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Fremdsprachendidaktik als Wissenschaft und Ausbildungsdisziplin

2021
978-3-8233-9461-7
Gunter Narr Verlag 
Andreas Grünewald
Sabrina Noack-Ziegler
Maria Giovanna Tassinari
Katharina Wieland

Die universitäre Fremdsprachendidaktik verfolgt seit langem eine doppelte Ausrichtung: In ihrer Funktion als forschende Disziplin erforscht, beschreibt und interpretiert sie Unterricht, seine Teilnehmer:innen sowie seine Lehr-Lernprozesse. Als (aus-)bildende Disziplin beschäftigt sie sich u.a. mit dem übergeordneten Ziel, (zukünftige) Fremdsprachenlehrkräfte aus- bzw. weiterzubilden. Diese doppelte Ausrichtung der Fremdsprachendidaktik wurde lange Zeit eher als Widerspruch und nicht als sich notwendigerweise bedingende Ergänzung aufgefasst. Entscheidende Beiträge für das Zusammendenken und Zusammenwachsen hat Daniela Caspari während ihrer gesamten bisherigen beruflichen Laufbahn geleistet. Zu ihrem 60. Geburtstag versammelt die vorliegende Festschrift Beiträge von 32 Autor:innen, die mit ihren Überlegungen zur fremdsprachendidaktik als forschende und (aus-)bildende Disziplin das kreative und bedeutsame Schaffen der Jubilarin an dieser für das Selbstverständnis des Faches so wichtigen Schnittstelle würdigen.

Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik Andreas Grünewald / Sabrina Noack-Ziegler / Maria Giovanna Tassinari / Katharina Wieland (Hrsg.) Fremdsprachendidaktik als Wissenschaft und Ausbildungsdisziplin Festschrift für Daniela Caspari Fremdsprachendidaktik als Wissenschaft und Ausbildungsdisziplin GIESSENER BEITRÄGE ZUR FREMDSPRACHENDIDAKTIK Herausgegeben von Eva Burwitz-Melzer, Wolfgang Hallet, Jürgen Kurtz, Michael Legutke, Hélène Martinez, Franz-Joseph Meißner und Dietmar Rösler Begründet von Lothar Bredella, Herbert Christ und Hans-Eberhard Piepho Andreas Grünewald / Sabrina Noack-Ziegler / Maria Giovanna Tassinari / Katharina Wieland (Hrsg.) Fremdsprachendidaktik als Wissenschaft und Ausbildungsdisziplin Festschrift für Daniela Caspari © 2021 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 0175-7776 ISBN 978-3-8233-8461-8 (Print) ISBN 978-3-8233-9461-7 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0332-9 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® 11 27 45 63 77 95 111 127 Inhalt Tabula gratulatoria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Themenblock I: Fremdsprachendidaktik als Wissenschaftsdisziplin Friederike Klippel „Die geeignetste Vorbildung der Lehrer“ - Fachdiskussion und bildungspolitische Entwicklungen in der neusprachlichen Reformbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jürgen Mertens Grammatik im Übungsapparat von Französischlehrwerken (1970 - 2020) . Elisabeth Kolb Grammatik und Kompetenzorientierung: une mésentente cordiale? . . . . . . . Grit Mehlhorn & Christiane Neveling Nachhaltiges Wortschatzlernen mit digitalen Ressourcen. Überlegungen zur Vermittlung und Erforschung des Wortschatzlernens im Kontext der Lehrerinnen- und Lehrerausbildung für romanische und slawische Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Franz-Joseph Meißner Das didaktische Potential mehrsprachig-wortserieller Einsatzübungen (EuroComDidact ToGo) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bernd Tesch Chronik eines angekündigten Todes? Anmerkungen zu einigen Normativitäten in der (nicht nur) romanistischen Literatur- und Kulturvermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anka Bergmann, Stephan Breidbach & Lutz Küster Professionalisierung in biografischer Perspektive. Gedanken zu einer reflektierten Fachlichkeit in der universitären Fremdsprachenlehrer*innenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 157 177 193 209 227 243 259 277 295 Wolfgang Hallet Ethnographische Forschung als professionelle Kompetenz . . . . . . . . . . . . . . Michael K. Legutke Fremdsprachendidaktische Professionalisierung - Prinzipien und Forschungsansätze: Anmerkungen zu Fortbildungsprojekten des Goethe-Instituts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Themenblock II: Fremdsprachendidaktik als Ausbildungsdisziplin Bianca Roters Neue Professionalitätsfacetten im frühen Englischunterricht auf Distanz . Bärbel Diehr Fremdsprachenunterricht professionell planen. Ein Beitrag zur universitären Lehrer*innenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Bergfelder-Boos, Sabrina Noack-Ziegler, Manuela Franke, Bettina Deutsch & Nancy Morys Professionsorientiertes Lehren und Lernen in der Lehrkräftebildung. Erfahrungen mit hochschuldidaktischen Settings in der Fremdsprachendidaktik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katharina Kräling, Helene Pachale & Katharina Wieland Überlegungen zu Vernetzung und Kohärenzerleben in der fremdsprachlichen Lehrer*innenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christine Junghanns, Waltraud Löchel, Elke Philipp, Kerstin Rauch & Andrea Schinschke Unterrichtsentwicklung als gemeinsames Ziel? ! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hélène Martinez Sprachlernberatung in der Lehrerausbildung - Lernszenarien zum Erwerb professioneller Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Corinna Koch Prêter sa voix à quelqu’un d’autre: Eine Lernaufgabe zum inklusiven Miteinander anhand von französischen Jugendromanen . . . . . . . . . . . . . . . . Dagmar Abendroth-Timmer & Birgit Schädlich Il ou elle von Bernard Friot. Literarästhetische und symbolische Bildung mit jugendlichen Französischlerner*innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt 313 331 Georgia Gödecke Von der Idee zum Text - Begleitung und Konzeption von empirischen Masterarbeiten in der Fremdsprachendidaktik an der Universität Bremen . Mark Bechtel Varianten empirisch orientierter fremdsprachendidaktischer Abschlussarbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Inhalt Tabula gratulatoria Dagmar Abendroth-Timmer, Siegen Karin Aguado, Kassel Grit Alter, Innsbruck Markus Bär, Wuppertal Rupprecht S. Baur, Duisburg/ Essen Mark Bechtel, Osnabrück Ellen Beermann, Berlin Anka Bergmann, Berlin Ursula Behr, Jena Gabriele Bergfelder, Schopfheim Gabriele Blell, Hannover Stephan Breidbach, Berlin Andreas Bonnet, Hamburg Eva Burwitz-Melzer, Gießen Helene Decke-Cornill, Berlin/ Hamburg Kristine Deharde, Berlin Bettina, Deutsch, Berlin Bärbel Diehr, Wupptertal Daniela Elsner, Frankfurt a.M. Christiane Fäcke, Augsburg Jeannine Feix, Berlin Claudia Finkbeiner, Kassel Manuela Franke, Potsdam Britta Freitag-Hild, Potsdam Uwe Gellert, Berlin Georgia Gödecke, Bremen Juliana Gómez Medina, Bogotá Virtudes González, Göttingen Andreas Grünewald, Bremen Urška Grum, Potsdam Wolfgang Hallet, Gießen Claudia Harsch, Bremen Lene Heine, Bochum Myriam Hilout, Berlin Adelheid Hu, Luxembourg Britta Hufeisen, Darmstadt Bernhard Huss, Berlin Brigitte Jostes, Berlin Christine Junghans, Berlin Petra Kirchhoff, Erfurt Friederike Klippel, München Corinna Koch, Münster Elisabeth Kolb, München Katharina Kräling, Berlin Almut Küppers, Frankfurt a. M. Lutz Küster, Berlin Jürgen Kurtz, Gießen Margitta Kuty, Greifswald Michael Legutke, Gießen Eva Leitzke-Ungerer, Halle Waltraud Löchel, Berlin Simone Lück-Hildebrandt, Berlin Beate Lüdtke, Berlin Diana Maak, Berlin Hélène Martinez, Gießen Nicole Marx, Köln Grit Mehlhorn, Leipzig Judith Meinschaefer, Berlin Franz-Josef Meißner, Gießen Jürgen Mertens, Ludwigsburg Anne Mihan, Berlin Julia-Josefine Milster, Berlin Christopher Mischke, Waiblingen Nancy Morys, Luxembourg Christian Neumann, Berlin Christiane Neveling, Leipzig Isabell Nicolas, Berlin Sabrina Noack-Ziegler, Berlin Wiebke Otten, Berlin Helene Pachale, Hannover Elke Philipp, Berlin Jochen Plikat, Dresden Kathleen Plötner, Potsdam 12 Tabula gratulatoria Elisabetta Proverbio, Berlin Kerstin Rauch, Berlin Marcus Reinfried, Jena/ Mannheim Daniel Reimann, Duisburg/ Essen Claudia Riemer, Bielefeld Thorsten Roelcke, Berlin Jana Roos, Potsdam Henning Rossa, Trier Andrea Rössler, Hannover Bianca Roters, Soest Michaela Sambanis, Berlin Birgit Schädlich, Göttingen Heike Schaumburg, Berlin Andrea Schinschke, Berlin Barbara Schmenk, Toronto Torben Schmidt, Lüneburg Ulrike Schneider, Berlin Karen Schramm, Wien Katrin Schultze, Berlin Juliane Seidel, Berlin Julia Settinieri, Bielefeld Matthias Sieberkrob, Berlin Nevena Stamenković, Berlin Carola Surkamp, Göttingen Maria Giovanna Tassinari, Berlin Engelbert Thaler, Augsburg Bernd Tesch, Tübingen Eva Terzer, Berlin Anita Traninger, Berlin Graciela Vázquez, Berlin Britta Viebrock, Frankfurt Karin Vogt, Heidelberg Laurenz Volkmann, Jena Heike Wapenhans, Berlin Maike Wäckerle, Berlin Christa Weck, Stuttgart Katharina Wieland, Berlin Katja Wild, Berlin Susanne Zepp-Zwirner, Berlin 13 Tabula gratulatoria Fremdsprachendidaktik als Wissenschaft und Ausbildungsdisziplin Andreas Grünewald, Sabrina Noack-Ziegler, Maria Giovanna Tassinari & Katharina Wieland Die doppelte Ausrichtung der Fremdsprachendidaktik als forschende und aus‐ bildende Disziplin in ein ausgewogenes und sich gegenseitig ergänzendes Verhältnis zu bringen, ist ein wichtiges Anliegen zur Konsolidierung des Selbst‐ verständnisses unserer Disziplin. Entscheidende Beiträge für das Zusammen‐ wachsen dieser lange Zeit getrennt betrachteten Bereiche hat Daniela Caspari während ihrer gesamten bisherigen beruflichen Laufbahn geleistet. Zum einen stehen ihre Aufsätze z. B. zur Professionalisierung von Fremdsprachenlehrper‐ sonen oder zum Q-Master als individueller Weg in den Lehrberuf für ihr Verständnis der Fremdsprachendidaktik als Ausbildungsdisziplin. Zum anderen zeugen Publikationen zum beruflichen Selbstverständnis von Lehrer: innen oder zu Forschungstendenzen in der Fremdsprachendidaktik von ihrer Auffassung der Fremdsprachendidaktik als Wissenschaftsdisziplin. Was also liegt näher, als der Jubilarin zu ihrem 60. Geburtstag eine Festschrift mit knapp 20 Beiträgen von 32 Autor: innen zu widmen, die ihr kreatives und bedeutsames Schaffen in der doppelten Ausrichtung der Fremdsprachendidaktik als forschende und (aus-)bildende Disziplin würdigt. Was aber steckt eigentlich hinter der doppelten Ausrichtung der Fremdspra‐ chendidaktik? Wie hat sich diese entwickelt und wie stehen diese unterschied‐ lichen Perspektiven zueinander? Hallet und Königs (2010, S. 11) bezeichnen die Fremdsprachendidaktik vor den 1970er Jahren als eine aus der Praxis erwachsene Rezeptologie, die durchaus auf einleuchtendem und schlüssigem Erfahrungswissen basierte. Zu dieser Zeit konnte sich die Fremdsprachendidaktik noch nicht auf evidenzbasiertes Wissen oder gar auf die empirische Verankerung ihrer Wissensbestände berufen. Mit der Ende der 1970er Jahre zunehmenden Einrichtung fremdsprachendidakti‐ scher Lehrstühle an Universitäten wurde ein erster Schritt zur Konsolidierung des Faches getan. Aus der damaligen Kritik der „Anwendungsorientierung“ (Decke-Cornill & Küster, 2010, S. 8) der Fremdsprachendidaktik entwickelte sich in den 1970er Jahren parallel dazu die Sprachlehr-/ -lernforschung, die auch nicht-schulische Spracherwerbskontexte in den Blick nahm und Prozesse der Sprachaneignung unter Einbezug von Bezugswissenschaften wie z. B. Linguistik, Psycholinguistik oder Kognitionswissenschaften wissenschaftlich zu untersuchen begann. Daraus folgte eine Fokussierung der Sprachlehr-/ -lern‐ forschung - die von der Aufgabe der Ausbildung von Fremdsprachenlehrkräften für den Sekundarbereich entbunden war - auf die empirische Forschung und damit auf die Beschreibung von Forschungsgegenständen und zu deren Untersuchung angemessenen Forschungsmethoden. Beide Disziplinen existierten zunächst nebeneinanderher und beschäftigten sich mit dem gleichen Gegenstand (Fremdsprachen lehren und lernen) aus unterschiedlicher Perspektive bzw. mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Die Fremdsprachendidaktik, die institutionell verantwortliche Disziplin für die Aus‐ bildung von Lehrkräften für den Sekundarbereich, hatte die Professionalisie‐ rung von zukünftigen Fremdsprachenlehrkräften im Blick und fokussierte daher - zumindest zu jener Zeit - eher auf Sprachlehrprozesse im institutionellen Kontext. Die Sprachlehr-/ -lernforschung rückte hingegen die Aneignung der Fremdsprache und die damit verbundenen kognitiven Prozesse beim Lernen in den Mittelpunkt der Betrachtung. In den 1990er Jahren wurden die Grenzen zwischen beiden Disziplinen immer unklarer und nicht umsonst lautet der 1997 erschienene Titel der Arbeitspapiere zur 17. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts „Fremd‐ sprachendidaktik und Sprachlehrforschung als Ausbildungs- und Forschungsdis‐ ziplinen“. Ende des Jahrtausends wurden beide als zwei getrennte Disziplinen beschrieben. Heute kann festgestellt werden, dass die Sprachlehr-/ -lernforschung als dezidiert forschungsbezogene Disziplin der Fremdsprachendidaktik wichtige Impulse gegeben hat, „zugleich aber auch in ihr aufgegangen ist“ (Hallet & Königs, 2010, S. 12). Auch Daniela Caspari (u. a. 2016, S. 1) subsumierte unter dem Begriff der Fremdsprachendidaktik in Anlehnung an Gnutzmann, Königs & Küster (2011, S. 7) die Sprachlehr-/ -lernforschung, unterrichtsbezogene Zweitspra‐ cherwerbsforschung, Fremdsprachenforschung und Zweitsprachendidaktik. Das Zusammenwachsen der beiden Disziplinen ist Grund für die doppelte Ausrichtung der Fremdsprachendidaktik welche sich auch im Orientierungsrahmen der Gesell‐ schaft für Fachdidaktik (2005, online) widerspiegelt: Die Fachdidaktiken sind neben den Fachwissenschaften und der Erziehungswissen‐ schaft dabei die dritte Säule der Lehrerbildung. Sie haben im Spannungsfeld zwischen den Wissenschaftsbereichen ein eigenständiges Profil sowohl als Wissenschaftsdis‐ ziplin wie auch als Ausbildungsdisziplin. 16 Andreas Grünewald, Sabrina Noack-Ziegler, Maria Giovanna Tassinari & Katharina Wieland In ihrer Ausrichtung als Ausbildungsdisziplin befasst sich die Fremdsprachen‐ didaktik beispielsweise gegenwärtig mit der Auswahl und der didaktischen Rekonstruktion von Lerngegenständen, mit der Digitalisierung des Fremdspra‐ chenunterrichts, mit der Strukturierung von Lernprozessen, mit der Entwick‐ lung und Evaluation von Lehr-/ Lernmaterialien oder mit Kompetenzsowie Aufgabenorientierung. In ihrer Ausrichtung als Wissenschaftsdisziplin und hier insbesondere als Forschungsdisziplin benennt Daniela Caspari (2016, S. 14) nach Durchsicht von knapp 100 Dissertationen aus dem Bereich der Fremdspra‐ chendidaktik 13 Forschungsfelder, welche jede für sich genommen komplex sind: Begegnungsforschung, Curriculumforschung, Diagnostik, Interaktions‐ forschung, Kompetenzforschung, Konzeptforschung, Lehr- und Professionsfor‐ schung, Lehrwerks- und Materialforschung, Lernforschung, Lernerforschung, Schulbegleit- und Schulentwicklungsforschung, Testforschung sowie Zweiter‐ werbsforschung. Hinsichtlich der Ausrichtung der Fremdsprachendidaktik als Wissenschafts‐ disziplin wird schnell deutlich, dass die genannten Themenfelder hier sehr ähnlich sind. Das ist auch erwartbar, da die doppelte Ausrichtung der Fremd‐ sprachendidaktik nicht a priori dazu führt, dass unterschiedliche Themenfelder bearbeitet werden, sondern vielmehr dazu, dass die Themen sowohl in der Per‐ spektive der Ausbildung als auch der Forschung behandelt werden: Fragen zur Unterrichtsstrukturierung und zu Aspekten des Lehrens von Fremdsprachen im institutionellen Kontext sind gleichermaßen Fragen der Ausbildung von Lehr‐ kräften wie Fragen der Forschung in der Fremdsprachendidaktik. Idealerweise gehen die Ergebnisse fremdsprachendidaktischer Forschung in die Ausbildung und Professionalisierung zukünftiger Lehrkräfte ein. Die Verschränkung beider Perspektiven ist das wesentliche und konstituierende Element der Fremdspra‐ chensprachendidaktik. Die Bearbeitung der Forschungsgegenstände der Fremd‐ sprachendidaktik verlangt ein hohes Maß an Kooperation über Grenzen von Forschungsfeldern und Fachdisziplinen hinweg und vielfach auch eine Zusam‐ menarbeit mit Partner: innen außerhalb des Wissenschaftssystems. In diesem Sinn kann die Forschung in der Fremdsprachendidaktik als Forschung mit An‐ wendungsorientierung beschrieben werden. Sie entspricht allen diesbezüglich genannten Aspekten des Wissenschaftsrates (2020, S. 12f.): Identifizierung von Problemlagen, Übersetzung in Forschungsfragen, Analyse des Wirkungspoten‐ zials, Relevanzerwartungen, Kooperationspartner: innen und Zielgruppenorien‐ tierung. Die eingangs gestellte Frage danach, wie die beiden Ausrichtungen der Fremdsprachendidaktik zueinander stehen, lässt sich also wie folgt beant‐ worten: Eine im geschilderten Sinn anwendungsorientierte fremdsprachen‐ 17 Fremdsprachendidaktik als Wissenschaft und Ausbildungsdisziplin didaktische Forschung steht zu den Schwerpunkten der (Aus-)Bildung von Lehrpersonen in einem sich gegenseitig anregenden und sich ergänzenden Verhältnis. Themen und Inhalte lassen sich nicht ausschließlich der einen oder der anderen Ausrichtung zuordnen, vielfach können beide Perspektiven miteinander verknüpft werden, wie die Beiträge in diesem Band nachvollziehbar illustrieren. Dieser Band vereint sowohl theoretisch-konzeptionelle, historische und empirische Forschungsbeiträge als auch Beiträge zu Ausbildungs- und Unter‐ richts(planungs)modellen, zur Umsetzung des forschenden Lernens im Lehr‐ amtsstudium und zur Vernetzung der ersten und zweiten Phase in der Ausbil‐ dung von Lehrpersonen. Fremdsprachendidaktik als Wissenschaftsdisziplin Mit Blick auf die Geschichte des Fachs stellt Friederike Klippel in ihrem Bei‐ trag die wechselseitige Entwicklung schulischer Bildungsziele und Lehrer: in‐ nenbildung im Laufe des 19. Jahrhunderts dar. Sie zeichnet die einsetzende De‐ batte um Inhalte, Ziele und Strukturen der Fremdsprachenlehrer: innenbildung und ihrer Ausgestaltung mit Fokus auf die neueren Sprachen und Französisch und Englisch im Rahmen der neusprachlichen Reformbewegung und darüber hinaus nach. Auch Jürgen Mertens nimmt eine historisch-rückblickende Perspektive ein und analysiert in seinem Beitrag die Entwicklung der Behandlung von Grammatik in Lehrwerken für Französisch im Anfangsunterricht im Zeitraum von 1970 bis 2020. Die Ergebnisse dieser umfangreichen Untersuchung zeigen, dass obwohl in den Lehrwerken der (neo)kommunikativen und der aufgaben‐ orientierten Phase die Grammatikstrukturen zunehmend in fertigkeitsorien‐ tierten Kontexten und in Texten eingebettet sind, die Übungsformate sich wenig geändert haben. Dies gilt insbesondere für die Lehrwerke der aufga‐ benorientierten Phase: anstatt als Bausteine für eine zielgerichtete Planung von kommunikativen Handlungen, werden Grammatikübungen weiterhin als dekontextualisierte Vorbereitung zum Sprachgebrauch eingesetzt. Im sich anschließenden Beitrag von Elisabeth Kolb geht es auch um die Rolle der Grammatik im Fremdsprachenunterricht, dieses Mal jedoch anhand von Bei‐ spielen aus Bildungsdokumenten, fachdidaktischen Aufsätzen und Lehrwerken für den Englisch- und Französischunterricht. Das bisweilen schwierige und von den einzelnen Akteur: innen unterschiedlich interpretierte Zusammenspiel von Grammatik und Kompetenzorientierung wird von der Verfasserin auf seine konzeptuelle Bestimmung und praktische Umsetzung beleuchtet. 18 Andreas Grünewald, Sabrina Noack-Ziegler, Maria Giovanna Tassinari & Katharina Wieland Grit Mehlhorn und Christiane Neveling beschäftigen sich alsdann eben‐ falls im Bereich der sprachlichen Mittel mit strategischer Wortschatzarbeit in der Lehrer: innnenbildung. Insbesondere nehmen sie einige digitale Webtools zum Wortschatzlernen unter die Lupe und zeigen, wie Lehramtsstudierende herangeführt werden, das Lernpotenzial einiger Tools selbst zu erkunden, Ansätze für die Strategievermittlung und Reflexion über die Wortschatzarbeit in Schulpraktika auszuprobieren und/ oder in Masterarbeiten zu evaluieren. Ebenfalls eine App steht im Mittelpunkt des Aufsatzes von Franz-Joseph Meißner, der wissenschaftliche Grundlagen und didaktisches Potenzial einer App zur Interkomprehension behandelt: Durch verschiedene Übungsformate werden Lernende angeregt, Äquivalenzen und Unterschiede unter Wörtern des Kernwortschatzes sowie unter syntaktischen Strukturen in verschiedenen ro‐ manischen Sprachen zu erkennen und zu verinnerlichen. Die Lernwirksamkeit der Übungsformate liegt u. a. in der Entwicklung mehrsprachiger Kompetenzen und im Zusammenspiel zwischen explizitem und implizitem, deklarativem und prozeduralem Wissen. Ein weiteres der Fremdsprachendidaktik immanentes Forschungsfeld ist die Literatur- und Kulturvermittlung. Bernd Tesch analysiert im vorliegenden Essay, welche Normativitäten ihr im Fremdsprachenunterricht zu Grunde liegen. Diese durchleuchtet er aus dem Blickwinkel der konstruktiv-kritischen Didaktik pointiert auf ihre theoretischen Begründungen. In der Zusammen‐ schau stellt er die Argumente gleichsam unter Berücksichtigung realer Lernbe‐ dingungen aus praxeologischer Perspektive auf den Prüfstand und leistet einen Beitrag zu diesem Diskurs. Die drei letzten Beiträge dieses ersten Teils stellen die Forschung von, mit und an angehenden Fremdsprachenlehrkräften in den Mittelpunkt. Anka Berg‐ mann, Stephan Breidbach und Lutz Küster analysieren in ihrem Text das Verhältnis von Fachdidaktik und Fachwissenschaft im Rahmen der Professio‐ nalisierung von Lehrpersonen vor dem Hintergrund einer berufsbiografischen Perspektive. Dabei plädieren sie dafür, dass sowohl in der Fachdidaktik als auch in der Fachwissenschaft systematische Ansätze zur Förderung der Reflektivität über die eigene Lern- und Lehrerfahrung integriert werden. Wolfgang Hallet plädiert für die Integration ethnographischer Forschungs‐ methoden in die Lehrer: innenaus- und -fortbildung. Unterrichtliche Prozesse profitieren demnach von einer stärkeren Gewichtung der Lernendenperspek‐ tive, eröffnen erweiterte Partizipationsmöglichkeiten für Fremdsprachenler‐ nende und unterstützen das Erfassen, „Beschreiben und Verstehen lebenswelt‐ licher und fremdsprachiger Kulturen“. 19 Fremdsprachendidaktik als Wissenschaft und Ausbildungsdisziplin Schließlich setzt sich Michael Legutke mit dem Handlungsfeld der fremd‐ sprachendidaktischen Fortbildung von Lehrkräften auseinander und stellt fest, dass diese nur selten Gegenstand empirischer fremdsprachendidaktischer For‐ schung ist. Am Beispiel des Fort- und Weiterbildungsprogramms Deutsch Lehren Lernen (DLL) des Goethe-Instituts zeigt der Verfasser auf, welche Forschungs‐ perspektiven sich im Arbeitsfeld der Lehrkräftefortbildung ergeben könnten. Fremdsprachendidaktik als Ausbildungsdisziplin Im Mittelpunkt der Beiträge, die sich eher der Fremdsprachendidaktik als Ausbildungsdisziplin zuordnen lassen, steht die Professionalisierung von Lehr‐ kräften, zunächst beginnend mit dem frühen Fremdsprachenunterricht. Bianca Roters stellt zwei unterrichtspraktische Herangehensweisen im frühen Fremdsprachenunterricht vor, welche Lehrer: innen flexibel und adaptiv im Kontext adäquater digitaler Lernumgebungen in synchronen und asyn‐ chronen Settings handelnd Orientierung bieten können. Durch Schilderung verschiedener Unterrichtsvorhaben zeigt sie, welche Anknüpfungspunkte für die Erweiterung vorhandener digitaler Kompetenzmodelle aus der praktischen Umsetzung entdeckt werden können und in welchen Aspekten derzeit disku‐ tierte Modelle ergänzungsbedürftig sind. Mit Blick auf die erste Phase der Lehrkräftebildung präsentiert Bärbel Diehr anschließend ein Modell zur professionellen Unterrichtsplanung, das im Rahmen eines Forschungsprojektes an der Universität Wuppertal entwickelt und untersucht wurde. Das Modell enthält fachspezifische Dimensionen, die auf der wissenschaftlichen Literatur beruhen und die Grundlagen für die Planung von Sprachunterricht ausmachen. In dem vorgestellten Projekt setzen sich Lehramtsstudierende intensiv mit Planungsentwürfen auseinander, und reflektieren diese anhand der fachspezifischen Dimensionen. Diehr plädiert dafür, dass Unterrichtsplanung als theoriebasierter Kernkompetenz bei der Professionalisierung von Lehrkräften eine zentrale Bedeutung in der Lehrer: in‐ nenbildung zukommt. Die fünf Autorinnen Gabriele Bergfelder-Boos, Bettina Deutsch, Ma‐ nuela Franke, Nancy Morys und Sabrina Noack-Ziegler beleuchten profes‐ sionsorientierte, hochschuldidaktische Prinzipien zur Anbahnung, Förderung und Weiterentwicklung der Lehrkräftebildung. Dazu werden drei Beispiele hochschuldidaktischer Settings unter Bezug auf das Professionalisierungsmo‐ dell von Legutke und Schart (2016) als Impuls für die Entwicklung der fremd‐ sprachendidaktischen Hochschullehre reflektiert. 20 Andreas Grünewald, Sabrina Noack-Ziegler, Maria Giovanna Tassinari & Katharina Wieland Katharina Kräling, Helene Pachale und Katharina Wieland untersu‐ chen dann in ihrem Beitrag, wie Verbindungen zwischen universitärem Studium und beruflicher Praxis hergestellt werden können. Dabei gehen sie der Frage nach, wie als ‚weniger praxistauglich‘ betrachtete vermittelte Kompetenzen und Inhalte des Studiums gleichwohl als innovativer Impuls zur Unterrichtsent‐ wicklung genutzt werden könnten. In diesem Zusammenhang stellen sie das Potenzial des Praxissemesters und des Moduls Schulpraktische Studien der FU in Berlin als einen möglichen Ort für das Erleben von Kohärenz im Ausbildungs- und Berufsweg dar. Ebenfalls mit engem Bezug zum Raum Berlin-Brandenburg beschäftigen sich die Autorinnen Christine Junghanns, Waltraud Löchel, Elke Philipp, Kerstin Rauch und Andrea Schinschke mit der Schnittstelle von fachdi‐ daktischer Forschung und Lehre und bildungspolitischen Vorgaben, Schule, Aus- und Fortbildung von Lehrkräften. Sie arbeiten in ihrem Beitrag heraus, wie das Zusammenwirken der verschiedenen Akteure des Handlungsfelds ‚Fremdsprachenunterricht‘ im Berliner und Brandenburger Raum gestaltet ist. Aus dieser Bestandsaufnahme heraus entwickeln die Autorinnen Vorschläge für Verbesserung dieses Zusammenwirkens mit dem gemeinsamen Ziel der Qualitätssteigerung des Fremdsprachenunterrichts. Neben den schulischen Praxisphasen spielen weitere Aspekte in der Ausbil‐ dung von angehenden Lehrkräften eine wichtige Rolle. Einer davon ist die Aus‐ einandersetzung von angehenden Lehrkräften mit ihrer Rolle als Berater: innen für den Sprachlernprozess. Hélène Martinez richtet in ihrem Beitrag das Augenmerk auf die Sprachlernberatung als nicht direktive Unterstützung von autonomisierenden Sprachlernprozessen. Entstanden als Begleitung von Ler‐ nenden in selbstgesteuerten Lernprozessen, setzt die Sprachlernberatung die Lernenden und ihre Bedürfnisse in den Mittelpunkt, ist prozessorientiert und hat das Potenzial, durch Reflexion Impulse zur Veränderung von Einstellungen und Lernverhalten zu geben. Wie die Umsetzung von Sprachlernberatung mit Studierenden als Teil der Professionalisierung in die Lehrer: innenausbil‐ dung integriert werden kann, zeigt Martinez anhand der Beschreibung der Selbst-Lern-Werkstatt Romanistik (SLW-Rom) am Institut für Romanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen. Auch in diesem Abschnitt ist mit der Literaturdidaktik ein genuines Teil‐ gebiet der Fremdsprachendidaktik vertreten. Corinna Koch sowie Dagmar Abendroth-Timmer und Birgit Schädlich zeigen praktisch für (angehende) Lehrkräfte auf, welche Potenziale in der fremdsprachendidaktischen Literatur‐ arbeit liegen können. 21 Fremdsprachendidaktik als Wissenschaft und Ausbildungsdisziplin Corinna Koch stellt in ihrem Beitrag einen Vorschlag für eine komplexe Lernaufgabe zu vier Jugendromanen vor, die Mobbing und Inklusion in le‐ bensweltlichen Bereichen Heranwachsender thematisieren. Sie zeigt, wie das gewählte aufgabenorientierte Setting eine interaktive Lektüre der Romane be‐ günstigen und einen Perspektivenwechsel unterstützen kann, der das Potenzial birgt, das Zusammenleben im (inklusiven) Klassenverband zu verbessern. Dagmar Abendroth-Timmer und Birgit Schädlich nehmen sich in ihrem Beitrag der in der Sekundarstufe I häufig vernachlässigten Arbeit mit Literatur an. Sie zeigen am Beispiel des Textes „Il ou elle“ des französischen Autors Bernard Friot auf, wie auch in dieser stark auf Spracharbeit und Spracherwerb orientierten Phase Literaturarbeit (zum Thema Gender) mit jugendlichen Ler‐ nenden gelingen kann. Im Zentrum der Auseinandersetzung steht das Konzept der symbolischen Bildung. Der Teil zur Fachdidaktik als (aus-)bildender Disziplin wird abgerundet durch die Beschäftigung mit fachdidaktischen Abschlussarbeiten. Diese sind - wie der Beitrag von Georgia Gödecke deutlich macht - in zweierlei Hinsicht für Studierende interessant: Sie bieten ihnen am Ende des Masterstudiengangs die Möglichkeit, ihre im Studium erworbenen theoretischen wie praktischen Erfahrungen vertieft zu durchdenken und so den Berufseinstieg zu erleichtern. Gleichzeitig können sie auch als Einstieg in eine weitere wissenschaftliche Qualifizierungsphase dienen. Unabhängig davon, mit welchem dieser Ziele Studierende an ihre Masterarbeit herangehen, ist eine intensive Begleitung der Arbeit gewinnbringend, sie kann aber auch explizit als frühbeginnende Nachwuchsförderung in der Fremdsprachendidaktik angesehen werden. Vor diesem Hintergrund stellt die Autorin vor, wie fachdidaktische Masterarbeiten an der Universität Bremen durch ein Lehrveranstaltungskonzept begleitet werden. Auch Mark Bechtel widmet seinen Aufsatz den Abschlussarbeiten und stellt unterschiedliche Varianten empirisch orientierter fremdsprachendidaktischer Arbeiten vor. Er skizziert Ziele und Inhalte des forschungsmethodisch ausge‐ richteten Masterkolloquiums und gibt somit Einblick in die Ausbildung und Förderung potenziellen wissenschaftlichen Nachwuchses in der Schlussphase des Lehramtsstudiums. Und damit schließt sich gewissermaßen wieder der Kreis: Sinnbildlich endet der Abschnitt zur Fremdsprachendidaktik als Ausbildungsdisziplin mit dem Verfassen forschungsorientierter Abschlussarbeiten. Das veranschaulicht sehr schön die oben angesprochene Interdependenz der beiden Perspektiven auf die Fremdsprachendidaktik. 22 Andreas Grünewald, Sabrina Noack-Ziegler, Maria Giovanna Tassinari & Katharina Wieland Abschließend wünschen wir Daniela Caspari alles Gute und freuen uns auf die weitere inspirierende Zusammenarbeit in Forschung und Ausbildung. An dieser Stelle bedanken wir uns bei Corinna Sandkühler (Bremen) für die professionelle Unterstützung bei der Formatierung dieses Bandes. Ein weiterer Dank geht an die romanistischen Institute der Freien Universität Berlin sowie der Humboldt-Universität zu Berlin für die finanzielle Unterstützung dieser Festschrift. Literatur Caspari, Daniela (2016). Zur Orientierung. In Daniela Caspari, Friederike Klippel, Michael Legutke & Karen Schramm (Hrsg.) Forschungsmethoden in der Fremdsprachendidaktik - Ein Handbuch (S. 1-5). Tübingen: Narr. Decke-Cornill, Helene & Küster, Lutz (2015). Fremdsprachendidaktik. Eine Einführung. 