebenso diversen erfolglosen Anträge doch immerhin bei etlichen Institutionen in deren Datenbank gelandet bin und vermehrt um Begutachtung anderer Forschungsanträge gebeten werde. Das halte ich für eine erstaunliche Karriere von einer, die zwar ihre Drittmittelquote immer einhalten konnte, bei einigen großen bekannten und renommierten Forschungsförderinstitutionen aber nie mit eigenen Anträgen erfolgreich war. Nun begutachtet sie die dort eingereichten Anträge von anderen Forschenden. So scheint wenigstens meine Beurteilungskompetenz akzeptiert zu sein, wenn auch nicht meine Antragskompetenz oder meine Forschungskompetenz. 7 Abschluss und Ausblick Mehrsprachigkeit, eines der Themen, die Albert Raasch und mich gleicher‐ maßen interessieren, ist mittlerweile kein ungewöhnliches oder exotisches Thema mehr wie noch zu Beginn der 1990er Jahre, so dass die Chancen gutstehen, dass eingereichte Forschungsanträge, die Fragen rund um Mehrspra‐ chigkeit oder Mehrsprachenlernen behandeln, nicht nur genehmigt werden, sondern dass Mehrsprachigkeit in zunehmendem Maße auch in Förderaus‐ schreibungen zu finden sein wird, sei es im Rahmen von angewandt lingu‐ istischen Fragestellungen, im Rahmen von wissenschaftlich ausgerichteten Förderprojekten oder sei es im Rahmen von begleitbeforschten Praxisprojekten. Das Thema Mehrsprachigkeit wird auch Albert Raasch und mich immer wieder und immer weiter beschäftigten; so wie er viele Jahre nach seiner Emeritierung weiterhin die entsprechenden Sektionen und Symposien bei der GAL besuchte. Ein Thema, das wir dringend weiter untersuchen müssten, ist die Frage, ob die mittlerweile zementierte Reihenfolge des Englischen als klassischer erster Fremdsprache an Bildungsinstitutionen und auch außerhalb dazu beiträgt, dass immer weniger zweite und weitere Fremdsprachen gelernt werden - eine Hypothese, die Albert Raasch schon vor Jahren aufstellte und in einem Interview wieder in den Raum stellte (vgl. Raasch 2013, Bartelheimer, Hufeisen & Montanari 2019). Welche Konsequenzen hat es, wenn Kinder in der Grund‐ schule mit einer anderen Frühfremdsprache beginnen als Englisch (vgl. Raasch 1998)? Zur Bearbeitung dieser Hypothese und dieser Frage müsste einmal ein Forschungsantrag gestellt werden. 392 Britta Hufeisen Dank Ich danke Chris Merkelbach, Lukas Daum und Stefanie Nölle-Becker (alle Technische Universität Darmstadt) an dieser Stelle für ihre kritischen Rückmel‐ dungen zu früheren Versionen dieses Beitrages. Chris danke ich insbesondere auch für die Hinweise auf Leipniz’ Ideen zu binären Zahlen und auf Erich Moritz von Hornbostels Warnungen vor arroganter Bewertung anderer Völker (auch ihrer Intelligenz! ) wegen kulturspezifischer Wahrnehmung und Weltsicht. Alle verbliebenen Lücken, Fehler oder logischen Unwuchten darf, soll, kann und muss ich selbst verantworten. Literatur Allgäuer-Hackl, E., K. Brogan, U. Henning, B. Hufeisen & J. Schlabach (Hrsg.) (2015). Mehr Sprachen? - PlurCur! Berichte aus Forschung und Praxis zu Gesamtsprachencurricula. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren. Allgäuer-Hackl, E., K. Brogan, U. Henning, B. Hufeisen & J. Schlabach (Hrsg.) (2018). More languages? - PlurCur! Research and practice regarding plurilingual whole school curri‐ cula. Strasbourg & Graz: Council of Europe. (https: / / www.ecml.at/ Portals/ 1/ docume nts/ ECML-resources/ PlurCur-EN-final.pdf ? ver=2018-05-31-100118-647; 19.02.2020). Bartelheimer, L., B. Hufeisen & N. Janich (2017). Do L2 French or L2 English learners write better L3 German texts? The influence of prior foreign language study on L3 German writing skills: the GaE/ F Project. In: Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenun‐ terricht, 22(1), 208-216. (http: / / tujournals.ulb.tu-darmstadt.de/ index.php/ zif/ article/ vi ew/ 846/ 847; 19.02.2020). Bartelheimer, L., B. Hufeisen & N. Janich (2018). Hilft die Vorfremdsprache Französisch bei der Textproduktion in der folgenden Fremdsprache Deutsch? Das Projekt DaFnE/ F. In: Merkelbach, C. & M. Sablotny (Hrsg.). Darmstädter Vielfalt in der Linguistik. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 207-224. Bartelheimer, L., B. Hufeisen & S. Montanari (2019). Multilingualism in Europe. In: Montanari, S. & S. Quay (Hrsg.). Multidisciplinary Perspectives on Multilingualism: The Fundamentals. Berlin & Boston: De Gruyter, 51-76. (doi: https: / / doi.org/ 10.1515/ 9781 501507984-004). Bréard, A. (2016). Logik und Universalsprache - Leibniz’ Ideen 200 Jahre später. In: Grötschel, M. u. a. (Hg.). Vision als Aufgabe: das Leibniz-Universum im 21. Jahrhundert. Berlin: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, 277-297. Breger, H. (2009). Leibniz’ binäres Zahlensystem als Grundlage der Computertechno‐ logie. In: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, 385-391. 393 Welche Projekte muss, soll, kann und darf man sich leisten? Deutscher Hochschulverband (2020). Hochschullehrer beklagen zunehmende Büro‐ kratie. In: (12.2.2020). Lehre und Forschung online. (https: / / www.forschung-und-lehre .de/ politik/ hochschullehrer-beklagen-zunehmende-buerokratie-2525/ ; 19.02.2020). Fischer, R. & B. Hufeisen (2010). 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Albert Raasch Biographische Impressionen 1 Univ.-Prof. (emer.), Dr. phil., Lehrstuhl für Angewandte Linguistik und Sprach‐ lehrforschung Französisch, Romanistisches Institut der Universität des Saar‐ landes, Saarbrücken (1973 - 1999). Koordinator des Projekts „Fremdsprachendidaktik für Grenzregionen“ (ge‐ tragen von dem Fremdsprachenzentrum des Europarats in Graz, Kulturkontakt Austria in Wien, Talenacademie in Maastricht, Goethe-Institut in München) (ab 1997); Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats dieses Projekts an der Talenacademie Nederland, Maastricht. Gründer und Wissenschaftlicher Leiter der Nationalen Agentur LINGUA (NATALI) (ab 1991), zuständig für die Europäischen Sprachförderprogramme LINGUA sowie Pilotprojekte in SOKRATES, LEONARDO und Grundtvig für die Bundesrepublik (bis 2000). Vorsitzender der Jury „Europäisches Sprachensiegel“ 2000, 2002 und 2004. Ehrenurkunde der Nationalen Agentur Bildung für Europa und des Bundesin‐ stituts für Berufsbildung für Verdienste um das „Europäische Sprachensiegel“ (12. 11. 2004). Begründer (1991) und Vorsitzender des „Sprachenrates Saar“ (bis 1999), Ehrenvorsitzender (12. 12. 2000). (ehem.) Mitglied des Wissenschaftlichen Expertenrates der Abteilung „Fremdsprachen“ im Europarat; (ehem.) Mitglied des Beirats „Sprache“ des Goethe-Instituts; (ehem.) Mitglied des Beirats des Fachverbandes Deutsch als Fremdsprache (FaDaF); (ehem.) Mitglied des Beirates „Sprache“ des BMBF. Träger der Verdienstmedaille des Saarlandes (31. 3. 2000) und der Medaille des Deutsch-Französischen Jugendwerks (DFJW / OFAJ) (13. 9. 1984). Officier de l’Ordre des Palmes Académiques (28. 2. 1984). Ehrenmitglied der Deutschen Gesellschaft für Angewandte Linguistik (GAL) (1982), des Fachverbandes Mo‐ derne Fremdsprachen (FMF), Landesverband Saar (1999), und des Fachverbandes Moderne Fremdsprachen (FMF), Landesverband Schleswig-Holstein (1. 2. 1999); Träger der Medaille der Matej-Bel Universität Banska Bystrica (Slowakische Republik) (1994). Fédération des Associations Franco-Allemandes pour l’Europe / Vereinigung Deutsch-Französischer Gesellschaften für Europa e.V.: Diplôme d’Honneur pour Services rendus à la cause franco-allemande (23. 9. 2011). Mitglied des Comité éditorial des „Journal de linguistique appliquée“, ed. Association Grecque de Linguistique appliquée, Thessalonique (bis 2013). Mitglied des Stiftungsrates der „Stiftung für die deutsch-französische kultu‐ relle Zusammenarbeit“. Veröffentlichungen zu Linguistik, Angewandter Linguistik, Sprachendi‐ daktik, Sprachenpolitik. Prof. Dr. Albert Raasch - Lyon 2018 398 Albert Raasch 1 Dieses Schriftenverzeichnis wurde der Website von Albert Raasch entnommen (https: / / sites.google.com/ site/ raaschalbert/ bibliographie-albert-raasch-2; 30.06.2020). Schriftenverzeichnis Albert Raasch 1 Themenbereich „Sprachenlernen / -lehren in Grenzregionen“ (Stand November 2019) Albert Raasch / Thomas Biegel, Die Situation der Fremdsprachen im Saarland. Beitrag zur Analyse von Fremdsprachenerwerb im deutschfranzösischen Grenzraum. Saarbrü‐ cken: Universität des Saarlandes, 1988. 72 p. (Schriften zur Angewandten Linguistik und Sprachlehrforschung, SALUS Reihe Band 2) Detlef Oppermann / Albert Raasch (Hrsg.) Sprachen-Lernen in Grenzräumen. Informa‐ tionen zur nachbarsprachlichen Erwachsenenbildung in Belgien, Frankreich (Loth‐ ringen), Luxemburg, der Schweiz (Suisse Romande) und der Bundesrepublik Deutsch‐ land (Saarland). Saarbrücken: 1988. 140 p. Albert Raasch (Hrsg.), Fremdsprachen für Erwachsene. Ausgewählte Probleme des Deutschunterrichts in Frankreich und des Französischunterrichts in Deutschland. Kolloquiumsbeiträge. Saarbrücken: Romanistisches Institut, Universität des Saar‐ landes, 1988. 42 p. Albert Raasch / Heike Altpeter / Barbara Kaiser / Christof Magar / Sabine Müller, unter Mitarbeit von Mechthild Rech (Hrsg.), Rückblicke: Französischunterricht an der Saar. Saarbrücken: Universität des Saarlandes, 1990. 192 p. (SALUS-Band 6) Albert Raasch (mit Heike Altpeter, Barbara Kaiser, Christof Magar) (Hrsg.), Fremd‐ sprachenunterricht in der Schule. Erwartungen, Konzepte und Perspektiven. Eine Europa-orientierte Diskussion im Saarland. Saarbrücken: Universität des Saarlandes, 1992. 208 p. (SALUS Band 10) Albert Raasch (mit Marie-Laure Cuny, Peter Bühler, Christof Magar, in Zusammenarbeit mit Klaus J. Mattheier) (Hrsg.), Angewandte Linguistik 1992. Schwerpunktthema: „Nachbarsprachen in Europa“. 23. Jahrestagung der Gesellschaft für Angewandte Linguistik. Kurzfassungen der Kongressberichte. Saarbrücken: Universität des Saar‐ landes, 1992. 208 p. (SALUS Band 11) Albert Raasch (mit Manfred Pelz, unter Mitarbeit von Barbara Kaiser und Christof Magar) (im Auftrag des FMF), Fremdsprachen für die Zukunft - Nachbarsprachen und Mehrsprachigkeit. Beiträge zum Bundeskongress in Freiburg (1992) des Fachver‐ bandes Moderne Fremdsprachen. Saarbrücken: Universität des Saarlandes, 1993. 320 p. (SALUS Band 12) - „Sprachenlernen an der Grenze - Mittel zu Verstehen und Verständigung.“ In: Hermann Funk und Gerhard Neuner (ed.), Verstehen und Verständigung in Europa. Berlin: Cornelsen, 1996, p. 213 - 217. Albert Raasch (ed. / coord.), Fremdsprachendidaktik für Grenzregionen. Graz: Conseil de l’Europe, Centre Européen pour les Langues Vivantes, 1997 (Bericht Workshop Nr. 19 / 97). Albert Raasch (ed.), Grenzenlos - durch Sprachen. Dossier „Beispiele guter Praxis.