3. vollst. überarb. und erw. Aufl. Tübingen: Narr Francke Attempto. Gesellschaft für Fachdidaktik (2005). Kerncurriculum Fachdidaktik. Orientierungsrahmen für alle Fachdidaktiken. Online: https: / / tinyurl.com/ 4nwh6ft6 (09.04.2021). Gnutzmann, Claus, Königs, Frank & Küster, Lutz (2011). Fremdsprachenunterricht und seine Erforschung. Ein subjektiver Blick auf 40 Jahre Forschungsgeschichte und auf aktuelle Forschungstendenzen in Deutschland. In Fremdsprachen Lehren und Lernen 40(1), 5-28. Hallet, Wolfgang & Königs, Frank (2010). Fremdsprachendidaktik. In Wolfgang Hallet & Frank Königs (Hrsg.) Handbuch Fremdsprachendidaktik (S. 11-17). Seelze: Kallmeyer. Wissenschaftsrat (2020). Anwendungsorientierung in der Forschung. Online: https: / / tinyu rl.com/ daj9r2jk (09.04.2021). 23 Fremdsprachendidaktik als Wissenschaft und Ausbildungsdisziplin Themenblock I: Fremdsprachendidaktik als Wissenschaftsdisziplin „Die geeignetste Vorbildung der Lehrer“ - Fachdiskussion und bildungspolitische Entwicklungen in der neusprachlichen Reformbewegung Friederike Klippel Schulische Bildungsziele und Lehrkräftebildung stehen im wechselseitigen Einfluss. Das war auch schon im 19. Jahrhundert der Fall, in dem die neueren Sprachen, vor allem Französisch und Englisch, ab den 1850er Jahren in größerem Umfang als zuvor in den Sekundarschulen unterrichtet wurden. Eine intensive Debatte zu Inhalten, Zielen und Strukturen der Fremdspra‐ chenlehrerbildung setzte jedoch erst im Rahmen der neusprachlichen Re‐ formbewegung ab den 1880er Jahren ein, als die Anforderungen der neuen Unterrichtsmethode an das fachliche Wissen sowie das sprachliche und pädagogische Können der Lehrkräfte zu einem intensiven Diskurs über die Ausgestaltung der Fremdsprachenlehrerbildung führten. 1 Die Vorgeschichte Es ist zu vermuten, dass man sich bereits in ferner Vergangenheit Gedanken darüber gemacht hat, was Personen kennen und können müssen, die andere in einer bestimmten Sache unterweisen wollen. Doch war dies stets an be‐ stimmte Kontexte oder Individuen geknüpft. Eine staatlich regulierte und durch Prüfungsordnungen in gewisser Weise standardisierte Lehrerbildung für das allgemeine Schulwesen entstand in Deutschland jedoch erst langsam seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Im Jahre 1809 wurden in Bayern, 1810 durch Humboldt in Preußen erste allgemeine berufsqualifizierende Staatsprüfungen für Gymna‐ siallehrer eingeführt; doch waren diese keine Fachprüfungen sondern eher generelle Eignungsprüfungen, deren Ideal das des gelehrten Altphilologen war (vgl. Sandfuchs, 2004, S. 18). Es dauerte noch fast ein halbes Jahrhundert, bis 1 Bis in das 20. Jahrhundert waren weiterführende Schulen und Ausbildungswege für Lehrerinnen und Lehrer nach Geschlechtern streng getrennt, so dass sich die Bezeichnungen Lehrer und Schüler in diesem Beitrag tatsächlich nur auf männliche Personen beziehen. diese Prüfungen tatsächlich flächendeckend und umfassend etabliert waren (vgl. Kemnitz, 2014, S. 57). Im Folgenden geht es ausschließlich um die Ausbil‐ dung von Lehrern für die höheren Schulen, da in der Regel nur dort moderne Fremdsprachen unterrichtet wurden. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden die lebenden Sprachen, vor allem Französisch, zwar durchaus an Gymnasien und Realanstalten angeboten, doch waren die Lehrer 1 , die in der Regel mehrere Fächer unterrichteten, in den modernen Sprachen zumeist Autodidakten, die ihre Sprachkenntnisse etwa bei einem Auslandsaufenthalt oder im Selbststudium erworben hatten. Die wenigen Professuren für Romanische Philologie oder Neuere Sprachen, die vor der Jahrhundertmitte bestanden, hatten kaum Einfluss auf die Lehrerbildung. An der Universität Heidelberg beispielsweise lehrte Anton Sar, Professor für Französische Sprache von 1804 bis 1817, danach wurde diese Professur nicht erneut besetzt (vgl. Kalkhoff, 2010, S. 23); an der Berliner Universität bestand von 1821 bis 1851 ein Extraordinariat für Neuere Sprachen, Literatur und Literaturgeschichte; ein Ordinariat für Romanische Philologie wurde erst 1870 etabliert (vgl. ebd., S. 130). Erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden an den Universitäten sukzessive Professuren für Neuphilologie an den Philosophischen Fakultäten eingerichtet. So ist es nicht verwunderlich, dass Ludwig Herrig und Heinrich Viehoff, als Schulmänner und Herausgeber der ersten Fachzeitschrift für die neueren Sprachen - „Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen“ (gegründet 1845) - in einem Beitrag im Jahr 1848 für den Unterricht in den neueren Sprachen plädieren und eine Reihe von Vorschlägen zu deren Studium und zur Lehrerausbildung in diesen Fächern unterbreiten. Zunächst betonen sie die Bedeutung der neueren Sprachen für die Erziehung der Jugend: Es muß folglich dem antiken Leben das moderne gegenübergestellt werden, und wie könnte man dies besser, als gerade durch die Sprache, dem Hauptbildungsmittel des Menschen, deren Kenntniß den Schüler in dem Leben und Geiste des Volkes heimisch werden läßt? Die Wichtigkeit der neueren Sprachen, besonders der germanischen und romani‐ schen, für unsere Gymnasien sowohl, als ganz besonders für die Realschulen, scheint hiermit genügend angedeutet und es ist unerklärlich, wie es einerseits die Behörden bis jetzt ruhig ansehen, daß der Unterricht in so vielen Anstalten noch so ganz 28 Friederike Klippel jämmerlich und handwerksmäßig betrieben wird, andererseits aber wenig oder fast gar nichts thaten, um tüchtige Lehrer für diesen Unterrichtszweig zu gewinnen und sie gründlich für ihren Beruf vorzubereiten. (Herrig & Viehoff, 1848, S. 225) Für das Studium der zukünftigen Lehrer lebender Sprachen fordern Herrig & Viehoff (1848) nicht nur eine gründliche philologische Ausbildung, sondern auch sprachpraktische und fachdidaktische Studienanteile. Zudem empfehlen sie einen Auslandsaufenthalt und die Einrichtung eines Seminars, das nach dem Studienabschluss der fachbezogenen pädagogischen und unterrichtsprak‐ tischen Ausbildung der Kandidaten dienen soll. Die dort tätigen Seminarlehrer sollten nicht nur „theoretisch vorgebildet“ (ebd., S. 233) sein, sondern auch über eine einschlägige Unterrichtspraxis verfügen. Herrig selbst plante ein solches Seminar, das seiner Intention nach an der Berliner Universität angesiedelt sein sollte. Da jedoch der Grammatiker und Sprachwissenschaftler Mätzner für die Professur für neuere fremde Sprachen vorgeschlagen war (vgl. Haenicke & Finkenstaedt, 1992, S. 206), entschied das preußische Kultusministerium schließlich, das Seminar im Jahr 1860 am Berliner Friedrichs-Gymnasium und nicht an der Universität einzurichten. Herrig prägte dort bis 1877 die fachliche, fachdidaktische und unterrichts‐ praktische Ausbildung der Neusprachenlehrer (vgl. Klippel, 2010). Während seiner achtzehn Jahre währenden Leitung des Berliner Seminars bildete Ludwig Herrig mehr als zweihundert Lehrer aus. Wenn man bedenkt, dass Elze im Jahr 1864 von etwa fünfbis siebenhundert Englischlehrern in ganz Deutschland aus‐ geht, von denen fast alle auch als Französischlehrer tätig waren (vgl. Elze,1864, S. 82), weist diese Zahl auf einen beträchtlichen Einfluss des Herrig’schen Seminars hin. Der stetig steigende Bedarf an Lehrern, die vor allem in den expandierenden Realanstalten die dort fest im Lehrplan verankerten lebenden Sprachen Franzö‐ sisch und Englisch, weiterhin gelegentlich auch andere Sprachen unterrichteten, die als Wahlfach angeboten wurden (dazu Ostermeier, 2012, S. 71-78), führte dazu, dass bis etwa 1880 viele Universitäten eine Professur für Neuphilologie eingerichtet hatten. Zumindest ein Teil dieser nach 1870 ernannten Professoren kannte den Schulbetrieb aus eigener Lehrertätigkeit, so etwa Wilhelm Viëtor, der u. a. an einer Mädchenschule, einer Realschule und einem College in England unterrichtet hatte, bevor er 1884 als ao. Professor für Englische Philologie an die Universität Marburg berufen wurde (vgl. Nebrig, 2017); auch Eduard Kosch‐ witz, der romanistische Lehrstühle in Greifswald, Marburg und Königsberg innehatte, war Lehrer an einem Gymnasium gewesen (vgl. Elwert, 1979). Eigene Unterrichtserfahrungen bedeuteten jedoch nicht, dass die jeweiligen Neuphilo‐ logen in universitärer Stellung der Lehrerbildung und der Vorbereitung der 29 Fremdsprachenlehrerbildung in der neusprachlichen Reformbewegung Studierenden auf die spätere Tätigkeit gegenüber aufgeschlossen waren. So lässt sich vermuten, dass im Falle von Wilhelm Viëtor, einem der wortmäch‐ tigsten Vertreter der neusprachlichen Reformbewegung, das Engagement für einen besseren Fremdsprachenunterricht und eine den neuen Zielen angepasste Lehrerbildung auch aus seinen Unterrichtserfahrungen gespeist wurde. Eduard Koschwitz vertrat trotz oder wegen seiner eigenen Schulerfahrung als Reform‐ gegner entgegengesetzte Positionen im Hinblick auf Fremdsprachenunterricht und Lehrerbildung. Mit dem Einsetzen der neusprachlichen Reformbewegung um 1880 gewann der Diskurs um die Ausbildung der Lehrer für neuere Sprachen erheblich an Dynamik, denn zum ersten stieg die Zahl der notwenigen Lehrer an Realan‐ stalten und Gymnasien stetig an. Zum zweiten brachte die intensive Debatte um andere Ziele und Inhalte des Fremdsprachenunterrichts es mit sich, dass auch die dafür notwendigen Qualifikationen der Lehrer verstärkt in den Blick genommen wurden. 2 Fremdsprachenlehrerbildung in der neusprachlichen Reformbewegung Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts trafen eine Anzahl von gesellschaftlichen, technischen und kulturellen Entwicklungen zusammen, die Schulwesen und Lehrerbildung beeinflussten. Zu den seit Beginn des Jahrhunderts wirkenden staatlichen Bestrebungen, das Bildungssystem stärker zu regulieren, Vergleich‐ barkeit und Konsistenz durch Lehrpläne und Prüfungsordnungen herzustellen, traten durch verbesserte Verkehrsverbindungen und zuverlässigen Postverkehr (dazu ausführlich Schleich, 2015, S. 50-79) Möglichkeiten für zunehmenden nationalen und internationalen Austausch, zu dem die modernen Fremdspra‐ chen einerseits unabdingbar waren und andererseits durch ein wachsendes Interesse an der Neuphilologie selbst beitrugen. Zugleich differenzierten sich die Wissenschaften innerhalb der Universitäten stärker aus, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine Blütezeit erlebten. Unser modernes Wissenschaftssystem hat hier seine Wurzeln (vgl. Telesko, 2010, S. 200-202). Relevant für den Fremdsprachenunterricht waren neben der Neuphilologie etwa die Entwicklung der Phonetik und der Psychologie. Anstöße zu einer Reform des Fremdsprachenunterrichts und in Folge der Ausbildung der Lehrer in Deutschland kamen von Neuphilologen, die als Lehrer, wie beispielsweise Hermann Klinghardt oder Franz Dörr, oder Hochschullehrer, wie Wilhelm Viëtor oder Hermann Breymann, tätig waren. Breymann sieht die Auslöser der Reformbewegung in einer Reaktion auf die „Überschätzung 30 Friederike Klippel des grammatischen Unterrichts und gegen den Glauben an den absoluten Wert der sogenannten formalen Bildung“ (Breymann, 1895, S. 97; Hervorhebungen im Original). Unterstützt werde die Reform durch die neue Wissenschaft der Lautphysiologie oder Phonetik und die Fortschritte in Sprachwissenschaft und Psychologie (vgl. ebd.). Vor allem ging es den Reformern um das zentrale Anliegen, lebende Sprachen auch als solche zu lehren, nämlich Aussprache und Sprechfertigkeit von Anfang an zu fördern, in die fremden Kulturen einzuführen, zusammenhängende Texte in das Zentrum des Unterrichts zu rücken und die Grammatik nicht mehr in einer zentralen Rolle zu belassen, sondern ihr lediglich eine dienende Funktion zuzuweisen. Diese Kernziele der Reformbewegung sind in den von Gustav Wendt bei der achten Versammlung der Neuphilologen in Wien im Jahr 1898 vorgestellten und intensiv diskutierten Thesen zusammengefasst (dazu Wendt, 1898-1900). Zu Beginn der Reformbewegung standen vor allem die angestrebten Ver‐ änderungen im Schulbetrieb der modernen Fremdsprachen im Zentrum der Debatten. Zwar wurde von Beginn an die enge Verflechtung von Schule und Universität hervorgehoben, breitere Überlegungen zur Lehrerbildung setzten jedoch erst ab den 1890er Jahren ein, so etwa bei der fünften Versammlung der Neuphilologen 1892 in Berlin, nachdem etwa die preußischen Lehrpläne für den modernen Fremdsprachenunterricht zumindest ansatzweise Elemente der neusprachlichen Reform aufgenommen hatten (vgl. Christ & Rang, 1985, Band II, S. 41). Dadurch veränderte sich das Anforderungsprofil für die Lehrer, dem auch in der (universitären) Ausbildung Rechnung getragen werden sollte. Darüber jedoch, wie weit sich die Universität den Anforderungen des späteren Berufsfeldes ihrer Studierenden zuwenden sollte, gingen die Meinungen stark auseinander. 2.1 Schule und Universität Eine „lebhafte Wechselwirkung zwischen Universität und Schule, zwischen Wissenschaft und Praxis“ (Ey, 1886, S. 20) war das Ziel des 1886 gegründeten „Allgemeinen deutschen Neuphilologenverbands“. Vertreter der jungen Wis‐ senschaft der Neuphilologie sowie Lehrer und ganz vereinzelt auch Lehrerinnen der modernen Sprachen trafen sich auf regionaler, nationaler und internatio‐ naler Ebene, beispielsweise bei den zuerst jährlich, später alle zwei Jahre stattfindenden Tagungen des Verbandes, zu dem immer auch Vertreter anderer Länder anwesend waren. Die Berichte dieser Tagungen legen beredtes Zeugnis von einem breit gefächerten Diskurs zwischen Schule und Universität ab (vgl. Klippel, 2020). 31 Fremdsprachenlehrerbildung in der neusprachlichen Reformbewegung Grob gesagt lassen sich zwei Lager unterscheiden: Die Mehrheit der Lehrer und Professoren, die den Gedanken der neusprachlichen Reformbewegung nahestehen, auch wenn sie im Einzelnen längst nicht alle Bestrebungen der Reformer gutheißen oder unterstützen, sehen die Universitäten in der Verant‐ wortung, sich bei den Studienzielen, der Gestaltung der Studienstrukturen, der Studien- und Prüfungsinhalte, der Ausprägung der Lehre und der perso‐ nellen Ausstattung der Neuphilologie an den Bedürfnissen der überwiegenden Mehrheit ihrer Studierenden, nämlich der zukünftigen Fremdsprachenlehrer zu orientieren. Nur zu oft ertönt die Klage: wir werden auf der Hochschule zu Gelehrten gemacht, aber nicht zu Schulmännern; wir lernen die mittelalterlichen Texte verstehen und haben weder Anleitung noch Zeit, um die lebende Sprache mit ihrer überreichen Litteratur zu erfassen. (Ey, 1886, S. 19) Es gibt jedoch auch eine Gruppe von Professoren und Lehrern, die aus Sorge um die wissenschaftliche Reputation der Neuphilologie und der neusprachli‐ chen Fächer insbesondere im Vergleich mit der Klassischen Philologie darauf beharren, dass alle berufsbezogenen Kenntnisse und Fertigkeiten, wozu fremd‐ sprachliche Kompetenz und didaktisch-methodisches Wissen zählen, nach Abschluss des wissenschaftlichen Studiums im Seminar ihren Platz finden müssten. „Unsere jungen Studenten sollen nicht ‚Oberlehrer‘ studieren, sondern ‚Philologie‘ oder besser noch ‚Philosophie‘. Die Universitäten sollen dem Stu‐ denten das wissenschaftliche Denken und Forschen so einpflanzen, daß er später gar nicht mehr davon lassen kann“ (Wehrmann, 1914, S. 50). Andere sehen insbesondere die sprachpraktische Ausbildung in der Selbstverantwortung der Studenten, da die Universitäten aufgrund ihrer Personalausstattung nicht in der Lage seien, systematischen Sprachunterricht anzubieten (dazu kritisch Waetzoldt, 1892, S. 31). Einen Zusammenhang zwischen Universität und Schule kann man wie Breymann unter gesellschafts- und bildungspolitischen Aspekten sehen: Von den Akademien der Wissenschaften unterscheiden sich bekanntlich die deut‐ schen Universitäten vor allem dadurch, dass sie nicht ausschliesslich wissenschaftlich theoretische, sondern bis zu einem gewissen Grade auch praktische Zwecke verfolgen; wie jene müssen sie sich also einerseits die Pflege der Wissenschaft als solcher angelegen sein lassen, andererseits aber auch der Praxis die Hand reichen und ihren Zöglingen wenigstens so viele praktische Kenntnisse und Fertigkeiten übermitteln, dass sie vom Staate als möglichst brauchbare Diener in den verschiedenen Zweigen seiner Wirkungssphäre verwendet werden können. In Übereinstimmung mit dieser von mir schon immer verfochtenen Auffassung von den einer deutschen Universität 32 Friederike Klippel gestellten Aufgaben, vertrete ich die weitere Ansicht, dass ein Professor der Philologie (sei es der romanischen oder der englischen, der klassischen oder der deutschen) die Pflicht hat, den Zusammenhang mit der Schule stets im Auge zu behalten und seine Zuhörer in den Stand zu setzen, die gesicherten Resultate ihres Wissens für den Unterricht praktisch zu verwerten, eine Ansicht, zu der sich wohl die meisten akademischen Lehrer bekennen werden. (Breymann, 1895, S. 95f.) Es ist aufgrund der vorhandenen Quellen heute nicht mehr nachzuvollziehen, ob Breymanns Optimismus bezüglich der Einstellung der Mehrheit seiner universi‐ tären Kollegen tatsächlich zutraf. Die Diskussionen bei den Versammlungen der Neuphilologen zeigen, dass bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts die mehrheit‐ lich von den Lehrern geforderte Berücksichtigung ihrer Ausbildungsbedürfnisse im Studium von den jeweils anwesenden Hochschullehrern nicht immer als gerechtfertigt und sachlich angemessen akzeptiert wurde. Von einzelnen wurde jedoch die Interdependenz von Schulunterricht und Universitätsstudium noch unter einem anderen Blickwinkel gesehen, nämlich dem des Bildungskreislaufs: Nur bei einer genügenden Anzahl geschickter, der lebenden Sprache mächtiger Lehrer werden späterhin […] die in den obigen Sätzen an den Schulunterricht gestellten Forderungen an besseren Anstalten erfüllt werden können. Woher aber sollen die Schulen solche Lehrer bekommen, wenn die Universitäten sie nicht vorbilden? Und thun diese das Notwendige, wenn sie die praktische Ausbildung zum zukünftigen Lehrer dem Studenten im wesentlichen selbst überlassen? Schafft uns gut vorgebildete Studenten! ruft die Universität - Schickt uns gut vorgebildete Lehrer! antwortet die Schule. Das wird ein circulus vitiosus. (Waetzoldt, 1892, S. 31) Dieser Teufelskreis ist bis heute nicht völlig durchbrochen, wenngleich die weiter fortgeschrittene Ausdifferenzierung der Anglistik und Romanistik in Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaft einerseits und Fachdidaktik und Sprachpraxis andererseits dazu geführt hat, dass man die Aufgabe der Vorberei‐ tung der Lehramtsstudierenden auf das Berufsfeld heutzutage fast nur bei der Fachdidaktik sieht. 2.2 Studieninhalte Eine neue Wissenschaft strebt zunächst danach, den in ihr erreichten For‐ schungsstand zu dokumentieren. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden nach dem Vorbild der Klassischen Philologie auch Enzyklopädien für die neueren Sprachen. Den Anfang machte Schmitz (1859) mit einer Französisch und Englisch umgreifenden Darstellung, später folgte u. a. Körting (1884-1888) für die romanische Philologie und die englische Philologie (vgl. Körting, 1888). Daneben etablierten sich Einführungen in das Studium der Neuphilologie, deren 33 Fremdsprachenlehrerbildung in der neusprachlichen Reformbewegung 2 Siehe etwa das Verzeichnis neuphilologischer Vorlesungen an deutschen Universitäten im Sommersemester 1896 im Neuphilologischen Centralblatt 1897, S. 108-110. bekannteste vermutlich die mehrfach neu aufgelegte Schrift von Viëtor ( 1 1887, 3 1903) ist, sowie Handbücher für Studierende und Lehrer, die das gesamte Fach knapp darstellen und auf Literatur verweisen, z. B. Wendt (1893). Aus Sicht der Romanischen Philologie sieht Kalkhoff (2010, S. 238) das Ende ihres Kampfes um die Berechtigung als Wissenschaftsdisziplin in der Universität um 1880, also etwa mit dem Einsetzen der neusprachlichen Re‐ formbewegung. Ab diesem Zeitpunkt benötige die Neuphilologie im Rahmen ihres „historisch-vergleichenden Forschungsprogramms“ (ebd.) keine Legitima‐ tion durch die Aufgaben in der Lehrerbildung mehr. Das mag aus Sicht der Wissenschaft zutreffen, doch bestand im Hinblick auf die akademische Lehre ein gewisses Ungleichgewicht zwischen forschungsbasierten Vorlesungen zu sprachhistorischen und literaturgeschichtlichen Themen zur älteren Literatur, die weit überwogen 2 und wenig Anknüpfungspunkte für die spätere Tätigkeit der Fremdsprachenlehrer lieferten, und stärker gegenwartsbezogenen Themen. Fast scheint es, als wären die Anglisten unter den Neuphilologen dem Wandel gegenüber aufgeschlossener gewesen als die Romanisten, wenn Alois Brandl, Anglist an der Berliner Universität, schreibt: Die Frage hat sich daher erhoben: soll der neusprachliche Universitätsunterricht wirklich die praktischen Anforderungen des Tages zu erfüllen trachten, oder täte er besser, gleich dem klassisch-philologischen bei der Erforschung der Vergangenheit zu bleiben? […] Wenn sich jetzt ein Neusprachler dazu hergibt, auf der Universität sprachliche Fertigkeit ebenso zu betonen, verwandelt sich dann nicht sein Fach aus einer reinen Wissenschaft in eine angewandte? Wenn er es unternimmt, Literatur und Kultur des 19. Jahrhunderts zu lehren, werden darunter nicht Gründlichkeit und Tiefe leiden? Macht er sich nicht zum Philologen zweiten Ranges? […] Dennoch scheint es mir unvermeidlich, daß wir den Standpunkt des Entweder-oder völlig aufgeben und das Sowohl-alsauch durchführen, die Verbindung von Wissenschaft und - kurz gesagt - Praxis. (Brandl, 1907, S. 24f.) Diese Aussage zeigt, dass auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Prozess der Etablierung der Neuphilologie als Wissenschaftsdisziplin und lehrerbildendes Fach an der Universität geprägt war durch die Abgrenzung von und die Kon‐ kurrenz mit der ‚eigentlichen‘, der Klassischen Philologie. Es ist bezeichnend, dass einer der führenden Köpfe der Reformbewegung, Wilhelm Viëtor, das wissenschaftliche System der klassischen Philologie, wie es etwa von Böckh 34 Friederike Klippel (vgl. Bratuschek, 1877) um die Mitte des 19. Jahrhunderts formuliert worden war, für seine eigene Einführung in die englische Philologie als Basis nutzte. Ohne Böckhs Definition der Einzelphilologie als ‚geschichtlich wissenschaftliche Erkenntnis der gesamten Tätigkeit, des ganzen Lebens und Wirkens eines Volkes‘ aufzugeben, darf man daher die Einschränkung hinzufügen: mit der Sprache und Litteratur als Ausgangs- und Mittelpunkt. (Viëtor, 1903, S. 7) Der Gedanke, das „ganze Leben“ in den Blick zu nehmen, wurde von den Neuphilologen insofern aufgegriffen, als sie das Studium der Realien als un‐ abdingbaren Bestandteil des schulischen Fremdsprachenunterrichts ansahen. Bereits bei der ersten Konferenz der Neuphilologen stellt Hermann Klinghardt, einer der engagiertesten Vertreter der Reformideen, die folgende Forderung auf: Der französisch-englische Unterricht und die neuphilologische Wissenschaft, bisher fast ausschließlich auf die sprachliche Seite der modernen Kulturentwicklung ge‐ richtet, haben sich künftighin - nach dem Muster des griechisch-lateinischen Unter‐ richts - mehr und mehr noch mit den realen Lebensäußerungen der modernen Völker zu beschäftigen. (Vorstand des Allgemeinen Deutschen Neuphilologenverbands, 1886, S. 31) Seine These wurde kontrovers diskutiert, und die Frage der Realien tauchte immer wieder in den Debatten und Publikationen auf. So konstatiert Wendt (1898, S. 658) in einer ebenfalls bei einer Versammlung der Neuphilologen erörterten These: „Die beherrschung der fremden sprache ist das oberste ziel des unterrichts; den unterrichtsstoff bildet das fremde volkstum. Die fremde sprache ist das naturgemässe mittel, um in dessen erkenntnis einzudringen.“ Und Waetzoldt (1892, S. 13) stellt kategorisch fest: „Französisch und Englisch lernen und lehren, heißt Frankreich und England lehren und lernen.“ Man könnte daher vermuten, dass die Realien, also die Geschichte, Politik und Kultur von Frankreich und England auch im neuphilologischen Lehramts‐ studium eine wichtige Rolle spielen. Zwar betont Viëtor (1903, VII) im Vorwort zur ersten Auflage seiner „Einführung in das Studium der englischen Philologie“, dass er keinen „Kanon“ für das Studium habe aufstellen wollen, doch ist angesichts des hohen Stellenwerts der Realien für den Unterricht erstaunlich, dass diese lediglich in einem Teilkapitel auf drei Seiten abgehandelt werden (vgl. Viëtor, 1903, S. 97-100). Er nennt dort einige wenige Standardwerke zur engli‐ schen Geschichte, empfiehlt Wendts Realienbuch (vgl. Wendt, 1892) sowie den Baedeker Reiseführer und den jährlich erscheinenden Jahresrückblick „Hazell’s Annual“. Offenbar sah er keinen Platz für landeskundliche Einführungen im 35 Fremdsprachenlehrerbildung in der neusprachlichen Reformbewegung Studium, sondern stellte den Erwerb solchen Wissens in die Eigenverantwor‐ tung jedes Fremdsprachenlehrers: Eine eingehende Bekanntschaft mit den politischen und sozialen Verhältnissen des heutigen England ist für den Philologen wie für den Lehrer gleich unerlässlich. Hierzu wird vieles ein längerer, wohl ausgenutzter Aufenthalt im Lande beitragen. (Viëtor, 1903, S. 98) Waetzoldt wünscht sich im Gegensatz dazu eine stärkere Berücksichtigung dieses Gebiets bereits im Studium und vor allem in der Prüfungsordnung, die seiner Meinung lauten müsse: In der politischen wie in der Kulturgeschichte Frankreichs oder Englands und in der Landeskunde muß der Kandidat soweit orientiert sein, um die gebräuchlichen Schulschriftsteller auch sachlich erläutern und vorkommenden Falles gute Hilfsmittel mit Verständnis benutzen zu können. (Waetzoldt, 1892, S. 44) Auch die didaktische Ausbildung der Lehrer wurde - wenn auch weniger häufig - diskutiert. Schröer, der selbst einige Jahre als Lehrer an einer Oberrealschule in Wien tätig gewesen war, bevor er sich habilitierte und Professuren in englischer Philologie an verschiedenen deutschen Universitäten innehatte, weist darauf hin, „daß auch Pädagogik und Didaktik wissenschaftliche Disziplinen sind und nicht etwa Fertigkeiten, die ‚einzupauken‘ wären“ (Schröer, 1887, S. 11; Hervor‐ hebung im Original). Durch die ganze Reformzeit zieht sich die Debatte um die Inhalte des Lehr‐ amtsstudiums. Das Spektrum reicht von denen, die eine gezielte Vorbereitung auf den späteren Beruf fordern, wozu auch Didaktik und Pädagogik neben moderner Literatur, Gegenwartssprache, Phonetik und Landeskunde gehören ebenso wie die Ernennung von Professoren, die selber Schulerfahrung als Fremdsprachenlehrer mitbringen (so etwa Wehrmann, 1914, S. 49), über viele Zwischenstadien bis zu jenen, die die gesamte Vorbereitung auf die Lehrertätig‐ keit in die Probezeit nach dem Studium, den dort stattfindenden Seminarbesuch und die Eigenverantwortung jedes Einzelnen verbannen möchten, um an der Universität die reine Wissenschaft, und zwar vor allem Sprachgeschichte und frühe Epochen in der Literaturgeschichte zu pflegen. Weitgehende Einigkeit bestand jedoch über die Forderung, getrennte Professuren für englische und romanische Philologie einzurichten und für das Lehramt die Kombination eines Sprachenfachs mit anderen Fächern zu ermöglichen (vgl. Viëtor, 1908). 36 Friederike Klippel 2.3 Studiengestaltung und Auslandsaufenthalt Neben den Inhalten des Studiums wurden, wenn auch in geringerem Umfang, die universitären Lehrformen und vor allem die unzureichende Ausstattung der Neuphilologie an den Universitäten kritisch kommentiert. So bemerkt Viëtor in einem Nachwort zu Max Walters Reformschrift (vgl. Walter, 1912), dass an der Universität Marburg für über zweihundert Studierende der englischen Philologie ein Professor und ein Lektor zur Verfügung stehen. Hier sei eine Reform dringend nötig (vgl. Viëtor, 1912, S. 26). Und Walter kommentiert diesen Zustand, der damals nicht nur für die Universität Marburg zutraf: Wie können ein professor und ein lektor für die ausbildung so vieler studierender sorgen! Zu dieser ausbildung gehören unbedingt seminarübungen, an denen jeder student teilzunehmen verpflichtet sein sollte! Solche übungen lassen sich aber nicht in massen vornehmen, sondern jeder kursus kann nur eine kleine zahl studierender umfassen. Wo bleibt also die gelegenheit zur gründlichen Durchbildung der einzelnen jungen leute! Wie sollen sie bei solchem massenbetriebe den aufgaben gerecht werden, die die schule an sie stellen muss! Dazu ist weiter zu bedenken, dass auch beim tüchtigsten dozenten eine einseitige vertretung seines faches nicht zu vermeiden ist. (Walter, 1912, VII) In seiner ausführlichen Besprechung von Walters (1912) Schrift in der Erst‐ auflage, in der er sich Walters Plädoyer für stärker diskursive Lehrformate mit Nachdruck anschließt, schildert Klinghardt eine uns aus heutiger Sicht übertrieben scheinende Charakterisierung üblicher akademischer Lehre: Der professor sitzt auf dem katheder und liest mehr oder weniger frei aus seinem hefte vor. Der student sitzt unten vor ihm und schreibt - um nicht zu sagen „schmiert“ - mehr oder weniger sklavisch und mechanisch in sein heft ein; alle worte des professors, die er hier nicht schwarz auf weiss zu fixieren vermag, sind für ihn verloren. (Klinghardt, 1901/ 02, S. 32) Wenn der Student dann später anhand seiner Notizen den Stoff wiederholen wolle, könne er mit der wenig leserlichen Mitschrift nicht viel anfangen, und die Vorlesung habe letztendlich für ihn keinen Nutzen (ebd.). Walters Vorschläge blieben jedoch nicht unwidersprochen. In einer weiteren Rezension derselben Schrift beklagt der Verfasser, dass Walters Vorschläge, zu denen u. a. die Einrichtung einer universitätseigenen Druckerei zur Herstellung von Vorlesungsskripten für die Studierenden (vgl. Walter, 1912, S. 13) und die Gewährung von Auslandsstipendien zählen (vgl. ebd., S. 14), nichts weniger be‐ deuten „als eine vollständige umänderung des gesamten auf jahrhundertelanger überlieferung beruhenden unterrichtsbetriebes der deutschen universitäten“ 37 Fremdsprachenlehrerbildung in der neusprachlichen Reformbewegung (Stimmig, 1901/ 02, S. 36). Man mag sich fragen, was Stimmig von der Forderung Waetzoldts gehalten hätte, der bereits 1892 überlegte, ob Vorlesungen auch in französischer und englischer Sprache gehalten werden sollten (vgl. Waetzoldt, 1892, S. 33). Im Reformdiskurs gab es eigentlich nur ein Thema, bei dem die unterschied‐ lichen Positionen weniger hart aufeinanderprallten, nämlich das der Notwen‐ digkeit eines Auslandsaufenthaltes für angehende oder bereits im Schuldienst befindliche Fremdsprachenlehrer. Auch wenn die Reformgegner mehr Wert auf die gründliche philologische Vorbildung der Französisch- und Englischlehrer legten als auf deren Sprachkönnen und Realienkenntnis, so erkannten doch auch sie den Wert der realen Begegnung mit Zielsprache und Zielkultur an. Schon 1887 forderte Schröer, der nicht zum Kern der Neusprachenreform zu zählen ist, dass jeder Schulamtskandidat der englischen Philologie nach England gehen solle und nicht nur besonders Auserwählte (vgl. Schröer, 1887, S. 36f.), wie Herrig und Viehoff schon 1848 angemahnt hatten (vgl. Herrig & Viehoff, 1848, S. 229; 231). Schröer schlägt vor, dass deutsche Lehrer an englischen Schulen unterrichten könnten, um ihren Auslandsaufenthalt zu finanzieren; damit bringt er eine Idee ein, die heute im Pädagogischen Austauschdienst (PAD) realisiert ist. Neben den offenkundigen Zielen, vor Ort die fremde Sprache vor allem in der mündlichen Kommunikation zu üben sowie Sitten und Gebräuche im anderen Land kennen zu lernen, sahen einige auch Aspekte der Völkerverständigung und Friedenssicherung gegeben: „Wir hoffen von ihnen [= den Neuphilologen] einen großen Einfluß auf die Stellung der Völker unter einander: Wir sehen in ihnen die mächtigste Friedensarmee“ (Schmeding, 1889, S. 94). Der Erste Weltkrieg hat diese Hoffnung 25 Jahre später zerbrechen lassen. Betrachtet man die Einrichtung von Ferienkursen für Lehrer im In- und Ausland, die in den Fachzeitschriften regelmäßig enthaltenen detaillierten Informationen über Beherbergungs- und Kontaktmöglichkeiten in Zielländern, die Gewährung von Reisestipendien in den Jahrzehnten zwischen 1880 und 1914 und die breite Palette an Berichten über Fremdsprachenunterricht und Fremdsprachenlehrerbildung in anderen Ländern, dann wird offenbar, dass in der Zeit der neusprachlichen Reform zum ersten Mal ein über die Ländergrenzen hinweg stattfindender Austausch zu diesen Fragen, ein Lernen vom Nachbarn und ein internationaler Diskurs zu Bildungs- und Ausbildungsfragen stattfand (dazu Klippel, 2020). 38 Friederike Klippel 2.4 Forschung Weder Reformgegner noch Reformer plädierten für eine Rückkehr zum alten Konzept des Sprachmeisters aus früheren Jahrhunderten, der allein kraft seiner eigenen muttersprachlichen oder erworbenen Sprachkompetenz lehrt. Vielmehr ist man sich darin einig, dass Französisch- und Englischlehrer an den höheren Schulen wissenschaftlich gebildet sein müssen. “Zum Lehrer eines Gymnasiums oder Realgymnasiums taugt nur, wer wissenschaftlich geschult ist und wissen‐ schaftliches Verständnis der Materien besitzt, welche er lehren soll“ (Körting, 1887, S. 40). Dieses wissenschaftliche Verständnis des Faches setzt den Neu‐ sprachler dem Altsprachler gleich. Es führt aber auch dazu, dass zahlreiche Lehrer der damaligen Zeit forscherisch tätig wurden. Das zeigt sich zum ersten an dem großen Anteil promovierter Fremdsprachenlehrer, wie dies aus den Mit‐ gliederlisten des Allgemeinen Deutschen Neuphilologenverbandes ersichtlich wird: Von den 2182 Mitgliedern des Verbandes, die der Konferenzbericht zur 14. Versammlung 1910 in Zürich auflistet, tragen weitaus mehr als die Hälfte einen Doktortitel (vgl. Vorstand des Allgemeinen Deutschen Neuphilologenverbands, 1911, S. 137-173). Zum zweiten ist die Publikationstätigkeit der Lehrer jener Zeit erheblich: Allein zum Thema der Neusprachenreform verzeichnet die Bibliogra‐ phie von Breymann (1895 und 1900) für den Zeitraum von 1875 bis 1899 über 1200 theoretische Veröffentlichungen in Fachzeitschriften, Schulprogrammen und Einzelpublikationen. Ein Großteil dieser Schriften wurde von Lehrern verfasst. Körting sieht denn auch in der wissenschaftlichen Tätigkeit einen Weg zur Erfüllung im Beruf: Der Gymnasiallehrer, welcher nicht wissenschaftlich arbeitet, wird nothwendiger‐ weise zum Routinier, zum Handwerker und noch dazu meist zu einem Handwerker, der sein Handwerk ohne Liebe, vielleicht sogar mit innerem Widerwillen eben nur des Brotverdienstes willen betreibt. Nur durch wissenschaftliche Arbeit wahrt der Gymnasiallehrer sich die Berufsthätigkeit und die Berufsfreudigkeit. Nicht freilich, als ob ein jeder schriftstellerisch thätig sein müsste. Das kann unmöglich gefordert werden, denn das ist nur dem möglich, der besondere Neigung und Begabung dazu besitzt. Aber ein Jeder soll irgend etwas arbeiten, soll das Fortschreiten seiner Fachwissenschaft verfolgen, soll darnach streben, auch in irgend ein Einzelgebiet derselben, und wäre es ein noch so eng begrenztes, so tief einzudringen und es so vollständig zu beherrschen, wie er es nur irgend vermag. (Körting, 1887, S. 40f.) In die Reformzeit fallen auch die Anfänge der Lehrerforschung, im Rahmen derer Fremdsprachenlehrer ihren eigenen Unterricht über einen langen Zeit‐ raum hin beobachten, dokumentieren, analysieren und ggf. verändern (dazu Klippel, 2013). Am bekanntesten ist wohl das mehrjährige Unterrichtsprojekt 39 Fremdsprachenlehrerbildung in der neusprachlichen Reformbewegung von Hermann Klinghardt (1888), der aber nur einer der vielen experimentier‐ freudigen Lehrer der Zeit war. Von Forschung zur Lehrerbildung kann man bei den meisten Veröffentli‐ chungen zum Thema aus der Zeit vor 1914 nach heutigem Verständnis wohl kaum sprechen, wenngleich sich in einigen der Grundsatzüberlegungen, so etwa bei Körting (1887) oder Schröer (1887) durchaus Ansätze für eine theore‐ tisch-konzeptuelle Darstellung erkennen lassen. Insofern lag der Schwerpunkt vor gut 120 Jahren auf ganz anderen Gebieten als heute. Vergleicht man die wissenschaftliche Diskussion zum Fremdsprachenlehrer-Werden und Fremd‐ sprachenlehrer-Sein damals und heute, wie sie Caspari (2016) prägnant in zehn Thesen zusammengefasst hat, so fällt vor allem auf, dass die Innensicht auf den Lehrerberuf heute wesentlich stärker berücksichtigt wird. Dass es im Hinblick auf die Forschungsansätze große Unterschiede gibt, ist nicht verwunderlich; schließlich steckte die empirische Forschung in den Geisteswissenschaften da‐ mals noch in den Kinderschuhen. Historische Forschung zu Fremdsprachenleh‐ rern war damals wie heute rar. Die Geschichte der Fremdsprachenlehrerbildung verdient jedoch mehr Aufmerksamkeit, denn in ihr zeigen sich Grundmuster, die uns bis heute begleiten. Literatur Brandl, Alois (1907). Neuere Sprachen. In Versammlung Deutscher Philologen und Schulmänner (Hrsg.) Universität und Schule. Vorträge auf der Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner am 25. September 1907 zu Basel (S. 23-31). Leipzig und Berlin: Teubner. Bratuschek, Ernst (Hrsg.) (1877). Böckh, August: Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften. Leipzig: Teubner. Breymann, Hermann (1895). Die neusprachliche Reform-Literatur 1876-1893. Eine biblio‐ graphisch-kritische Übersicht. Leipzig: Deichert. Caspari, Daniela (2016). Forschungen zu Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrern im Spiegel allgemeiner Entwicklungen in der Fremdsprachenforschung. In Friederike Klippel (Hrsg.) Teaching languages - Sprachen lehren (S. 39-57). 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Wie für den Autor dieser Zeilen steht er für den Beginn ihrer Begegnung mit Fremdsprachen als Schülerin und für das Jahrzehnt, in dem ihre (haupt-)berufliche Beschäftigung mit Fragen des Lehrens und Lernens von Sprachen ausklingen wird. Zugleich definieren diese Jahreszahlen die Eck‐ punkte eines Zeitraums, für den auf der Basis historischer schriftlicher Quellen, Lehrwerken eines den Französischunterricht in Deutschland maßgeblich prä‐ genden Verlagshauses, Entwicklungstendenzen abgeleitet werden sollen. Grammatik ist in der französischdidaktischen Diskussion nicht im Zentrum des Interesses, auch wenn die Beschäftigung mit dem, was man mittlerweile als sprachliche Mittel bezeichnet, wieder zunimmt (z. B. Bürgel & Reimann, 2017). Die Mehrzahl der Arbeiten, die sich mit Grammatik und ihrer Vermittlung im Unterricht beschäftigen, ist weitgehend methodischer Natur, es geht vielfach um praktische Vorschläge, auf welche Art und Weise die eine oder andere Grammatikstruktur eingeführt, geübt und gelernt werden kann. Nur selten finden sich Arbeiten, die die Vermittlung von Grammatik zum Gegenstand der Forschung machen. Eine solche ist die von Schäfer (2017) zum Thema grammatische Erklärfilme, dem sie sich aus mediendidaktischer Perspektive widmet. Eher konzeptioneller Natur sind Arbeiten (v. a. Bürgel & Siepmann, 2015; Siepmann, 2016), die Möglichkeiten der Auswahl wie auch die Vermittlung von Grammatik auf der Basis korpuslinguistisch erzeugter Daten sondieren. Ausgehend von einem weiten Kollokationsbegriff wird data-driven-learning als methodischer Weg zum Sprachenlernen vorgeschlagen. Im Gegensatz zu Segermann (2005), wo lexiko-grammatische Bausteine vorgegeben werden, soll auf der Basis von Konkordanzdarstellungen (z. B. sur vs. à Paris) der Fokus auf die Anleitung zur Abstraktion von dahinterliegenden Konzepten (sur Paris à ‹vorübergehend›; à Paris ‹dauerhaft›, ‹kurz›), sogenannter Konstruktionen (« idiomatische[n] Form-Bedeutungspaarungen »; Siepmann, 2016, S. 21) gelegt und somit der Bezug von Form und Inhalt bewusst gemacht werden. An den Grammatikunterricht als zentrales Element des Sprachenlernens war bereits in den Anfängen des Faches die Erwartung geknüpft, durch kognitivie‐ rende Verfahren den Erwerbsprozess positiv zu beeinflussen. Schon ausgangs des 18. Jahrhunderts war Meidinger (1797, S. 3 verso; zit. nach Christ, 2000, S. 8) fest von der fördernden Wirkung eines regelbasierten Erlernens der französischen Sprache überzeugt, indem er schrieb: « Die französische Sprache durch Regeln zu erlernen ist, wie jedem Kenner bekannt, der kürzeste und sicherste Weg, den man nur einschlagen kann » (ebd.). Nun war die Zielsetzung des Sprachunterrichts zu jener Zeit eine andere als heute, wo den Bildungs- oder Rahmenlehrplänen breiter gefächerte Zielsetzungen zugrunde liegen und Sprachanalyse zur Entschlüsselung von Texten nur einen Teil des Kompetenz‐ bündels darstellt. Wenn wir uns im Folgenden der Grammatik und ihrer Darstellung in Lehr‐ werken widmen, soll vorausgeschickt werden, dass hierunter mit Gnutzmann ( 3 2019, S. 112; nach Mindt, 1992, S. 14) Folgendes verstanden werden soll: « [Eine pädagogische Grammatik ist] eine für die direkte Verwendung im Unterricht erstellte Planung spezifischer Grammatikerscheinungen, die von einer didak‐ tischen Grammatik abgeleitet sind ». Da der vorliegende Beitrag den Blick auf ein begrenztes Korpus richtet, sei die o. g. Definition eingeengt auf eine auf bildungspolitischen Vorgaben beruhende Auswahl morpho-syntaktischer Strukturen, die für Lehr-/ Lernzwecke didaktisch-methodisch aufbereitet sind. 2 Grammatik im Übungsapparat von Lehrwerken 2.1 Forschungsfrage und Vorgehensweise Die Ausgangsfrage ist folgende: Welcher Stellenwert wird im Anfangsunterricht (= erste beiden Lernjahre) der Grammatik in Lehrwerken der 1970er bis 2020er 46 Jürgen Mertens 1 Die quantitative Darstellung kann aus Platzgründen hier nicht abgedruckt werden. Ich verweise auf den ungekürzten Gesamttext dieses Beitrags als PDF unter PH Ludwigsburg / Französisch / Literaturhinweise. Jahre beigemessen? Diese Frage soll qualitativ 1 auf der Basis eines zeitlich klar umrissenen Datenkorpus beantwortet werden. Das Erkenntnisinteresse richtet sich auf ein Forschungsfeld, das im Übergang von Vergangenheit zur Gegen‐ wart angesiedelt ist, wenn wir mit Klippel & Ruisz unter Gegenwart « etwa die letzten zwanzig bis dreißig Jahre » (2020, S. 9) verstehen. Der Fokus des Beitrags liegt darauf nachzuzeichnen, wie grammatische Phänomene in Lehr‐ werksübungen, deren Konzeption und Produktion bereits abgeschlossen und damit ‹historisch› sind (vgl. ebd.), dargestellt, konzeptualisiert und für den Übungsprozess aufbereitet sind. Gleichermaßen wohnt dem Datenkorpus eine Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung inne, dessen Betrachtung Einsichten in « Errungenschaften und Probleme der Gegenwart auf der Basis der histori‐ schen Entwicklungen » (ebd.) erlauben sollen. 2.2 Beschreibung des Datenkorpus und Datenauswertung Das dieser Analyse zugrundeliegende Korpus setzt sich aus 10 Bänden gym‐ nasialer Französischlehrwerke aus 6 Lehrwerksgenerationen zusammen, die folgenden Kriterien entsprechen: 1. Niveau: 1. und 2. Lernjahr, Gymnasium; 2. Sprachenfolge: 2. Fremdsprache; 3. Epoche: 1970er (jeweils im Dekadenabstand) bis 2020er Jahre; 4. Streuung: Datenmaterial aus Lehrwerken eines Verlags. Mit der Wahl von Etudes Françaises Teil 1 (Erdle-Hähner & Klein, 1971), Echanges 1 und 2 - Edition longue (Grunwald et al., 1981; Göller et al., 1985), Découvertes 1 und 2, édition verte (Beutter et al., 1992, 1993), Découvertes 1 und 2 (Bruckmayer et al., 2004; Alamargot et al., 2005), den Découvertes Bänden 1 und 2 (Bruckmayer et al., 2012, 2013) sowie einem Blick in die aktuellste Lehrwerk‐ generation (Découvertes 1, Bernklau et al., 2020) wird ein Zeitraum von ca. 50 Jahren abgesteckt, in dem 6 Generationen von Lehrwerken entstanden sind, die alle abgesehen von dem Lehrwerk der 1990er Jahre an einem Wendepunkt zu einer neuen methodischen Ära stehen. Etudes Françaises erfüllt eine Scharnierfunktion. Konzeptuell stellt das zwei‐ bändige Lehrwerk eine Mischkonzeption dar, das diverse Merkmale eines traditionellen Lehrbuches mit nur wenigen Anklängen an die in diese Zeit ge‐ hörige audio-visuelle Methode aufweist. Seine Wirkung reichte als langjähriger Marktführer weit in die Anfangsjahre des konzeptuell von Piepho Mitte der 1970er Jahre in Deutschland eingeläuteten kommunikativen Fremdsprachenun‐ terrichts hinein (vgl. Mertens, 2018). Dieser Ansatz fand nach und nach Eingang in die folgenden Lehrwerksgenerationen. Den Endpunkt des Darstellungsraums 47 Grammatik im Übungsapparat von Französischlehrwerken (1970 - 2020) stellen die 3. und 4. Generation von Découvertes (Bruckmayer et al., 2013, 2014; Bernklau et al., 2020) dar. Beide Lehrwerke reihen sich, so der Selbstanspruch, in das Paradigma des Aufgabenorientierten Ansatzes ein. Was die Auswertung angeht, so wurden in einem ersten Schritt alle (Pflicht- und Zusatz-)Übungen des Korpus nach Grobkategorien, basierend auf den in den Bildungsplänen genannten sprachlichen Mittel, Aussprache, Lexik und Grammatik sortiert. In einem zweiten Durchgang wurden die Übungen, die im ersten nicht zugeordnet werden konnten, durch Clustern neu verteilt. Auf dieser Basis ließen sich zwei Kategorien, Fertigkeiten und Mediation ableiten; die verbleibenden Übungen wurden der Sammelrubrik Sonstiges zugeordnet. 3 Darstellung der Ergebnisse 3.1 In einem Lehrwerk aus der vorkommunikativen Phase Das Hauptaugenmerk liegt bei Etudes Françaises (Erdle-Hähner & Klein, 1971) auf dem Aufbau eines an Schriftsprache orientierten Grammatikwissens, dessen inhaltliche Eckpunkte Nominal- und Verbalphrasen sowie die zentralen Satz‐ arten sind. Welches sind die Grundmerkmale dieser Übungen? Kontextungebundene Einzelsätze / Aufbau einer Satzgrammatik Typische Übungen sind Lückentexte, bei denen oft Verbendungen zu ergänzen sind. Andere sprachmanipulative Übungsformen sind die der Umformungs‐ übung oder solche, bei denen Satzarten geübt werden. All diesen Übungen ist gemein, dass sie auf formale Aspekte fokussieren und kein kommunika‐ tives Handlungsziel haben. Die jeweilige Grammatikstruktur ist im schmalen Rahmen des Einzelsatzes angesiedelt, der weder in Textstrukturen eingebunden noch situativ oder kontextuell verankert ist. Metasprachliche Anweisungen / Sprachmanipulatives Handeln Die Mehrzahl der Grammatikübungen besteht aus einer unterschiedlich großen Anzahl an zu bildenden oder umzuformenden Sätzen und einer vorgeschalteten, oft metasprachlichen Formulierung, die den Arbeitsauftrag mit einem Operator im Imperativ festlegt (« Mettez à la forme négative et à la forme interrogative. », ebd.). Fast immer wird durch die blau unterlegte Überschrift der Übung expliziert, um welches Grammatikphänomen es sich handelt. Nur selten wird durch die Überschrift ein Thema oder eine Situation evoziert. Unter allen Grammatikü‐ bungen verweisen nur vier Übungen auf einen Handlungsrahmen. Zwar steht auch in diesen Übungen die Grammatik im Zentrum (Imperativ; betontes Per‐ 48 Jürgen Mertens sonalpronomen; Uhrzeit und Verbkonjugation; Zeitenbildung), doch wird sie in eine weitgehend kohärente Textstruktur eingebettet vermittelt. « La journée de Marcel » formuliert die zeitliche Abfolge dessen, was die fiktive Lehrbuchperson angeblich tut. Traditionnelles Lernkonzept / Kognitivierung und Habitualisierung In Etudes Françaises sind der Erwerb grammatikalischen (Einstiegs-)Wissens und die Einübungsphase weitgehend voneinander getrennt. In den Übungen wird konsequent auf die korrespondierende Stelle im grammatischen Beiheft verwiesen. Dort werden, gerafft gesagt, die einzelnen Grammatikphänomene dargestellt und metasprachlich mit Fachterminologie erklärt. Der gewählte Ansatz ist kognitiv, was zum damaligen Zeitpunkt üblich war. Dass Etudes Françaises, ein im Geist der 1960er Jahre konzipiertes Lehrwerk, den damals herrschenden fachdidaktischen Einflüssen unterlag, lässt sich an Übungstypen wie « Série » (ebd., u. a. S. 83, 84, …) und Pattern-Übungen (« Faire des phrases/ Nous faisons des phrases »; ebd., S. 30, 33, …) ableiten. Unter den 146 Grammatikübungen kommen diese beiden Typen nur 12-mal vor. Sie sind jedoch ein Beleg dafür, dass einem an behavioristischen Vorstellungen orientierten Lernbegriff und somit habitualisierenden Üben zumindest eine Teilwirkung zu‐ gesprochen wird. Solche Übungen zielten auf einen hohen Output sprachlicher Strukturen ab. Dies konnten Drillübungen im Einzelsatz sein (z. B. ebd., S. 96) oder Satzbautafeln zum ‹Einschleifen› basaler Strukturen. Der Erwerb grammatischen Wissens war, so sei festgestellt, ein Mix aus Herangehensweisen, der die Schüler/ innen in die Lage versetzen sollte, ein‐ zelne Grammatikbausteine aneinanderzureihen, und weniger, sie anwenden zu können. Inwieweit die systematischen Beziehungen zwischen Form, Bedeutung und Anwendung wie sie Nunan (1998, S. 102) für den Aufbau sprachstrukturellen Wissens und Könnens formuliert in den Lehrwerken ab den 1980er Jahren um‐ gesetzt wurden, sei im folgenden Abschnitt thematisiert. Der Übersichtlichkeit halber wird eine Einteilung vorgeschlagen, bei der für die 1980er bis 2000er Jahre von (neo-)kommunikativer Ära und ab der 2010er Generation von Phase der Aufgabenorientierung gesprochen werden soll. 3.2 In Lehrwerken der (neo-)kommunikativen Phase Die zentralen Impulse für die Ausformung des (neo-)kommunikativen Ansatzes (siehe Reinfried, 2001; Schumann, 2017; Legutke, 3 2019) waren die Anleihen an den Erkenntnissen der Sprechakttheorie wie auch der emanzipatorisch ausgerichteten Theorie des kommunikativen Handelns von Habermas (1971). 49 Grammatik im Übungsapparat von Französischlehrwerken (1970 - 2020) Auf der konkreten Ebene des Lehrwerks sollte sich diese in der Vermittlung eines möglichst umfassenden Repertoires an in Redemitteln sich konkretisierenden Sprechakten widerspiegeln. Inwieweit dieses zentrale Merkmal des kommuni‐ kativen Ansatzes in den Lehrwerksgenerationen dieses Zeitraums, in Echanges, stellvertretend für die 1980er Jahre, in Découvertes, stellvertretend für die 1990er Jahre und im Découvertes der 2000er Jahre, seinen Niederschlag in Form von kondensierter Grammatik gefunden hat, soll nachfolgend skizziert werden. Folgende Merkmale lassen sich aus der Analyse dieser Lehrwerke ableiten: Dialogische Einbettung grammatikalischer Phänomene Auffällig ist, dass im ersten ‹kommunikativen› Lehrwerk die Grammatik über‐ wiegend in einen dialogischen Handlungsrahmen eingebettet ist. Dies scheint ein Indiz dafür zu sein, dass mit kommunikativer Kompetenz implizit das Sprechen verbunden wurde. In der Regel orientieren sich die Übungen thema‐ tisch an den Lektionsinhalten. Der Erwerb struktursprachlicher Kompetenz bzw. grammatikalischer Grundmuster erfolgt meist im Rahmen von Kurzdi‐ alogen, deren Basisstruktur identisch bleibt. Die Variation erfolgt a) durch den Austausch von Lexik und b) durch Perspektivwechsel, so dass eine hohe Übungsfrequenz erreicht und mehrere Facetten des Grammatikphänomens geübt werden können. So ist etwa die Übung « Tu as quel âge?  » (Grunwald et al., 1981, S. 23) einerseits auf die Übernahme einer fiktiven Rolle ausgerichtet, bei der die Ich/ Du-Perspektive im Vordergrund steht und die 1. und 2. Pers. Singular des Verbs avoir geübt wird. Im zweiten Schritt wird die 3. Pers. Singular fokussiert und der Blick auf beschreibendes Sprechen gelegt. Abschließend erfolgt die Übertragung des Gelernten auf das Umfeld der Lernenden (3. Pers. Plural; im Sinne von: « [Mes parents], ils ont 40 et 42 ans »). (Ansatzweise) Funktionalisierung von Grammatik Ein weiteres Merkmal, an dem sich der Paradigmenwechsel zum kommunika‐ tiven Unterricht abzeichnet, ist die Tendenz, Grammatik aus dem Blickwinkel von Sprechabsichten zu sehen und die Funktion von Grammatik, weniger aber deren Form zu fokussieren. In Echanges (Grunwald et al., 1981; Göller et al., 1985) war zwar von Sprech‐ absichten im Inhaltsverzeichnis bereits die Rede, im Übungsteil der Französisch‐ bücher waren sie aber nur indirekt in den Übungsdialogen, nicht aber konkret in Form von Redemitteln präsent. Redemittel werden im Übungsteil erst ab den 1990er und 2000er Jahren zum Lerngegenstand. In diesen Lehrwerken wird der Aufbau von Redemitteln und damit einer lexiko-funktional verankerten Grammatik aktiv durch Übungen unterstützt (« On dit », z. B. Beutter et al., 1994, 50 Jürgen Mertens 1995; Bruckmayer et al., 2004). Dieser Ansatz wird allerdings nicht konsequent durchdekliniert. Redemittel sind in den Lehrwerken der 1990er und 2000er Jahre auf der Satzebene angesiedelte lexiko-grammatische Einheiten, die als Gesamtheit vermittelt werden, ohne dass die enthaltene Grammatikstruktur im Rahmen des Übungsprozesses über einen reflektierenden Zugang erschlossen und somit verallgemeinerbar wird. Es werden beispielsweise bei der Redeab‐ sicht « Demander son chemin/ Expliquer le chemin » (Beutter et al., 1994, S. 64) die Ordinalzahlen nur als lexikalisches und nicht als grammatikalisches Phänomen thematisiert. Ein zentrales, theoretisches Anliegen des kommunikativen Ansatzes war die - idealisierte - Vorstellung eines/ einer kommunikativ souveränen, eman‐ zipierten Sprechers/ Sprecherin. Diese Facette des Ansatzes findet sich in der Konzeption der in den 1990er und 2000er Jahren entstandenen Lehrwerke nicht wieder. Soziolinguistische und situativ-pragmatische Informationen werden nicht zum Lerngegenstand, so dass anwendungsbezogenes Zusatzwissen über den Kontextwert der Redemittel den Schüler/ innen in den untersuchten Lehr‐ werken vorenthalten bleibt. « A Paris » und « J’habite à Paris » als mögliche Antworten auf die Frage danach, wo jemand wohnt, stehen unkommentiert, quasi auswechselbar, in einer Übung nebeneinander (vgl. Beutter et al., 1994, S. 24). Potentiell vorhandene, diaphasische Unterschiede innerhalb von Rede‐ mittellisten, obwohl ein wichtiger Aspekt von sprachlicher Bildung im Sinne der Habermas’schen Kommunikativen Kompetenz, werden ausgeblendet (z. B. Beutter et al., 1995, S. 31). Eine eins-zu-eins Zuordnung von Redeabsicht und einem spezifischen grammatikalischen Phänomen wird es selten geben. Es lassen sich jedoch situationsspezifische Grammatik-Redemittel-Verbindungen finden, wenn die Passung zum Kontext gegeben ist. In den Lehrwerken gelingt diese Feinjustie‐ rung aber vielfach nicht, wie folgendes Beispiel zeigt: Struktureller Inhalt der Übung « Qu’est-ce que c’est en francais?  » (Bruckmayer et al., 2004, S. 21) ist die periphrastische Frageformel. Im Sinne der Pragmadidaktik wird der Struktur eine der möglichen Redeabsichten unterlegt, und zwar das Erfragen der französischen Bezeichnung von Gegenständen (C’est un magasin. C’est le magasin de M. Dufour). Es ist ein Leichtes zu erkennen, dass die Verquickung von Sprachstrukturen und Sprechabsichten nicht passen will. Oberflächen‐ strukturell zeigt sich bei dieser Übung der Einfluss der Pragmatik. Tiefenstruk‐ turell erfüllt eine solche Übung nicht den Anspruch an die Kohärenz, die textlinguistisch erforderlich wäre; mit dem Ergebnis, dass Schüler/ innen zwar lernen, grammatikalisch korrekte Sätze zu bilden, nicht jedoch sie angemessen anzuwenden. 51 Grammatik im Übungsapparat von Französischlehrwerken (1970 - 2020) Ineinanderwirken von Bewusstmachung und Habitualisierung Wenngleich aufgrund der Hinweise auf das grammatische Beiheft davon auszu‐ gehen ist, dass die Grammatikvermittlung überwiegend kognitivierend erfolgt, so wird der Übungsprozess durch Habitualisierung unterstützt und ergänzt. Die o. g. Übung zur Redeabsicht Nach dem Alter fragen ist im Grunde genommen eine Art verkürzter pattern drill, was sich auch in weiteren Übungen findet. Visualisierungen in Übungen - nicht immer Sein, vielfach nur Schein! Vergröbernd kann man sagen, dass die Bebilderung in den Übungen (Zeichnung, Foto, Skizze, schwarz-weiß/ farbig) von den 1980er bis in die 2000er Jahre hinein stark zugenommen hat. Bilder werden sowohl in didaktisch-methodischer, d. h. übungssteuernd (Göller et al., 1985, S. 59/ 1), wie auch rein illustrativer Funktion (z. B. ebd., S. 59/ 2) verwendet. Wie wenig aber die Hinwendung zu einem inhaltlich-kommunikativen Lernen erfolgt ist, zeigen Übungen wie « Beurk, ce n’est pas bon!  » (Alamargot et al., 2005, S. 26), einer Bildgeschichte, deren Pointe darauf hinausläuft, dass Kochversuche scheitern und daher « Dimanche dernier, M. Carbonne et ses enfants ont dû manger au restaurant ». Als Impuls würden im Grunde die den Handlungsablauf vorskizzierenden Fotos genügen. Diesen sind aber Sätze zugeordnet, die nur in der richtigen Zeit zu ergänzen sind und die Storyline somit festgelegt ist. Für selbstformuliertes Erzählen bleibt kein Platz. Ohne die Fotos würde sich die Übung nur wenig von denen unterscheiden, die man schon Jahrzehnte zuvor kannte. Der ‹Text› als Basiseinheit Die Lehrwerke der (neo-)kommunikativen Phase beziehen Grammatik nicht mehr auf den Einzelsatz. Sie ist als Teil einer in sich geschlossenen größeren verbalen Einheit zu sehen, die in einen kommunikativen Handlungszusammen‐ hang (fiktiv/ real) eingebettet ist. Die Lehrwerke der (neo-)kommunikativen Ära wählen bei Grammatikü‐ bungen die Basiseinheit Text, den Weinrich (1982, S. 28) als « linear geordnete Äußerung, die im Zeitraum zwischen zwei auffälligen Unterbrechungen der Kommunikation von den Sprech- oder Schreiborganen des Senders zu den Hör- oder Sehorganen des Empfängers wandert » definiert. Ob es sich immer um eine unity of meaning in a context (Halliday & Hasan, 1976, S. 203) handelt, mag man bezweifeln. In Echanges 1 und 2 (Grunwald et al., 1981; Göller et al., 1985) ist die vorherrschende Textform der Dialog. Dies ist naheliegend, lassen sich doch komplementär sich ergänzende, grammatikalische Mittel wie die Personal- oder Possessivpronomen in Mini-Gesprächen einüben. Oft finden sich kom‐ 52 Jürgen Mertens mentierende Texte, die Inhalte der Lektion (und damit auch den Wortschatz) wiederholen, wobei als eigentliches Ziel das Üben eines bestimmten Gramma‐ tikphänomens im Vordergrund steht. Wenn auch der situative Bezug zum Lektionsinhalt oder den Lehrwerkspersonen in aller Regel in den Übungen gegeben ist, so erklärt sich den Schüler/ innen die Sinnhaftigkeit dieser Übungs‐ texte kaum. Die Einbettung des Textes in die « environment in which it is placed » (Halliday & Hasan, 1976, S. 203) bleibt so gut wie immer in solchen Übungen der (neo-)kommunikativen Ära unbenannt. « Les petites choses de la vie » ist eine Übung, bei der die Verbformen von de‐ voir, recevoir und courir (im présent bzw. passé composé) eingeübt werden sollen. Der Fokus auf die Grammatik wird mit einer Art Leseverstehen verknüpft. Es gilt den jeweils vervollständigten Satz mit einem weiteren, aus einer Auswahl an vorgegebenen Sätzen zu einem Mini-Text zusammen zufügen, etwa: Christian mange beaucoup de crêpes. Il doit avoir faim (Alamargot et al., 2005, S. 27/ 6). Was trotz des Bemühens um einen kommunikativen Anstrich in den Lehrwerken aus dem Blick gerät, ist die Frage nach der Umgebung, in der diese Texte ihren Platz haben. Wer formuliert sie, sei es mündlich oder schriftlich? Warum sagt oder schreibt jemand so etwas? In welchem Zusammenhang werden sie formuliert? Und vor allem: an wen richten sich diese Texte? Auch in diesen auf den ersten Blick kommunikativ anmutenden Übungen liegt der Fokus im Grunde auf der Grammatik. Die Redeabsichten werden ebenso wenig explizit gemacht wie die Kommunikationssituation geklärt, so dass, im Ergebnis, die Relevanz der Äußerungen nie deutlich wird. Es ist, wie das Beispiel zeigt, nicht immer möglich die Trias von Kommunikationssituation - Redeabsicht/ en - grammatikalischer Struktur zu finden, aus der sich die Gebrauchsregeln einer Sprache ergeben. Dennoch ließen sich zusammen mit den Schüler/ innen in einer Reflexionsphase (z. B: « Trouvez des situations pour les mini-textes/ dialogues dans … Qui parle avec qui et pourquoi?  ») Übungstexte auf ihre kommunikative Relevanz über‐ prüfen (im Sinne von Sprachbewussheit), Grammatik auf ihren Gebrauchswert pragmatisch ausdeuten (vgl. Mertens, 2006a, S. 171) und Unsinniges in den Lehrwerken entlarven, was letztlich eine höchst kommunikative Aktivität ist. Eklektisches Lehrkonzept Die Antwort auf die Frage, welches Lehrkonzept für das Einüben von Gram‐ matik in dieser (neo-)kommunikativen Phase präferiert wird, ergibt ein sehr uneinheitliches Bild. Es lassen sich Beispiele für induktive (z. B. Bruckmayer et al., 2004, S. 18) wie auch deduktive Vorgehensweisen (z. B. Bruckmayer et al., 2004, S. 44), für explizit bewusstmachende (Göller et al., 1985, S. 52/ 29), aber auch für signalgrammatische Vermittlungsweisen (Bruckmayer et al., 2004, 53 Grammatik im Übungsapparat von Französischlehrwerken (1970 - 2020) S. 29), oder solche finden, die qua Habitualisierung den Spracherwerb fördern wollen (z. B. Beutter et al., 1994, S. 43/ 11; S. 80/ 5). Diese Art Übungen sollen eine hohe Frequenz des unterrichtlichen ‹Sagens bzw. Aufschreibens› erlauben. Es handelt sich - trotz aller visueller Aufbereitung - um eine Strukturübung, die eine hohe Frequenz von Gesagtem garantieren soll, nicht jedoch zu Gemeintem führen kann, da die Lernenden keine Impulse dafür haben, welche Inhalte sie eigentlich kommunizieren sollen. Die Arbeit an der sprachlichen Form unter weitgehender Ausklammerung des Inhalts und der Klärung der Bedeutung des Gesagten innerhalb eines kommunikativen Rahmens lässt sich an vielen weiteren Beispielen nachweisen. Schülerorientierte Aufbereitung der (Grammatik-)Übungen Die Lehrwerke von 1980 bis in die 2000er Jahre werden, was beim Durchblättern ins Auge sticht, bunter, bebilderter und mit allerlei unterstützenden Hinweisen versehen. War in den 1970er wie 1980er Jahren eine sprachliche Form in aller Regel von den Schüler/ innen selbst zu finden, so sind ab den folgenden Versionen eine Reihe von layouttechnischen Hilfen (z. B. Fett- oder Farbdruck; Formenkästen) erkennbar (z. B. Alamargot et al., 2005, S. 40/ 6; S. 75/ 12). Fazit: Echanges und Découvertes der 1980er, 1990er und 2000er Jahre sind auf den ersten Blick um Inhalte herum organisiert. Diese ranken sich um fiktive Personen in Frankreich und bilden die Grundlage für den Französischlehrgang. Im Inhaltsverzeichnis wird suggeriert, dass der Sprachgebrauch, im Sinne von Nunans use, eine Rolle spielen soll. Redeabsichten werden als wichtiger Pfeiler der Lehrwerke beworben und die Grammatik scheint ihnen dienend zugeordnet zu sein. Die Analyse ausgewählter Beispiele hat gezeigt, dass dies vielfach nicht der Fall ist. Die kommunikative Situierung spielt kaum eine Rolle und der formal-grammatischen Komponente wird weiterhin der Vorrang gegeben. Insofern ist es unserer Einschätzung nach zu optimistisch, wenn Koch (2001, S. 6) die Lehrwerke ab den 2000er Jahren als eine auf traditionellen Vorstellungen beruhende Mischform einordnet, « die pragmatisch ergänzt wird, indem den grammatischen Phänomenen Kommunikationsabsichten zugeordnet werden ». Grammatik wird in diesen Lehrwerken auf allerlei Weise methodisch gefällig verpackt, man präsentiert sie kunterbunt, man darf sie hüpfen, singen, tanzen. Das was Grammatik allerdings aus- und verfügbar macht, die Trias von Form, Bedeutung und Gebrauch, wird, so mein 2. Zwischenfazit, im Übungsprozess weitgehend unterschlagen. Übungen können stimmig werden, wenn Kontexte eindeutig benannt sind oder Lerner/ innen sich Situationen ausdenken, in denen die Übungssätze verankert sind. Kognitivierung geht dann über das enge Nachdenken über Formen hinaus und schließt Nachdenken über das 54 Jürgen Mertens Funktionieren von Sprache in situativen und kulturellen Rahmungen mit ein. Den mündigen Lerner bzw. die mündige Lernerin hatten die Lehrwerke der (neo-)kommunikativen Phase noch nicht im Sinn. 3.3 In Lehrwerken der aufgabenorientierten Phase Van den Branden definiert das Konzept Aufgabe folgendermaßen: « A task is an activity in which a person engages in order to attain an objective, and which necessitates the use or language » (ebd., 2006, S. 4). Kurz und knapp stellt er heraus, dass sich Aufgabenorientierung durch das Vorhan‐ densein einer Problemsituation und die Bereitschaft, diese mit sprachlichen Mitteln lösen zu wollen, auszeichnet. In aller Regel wird im institutionali‐ sierten Unterricht ein Task-Supported-Language-Learning praktiziert, bei dem den Aufgaben die Rolle eines « pädagogische[n], lehrbuchbasierte[n] Werk‐ zeug[s] » (Müller-Hartmann & Schocker-von Ditfurth, 3 2018, S. 203) zukommt, welches vom Lehrwerk vorstrukturiert wird. Für die Praxis hilfreich hat sich ein Zyklus aus drei Phasen erwiesen, in der die Aufgabe vorbereitet, durchgeführt und nachbereitet wird (vgl. Müller-Hartmann & Schocker-von Ditfurth, 2018, S. 205; Mertens, 2017, S. 10). In diesem Zusammenhang ist die Erkenntnis der Aufgabenforschung wichtig, dass die Beschäftigung mit Sprache an verschie‐ denen Stellen zur Unterstützung des Erwerbprozesses notwendig ist. Bestandteil der Aufgabenorientierung ist ein « focus on form in which learners‘ attention is drawn to linguistic features if and when demanded by the communicative activities and the negotiation of meaning learners are engaged in » (Kumurava‐ divelu, 2006, S. 129). Versteht man unter Aufgabe « ein mehr oder weniger umfangreiches Lern‐ arrangement […], das die Lernenden mit realitätsnahen, alltagsbezogenen Handlungssituationen konfrontiert, innerhalb derer Themen bearbeitet, Pro‐ blemsituationen bewältigt und Ergebnisse erzielt werden sollen » (Mertens, 2017, S. 9), dann ist Fremdsprachenlernen nicht mehr eine zeitliche Abfolge von Lernen und nachgelagerter Anwendung des Gelernten, sondern ein paralleles Geschehen, bei dem die Anwendung mit dem Lernen zusammenfällt und der für die Bearbeitung der Aufgabe notwendige Bedarf an Sprachmaterial, sich aus der Aktivität heraus entwickelt. Das bedeutet für das Mittel der Grammatik, • dass sich im Idealfall die Auswahl der Grammatikstruktur aus dem Nutzen der Struktur für die sich aus der Problemsituation ergebende Kommunikation ableitet; • dass Grammatik als funktional-semantische und dann erst als formale Einheit gesehen wird; 55 Grammatik im Übungsapparat von Französischlehrwerken (1970 - 2020) • dass das Lernangebot im Lehrwerk eine von mehreren Möglichkeiten darstellt, um zum Ziel - d. h. zum erfolgreichen Bearbeiten der Aufgabe - zu gelangen. Mit den ab 2010 erscheinenden Lehrwerken A plus (beginnend mit Blume et al., 2012) und Découvertes (beginnend mit Bruckmayer et al., 2012) wird erstmalig der Begriff ‹Aufgabe› (bzw. tâche) in für den deutschen Markt bestimmten Fran‐ zösischlehrwerken erwähnt. In Découvertes (Bruckmayer et al., 2012, 2013) zeigt sich dieses Bekenntnis zur Neuorientierung in der Verwendung des fachdidak‐ tischen Begriffs im Inhaltsverzeichnis und in abschließenden Teileinheiten mit Anwendungsaufgaben (« Pratique: tâches - Anwendungsaufgaben »). Es stellt sich die Frage, wie in dieser Generation am Übergang zur Aufgabenorientierung (wie auch in der sich abzeichnenden 2020er Generation) mit dem Widerspruch umgegangen wird, der im Konzept Aufgabe und dem Medium Lehrwerk liegt. Ersteres steht pauschal gesagt für Individualität, Freiheit, Eigenständigkeit und den Fokus auf Problem lösendes, sprachliches Agieren; Zweiteres ebenso pauschal für Konformität und Konfektionierung, Engführung, Lenkung und den Fokus auf Sprachmaterial. Die Antwort auf diese Frage kann relativ kurz ausfallen: Découvertes 1 und 2 (Bruckmayer et al., 2012, 2013) verfolgen, trotz der oberflächig zur Schau getragenen konzeptionellen Wende, weiterhin einen mehr oder weniger überzeugenden kommunikativen Ansatz, der sich hinsichtlich der Grammatik folgendermaßen präsentiert: (Teilweise) Funktionalisierung von Grammatik In der tabellarischen Darstellung im Inhaltsverzeichnis wird lektionsweise auf‐ geführt, welche Redeabsichten in den Lektionen erworben werden. Interessant ist hier die Zuweisung der Redeabsichten zu Teilkompetenzen: Parler, Ecouter, Ecrire, Lire, wobei sich diese Zuordnungen nicht eindeutig erschließen und vermutlich mehr den Erfordernissen des Lehrbuchcurriculums, denn einer Sachlogik geschuldet sind. Redemittel sind Bestandteil der Lektionstexte, sie finden sich in « On dit »-Kästen (Bruckmayer et al., 2013, S. 47/ 8) und sind teilweise Gegenstand von Grammatikübungen (Bruckmayer et al., 2012, S. 52/ 9). Ab Band 2 wird erkennbar, dass nicht mehr wie im Eingangsband isolierte und enge Redeabsichten im Fokus stehen, sondern umfassendere, die Einzelstruktur übersteigende, mehr oder weniger komplexe, kommunikative Szenarien. Dialogische Einbettung der Übungen Weiterhin scheint diesen Anfangsbänden eine grammatikalische Progression unterlegt zu sein. So findet man an diversen Stellen, wenn auch in abgewan‐ 56 Jürgen Mertens delter, layouttechnischer Aufbereitung, bereits aus den Vorgängerversionen bekannte Übungen. Ausklammerung des Kontextes Der Schwerpunkt auf formalgrammatische Aspekte der Strukturen wird in Übungen wie den gezeigten klar durch die Rubrik « En forme » herausgestellt. In der Regel handelt es sich hierbei um mündliche Lernangebote. Es stellt m. E. einen Konzeptionsfehler dar, hier phonologische Strukturen der Sprache, wie Betonung/ Akzent oder Lautstärke, als notwendige Bestandteile einer kontex‐ tualisierten Grammatik auszuklammern, denn dadurch werden sinnentleerte Verwendungen antrainiert und die Gelegenheit zu zielführendem, kommunika‐ tivem (Probe-)Handeln verpasst. Überschriften oder Illustrationen dienen in den Übungen vielfach allein zur Verschönerung der Seite, bisweilen als Impulsgeber für das Sagen/ Schreiben von Äußerungen, nicht aber zur Klärung des Kontextes und der Gesprächsintention, was die Wahl der Grammatikstrukturen zur Versprachlichung sinnhafter Inhalte rechtfertigen und zu ihrer Begründung beitragen würde. Découvertes 1 und 2 erweisen sich hinsichtlich der Grammatikübungen nur vordergründig als aufga‐ benorientiert. Selbst vor der Folie eines (eher konventionellen) kommunikativen Fremdsprachenunterrichts vermögen viele Übungsbeispiele in diesen Bänden nicht zu überzeugen. Grammatiklernen präsentiert sich - so der Eindruck - weiterhin nach dem Zimmermann’schen Phasenmodell (1969), bei dem die Anwendung erst ganz am Ende ihren Platz findet. Ist dieses Lehrwerk am Wendepunkt zur Aufgabenorientierung im Hinblick auf Grammatik kaum mehr als eine Neubearbeitung und teilweise ein Rückschritt gegenüber früheren Ge‐ nerationen, und schon gar nicht aus der Philosophie eines aufgabenorientierten Unterrichtens gedacht, so sei abschließend noch ein kurzer Blick in die 2020er Generation geworfen, die mit einem ersten Band vorliegt. Die Grundmuster sind in diesem ersten Schülerband von Découvertes (Bern‐ klau et al., 2020) gleich geblieben. Grammatik wird auch hier am Ende der Lektion verdichtet zusammengestellt, im Übungsapparat widmen sich einzelne Übungen (« Grammaire ») explizit den Grammatikphänomen, im Inhaltsver‐ zeichnis steht sie neben der Lexik und der Aussprache erst in der 3. Spalte und scheint den Kompetenzen dienend nachgeordnet zu sein. Das Bekenntnis zur Aufgabenorientierung wird in dieser Neubearbeitung (vgl. ebd., S 14, 29, 48, 63, 84, 100, 117) offensiver vorgetragen, findet sich doch nun auch in Découvertes eine Aufschlagseite mit Angabe der Aufgaben und der behandelten Grammatik. Die Zuordnungen sind allerdings irreführend, insofern 57 Grammatik im Übungsapparat von Französischlehrwerken (1970 - 2020) als der Zusammenhang zwischen den als Aufgaben bezeichneten Aktivitäten und der jeweiligen Grammatik nicht bei jeder tâche zwingend gegeben ist. In Unité 1 (« Euch und andere vorstellen ») ist z. B. nicht erklärbar, wes‐ wegen für eine Situation, in der man sich vorstellt, der unbestimmte Artikel Singular un/ une gebraucht werden soll. Andererseits werden in einem Dico per‐ sonnel-Kasten deutsche, schweizerische und österreichische Städte auf Franzö‐ sisch benannt, um seine Herkunft angeben zu können. In der gesamten Lektion wird aber nicht darauf geachtet wird, an irgendeiner Stelle den chunk « Je suis d’Allemagne/ de Suisse/ d’Autriche » bereitzustellen, den Schüler/ innen in dieser Aufgabe im Grunde auch verwenden wollen könnten, zumal die Ländernamen bereitgestellt werden. Von wenigen Beispielen abgesehen, definieren die Aufgaben weder eine Problemsituation, noch klären sie die kommunikativen Rahmenbedingungen oder rechtfertigen sie den Einsatz der französischen Sprache. Die konzeptuelle Weiterentwicklung, was die Einbindung grammatikalischer Strukturen in einen modernen Französischunterricht angeht, deutet sich auch in dieser neuen Dé‐ couvertes-Generation nicht an. Trotz eines deutlich umfangreicheren und größ‐ tenteils erneuerten Autorenteams bleibt Découvertes hinsichtlich der Behand‐ lung grammatikalischer Strukturen in Altem verhaftet. Das Lernkonzept bietet einen Mix an Herangehensweisen an, von den Satzbautafeln, Einsetzübungen, Zuordnungsübungen, Reihenübungen, über den Versuch einer Verknüpfung mit der Lebenswelt der Lernenden hin zu Grammatikanwendung im Dialog, deren kommunikativer Sinn sich einem nur schwer und dem Zielpublikum vermutlich noch weniger erschließt. 4 Fazit Anhand der nicht extensiven, aber an diversen Ankerbeispielen erfolgten qualitativen Analyse von Grammatikübungen in insgesamt 6 Lehrwerksgenera‐ tionen ist das Ergebnis ein eher ernüchterndes. Gewiss ist die formale Gramma‐ tikarbeit zugunsten eines an Fertigkeiten ausgerichteten Übens von Strukturen teils in den Hintergrund geraten, wie bei einer quantitativen Betrachtung gezeigt werden kann. Grammatikstrukturen sind im Laufe der Zeit vermehrt in textliche Zusammenhänge eingebettet worden. Ein wesentlicher Aspekt lernförderlicher Grammatikdarbietung in Übungszusammenhängen, der der Kohärenz, wird jedoch kaum zur Kenntnis genommen. Viele Übungen ziehen sich in nahezu identischer Konfektionierung von ein paar Aufhübschungen abgesehen über die Jahre hinweg durch die Lehrwerke. Bisweilen hat man den Eindruck, als ob das visuelle und methodische Gewand einer Grammatikübung 58 Jürgen Mertens und nicht die Klärung der Frage, wozu die grammatische Struktur, die es zu erlernen gilt, eigentlich dient, im Zentrum des Interesses steht. Waren die Impulse des kommunikativen Ansatzes in die Lehrwerke der 1980er bis 2000er Jahre deutlich, wenn auch nicht immer überzeugend, eingeflossen, so wenig scheint gegenwärtig der Übergang in das aufgabenorientierte Paradigma gelungen. Weiterhin sind Grammatikübungen nicht mehr als Vorstufen zu traditionellen Anwendungs- und Transferausgaben (vgl. Caspari, 2013, S. 6) und konzeptuell immer noch der ‹schwachen› Form des kommunikativen Un‐ terrichts verpflichtet. Grammatikerwerb im aufgabenorientierten Unterricht bedeutet die punktu‐ elle, aber zielgerichtete Planung von Phasen, in denen der Sprachbedarf der Schüler/ innen thematisiert, erkannt, benannt und beschrieben wird sowie, letztlich, verstanden und anwendbar wird. Diese Schritte leiten sich aus dem jeweiligen kommunikativen Bedarf heraus ab und führen im Rahmen einer fokussierten Lernaufgabe, bei der eine spezifische grammatische Struktur zur Bearbeitung erforderlich ist (siehe hierzu auch Caspari, 2013, S. 6-8; Ellis, 2001), zu einem Sprachstruktur bezogenen Übungsparcours. So kann Grammatik, um die Worte von Cuq/ Gruca zu verwenden, zu « une sorte d’échafaudage qui aide à la construction de la compétence linguistique » (2005, S. 285f.) werden, die aber nicht Sprachwissen, sondern Einsicht in die Leistung von Sprache und Befähigung zu deren Anwendung in einem Sinnzusammenhang bedeutet. Was den kompetenzorientierten Fremdsprachenunterricht eigentlich ausmacht, darauf hat Daniela Caspari seit Jahren in vielen Beiträgen klar, deutlich und unmissverständlich hingewiesen. Sie muss und wird das Wort noch manches weitere Mal erheben müssen, wenn für Grammatikübungen etwas anderes gelten soll als die Devise der französischen Hauptstadt: Fluctuat nec mergitur! Literatur Alamargot, Gérard, Bruckmayer, Birgit, Darras, Isabelle, Koesten, Léo, Kunert, Dieter, Mühlmann, Inge, Nieweler, Andreas & Prudent, Sabine (2005). Découvertes 2. Stuttgart: Klett. Bernklau, Simone, Boivin, Laure, Darras, Isabelle, Fischer, Grégoire, Lange, Ulrike C., Mischke, Christopher & Putnai, Marceline (2020). Découvertes 1. Stuttgart: Klett. Beutter, Monika, Kaup, Lothar, Koesten, Léo, Leidinger, Günter, Müller, Andreas, Spengler, Wolfgang & Wolff, Udo (Hrsg.) (1994). Découvertes 1. Série verte. 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Aber es handelt sich sicher um das Thema, das periodisch immer wieder Kontroversen, Unsicher‐ heiten oder Vorgaben auslöst. Schlaglichtartig wird hier beleuchtet, wie Bildungsadministration, Unterrichtsmaterialien und Fremdsprachendidaktik vor dem Hintergrund des aktuell dominanten Paradigmas der Kompetenzori‐ entierung das Verhältnis von Grammatik und Kommunikation konzeptuell bestimmen und praktisch umsetzen. 1 Impressionen eines Missverhältnisses oder Missverständnisses Grammatik als Teil von Sprache ist in allen Ansätzen des Fremdsprachenlehrens und -lernens ein Dreh- und Angelpunkt, ob sie nun als zentraler Inhalt und Ziel des Unterrichts angesehen oder ob ihr eher eine unter- oder nachgeordnete Bedeutung beigemessen wird. Verkompliziert wird die Diskussion um die Rolle von Grammatik dadurch, dass es neben dem unterschiedlichen Gewicht von Grammatik auch verschiedene, nicht immer klar ausgesprochene Vorstellungen gibt, was darunter überhaupt zu verstehen ist: Besonders mit der allmählichen Durchsetzung des Kommunikativen Ansatzes ab den 1970er Jahren werden formale und funktionale Grammatik, linguistische und didaktische Grammatik gegenübergestellt, und insbesondere wird „kommunikative Grammatik“ einge‐ fordert (vgl. Rösler, 2007). Gerade bei dieser Bezeichnung bleibt offen, ob damit kommunikative Grammatik als Unterrichtsinhalt oder ein auf Kommunikation basierender Unterricht der grammatischen Inhalte gemeint ist (vgl. Rösler, 2007, S. 45). Die Verweise auf die „dienende Funktion“, die Piepho (1974, S. 61) der Grammatik hinsichtlich der Kommunikationsfähigkeit der Lernenden schon in der Mitte der 1970er Jahre zuwies, haben sich bis in das zweite Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts erhalten. Interessant ist nun, dass im Anschluss an die Etablierung des Kommuni‐ kativen Ansatzes in den 1970er und 1980er Jahren eine längere Diskussion zustande kam, die Grammatik und Kommunikation als Gegenpole darstellte (vgl. Rösler, 1983). Ab den 1990er Jahren scheint in Deutschland in der Fremd‐ sprachendidaktik und Sprachlehrforschung weder diese stark vereinfachende Gegenüberstellung noch die Grammatikvermittlung als generelle Herausfor‐ derung eine große Rolle zu spielen (vgl. Königs, 2011). Gleichzeitig wirkt die Grundannahme einer Unterordnung von Korrektheit der Formen unter freie, selbstbestimmte Kommunikation (vgl. Gnutzmann, 2005) auf der Ebene der Unterrichtspraxis weiter. Diese liegt beispielsweise einigen der Fragen zugrunde, die von Referendar/ innen gemeinsam mit ihren Seminarlehrkräften in einem Forschungsprojekt formuliert wurden: „Ist ein kognitives Erarbeiten der isolierten Formen in einem kompetenzorientierten Unterricht zeitgemäß? […] Welchen Stellenwert haben einfache, geschlossene Aufgaben gegenüber offenen, kreativen Aufgaben? “ (Kolb & Angelovska, 2017, S. 328). Diese Fragen spiegeln viele Unsicherheiten über die Rolle von Grammatik im Fremdspra‐ chenunterricht wider. Einige Facetten der gegenwärtigen Diskussion sollen im Folgenden für Englisch und Französisch als den beiden Fremdsprachen der Bil‐ dungsstandards gemeinsam angeschnitten werden. Zu vielen der ausgewählten Teilaspekte hat Daniela Caspari wichtige Impulse für den Französischunterricht, aber auch für den Fremdsprachenunterricht insgesamt gegeben. 2 Sprachliche Mittel bei der Kompetenzorientierung in administrativen Dokumenten Die Fremdsprachendidaktik setzt sich inzwischen stark mit Kompetenzorientie‐ rung als dem dominanten Paradigma des Fremdsprachenunterrichts zu Beginn des 21. Jahrhunderts auseinander. Dies ist auch verständlich, denn der Kommu‐ nikative Ansatz und kompetenzorientierter Fremdsprachenunterricht weisen große Überschneidungen auf. Dennoch ist Kompetenzorientierung - ohne hier ihre Genese oder die Debatten darum nachvollziehen zu wollen - v. a. in bildungspolitischen und -administrativen Dokumenten verankert. Besonders starke Wirkung geht dabei aufgrund der Vereinheitlichungsbestrebungen im föderalen Bildungswesen von den Bildungsstandards für den Hauptschulab‐ schluss, den Mittleren Schulabschluss und die Allgemeine Hochschulreife aus. Genau dort findet sich auch wiederholt und explizit das Schlagwort von der „dienenden Funktion“ der sprachlichen Mittel, d. h. von Wortschatz, Grammatik, 64 Elisabeth Kolb aber auch Intonation und Orthographie (vgl. KMK, 2003, S. 14; 2004, S. 13; 2012, S. 18). Die Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife formulieren für die sprachlichen Mittel als untergeordnetem Teilbereich der funktionalen kom‐ munikativen Kompetenz Kompetenzerwartungen wie „[d]ie Schülerinnen und Schüler […] können ein gefestigtes Repertoire der grundlegenden gramma‐ tischen Strukturen für die Realisierung ihrer Sprech- und Schreibabsichten nutzen“ (KMK, 2012, S. 18). Damit wird der Fokus auf die Sprachverwendung gelegt. Für die Unterrichtsebene bleibt aber die Frage nach dem konkreten Repertoire offen. Ebenso unbeantwortet ist die Frage nach dem Stellenwert korrekter Formbildung, die in der Unterrichts- und Prüfungspraxis immer die Gemüter bewegt, denn es herrscht weder Konsens darüber, was „gefestigt“ be‐ deutet noch ob und wie die kommunikativen Absichten tatsächlich verwirklicht werden. Die Hinweise auf „gelingende Kommunikation“ (KMK, 2012, S. 18) oder auf das Ziel von „differenziertem kommunikativem Sprachhandeln“ (KMK, 2012, S. 15) können und wollen diese Fragen nicht beantworten. Ähnlich gehen die Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss und den Hauptschulabschluss vor. Während auch dort erfolgreiches kommunika‐ tives Handeln als Ziel zugrundeliegt, werden Kann-Beschreibungen formuliert, indem Satztypen wie Fragen, Aufforderungen, inhaltliche Kriterien wie zeit‐ liche, örtliche oder logische Bezüge, aber auch einzelne grammatische Struk‐ turen wie Aktiv/ Passiv oder indirekte Rede und deren Funktion gelistet werden (vgl. KMK, 2003, S. 15; 2004, S. 14). Somit ist die Aussage, dass keine Listen angeführt werden (vgl. KMK, 2003, S. 14; 2004, S. 13) nicht ganz zutreffend, auch wenn die Bestimmung konkreter Grammatikinhalte den Ländern übergeben wird. Andererseits wird ein indirekter Versuch gemacht, auch Korrektheit nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, indem auf den GeR verwiesen wird (vgl. KMK, 2003, S. 14; 2004, S. 13). Dort wird zwar eine individuelle Entscheidung auf Anwendungsebene empfohlen, da eine grammatische Progression, die für alle Sprachen zuträfe, nicht möglich sei, gleichzeitig aber z. B. für B1 neben einem angemessenen Repertoire häufiger Strukturen auch Folgendes genannt: „reasonable accuracy“, „generally good control“ und „errors […] but it is clear what he/ she is trying to express“ (Council of Europe, 2001, S. 114). Somit wird das Dilemma der grammatischen Progression (vgl. Barkowski, 2006) - sie ist oft de facto durch die Verwendung von Lehrwerken gesetzt und folgt oft eher Traditionen oder subjektiven Einschätzungen als spracherwerbstheo‐ retischen Erkenntnissen oder linguistischen Überlegungen - an die einzelnen Lehrpläne weitergegeben. Verschiedene deutsche Länder bilden die in den 65 Grammatik und Kompetenzorientierung: une mésentente cordiale? Bildungsstandards propagierte „dienende Funktion“ der Grammatik daher auch unterschiedlich ab. So führt der bayerische LehrplanPLUS für alle Schulformen und alle Jahr‐ gangsstufen der Sekundarstufe I Listen von konkreten Grammatikphänomenen auf. In diesem Lehrplan werden grammatische Strukturen und ihre Funktionen bzw. Intentionen auf Deutsch beschrieben und im Anschluss die zugeordneten Phänomene in der Fremdsprache genannt, z. B.: • beschreiben Handlungen, Abläufe und Gewohnheiten in der Gegenwart und sprechen über Vergangenes: - Hilfs- und Modalverben: be, have (got), do; can, must, needn’t, mustn’t - present tense simple / present tense progressive - simple past (BY, 2017/ 18) Ganz ähnlich geht der Kernlehrplan in Nordrhein-Westfalen vor, allerdings ist hier eine größere Offenheit dadurch gegeben, dass lediglich Kompetenzerwar‐ tungen für das Ende der Sekundarstufe I formuliert werden, die als fachliche Konkretisierung einzelne Strukturen nennen (vgl. NW, 2019). Im Berliner und Brandenburger Rahmenplan, der für alle Fremdsprachen gemeinsam gilt, wird die größtmögliche Öffnung präsentiert, indem lediglich angelehnt an die GeR-Stufen Kann-Beschreibungen auf verschiedenen Anforderungsstufen formuliert werden wie: „in vertrauten Alltagssituationen und zu bekannten Themen erfolgreich sprachlich agieren und bei der Verwendung eines größer werdenden Repertoires sprachlicher Mittel zunehmend Sicherheit erlangen [orientiert an A2/ GeR]“ (BE & BB, 2015, S. 29). Konkretere Bestimmungen werden den schulinternen Curricula und den Lehrwerken überlassen. In allen Beispielen wird versucht, die Funktion von Grammatik für die Kommunikation darzustellen. Durch das Aufführen von Kann-Beschreibungen wird angedeutet, dass Sprachkönnen vor Sprachwissen und eigenständige Anwendung vor angeleitetes Lehren gestellt wird, während Inventare in Listenform dieser Schwerpunktsetzung nur unzureichend entsprechen. 3 Lösungsvorschläge auf der unterrichtlichen Ebene Administrative Dokumente können nicht mehr als generelle Leitlinien bieten, nicht aber auf die Fragen eingehen, die sich viele Lehrkräfte in Bezug auf Ziele, Inhalte, Methoden und Materialien des Grammatikunterrichts stellen. Somit mag man sich eher aus aktuellen Lehrbüchern Antworten auf das Verhältnis zwischen Grammatik und kompetenzorientiertem Fremdsprachenunterricht erhoffen. Dabei zeigt bereits ein Blick in die Inhaltsverzeichnisse einiger Eng‐ 66 Elisabeth Kolb lisch- und Französischlehrbücher, die ab dem zweiten Jahrzehnt des 21. Jahr‐ hunderts erschienen sind, dass der schon in der Vorgängergeneration gewählte funktional-notionale Ansatz fortwirkt. Dabei ist es unerheblich, ob die Spalten im Inhaltsverzeichnis mit „Kommunikation“, „(Kommunikative) Kompetenzen“, „Kommunikative Schwerpunkte“ oder „(Lern-)Inhalte“ überschrieben sind: All‐ tägliche Situationen, angenommene Kommunikationsbedürfnisse, Sprachfunk‐ tionen und grammatische Strukturen werden einander mehr oder weniger deutlich zugeordnet. So ist die Verbindung von der Vorstellung einer Familie und der Einführung von Possessivpronomen noch recht einsichtig. Weniger kommunikativ überzeugend ist die Einführung von Mengenangaben bei der Beschreibung des Wohnortes oder die Verbindung von Modalverben mit der Planung einer Geburtstagsfeier. Über den konkreten, im Lehrbuch gewählten Zusammenhang hinaus lässt sich mit derartigen Zuordnungen recht wenig über das Verhältnis von Grammatik und Kommunikation aussagen. Sobald es an die Begegnung mit bzw. den Erwerb von neuen grammatischen Strukturen geht, setzen sich ebenfalls bekannte Traditionen der Grammatikver‐ mittlung fort. In den Lektionen der aktuellen Lehrbücher der Schulbuchverlage wird anhand eines konstruierten Textes die neue Struktur eingeführt. Deren Form und Funktion soll von den Lernenden meist induktiv erschlossen werden, ggf. folgt ein etwas deutlicherer Fokus auf die Form. Es schließen sich geschlos‐ sene Übungen an, z. B. Satzumformungen oder Lückentexte, die eine einzige Form zulassen. Gelegentlich finden sich offenere Lückentexte oder Texte, in denen Fehler korrigiert werden müssen. Während all diese Formate oft auf der Stufe des reproduzierenden Übens angesiedelt sind, gibt es auch freiere Angebote, welche die Lernenden als sie selbst sprechen oder schreiben lassen, z. B. indem die Lernenden Dialoge über persönliche Themen führen, bei denen sie eine bestimmte Struktur verwenden müssen. Es scheint sich um bewährte Formate zu handeln, die von Lehrkräften gewünscht werden und die für Lernende nachvollziehbar sind. Somit zeigt sich, dass relativ explizite, formfokussierte Grammatikvermittlung immer noch ein Angebot an die Praxis ist. Im Unterschied zu den Vorgängerlehrbüchern der Schulbuchverlage finden sich gegen Ende der einzelnen Lektionen eine oder mehrere Lernaufgaben. Selbst wenn diese, wie in manchen Lehrbüchern üblich, bereits zu Lektionsbe‐ ginn unter Nennung möglicher sprachlicher Mittel angekündigt werden, bleibt meist offen, ob ganz bestimmte Strukturen verwendet werden müssen oder lediglich verwendet werden können. Letzteres entspräche dem realistischen, außerschulischen Sprachgebrauch, in dem Themen, Absichten oder Sprechakte auf unterschiedliche Weise versprachlicht werden können. So scheinen die neuen, der Kompetenzorientierung verpflichteten Schulbücher viel deutlicher 67 Grammatik und Kompetenzorientierung: une mésentente cordiale? als Werke der kommunikativen Ära die Prinzipien der An- und Verwendung von Sprache zu realisieren und somit Grammatik der Kommunikation unter‐ zuordnen. Gleichwohl kann eine gewisse Beliebigkeit der Lernaufgaben, die sich nicht immer konsequent aus der Lektion ergeben, sowie ihre Position am Ende der Lektionen ihre eigentlich wichtige Bedeutung wieder einschränken. Lehrkräfte und Lernende können sich fragen, ob es sich um eine schöne Zusatz‐ aktivität handelt, die bei freier Zeit durchgeführt werden kann bzw. inwieweit die Lerninhalte der Lektion für die Bewältigung der Aufgabe überhaupt nötig und relevant sind. Diese Unsicherheit kann verstärkt werden, wenn sprachliche Mittel nicht mehr explizit und separat in Leistungserhebungen geprüft werden, sondern die Verwendung der sprachlichen Mittel lediglich eine Teilbewertung bei den produktiven Kompetenzen erfährt. Ein Beispiel dafür sind die Musteraufgaben für Englisch in der Sekundarstufe I aus Niedersachsen, in denen die Überprüfung sprachlicher Mittel in dem Kapitel „Mündliche und andere fachspezifische Leistungen“ (NI, 2020, S. 206) am Ende des Materialbandes nur gestreift wird, während die Formate, welche die fünf kommunikativen Kompetenzen abprüfen, ausführlich dargestellt werden. Dass die Beherrschung dieser Kompetenzen das Unterrichtsziel ist, dürfte unstrittig sein. Der Weg dorthin ist für Lehrende - und vielleicht auch für Lernende - so jedoch nur schwer erkennbar, besonders wenn die Lehrwerke weiterhin dem traditionellen Dreischritt Einführung - Übung - Anwendung verhaftet bleiben. Dagegen setzt es sich eine Handreichung aus Berlin und Brandenburg explizit zum Ziel, Grammatik und Kommunikation gleichermaßen zu berück‐ sichtigen. Sie geht davon aus, dass die „dienende Funktion der Grammatik […] am deutlichsten im Stellen einer Aufgabe, zu deren Bearbeitung die Schüler/ innen bestimmte grammatikalische Kenntnisse […] benötigen“ (LISUM, 2011, S. 9), umgesetzt wird. Für Französisch bezieht sich der Unterrichtsvorschlag auf die Stellung und Deklination von Adjektiven, die in eine Teilnahme an einer Modenschau integriert ist (vgl. LISUM, 2011, S. 13). Dabei erfolgt zuerst die inhaltliche Auseinandersetzung mit dieser fiktiven Situation, indem die Lernenden einen anspruchsvollen authentischen Text lesen und Fragen zum Leseverstehen beantworten, die sie auf die Aufgabe einstimmen. Anschließend erarbeiten sie sich mithilfe weiterer authentischer Texte induktiv und auf Deutsch die Regeln für die Stellung von Adjektiven und die verschiedenen Genus- und Numerus-Formen (vgl. LISUM, 2011, S. 13). Zuletzt sollen die Lernenden ihre neu erworbenen grammatischen Erkenntnisse bei der inhaltli‐ chen und sprachlichen Bewältigung der Aufgabe - Entwurf und Beschreibung eines Outfits - verwenden. In dieser schüler/ innennahen und altersgerechten 68 Elisabeth Kolb Aufgabe wird versucht, Grammatik dem durchgängigen thematischen Fokus unterzuordnen. Bei diesem relativ eindeutigen Aspekt der Grammatik ist dies recht leicht zu bewerkstelligen. Bei einem schwierigeren grammatischen Phä‐ nomen wäre allerdings vielleicht der Schritt von der Bewusstmachung zur freien Anwendung etwas groß. Auch schwankt das Raster für die Einschätzung der Leistung zwischen inhaltlichen Kriterien (z. B. „explique le style“ oder „décrit tous les vêtements et accessoires“), offenen sprachlichen Kriterien („utilise des adjectifs“) und recht restriktiven sprachlichen Kriterien („respecte les règles pour la position et la forme des adjectifs“ bzw. „n’a pas fait de fautes d’ortho‐ graphe“) (LISUM, 2011, S. 32). An dieser Stelle wäre zumindest ein Hinweis zur Gewichtung hilfreich. 