“ Zum Kongress „Die Sprachen unserer Nachbarn - unsere Sprachen“, Wien 1998. Saarbrücken: Universität des Saarlandes, 1998. Albert Raasch (Hrsg.), Projekt Fremdsprachendidaktik für Grenzregionen. Projektbe‐ richt. Gedruckt mit Unterstützung des Goethe-Instituts. Saarbrücken: Universität des Saarlandes, 1998. 60 p. - „Eine Region kommt zur Sprache. Eine Zusammenschau von Initiativen zur Förderung des Standortes Sar-Lor-Lux (unter besonderer Mitwirkung der Universität des Saar‐ landes).“ In: Christian Autexier u. a. (Hrsg.), Frankreich-Forum. St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag, 1998, p. 141 - 164. - „Grenzenlos - durch Sprachen.“ In: Hans-Jürgen Krumm (ed.), Die Sprachen unserer Nachbarn - unsere Sprachen. Chancen zur Diversifizierung des Sprachenangebots im Zuge der EU-Erweiterung. Wien: EVIVA, 1999, p. 63 - 91. Albert Raasch (ed.), Fremdsprachendidaktik für Grenzregionen. Konzepte, Erfahrungen, Anregungen. Saarbrücken: Universität des Saarlandes, 1999, 72 pp. Albert Raasch (ed.), Fremdsprachen - Nachbarsprachen. Erfahrungen und Projekte in Grenzregionen. Saarbrücken: Universität des Saarlandes, 2000, 68 pp. - „Fremdsprachendidaktik in Grenzregionen - Piiriregioonide voorkeeledidaktika - Foreign Language Didactics in the Border Region.“ In: Katri Hellat (ed.), Seminar Eesti Pluss, Report. Tartu: 2001, p. 13 - 17. Albert Raasch (ed.), Fremdsprachendidaktik für Grenzregionen. Konzepte, Erfahrungen, Anregungen. Saarbrücken: Universität des Saarlandes, 1999. Unveränderter Nach‐ druck 2004. Albert Raasch (ed.), Fremdsprachen - Nachbarsprachen. Erfahrungen und Projekte in Grenzregionen. Saarbrücken: Universität des Saarlandes, 2000. Unveränderter Nachdruck 2004. - Albert Raasch (mit Ruud Halink), „Entwicklung und Bedeutung einer Fremdsprachen‐ didaktik für Grenzregionen.“ Einleitung zu: CICERO, Kleine Fremdsprachendidaktik für Grenzregionen. Maastricht: Talenacademie Nederland, 2001. 400 Schriftenverzeichnis Albert Raasch - „Grenzregionen und die Mehrsprachigkeit.“ In: Kelz, Heinrich P.: Die sprachliche Zu‐ kunft Europas. Mehrsprachigkeit und Sprachenpolitik. Baden-Baden: Nomos-Verlag, 2002, p. 193 - 208. - „Fremdsprachenlernen in Grenzregionen: Perspektiven eines europaweiten Projekts für die Qualitätsentwicklung des Fremdsprachenunterrichts für Erwachsene.“ In: Hessische Blätter für Volksbildung 1-2002, p. 32 - 40. Albert Raasch, L’Europe, les frontières et les langues. Politiques linguistiques. / Europe, Frontiers and Languages. Language Policies. Strasbourg: Conseil de l’Europe, DG IV, 2002. 20 + 20 pp. - „Wie man mit Sprachen zu grenzenlosen Regionen kommt.“ In: Günther Schneider / Mo‐ nika Clalüna, Mehrsprachigkeit und Deutschunterricht. Bulletin suisse de linguistique appliquée, Herbst 2002. Neuchatel: Institut de linguistique, Université de Neuchatel, 2002, p. 27 - 35. - „Grenze, Nachbarschaft, Partnerschaft: Die Rolle der Sprache.“ In: Rudolf Emons (ed.), Sprache transdisziplinär. Forum Angewandte Linguistik Band 41. Frankfurt am Main usw.: Peter Lang, 2003, p. 95 - 99. Albert Raasch, zusammen mit Ruud Halink und Gabriele Schmitz-Schwamborn (ed.), Von der modernen Fremdsprachendidaktik zu ihren spezifischen Ausprägungen in Grenzregionen - Nachbarsprachenlernen. Vorläufige Ausgabe: Borken: Kreisschulamt, 2004. 100 pp. - „Fremdsprachendidaktik für Grenzregionen. Perspektiven eines europaweiten Pro‐ jekts.“ In: A. R., zusammen mit Ruud Halink und Gabriele Schmitz-Schwamborn (ed.), Von der modernen Fremdsprachendidaktik zur ihren spezifischen Ausprägungen in Grenzregionen - Nachbarsprachenlernen. Vorläufige Ausgabe: Borken: Kreisschulamt, 2004, p. 3 - 11. - „Grenzkompetenz - ein Weg nach Europa.“ In: Rudolf Denk (ed.), Nach Europa unter‐ wegs. Grenzüberschreitende Modelle der Lehrerbildung im Zeichen von europäischer Identität, Kultur und Mehrsprachigkeit. Herbolzheim: Centaurus Verlag, 2005, p. 119 - 130. - „Sprachen - Brücken über Grenzen? “, in: Hans-Jürgen Krumm / Paul R. Portmann-Tse‐ likas (ed.), Begegnungssprache Deutsch - Motivation, Herausforderung, Perspek‐ tiven. Schwerpunkt: Sprachenpolitik und fachbezogene Grundsatzfragen. XIII. IDT 2005 Graz. Innsbruck: Studienverlag, 2006, p. 159 - 166. - „Was wäre Europa ohne Grenzen? “, in: Jacqueline Breugnot / Markus Molz (ed.), Europa konkret ! Grenzräume als Chance für Bildungsinnovationen? Landau: Markus Knecht Verlag, 2006, p. 9 - 12. - „Que serait l’Europe sans frontières ? », in: Jacqueline Breugnot (éd.), Les espaces frontaliers. Laboratoires de la citoyenneté européenne. Bern etc. : Peter Lang, 2007, p. VII - XI. 401 Schriftenverzeichnis Albert Raasch „Grenzkompetenz - ein Weg nach Europa“, in: Ulrike Schwarz (ed.), Grenzkompetenz: Eine Qualifikation für Europa. Borken: Schulamt, 2007, p. 6 - 10. - „J’’europe, tu europes, il europe “, in: Laurent Puren et Sophie Babault (eds.), L’éducation au-delà des frontières. Paris: L’Harmattan, 2007, p. 15 - 26. - „Grenzen, Sprachen, Kulturen - und Hochschulen“, in: Agnieszka Bielawska / Krzysztof Wojciechowski (ed.), Europäischer Anspruch und regionale Aspekte. Grenzüber‐ schreitende universitäre Zusammenarbeit in der deutsch-polnischen Grenzregion angesichts der zukünftigen Herausforderungen in Europa. Berlin: Logos, 2007, p. 132 - 143. Polnische Übersetzung: - „Granice, jezyki, kultury i szkoly wyzsze“, in: Agnieszka Bielawska / Krzysztof Wojciechowski (ed.), Trans-Uni. Problemy zarzadzania mied‐ zynarodowa wspolpraca szkol wyzszych w regionach przygranicznych. Berlin: Logos, 2007, p. 144 - 154. - „Grenzkompetenz - von der Definition zur Evaluation zur Anwendung“, in: Malgorzata Bien-Lietz, Thomas Vogel (ed.), Frühstart in die Nachbarsprache. Handbuch für den Spracherwerb in der deutsch-polnischen Grenzregion. Frankfurt (Oder): Europa-Uni‐ versität Viadrina, 2008, p. 9 - 15. Albert Raasch / Eva Wessela (ed.), Europäische Nachbarschaftspolitik: Soziale Kohä‐ sion durch Sprache. SALUS Band 18 / Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen Band 142. Saarbrücken: Universität des Saarlandes / Otzen‐ hausen: Europäische Akademie, 2008. 92 p. - „Europäische Nachbarschaftspolitik: Soziale Kohäsion durch Sprache“, in: Albert Raasch / Eva Wessela (2008) (s. o.), p. 9 - 16. - „Die Funktion sprachlicher und interkultureller Kompetenzen in einer Grenzregion. Beispiel: Saar-Lor-Lux“, in: Boris Blahak / Clemens Piber (ed.), Deutsch als fachbe‐ zogene Fremdsprache in Grenzregionen. Bratislava: Vydavatel’stvo, 2008, p. 205 - 220. Wieder abgedruckt in dem Mitteilungsblatt des Gesamtverbandes moderne Fremdsprachen - Landesverband Saar (red. Gustav Dettmer), Nr. 52, Dezember 2009, 2010, p. 55 - 64. Saarländischer Rundfunk, SaarLorLüx, Aus der Lameng (CD-ROM). Folgen 1 - 50. Projektleitung: Natalie Weber. Quelle: V. Albrech / A. Raasch, Wörter französischen Ursprungs in saarländischen Dialekten. Saarbrücken: SDV, 1987. Veröffentlicht 2010. - „Im Fokus: die Sprachen. Grenzregionen rücken in das Zentrum des Interesses.“ In: Annette Kliewer / Martina Cerovska (Hrsg.), Wider den Einheitsunterricht. Deutsch‐ lernen an der Grenze. Liberec: Technische Universität, 2011, p. 5 - 14. - „ ‚Sprache‘ und ‚Mehrsprachigkeit‘: historisch-biographisch statt begrifflich-taxono‐ misch“. In: EUREGIO Maas-Rijn - Maas-Rhein - Meuse-Rhin / Education and Culture DG Lifelong Learning Programme (ed.), Euregioschool. Learning Neighbouring Lang‐ uages through Exchange (Nov. 2012) 402 Schriftenverzeichnis Albert Raasch - „Sprachenpolitik und Förderung der Nachbarsprachen“. In: Nicole Colin / Corinne Defrance / Ulrich Pfeil / Joachim Umlauf (Hrsg.), Lexikon der deutsch-französischen Kulturbeziehungen nach 1945. Tübingen: Narr Francke Attempto, 2013, p. 414 - 416. - (Interview Viktoria Will) „Verständigung und Verständnis für den anderen.“ In: BEGEG‐ NUNG. Deutsche schulische Arbeit im Ausland. 34 (2013), p. 46 - 47. - „Texte zur europäischen Bildung“, koord. A. R., mit folgenden Beiträgen: A. R., „Spra‐ chenpolitik an Grenzen und über Grenzen“ (5 - 7), Anke Tästensen, „Sprachenlernen im deutsch-dänischen Grenzland. Deutsche Schulen in Nordschleswig“ (8 - 10), Gerhard Scherer, „Von der Fremdsprache zur Umgangssprache an der deutsch-polni‐ schen Grenze“ (11 - 13), Thomas Hochleitner, „Wellenbewegungen in einer ‚jungen‘ Sprachpartnerschaft“ (14 - 16), Anemone Geiger-Jaillet, „Deutsch und Französisch in der Grenzregion am Oberrhein“ (17 - 20), Derk Sassen, „Euregiokompetenz und Eu‐ regionalisierung im deutsch-niederländischen Grenzraum“ (21 - 24). In: Europäische Erziehung 43, Heft 2 (November 2013), p. 5 - 24. - Siehe auch unten: Mehrsprachigkeit im Wissenschaftsdiskurs (2018): „Wege zum mehr‐ sprachigen Wissenschaftsdiskurs - Anregungen für Forschungen in Grenzregionen“, p. 295 - 311. - „Die Sprachen im Saarland und der Sprachenrat Saar“, in: www.sprachenrat-saar.de (2018) - „Didaktik der Grenzregionen“, in: Christiane Fäcke / Franz-Joseph Meißner (Hrsg.) Handbuch Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik. Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG, 2019, p. 469 - 473. Veröffentlichungen zu verschiedenen sprachenpolitischen, angewandt-linguistischen, literaturwissenschaftlichen und didaktischen Themen Albert Raasch (mit A. Schwinkowski), Fleurs de France. Recueil de poèmes Français. Des débuts à nos jours. Paderborn: Schöningh, 1964. 126 p. Albert Raasch (mit A. Schwinkowski), Emile Gaboriau, Le petit vieux des Batignolles. Braunschweig: Westermann, 1965. 64 + 24 p. Albert Raasch (Hrsg.), Thèmes et Variations dans la poésie Française du XVe au XXe siècle. Anthologie motivgleicher französischer Gedichte. Frankfurt am Main: Verlag M. Diesterweg, 1965. 146 p. Albert Raasch, C’est beau d’avoir connu Choix de poèmes tirés de l’anthologie „Thèmes et variations dans la poésie Française du XVe au XXe siècle“. 30-cm-Langspielplatte. Frankfurt am Main: Verlag M. Diesterweg, 1966. 403 Schriftenverzeichnis Albert Raasch Albert Raasch, Thèmes et variations dans la prose Française de Rabelais à Robbe-Grillet. Anthologie motivgleicher französischer Prosatexte. Frankfurt am Main: Verlag M. Diesterweg, 1966. 152 p. - „Interpretation einer Novelle.“ In: Die Neueren Sprachen 65 (25 NF) (1966), H. 2, p. 81 - 86. - „Gedanken zum Nouveau Roman.“ In: Die Neueren Sprachen 66 (26 NF) (1967), H. 12, p. 276 - 289. - „Zur Gestaltung des Französischunterrichs an der Realschule.“ In: Die Realschule 76 (1968), H. 5, p. 166 - 167. Albert Raasch, La préposition dans la phase. Un guide pratique. Frankfurt am Main: Verlag M. Diesterweg, 1968. 190 p. Albert Raasch, Französischer Mindestwortschatz. Mit einem Anhang: Grammatische Grundstrukturen. München: Max Hueber Verlag, 1969. Albert Raasch, Das VHS-Zertifikat für Französisch. Frankfurt am Main: Pädagogische Arbeitsstelle des Deutschen Volkshochschulverbandes, 1969. 40 p. - „Kriterien zur Bewertung von Sprachlaborprogrammen.