4 Einige Impulse aus der deutschen Fremdsprachendidaktik Wenn sich nun in den Dokumenten und Materialien, auf die sich Lehrkräfte in ihrer Praxis direkt beziehen, verschiedene Ansätze nebeneinander finden, so kann es interessant sein, in der Fremdsprachendidaktik nach weiteren Erkenntnissen zu suchen. Wie schon im ersten Jahrzehnt der 2000er Jahre festgestellt wurde, ist Grammatik - abgesehen von einer Vielzahl an konkreten Unterrichtsvorschlägen - in der deutschen Fremdsprachendidaktik oft ein eher zurückhaltend behandeltes Thema (vgl. Rösler, 2007; Königs, 2011). Einige, durch die relativ geringe Zahl umso hervorstechendere Positionen sollen im Folgenden herausgegriffen werden, wobei sich durchaus unterschiedliche Ten‐ denzen in der Englisch- und Französischdidaktik zeigen. 4.1 Appelle an die „dienende Funktion“ der Grammatik Besonders auffällig ist, dass das Schlagwort von der „dienenden Funktion“ der Grammatik vorwiegend in der Französischdidaktik verwendet wird (z. B. Caspari, 2009; Schmelter, 2013; Koch, 2015). Oft wird auch eine Erklärung mitgeliefert, warum eben diese untergeordnete, unterstützende Funktion so explizit dargestellt wird: Französisch steht noch immer im Ruf, ein grammatik‐ lastiges, schwieriges Schulfach zu sein, was möglicherweise die hohe Zahl an Lernenden erklärt, die Französisch nach der Pflichtbelegung abwählen (vgl. Caspari, 2009, S. 74). Daher mag es für den Französischunterricht immer noch eher geboten erscheinen, der Grammatikvermittlung in Anlehnung an Tendenzen im Englischunterricht weniger Bedeutung zuzuweisen: Er erhält traditionell aufgrund des Formenreichtums der französischen Sprache und des großen Gewichts der Sprachnorm im Französischen, aber auch aufgrund einer gewissen Klarheit, Eindeutigkeit und Einfachheit für Unterrichts- und 69 Grammatik und Kompetenzorientierung: une mésentente cordiale? Prüfungsgestaltung sowieso (zu) viel Gewicht (vgl. v. a. Schmelter, 2013, S. 76f.). Stattdessen wird auf die Orientierung an „kommunikativen Absichten“ (Caspari, 2009, S. 77), die „Bewältigung kommunikativer Aufgaben“ (Schmelter, 2013, S. 78) oder die „lebensweltliche Nützlichkeit“ (Koch, 2015, S. 4) verwiesen. Die drei hier angeführten Veröffentlichungen zeigen insofern große Paral‐ lelen, als sie die Fokussierung der Lehrbücher auf eine grammatische Progres‐ sion bzw. den traditionellen Dreischritt bei der Vermittlung von Grammatik problematisieren (vgl. Caspari, 2009, S. 77; Schmelter, 2013, S. 78f.; Koch, 2015, S. 4f.). Caspari, in deren Beitrag zur Kompetenzorientierung des Französisch‐ unterrichts Grammatik nur ein Teilaspekt ist, hebt besonders auf „beiläufiges“ Lernen sprachlicher Formen im Rahmen der inhaltlichen Auseinandersetzung mit nicht-didaktisierten Texten ab und verweist dabei auf den Ansatz der Aufga‐ benorientierung (vgl. Caspari, 2009, S. 78). Auch Schmelter fordert „kommunika‐ tive und bedeutsame produktive Aufgaben“ (Schmelter, 2013, S. 83). Gleichzeitig mahnt er - auch unter Verweis auf empirische Studien zur Wirksamkeit von Verfahren, aber auch zu angenommenen Erwerbssequenzen - besonders im Anfangsunterricht eine Beschränkung von Grammatik und eine Toleranz gegenüber falschen Formen an (vgl. ebd., S. 84). Koch versucht noch stärker, alle Aspekte, die Lehrkräfte beschäftigen, unter einen Hut zu bringen, indem sie „Flüssigkeit, Korrektheit und Elaboriertheit“ (Koch, 2015, S. 6) gleichermaßen nennt und neben dem Ziel der inhaltsorientierten Kommunikation auch die „Verbesserung des sprachlichen Outputs“ (ebd., S. 4) durch verschiedene metho‐ dische Verfahren nennt. 4.2 Potentiale und Grenzen der Aufgabenorientierung Im Zusammenhang mit der Umsetzung der Kompetenzorientierung ist die schon länger beachtete Aufgabenorientierung (vgl. Bausch et al., 2006) stärker in den Vordergrund getreten. Die Englischdidaktik (vgl. z. B. Müller-Hartmann & Schocker-von Ditfurth, 2011, S. 35-56) interessiert sich deutlich für diesen Ansatz, aber auch in der Französischdidaktik findet er in den letzten Jahren immer mehr Resonanz (vgl. z. B. Caspari, 2009, S. 77). Dabei zeigt bereits eine kursorische Durchsicht wichtiger Publikationen, dass die Diskussion in der deutschen Fremdsprachendidaktik im Vergleich zur internationalen Literatur durchaus etwas anders verläuft. Zwar läge ein Missverständnis vor, wenn man annähme, dass aufgabenorientierte Ansätze in der internationalen Literatur rein auf Sprachverwendung und Kommunikation in möglichst realitätsnahen Kon‐ texten abzielen. Dennoch könnten die Überlegungen und Beispiele gelegentlich so wirken, als sei die Beschäftigung mit sprachlichen, grammatischen Aspekten „quite haphazard and unsystematic“, „a mere appendix“ oder sogar „super‐ 70 Elisabeth Kolb fluous“ (Niemeier, 2017, S. 35). Hauptsächlich dürfte dies daran liegen, dass meist keine oder nur wenig Diskussion darüber erfolgt, wie neue Strukturen im task cycle eingeführt bzw. erworben werden können, sondern dass implizit davon ausgegangen wird, dass die Lernenden formale Aspekte grammatischer Mittel entweder bereits beherrschen bzw. quasi nebenbei erwerben oder dass zumindest unklar bleibt, wann explizite Spracharbeit stattfinden soll. Das Bewusstsein für diese Problematik dürfte ein Grund sein, warum in der deutschen Debatte sprachlichen Aspekten bei der Aufgabenerfüllung ten‐ denziell mehr Gewicht eingeräumt wird als in der internationalen Literatur. So wird wiederholt angesprochen, ob bzw. dass und wann ein expliziter Fokus auf Grammatik Teil einer Aufgabe sein soll (z. B. Müller-Hartmann & Schocker-von Ditfurth, 2011, S. 220-223). Die stärkere Berücksichtigung expliziter Sprach‐ arbeit mag auch erklären, warum in der deutschen Fremdsprachendidaktik Aufgabenorientierung adaptiert wird: So wird der Ansatz des „task-supported language learning“ vertreten (Müller-Hartmann & Schocker-von Ditfurth, 2011, S. 16); es werden Übungen, gelenktere „Lernaufgaben I“ bzw. auf situative, freie Interaktion abzielende „Lernaufgaben II“ unterschieden (vgl. Leupold, 2008), oder es wird von „the two learning targets, i. e., the communicative one and the grammatical one“ (Niemeier, 2017, S. 37) gesprochen. In diesen abwägenden Positionen, die beide Aspekte beachten wollen, spiegelt sich wohl die Erkenntnis, dass beides verbunden werden sollte. Damit diese wichtige Feststellung auch in der Praxis Wirkung entfalten kann, sind allerdings überzeugende Ausarbeitungen von Aufgaben nötig. Wenn aber - wie immer noch in manchen Lehrwerken - kein direkter Bezug zwischen Gram‐ matik und Aufgabenerfüllung hergestellt wird, ist die Überzeugungskraft der Vorgehensweise eingeschränkt. Dasselbe trifft zu, wenn Aufgabenvorschläge auf idealisierenden Annahmen zum Ablauf verschiedener Phasen beruhen: Whereas the pre-task phase sets the stage for the communicative topic […] and already makes the learners subconsciously and passively familiar with the grammatical phenomenon […], the task itself stays within the communicative domain but demands the learners’ active use of the grammatical construction […] and the language focus acquaints the learners in a structured and inductive way with the form as well as with the meaning of the grammatical construction they already used during the task, ideally followed by a transfer to another word field or topic. (Niemeier, 2017, S. 37) Wenn das Beispiel für die Verbmorphologie bei der 3. Person Singular des Präsens (-s) sich darauf fokussiert, dass möglichst viele korrekte, aber extrem eng vorgegebene Sätze zu Vorlieben und Abneigungen in Bezug auf Pizzazutaten gebildet werden sollen (vgl. Niemeier, 2017, S. 88-91), dann ist zwar die The‐ 71 Grammatik und Kompetenzorientierung: une mésentente cordiale? matik schüler/ innennah, so dass vielleicht ein Kommunikationsbedürfnis der Lernenden angesprochen wird. Die Durchführung erinnert aber an pattern drills der vorkommunikativen Zeit, auch wenn darüber hinaus eine Bewusstmachung der korrekten Struktur vorgesehen wird. Dies kann dann neben der völlig freien, ungehemmten Kommunikation ohne Fokus auf Korrektheit wie der andere Pol wirken, nämlich wie eine Rückkehr zu althergebrachten Verfahren, bei denen die Situation lediglich Vorwand für einen Fokus auf die korrekte Form ist. 4.3 Ein Revival der Beschäftigung mit dem Üben In diesem Gesamtkontext ist es sehr wichtig, dass die Fremdsprachendidaktik sich der lange vernachlässigten Frage der Definition und der Rolle des Übens bzw. von Übungen beim Fremdsprachenlehren und -lernen in den letzten Jahren wieder vermehrt zugewandt hat. Besonders deutlich zeigt sich das darin, dass dieses Thema 2016 im Fokus der Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts stand (vgl. Burwitz-Melzer et al., 2016), wobei auf die Vielzahl der Aspekte hier nicht eingegangen werden kann. Besonders bedeutend erscheint allerdings im Rahmen der Kompetenzorientierung als Leitparadigma und somit auch für die Praxis der Unterrichtsplanung und -gestaltung die in vielen Beiträgen getroffene Feststellung, dass Üben als Zwischenschritt zum Fremdsprachenlernen und auch zum kompetenzorientierten Fremdspra‐ chenunterricht gehören kann und muss. Klar tritt in vielen Beiträgen zutage, dass eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von unterrichtlichen Lern- und außerschulischen Verwendungssituationen nötig ist, das unausgesprochen vielen Grundannahmen zum kompetenzorientierten Unterricht ebenso wie zum Üben zugrundeliegt (vgl. auch Klippel & Caspari, 2013) und das auch die Frage des Transfers miteinschließt. Noch deutlicher wird formuliert, dass es verschie‐ dene Vorstellungen vom Üben gibt, so dass noch eine genauere Bestimmung von Konzepten und Begriffen wie „Aufgabe“, „Übung“, „Kompetenz“, „Erwerb“, „Lernen“ oder „Anwendung“ wichtig erscheint. Casparis Fazit schneidet viele Aspekte anderer Beiträge an: Auch beim kompetenzbzw. aufgabenorientierten Lernen müssen Schüler/ innen üben, um sich sprachlich zu verbessern. Aber anders als im PPP-Ansatz tun sie es fokussiert und systematisch auf ein ihnen von Anfang an bekanntes, vergleichsweise enges kommunikatives Ziel hin. Und da in beiden Ansätzen die Bewusstheit, welche Ziele ein Übungsangebot verfolgt und welche Funktion ihm daher im Lernprozess zukommt, den Lernerfolg erhöhen sowie differenziertes Lernen und den Erwerb von Lernerautonomie unterstützen dürfte, sollte das konkrete Übungsziel m. E. bei jedem Übungsangebot, auch jeder einzelnen Übung in Lehrwerkeinheiten, angegeben werden. (Caspari, 2016, S. 48) 72 Elisabeth Kolb 5. Das Vermittlungsangebot einer multiperspektivischen Sicht auf Grammatik In diesem letzten Zitat wird deutlich, dass eine Vielfalt an Aspekten mitspielt, wenn man sich über das Verhältnis von Grammatik und Kommunikation im Fremdsprachenunterricht äußert. Wichtig wären hierbei auch die Meinungen der Lehrkräfte und noch viel interessanter die Sicht der Lernenden nicht nur auf bestimmte Übungen oder Aufgaben, sondern auch auf die Bedeutung, die sie selbst Grammatik und ihrer Bewusstmachung zuschreiben (vgl. Gnutzmann & Bohnensteffen, 2012). Wünschenswert ist auch eine größere Anzahl an em‐ pirischen Studien zur Wirksamkeit bestimmter Verfahren der Grammatikarbeit oder zum Interface von Grammatikwissen und Sprachkönnen. Ohne Anhänger von processability- oder teachability-Theorien sein zu müssen, könnte eine Orientierung an dem, was Lernende sich im Bereich der Grammatik wünschen und gleichzeitig auch leisten können, die Debatte entspannen, indem die grammatische Progression der Lehrwerke als ein Angebot unter vielen wahr‐ genommen wird. Ein anderes Angebot ist es, im Sinne der Lexikogrammatik Grammatik und die deutlich weniger kontroverse - wenn auch noch weniger in der Fremdsprachendidaktik beachtete - Lexik zu integrieren. Grammatik im Spannungsfeld von Korrektheit der Form und Relevanz für die Bewältigung von Kommunikationssituationen und Kommunikation im aktuellen Rahmen des Paradigmas der Kompetenzorientierung - dabei handelt es sich um ein Verhältnis, das immer noch offen ist. Vielleicht lässt sich diese Beziehung auch nicht endgültig klären. Zugrunde liegt ihr die Debatte über die Ziele des Fremdsprachenunterrichts, die trotz oder gerade wegen der gegenwärtig starken Setzung eines bestimmten Ansatzes nicht beendet ist und nicht vergessen werden darf. Auch wenn das Thema Grammatik wie schon in den vergangenen Jahrzehnten nicht zentral in der Fremdsprachendidaktik ist, so lassen die in den letzten Jahren etwas zahlreicheren Publikationen zu den sprachlichen Mitteln (vgl. u. a. Bürgel & Reimann, 2017) doch auf eine theoretisch fundierte und gleichzeitig praktikable Annäherung und Aushand‐ lung zwischen Grammatik und Kommunikation hoffen. Für die alltägliche Unterrichtspraxis zentral und relevant ist dieses Verhältnis auf jeden Fall. 73 Grammatik und Kompetenzorientierung: une mésentente cordiale? Literatur Barkowski, Hans (2006). Grammatical competence and the concept of progression in the light of research on language acquisition and the working brain. In Theo Harden, Arnd Witte & Dirk Köhler (Hrsg.) 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Darüber hinaus besteht im Rahmen von Schulpraktika und studentischen Abschlussarbeiten die Möglichkeit, Lehramtsstudierende an forschendes Lehren im Bereich der Lexikvermittlung heranzuführen. Mit diesem Beitrag möchten wir konkrete Vorschläge unterbreiten, wie Erkenntnisse zum Wortschatzlernen und zur strategischen Wortschatzarbeit gezielt in die Ausbildung angehender Fremd‐ sprachenlehrkräfte für die romanischen und slawischen Sprachen integriert werden können. 1 Einleitung Nachhaltiges Wortschatzlernen findet statt, wenn Lexik tiefgründig verarbeitet sowie langfristig im mentalen Lexikon verankert und gespeichert wird und somit weniger anfällig für Sprachverlust ist (vgl. Larson-Hall, 2019). Aufgrund 1 Brocca (2020) kommt in ihrer quasi-experimentellen Studie zum Einfluss von Medien auf das Vokabellernen von Italienischlernenden zu dem Ergebnis: „Methods affect the learning enhancement more than technologies“ (ebd., S. 265). der geringen Kontaktzeit zur Zielsprache, die im Unterricht der zweiten Fremd‐ sprachen zur Verfügung steht, ist die Frage, wie Wortschatz gelernt werden soll, besonders wichtig. Das Behalten neuer Lexik in einer Fremdsprache wird v. a. durch zwei Faktoren bestimmt: wie häufig die Wörter im Input vorkommen und was Lernende mit dem Wortschatz tun. 1 Laufer und Rozovski-Roitblat (2015, S. 687) schlussfolgern nach einer Auswertung mehrerer Studien zum Wortschatzlernen, „that what learners do with the word may be more important than how many times they encounter it“. Um sich neue Lexik anzueignen, muss man sich also gezielt mit ihr beschäftigen. Bei Aktivitäten mit neuem Vokabular spielt zudem die Verarbeitungstiefe eine wichtige Rolle: „Je mehr Ebenen (Bedeutung, Form, Lesen, Schreiben, Hören, Aussprechen, Handeln) ein Wort durchläuft, desto tiefer wird es gespeichert“ (Neveling, 2016, S. 117). Vokabeltests tragen möglicherweise zur Kontrolle und Disziplinierung von SuS bei (vgl. Kötter, 2017, S. 28), ihr Format bestimmt aber nolens volens die Strategien, mit denen Lernende sich Vokabeln einprägen: Werden Wörter in Vokabelgleichungen abgefragt, so wählen SuS eine Vorbereitung in zweispra‐ chigen Listen und lassen etwa vielfältig vernetzende, individuelle Strategien außer Acht (Washback-Effekt, vgl. Neveling, 2004, S. 109ff., S. 333). Beobachtungen im schulischen Fremdsprachenunterricht zeigen, dass auch die sog. digital natives digitale Anwendungen zum Wortschatzlernen wie elektronische Wörterbücher und Korpora kaum von sich aus verwenden, sondern stattdessen oft nur auf eine Übersetzungsmaschine zurückgreifen. Vokabel-Apps werden dagegen häufiger genutzt (vgl. Statista, 2020), jedoch stra‐ tegisch nicht immer sinnvoll (vgl. Fritz, Passey & Morris, 2009; Hausmann, 2019). Für den Einsatz von Webtools beim Fremdsprachenlernen spricht, dass das In‐ ternet zur Lebenswelt der SuS gehört, dass diese aufgrund der spielerischen Ele‐ mente (gamification) motivierter bei der Sache sind und durch programmiertes Feedback eher Lernerfolge wahrnehmen. Um digitale Anwendungen jedoch zielführend zu nutzen, ist neben Wissen über Sprachlernstrategien kritische Medienkompetenz vonnöten, insbesondere die kriteriengeleitete Auswahl von Medien und Materialien. Das Internet bietet inzwischen eine fast unüberschaubare Fülle von Tools zum Vokabellernen von jedoch recht unterschiedlicher Qualität. Um zwischen einer „planlosen und eher zufälligen Verwendung von Apps und digitalen Zusatzan‐ geboten“ und „einer integrativen didaktisch-methodischen Konzeption digital basierten Fremdsprachenlernens“ (Funk, 2019, S. 75) mit sinnvollen Formaten 78 Grit Mehlhorn & Christiane Neveling und interaktionssteuernden Potenzialen zu unterscheiden, schlägt Funk (ebd.) eine übungstypologische Differenzierung vor. So sollte man mit Blick auf die Lernenden unterscheiden zwischen • Anwendungen wie Youtube, die nur konsumiert werden, • Apps, in denen die Lernenden nur reagieren, etwa durch das Ankreuzen von Richtig-Falsch-Optionen, • Zuordnungsübungen oder der Rekonstruktion von Textlücken, • reproduktiven lernenden- und programmgesteuerten Aktivitäten, z. B. beim Vokabellernen mit digitalen Karteikarten wie in phase 6 oder Quizlet, • bis hin zu kollaborativen Aktivitäten, mithilfe derer sich Lernende beim Wortschatzlernen und der Texterstellung unterstützen, etwa beim krea‐ tiven Schreiben auf einer digitalen Pinnwand. Im Folgenden wollen wir anhand konkreter Beispiele darstellen, wie digitale Anwendungen für innovative Verfahren der Wortschatzarbeit von Lehramts‐ studierenden genutzt werden können, um eine kritische Medienkompetenz zu entwickeln, die sie für die Wortschatzvermittlung im schulischen Fremd‐ sprachenunterricht benötigen. Dabei gehen wir exemplarisch auf interaktive Lexikübungen (Abschnitt 2.1), die Arbeit mit Online-Wörterbüchern (2.2) und Vokabeltrainern (2.3) sowie mit Korpora (2.4) ein, bevor wir uns in Abschnitt 3 den Möglichkeiten des forschenden Lernens im Bereich Wortschatz zuwenden. 2 Wortschatzlernen in der Ausbildung von Fremdsprachenlehrkräften „Digitales Lehren und Lernen bedarf dringend guter Vorbilder“ (Fandrych, 2019, S. 61). Neue Kommunikationsformate und digitale Medien zum Wortschatz‐ lernen enthalten zahlreiche Affordanzen, haben jedoch auch Grenzen. Die veränderte Art, in der sie die Wahrnehmung, Wirklichkeitskonstruktion und Handlungsmöglichkeiten (mit) beeinflussen, müssen in der Lehrerinnen- und Lehrerausbildung thematisiert und reflektiert werden (vgl. ebd., S. 59). Funk (2019, S. 72) betont, dass App-Entwickelnde kein Unterrichtskonzept haben. Angehende Fremdsprachenlehrende sollten daher befähigt werden, Auswahl und Einsatz von digitalen Ressourcen kritisch zu hinterfragen, um Internet‐ anwendungen jenseits behaviouristischer pattern drills zu nutzen und ihre SuS Schritt für Schritt bei der Anwendung passender Lernstrategien anleiten zu können. Lehramtsstudierende sollten Beispiele guter Praxis kennenlernen, analysieren und dafür die tägliche Nutzung von sprachbezogenen digitalen 79 Nachhaltiges Wortschatzlernen mit digitalen Ressourcen Hilfsmitteln durch SuS eruieren, deren Potenzial kritisch untersuchen, um sie darauf aufbauend zu adaptieren und sinnvoll in den Unterricht zu integrieren. Eine generell zu beobachtende Medienaffinität bei Lehramtsstudierenden bedeutet noch nicht, dass sie wissen, wie die Technologie im Fremdsprachen‐ unterricht gewinnbringend eingesetzt werden kann. Funk (2019, S. 70f.) zeigt die Notwendigkeit einer digital literacy in der Fremdsprachendidaktik auf. Angehende Lehrkräfte benötigen Training, um SuS Mechanismen zu verdeut‐ lichen, wie und wann Suchmaschinen und Webbrowser zu nutzen sind. Als künftige Fremdsprachenlehrende sollten sie in der Lage sein, sowohl das Potenzial als auch die Grenzen von fertigen Online-Materialien, Lernspielen und digitalen Werkzeugen für das fremdsprachige Wortschatzlernen einschätzen zu können (vgl. Mehlhorn, 2019, S. 178). Von ihnen wird erwartet, Lernende zu einem effizienten und verantwortungsvollen Mediengebrauch anzuleiten, d. h. bspw., sie in die Lage zu versetzen, Online-Wörterbücher, Korpora, aber auch Übersetzungsdienste strategisch sinnvoll für ihre Sprachproduktion zu nutzen. In Zweifelsfällen sollten die SuS alternative Nachschlagewerke zu Rate ziehen und verschiedene Übersetzungsvorschläge kritisch vergleichen können sowie einschätzen lernen, welchen Quellen sie eher vertrauen können (vgl. ebd.). Lehramtsstudierende sollten sich während ihrer Ausbildung begründete Einschätzungen erarbeiten, was welche Arten von Medien und Webtools für das Wortschatzlernen und den Fremdsprachenunterricht leisten können und wie sinnvolle Lernszenarien mit digitalen Ressourcen gestaltet werden sollten. 2.1 Interaktive Übungen Übungsformaten im Internet (z. B. H5P, https: / / learningapps.org) wird hohes Motivationspotenzial zugeschrieben, da die SuS schnell eine (programmierte) Rückmeldung erhalten und bei richtiger Lösung Erfolgserlebnisse haben. Aller‐ dings unterscheiden sich solche Übungen stark in Bezug auf Steuerungsmög‐ lichkeiten der Lernenden. Wortschatz wird oft nur reaktiv, allenfalls reproduktiv geübt. Viele Übungen erscheinen als verkappte Vokabeltests (vgl. Krings, 2016, S. 337), haben jedoch kaum Lerneffekte und tragen damit wenig zum langfris‐ tigen Behalten bei. Wie auch ihre analogen Vorläufer sorgen Online-Übungen, in denen Einzelwörter z. B. in einem Kreuzgitter identifiziert werden sollen, weniger für eine Verankerung der Vokabel im mentalen Lexikon als Aktivitäten, bei denen ein zielsprachiger Text durch das Einsetzen gesuchter Wörter in der kongruenten Wortform rekonstruiert werden muss. Zuordnungsübungen sind insbesondere dann hilfreich, wenn sie weitere Sinneskanäle ansprechen und da‐ durch zu einer tieferen Verarbeitung beitragen. So können Schrift- und Lautbild (Audioaufnahme), fremdsprachige Zahlwörter der entsprechenden Ziffer oder 80 Grit Mehlhorn & Christiane Neveling 2 Zum Potenzial von Phrasemen für die zügige Textverarbeitung beim Lesen und Hören sowie eine flüssigere Sprachproduktion vgl. v. a. Aguado (2002) und Bürgel (2020). Zu konkreten Vorschlägen für das Einüben von Chunks im Unterricht vgl. Betker & Philipp (2018); Sobel & Wicher (2019) sowie Rauch (2019). Wörter eines Themenbereichs passenden Bildern zugeordnet (Memory-Format) oder Adjektive entlang ihres Graduierungsgrades (etwa von langsam zu schnell) sortiert werden (vgl. Küster & Sparenberg, 2013, S. 60). Die Zuordnung isolierter fremdsprachiger Vokabeln zu ihren deutschen Übersetzungen erscheint weniger effektiv als die gezielte Zusammensetzung von Mehr-Wort-Einheiten, z. B. poln. wysłać + plik, frz. envoyer + un fichier, russ. отправить + файл, span. enviar + un archivo, wenn die Vokabel mit einem (grammatischen) Minikontext verbunden wird. 2 Diese Erkenntnisse könnten sich Lehramtsstudierende zu eigen machen, indem sie im Rahmen linguistischer oder fachdidaktischer Veranstaltungen interaktive Wortschatzübungen ihrer Zielsprache kritisch auf das Lernpotenzial für SuS untersuchen, bevor sie in einem zweiten Schritt selbst ähnliche Übungen erstellen. Wenn die Studierenden die Übungen ihrer Kommiliton/ inn/ en aus‐ probieren und dazu Feedback geben, werden sie schnell auf Konstruktionsfehler stoßen und können sich eine Art Kriterienkatalog für nachhaltige Wortschatz‐ übungen erarbeiten. Dieser könnte u. a. das Lernziel, die Formulierung sowie Funktionalität der Aufgabenstellung und des programmierten Feedbacks, die Anzahl und den Schwierigkeitsgrad der Items, ggf. abrufbare Hilfestellungen sowie die mediale Umsetzung (Passung von Wort und Bild, Qualität der Audio‐ dateien usw.) umfassen. Das Lernpotenzial interaktiver Übungen kann durch eine kontextgebundene Weiterarbeit mit dem Material erhöht werden, indem z. B. reflektiert werden muss, nach welchem Prinzip der Wortschatz in einer Übung sortiert wurde, oder indem die Lernenden sich eine bestimmte Anzahl korrekt zugeordneter Chunks herausschreiben und damit Sätze formulieren, die in ihrer individuellen Sprachanwendung vorkommen könnten. Auf diese Weise wird ein reines Durchklicken im Autopilotmodus vermieden, und die Ergebnisse online absolvierter Übungen können im Unterricht wieder aufgegriffen werden. Eine Portfolioaufgabe in der Ausbildung von Lehramtsstudierenden slawi‐ scher Sprachen an der Universität Leipzig lautet: Erstellen Sie für eine konkrete Zielgruppe (Schulform und Lernjahr konkretisieren) eine Übungssequenz zu einem lexikalischen oder grammatischen Thema Ihrer Wahl, die aus fünf unterschiedlichen, aufeinander aufbauenden Übungen besteht (Progression vom Einfachen zum Schwierigen, von der Reproduktion zur freieren Produktion beachten). For‐ mulieren Sie konkrete Aufgabenstellungen, geben Sie genügend Items pro Übung an und verfassen Sie ein Erwartungsbild (Lösungsschlüssel). Erläutern Sie, was mit den einzelnen 81 Nachhaltiges Wortschatzlernen mit digitalen Ressourcen 3 Zu einem späteren Zeitpunkt im Semester sollen die Studierenden eine Aufgabensequenz im Sinne des Task-Based Language Learning konzipieren. Es hat sich jedoch bewährt, zunächst mit der Übungssequenz zu beginnen, da die Studierenden so die sprachlichen Anforderungen und möglichen Scaffolding-Bedarf kommunikativer Aufgaben besser ein‐ schätzen lernen. Übungen jeweils gelernt und gefestigt werden soll. Erstellen Sie eine der Übungen online, indem Sie ein Format auf https: / / learningapps.org/ für Ihre Zwecke adaptieren. Geben Sie die genutzen Materialquellen an und erläutern Sie, wie Sie vorhandene Lehrwerkübungen für Ihre Zwecke adaptiert haben. Vorgeschlagener Umfang: 1-2 Seiten Erläuterung plus Arbeitsblatt mit Übungen, Arbeitsanweisungen und Erwartungsbildern. 3 Diese Aufgabe birgt Herausforderungen und Lernpotenzial für die Lehramtsstu‐ dierenden. Sie setzen sich intensiv mit Übungsformaten und einem konkreten sprachlichen Thema auseinander, lösen Übungen aus der Lernendenperspek‐ tive, erkennen dabei Brüche in der Progression von Lehrwerksübungen und lernen, Lehrwerksangebote zielgruppenspezifisch zu modifizieren. 2.2 Arbeit mit Online-Wörterbüchern Wilkening (2015) beschreibt anhand von konkreten Fallbeispielen, dass viele SuS das Nachschlagen in gedruckten Wörterbüchern heute nicht mehr beherrschen. Selbst wenn sie im Fremdsprachenunterricht direkt Zugriff darauf haben, ver‐ wenden sie sie kaum von sich aus, und auf Aufforderung fällt es ihnen schwer, überhaupt zielsprachige Lexik in einem gedruckten Wörterbuch aufzufinden. Online-Wörterbücher werden wegen des schnelleren Zugriffs bevorzugt, wenn nicht gleich durch Anwendungen wie Google-Translator oder DeepL ersetzt. Solche Übersetzungsprogramme sind jedoch für das Nachschlagen der Bedeu‐ tung einzelner Wörter eher ungeeignet, da die Ergebnisse in der Regel wenig hinterfragt und nicht zum Wortschatzlernen genutzt werden. Auch wenn die Er‐ gebnisse maschineller Übersetzung durch Online-Dienste in den letzten Jahren stark verbessert wurden, sind sie für morphologisch komplexere Sprachen längst noch nicht ausgereift. Die bisher eher begrenzten Möglichkeiten, mithilfe künstlicher Intelligenz Informationen z. B. zum Genus aus Ausgangstexten zu entnehmen, führen bei der automatischen Übersetzung regelmäßig zu gra‐ vierenden Fehlern etwa bei der pronominalen Aufnahme zuvor eingeführter Referenten. Eine kritische Auseinandersetzung mit solchen Übersetzungspro‐ dukten in der Lehrerinnen- und Lehrerausbildung kann Sprachbewusstheit anbahnen und dazu beitragen, Grenzen von Online-Diensten zu erkennen und ihre Potenziale reflektierter zu nutzen (vgl. Mehlhorn, 2019, S. 178). 82 Grit Mehlhorn & Christiane Neveling 4 PONS hält bspw. ein äußerst umfangreiches Online-Wörterbuch für das Polnische vor, für das Tschechische fehlen beim selben Anbieter Vokabeln aus dem elementaren Grundwort‐ schatz. Das spanische PONS-Online-Wörterbuch ist in Bezug auf Bedeutungsunterschiede Online-Wörterbücher können heute prinzipiell mehr leisten als gedruckte Wörterbücher; v.a. sind sie durch die Möglichkeit der permanenten Erweiterung aktueller. Allerdings lässt zum einen die sprachliche Strukturiertheit der Angaben in manchen elektronischen Wörterbüchern zu wünschen übrig, zum anderen finden sich unzureichende oder korrekturbedürftige Einträge. Kötter (2017, S. 37) zufolge muss der Gebrauch von Print-Wörterbüchern genauso sorgfältig vorbe‐ reitet und intensiv erarbeitet werden wie der Umgang mit ihren webbasierten Pendants, bevor man die SuS mit diesen Ressourcen selbstständig arbeiten lässt. Lehramtsstudierende sollten in der Lage sein, die Qualität von (Online-)Wörter‐ büchern einschätzen zu können. Die Eignung webbasierter Nachschlagewerke lässt sich jedoch nicht auf einen Blick beurteilen. So ist der erfasste Wortschatz nicht für alle Sprachen gleichermaßen umfangreich. 4 Während man bei gedruckten Wörterbüchern schon anhand der Größe einen ungefähren Eindruck vom Um‐ fang der enthaltenen Lexeme und hilfreichen Zusatzinformationen enthält, muss man bei den digitalen Wörterbüchern genauer hinschauen (vgl. Mehlhorn, 2020, S. 6). Lehramtsstudierende könnten dieselben Vokabeln in verschiedenen On‐ line-Wörterbüchern aufsuchen, die vorgefundenen Informationen (u. a. Anzahl der verzeichneten Bedeutungen, Kollokationen, grammatische Informationen) verglei‐ chen und sich dabei selbst von der Leistungsfähigkeit einzelner Nachschlagewerke überzeugen. Das würde ihnen helfen, SuS bei der Wörterbucharbeit anzuleiten. Indem Fremdsprachenlernende Informationen wie die Wortbetonung im Russi‐ schen, den Artikel im Französischen oder Spanischen, die Deklination eines Wortes in den slawischen Sprachen oder die passende Präposition nachschlagen, üben sie gleichzeitig den strategischen Umgang mit wichtigen Hilfsmitteln. Die folgenden Aufgabenstellungen sollen dies exemplarisch illustrieren: (1) Unterstreiche die passende Form der eingeklammerten Wörter. Inwiefern kann das Wörterbuch bei der Lösung behilflich sein? a. (frz.) Je ne (lui / le) crois pas. (Ich glaube ihm nicht.) b. (poln.) Nie przeszkadzaj (ojca / ojcu)! (Stör den Vater nicht! ) c. (russ.) Я поздравляю (тебя / тебе) с днём рождения. (Ich gratu‐ liere dir zum Geburtstag.) d. (span.) Esto era / estaba de esperar. (Das war zu erwarten.) 83 Nachhaltiges Wortschatzlernen mit digitalen Ressourcen und usuelle Verbindungen zweibis dreimal so umfangreich wie das Italienische, wie das Beispiel des Lexems „gehen“ zeigt. (2) Setze die passende Präposition ein. Bei welchem Wort schaust du nach, falls du unsicher bist? a. (frz.) J’ai appris (de / par) le journal que la ministre a démissionné. (Ich habe ____ der Zeitung erfahren, dass die Ministerin zurück‐ getreten ist.) b. (poln.) To była miłość ___ pierwszego wejrzenia. (Das war Liebe ___ den ersten Blick.) c. (russ.) Мне надо ___ туалет. (Ich muss ___ Toilette.) d. (span.) ¿Tú crees (a / en) Dios? (Glaubst du ___ Gott? ) Da zum Erlernen neuer Lexik auch die lautliche Form gehört, haben On‐ line-Wörterbücher, die auf Mausklick Wörter vorsprechen, einen Zusatznutzen. Eine Qualitätsprüfung der Audiodateien zeigt jedoch, dass nicht alle gleicher‐ maßen zur Ausspracheschulung geeignet sind. Elektronische Wörterbücher wie Leo und PONS nutzen die Text-to-speech-Technik, bei der einzelne eingespro‐ chene Lautschnipsel automatisch zu Audiodateien zusammengesetzt werden. Auch wenn die Sprachsynthese in jüngster Zeit rasante Fortschritte gemacht hat, klingen die entsprechenden Audiospuren oft künstlich und monoton und sind für Zwecke der Ausspracheschulung in den romanischen und slawischen Sprachen nur bedingt empfehlenswert. Insbesondere die Intonation, der Wort‐ rhythmus und die Realisierung betonter und unbetonter Silben weichen ab von Wörtern, die als Ganzes eingesprochen wurden. Elektronische Wörterbücher bieten außerdem Unterstützung beim Lesever‐ stehen sowie beim Verfassen und Berichtigen eigener Texte. Durch effizientes Nachschlagen kann man viel über weitere Verwendungsmöglichkeiten eines Wortes lernen (vgl. die Strategieerläuterungen bei Krings, 2016, S. 249ff.). Lehr‐ amtsstudierende könnten - bspw. im Rahmen der Schulpraktika - anhand der Auswertung von schriftlichen Arbeiten von Lernenden eine Unterrichtsstunde vorbereiten, in der die Produkte unter Nutzung von Online-Wörterbüchern überarbeitet werden sollen. 2.3 Arbeit mit Wortschatztrainern Elektronische Wortschatztrainer, die am Laptop, PC, Tablet oder Smartphone genutzt werden, sind dem traditionellen Vokabelheft in mehreren Aspekten überlegen, insbesondere wenn sie Wortschatz multimedial (mit Bildern und Au‐ 84 Grit Mehlhorn & Christiane Neveling diodateien) und in Kontextbeispielen präsentieren sowie abwechslungsreiche Einpräge- und Abfragefunktionen (Vokabeldiashow, Vokabelkarten zum Um‐ drehen, Vokabelmemory, paarweises Zuordnen, Audioabfrage als Hördiktat) bieten und den Fortschritt der Lernenden - etwa durch Statistiken gewusster Wörter - dokumentieren. Es gibt eine Reihe kostenloser (Languagecourse, Leo, Memorion, PONS, Quizlet), aber auch kostenpflichtiger Wortschatztrainer wie Flashcards Deluxe, Mosalingua, phase 6 oder Wordbeat, über die sich Lehramts‐ studierende im Rahmen von Projektarbeit einen ersten Überblick verschaffen könnten. Immer mehr Wortschatztrainer basieren auf dem Lernkarteiprinzip mit Spaced-Repetition-System (SRS): Bei richtiger Übersetzung gelangen die Karten in die nächsthöhere Phase, bis sie zu einem späteren Zeitpunkt fällig werden. Nach der sechsten Wiederholung sollen sich die Vokabeln im Langzeitge‐ dächtnis befinden, daher auch die Bezeichnung phase 6 für die bei SuS sehr beliebte kommerzielle App mit fertigen Vokabelsammlungen gängiger Schul‐ buchverlage. Ein Vorteil dieser Anwendung besteht darin, dass die Wörter durch Muttersprachler/ innen vertont wurden, teilweise grammatische Informationen (z. B. Genusformen der Adjektive) und meist einen Beispielsatz enthalten. Dennoch handelt es sich um isolierte Vokabelgleichungen, in der Regel ohne Übersetzungsvarianten und ohne Unterscheidung zwischen rezeptiv erschließ‐ barem und Lernwortschatz. So wird im Band 3 zum Russischlehrwerk Dialog das Nomen мистер (dt. „Mister“) abgefragt. Dabei handelt es sich weder um eine deutsche noch eine russische Vokabel, sondern ein englisches Wort, das aus dem Kontext (mister + Familienname) erschließbar ist und nicht in sechs Phasen „gelernt“ werden braucht. Geradezu absurd erscheint es, isolierte Präpositionen ohne Nominalanschluss als Vokabelgleichung auswendig zu lernen. Bedauerli‐ cherweise sind die vorgefertigten Vokabelsets zu Lehrwerkbänden in phase 6 nicht veränderbar und bieten somit wenig individuelle Anknüpfungsmöglich‐ keiten. Nicht benötigte Karteikarten können nicht aus dem Lernpaket entfernt werden. Da das Wortschatzlernen ein individueller Prozess ist und SuS nur die Wörter lernen können, die in ihrem mentalen Lexikon andockbar sind (vgl. Neveling, 2020a, S. 178), wäre es sinnvoller, wenn die SuS sich ihren Vokabel‐ trainer selbst zusammenstellen. Dazu sollten sie im Fremdsprachenunterricht angeleitet werden. Eine kostenlose Möglichkeit hierfür bietet Quizlet - eine einfache Karteikarten-App zum Vokabellernen mit einer großen nutzergene‐ rierten Datenbank, die allerdings auch qualitativ fragwürdige Vokabellisten enthält. Lehramtsstudierende könnten zunächst vorgefertigte Karteikartensets 85 Nachhaltiges Wortschatzlernen mit digitalen Ressourcen 5 Lehramtsstudierende, die während des Studiums ohnehin ihre zielsprachlichen Kom‐ petenzen ausbauen müssen, könnten zu einem bestimmten Thema gezielt individuellen Input für einen eigenen Wortschatztrainer sammeln und im Rahmen einer Aufgabe für das Lehramtsportfolio anhand konkreter Beispiele reflektieren, wie sie ihren personalisierten Wortschatz strategisch erweitern. in ihrer Zielsprache daraufhin überprüfen, inwieweit diese den Prinzipien für nachhaltiges Wortschatzlernen entsprechen: • Werden Substantive bspw. mit Genus, Verben mit Anschlüssen, Adjektive in der maskulinen und femininen Form angegeben, enthalten russische Vokabeln Betonungszeichen usw.? • Sind die Wörter so frequent und nützlich, dass ihre Aufnahme in die Wortschatzsammlung gerechtfertigt ist? • Welche Chunks sollten sinnvollerweise mit dem Wortschatz einer Teil‐ lektion bzw. zu einem bestimmten Thema gelernt werden? Bei der Analyse von Lexiksammlungen, die von anderen Nutzer/ inne/ n erstellt wurden, zeigt sich schnell, dass diese oft Fehler enthalten und selten den Lernbedürfnissen einer konkreten Zielgruppe entsprechen, sodass es besser ist, eigene Sets zu erstellen. Indem sie selbst digitale Karteikarten auswählen und zusammenstellen, beschäftigen sich Lehramtsstudierende intensiv mit prakti‐ schen Fragen der Wortschatzvermittlung. Sie können Bilder und Vertonungen einbinden, statt Einzelwörtern Mehrwortwendungen aufnehmen sowie von Kommmiliton/ inn/ en zusammengestellte Sammlungen gemeinsam diskutieren, ergänzen und überarbeiten. 5 Auf diese Weise werden die angehenden Lehrkräfte in die Lage versetzt, auch SuS bei der Erstellung eigener Lernsets anzuleiten und zu beraten. Wissen die SuS, wie man digitale Wortschatzkärtchen erstellt und korrigiert, können sie diese für das häusliche Lernen nutzen. 2.4 Arbeit mit Korpora Eine Bestandsaufnahme bzgl. der Medienkompetenzen von Lehramtsstudier‐ enden des Russischen (vgl. Drackert, Mehlhorn & Wapenhans, 2019) ergab, dass die Befragten trotz des großen Potenzials für das Sprachenlernen kaum Erfahrungen mit Sprachkorpora haben. Angehende Fremdsprachenlehrkräfte sollten sich bewusst machen, dass SuS nur solche sprachlichen Formen analy‐ sieren, reflektieren und langfristig speichern können, die sie zuvor bewusst wahrgenommen und aktiv mit einer Bedeutung verknüpft haben. Mithilfe von data-driven learning - des Lernens mit realen Sprachdaten (vgl. Kötter, 2017, S. 166) - lassen sich die Verwendungskontexte von Vokabeln erarbeiten, also bspw. untersuchen, wie ein bestimmtes Lexem von Muttersprachler/ inne/ n 86 Grit Mehlhorn & Christiane Neveling gebraucht wird oder ob man Wort X und Y zusammen verwenden kann, d. h. das Fügungspotenzial des Suchworts analysieren (vgl. Guhl, 2018, S. 12). Beispielsätze veranschaulichen nicht nur den Gebrauch des Wortes durch einen Minikontext, sie können auch selbst Lernmaterial sein (vgl. Krings, 2016, S. 320) und entdeckendes Lernen anregen. Bei der Auswahl von Lexik für den individuellen Wortschatz sollte auf das richtige Chunking geachtet werden, d. h. so viel Kontext wie nötig zu berücksichtigen, um das Wort in seiner typischen Bedeutung, Umgebung und Satzeinbindung erkennen und behalten zu können (vgl. ebd., S. 343f.), z. B. span. en el fuego de la discusión („im Eifer des Gefechts“), à la page 5 (statt *sur la page 5). Dabei erscheint es sinnvoll, Beispielsätze so abzuändern, dass sie auf die Lernenden selbst zutreffen. Bei der lexikalisch-semantischen Suche in Korpora können z. B. Substantive, Adjektive und Verben aus verschiedenen Themenbereichen aufgefunden und ihre Konkordanzen, d. h. Verwendungsweisen und typische Wortkombinati‐ onen, analysiert werden, z. B. (1) Farbe a. (span.) ponerse verde de envidia - ‘grün’ vor Neid werden b. (poln.) pstrąg na niebiesko - Forelle blau (2) Geschmack (frz.) a. je me régale - ich lasse es mir schmecken b. un gourmand - ein Schlemmer (isst gern und viel) c. un gourmet - ein Feinschmecker (erkennt gutes Essen und guten Wein) (3) Geruch (frz.) a. c’est infect - das ist/ riecht ekelhaft b. ça pue (ugs.) - es stinkt (4) Temperatur (frz.) a. glacé,e - eiskaltes Essen b. glacial,e - eiskaltes Zimmer c. implacable - eiskalter Mörder Eine sog. trunkierte Abfrage nach Wortbestandteilen, z. B. nach (frz.) *-amment, findet in einem annotierten Korpus eine Reihe von Beispielen für gängige fran‐ 87 Nachhaltiges Wortschatzlernen mit digitalen Ressourcen zösische Adverbien (vgl. Krings, 2016, S. 249). Ebenso kann man nach Präfixen (z. B. frz. impossible, irresponsable) oder Suffixen suchen (frz. logique, magique und als Ergänzung in Wörterbüchern verschiedener Sprachen z. B. mit „logi*“ auch interlinguale Ähnlichkeiten suchen (bspw. engl. logical, frz. logique, poln. logiczny, russ. логичный, span. lógico) (vgl. Neveling, 2020b, S. 254ff.). Diese Funktion digitaler Korpora eignet sich zur Wortschatzarbeit für fortgeschrittene Lernende, die ihr Verständnis für den zielsprachigen Wortschatz intelligent erweitern, indem sie seine Struktur durchschauen (vgl. ebd.). Auf der nächst höheren Stufe kann man Suchanfragen nach kompletten Phrasen durchführen. Mithilfe von Textkorpora lassen sich mit relativ geringem Zeitaufwand authentische Sprachbeispiele finden, Wortformen oder einzelne Wörter im Kontext untersuchen sowie Arbeitsblätter zu Grammatik- oder Lexikfragen erstellen (vgl. Steinbach & Birzer, 2011, S. 8f.), die im Fremdsprachenunterricht für das entdeckende Lernen genutzt werden können („Was fällt dir an den kursiv gedruckten Wörtern auf ? Welche Unterschiede zum Deutschen bemerkst du? “). Die Beispielkontexte können in ein Aufgabenblatt zum induktiven Er‐ schließen bestimmter Konstruktionen (z. B. Zeitangaben, Modus subjuntivo im Spanischen) kopiert werden. So lassen sich Arbeitsblätter zu diversen gramma‐ tikalischen Themen erstellen, etwa eine Sammlung von Sätzen mit doppelter Verneinung, die von den SuS zum besseren Verständnis mit dem Deutschen kontrastiert werden sollen, bspw. (5) a. (frz.) Je n’en sais rien. ich nicht davon wissen-1.Ps.Sg. nichts b. (poln.) Nic o tym nie wiem. nichts davon nicht wissen-1.Ps.Sg. („Ich weiß nichts darüber“). Die Arbeit mit Korpora eignet sich nicht nur für Aussagen zu prinzipiell möglichen sprachlichen Formen und Ausdrücken (Lexikogrammatikalität), son‐ dern auch zur tatsächlichen Verwendung (Akzeptabilität) und zur bevorzugten Verwendung oder Kombination mancher Formen (Idiomatizität). Sie erhöht die Authentizität im Fremdsprachenunterricht und kann zudem eingesetzt werden, um an der stilistischen Kompetenz der Lernenden zu arbeiten, was insbesondere für fortgeschrittene Herkunftssprecher/ innen relevant ist. 88 Grit Mehlhorn & Christiane Neveling 6 Parallelkorpora eignen sich für Vergleiche zwischen mehreren Sprachen (vgl. Steinbach & Birzer, 2011, S. 9). Lehramtsstudierende können in Sprachpraxis- oder Linguistikveranstal‐ tungen an die Korpusarbeit herangeführt werden. Mögliche Arbeitsaufträge (für das Russische vgl. auch Steinbach & Birzer, 2011, S. 9) könnten lauten: (6) Suchen Sie nach usuellen Verbindungen: Geben Sie fünf Beispiele an, mit welchen Adjektiven und Verben das spanische Substantiv el pan auftritt. (7) Nennen Sie jeweils fünf Beispiele für Verwendungen des polnischen Aspektpaars czytać / przeczytać im Präteritum. (8) Notieren Sie Wortgruppen, mit denen die spanischen Verben ir und ander auftreten. (9) Finden Sie im Engl.-Russ.-Dt.-Frz.-Parallelkorpus Äquivalente für das Wort Heimat in den Ihnen bekannten Sprachen. 6 (10) Beschreiben Sie die Häufigkeitsverteilung des Verbs span. corromper (bestechen / korrumpieren) in der Kinderliteratur und in Zeitungstexten. (11) Welche Kasusformen zeigen Adjektive und Substantive nach den Zahl‐ wörtern четыре und пять? Überprüfen Sie, ob die Ihnen dafür bekannte Regel zutrifft. (12) Mit welchen positiv und negativ konnotierten Adjektiven tritt die Natio‐ nalitätenbezeichnung Allemande / niemiec / alemán / немец im Frz. / Poln. / Russ. / Span. auf? 3 Möglichkeiten zur Erforschung des individuellen Wortschatzlernens Fritz (2020, S. 290) kommt in ihrer Studie zum Unterrichtserleben von Franzö‐ sisch und Spanisch lernenden SuS zu dem Schluss, dass es Lehrenden trotz des im Studium erworbenen Fachwissens nicht gelingt, Unterrichtsinhalte zielgruppenspezifisch auszuwählen und schüler/ innenorientiert aufzubereiten. Sie fordert, die erste Phase der Lehrerinnen- und Lehrerausbildung stärker als bislang zum Gegenstand empirischer Forschung zu machen und kritisch zu hinterfragen, inwieweit sich Lehramtsstudierende im Rahmen des Studiums (ausreichend) mit Inhalten auseinandersetzen, die den Besonderheiten der zweiten Fremdsprachen gerecht werden und für deren Vermittlung geeignet sind (ebd., S. 291). Zu diesem Befund passt die Forderung von Plikat (2020, S. 124), „dass das Themenfeld Lexikalische Kompetenz dringend verstärkt auf die Agenda der fremdsprachendidaktischen Forschung und Unterrichtsent‐ 89 Nachhaltiges Wortschatzlernen mit digitalen Ressourcen wicklung im deutschsprachigen Raum gesetzt werden sollte, insbesondere im Bereich der romanischen und slavischen Schulfremdsprachen“. Entsprechende Forschungsfelder und prototypische Designs hat Daniela Caspari (2016a; 2016b) in dem von ihr mitherausgegebenen Forschungsmethodenhandbuch dargelegt. Ein erster Schritt könnte darin bestehen, dass Lehramtsstudierende digitale Werkzeuge zum Sprachenlernen aus Nutzerperspektive selbst testen, durch den gezielten Vergleich von Potenzialen und Grenzen ihre kritische Medienkompe‐ tenz ausbauen und lernstrategisches Wissen anwenden. Erst im zweiten Schritt ist es sinnvoll, über Lernszenarien für den schulischen Fremdsprachenunterricht nachzudenken. Dabei geht es nicht in erster Linie darum, dass die Studierenden möglichst viele Webtools kennen, da dieses Wissen heutzutage schnell veraltet. Vielmehr sollten sie einen kritischen Blick für den lernstrategisch sinnvollen Einsatz digitaler Ressourcen entwickeln und in der Lage sein, das Lernpotenzial verschiedener Apps rasch einschätzen und Szenarien für den Einsatz im schu‐ lischen Fremdsprachenunterricht entwickeln zu können. Möglichkeiten für forschendes Lernen bieten sich insbesondere während der obligatorischen Schulpraktika oder bei studentischen Abschlussarbeiten, z. B. im Bereich des Design-Based Research bzw. der Aktionsforschung (vgl. Caspari, 2016b). Hausmann (2019) hat im Rahmen seiner Staatsexamensarbeit zwei In‐ stagram-Kanäle für Tschechisch lernende SuS eingerichtet, darüber regelmäßig Bilder mit tschechischsprachigem Wortschatz gepostet und in einer quasi-ex‐ perimentellen Studie longitudinalen Zuschnitts untersucht, inwieweit die SuS auf diese Weise fremdsprachigen Wortschatz lernen. Studierende könnten die Verwendung von Apps zum Wortschatzlernen wie Quizlet im Fremdspra‐ chenunterricht anleiten und untersuchen, unter welchen Bedingungen dieser Einsatz zu Lernerfolgen führt. Schlaak und Vogel (2020) haben mit ihrer Pilot‐ studie gezeigt, dass beim Testen isoliert gelernter Französischvokabeln die App Quizlet keinen Vorteil gegenüber der analogen Abdeckmethode zu bringen scheint. Es wäre interessant, ähnliche Studien mit einem Strategientraining zu verbinden, bei dem die SuS gezielt Chunks lernen und diese im Kontext anwenden. Lehramtsstudierende könnten zudem ihre Diagnosekompetenzen schulen, indem sie z. B. die Verwendung von Mehr-Wort-Einheiten in Sprach‐ aufnahmen mündlicher Textproduktionen von SuS oder in schriftlichen Lerner/ innentexten beurteilen. Bei der Analyse von Lautdenkprotokollen während der Bearbeitung von Online-Übungen durch SuS oder der Untersuchung von Bildschirmprotokollen während der Überarbeitung von Texten durch Lernende würden die angehenden Lehrkräfte etwas über das strategische Vorgehen der SuS erfahren und könnten daraus Schlüsse für die Vermittlung von Lernstrate‐ gien im Unterricht ableiten. 90 Grit Mehlhorn & Christiane Neveling 7 Schlaak und Vogel (2020, S. 58f.) weisen bspw. darauf hin, dass bei der kostenlosen Version von Quizlet, die nur mit einer aktiven Internetverbindung genutzt werden kann, die Gefahr besteht, dass sich die SuS von eintreffenden WhatsApp-Nachrichten ablenken lassen und damit ineffizienter lernen. 4 Ausblick Wir haben am Beispiel des Wortschatzlernens versucht zu zeigen, wie der mögliche Mehrwert für die Qualität von Lehr- und Lernprozessen durch die Nutzung digitaler Tools forschungsgeleitet kritisch hinterfragt werden kann. Möglichkeiten dafür haben wir punktuell in Abschnitt 2 skizziert. Portfolioauf‐ gaben und Projektarbeiten in studentischen Kleingruppen erscheinen uns ge‐ eignet, solche Erkenntnisse kriteriengeleitet zu reflektieren. Unseres Erachtens ist die erste Phase der Lehrerinnen- und Lehrerausbildung der richtige Ort dafür. Studierende zu solchen Untersuchungen zu ermutigen und diese in methodisch-didaktischer Hinsicht zu begleiten, würde zum einen die Studie‐ renden bei der Entwicklung einer forschenden Haltung unterstützen und das häufig beklagte Theorie-Praxis-Gefälle vermindern. Zum anderen könnte ein solches Vorgehen dazu beitragen, dass die angehenden Lehrkräfte etwas darüber erfahren, wie Wortschatz tatsächlich gelernt wird 7 und die praxisrelevante Forschung im Bereich des Wortschatzerwerbs der romanischen und slawischen Sprachen voranbringen. Literatur Aguado, Karin (2002). Formelhafte Sequenzen und ihre Funktionen für den L2-Erwerb. Zeitschrift für Angewandte Linguistik 37, 27-49. 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Alle Darstellungsweisen initiieren interlinguale Vergleichs- und Identifikations‐ prozesse. Zwar wurden die Aufgaben für die Didaktik der Interkomprehen‐ sion und das Ziel ‚(mehrsprachige) Lesekompetenz‘ konzipiert, doch können sie durchaus auch für das Kompetenzziel ‚alle‘ Teilfertigkeiten eingesetzt werden. Als Referenz dient die App EuroComDidact ToGo. 1 Kurze Vorstellung der Lernapp EuroComDidact ToGo Die über Google-Play, den Microsoft-Shop oder www.eurocomdidact.eu zu erreichende Lernapp EuroComdidact ToGo stellt in tabellarischer Form Übungen für den interlingualen Identifikationstransfer von Lemmata des Kernwort‐ schatzes der romanischen Mehrsprachigkeit - so auch der Name der elektro‐ nischen Datenbank (KRM) - zu den Zielsprachen Französisch, Italienisch, Portugiesisch und Spanisch zusammen 1 , indem sie bedeutungsadäquate Voka‐ 2 Dies umfasst pro Zielsprache etwa 7000 Formdivergenzen. Die Selektion des Wort‐ schatzes erfolgte auf der Grundlage breitester, von der computergestützten Lexiko‐ graphie kompilierter und nach Frequenzrängen zusammengestellter zielsprachlicher Corpora, die Millionen von tokens normalisierten und verarbeiten. Dies verleiht dem KRM-Corpus höchste Reliabilität. beln, deren Frequenzrang in den Routledge Frequency-Dictionaries unterhalb von 5000 Okkurrenzen liegt (vgl. Davies, 2006), in 9550 Serien deko-textualisiert präsentiert. Die Datenbank (aus der die App ihre Aufgaben zieht) erweitert das zielsprachliche Inventar um Korrespondenzen in Deutsch und Englisch. Die App verlangt nutzerseitig die Wahl einer romanischen Zielsprache oder des Übungsziels ‚Mehrsprachigkeit‘. Entsprechend variiert gestalten sich die Oberflächen der Übungen bzw. Aufgaben. Gemäß der lernerseitig zu treffenden Option wird die gewählte Zielsprache innerhalb der Serie als Lücke dargestellt, die bei der Eingabe eines Klicks auto‐ matisch gefüllt wird, so dass die gesamte Serie erscheint. Bei (orthographisch) richtiger Füllung ruft die App die nächste Serie auf (s. Tabelle 3). Zuvor jedoch zeigt sich noch einmal die gesamte Serie. Wurde die Option ‚Mehrsprachigkeit‘ gewählt, so alternieren die Lücken zwischen den Zielsprachen und den Serien. Die App besitzt einen Algorithmus, der eine kontinuierliche Führung über mehrere Sitzungen erlaubt und den Übenden immer neue Aufgaben - und ungelöste Aufgaben erneut - vorlegt (vgl. Meißner, 2016). Unmittelbares pädagogisches Ziel von KRM und App ist die Förderung der mehrsprachig-romanischen Lesekompetenz; mittelbar unterstützen beide den Erwerb und die Pflege romanischer Mehrsprachigkeit überhaupt. Der KRM umfasst neben den Lemmata ca. 30 pädagogische und lexikogra‐ phische Selektoren. Sie generieren ‚auf Klick‘ hin z. B. die Zusammenstellung des Inputs von Übungen in mehrsprachig-seriellen Worttabellen (hinfort: me‐ seWoT) nach bestimmten Kriterien, nach Adressaten bzw. deren vermutetem mehrsprachig-lernrelevantem Vorwissen bzw. nach Brücken- und Zielsprachen. Zudem liefert die Klassifizierung der Serien in fünf Transparenzstufen oder -ko‐ horten eine weitere Wahlmöglichkeit, und zwar bzgl. der Aktivierung des lern‐ relevanten lexikalischen Vorwissens und seiner Verbindung zum erlernenden Input; zu unterscheiden sind: voll seriell, d. h. 4-wertig transparent, 3-wertig t., 2x2-paarig t., 1-paarig t. und 0-wertig t. oder seriell-opak. Schließlich wurden die Lemmata nach einmaligem oder mehrfachem Auftreten pro Sprache sowie nach weiteren Merkmalen (Wortart, Genus, ‚falscher Freund‘ usw.) kategorisiert. 2 96 Franz-Joseph Meißner 2 Lehrlernziele Das für die App maßgebliche übergeordnete Lehrlernziel lautet: Wörter des Kernwortschatzes in verschiedenen Sprachen erkennen (und behalten). Dies verlangt die Operationalisierung folgender untergeordneter Ziele: • apropos Signifikate: sog. Bedeutungsadäquanzen und fehlende Intersyno‐ nymie erkennen, wonach sich okkurrentielle Bedeutungen in Ko-Texten erschließen lassen (z. B. Burkhardt, 1995) • apropos Signifikanten: formale, d. h. morphologische und orthographi‐ sche, Unterschiede erkennen und beschreiben. Betroffen sind Gemein‐ samkeiten und Abweichungen in Gestalt von Formkongruenz (Typ: en. weather, de. Wetter, nl. weer; Klima, climat, climate, кли́мат, clima) oder Formdivergenz (weather, it. tempo, pl. pogoda…). • Bildung von interlingualen Korrespondenzmustern bzw. -regularitäten zu Bedeutungsadäquanz und Formkongruenz/ Formdivergenz. • Ausweitung der Sprachlernkompetenz. Wie sehr interkomprehensive Verfahren bzw. das Vergleichen korrespondierender sprachlicher Sche‐ mata in verschiedenen Sprachen diese Kompetenz befördern wurde in zahlreichen Studien unterschiedlicher Autoren gezeigt. Das Lernziel wird daher im Folgenden ausgeblendet. Lateral sind weitere Kompetenzbereiche betroffen, z. B. die Identifikation der Beziehungen zwischen Laut und Schrift, und zwar innereinzel- und zwi‐ schensprachlich. Die interlingualen Korrespondenzregeln werden umfassend in den Sieben Sieben des EuroComRom (vgl. Klein & Stegmann, 1999) bzw. des EuroComGerm (vgl. Hufeisen & Marx, 2007) sowie in dem von Tafel (2009) pilotierten Werk für die slavischen Sprachen beschrieben. 3 Modellierung von morphosemantischer Distanz und Transparenz auf der Wortebene Zieht man die bekannten sprachlichen Assoziationsmuster Ullmanns (1952) - association par ressemblance, par signification und par continguïté - heran, so zeigen die beiden folgenden Tabellen modellhaft, worin genau formkon‐ gruent-bedeutungsadäquate bzw. -divergente Elemente die ‚Demaskierung‘ der interlingualen Parasynonyme farmacia und Apotheke unterstützen bzw. sperren (vgl. passim: Müller-Lancé, 2003, insbes. S. 159ff.). Zur Messung (graphischer bzw. visueller) interlexikalischer Distanz sei zudem Levenshteins (1966) „binary code“ herangezogen. Er ermittelt die Summe aus einzufügenden, umzustel‐ 97 Das didaktische Potential mehrsprachig-wortserieller Einsatzübungen 3 Die Analyse von interlingualen Wortähnlichkeiten erlaubt keine zuverlässige Aussage zum Umfang der Realisierungen eines Identifikationstransfers, da sie um alle imma‐ nenten Variablen des Faktors Lerner bzw. Lernerinnen abstrahiert. 4 Zur Geschichte von ‚Apotheke‘: über Mittellatein aus altgriechisch ἀποθήκη (aus apo ‚weg‘, ‚hin‘ und théke ‚Kasten, Abstellort, Vorratskammer‘). Die Referenz war nicht fix: z. B. ‚für Wein, Bücher, Heilkräuter, Waren‘. Zu fr. pharmacie: seit 1314 in der Bedeutung ‚remède purgatif‘; über mlat. pharmacia aus φάρμακον ‚Heilmittel‘. Neben lat. pharma‐ ceuticus und weiteren Bildungen. Die mlat. Präsenz vor allem erklärt die Existenz in den romanischen Sprachen, dem Englischen und dem deutschen Bildungswortschatz. lenden und zu tilgenden Buchstaben in zwei Wörtern solange, bis beide auf einen identischen String reduziert sind: Während der String von it. farmacia/ sp. farmacia bei 8 gleichen Buchstabenfolgen den Wert 0 (= ohne Distanz) erreicht, nimmt dt. apotheke/ it./ sp. farmacia den Wert 8 an (bei 8 Buchstaben: = maximale Distanz nach den Kriterien von Insertion, Substitution und Deletion) 3 ; farmacia/ apoteca hätte bei einer Tilgung (1) ebenfalls 8 Modifikationen. SPRACHE IT. SP DE SEMANT. KERN BEISPIEL (la) farmacia (die) Apotheke Ort v. Medika‐ menten phonetisches Bild farmatʃia farmaθja apotekə graphisches Bild farmacia farmacia Apotheke 4 lexemat. Teil farmafarma Apo-theke phonet.mor‐ phemat. Teil -tʃia -θja apograph.mor‐ phemat. Teil -cia -cia apo- Tab. 1: mentale Präsentationsstufen im Vergleich von farmacia und Apotheke IT SP DE SEM.KERN KONTIGUIT farmacia Apotheke Farmacia/ Apotheke phonet.Bild ≠ ≠ ≠ ≠ = graph.Bild = = ≠ ≠ = lexem.Teil = = ≠ = = 98 Franz-Joseph Meißner phon.-morph.T. ≠ ≠ ≠ ≠ = graph.-morph.T = = ≠ ≠ = Tab. 2: Transferbasen und -brüche zwischen farmacia und Apotheke Interpretation der Tabellen: Formseitig sind it./ sp. farmacia mit Ausnahme der Aussprache morphosemantisch identisch; die bedeutungsadäquaten Formen farmacia und Apotheke jedoch nicht. Das Potential für einen Transfer bezieht sich hier wie in Fällen von Formdivergenz überhaupt allein auf den Bedeutungs‐ kern und die Kontiguität - also auf die Merkmale Ort, Zweck und Gestalt des Ortes; hier also: Wo man ein Medikament, medizinisches Werkzeug finden/ bekommen kann bzw. der dortige Raum, Speicher (boutique). Formal erweitert werden inhaltlich-formale Verknüpfungen durch Derivationen und feste Fü‐ gungen; zu farma etwa fr. pharmacien/ ne, pharmaceutique, pharmacodynamie, pharmacologue, pharmacologique, pharmacopée ‚confection de remèdes‘, pharma‐ cothérapie und Komposita Apothekerpreise, prix d'apothécaire, Pharma-Lobby, ‚lobby pharmaceutique‘, Big Pharma. Breitet man die Reihung durch die Bildung von Interligalexen weiter aus, so erhöht sich die Zahl der assoziativ miteinander verbundenen Lexeme um ein Vielfaches (vgl. Meißner, 2019). In der Romania besitzt apothek-/ it. apotècaeine der von pharmaver‐ gleichbare derivationelle Breite. Wie apothekist pharmaein Szientismus und als solcher international verbreitet. Apothek- und pharmasind sodann ko-textlich weitgehend durch gleiche Kookkurrenzen miteinander verbunden: médicaments, pillules, drogues, maladies, boutique, médecine, compétence médi‐ camentale auprès des pharmaciens etc. In Frequenz und Kookkurrenz bilden solche Vertreter assoziative Schienen sowohl zu apothekals auch zu pharm-. (Formkongruente) Derivationen wie apothicaire, en. apothecary, it. apoticario, fr. apoticairerie und ihre gemeinsamen Kookkurrenzen unterstützen ebenfalls gemeinsame Assoziationsroutinen. Apotec- oder apoticsind in den romanischen Sprachen niedrigfrequent und heute wenig gebräuchlich. Im Vergleich zu anderen Interlexemen wie fr. humeur ‚Laune‘, sp. humor, malhumor, buen humor, pt. humor, ru. ю́мор oder fr. humour ‚Humor‘, it. umore, en./ de./ pln. humor, en./ fr. humour, usw.), fr. humoristique, en. humourous, humourousness, humourist, humouresque, humorless, de. humorvoll, humorig …, rus. чёрный ю́мор, schwarzer Humor, sp. humor negro, black humor, umore nero… ist die Zahl häufig auftretender Kookkurrenten und Derivationen im Fall von pharma-/ apothgering (vgl. auch Schröder-Sura, 2019). 99 Das didaktische Potential mehrsprachig-wortserieller Einsatzübungen 5 Dass dabei die Mehrsprachigkeit des mentalen Lexikons und dessen Wirkung auf den Zweit- oder Fremdsprachenerwerb ausgeblendet wurden, zeigt generell die mangelnde Reichweite einzelzielsprachenbezogener Analysen. 4 Das meseWot-Übungsformat FR IT PT SP EN DE habileté abilità habili‐ dade habi‐ lidad ability, skill Fähigkeit, Fertigkeit, Kom‐ petenz Tab. 3: Serie zu habil-/ abil- Die meseWoT-Anordnung stellt eine sehr einfache Übungsstruktur dar, die sich vom lexikalischen Kernbestand in der Datenbank nur dadurch unterscheidet, dass anstelle eines zielsprachlichen Lemmas eine zu füllende Lücke auftritt. Die Struktur kann übungstypologisch durch die Merkmale ‚seriell‘ und ‚lücken‐ textlich‘ beschrieben werden. Dies hat natürlich Folgen für die didaktische Steuerung im weiteren Sinne. Bezeichnenderweise hat die lexikodidaktische Literatur des 20. Jahrhunderts, wie gesagt, das Übungsformat ‚serieller Lückentext‘ weder mit Blick auf den interlingualen Identifikationstransfer noch auf das Vergleichen einzelner Voka‐ beln hin analysiert, geschweige denn evaluiert. Dies rührt offensichtlich daher, dass Fremdsprachenunterricht und -erwerb ganz überwiegend einzelzielsprach‐ lich und mit dem Ziel der produktiven Kompetenzen (von Sprechen und vor allem Schreiben) adressiert wurden, nicht aber unter der Frage der Wiederer‐ kennbarkeit eines interlingual semantisch oder morphosemantisch mehr oder weniger entsprechenden Wortes. 