“ In: Informationen: Sprachla‐ bors in der Erwachsenenbildung. Konferenzbericht. Marburg: Informationszentrum für Fremdsprachenforschung, 1969, p. 19 - 21. - „Französischunterricht und Sprachwissenschaft.“ In: Französisch an VHS (1969), 1, p. 3 - 5. - „Sprachlabor im französischen Sprachunterricht.“ In: Neusprachliche Mitteilungen 22 (1969), p. 180 - 181. - „Wortschatzarbeit im Französischunterricht.“ In: Französisch an VHS (1970), 1, p. 1 - 5. Albert Raasch, Das VHS-Zertifikat für Französisch. Frankfurt am Main: Pädagogische Arbeitsstelle des Deutschen Volkshochschulverbandes, 1969. 40 p. 2. Auflage (rev.), 1970. - „Zur Weiterentwicklung von Sprachentests für das Französische.“ In: Französisch an VHS (1970), 1, p. 18 - 21. - „Französischunterricht zwischen Evolution und Revolution.“ In: Echanges 1 (1970), p. 17 - 22. Ebenfalls in: Angewandte Linguistik - Französisch. Hrsg. von AALF-Kiel (Arbeitsgruppe Angewandte Linguistik Französisch). Kiel: AALF, 1970, p. 11 - 19. - „Centres d’intéret - Lernfelder. Zur Wortschatzarbeit im Französischunterricht (II).“ In: Französisch an VHS (1970), 2, p. 41 - 44. Albert Raasch (Hrsg.), Thèmes et Variations dans la poésie Française du XVe au XXe siècle. Anthologie motivgleicher französischer Gedichte. Frankfurt am Main: Verlag M. Diesterweg, 1965. 146 p. 2., durchgesehene Auflage 1970. - „Die Funktion eines diagnostischen Eignungs- und Einstufungstests für Volkshoch‐ schulkurse.“ In: Der fremdsprachliche Unterricht 17 (1971), p. 49 - 53. 404 Schriftenverzeichnis Albert Raasch Albert Raasch, Arbeitsbuch 1 zu „Französisch für Sie“. München: Max Hueber Verlag, 1971. 176 p. Albert Raasch, Remarques de Grammaire pour Germanophones. G. et J. Capelle, La France en direct, 3. Paris: Hachette, 1971. - „Der Fremdsprachentest in der Praxis des Französischunterrichts.“ In: Französisch an VHS (1971), 1, S. 10 - 15. - „Das VHS-Zertifikat Französisch: Objektivierte Leistungsmessung im Französischun‐ terricht für Erwachsene.“ In: Neusprachliche Mitteilungen 24 (1971), p. 222 - 237. - (mit H.-J. Waldow) „Tests im Französischunterricht: Analyse und Bewertung.“ In: Französisch an VHS (1971), 2, p. 57 - 66. - (mit H.-J. Waldow) „Tests im Französischunterricht: Auswertung.“ In: Französisch an VHS (1971), 3, p. 81 - 86. - „Konfrontative Gedichtinterpretation im Französischunterricht.“ In: Der fremdsprach‐ liche Unterricht 22 (1972), p. 50 - 58. Albert Raasch (mit Gerhard Nickel) (Hrsg.), Kongress-Bericht der 3. Jahrestagung der GAL e. V. Heidelberg: J. Groos Verlag, 1972. VIII + 348 p. Albert Raasch, Französisch-deutsches Lernwörterbuch. München: Max Hueber Verlag, 1972. 120 p. - „Formes nouvelles du cours de Français dans le domaine extra-scolaire.“ In: Le Français dans le Monde 87 (1972), p. 28 - 32. - „Das Zertifikat Französisch 1971 - Analyse der Ergebnisse.“ In: Zielsprache Französisch 2 (1972), p. 25 - 35. - „Fremdsprachenunterricht in den siebziger Jahren.“ In: Neusprachliche Mitteilungen 25 (1972), 2, p. 68 - 76. - (Mitautor) „Bilder im Französischunterricht.“ In: Zielsprache Französisch 2 (1972), p. 13 - 17. - „Language Workshops (Zusammenfassung eines Aufsatzes „Formes nouvelles du cours de Français dans le domaine extra-scolaire.“ In: Le Français dans le Monde.) In: Educational Exchange. 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Grafenau / Württ.: Lexika-Verlag, 1974, p. 250 - 252. Albert Raasch, Französische Strukturübungen für den Anfangsunterricht. München: Max Hueber Verlag, 1974. 92 p. Mit Kassette. Albert Raasch, Das VHS-Zertifikat für Französisch. Frankfurt am Main: Pädagogische Arbeitsstelle des Deutschen Volkshochschulverbandes, 1969. 40 p. 2. Auflage (rev.), 1970. 3. (rev.) Auflage 1974. - „Probleme der Itemanalyse bei Sprachtests.“ In: G. Nickel / A. Raasch (Hrsg.), Kon‐ gress-Bericht der 4. Jahrestagung der Gesellschaft für Angewandte Linguistik - GAL - e. V. IRAL-Sonderband. Heidelberg: Julius Gross Verlag, 1974, p. 213 - 218. - „Die Rolle der Pragmalinguistik im Fremdsprachenunterricht.“ In: Beiträge zu den Sommerkursen des Goethe-Instituts 1973. München: Goethe-Institut, s. d. (1974), p. 16 - 29. Abgedruckt in: Unterrichtswissenschaft. Beltz Verlag 4 / 1974, p. 3 - 10. - „Sprachtests. 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(Reihe Schule und Forschung) (Albert Raasch Mitarbeit) Kritische Bibliographie zur Angewandten Linguistik, Fachbe‐ reich Französisch, hrsg. von A. Barrera-Vidal und W. Kühlwein. Dortmund: Verlag L. Lensing, 1976. Albert Raasch, Lernerfolgstests Französisch. Schwerpunkt Hörverstehen. Schülerheft (68 p.), Lehrerheft (72 p.), 1 Kassette. München: Max Hueber Verlag, 1976. Albert Raasch Mitvf. und Mithrsg., AALF-Sprachprogramme für Deutsch-Französische Jugendbegegnungen. Kiel - Saarbrücken, 1976. 266 + 266 p. 406 Schriftenverzeichnis Albert Raasch Albert Raasch (Mitverf.), Lernzielbestimmung und objektivierte Leistungsmessung im französischen Anfangsunterricht. Schwerpunkt Orientierungsstufe Saar. Saarbrü‐ cken: Hochschule des Saarlandes, 1976. (masch.) Négritude. Texte zur Geschichte des Kolonialismus und seiner Überwindung. Zusam‐ mengestellt von J. v. Stackelberg. Sprachlicher Kommentar von Albert Raasch in Zusammenarbeit mit D. Schröder. Frankfurt am Main: Verlag Moritz Diesterweg, 1976. - (Mitverf.) „Actividades del Profesor de Idiomas. - Esboza de una Taxonomia.“ In: Boletín de la Asociación Europea de Profesores de Español, VII (1976), num. 14, p. 61 - 68. - „Übungsvorschläge für den Transfer im Französischunterricht.“ In: Zielsprache Fran‐ zösisch (1976), 4, p. 160 - 168. - „Eingangstests als Zulassungstests in der Fremdsprache? “ In: Clearingstelle des Arbeits‐ kreises der Sprachenzentren, Sprachlehrinstitute und Fremdspracheninstitute (AKS), Ruhr Universität Bochum, Dokumentation der 7. Arbeitstagung vom 1. und 2. Oktober 1976. Bochum: Dezember 1976, p. 20 - 26. - „Lernzielorientierte Sprachinventare im Französischen.“ In: W. Hüllen / A. Raasch / F.-J. Zapp, Sprachminima und Abschlussprofile. Frankfurt / M.: Diesterweg, 1977, p. 71 - 80. Albert Raasch (Mithrsg.), Kongress-Berichte der 7. Jahrestagung der GAL e. V. Trier 1976. Stuttgart: Hochschulverlag, 1977. 5 Bände: Band 1: Norm und Varietät. Band 2: Technologie und Medienverbund. Phonetik. Sprachtests. Band 3: Linguistik. Beschrei‐ bung der Gegenwartssprachen. Band 4: Kontrastive Linguistik und Fehleranalyse. Psycholinguistik. Band 5: Rhetorik und Stilistik. Albert Raasch (Mitautor), Sprachlehr- und Sprachlernforschung. Eine Zwischenbilanz. Koordinierungsgremium im DFG-Schwerpunkt „Sprachlehrforschung“ (Hrsg.). Kron‐ berg: / Ts._ Scriptor, 1977. III + 108 p. Albert Raasch (mit W. Hüllen und F.-J. Zapp) (Hrsg.), Sprachminima und Abschlusspro‐ file. Beiträge zur Erarbeitung von Sprachinventaren für den modernen Fremdspra‐ chenunterricht. Frankfurt am Main: Verlag M. Diesterweg, 1977. (Reihe Schule und Forschung) - „Die Rolle der Pragmalinguistik im Fremdsprachenunterricht.“ Erneut abgedruckt in: Manfred Pelz, Pragmatik und Lernzielbestimmung im Fremdsprachenunterricht. Heidelberg: Quelle und Meyer, 1977, p. 138 - 149. - „Die Problematik der Hochschuleingangstests Französisch.“ In: Jos. 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Band 6: Stilforschung und Rhetorik. Patholinguistik. Sprachtherapie. Sprecherziehung. Albert Raasch, Mitarb. in: H. F. J. Schmitt u. a., Alors, François Lehrwerk für Französisch als 1. Fremdsprache. Frankfurt am Main: Verlag M. Diesterweg, 1978. Albert Raasch (Hrsg.), Situativer Französischunterricht. Didaktisch-methodische Bei‐ träge unter besonderer Berücksichtigung der Weiterbildung. München: Max Hueber Verlag, 1978. 120 p. - (Mitverf.) „Ausbildung und Fortbildung von Fremdsprachenlehrern. Überlegungen zu einem Curriculum.“ In: Neusprachliche Mitteilungen 31 (1978), p. 142 - 165. - „Bilder in einem kommunikationsorientierten Fremdsprachenunterricht.“ In: H.v.Faber / U. Nitschke, Didacta Casablanca. Werkstatthefte für technische Unter‐ richtsmittel und Mediendidaktik, Heft 10, p. 62 - 88. - „Ein europäisches Projekt zur Förderung des Fremdsprachenerwerbs.“ In: K. Detering / R. Högel (Hrsg.), Englisch auf der Sekundarstufe I. Auswahl, Reihe B, Nr. 96. 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Maschinelle Sprachverar‐ beitung. Spracherziehung / Phonetik. Albert Raasch, Leseverstehen Französisch. Übungstexte und Tests, mit Lösungen. Mün‐ chen: Max Hueber Verlag, 1979. 72 p. - „Un ‚Un niveau-seuil‘? - Deux ‚Un niveau-seuil‘“ - Deux „Niveaux-seuils‘? “ In: Neusprachliche Mitteilungen 32 (1979), p. 157 - 161. - „Lernziele und Sprachinventare.“ In: W. Kleine (Hrsg.), Perspektiven des Fremdspra‐ chenunterrichts in der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt am Main: Diesterweg, 1979, p. 16 - 31 (Übersetzung zu „Objectifs d’apprentissage“) - (mit W. Hüllen und F.-J. 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Langues étrangères pour adultes - Schlagwortre‐ gister / Index des mots clés zu Band. Saarbrücken: Universität des Saarlandes, 1989. 216 p. (SALUS-Band 5) - „Terminologie grammaticale et compétence communicative.“ In: Jacqueline Feuillet et Daniel Thomières, L’Enseignement des Langues en Europe de l’Ouest: Quels contenus? Actes de la rencontre de Nantes (25 - 30 aout 1988). Nantes: A.P.L.V. / F.I.P.LV. - Université de Nantes, 1990. Cahiers de l’E.R.E.L.no. 3 spécial 1990, p. 98 - 106. Albert Raasch, Französisch-deutsches Lernwörterbuch. München: Max Hueber Verlag, 1972. 120 p. Neu bearbeitete Auflage 1990. - (Mitautor) „Linguistisches Glossar (D-F / F-D).“ In Lebende Sprachen 25 (1990), 2, p. 68 - 75. - „Video im Französischunterricht für Erwachsene.“ In: Helga Barthel (Hrsg.), Linguistik und Französischunterricht. Wissenschaftliche Beiträge der Karl-Marx-Universität Leipzig, Reihe Gesellschaftswissenschaften. Leipzig: Der Rektor der Karl Marx Uni‐ versität, 1990, p. 201 - 207. - (Mitautor) „Zu den Besonderheiten des Lehrens und Lernens von Deutsch als Zweiter Fremdsprache. Thesen und Empfehlungen eines Expertenkolloquiums des Goethe-In‐ stituts.“ In: Fragezeichen 6 (Lainate / Italien), 1990, p. 6 - 14. - „Zum Lehren und Lernen einer zweiten Fremdsprache. Beispiel: Deutsch.“ In: K.-Richard Bausch / Manfred Heid, Das Lehren und Lernen von Deutsch als zweiter oder weiterer 414 Schriftenverzeichnis Albert Raasch Fremdsprache: Spezifika, Probleme, Perspektiven.“ Bochum: Universitätsverlag Dr. N. Brockmeyer, 1990, p. 135 - 141. Wolfgang Kühlwein / Albert Raasch (Hrsg.), Angewandte Linguistik heute. Frankfurt am Main usw.: Peter Lang Verlag, 1990. 206 p. (Forum Angewandte Linguistik Band 20) - „Die Videokomponente in der Fremdsprachenphilologie am Beispiel der Ausbil‐ dung von Französischlehrern im Saarland.“ In: Neue Wege mit neuen Medien - Video im Fremdsprachenunterricht. 14. - 15. November 1989. Konferenzbeiträge. Karl-Marx-Universität, Leipzig, Herder-Institut: Leipzig, 1990, p. 91 - 96. - (mit Susanne Raker) „Öffnung des europäischen Binnenmarktes 1993: Neue Anforde‐ rungen im Bereich der Fremdsprachenkenntnisse? “ In: Zielsprache Französisch 22 (1990), p. 68 - 77. - „Offener Brief an einen Kultusminister, die (Angewandte) Linguistik betreffend.“ In: Neusprachliche Mitteilungen 44 (1991), p. 4 - 6. Albert Raasch / Dieter Herold / Cläre Kiupel (ed.), Fremdsprachen lehren und lernen - Perspektiven für ein Europa nach 1992. Beiträge zum Bundeskongress in Lübeck des Fachverbandes Moderne Fremdsprachen. Saarbrücken: Universität des Saarlandes, 1991. 240 p. (SALUS-Reihe Band 7) Albert Raasch / Dieter Herold / Cläre Kiupel (ed.), Fremdsprachendidaktik in der (ehema‐ ligen) DDR: die Öffnung. Beiträge zum Bundeskongress in Lübeck des Fachverbandes Moderne Fremdsprachen. Saarbrücken: Universität des Saarlandes, 1991. 164 p. (SALUS-Reihe Band 8) Albert Raasch (ed.), Peace through Language Teaching / La paix par l’enseignement des langues / Frieden durch Fremdsprachenunterricht. Papers of the UNESCO Colloque LINGUAPAX 3. Saarbrücken: Universität des Saarlandes, 1991. 206 p. (SALUS-Reihe Band 9) - „Si vis pacem, pacem para.“ In: Renate Grebin (Hrsg.), Grenzenloses Sprachenlernen. Festschrift für Reinhold Freudenstein. Berlin / London: Cornelsen / Oxford University Press, 1991, p. 275 - 286. - „Etat actuel de la recherche en didactique du Français langue étrangère.“ In: Albert Barrera-Vidal, Actes du Colloque International ‚Enseigner le Français langue seconde‘. Liège: Université de Liège, 1991, p. 13 - 36. - Les caractèrs propres à l’enseignement du Français aux Germanophones.“ in: Albert Barrera-Vidal, Actes du Colloque International ‚Enseigner le Français langue seconde‘. Liège: Université de Liège, 1991, p. 85 - 100. - „Le marché de l’emploi pour le diplomé en langues et linguistique - La situation en Europe, et particulièrement en République Fédérale d’Allemagne.“ In: André Daviault (ed.), Quelles formations pour quelles fonctions ? Actes du Colloque International de l’AFELSH, Québec, Canada. Québec: Les Editions de la Faculté des Lettres, Université Laval, 1991, p. 79 - 81. 415 Schriftenverzeichnis Albert Raasch - „L’Europe de 1993 et les Langues étrangères.“ In: Alie Toussaint-Dekker (ed.), Met Frans aan de slag. Bijdragen aan het congres georganiseerd door de sectie Frans van de Vereniging van Leraren in Levende Talen. Noordwijkerhout 1991. 's-Hertogenbosch: Katholiek Pedagogisch Centrum, 1991, p. 106 - 11. - „Les Certificats Européens de Langues.“ In: Alie Toussaint-Dekker (ed.), Met Frans aan de slag. Bijdragen aan het congres georganiseerd door de sectie Frans van de Vereniging van Leraren in Levende Talen. Noordwijkerhout 1991. 's-Hertogenbosch: Katholiek Pedagogisch Centrum, 1991, p. 115 - 118. - „L’apprentissage des langues dans l’Europe d’après 1992.“ In: Langues Modernes (Paris), LXXXV (1991), 4, p. 61 - 68. - „Perspektiven europäischer Weiterbildung.“ In: Pädagogische Arbeitsstelle des Deut‐ schen Volkshochschulverbandes (Hrsg.), Regionale Weiterbildung in Europa. Frank‐ furt / M.: PAS des DVV, 1992, p. 8 - 11. - „L’apprentissage des langues dans l’Europe d’après 1992. Aspects didactique, culturel et de politique linguistique.“ In: Jacqueline Feuillet (ed.), Apprentissage / Enseignement des langues étrangères: Motivation, besoins, contenus. Cahiers de l’EREL, no. 4. Nantes: Université de Nantes, CLAN / CRINI, 1992, p. 7 - 24. - „Die Sprachen und die Entwicklung eines europäischen Bewusstseins.“ In: Neu‐ sprachliche Mitteilungen 45 (1992), p. 226 - 235. Ebenfalls abgedruckt in: Peter H. Mettler, ‚Unkonventionelle‘ Aspekte zur Analyse von Sprache, Kommunikation und Erkenntnis. Wiesbaden: Fachhochschule Wiesbaden, 1992, p. 225 - 256. - „Arbeiten mit Video“, in: Udo O. H. Jung (ed.), Praktische Handreichung für den Fremdsprachenlehrer. Frankfurt / M. usw.: Peter Lang Verlag, 1992, p. 189 - 198. (Bayreuther Beiträge zur Glottodidaktik, Band 2). - „Konnotationen und interkulturelle Diskurskompetenz oder: Der TGV einmal anders.“ In: Gilles Dorion et al. (ed.), Le Français aujourd’hui.- Une langue à comprendre. Mélanges offerts à Jürgen Olbert. Frankfurt / M.: Moritz Diesterweg, 1992, p. 68 - 77. - „Linguistische Kompetenz, lebendige Grammatik und sprachliche Praxis. An den Voraussetzungen kann es (eigentlich) nicht liegen.“ In: Albert Barrera-Vidal et al. (eds.), Grammatica vivat. Konzepte, Beschreibungen und Analysen zum Thema ‚Fremdsprachengrammatik‘. In memoriam Hartmut Kleineidam. Tübingen: Gunter Narr, 1992, p. 42 - 57. - „Kulturspiele und Europhonie. Vorläufige Gedanken zu Interkulturalität, Sprache und Fremdsprachenunterricht.“ In: Zielsprache Französisch 24 (1992), p. 142 - 150. - „Une langue peut en cacher une autre. De la communication individuelle à la commu‐ nication sociale.“ In: Nouveaux Cahiers d’Allemand 10 (1992), p. 447 - 457. - „Der außerschulische Bereich und die Fremdsprachen.“ In: Denis Girard (ed.), Enseig‐ nement des langues dans le monde d’aujourd’hui / Language Teaching in Today’s 416 Schriftenverzeichnis Albert Raasch World.“ Actes des Etats Généraux des Langues, Paris 1989, Vol. 3. Paris: Hachette Education, 1992, p. 169 - 177. - „Les langues et le développement d’une conscience européenne. / Die Sprachen und die Entwicklung eines europäischen Bewusstseins. / Languages and the development of a European Conscience.“ In: Université de Nantes, Le Role des Langues et la Dimension Européenne. Actes de la Troisième Université Européenne d’Eté. Nantes: Université de Nantes, 1993, p. 25 - 64. - „Das EG-Programm LINGUA und die Kleineren / Mittleren Unternehmen.“ In: Grund‐ lagen der Weiterbildung 4 (1993), 6, p. 345 - 348. - „Internationalität - Leitziel des Fremdsprachenunterrichts für Erwachsene? Einige grundsätzliche Überlegungen.“ In: Volker Otto (Hrsg.), Offene VHS - neue Herausfor‐ derungen: Deutschland und Europa in der Einen Welt. Bonn: DVV, 1993, p. 87 - 92. - „Perspektiven und Vorschläge: Fremdsprachen in der Weiterbildung.“ In: Zielsprache Französisch 25 (1993), 2, p. 77 - 81. Albert Raasch, in Zusammenarbeit mit Hélène Fau (Hrsg.), Language Teaching in a World without Peace. L’enseignement des langues dans un monde sans paix. Fremdsprachenunterricht in einer Welt ohne Frieden. With the support of / avec l’aide de / mit Unterstützung der Deutschen UNESCO - Kommission, Bonn. Saarbrücken: Universität des Saarlandes, 1993. 144 p. (SALUS Band 13) - „Inter inside. Départ: Langue, Arrivée: Interlangue. Conférence d’ouverture.“ In: Actes du XXIIème Congrès UPLEGESS. Toulouse: Sup’Aero, 1994, p. 8 - 14. - „Podiumsgespräch auf dem Internationalen Deutschlehrerkongress August 1993 in Leipzig, Einleitung und Zusammenstellung.“ In: Glottodidactica 22 (1994), p. 123 - 151. - „Interkulturelle Kommunikation.“ In: Hans-Georg Arzt (Hrsg.), Europäische Qualifi‐ kation durch deutsch-französische Ausbildung? Die Bedeutung der Unterschiede nationaler Bildungssysteme für die internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit. Ludwigsburg: Deutsch-Französisches Institut, 1994, p. 51 - 66. - „Fremdsprachen: Abschlüsse und Zertifikate - Perspektive: Europa 1993 f.“ In: Fach‐ verband Deutsch als Fremdsprache (Hrsg.), Deutsch als Fremdsprache ohne Mauern. Regensburg: 1994, p. 15 - 29. (Materialien Deutsch als Fremdsprache, Heft 35). - „Interkulturelle Kommunikation“ In: Nouveaux Cahiers d’Allemand (Revue de Lingu‐ istique et de Didactique) 1 (1994), p. 123 - 138. - „Fremdsprachen-Audits“, in: Europäische Kommission (Hrsg.), LINGUA - Fremdspra‐ chen - Audits und Bedarfsanalyse. Akten des Symposiums Saarbrücken 1994. Luxem‐ burg: Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, 1994, p. 31 - 36. - „Rencontres et débats.“ In: Jean-Pierre Attal et al., Comprendre les langues, aujourd’hui. Paris: La TILV, éditeur, 1995, p. 26 - 33. 417 Schriftenverzeichnis Albert Raasch Albert Raasch, Apprentissage des Langues par les Adultes. Analyse des besoins - Pré‐ sentation de nouveaux résultats. Sarrebuck: Université de la Sarre, 1995. (Commission scientifique de l’AILA). 88 p. Albert Raasch (mit Johannes Gordesch), Wissensvermittlung und Informationstechno‐ logien in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Ein Gemeinschaftsprojekt der Universität Potsdam und der Universität des Saarlandes, Saarbrücken. Frankfurt / M.: Peter Lang Verlag, 1995. VI + 310 p. - „La place du linguistique dans le processus d’apprentissage interculturel / Sprachver‐ mittlung im interkulturellen Lernprozess.“ In: Deutsch-Französisches Jugendwerk (Hrsg.) / Office franco-allemand pour la Jeunesse (éd.), Fremdsprache - Partner‐ sprache / Langue étrangère - langue du partenaire. Baden-Baden: Nomos, 1995, p. 77 - 87. - „Wie kann der Fremdsprachenunterricht in der Orientierungsstufe an den Kenntnissen und Erfahrungen der Schüler im Fremdsprachenunterricht in der Grundschule an‐ knüpfen? “ In: FMF Saar (Hrsg.) Mitteilungsblatt 38 (Nr. 108), September 1995, p. 12 - 17. - „LINGUAPAX, un projet fascinant, difficile, prometteur.“ In: Centro UNESCO de Catalunya, LINGUAPAX IV. Barcelona 1995, p, 67 - 71. - „Qualität und Qualitätssicherung im Sprachenunterricht der Erwachsenenbildung“. In: Deutsches Institut für Erwachsenenbildung (Hrsg.), Qualität in der Weiterbildung. Frankfurt / M.: DIE, 1995, p. 71 - 73. (Materialien für Erwachsenenbildung 3). Albert Raasch (mit Gustav Dettmer, Barbara Kaiser, unter Mitarbeit von Kristina Barne‐ wold, Monika Heusinger) (Hrsg.), Frühbeginn Französisch. Saarbrücken: Universität des Saarlandes, 1995. 165 p. (SALUS Band 14) Albert Raasch (berat.). Wörterbuch Deutsch - Französisch, Französisch - Deutsch. Köln: Tiris Verlag o. J. (1995). 512 p. - „Las lenguas extranjeras en una educación moderna y democrática.“ In: Sociedad Chilena de Lingüística, EL PLURALISMO LINGUISTICO, LA EDUCACION Y EL DESARROLO NACIONAL. Santiago 1996, p. 17 - 25. - „Auf dem Wege zu einer sprachenpolitischen Grundlegung. Sprachenunterricht in der Weiterbildung.“ In: DIE III / 1996, p. 24 - 26. - „Die Fremdsprachendidaktik in einer Humanistischen Curricularen Planung.“ In: As‐ sociacao Brasileira de Associacoes de Professores de Alemao / Universidade Estadual de Campinas (ed.), III Congress Brasilero de Professores de Alemao: Campinas, 1996, p. 34 - 51. - „Las lenguas extranjeras en una educacion moderna y democrática.“ In: Leopoldo Saez Godoy et al., El Pluralismo Lingüístico, la educación y el desarrollo nacional. Actas. Literatura y Lingüística 1 (1996). Santiago 1996, p. 17 - 25. 