5 Erst die Entdeckung der Interlanguage und empirisch belastbare Untersuchungen zum Sprach- und Mehrsprachenerwerb sowie zum mehrsprachigen mentalen Lexikon haben die Situation verändert. - Dabei kannte man seit Jahrhunderten das einfache Format und die Vorteile des Vergleichens für den Spracherwerb (vgl. Meißner, 2010). In der Forschung des 20. Jahrhunderts begegnet das Format in Untersuchungen zu interlexika‐ lischen Wiedererkennbarkeitsraten (wohl zuerst Bieritz, 1974). Doch ging es hier nicht um ein Übungsformat zum interlingualen Identifikationstransfer und zum Mehrsprachenwachstum. Dabei war das Vergleichen von Sprachen und Wörtern längst als bildungspolitisch relevant (z. B. Rheinfelder, 1926; Wandruszka 1979, S. 334) und/ oder als Spracherwerbsstrategie erkannt (z. B. Raabe, 1974) sowie vor allem längst pädagogische Praxis (passim: Meißner & 100 Franz-Joseph Meißner 6 Vgl. hierin die Berichte von Lehrerinnen und Lehrern insbesondere romanischer Schulfremdsprachen. Reinfried, 1998 6 ). Im romanistischen Oberstufenunterricht hatte erstmalig Fritz Abel (1971) Mehrsprachenunterricht beschrieben und implizit die Wirksamkeit des Vergleichens für den interromanischen Identifikationstransfer dargelegt. Trotz fehlender expliziter Erörterung durch die fachdidaktische Forschung wird das Format ‚interlinguale Serie‘ bis zum heutigen Tag immer wieder herangezogen; gerade wenn die Vorteile des interkomprehensiven Ansatzes erläutert werden sollen. 5 Zum didaktischen Potential des meseWoT-Formats in Lehrwerken In Lehrwerken zur romanischen Interkomprehension für romanophone Mut‐ tersprachlerinnen und -sprachler findet sich regelmäßig die meseWoT-Struktur ohne weitere Angaben. Zumeist dient sie der Klärung des in zu behandelnden Texten vorkommenden Vokabulars ‚auf einen Blick‘. So im chilenischen Manual de InterLat (vgl. Tassara & Moreno, 2007, S. 282f.) unter „Pistas a compreens-o“, z. B.: segunda feira-lunes-lundi, insuspeitada-insospechada-in‐ soupçonnée, cada vez mais-cada vez más-de plus en plus usw. oder im argen‐ tinischen Lehrwerk InterRom, etwa: desertiche-desérticas-desérticas-désertiques oder orecchio-oreja-orelha-oreille (vgl. Carullo et al., 2007, II, S. 109). Offensicht‐ lich ‚lernen‘ Spanischsprachige hier nur wenige ‚wirklich neue‘ Vokabeln. Zumeist genügt es, lexematische, morphologische und orthographische Kor‐ respondenzmuster zu erkennen und deren Memorisierung einzuleiten, z. B. it. desert_ic_h_e-pt./ sp. desért_ic_a_s-fr. desert_iqu(e)_s. Das Lernen geschieht in solchen Fällen buchstäblich ‚ad oculos‘; Erklärungen zur Konstruktion des Bedeutungskerns sind weitgehend überflüssig. Intraserielle Formdistanz führt hingegen dazu, die Suchbreite zur Initiierung eines Identifikationstransfers zu erhöhen und kongenere Formen und deren Be‐ deutungen miteinander zu vergleichen; so etwa zu dem lateinisch-romanischen Nexus -CL/ FL/ PL/ BL/ QU-: chamar-llamar-chiamare-(ré)clamer)-to claim-dekla‐ mieren; chlave, clave-llave-chiave-clef-key; chegada-llegada-arrivée-arrivo-ar‐ rival; plein-pieno-cheio-lleno; plaine-pianura-planicie-llanura. Der Nexus und seine Entfaltung in den romanischen Sprachen zeigt eine panromanische Kor‐ respondenzregel. Als explizites Übungsformat erscheint die meseWoT-Struktur in den romani‐ schen Lehrwerken nicht; statt dessen ‚springen‘ die entsprechenden Abschnitte direkt zum Übungsformat ‚mehrsprachige Texte verstehen‘. 101 Das didaktische Potential mehrsprachig-wortserieller Einsatzübungen Sprachvergleichend ähnlich, aber weniger breit und tief operieren seit Jahr‐ zehnten manche Vokabelinventare deutscher Sprachlehrwerke. Erste Ansätze, auch mehrsprachigkeitsdidaktische Ansätze in die Lehrwerke zu bringen, zeigen Meißner, Tesch & Vázquez (2011). 6 Die meseWoT-Struktur In meseWoT-Übungen, z. B. von EuroComDidact ToGo, kommt es, wie gesagt, darauf an, zwischensprachliche Korrespondenzen oder Divergenzen zu analy‐ sieren, Korrespondenzregeln zu bilden und zu internalisieren. Damit fördert das Format (Mehr-)sprachenbewusstheit und Sprachlernkompetenz. Der Vorteil der deko-textualisierten Übungsstruktur besteht darin, dass sie schon beim ersten Blick die Aufmerksamkeit ausschließlich auf Form und Inhalt der seriellen Adäquanzen lenkt, d. h. auf Formkongruenzen und Bedeutungsadäquanzen sowie auf deren serielle Brüche. Formdivergenzen und Bedeutungsdivergenzen vermitteln immer wieder die grundlegende Erkenntnis, dass „Vieles in der Sprache und zwischen Sprachen eben nicht so ganz einfach ist“ und dass es eigener Aufmerksamkeit und Reflexion zu Sprachen, Wörtern, Formen und Inhalten bedarf. Das lehrt auch: Formkonvergenzen und -divergenzen, Bedeu‐ tungsadäquanzen und -divergenzen ergänzen im System des Wortschatzes einander. Grund hierfür ist, dass jede Sprache mit der Relation zwischen Bedeutung und Benennung, Polysemie und Homonymie, aufgrund ihrer jeweils eigenen lexikalischen Strukturation anders verfährt. Saussures berühmtes Diktum „la langue est un système où tout se tient“ impliziert: Jedes System einer bestimmten Sprache unterscheidet sich von dem anderer Sprachen (vgl. auch Estanislao, 2017). Dies erklärt, weshalb das Vergleichen kongenerer Wörter in verschiedenen Sprachen auch eine starke Strategie der Fehlerprophylaxe ist. Deren Lernwirk‐ samkeit wird erhöht, wenn sie in Ko-texten auftritt. Hier findet allerdings die Lernwirksamkeit von meseWoT-Übungen ihre Grenze. Diese sind solche Grenzen nicht allein durch einen Vergleich der reinen Inputebene feststellbar. Selbstverständlich muss die mentale Verarbeitung des Inputs in die Einschät‐ zung der Lernwirksamkeit einbezogen werden (vgl. Anm. 3). Dies betrifft nicht zuletzt die Behandlung von Fragen, die sich ergänzend im Umgang mit dieser Übungsform stellen. 102 Franz-Joseph Meißner 7 Interlinear-Anordnungen - ein verwandtes Übungsformat Als strukturell ‚arme‘ Darstellungsformen sparen deko-textualisierte Übungen wie meseWoT vor allem syntaktische, registerspezifische und zielkulturelle Informationen aus. Sie verstecken, dass intelligent guessing viele Bereiche der sprachlichen Architekturen in das Vergleichen nimmt und dass die Rezeption von Texten parallel bottom up und top down-Prozesse zusammenführt. Allein Modellierungen lösen die Simultanität zugunsten von Sequenzialität auf (so setzt Hörverstehen bottom up die Perzeption des Sprechkontinuums voraus, wonach dann Plausibilitätsproben top down intervenieren). Ein der meseWoT-Struktur verwandtes Format sind Interlineartexte, d. h. die kontrastive Wort-nach-Wort-Darstellung in unterschiedlichen Sprachen, nicht nur der Muttersprache und einer Zielsprache. Es geht (vertikal) um Wort- oder Syntagmen-Zuordnungen. In der Lernersprache kann dies folgende Zuordnungen generieren bzw. segmentieren: Un tempo lontano/ quando avevo sei anni/ in un libro/ sulle foreste primordiali […]/ vidi/ un magnifico disegno. • Un temps lointain/ quand j'avais six ans/ dans un livre/ sur les forêts primor‐ diales? / je vis/ un magnifique dessin… • Un tiempo lejos/ cuando tenía(había) seis años/ en un libro/ sobre la floresta pri‐ mordial/ vi/ un magnifico dibujo(diseño) • Ein Zeit fern/ wenn ich hatte sechs Jahre/ in ein Buch/ über den ? ? ? Wald/ sah ich/ ein herrlich Zeichnung(Design) Tab. 4: Interlinear-Texte zu Il Piccolo Principe Die Interlinearversionen des ersten Satzes von Exupérys Petit Prince in der italienischen Ausgabe zeigen vertikale Wort-zu-Wort- oder syntagmatische Zuordnungen, deren mentale Verarbeitung ähnliche Schritte aufweist, wie sie das meseWoT-Format auslöst. Ein solch erster Schritt zeigt die Identifikation von Wortentsprechungen: Un-un-un-ein; tempo-temps-tiempo-Zeit; lontano-lo‐ intain-lejos-fern; quando-quand-cuando-wenn/ als… Es folgt in einem zweiten Schritt die Detailanalyse bzw. Hypothesenbildung: Zu UN: morphologisch identisch, wohl maskuliner Artikel, [un]/ un/ , aber fr. / ũ/ ; das deutsche Wort ist seriell opak; zu TEMPO : fr. temps: [emp]-/ ɛ̃/ ~sp. tiempo: [ie]-/ ie/ , de. Wetter und Zeit sind morphosemantisch divergent, doch existiert eine Formkongruenz in der Bedeutung ‚Schnelligkeit‘ (Tempo machen) und als nominaler Imperativ (Tempo, Tempo! ); AVEVO: av-evo: it./ fr. av- Lexemstamm; ev-o/ ai-s kontrahierte 103 Das didaktische Potential mehrsprachig-wortserieller Einsatzübungen Tempus- und Personalmorpheme…; sp. tenía „fällt aus der Serie“, hat aber Formkonvergenzen in it./ fr. tenere/ tenir: es besteht ein Klärungsbedarf. Schon jetzt wurde sichtbar, dass mit der Identifikation von Wörtern auch die von ungelösten Lücken und möglichen Sprachhypothesen einhergehen: lontano? , avevo? , sei? , sulle? , primordiali? usw.. Das so generierte Wissen füllt zunächst die mehrsprachige Hypothesengrammatik, dann den zu entwerfenden oder weiterzuführenden Lernplan. Die folgende italienische, spanische, französische, englische und saarländi‐ sche Version erlaubt jeweils eine Kontrolle der Interlinearübersetzungen (die im Rahmen des ‚diagnostischen Schreibens‘ lernendenseitig erstellt werden können; vgl. Tesch, 2019). Eine jede zeigt die Texte in der jeweilig gültigen sprachlichen Norm und dient im Vergleich zu Tabelle 4 der morphosemanti‐ schen und grammatikalischen Desambiguisierung. Un tempo lontano, quando avevo sei anni, in un libro sulle foreste primordiali […] vidi un magnifico disegno… Cuando yo tenía seis años vi una vez una lámina magnífica en un libro sobre el Bosque Virgen… Lorsque j'avais six ans j'ai vu, une fois, une magnifique image, dans un livre sur la Forêt Vierge… Once when I was six years old I saw a magnificent picture in a book […] about the primeval forest… Wie isch seggs Jòhr ald waar, dò hann isch mò a groosaardisch Bild gesiehn. In soo eme Buuch iwwer de Uurwald… Tab. 5: Eröffnungssatz der italienischen, spanischen, französischen, englischen und saarländischen Fassung des Petit Prince Natürlich umfasst die Beschreibung von Übungsformaten auch die Steuerung in einem umfassenden Sinne. Der App sekundiert zu diesem Zweck die eingangs genannte Homepage. 8 Didaktische Steuerung Empfohlen sind in diesem Zusammenhang Formen des noticing zu Formkonver‐ genz und Bedeutungsadäquanz der Serienvertreter, zu ihren einzelsprachspe‐ zifischen und sprachenübergreifenden Gemeinsamkeiten und Unterschieden, zu interlingualen Korrespondenzregeln, zu orthographischen Charakteristika der einzelnen Sprachen im Vergleich, zur Anfertigung sog. Sprachporträts. 104 Franz-Joseph Meißner Wenn gewünscht, können zusätzliche Sprachbeispiele herangezogen werden, denen sich auch grammatikalische Merkmale entnehmen lassen. Flexibilität und Zielgenauigkeit sind Prinzipien, die auch hinsichtlich der Bestimmung des Einsatzzeitpunktes ihre Berechtigung haben. In der Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden leistet der sog. sokra‐ tische Dialog ähnliche Disambiguisierungen wie das noticing (vgl. Bär, 2006). Immer ist die Erweiterung und Vertiefung von Sprachlernkompetenz betroffen (vgl. Martinez & Meißner, 2017). 9 Reichweite und Lernwirksamkeit des Übungsformats Wie zur meseWoT-Struktut existiert im deutschsprachigen Raum keine Ge‐ brauchsforschung zum Übungstyp ‚mehrsprachig-seriell deko-textualisierter Lückentabelle‘. Daher sind beim gegenwärtigen Stand der Forschung Beschrei‐ bungsversuche der Wirksamkeit dieses Formats - probabilistisch - auf inhalt‐ lich-analytische Plausibilität des Formats zurückgeworfen. Dies ist eine enge Perspektive, die der Erweiterung gerade im Hinblick auf den heute weitgehend akzeptierten Orientierungsbegriff der ‚Kompetenz‘ bedarf. Zu Ort und Reichweite beider Übungsformate erscheint zunächst die Beob‐ achtung Littles (1997) zum deklarativen und prozeduralen Sprachenwissen aufschließend: Die allgemeine kommunikative Kompetenz in jedweder Sprache ist abhängig von zwei Arten von Wissen. Implizites Wissen untermauert die automatische Sprachver‐ arbeitung und ermöglicht es uns, Sprache zu verstehen und uns mit einem Minimum an bewussten Überlegungen zu äußern; dagegen ermöglicht uns explizite Kenntnis linguistischer Regeln und Normen des Sprachgebrauchs, d. h. Sprachbewusstheit, unser kommunikatives Verhalten zu planen, zu überwachen und zu korrigieren. (ebd., S. 40) Fremdsprachenlerner müssen aus zwei Gründen ein explizites Sprachwissen entwi‐ ckeln. Einerseits erleichtert ein solches Wissen die Ausführung kommunikativer Auf‐ gaben, die Zeit für Planung, Überwachung und Fertigstellung bereithalten; andererseits kann auf explizites Wissen zurückgegriffen werden, wenn eine Lücke im impliziten Wissen des Lernenden eine automatische Verarbeitung verhindert. (ebd., S. 42) Explizites und implizites Wissen interagieren besonders beim (interkomprehen‐ siven) Lesen, das der Sprachverarbeitung flexible Zeitfenster zur Verfügung gibt (vgl. Lutjeharms, 2002). Laut Raynal & Rieunier (1997, S. 327) hat der Begriff Wissen (savoir) zwei Referenzträger, erstens die Gesellschaft und zweitens das Individuum: 1.) als objektivierte gesellschaftlich-verständigte Kenntnisse (connaissances) über die 105 Das didaktische Potential mehrsprachig-wortserieller Einsatzübungen Welt (und die Sprachen), losgelöst von individueller Subjektivität und 2.) als individuelle Kenntnisse, welche von einem Subjekt nicht loslösbar sind. Sie werden von diesem selbst ins Werk gesetzt, um Welt und Sprachen sowie Welt qua Sprachen - durchaus im Sinne Humboldts - zu verstehen oder Repräsen‐ tationen aufzubauen. Beide Pole treffen sich im Moment der Komprehension, wenn sich ein Individuum ‚objektive‘, d. h. gesellschaftlich-verständigte, Kennt‐ nisse zu eigen macht. Spracherwerb und Kommunikation zeigen diesen Vorgang millionenfach. Verweilt man beim Begriff der objektiven Kenntnisse, so ist daran zu erinnern, dass jeder ‚eigenkulturelle‘ Sprachraum diese Kenntnis gemäß der ihm eigenen ‚Objektivität‘ zur Verfügung anbietet, was sich schon aus der Spezifik seines Themenrepertoires ergibt (vgl. Luhmann, 1987, S. 229). Auf ein einzelnes Wort begrenzte Interkomprehension heißt also zunächst nur, eine okkurrentielle Bedeutung aufgrund des individuell-subjektivierten, gesellschaftlich-verständigten Wissens vermittels Mehrsprachenwissen und in‐ terkulturelles Wissen konstruieren. Freilich ist dieses Verständnis ausnahmslos der erste, aber stets notwendige Schritt zu einem tieferen kulturellen Verstehen. Genau hier greift die Übungsstruktur und genau hier findet sie auch ihre Grenze. Mit Blick auf den Kompetenzbegriff ist aus heutiger Sicht den Ausführungen Littles hinzuzufügen, dass Kompetenzen, um wirksam zu werden, stets der Interaktion zwischen Wissen (knowledge), Können (skills) und Wollen (attitudes) bedürfen (vgl. Caspari, 2019a, 2019b). Die Kategorie Wissen wird in der Päd‐ agogischen Psychologie breit referenziert dargestellt. Sie betrifft alle Lebens- und Themenbezirke: die Mathematik und die Jurisprudenz ebenso wie die Geschichte und den Fußball. Der Referenzrahmen für plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen (vgl. Candelier et al., 2009) betont sowohl die Notwendigkeit des ständigen Zusammenspiels dieser drei Kompetenzdomänen im Zusammen‐ spiel mit der gleichzeitig erforderlichen hierarchischen Interaktion der sie aufbauenden Mikrokompetenzen und Ressourcen. Für alle kommunikativen Kompetenzen ist die Kenntnis von Wörtern als Mikrokompetenzen, von Mor‐ phemen, Phonemen und Phonemkombinationen, Graphemen, Silben, Lauten, Buchstaben und Schreibweisen sowie sprachlichen Regeln als prozedurale Ressource unverzichtbar. Die meseWoT-Struktur und das durch sie ausgelöste Vergleichen machen Mikrokompetenzen und Ressourcen bewusstseinspflichtig. Und natürlich: MeseWoT-Übungen unterstützen das Verständnis und Ver‐ stehen von Texten; im Falle von Interkomprehension auch die Transformation latenten Wissens (dormant knowledge) zu deklarativem und prozeduralem Wissen. Dabei ist zu bemerken, dass die der kognitiven Psychologie von Faerch & Kasper (1984) in die Didaktik entlehnten Begriffe gegeneinander nicht 106 Franz-Joseph Meißner 7 „Der genaue Punkt im Prozess von plannung und execution […], an dem deklaratives Wissen eingesetzt wird (ob bereits bei der Konzeption einer Äußerung oder später […]), lässt sich nicht bestimmen.“ (East, 1992, S. 205) trennscharf sind (vgl. East, 1992 7 ). Dies koinzidiert, wie angedeutet, nicht zuletzt damit, dass bei der Worterkennung und Sinnkonstruktion immer top down (von Sprachdaten geleitete) und bottom up-Prozesse (plausibilisierender Abgleich aufgrund des aktiven Sprach- und Weltwissens) interagieren. Halten wir fest: Mehrsprachige Wortserien als Übungsformat bedürfen der Ergänzung durch zielsprachliches Leseund/ oder Hörverstehen. Es ist Zeit, die einfache Struktur von meseWoT-Übungen in die empirische interkomprehensionsdidaktische Benutzungsforschung einzubeziehen. Literatur Abel, Fritz (1971). Die Vermittlung passiver Spanisch- und Italienischkenntnisse im Rahmen des Französischunterrichts. Die Neueren Sprachen 70, 355-359. Bär, Marcus (2006). Méthodologie de la didactique du plurilinguisme: dialogue pédago‐ gique et transfert d'identification interlinguistique. Französisch heute 37, 376-384. Bieritz, Wolfgang-D. (1974). Semantischer Transfer auf verwandte Fremdsprachen. Die Bedeutungserschließung der Inhaltswörter des spanischen Grundwortschatzes durch Schüler und Studenten mit lateinischen und französischen Vorkenntnissen. Bochum: Seminar für Sprachlehrforschung. Burkhardt, Livia (1995). Unbekannte Wörter in fremdsprachlichen Texten. 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Empirische Grund‐ lagen werden derzeit im Projekt „Normen und Praktiken des fremdsprachlichen Klassenzimmers“ erarbeitet, https: / / gepris.dfg.de/ gepris/ projekt/ 427834126. Chronik eines angekündigten Todes? Anmerkungen zu einigen Normativitäten in der (nicht nur) romanistischen Literatur- und Kulturvermittlung Bernd Tesch Im vorliegenden Essay wird der Versuch unternommen, einige Normativi‐ täten in der derzeitigen (nicht nur) romanistischen unterrichtlichen Literatur- und Kulturvermittlung 1 in Deutschland zu identifizieren. Der Gegenstand der Literatur- und Kulturvermittlung (und -aneignung) im Unterricht der roma‐ nischen Sprachen wird unter der Prämisse wechselseitiger Komplementarität und aus dem Blickwinkel einer kritisch-konstruktivistischen Didaktik auf theoretische Begründungen und praktische Lernbedingungen befragt, dabei werden Normbezüge aufgezeigt und schließlich praxeologisch begründete Schlüsse skizziert. Bei diesem Versuch kann es sich allerdings um nicht mehr als Anmerkungen zu einem komplexen Diskursgeschehen 2 handeln. 1 Einleitung Die fremdsprachliche Literatur- und Kulturdidaktik sind aus nahe liegenden Gründen traditionell aufs engste miteinander verbunden. Dafür steht u. a. die Didaktik des Fremdverstehens (vgl. u. a. Christ & Bredella, 1995; Bredella, 2007). Um die fremdsprachliche Literaturdidaktik ist es in den letzten Jahren nach einem fast fündundzwanzig Jahre anhaltenden beispiellosen ‚Boom‘ wieder etwas stiller geworden, während es gleichzeitig um die Kulturdidaktik lebhafter wird. Erstmals seit vielen Jahren war die Literaturdidaktik 2019 bei einem Kongress der DGFF (Würzburg) nicht mit einer exklusiven Sektion beteiligt, sondern inkludiert in „Text-und Kulturdidaktik analog und digital“, erstmals fand 2019 (Göttingen) eine explizit kulturdidaktische Fachtagung statt. Man mag dies als Zufall abtun oder bereits als Ausdruck einer innerdiszi‐ plinären normativen Veränderung betrachten. Denkbar erscheint, dass es in Bezug auf die Literaturdidaktik zu einer vorläufigen Sättigung gekommen ist. Zahlreiche deutschsprachige Veröffentlichungen auf diesem Gebiet sind in den beiden ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts meist dem Bemühen geschuldet, die Literaturvermittlung mit der letzten großen Bildungsreform in Deutschland, der Einführung kompetenzorientierter Bildungsstandards, in Einklang zu bringen oder sie wenigstens darauf zu beziehen bzw. sich davon abzusetzen (vgl. Caspari, 2017). Man könnte sich mit Blick auf die Literaturdidaktik daher auf den Standpunkt stellen, dass das Feld derzeit hinreichend bearbeitet sei. Hierbei ist allerdings für die romanischen Sprachen zu konstatieren, dass eine eigenständige theoretische Reflexion des Standorts, des Stellenwerts und der didaktischen Schlussfolgerungen für den Umgang mit literarischen Texten im Tertiärsprachenunterricht - auch in Abgrenzung zum Englischen - noch aussteht. Es fehlt bspw. an einer wissenschaftlichen Reflexion über die Norma‐ tivitäten, die bei der Auswahl von Texten, bei den Vermittlungszielen sowie den Vermittlungsmethoden und -prozessen wirken. So tauchen in den Abiturprü‐ fungen der Länder meist Texte aus dem 21. Jahrhundert auf, woraus geschlossen werden könnte, dass ältere Texte auch im Unterricht nur eine geringe Rolle spielen. Damit verbunden sind bewusste und unbewusste Selektionsentschei‐ dungen, die meist auf einem angenommenen Bildungswert der Texte auf Grund angenommener textinterner Qualitäten sowie auf angenommener Relevanz und Zugänglichkeit für Schülerinnen und Schüler beruhen, ohne dass jedoch die Begründung bzw. innere Logik dieser Selektionsentscheidungen transparent gemacht werden. Auch als Gegenstand der Kulturvermittlung wird literarischen Texten allgemein großes Potential zugesprochen. Die Erwartungen sind hoch, dass das „Lesen von Literatur die Identitätsentwicklung durch die in der Literatur angestoßene Auseinandersetzung mit anthropogenen, sozialen, kulturellen und anderen Fragen menschlicher Existenz fördert“ (Rösch, 2012, S. 102). Unberücksichtigt bleibt bei diesen Erwartungen allerdings die Dimension der 112 Bernd Tesch 3 Empirie wird häufig mit „Messung“ gleichgesetzt. Eine Abwehrhaltung richtet sich dann auf die Messbarkeit literar-ästhetischen Lernens. Rekonstruktive empirische Studien hingegen finden in diesem Abwehrdiskurs kaum Beachtung. Herstellung selbst von Literatur und Kultur im fremdsprachlichen Unterricht, d. h. im sozialkonstruktivistischen Sinne als Interaktionsgeschehen zwischen Vermittlungsbemühungen von Lehrkräften und Aneignungsbemühungen von Lernenden, zwischen Adressierung und Erwartung im Interaktions‐ system Literaturunterricht (vgl. Bräuer, Kunze, Pflugmacher & Rabenstein, 2018). Die Frage ist also berechtigt, ob didaktische Konzepte, die primär von den angenommenen Qualitäten und Potentialen literarischer Texte ausgehen, dem Literaturunterricht der romanischen Sprachen gerecht werden können. Es mangelt m. E., was die deutschsprachige fremdsprachliche Literatur- und Kulturdidaktik betrifft, - mit Ausnahmen (vgl. u. a. Bracker, 2015; Schädlich & Surkamp, 2015; Kreft, 2020) und im Unterschied zur Deutschdidaktik - bisher an einer praxeologischen Perspektive und an Anschlüssen an die erziehungswis‐ senschaftlich informierte Unterrichtsforschung. 3 Bevor ich diese Perspektive näher ausführe, gehe ich zunächst auf die Besonderheiten literarischen Lernens im Unterricht der romanischen Sprachen ein. 2 Lernbedingungen für Literatur im Unterricht der romanischen Sprachen Mühsam erscheint die Begegnung mit der Sprache der ersten fremdspra‐ chigen literarischen Texte. Die Fremdartigkeit scheint mit der Geschichtlich‐ keit von Texten zu kumulieren. Warum also literarische Texte in einer anderen Sprache und aus längst vergangenen Epochen behandeln, wenn es genügend empfohlene Gegenwartstexte gibt? Steckt in ihnen ein Weg zu sich selbst, zur eigenen Geschichte, da literarische Texte in ihrer Geschichtlichkeit unsere kollektiven Gewordenheiten spiegeln? Mit dieser Anmerkung werden normative Grundlagen eines Bildungsbegriffs der romanistischen Literatur‐ didaktik aufgerufen. Aus empirischer Sicht hingegen lautet die Frage: Wer kommuniziert über welche Texte auf welcher Stufe des sprachlich-kultu‐ rellen Wissens und der persönlichen und intellektuellen Reife auf welche Art und Weise? Wir sprechen hier nicht von den ohnehin einzigartig geschich‐ teten kollektiven Erinnerungen innerhalb der romanischen Sprachräume, die sich zu vielfältigen Weltsichten und deren Erzählungen formen. Die Rede ist vielmehr von den auf sie bezogenen unterrichtlichen Interaktionen, die es fachdidaktisch zu erfassen gilt. 113 Chronik eines angekündigten Todes? An dieser Stelle spreche ich mich für eine größere Eigenständigkeit der romanistischen Literaturdidaktik gegenüber der dominierenden und normgeb‐ enden anglistischen Literaturdidaktik aus. Manche Vertreter der anglistischen und mitunter auch der romanistischen Literaturdidaktik sprechen allgemein von literar-ästhetischer Bildung, ohne hinreichend auf die Unterschiede zwi‐ schen dem literarischen Lesen in der Mutter- oder Verkehrssprache und einer Fremdsprache einzugehen, zumal wenn es sich um eine Fremdsprache mit kurzen Lernstrecken handelt. Folgende vor allem (aber nicht nur) institutionelle und organisationale Rahmungen sprechen daher für eine stärkere Emanzipation der romanistischen Literatur- und Kulturdidaktik von sprachlichen Normen der anglistischen Literaturdidaktik, die bereits eine hohe Selbstverständlichkeit im Umgang mit englischsprachigen Texten, vor allem via Musik und Internet, voraussetzen: • Der Unterricht der romanischen Sprachen ist in Deutschland häufig Gymnasialunterricht einer zweiten oder dritten Fremdsprache, d. h. er konzentriert sich stark auf eine bestimmte Schulart, setzt nach Englisch und im Vergleich zum Englischen relativ spät ein (ab Klasse 6 oder 7, für Spanisch meist ab 8 oder 9), ist meist im Wahl- oder Wahlpflichtbereich angesiedelt, und er umfasst im Vergleich zum Englischen relativ kurze Lernstrecken: für Französisch meist vier bis fünf und für Spanisch meist drei bis vier Jahre. • Diese verzögerte und verkürzte Lernzeit impliziert eine grundlegend mehrsprachige Perspektive auf Verstehens- und Verständigungsprozesse, und zwar in einer weitaus größeren Komplexität als im Englischunter‐ richt. • Im Vergleich zum Englischen weisen die Lehrpläne der romanischen Sprachen straffere Tempi und Progressionen des Lehrens und Lernens auf bei gleichzeitig erhöhter Heterogenität der Lernvoraussetzungen, da disparate Lerngruppenzusammensetzungen gehandhabt werden müssen. Von der romanistischen empirisch-didaktischen Forschung wäre mithin zu erwarten, dass sie sich dem Gegenstand der Vermittlung und Aneignung roma‐ nischer Literaturen und Kulturen von dreifacher Warte nähert, von der Warte der institutionellen und organisationalen Rahmungen und ihrer Normativität, von der Warte einer umfassenden Mehrsprachigkeitsperspektive bei kritischer Bewertung kulturtheoretischer Tendenzen sowie von der Warte der Praxis des fremdsprachlichen Klassenzimmers (vgl. Tesch, 2019). Wenden wir uns 114 Bernd Tesch 4 Zur Unterscheidung von Sprachbewusstheit und Sprachbewusstsein aus praxeologi‐ scher Perspektive s. Tesch (2020). Während Sprachbewusstheit auf die performative und damit in Form verbaler und nonverbaler Praktiken empirisch rekonstruierbare Ebene abhebt, meint Sprachbewusstsein eine latente Fähigkeit (als psychologisches Konstrukt), eine mentale Struktur, die nicht beobachtbar und mithin in praxeologischer Perspektive irrelevant ist. zunächst Letzterem zu, da diese Dimension hier als lenkend für die weitere Argumentation betrachtet wird. 3 Praxisdokumente Der Schlüssel zum sprachlich-ästhetischen Lernen im fremdsprachlichen Klas‐ senzimmer liegt in der Sprachbewusstheit der Lernenden. Sie ist sozusagen die individuelle Interaktionsebene zwischen Text, Lehrenden und Lernenden. Lehrende und Forschende haben allerdings keinen Zugang zum Bewusstsein 4 der Lernenden, niemand kann ‚in die Köpfe‘ hineinschauen. Ihre Bewusstheit und ihre impliziten Theorien spiegeln sich jedoch in ihren Dokumenten. Pra‐ xisdokumente erfordern eine kontinuierliche auf sie bezogene diagnostische Aktivität der Unterrichtenden und umfassen alle verbalen und nonverbalen Äußerungen im Umgang mit (literarischen) Texten, schriftlich und mündlich: Vor- und Mitleseaktivitäten, szenisches Spiel, Gestik und Mimik (stumme Sprache), Interaktionen im Unterrichtsgespräch, Flüsterkommentare, eigene kreative Texte, Metatexte als Analysen und Kommentare, Randnotizen, bildliche und filmische Produktionen. Werfen wir einmal einen Blick auf ein Schülerdokument zum literarischen Textverstehen. Es handelt sich um ein Arbeitsblatt zu einem Auszug aus García Márquez (1981), Crónica de una muerte anunciada. 