418 Schriftenverzeichnis Albert Raasch - „Contribution de la Linguistique à la promotion du discours pacifique.“ In: Denis Cun‐ ningham / Michel Candelier, LINGUAPAX V. Belgrave (Australia): FIPLV / AFMLTA, 1996, p. 93 - 97. - „Interview mit A. R. zum Thema ‚Handlungsorientierung im Fremdsprachenunter‐ richt.‘“ In: Praxis des neusprachlichen Unterrichts 44 (1997), p. 339 - 345. - (Mitverf.) „Deutsch als Fremdsprache: 24 vermittlungsmethodische Thesen und Emp‐ fehlungen.“ In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 23 (1997), p. 377 - 393. - „Besser dicht dabei als vis-à-vis. Impulse für das Lehren und Lernen von Fremdsprachen in Europa: Ein Projekt über Grenzen.“ In: Fremdsprache Deutsch, Sondernummer II / 1997 („Trends 2000“), p. 34 - 35. Albert Raasch (Hrsg.), Sprachenpolitik Deutsch als Fremdsprache. Länderberichte zur internationalen Diskussion. Amsterdam / Atlanta, G.A.: RODOPI, 1997. 104 p. - „Erwachsenenbildung, Qualitätssicherung und Sprachtests.“ In: Dietrich Eggers, Sprachandragogik. Frankfurt / M. usw.: Peter Lang Verlag, 1997, p. 31 - 44. - „Was leisten Selbsteinschätzungstests? “ In: Monica Gardenghi / Mary O’Connell (Hrsg.), Prüfen, Testen, Bewerten im modernen Fremdsprachenunterricht. Frankfurt a. M. usw.: Peter Lang Verlag, 1997, p. 37 - 48. - „Zertifizierung in den Fremdsprachen: eine Herausforderung an die Didaktik.“ In: Deutsches Institut für Erwachsenenbildung (Hrsg.), REPORT (Literatur- und For‐ schungsprojekt Weiterbildung), Nr. 40 (Dezember 1997), p. 84 - 93. - „Sprachverwendung als System. Erwartungen an die Sprachbeschreibung.“ In: G. Holtus / J. Kramer / W. Schweickard, Italica et Romanica. Festschrift für Max Pfister zum 65. Geburtstag. Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 1997, Band 3, p. 423 - 434. - „Lernen von Sprachen: Diskussion und Perspektiven.“ In: Michael Müller-Verweyen, Neues Lernen, selbstgesteuert, autonom. München: Goethe-Institut, 1997, p. 9 - 31. - „Les langues étrangères: Les bases d’une communication démocratique. / Lenguas extranjeras: Bases de una comunicación democrática.“ Résumé de l’intervention / Resumen de la ponencia. In: Ambassade de France en Argentine (éd.) , „Union Euro‐ péenne - Mercosur. Le Role des langues étrangères dans le processus d’intégration: Coopération et Plurilinguisme. Programme ‚Croix du Sud‘. Actes. Ambassade de France, Coopération Franco-Régionale des Pays du Cone Sud / Ministerio de Cultura y Educación Argentino. Buenos Aires, 1997. Albert Raasch (in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut München) (Hrsg.), Languages: Ways towards peace. Langues: Destination Paix. Sprachen: Wege zum Frieden. Saarbrücken: Universität des Saarlandes, 1997. 176 p. (SALUS Band 15) - „Ein Plädoyer für eine vielfältige Welt der Fremdsprachen, gerade im berufsorientierten Bereich.“ In: Glottodidactica Vol. XXVI (Poznan 1998), p. 225 - 233. 419 Schriftenverzeichnis Albert Raasch - „Mehrsprachigkeit in Europa: neue Konzepte und neue Fremdsprachenlernpro‐ gramme.“ In: Université d’Oran, IMAGO 1 (1998) („Interculturalité et Didactique“), p. 63 - 74. - (mit Björn Kettner) “ ‚Et si l’on utilsait HTML? ‘ Réflexions et premières expériences d’un projet en initiation à la linguistique.“ In: Revue Internationale d’éducation 18 (1998), p. 93 - 100 („Les nouvelles technologies“) - „Ein Plädoyer für das Französische im Primarbereich.“ In: Fremdsprachen Frühbeginn (FF), 1 (1998), p. 22 - 26. - „Der Sprachenrat Saar.“ In: Jochen Pleines (Hrsg.), Sprachen und mehr. Globale Kommunikation als Herausforderung. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, 1998, p. 114 - 120. - „Durch Sprache(n) nach Europa.“ In: Udo O. H. Jung (Hrsg.), Praktische Handreichung für Fremdsprachenlehrer. Zweite, verbesserte und erweiterte Auflage. Frankfurt am Main usw.: Peter Lang Verlag, 1998, p,. 5 - 9 (Bayreuther Beiträge zur Glottodidaktik, Band 2). - „Ein Plädoyer für die Sprachenpolitik und für eine vielfältige Welt der Fremdspra‐ chen.“ In: Goethe-Institut Buenos Aires (Hrsg.), Deutschunterricht in den Ländern des Mercosur. Ein Beitrag zum Plurilinguismus im Bildungswesen. Buenos Aires: Goethe-Institut, 1998, p. 15 - 21. - „Vorüberlegungen für eine sprachenpolitische Meinungsbildung.“ In: Armin Wolff / Dagmar Blei (Hrsg.), DaF für die Zukunft. Eine Zukunft für DaF. Fachverband Deutsch als Fremdsprache. Materialien Deutsch als Fremdsprache 44, 1998, p. 9 - 15. - „Die heutige und zukünftige Bedeutung der deutschen Sprache auf der Welt.“ In: Deut‐ sche Auslandsgesellschaft (ed.), Zukunft der deutschen Sprache in Nord- und Nord‐ osteuropa / Bedeutung der nord- und nordosteuropäischen Sprachen für Deutschland. Lübeck: Deutsche Auslandsgesellschaft, 2000, p. 32 - 38. - „Mehrsprachigkeit - und was wir in Europa dafür tun (könnten). Fragen interessierter Studierender und einige Antworten aus persönlicher Sicht.“ In: FLUL 29 (2000), p. 146 - 158. - „Globalisierung - eine neue Identität? “ In: Fu Jen Universität (ed.) Globalisierung und Identität. Taiwan Fu Jen Universität, Abteilung für Deutsch, 2001, p. 1 - 13. - „Hoch-Sprache und europäische Sprachförderprogramme.“ In: Konrad Ehlich u. a. (Hrsg.), Hochsprachen in Europa. Entstehung, Geltung, Zukunft. Freiburg im Breisgau: Fillibach, 2001, p. 365 - 376. - „Deutsch als Fremdsprache und Fremdsprachenphilologie: Quousque tandem? “ In: Claus Altmayer / Roland Forster, Deutsch als Fremdsprache: Wissenschaftsanspruch - Teilbereich - Bezugsdisziplinen. Frankfurt: Peter Lang Verlag, 2002, p. 19 - 41. Albert Raasch, Zertifikatswortschatz Französisch. Ismaning: Max Hueber Verlag, 2/ 2002, 144 p. 420 Schriftenverzeichnis Albert Raasch - „Unser Ziel: ein mehrsprachiges Europa.“ In: ARCTURUS, 1-2002. Helsinki: AUE-Stif‐ tung, 2002, p. 118 - 125. - „Was können wir für Deutsch tun, und was tut Deutsch für uns? “. In: Yoshito Taka‐ hashi, Neue Beiträge zur Germanistik, Band 1. (Internationale Ausgabe von „Doitsu Bungaku“ 109). München: Iudicium, 2002, p. 12 - 135. - „Der Europäische Referenzrahmen für Sprachen: Hilfe, Herausforderung und Verpflich‐ tung. Überlegungen zur Situation des Französischunterrichts.“ In: Trait d’Union (Klett Magazin) 4 (2003), 1, p. 8 - 9. - Albert Raasch, Französisch ganz leicht - Wortschatzbox. Ismaning: Max Hueber Verlag, 2003. - „Welche Zukunft hat das Europäische Sprachenportfolio für Weiterbildungseinrich‐ tungen in Deutschland? “ In: Berlin: Bundesministerium für Bildung und Forschung, 2003, p. 107 - 110. - „Sprachkonzept, Sprachvermittlung und Sprachenpolitik.“ In: M. Schmeling / Sandra Duhem (Hrsg.), Sprache und Identität in frankophonen Kulturen. Langues, identité et francophonie. Opladen: Leske + Budrich, 2003, p. 209 - 222 (Frankreich-Forum. Jahrbuch des Frankreichzentrums der Universität des Saarlandes Band 4). - „Europa uf dem Weg zur Mehrsprachigkeit? “ In: E. Hammes-Di Bernardo / P. Ober‐ huemer (ed.), Startchance Sprache. Hohengehren: Schneider, 2003, p. 104 - 117. - „Benotungspraxis - eine nuancierte Stellungnahme“, in: Fremdsprachen Frühbeginn (FF) 6-2003, S. 17 - 18. - „Alles Lexikon oder was? “ Ruhr-Universität Bochum: AKS Sprachen, Newsletter des AKS, Herbst 2003, S. 1 - 2. - „Linguistique et Interculturalité dans le contexte économique.“ In: Ludmila Mesková (ed.), Interkultúrna komunikácia. Acta linguistica no.5. Banská Bystrica: Univerzita Mateja Bela v Banskej Bystrici, Ekonomickà fakulta, 2003, p. 10 - 12. - „Ältere Menschen und das Sprachenlernen.“ In: EUROPE’AGE 14 (1), 2003, p. 5-15; vgl. 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St.Ingbert: GLEV / EPA (s. d.), p. 49 - 56. - „Sprachenpolitik ist ‘in’ - endlich! “, in: Claus Altmayer, Roland Forster und Frank Thomas Grub, Deutsch als Fremdsprache in Wissenschaft und Unterricht: Arbeits‐ felder und Perspektiven. Frankfurt / M. usw.: Peter Lang, 2004, p. 415 - 432. - Interview „Sprachen lernen im Alter: Anknüpfen an das Lebenswissen“, in Deutsches Ärzteblatt 17 vom 23. April 2004, Ausgabe A, p. A 1189 - 1190. Dasselbe in: Zahnärzt‐ liche Mitteilungen 24 vom 16. 12. 2004, p. 94 - 95. Albert Raasch mit Volker Borbein, Marie-Claire Lohéac-Wieders, Waltraud Schleser, Facettes Grammatik, zum Nachschlagen zu Band 1 und 2 mit Zertifikatswortschatz. Ismaning: Max Hueber Verlag, 2004, 196 p. - „Politik für Sprachen ist Politik für Europa. Ausführungen zur Angewandten Sprachen‐ politik.“ In: Deutsch-taiwanische Hefte - Journal für deutsche Studien 8 (2005), p. 146 - 154. - „Damit uns das Hören nicht vergeht Oder: Auch ein Audit ist nicht mehr, was es einmal war.“ In: Eva C. van Leewen (Hrsg.), Sprachenlernen als Investition in die Zukunft. Wirkungskreise eines Sprachlernzentrums. Festschrift für Heinrich P. Kelz zum 65. Geburtstag. Tübingen: Gunter Narr, 2005, p. 289 - 305. - „Europa auf dem Wege zur Mehrsprachigkeit? Politische Dimensionen des Sprachener‐ werbs.“ In: Birgit Dippe, Petra Blumrich, Stefanie Fischer (Hrsg.), Dokumentation der Fachtagung „Grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Kindertageseinrichtungen und Grundschulen“, 3. November 2005 in Görlitz. Görlitz: Euro-Schulen Görlitz, 2005, p. 8 - 19. - „Für Europa lernen - mit Europa lernen - von Europa lernen.“ In: FMF Landesverband Niedersachsen, Mitteilungsblatt 20 (2), Dezember 2005, Hannover 2005, p. 4 - 16. - „Conditions du succès de l’apprentissage d’une langue étrangère à l’école: le con‐ texte franco-allemand. “ In: Jacqueline Feuillet (coord.), Apprentissage précoce d’une langue étrangère et bilinguisme. Nantes: Université de Nantes, Centre de Recherches sur les Identités Nationales et l’Interculturalité, 2005, p. 61 - 77. - „Cohésion sociale, politique linguistique et Linguapax.“ In: Denis Cunningham, Rein‐ hold Freudenstein, Cecilia Odé (ed.), Languages Teaching: A Worldwide Perspective. Belgrave (Australia): FIPLV, 2006, p. 111 - 122. - „Frieden durch Sprache. ‚Linguapax‘ - Impulse für einen Fremdsprachenunterricht für den Frieden.“ In: EINS - Entwicklungspolitik Information Nord-Süd 18-19, 2006, p. 49 - 51. - „Für Europa lernen - mit Europa lernen - von Europa lernen.“ In: Der Europäische Bund für Bildung und Wissenschaft (EBB-AEDE) (2006), http: / / www.ebb-aede.com/ Materi al/ EE/ ee1006.pdf. 422 Schriftenverzeichnis Albert Raasch - „Sprachen lernen und lehren ist sprachenpolitisch handeln. Gedanken und Informa‐ tionen zum UNESCO-Projekt ‚LINGUAPAX’.“ In: Christoph Ehlers (coord.), Magazin 17 (Diciembre 2006). Sevilla: Asociación de Germanistas de Andalucía, Federación de Asociaciones de Germanistas en España, Goethe-Institut. - „Albert Raasch im Gespräch: Die Suche nach einem Grundwortschatz“. In: französisch heute 37 (2006) 4, p. 348 - 357. - „Für Europa lernen - mit Europa lernen - von Europa lernen.“ In: Revue LAROS (Faculté des Lettres, des Langues et des Arts, Oran, Algérie) 4 - Décembre 2006, p. 119 - 128. - „Empathetic communication.“ John Keast (ed.), Religious diversity and intercultural education: a reference book for schools. Strasbourg: Council of Europe, 2007, p. 67 - 72. - “The dialogue approach.“ In: John Keast (ed.), Religious diversity and intercultural education: a reference book for schools. Strasbourg: Council of Europe, 2007, p. 91 - 93. - „Sprachenpolitik: weiterhin ein wichtiges Thema.“ In: Neue Beiträge zur Germanistik (Internationale Ausgabe von „Doitsu Bungaku“), herausgegeben von der Japanischen Gesellschaft für Germanistik, München: Iudicium, 2007, Band 6, Heft 2, p. 74 - 90. - „Von Baden-Württemberg nach Europa und zurück. Sprachenlernen und Sprachen‐ lehren als sprachenpolitisches Handeln.“ (Erweiterte Fassung eines Vortrags an der Pädagogischen Hochschule Freiburg). In: L’enseignement bi-plurilingue: Education, compétences, stratégies d’apprentissage. SYNERGIES (Revue du GERFLINT), Numéro 1, Année 2008, p. 21 - 40. - „Ältere Menschen, das Sprachenlernen und Europa.“ In: Ulrike Schröder (ed.), Blick‐ punkt Sprachen: Entwicklungen, Projekte, Diskussionen. Impuls 33, Leonardo da Vinci. Bonn: Nationale Agentur Bildung für Europa beim Bundesinstitut für Berufs‐ bildung, 2008, p. 118 - 128. - „Auch Sprachen müssen sich Gehör verschaffen. Der Sprachenrat Saar.“ In: Thomas Grimm und Elisabeth Venohr (ed.), Immer ist es Sprache. Mehrsprachigkeit - Inter‐ textualität - Kulturkontrast. Festschrift für Lutz Götze zum 65. Geburtstag. Frankfurt am Main usw.: Peter Lang, 2008, p. 211 - 224. - „Autonomie im Fremdsprachenunterricht.“ In: Kazimiera Myczko, Barbara Skowronek, Władysław Zabrocki (ed.), Perspektywy glottodydaktyki i językoznawstwa. Tom jubi‐ leuszowy z okazji 70. urodzin Profesora Waldemara Pfeiffera. Poznań: Wydawnictwo Naukowe UAM, 2008, p. 275 - 293. 423 Schriftenverzeichnis Albert Raasch Internet-Publikationen Albert Raasch, Sprachenrat Saardie ersten 10 Jahre. Eine kleinenicht nur persön‐ liche- Dokumentation 1991-2001. 2013: Internet, Homepage „Sprachenrat Saar“ („Ar‐ chiv“) (http: / / www.sprachenrat-saar.de/ index.php? option=com_content&view=artic le&id=47%3Adokumentation&Itemid=15) Homepage des Projekts „Language and Borders (LAB)“, Talenacademie Nederland, Maastricht: www.labsite.org Reihe „Interviews: Albert Raasch im Gespräch mit…“ (in deutscher Sprache mit Überset‐ zungen in das Englische und Französische) - Hans Bächle Studiendirektor, Fachleiter für Französisch in Neunkirchen / Saarland. Fortbildner am Landesinstitut für Pädagogik und Medien, Saarbrücken. Lehrbeauf‐ tragter an der Universität des Saarlandes, Lehrwerkautor. Seit 2007: Direktor des Deutsch-Französischen Gymnasiums Saarbrücken 424 Schriftenverzeichnis Albert Raasch Herausgeber und Herausgeberin Prof. Dr. Thomas Tinnefeld Erstes Staatsexamen in den Fächern Französisch und Englisch und Promotion zum Dr. phil. mit einer Arbeit zur Syntax des Journal officiel an der Universität Duisburg. Nach Tätigkeiten außerhalb des Hochschulbereiches von 1993 bis 2005 wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lektor für Französisch am damaligen Sprachlehrzentrum der Georg-August-Universität Göttingen, ab 1995 zusätz‐ lich Lehrbeauftragter für französische und spanische Sprachwissenschaft am dortigen Romanischen Seminar und ab 2004 wissenschaftlicher Mitarbeiter (Kooptierung). Dort ab 2003 auch Tätigkeit als Prüfer in Staatsexamina und Magisterprüfungen. Von 2005 bis 2008 Gastprofessor in Taiwan. Im Jahre 2008 Ruf auf die W3-Professur für Angewandte Sprachen der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes. Herausgeber des weltweit ausgerichteten Journal of Linguistics and Language Teaching. Wissenschaftlicher Leiter der internationalen Saarbrücker Fremdsprachentagungen. Gastvorträge in Europa und Asien. Zahlreiche Buch- und Aufsatzpublikationen zur Linguistik und Fremdsprachendidaktik des Fran‐ zösischen, Englischen, Deutschen und Spanischen. Träger des Straßburg-Preises der Stiftung F.V.S. Dr. Bärbel Kühn Studium der Literatur- und Sozialwissenschaften an den Universitäten Frank‐ furt / Main, Bochum und Münster. 1. und 2. Staatsexamen. Promotion im Fach Literaturwissenschaften. Dozentin für Deutsch als Fremdsprache an Volkshochschulen und den Goethe-Instituten Frankfurt, Helsinki und Bremen. Projektreferentin in der Zentralverwaltung des Goethe-Instituts München. Von 1999 bis 2015 Geschäftsführerin des Sprachenzentrums der Hochschulen im Land Bremen. Seitdem: Koordinatorin der Aktivität Arbeit mit e-Portfolios im Bereich Training and Consultancy des europäischen Sprachenzentrums des Eu‐ roparats in Graz, Veröffentlichungen zum Thema Autonomes Lernen mit dem Eu‐ ropäischen Sprachenportfolio und Weiterbildungsseminare zu diesem Thema in Armenien, China, Italien, England, Frankreich, Japan, Lettland, Montenegro und Tschechien. Vorsitzende des Sprachenrats Bremen, Senior Researcher im Bereich Mehrsprachigkeit an der Technischen Universität Darmstadt, Lehraufträge im Bereich Neue Literatur im Fach Literaturwissenschaften an den Universitäten Bremen und Frankfurt/ Main. Ehrung des Französischen Bildungsministeriums: Chevalier dans l’Ordre des Palmes académiques. Ehrung des Arbeitskreises der Sprachenzentren als Wegbegeleiterin. Prof. Dr. Albert Raasch 2020 426 Herausgeber und Herausgeberin Beiträger und Beiträgerinnen in alphabetischer Reihenfolge Pr Peter Blumenthal Peter Blumenthal, professeur émérite de Linguistique des langues romanes à l’université de Cologne, a enseigné, en dehors de l’Allemagne, dans plusieurs universités parisiennes ainsi qu’au Canada (Laval) et au Danemark (Aarhus). Il s’intéresse particulièrement à la stylistique cognitive, à la linguistique contras‐ tive (comparaison entre les langues romanes et l’allemand), à la sémantique quantitative et à la lexicographie. Publications récentes : il est coauteur du Wörterbuch der italienischen Verben - Dizionario dei verbi italiani, éd. digitale Nürnberg, 2017, codirecteur de Études diachroniques du français et perspectives sociétales (2018, Peter Lang), de Du quantitatif au qualitatif en diachronie : prépositions françaises (Langages 206, 2017) et de Recherches linguistiques en Allemagne (Cahiers de lexicologie 112, 2018). Dr. Rudi Camerer Leiter elc - European Language Competence, Frankfurt am Main. Langjährige Tätigkeit in Erwachsenenbildung und Sprachkompetenz-Testen. (2020) (mit Jürgen Quetz) Übersetzung Begleitband zum GeR. Stuttgart: Ernst Klett. Ver‐ öffentlichungen u. a. (2012) (mit Judith Mader): Intercultural Competence in Business English. Berlin. Cornelsen. (2014) Testing intercultural competence in (International) English: Some basic questions and suggested answers. CercleS 2014; 4(1): 207-236. (2016) (mit Judith Mader) A-Z Intercultural Communication. Brighton. Academic Study Kit. Prof. Dr. Uwe Dethloff Bis zu seiner Pensionierung im Jahre 2005 Apl. Professor für romanische Philo‐ logie an der Universität des Saarlandes mit den Schwerpunkten Französische Literaturwissenschaft und Grammatikographie. Von 1991 bis 1994 Ordentlicher Professor für Lettres Modernes an der Université des Sciences Humaines de Strasbourg. Gastprofessuren an den Universitäten Missouri (Columbia, USA, 1978/ 1979; 1987; 1997), Orléans (1988 bis 1991) und Tours (1996; 1998). Nach dem Staatsexamen 1968 (Latein / Französisch) Promotion an der Universität des Saarlandes mit einer Arbeit zur Romantechnik Gustave Flauberts (1974). Dort auch Habilitation (1986) im Fach Romanische Philologie mit einer Arbeit zur Literarischen Demontage des bürgerlichen Patriarchalismus im französischen Roman des 19. Jahrhunderts (Straßburg-Preis der Stiftung F.V.S., Hamburg). Bis 2009 Koordinator der Arbeitsgruppe Französisch, Italienisch, Spanisch zur Reform der Lehramts- und Magisterstudiengänge an den Universitäten Mainz, Trier und Koblenz-Landau und an der Universität des Saarlandes, Saarbrücken. Buchveröffentlichungen u. a. zum französischen Realismus, zu G. Flaubert und H. de Balzac, zum Thema Literatur und Utopie und (mit Horst Wagner) zur neufranzösischen Grammatik. Prof. Dr. Eva Martha Eckkrammer 1987-1991 Studium der Romanistik (Spanisch, Portugiesisch, Französisch, Italie‐ nisch) an der Universität Salzburg (Magisterabschluss). 1994 Promotion, 2005 Verleihung der venia docendi für Romanische Philologie (Sprachwissenschaft). Seit 2009 Inhaberin des Lehrstuhls für Romanische Sprach- und Medienwissen‐ schaft am Romanisches Seminar der Universität Mannheim. Schwerpunkte der Forschungsarbeit in der Textlinguistik: kontrastiv-textologische Studien zu medialen Textsorten, kulturspezifische Vertextungskonventionen, Multimoda‐ lität von Textprodukten, Hypertextlinguistik, Medienwechselphänomene; in der Fachkommunikationsforschung: schriftsprachliche Experten-Laien-Kommuni‐ kation aus diachronischer und synchronischer Perspektive, Divulgationsstrate‐ gien, sprachvergleichende Fachtextsortenlinguistik, Wirtschaftsterminologie; in der Übersetzungswissenschaft: Übersetzungsvergleich und -kritik, Über‐ setzungsplanung im Umfeld minoritärer Sprachen; in der Kreolistik: Kreolsprachen, v. a. Papiamentu/ o, Diachronie und Synchronie, Sprachausbaumaß‐ nahmen, Standardisierungs- und Normalisierungsprozesse. Dr. Karl-Heinz Eggensperger Bis zu seiner Pensionierung stellvertretender Leiter des Geschäftsbereichs Sprachen am Zentrum für Sprachen und Schlüsselkompetenzen der Univer‐ sität Potsdam sowie Bereichsleiter Französisch. Seit 1996 Mitglied der UNI‐ cert©-Kommission und in diesem Kontext ebenfalls Gutachter. Zentrale Betäti‐ gungsfelder in den Bereichen Fachsprachenkurse, Curricula und multimediale Lehr- und Lernmaterialien für den Studiengang Deutsches und Französisches Recht und zur rezeptiven Mehrsprachigkeit in Französisch, Italienisch und Spanisch. Koordinator der Arbeitsgruppe C-Test im Verbund von zwölf Univer‐ sitäten und Hochschulen sowie Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der In‐ dustrie- und Handelskammer von Paris und der Île-de-France. Zudem Mitarbeit in den EU-Projekten HEAL und SEAGULL. 428 Beiträger und Beiträgerinnen Prof. Dr. Hermann Funk Lehramtsstudium Englisch, Deutsch und Geschichte, 1. und 2. Staatsex‐ amen, Habilitation in Fremdsprachendidaktik. Lehrstuhlvertretung 1999 am Herder-Institut der Universität Leipzig. Seit 2000 Lehrstuhl für Didaktik und Methodik Deutsch als Fremd- und Zweitsprache an der Friedrich-Schiller-Uni‐ versität Jena, Institut für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache & Interkulturelle Studien. Gastprofessuren in Riga, Lettland, Middlebury, Vermont und Kobe, Japan. Vizepräsident, (2007-2009) und Präsident des Gesamtverbandes Moderne Fremdsprachen (2009-2011). Direktor der Arbeitsstelle Lehrwerkforschung und Materialentwicklung (ALM) seit 2011 (www.alm.uni-jena.de). 2019 Seni‐ orprofessur an der FSU Jena. Wissenschaftlicher Koordinator der ERFA-Wirt‐ schaft-Sprache (seit 2005; www.erfa-wirtschaft-sprache.de). Seit 2011 Vorsit‐ zender des Wissenschaftlichen Beirats der Deutschen Auslandsschulen (ZfA). Seit 2016 Mitglied des Beirats der Deutschen Welle und der Bewertungskom‐ mission des Bundesinnenminsteriums für das BAMF. Lehr- und Forschungs‐ schwerpunkte: Allgemeine Fremdsprachendidaktik und -methodik, Lehrmateri‐ alforschung und -entwicklung, Mentales Lexikon und Grammatik im Unterricht. Prof. Dr. Heidrun Gerzymisch Diplom-Übersetzerin, B.A. (BusAdm), Dr. phil. (habil.) Übersetzungswissen‐ schaft (Universität Heidelberg), Associate Professor am Monterey Institute of International Studies (1987 / 1988, 1990, 1992), Inhaberin des Lehrstuhls Sprach- und Übersetzungswissenschaft an der Universität des Saarlandes (1993-2009). Gastprofessuren für Übersetzungswissenschaft an den Universitäten Prag, Graz und Wien sowie Dozentin für Sprach- und Übersetzungswissenschaft an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW (2008-2018). EU-Projekte und Euro-conferences in Arhus, Prag und Wien (1994-2007), Vi‐ zepräsidentin der CIUTI (1997-2002), Vorstand ATRC Forschung und Weiter‐ bildung (Universität des Saarlandes) seit 1994, Gründungsmitglied der Deut‐ schen Gesellschaft für Übersetzungs- und Dolmetschwissenschaft DGÜD. Forschungsfelder und Publikationen im Bereich Textlinguistik, Fachsprache und Übersetzungswissenschaft (https: / / portal.dnb.de/ opac.htm? query=Heidru n+Gerzymisch&method=simpleSearch). Prof. Dr. Hans W. Giessen Studium an der Freien Universität Berlin, der Universität des Saarlandes in Saarbrücken und der Université de Metz, Frankreich. Promotion und Habili‐ tation an der Universität des Saarlandes, dort seither apl. Professor. Projekt‐ 429 Beiträger und Beiträgerinnen tätigkeit unter anderem für BMBF, DFG, EU-Kommission (mit dem ersten EU-Projekt „Sprachenangebotsverbund Saarland-Lothringen“ unter der Leitung von Albert Raasch). Zwei Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Rahmen eines DFG-Projekts an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, 2011 - 2014 Professor in Częstochowa, Polen. Seit 2015 an der Universität Helsinki, Finnland, seit 2018 mit dem finnischen Titel eines Helsingin yliopiston dosentti. Seit 2018 Professor an der Jan Kochanowski Universität in Kielce, Polen. Chevalier de l’ordre national du mérite. Prof. Dr. Lutz Götze Studium der Germanistik, Anglistik und Niederlandistik an der Universität Leipzig. Lektor für deutsche Sprache in Conakry (Rep. Guinea). Von 1968-1981 Mitarbeiter des Goethe-Instituts München. 1978 Promotion zum Dr. phil. an der Albrecht-Ludwig-Universität Freiburg i. Br. mit dem Thema "Valenzbeschrei‐ bung deutscher Verben und Adjektive". 1981 Ruf an die Ruhr-Universität Bochum. Von 1992 bis 2008 Professor für Deutsch als Fremdsprache an der Uni‐ versität des Saarlandes, seit 2008 Professor im Ruhestand. Vertrauensdozent der Friedrich-Ebert-Stiftung. Ehrenvorsitzender des Sprachenrates Saar. Mitglied des P.E.N. International. Schwerpunkte: Funktionale Grammatik; Kulturtheorie, Hirnforschung und Spracherwerb; interkulturelles Lernen; Rechtschreibung der deutschen Sprache. Prof. Dr. Norbert Gutenberg, M.A. Sprecherzieher (DGSS). Bis 2016 Leiter des Fachgebiets Sprechwissenschaft und Sprecherziehung an der Universität des Saarlandes (UdS), bis 2019 Vorsitzender des Sprachenrats Saar und Leiter des Masterstudiengangs Unternehmenskom‐ munikation und Rhetorik an der UdS und der Universität Koblenz-Landau, seit 2019 Leiter des Masterstudiengangs Sprechwissenschaft und Sprecherziehung‘ der UdS. Autor zahlreicher Monographien und Aufsätze zu Sprechwissenschaft, Rhetorik, Medien, ästhetischer Kommunikation, Didaktik von Sprache und Sprechen. Mitherausgeber der Saarbrücker Schriften zur Rhetorik und der in Berlin erscheinenden Reihe Rhetorik in Europa. Ko-Leiter mehrerer interdiszipli‐ närer Forschungsprojekte (phonologische Bewusstheit, sprachliche Schlüssel‐ kompetenzen bei Hauptschulabsolventen, Verständlichkeit von Hörfunknach‐ richten, akademische Beredsamkeit, Rhetorik und Wissenschaft). Mitglied in der Wissenschaftskommission der DGSS und stellvertretender Vorsitzender der Europa-Union Saar. International tätig als freiberuflicher Trainer, Coach, Consultant und Supervisor in Medien, Wirtschaft, Politik und Verwaltung auf Deutsch, Französisch und Englisch. 430 Beiträger und Beiträgerinnen Prof. Dr. Britta Hufeisen W3-Professorin für Sprachwissenschaft/ Mehrsprachigkeit an der Technischen Universität Darmstadt und zugleich Leiterin des dortigen Sprachenzent‐ rums. Forschungsschwerpunkte: Mehrsprachenlernen, Schreiben in der Fremd‐ sprache und Gesamtsprachencurricula. Im Jahre 1990 Promotion mit einer Ar‐ beit zu Deutsch als zweiter Fremdsprache nach Englisch als erster Fremdsprache an der Universität Kassel (eine der ersten Arbeiten zu diesem Thema). 1999 Habilitation an der Technischen Universität Darmstadt mit einer Arbeit zum Schreiben von Hybridtexten in der Fremdsprache, spezifisch mit deutschspra‐ chigen Texten in typisch englischsprachigen Textsorten - ein Thema, das ihr jetzt vermehrt mit der Umstellung auf englischsprachige Studiengänge, in denen laut Prüfungsordnung jedoch deutsche Textsorten zu produzieren sind, wieder begegnet. Zwischenzeitlich für einige Jahre Arbeit an der University of Alberta in Edmonton, AB, Kanada, als Assistant Professor. Derzeit Engagement in meh‐ reren Forschungs- und Anwendungsprojekten mit Gesamtsprachen-Curricula und ähnlichen vielsprachigen fächer-, jahrgangs- und themenübergreifenden Projekten. Prof. Dr. Wolfgang Kühlwein 1959-1963 Studium der Anglistik, Germanistik, Slavistik an der Universität Erlangen. 1963/ 1964 Lektor für Germanistik an der Universität Manchester (GB). 1964 Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien (Anglistik, Germanistik) an der Universität Erlangen. 1964-1967 Wiss. Assistent in der Anglistik der Universität Kiel. 1966 Promotion zum Dr. phil. an der Universität Kiel. 1967-1969 Dozent für Englisch und Methodik des Englischunterrichts an der Pädagogischen Hochschule Kiel. 1970 Oberassistent und Habilitation mit venia legendi für das Fach Englische Philologie an der Universität Stuttgart. Ab 1970 Ordentlicher Pro‐ fessor an der Universität Trier. 1970-1972 Stellvertretender Leiter der Universität Trier-Kaiserslautern. 1972-1977 Beiratsmitglied und Leiter/ Gründer diverser Sektionen der Gesellschaft für Angewandte Linguistik (GAL). 1977-1987 1. Vorsitzender der GAL. 1981-1987 Vizepräsident der Association Internationale de Linguistique Appliquée (AILA). 1971-2015 Professeur Associé an der Université du Luxembourg sowie diverse Gastdozenturen u. a. in den USA, Südamerika, Südu. Ostasien. Träger des Österreichischen Ehrenkreuzes für Wissenschaft und Kunst Erster Klasse. Officier de l’Ordre de Mérite du Grand-Duché de Luxembourg. Ehrenmitglied der GAL. Publikationen unter: www.uni-trier.de/ Wolfgang Kühlwein. 431 Beiträger und Beiträgerinnen Prof. Dr. Hans-Jürgen Krumm 1962 - 1969 Studium der Germanistik, Anglistik, Pädagogik und Pädagogischen Psychologie, Universität Tübingen. Studienförderung durch das Evangelische Studienwerk Villigst. 1969 - 1975 Wissenschaftlicher Assistent am Zentrum für neue Lernverfahren, Universität Tübingen. 1975 - 1993 ordentlicher Professor für Sprachlehrforschung und Deutsch als Zweitsprache, Universität Hamburg. 1993 - 2010 o. Universitätsprofessor für Deutsch als Fremdsprache, Institut für Germanistik der Universität Wien, seit 2010 Emeritus. Gastprofessuren, For‐ schungsaufenthalte u. a. in Jakarta, Bandung (Indonesien), Amsterdam (Nieder‐ lande), Neu Delhi (Indien), Goeteborg (Schweden) und Halle/ S. Ehrenmitglied des Internationalen Deutschlehrerverbandes (1993). Ehrenstatuette des Polni‐ schen Germanistenverbandes (2002). Österreichisches Bundesehrenzeichen für Verdienste um den Interkulturellen Dialog (2008). Ehrenmitglied des Ungari‐ schen DeutschlehrerInnenverbandes (2015). Aktuelle Projekte: Expertengruppe des Europarats „The linguistic integration of adult migrants“ (bis 2017). Wiss. Leitung des Projekts zur Entwicklung eines Fernstudiums Diploma in Teaching German as a Foreign Language in Indien (bis 2015). Zusammen mit Hans H. Reich: Curriculum Mehrsprachigkeit (bis 2013). Arbeitsgebiete: Sprachenpolitik und Mehrsprachigkeit, Sprache und Identität, Sprache und Integration, Curri‐ culumentwicklung, Fremdsprachenlehrerausbildung. Prof. Dr. Eynar Leupold Universitätsprofessor für die Didaktik der französischen Sprache und Literatur (emeritiert) an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und an der Päd‐ agogischen Hochschule Freiburg. Zuvor u. a. Gymnasiallehrer sowie Fachleiter in der Lehrerausbildung in Schleswig-Holstein. Gastwissenschaftler am Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) in Berlin, Beteiligung an der Entwicklung der Bildungsstandards. Publikation zahlreicher fachdidaktischer Arbeiten. Prof. Dr. Georges Lüdi Emeritierter Professor für Französische Sprachwissenschaft, ehem. Leiter des Departements Sprach- und Literaturwissenschaften und Dekan der Philoso‐ phisch-Historischen Fakultät der Universität Basel und Präsident der Planungs‐ kommission dieser Universität. Autor zahlreicher wissenschaftlicher Publika‐ tionen zu sprachlichen Aspekten von Migrationen, Mehrsprachigkeit, Lehren und Lernen von Fremdsprachen, Kommunikation am Arbeitsplatz, Sprach- und Bildungspolitik und Wissenschaftssprachen. Forschungsprojekte zu Fragen des 432 Beiträger und Beiträgerinnen Zweitspracherwerbs in schulischen und außerschulischen Situationen sowie zum Sprachgebrauch in der Schweiz. 1998 Leitung der Expertengruppe für ein Gesamtsprachenkonzept für die Volksschule der Schweizer Erziehungsdi‐ rektorenkonferenz. Von 2006 bis 2011 Ko-Koordinator des EU-Projekts DYLAN. Präsident zweier im Bereich Sprachen und Kulturen tätiger privater Stiftungen, Mitglied im Executive Board der AILA, Ehrenmitglied der Schweizer Vereini‐ gung für angewandte Linguistik. Doctor honoris causa der Universität Neu‐ châtel sowie Offizier im Ordre national du mérite. Prof. Dr. Heinz-Helmut Lüger Studium der Fächer Romanistik, Germanistik, Sport; 1. und 2. Staatsexamen. Promotion 1977 in Romanistik (Universität Freiburg), Habilitation 1997/ 1998 in germanistischer Linguistik (Universität Konstanz). 1998-2011 Professur für Romanistik (Universität Koblenz-Landau). 2012 Gastprofessur für Germanistik an der Universität Szeged, 2018 an der Universität Katowice. Neueste Buchpub‐ likation: Kollektives Gedächtnis und europäische Nachbarschaftsbilder (2018, zus. mit W. Czachur). Arbeitsschwerpunkte: Text- und Medienlinguistik, Ge‐ sprächsanalyse, Phraseologie, Frankreichforschung. Prof. Dr. Franz-Joseph Meißner Lehrstuhl für die Didaktik der romanischen Sprachen an der Justus-Liebig Universität in Gießen (emeritiert). Nach Ablegung des Ersten und Zweiten Staatsexamens für das Lehramt an Gymnasien zunächst Gymnasiallehrer. Im Jahre 1988 Venia legendi für das Fach Romanische Philologie an der Universität Köln. Von 1990 bis 1995 Oberassistent an der Freien Universität Berlin und 1995 Ruf auf die C4-Professur für die Didaktik der französischen Sprache an die Justus-Liebig-Universität Gießen, im Jahre 1996 umgewidmet auf die Denomi‐ nation Didaktik der romanischen Sprachen. Von 1995 bis 2005 Schriftführung der Zeitschrift französisch heute. Bis heute Mitherausgeber der Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik (Tübingen: Narr) sowie weiterer Publikationsreihen. Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats von Recherches et Applications und weiterer wissenschaftlicher Zeitschriften, zudem Gründungspräsident des Ge‐ samtverbandes Moderne Fremdsprachen (2006-2009) und von 1994 bis 2004 Vor‐ sitzender der Vereinigung der Französischlehrer e. V. Zahlreiche Fachaufsätze zu Linguistik und Sprachlehrforschung. Gastaufenthalte und Gastvorträge an deutschen, europäischen, japanischen und lateinamerikanischen Universitäten. Träger des Straßburg-Preises der Stiftung F.V.S. und der Palmes Académiques. 433 Beiträger und Beiträgerinnen Prof. Dr. Dr. h. c. Christiane Nord Diplom-Übersetzerin für Spanisch und Englisch (Institut für Übersetzen und Dolmetschen der Universität Heidelberg, 1967). Promotion in Hispanistik und Übersetzungswissenschaft (Neuphilologische Fakultät der Universität Heidel‐ berg, 1983), Habilitation in Angewandter Translationswissenschaft und Über‐ setzungsdidaktik (Geisteswissenschaftliche Fakultät der Universität Wien, 1993) mit einer Arbeit über die Übersetzung von Titeln und Überschriften. Nach einer Tätigkeit als Lektorin am Institut für Übersetzen und Dolmetschen der Universität Heidelberg von 1996 bis 2005 Professur für Angewandte Sprach‐ wissenschaft sowie Fachübersetzen (Spanisch) im Fachbereich Kommunikation und Medien an der Hochschule Magdeburg-Stendal, dort verantwortlich für den Lehrbereich Spanisch. In diesem Zeitraum, und dann vermehrt nach ihrer Pensionierung, Vielzahl von DAAD-Kurzzeitdozenturen und Einladungen zu Tagungen und Lehraufenthalten in mehreren Ländern Asiens, Lateinamerikas und Afrikas, zudem Lehre an der Deutsch-Jordanischen Hochschule in Amman, Jordanien. Im Jahre 2015 Verleihung eines Ehrendoktortitels durch die Univer‐ sität Genf, 2018 Ehrendoktor der Universidad de Baja California in Tijuana, Mexiko. In ihrer Arbeit Erforschung grundlegender Prinzipien für die Transla‐ tologie und den Übersetzungsprozess. Führende Vertreterin des funktionalen Ansatzes in der Übersetzungstheorie. Gemeinsam mit ihrem Mann, dem Neu‐ testamentler Klaus Berger, Übersetzung unter anderem des Neuen Testaments und frühchristlicher Schriften. Dr. Sabine von Oppeln Politikwissenschaftlerin. Bis 2017 Leiterin verschiedener deutsch-französischer Studiengänge an der Freien Universität Berlin. Tätigkeit in Forschung und Lehre. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Fragen der Europäischen Integration, zur europäischen Sozialpolitik, zu den deutsch-französischen Beziehungen und zum Forschungsbereich Komparatistik. Prof. Dr. Claudia Polzin-Haumann Studium an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn; dort 1998 Promotion (Der Funktionsbereich Passiv im Französischen. Ein Beitrag aus kon‐ trastiver Sicht, Frankfurt am Main u. a. 1998) und 2004 Habilitation (Sprachre‐ flexion und Sprachbewusstsein. Beitrag zu einer integrativen Sprachgeschichte des Spanischen im 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main u. a. 2006). Seit 2006 Inhaberin des Lehrstuhls für Romanische Sprachwissenschaft (Schwerpunkt Angewandte Linguistik und Didaktik der Mehrsprachigkeit) an der Univer‐ 434 Beiträger und Beiträgerinnen sität des Saarlandes. Von 2013 bis 2017 Leiterin des Frankreichzentrums der Universität des Saarlandes; seit 2017 Vizepräsidentin für Europa und Internationales. Arbeitsschwerpunkte auf dem Gebiet der angewandten fran‐ zösischen und spanischen Sprachwissenschaft in den Bereichen Kontrastive Linguistik / Sprachvergleich / Mehrsprachigkeit, Text- und Diskurslinguistik, Varietätenlinguistik, Grammatikographie, linguistische Metaphernforschung, Sprachpolitik und Sprachpflege, Sprachreflexions- und Sprachbewusstseinsfor‐ schung, Sprachentwicklung in den neuen Medien. Zahlreiche Publikationen (vgl. https: / / www.uni-saarland.de/ lehrstuhl/ polzin-haumann/ lehrstuhl/ prof-dr -claudia-polzin-haumann.html). Enge Kooperation mit den Universitäten Lu‐ xemburg und Metz. Engagement in der Lehrerfort- und -weiterbildung. Ko-Lei‐ terin des Instituts für Sprachen und Mehrsprachigkeit (http: / / ism.uni-saar‐ land.de). Prof. Dr. Jürgen Quetz Professor (i.R.) für Didaktik der Englischen Sprache an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Forschungsinteressen: Lehrwerk, Curriculum und Stan‐ dards, Testdidaktik, Methodik des Fremdsprachenunterrichts. Von 2003 bis 2005 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Fremdsprachenforschung; von 1999 bis 2008 Mitglied im Beirat Sprache des Goethe-Instituts. Mitverfasser zahlreicher Lehrwerke für die Erwachsenenbildung. 2001 Übersetzung Gemein‐ samer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: Lernen, lehren und beurteilen. Berlin etc.: Langenscheidt, und 2009 Begleitband zum GeR, Stuttgart: Ernst Klett Sprachen. Veröffentlichungen u.a.: (2002) (hg. mit G. von der Hand): Neue Sprachen lehren und lernen. Fremdsprachenunterricht in der Weiterbildung. Bielefeld: W. Bertelsmann; (2006): (hg. mit A. Küppers). Motivation Revisited. Festschrift für Gert Solmecke. Münster et al.: LIT-Verlag; (2018) (mit Karin Vogt): Assessment im Englischunterricht. Esslingen: Helbling; (2020) (hg. mit K. Vogt): Der neue Begleitband zum GeR - Analysen und Praxis. Frankfurt: Peter Lang. Dr. Christina Reissner Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Romanische Sprachwis‐ senschaft von Frau Professor Claudia Polzin-Haumann an der Univer‐ sität des Saarlandes. Forschungsschwerpunkte: Allgemeine synchrone und historische Sprachwissenschaft (Historische Grundlagen der romanischen Interkomprehension, Kontrastive Linguistik, Komparatistik, Fachsprachen) und Mehrsprachigkeit mit einem Fokus auf romanischer Interkomprehen‐ sion, Mehrsprachigkeitsdidaktik / didactique intégrée, Sprachbewusstheit und Sprachlernbewusstheit sowie Herkunftssprachen in Schule und Fremdspra‐ 435 Beiträger und Beiträgerinnen chenunterricht. Aktuelle und zurückliegende Projekte umfassen die Themenbe‐ reiche "Sprachen vernetzen", DELF PRIM, Border Studies, Groupement de Re‐ cherches Transfrontalières et Interdisciplinaires sowie die EU-Projekte LINEE, REDINTER, INTERMAR und EVAL-IC. Prof. Dr. Nadine Rentel Seit 2011 Professorin für Romanische Sprachen (Schwerpunkt Wirtschaftsfran‐ zösisch) an der Fakultät Angewandte Sprachen und Interkulturelle Kommuni‐ kation der Westsächsischen Hochschule Zwickau. Von 1995 bis 2000 Studium der Romanistik (Französisch und Italienisch) und Computerlinguistik an der Gerhard-Mercator-Universität Duisburg. 2004 Abschluss ihres Dissertations‐ verfahrens mit einer Arbeit zu Sprache-Bild-Relationen in der französischen Anzeigenwerbung (Auszeichnung der Arbeit mit dem Preis der Duisburger Universitätsgesellschaft). Forschungs- und Publikationstätigkeit zu den Themen Wirtschaftskommunikation, Interkulturelle Kommunikation, Romanisch-deut‐ scher und innerromanischer Sprachvergleich, Wissenschaftskommunikation und Digitale Kommunikation. Gegenwärtige Forschungsinteressen besonders in den Bereichen Sprache und Medizin sowie der mehrsprachigen Lehre im Hochschulkontext. Zudem Auswertung eines mehrsprachigen Korpus zur Be‐ nennung privater und öffentlicher WLAN-Netze. Prof. Dr. Christine Sick Seit 1993 Professorin für Angewandte Sprachen, CALL (Computer-Assisted Language Learning), Multimedia und Distance Learning an der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes in Saarbrücken; zuständig für die Sprachausbildung in den Fakultäten Ingenieurwissenschaften, Architektur & Bauingenieurwesen sowie Sozialwissenschaften. Nach dem Studium der Anglistik und Romanistik für das Lehramt an Gymnasien an der Universität des Saarlandes und der Promotion im Fach Englische Philologie zu dem sprachwissenschaftlichen Thema Adverbiale Phraseologismen des Englischen. Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Nationalen Agentur LINGUA für die Aktionen III (Förderung der Fremdsprachen im Berufsleben und der Wirtschaft) und Vb (Entwicklung von Lehr-/ Lernmaterialien) des EU-Programms LINGUA. Im Rahmen ihrer Forschungskooperation mit der Firma EUROKEY Software GmbH Beschäftigung mit dem technologiegestützten Lehren und Lernen von Fremdsprachen, insbesondere im Bereich der Ingenieurwissenschaften, und - basierend auf entsprechenden Bedarfs- und Bedürfnisanalysen - Entwicklung von Englischlernmaterialien für E-Learning, Mobile Learning und Blended Learning Settings. 436 Beiträger und Beiträgerinnen 25,2 ISBN 978-3-8233-8454-0 Diese Festschrift zu Ehren von Albert Raasch zu seinem 90. Geburtstag deckt zentrale Bereiche des wissenschaftlichen Wirkens des Jubilars ab. So beschäftigt sie sich unter anderem mit der jüngeren Geschichte der Angewandten Linguistik, der Sprach- und (Aus-)Bildungssituation in Grenzregionen, Mehrsprachigkeit im Allgemeinen und im Besonderen, Sprachpolitik, Übersetzungswissenschaft sowie fremdsprachendidaktischen und kulturorientierten Reflexionen. Enthalten sind Beiträge von Peter Blumenthal, Rudi Camerer, Uwe Dethloff, Eva Martha Eckkrammer, Karl-Heinz Eggensperger, Hermann Funk, Heidrun Gerzymisch, Hans Giessen, Lutz Götze, Norbert Gutenberg, Britta Hufeisen, Wolfgang Kühlwein, Hans-Jürgen Krumm, Eynar Leupold, Georges Lüdi, Heinz-Helmut Lüger, Franz-Joseph Meißner, Christiane Nord, Sabine von Oppeln, Claudia Polzin- Haumann, Jürgen Quetz, Christina Reissner, Nadine Rentel und Christine Sick. Die hier publizierten Aufsätze vermitteln einen Einblick in die (romanische) Philologie der vergangenen Jahrzehnte und sind gleichzeitig von hoher Aktualität. Tinnefeld / Kühn (Hrsg.) Die Menschen verstehen Die Menschen verstehen: Grenzüberschreitende Kommunikation in Theorie und Praxis Thomas Tinnefeld / Bärbel Kühn (Hrsg.) Festschrift für Albert Raasch zum 90. Geburtstag 18454_Umschlag.indd Alle Seiten 18454_Umschlag.indd Alle Seiten 13.10.2020 11: 32: 02 13.10.2020 11: 32: 02