115 Chronik eines angekündigten Todes? Abb. 1: Arbeitsblatt Crónica de una muerte anunciada Dieses Arbeitsblatt wurde in einer gemischten Lerngruppe der Jahrgangsstufe 11 eingesetzt, die zwischen zwei (ab Klasse 10) und vier Jahren (ab Klasse 8) Spanisch gelernt hatte. Spanisch ist hier dritte Fremdsprache nach Englisch und Französisch. Der Auftrag besteht darin, in grün alle leicht zu verstehenden Textstellen zu markieren, in rot alle schwer verständlichen und in gelb Textstellen, die besonders interessant oder bedeutsam erscheinen. Auf diese Weise kann ein Rezeptionsgespräch initiiert werden, das zunächst an der sprachlichen Ober‐ fläche ansetzt: Die Lernenden tauschen sich darüber aus, was ihnen leicht, schwer und interessant bzw. wichtig erschien. An dieser Stelle soll lediglich hervorgehoben werden, dass in einigen Bearbeitungen überhaupt keine Text‐ stelle als interessant bzw. wichtig markiert wurde, in der oben wiedergegebenen 116 Bernd Tesch hingegen das Verb soñaba, das das Traumotiv evoziert und dann die beiden Elaborationen des Traummotivs volaba sin tropezar por entre los almendros sowie weiter unten en los otros sueños con arboles que el le había contado. Trotz etlicher signalisierter sprachlicher Schwierigkeiten können hier offensichtlich bereits bei der Erstbegegnung Gestaltungselemente identifiziert werden (sog. „foregroundings“, vgl. van Peer, Hakemulder & Zyngier, 2007), die als interessant bzw. wichtig eingeschätzt werden, während bei anderen Lernenden solche Identifizierungen ausbleiben, selbst wenn der Textauszug weitgehend als gut verständlich ausgewiesen wird. Dies verdeutlicht, dass bestimmte Aspekte ästhetischer Wahrnehmung (hier: „interessant/ wichtig“) nicht in jedem Falle mit wahrgenommenen Textschwierigkeiten übereinstimmen müssen. Dieser Umstand spielt für die tertiärsprachliche Literarturdidaktik eine nicht uner‐ hebliche Rolle. Wenn es zutrifft, dass das Textverstehen und die ästhetische Wahrnehmung eines Textes in einem lockeren oder unfesten Zusammenhang stehen, wenn es zudem Emergenz und Kontingenz im soziologischen Sinne (vgl. Luhmann, 2002, d. h. etwas Wahrgenommenes, Erfahrenes, Imaginiertes etc. birgt jeweils die Möglichkeit, auch etwas völlig anderes darzustellen und zu bedeuten) bei dem gibt, was Lernende individuell verstehen und bei dem, wie sie einen Text wahrnehmen, dann eröffnet dies im Zusammenspiel mit interaktiven Praktiken unterrichtliche Spielräume. Diese Einsicht ist keineswegs neu (vgl. Iser 1972) und wird didaktisch seit Jahrzehnten genutzt. Ich möchte lediglich hervorheben, dass dabei offensichtlich auf Lehrendenwie auf Lernendenseite auch die Fähigkeit eine Rolle spielt, mit Unsicherheit und unfestem Wissen umgehen zu können (vgl. Bonnet & Bracker da Ponte, 2018) und dass genau diese Fähigkeit im Unterricht der romanischen Sprachen unter den in Abschnitt 2 genannten Bedingungen eine besondere Herausforderung darstellt. Zugleich jedoch beruhen die entsprechenden Lehr- und Lernhandlungen des Umgangs mit Unsicherheit und unfestem Wissen auf implizitem sozialen Wissen bezüglich der Praxis des Französisch-, Spanisch- und Italienischun‐ terrichts, das durch empirische Forschung explizit gemacht werden kann, um zu notwendigen Innovationen in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung beitragen zu können. Wenn nämlich der Anspruch erhoben wird, dass die Vermittlung und Aneignung literarischer Texte im Französisch-, Spanisch- und Italienischunterricht den oben genannten spezifischen institutionellen Rahmungen entspricht, dann müssten daraus zweierlei Praktiken resultieren: erstens interaktionale Praktiken, die auch u. a. verkehrssprachliche Phasen, Sprachwechsel, translanguaging (vgl. García & Wei, 2014) und v. a. nonverbale Deutungen (z. B. Standbilder) ermöglichen sowie zweitens Praktiken, die die Kontingenz von Verstehensleistungen jenseits normativ-progammatischer Er‐ 117 Chronik eines angekündigten Todes? wartungen an interkulturelles oder transkulturelles Verstehen würdigen. Auf diese normativ-programmatischen Erwartungen gehe ich im Folgenden näher ein. 4 Nach der Didaktik des Fremdverstehens Die Didaktik literarischer Texte als Gegenstand kultureller Vermittlung im Fremdsprachenunterricht ist im deutschsprachigen Raum vor allem mit den Namen Herbert Christ und Lothar Bredella sowie der Didaktik des Fremdvers‐ tehens (1995) verbunden, welche hier als wegweisend vorausgesetzt werden kann. Das Thema der Kulturvermittlung wirft gleichwohl zwei grundlegende gegenstandstheoretische Fragen auf, nämlich was unter Kultur und was unter Kulturvermittlung im Fremdsprachenunterricht zu verstehen ist. Kulturvermittlung wird meist unter den Lemmata interkulturelles und trans‐ kulturelles Lernen diskutiert. Die Feststellung, dass Kulturen hybrid, verwoben und an den Rändern offen sind (Transkulturalitätsthese, vgl. u. a. Welsch, 1997) ist allerdings trivial geworden. Die kontinuierliche Durchdringung materieller und geistiger Räume in der westlichen Welt durch Einflüsse aus anderen Räumen ist eine Alltäglichkeit und die Infragestellung von Grenzen (jeglicher Art) gang und gäbe. Der Interkulturalitätsansatz (vgl. u. a. Albrecht, 1997) geht nicht bis zu dieser Konsequenz, sondern impliziert eine gewisse Abgrenz‐ barkeit als Voraussetzung dafür, dass Kultur im Eigenen und im Anderen wahrgenommen wird. Lernende reflektieren kulturelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Unterscheidung von Eigenem und Anderem und kommen somit auch zu Fragen ihrer kulturellen Identität. Mit dem Identitätsbegriff sind nun allerdings neue definitorische Probleme oder gar Aporien zu bewältigen. Als Arbeitsdefinition für Identität übernehmen wir die Formulierung der Eidgenössischen Migrationskommission (2018): Identität bedeutet, sich zurechtzufinden, die eigene Position zu kennen, im Alltag, in seinem Umfeld und in der Welt. Das Definieren von Identität dient der Eigenwie auch der Fremddarstellung. Jedes «ich bin…» beinhaltet implizit immer eine Differenz oder Abgrenzung vom «andern». Um die Differenz zu betonen, berufen sich somit sowohl Individuen als auch Kollektive auf ihre kulturelle Identität. Identität wird im unterrichtlichen Kontext u. a. in Identity texts (vgl. Cum‐ mins & Early, 2011) bearbeitet. Damit sind kreative Texte gemeint, die von Lernenden einer Fremdsprache in mehrsprachigen Klassen verfasst werden, in einer Sprache, die sie noch kaum beherrschen und in denen sie dennoch Fragen 118 Bernd Tesch der eigenen Identität bearbeiten. Es handelt sich dabei um vielfältige Textsorten: literarische Erzählungen, Drehbücher, Videofilme, kleinere Recherchen etc. Während Cummins und Early bei ihrem Ansatz noch stark die Entwicklung der Literalität betonen, erscheint im Hinblick auf eine Weiterentwicklung der Kul‐ turdidaktik jedoch der Aspekt identifikatorischer Involviertheit bemerkenswert zu sein: die eigene Identität schreibend zu entdecken. Finkbeiner & Schmidts ABC’s of Cultural Understanding and Communication (2006) bietet diesen Vorteil. Es beruht auf einem dreistufigen Modell aus der Herstellung von Autobio‐ graphien, Biographien und cross-cultural analysis in einer schulischen oder universitären bzw. lehrerinnen- und lehrerbildenden Trainingseinheit. Identity texts und ABC’s, die allgemein für mehrsprachige Klassen konzipiert wurden, erlauben es, auch und gerade im oft spät einsetzenden Tertiärsprachenunterricht bei gleichzeitig bereits vorhandenen Sprachkenntnissen in mehreren Sprachen rasch kulturbezogene Verständigungsgrundlagen zu legen, die anschließend als sprachliche Äußerungen im Hinblick auf Kulturvorstellungen reflektiert werden können. Sie können vor oder im Anschluss an literarische Lektüren eingesetzt werden, die ihrerseits jedoch häufig sprachlich-kulturelle Komplexi‐ tätsgrade aufweisen, die weit über den individuellen Entwicklungszonen der Lernenden liegen. Damit komme ich wieder auf die bereits in der Einleitung augeworfene offene bzw. auch empirisch noch unklare Beziehung von angenommenen Qualitäten und Potentialen literarischer Texte und dem tatsächlichen kulturbezogenen Wissen von Lernenden (im wissenssoziologisch doppelten Sinne, als explizites und als implizites Wissen) zurück. Rückschlüsse auf diese Beziehung sind kaum abzuleiten, solange erstens die Basis für eine empirisch-praxeologische Theorie‐ bildung zum Umgang mit Kulturen im Fremdsprachenunterricht fehlt und so‐ lange zweitens ein notorisch unscharfer Kulturbegriff im Fokus steht. Die Frage stellt sich jedoch, ob sich bei einem Verzicht auf die fachdidaktische Fixierung auf den Kulturbegriff sowie damit verbunden auf Inter- und Transkulturalität zugunsten individueller und kollektiver Sinnbzw. Identitätskonstruktionen Auswege aus der Aporie ergeben oder eher wieder neue Probleme generiert werden. Kultur spielt auch als politisches Phänomen im Fremdsprachenunterricht mittlerweile eine dominante Rolle. Der amerikanische Philosoph und Politikwis‐ senschaftler Francis Fukuyama (2018) beschreibt, wie der Kulturbegriff in den vergangenen drei Jahrzehnten im Zuge der Globalisierung im öffentlichen Dis‐ kurs westlicher Demokratien allmählich durch Selbstdefinition, Anerkennung und gesellschaftliche Gleichstellung vielfältiger und zunehmend atomisierter Identitäten verdrängt wurde: Frauen, Migranten, Muslime, Sinti & Roma, Homo‐ 119 Chronik eines angekündigten Todes? sexuelle, Transsexuelle, Menschen mit Behinderungen, Indigene, usw.. Ich greife daher diesen postkolonialen Trend des Kulturverzichts zugunsten vielfältiger Identitätskonstruktionen auf und stelle die Frage, ob in dem Maße, wie in postmodernen kulturrelativistischen Diskursen Kultur(en) durch Identität(en) ersetzt werden, auch im Unterricht der romanischen Sprachen im Sinne einer Identitätsnorm Kulturvermittlung durch Identitäts(re)konstruktionen ersetzt wird. Die Frage kann nur empirisch beantwortet werden, wofür derzeit aller‐ dings die Grundlagen fehlen. 5 Praxeologische Schlüsse für die Literatur- und Kulturdidaktik Die Frage nach der Kulturvermittlung muss sich, wie bereits oben angedeutet, dem Teilbegriff der Vermittlung widmen. Dieser suggeriert eine einseitige Gerichtetheit vom Gegenstand zu den Lernenden via Lehrende. Ein solches eingeengtes Vermittlungskonzept bliebe, wie gesagt, ohne eine Berücksichti‐ gung der Aneignungspraktiken Lernender immer unvollständig, d. h., es müsste die Herstellung von kulturellem Wissen im Fremdsprachenunterricht auf rein abstrakter Ebene antizipieren. Und schließlich bliebe offen, ob Kultur überhaupt als Gegenstand vermittelbar ist, setzt dies doch eine Reifizierung voraus. Kultur müsste also zur vermittelbaren und aneignungsfähigen „Sache“ gemacht werden. Wenn dem so wäre, lägen bereits hier Ansätze einer Essentialisierung vor, die von postmodernen Kulturtheoretikern vehement kritisiert wird (zuerst Derrida, 1972). Es liegt daher nahe, die didaktisch-normative Sicht und damit verbunden die engere Frage der Kulturvermittlung zugunsten der offeneren Frage des Umgangs mit kulturellen Gehalten im Fremdsprachenunterricht aufzugeben und - weitergehend - eine empirische Perspektive einzunehmen, die sich die Frage stellt, wie denn dieser Umgang beobachtet und mit welchen Methoden er ausgewertet werden kann (vgl. Tesch, 2019). Es müsste demnach Praktiken der Herstellung kulturellen Wissens geben, die empirisch nachzu‐ weisen wären. Sofern man an der Dichotomie von Ausgangs- und Zielkulturen festhalten wollte, wäre die Verwendung der Bezeichnung ‚Interkulturen’ für die im Fremdsprachenunterricht erreichten Zwischenstände angebracht (vgl. Neuner, Parmentier, Starkey & al., 2003). Es erscheint im Licht eines kritisch konstruktivistischen Zugangs zum Fremdsprachenunterricht jedoch nicht mehr sinnvoll, an den normativen Konzepten von Ausgangskulturen, Zielkulturen und Interkulturen festzuhalten, ohne diese Normativität selbst zu demaskieren. Kommunikative Praktiken, die die normativen Erwartungen an inter- und transkulturelles Lernen einlösen würden, sind nach meinem Überblick em‐ pirisch im fremdsprachlichen Klassenzimmerdiskurs bisher nur selten nach‐ 120 Bernd Tesch weisbar (vgl. Schädlich & Surkamp, 2015; Kreft, 2020), was allerdings auf Grund der begrenzten Fallauswahl in den Studien noch keine verallgemeinerbaren Aussagen zulässt. Aussichtsreich erscheint dennoch ein konsequent praxeolo‐ gischer Blick (vgl. Bohnsack, 2017) auf den Fremdsprachenunterricht, der die Eigenlogik des Umgangs mit kulturell kodierten Texten ins Zentrum rückt und dabei die Doppelstruktur von didaktisch angestrebtem kulturellem Wissen (als „propositionaler Gehalt“ in der Sprache der praxeologischen Wissenssozi‐ ologie) und kulturellem Wissen als Praktiken des Umgangs mit kulturellen Phänomenen (als „performativer Gehalt“ bzw. „Performanz“) herausarbeitet. Bei Letzterem wiederum ist zwischen der durch die Aufgabe proponierten Performanz und der tatsächlich realisierten (performativen) Performanz zu unterscheiden. Normative Einengungen in Bezug auf die Textauswahl wurden bereits ange‐ sprochen. Solche Einengungen liegen mitunter auch den per se interkulturellen und transkulturellen Konflikten thematisierenden Texten zu Grunde, u. a. der von einigen Verlagen privilegierten Gattung der Migrationsliteratur/ fictions of migration (vgl. Freitag-Hild, 2010). Diese Texte transportieren in ihren Protagonisten meist kulturelle Identitäten, die von der Mehrheit der Lernenden in Deutschland zwar imaginiert und auf empathischer Basis ‚irgendwie’ ver‐ standen werden können, jedoch häufig eine auf Grund vielfältiger Barrieren oft nur sehr vage, unscharfe bzw. zunächst sprachliche und eben nicht kulturell gerichtete Fremdheitsrelationen zulassen („foregroundings“, s. Abschn. 3). Ich stimme mit R. Bohnsack überein: Ein Verstehen der Anderen ist im Sinne der praxeologischen Wissenssoziologie von Gemeinsamkeiten oder Struktu‐ ridentitäten der Sozialisationsgeschichte abhängig, welche als „konjunktive Erfahrungsräume“ (Bohnsack 2017, S. 102-108) bezeichnet werden. Im Falle gesellschaftlicher konjunktiver Erfahrungsräume sind dies solche, die bspw. aus geschlechts- oder milieuspezifischen Strukturidentitäten der Sozialisation hervorgehen. Solche Strukturidentitäten sind aber bei den Lernenden der romanischen Sprachen im Hinblick auf Migrationserfahrungen bzw. gar Flucht‐ migration nicht immer gegeben, wenn man den Migrationsbegriff nicht bis zur Unkenntlichkeit überdehnen möchte. Was nun nicht heißen soll, dass Migrationsliteratur zu meiden wäre, sondern lediglich, dass dem Verstehen der Anderen in diesem Falle enge Grenzen gesetzt sind (vgl. Hunfeld, 1993). Diese Anmerkung bezieht sich beispielhaft und nicht exklusiv auf die fictions of migration. Auch eine Fokussierung auf interkulturelle Konflikte und critical in‐ cidents scheint mir kulturdidaktisch problematisch, da diese vielfach auf Grund moralisch grundierter Imaginationsflächen bei jugendlichen Leserinnen und Lesern ein Potential zur Stereotypenbildung und -verfestigung bergen können. 121 Chronik eines angekündigten Todes? Derartige Grundierungen können freilich erst in forschender Distanz, nicht aber unter dem Handlungsdruck der Praxis aufgedeckt werden. Ausgehend von der wahrgenommenen Kultürlichkeit sprachlicher Phänomene könnten in der fremdsprachendidaktischen Forschung Fremdheitsrelationen zwischen Sprache, Text und Lesenden praxeologisch rekonstruiert werden (bspw. auf einer differenztheoretischen (vgl. u. a. Martens, 2015) oder einer lernkulturthe‐ oretischen Grundlage (vgl. Kolbe, Reh, Fritzsche & al., 2008). 6 Fazit Es wurde anhand einiger zunächst scheinbar nur in losem Zusammenhang stehender Beobachtungen gezeigt, dass sich an vielen Stellen Normativitäten der Literatur- und Kulturvermittlung im Unterricht der romanischen Sprachen andeuten. Diesen eher essayistischen Beoachtungen auf empirischer Basis nach‐ zugehen, wäre eine künftige Forschungsaufgabe der romanistischen Literatur- und Kulturdidaktik. Normfragen sind auch empirische Fragen. Ein Beispiel für sich wechselseitig stützende Normativitäten wäre die Kongruenz einer pro‐ grammatisch proponierten transkulturellen Norm und einer Präferenz für post‐ koloniale Texte und Inklusionsthematik in Lehrwerken. Dagegen zeigen sich wechselseitig irritierende Normativitäten am Konflikt zwischen einer sprachli‐ chen Vereindeutigungsnorm und der Norm inhaltlicher Deutungsvielfalt bzw. Anerkennung von Kontingenz. Die fachdidaktische Theoriebildung könnte hier von einer Hinwendung zu Normbearbeitungen in Praxisdokumenten (Lern‐ erinnen- und Lernerdokumente, unterrichtliche interaktive Praktiken bei der Arbeit mit (fiktionalen) Texten, Erzählungen von Lehrenden und Lernenden über den Unterricht) und ihren impliziten Theorien profitieren. Eine solche praxeologische Wende in der romanistischen literatur- und kulturdidaktischen Forschung würde dem Begriff der Vermittlung das Pendant der Aneignung integrativ zugesellen und gleichzeitig Anschlüsse an rekonstruktive empirische Heuristiken ermöglichen. Als dringlich erscheint mir schließlich die Konzeptionierung einer gegen‐ über der anglistischen Didaktik eigenständigeren romanistischen Literatur- und Kulturdidaktik, die neben - zu literarischen Texten geronnenen - kollek‐ tiven Erinnerungen bestimmter Sprachgemeinschaften den besonderen insti‐ tutionell-organisationalen Rahmungen, der Mehrsprachigkeit der Lernenden sowie entsprechenden praxeologischen Befunden Rechnung trägt. Die Lernbe‐ dingungen einer zweiten oder dritten Fremdsprache unterscheiden sich deutlich von denen der ersten Fremdsprache Englisch, die überdies durch ubiquitäre 122 Bernd Tesch Präsenz in Alltag und Wissenschaft als allgemeine Kulturtechnik (vgl. Brunsch, 2000) betrachtet wird. Der schulische Literaturunterricht der romanischen Sprachen wird gewiß nicht das Schicksal einer muerte anunciada erleiden. Er würde jedoch davon profitieren, dass die Emergenz und Kontingenz literar-ästhetischer und kultur‐ bezogener Verstehensleistungen im Zusammenspiel mit interaktiven Praktiken empirisch beschrieben, theoretisch gefasst und in paxisnahen Unterrichtskon‐ zepten gewürdigt würden. Auf dem Spiel steht eine eigenständige und adäquate Diskurskultur im Unterricht der romanischen Sprachen, der durch den Umgang mit verbaler Prekarität und Unsicherheit bzw. wenig gefestigten Textroutinen angesichts der hegemonialen Ansprüche der Weltsprache Englisch geprägt ist. Literatur Albrecht, Corinna (1997). Überlegungen zum Konzept der Interkulturalität. In Yves Bizeul, Ulrich Bliesener & Marek Prawda (Hrsg.) Vom Umgang mit dem Fremden. Hintergrund - Definitionen - Vorschläge (S. 116-122). Weinheim & Basel: Beltz Juventa. Bohnsack, Ralf (2017). Praxeologische Wissenssoziologie. 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Köln: Wienand. 125 Chronik eines angekündigten Todes? Professionalisierung in biografischer Perspektive. Gedanken zu einer reflektierten Fachlichkeit in der universitären Fremdsprachenlehrer*innenbildung Anka Bergmann, Stephan Breidbach & Lutz Küster Wie das Lehramtsstudium auf die Anforderungen des Berufs vorbereitet bzw. vorbereiten kann, ist seit Langem Gegenstand bildungspolitischer Debatten, aber auch wissenschaftlicher Forschung. Auf der Basis eines biografischen und subjektorientierten Ansatzes entfaltet der vorliegende Beitrag im en‐ geren Bezug auf das Studium fremdsprachlicher Fächer Überlegungen, in denen die Konzepte der Reflexivität und der Erfahrung einen zentralen Stel‐ lenwert einnehmen. Vor diesem Hintergrund vertreten die Verfasser*innen ein Verständnis von Professionalisierung, das nicht primär an den Lehr- und Lerninhalten orientiert ist, sondern in erster Linie danach fragt, inwie‐ weit und wie Studierende sich diese reflexiv erschließen. Ausgehend von Positionen erziehungswissenschaftlicher Professionsforschung erörtern sie, welchen Beitrag die Lehre in der Linguistik, der Literaturwissenschaft und der Fachdidaktik zu einer so konzipierten Professionalisierung leisten kann. 1 Einleitung In der Öffentlichkeit ist die Bedeutung von Schule und Unterricht für die Ent‐ wicklung unseres Gemeinwesens, nicht zuletzt in Folge des sog. PISA-Schocks, gewachsen - so scheint es zumindest, wenn man die Berichterstattung und die Kommentare in Presse, Radio und Fernsehen verfolgt. Dabei rückt auch die Frage nach einer quantitativ und qualitativ den Anforderungen des Berufs entsprechenden Lehrkräftebildung immer wieder in den Blick. Auf der Ebene der Bildungspolitik schlägt sich dies in Form administrativer Maßnahmen (wie z. B. der Förderung von Lehrer*innenbildungszentren an den Universitäten) und veränderter curricularer Rahmensetzungen nieder. Gleichzeitig lässt sich 1 Einen Überblick über den Stand fremdsprachendidaktischer Professionsforschung liefern Gerlach, Roters & Steininger (2020). auf der Ebene universitärer Forschung ein wachsendes Interesse an Fragen der Professionalisierung des Lehrberufs beobachten. In unserem Beitrag diskutieren wir das Lehramtsstudium in den fremd‐ sprachlichen Philologien als Teil eines Professionalisierungsprozesses. 1 Wir folgen dabei einer besonderen Fokussierung: Uns interessiert vor allem die Bedeutung der Fachlichkeit in den fachwissenschaftlichen und fachdidakti‐ schen Studienanteilen. Hierzu entwickeln wir vor dem Hintergrund eines berufsbiografischen Ansatzes einige Grundsatzüberlegungen. Wir möchten zum Nachdenken darüber anregen, welchen grundlegenden Orientierungen ein hochschuldidaktisches Angebot folgen sollte, das Studierenden den Weg zu einer reflektierten Professionalisierung ebnet. Die Subjektseite der Lernenden und die Seite von Studienordnungen und Lehrangeboten sind wechselseitig aufeinander zu beziehen. Im vorliegenden Rahmen konzentrieren wir uns aus Platzgründen allerdings auf Erstere. 2 Impulse aus der Professionsforschung In der erziehungswissenschaftlichen Lehrer*innenprofessionsforschung ist die von Terhart (2011) vorgeschlagene Systematisierung von drei unterschiedlichen Ansätzen, Professionalität zu beschreiben, weithin aufgegriffen worden. In Anlehnung daran skizzieren Bonnet & Hericks (2014) in ihrem programmatisch zu verstehenden Beitrag einen kompetenztheoretischen, einen strukturtheoreti‐ schen sowie einen biografieorientierten Bestimmungsansatz von Lehrer*innen‐ professionalität (vgl. zu Folgenden ebd., S. 5-8). Während in kompetenztheore‐ tischer Betrachtung nach objektivierbaren Wissensbeständen und Fertigkeiten von Lehrer*innen gefragt wird, erscheint Professionalität unter strukturtheore‐ tischer Perspektive als eine relationale Dimension, in der das Verhältnis von Person bzw. Individuum zu den im Tätigkeitsfeld von Lehrer*innen strukturell vorhandenen Gegebenheiten und Anforderungen im Vordergrund steht. In biografischer Betrachtung von Lehrer*innenprofessionalität hingegen rücken subjektbezogene Faktoren in den Mittelpunkt. Gefragt wird danach, welche Voraussetzungen Menschen, die den Lehrberuf anstreben, mitbringen und wie sich der Prozess, Lehrer*in zu werden, aufgrund der Verschiedenheit dieser Voraussetzungen abspielt bzw. wie die jeweilig individuellen Voraussetzungen mit den Anforderungen von Studiensowie Schul- und Unterrichtspraxisphasen 128 Anka Bergmann, Stephan Breidbach & Lutz Küster interagieren und in der Folge Inhalte, Dynamik und die Gesamtgestalt des Lernens von Lehramtsstudierenden einander beeinflussen. Seit geraumer Zeit gewinnt in der Lehrer*innenbildungsforschung die bio‐ grafische Perspektive an Bedeutung. Diese geht zudem mit einer Fokussierung auf das Konzept des Lehrer*innenhabitus und dessen Herausbildung im Verlauf berufsbiografischer Abschnitte wie z. B. der Studien- oder Berufseingangsphase einher, wie Košinár & Laros (2020, S. 255) feststellen. Auf der Grundlage vorwie‐ gend sozialkonstruktivistisch geprägter Rahmentheorien werden das Lernen bzw. Lernverläufe - oder noch spezifischer: die Ergebnisse von Lernverläufen - von (angehenden) Lehrer*innen für die Forschung interessant. Das Lernen von Lehrer*innen wird also als grundlegend individueller Prozess aufgefasst, der sich durch steuernde Maßnahmen auch nur begrenzt beeinflussen oder in seinen Ergebnissen prognostizieren lässt (vgl. Richards & Farrell, 2005, S. 5-6). Eine so verstandene Subjektorientierung bildet sich wiederum in verstärkt „fallorientierter Forschung“ (Košinár & Laros, 2020, S. 255) ab. Als ein Charakteristikum des Lehrberufes verstehen Bonnet & Hericks (2014) zudem, dass Lehrer*innen über besondere Eingriffsrechte in die Persönlichkeits‐ sphäre von Kindern und Jugendlichen verfügen: „Für Lehrer/ innen kommt hinzu, dass durch ihren Kernauftrag Krisen nicht nur gelöst, sondern zuallererst ausgelöst werden können“ (ebd., S. 5, kursiv im Original). Lehrer*innen handeln demnach notwendigerweise immer auch in Bereichen, die die Integrität und das Selbstverständnis Anderer betrifft. Die Fähigkeit eines verantwortungsvollen und sensiblen Umgangs mit für Lernende in diesem Sinn potenziell folgenrei‐ chen (im günstigen Fall: bildenden) Lernerfahrungen zeichnet die spezifische Professionalität von Lehrer*innen aus (vgl. ebd.). Unter Professionalisierung verstehen wir - in Bezug auf die erste Phase der Lehrer*innenbildung - im Folgenden den komplexen und dynamischen Lernprozess, den Studierende auf dem Qualifikationsweg für den Beruf des*der Lehrer*in durchlaufen. Wir haben dabei insofern eine biografische Perspek‐ tive als Bezugspunkt, da wir davon ausgehen, dass die Lernprozesse von Studierenden von ihren individuellen Voraussetzungen wesentlich mitbestimmt werden (vertiefend Hericks, Keller-Schneider & Bonnet, 2019). Mit Schwarz, Schratz & Westfall-Greiter (2013) verstehen wir Lehrer*innen‐ bildung weiterhin als Erfahrungsprozess. In diesem Sinne stellt in unserer Sicht das lehramtsspezifische Studium - idealiter - einen Erkenntnis- und Erfah‐ rungsraum dar, in dem fachwissenschaftliche Inhalte und Methoden erarbeitet und rekonstruiert werden, in dem zugleich aber auch das universitäre Lernen selbst, das immer auch im Modus von Kollaboration und Ko-Konstruktion 129 Professionalisierung in biografischer Perspektive 2 Unter ‚Erfahrung‘ verstehen wir ein im Zuge leib-seelischer Wahrnehmung dem Bewusstsein zugängliches Erleben, das dadurch zu einer Erfahrung wird, dass es vom Individuum reflektiert wird. stattfindet, als thematisierbare Erfahrung begriffen wird. Letzteres impliziert die Entwicklung einer reflexiven Grundhaltung. 3 Der berufsbiografische Ansatz von Professionalität: Erfahrung und Reflexivität Der berufsbiografische Ansatz manifestiert sich im Feld der Fremdsprachen‐ didaktik in einer Reihe von qualitativ-empirischen Studien, die den Fragen nachgehen, welche Wissensbestände, Haltungen und Grundannahmen (beliefs) das berufliche Selbstverständnis von Lehrenden bestimmen und wie sich diese im Zuge ihrer Lern- und Berufsbiographien entwickelt haben. Einen Meilenstein stellt in dieser Hinsicht die Habilitationsschrift von Daniela Caspari (2003) mit dem Titel „Fremdsprachenlehrerinnen und Fremdsprachenlehrer: Studien zu ihrem beruflichen Selbstverständnis“ dar (einen Forschungsüberblick liefern zudem Caspari, 2014 und Roters & Trautmann, 2014). Während in dieser Perspektive das Forschungsinteresse retrospektiv den Entwicklungsverläufen in der Praxis tätiger Lehrer*innen gilt, interessieren wir uns im vorliegenden Rahmen schwerpunktmäßig für die Gelingensbedingungen subjektiver Professionalisierungsprozesse während des Lehramtsstudiums. Be‐ trachtet man Professionalisierung hier also als biografischen Prozess und somit das Lernen von angehenden Lehrer*innen aus subjektorientierter Perspektive, wird - wie oben angeführt - der Begriff der Erfahrung 2 bedeutsam. Wie Malte Brinkmann (2020) darlegt, wird in aktueller, phänomenologisch fundierter Erziehungswissenschaft der bildende Charakter von Erfahrung an der Kon‐ frontation mit Irritationen, Enttäuschungen und Erlebnissen des Scheiterns festgemacht, die nunmehr nicht etwa als „Betriebsunfälle erfolgreichen Lernens und Übens“, sondern im Gegenteil als “konstitutive Momente von Lern- und Bildungsprozessen“ (Brinkmann, 2020, S. 24) betrachtet werden. Hierfür hat sich der Begriff der „negativen Erfahrungen“ etabliert, wobei Negativität nicht als etwas Lästiges und zu Vermeidendes zu verstehen sei (vgl. ebd. sowie Brink‐ mann, 2018, S. 94-96). Indem sie zu Suchbewegungen, Fragen und Probieren anregten, seien negative Erfahrungen vielmehr „bedeutsame Anlässe für Lernen und Umlernen“ (Brinkmann, 2020, S. 24). Sie ermöglichten eine Bewusstwer‐ dung latenter Erfahrungshorizonte. Im Lernen werde der Erfahrungsprozess somit reflexiv, mit anderen Worten auf sich selbst rückbezogen (vgl. ebd.). Reflexivität spielt hier insofern eine zentrale Rolle, als sich über sie das bildende 130 Anka Bergmann, Stephan Breidbach & Lutz Küster 3 Bildung verstehen wir mit Koller (2012) als das spezifische Selbst- und Weltverhältnis, das Menschen im Laufe ihres Lebens entwickeln. Diese Entwicklung ist grundsätzlich unabgeschlossen und fortlaufend. Erfährt das Selbst- und Weltverhältnis eine qualita‐ tive Veränderung (Transformation) und ist dieses Geschehen retrospektiv der Reflexion zugänglich, sprechen wir von einem Bildungsgeschehen (vgl. Breidbach & Küster, 2014, S. 129-144). Subjekt für eine Transformation seiner Selbst- und Weltverhältnisse öffnet (vgl. ebd., S. 17). 3 Derartige in einem allgemeinen bildungstheoretischen Rahmen entwickelte Gedanken haben für Fragen der Lehrer*innenbildung eine doppelte Rele‐ vanz. Zum einen wird vonseiten der Fremdsprachendidaktik vielfach hervor‐ gehoben, dass angehende Lehrkräfte ihre (berufs-)biografisch erworbenen Überzeugungen und Einstellungen vor dem Hintergrund wissenschaftlicher Forschung reflexiv bearbeiten sollten (vgl. u. a. Abendroth-Timmer, 2017; Roters & Trautmann, 2014, S. 56; Schädlich, 2018, S. 164; Martinez, 2018, S. 113-114; Schultze, 2018). Zum anderen und ergänzend zum erstgenannten Aspekt ver‐ treten wir die Position, dass Lehrer*innenbildung insbesondere darauf gerichtet sein sollte, bei den Einzelnen eine Reflexivität zu fördern, die auf Metakogni‐ tion und epistemologische Fragestellungen gerichtet ist. Irritationen, die aus einer Diskrepanz zwischen (z. T. vortheoretischem) Handlungswissen und wissenschaftlichen Wissensbeständen sowie zwischen fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen oder erziehungswissenschaftlichen Wissenschaftstheo‐ rien und -praktiken entstehen, wären auf diese Weise reflexiv zu bearbeiten. Dies halten wir aus zwei Gründen für sinnvoll, von denen der erste einem zunächst einmal banal erscheinen mag: Eine solchermaßen weiterführende Reflexion beugt grundlegend dem Regress in universitätsseitig wie auch studie‐ rendenseitig bekannte, aus unserer Sicht aber nicht zielführende, abbilddidakti‐ sche Vorstellungen von Studium und Fremdsprachenunterricht vor (umfassend hierzu Bonnet, 2019). Diese kommen häufig in so oder ähnlich geäußerten Erwartungshaltungen von Studierenden zum Ausdruck, die einfordern: „Was im Studium vorkommt, muss ich auch praktisch für den Unterricht nutzen können.“ Darüber hinaus bringt die Forderung nach Reflexivität die spezifische pro‐ fessionelle Situiertheit des Lehrberufs zum Ausdruck, wenn es darum geht, ein Verständnis dafür zu entwickeln, was es heißt Fachlehrer*in zu sein. Denn der Fachbezug steht, zumindest im öffentlichen Schulwesen, unter dem Primat eines staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrags. Unser Argument ist an dieser Stelle recht einfach: Es gibt in der Struktur der Lehrer*innenbildung keine an‐ dere Stelle, an der die Entwicklung einer metareflexiven Fachlehrer*inneniden‐ 131 Professionalisierung in biografischer Perspektive tität besser geschehen kann, denn hier ist die Begegnung mit wissenschaftlicher Rationalität unmittelbare Praxis. Die sich hier ergebende Frage, wie fachliche Lernwege im Horizont von Reflexionsprozessen angelegt sein sollten, führt uns zurück zum Subjekt und der Kategorie der Erfahrung. Wir folgen dabei dem Konzept der negativen Erfahrungen ebenso wie dem ihm zugrunde liegenden phänomenologischen Verständnis von Leiblichkeit. Denn Erfahrungen sind stets situativ und kon‐ textuell in der Lebenswelt des Subjekts verortet und damit an seine leibliche Existenz gebunden. Damit kommen nicht zuletzt auch die emotionalen Faktoren des Erlebens in den Blick. Irritationen äußern sich schließlich nicht nur auf der kognitiven Ebene, sondern gehen vielfach auch mit körperlich-psychischem Unbehagen einher. Die Reflexion derartiger Erfahrungen sollte hochschuldi‐ daktisch nicht den Studierenden selbst überlassen bleiben, sondern als Teil des öffentlichen Lehr-Lern-Geschehens und damit Teil der universitären Lehre gedacht und praktiziert werden, und zwar auch, jedoch keinesfalls nur in den Fachdidaktiken. Es liegt ja gerade in der Logik tertiärer Bildung, in der Begegnung mit wissenschaftlichen Denkweisen jene Irritationserfahrungen herbeizuführen, die in einem bildungstheoretischen Sinn die eigenen etablierten Selbst- und Weltbezüge auf die Probe stellen und herausfordern. Nicht zuletzt die Anlage der einschlägigen Studiengänge selbst, in der die ein‐ zelnen Wissenschaftsdisziplinen und Studienanteile bisweilen von Lehrenden wie auch Studierenden als relativ unverbunden nebeneinander stehend wahr‐ genommen werden, kann Anlass für professionalisierungsrelevante Irritationen sein. Angesichts zudem der strukturellen Differenz unterschiedlicher Wissens‐ formen spricht sich Michael Schart (2014, S. 41) zu Recht für die Generierung eines Professionswissens in Form reflektierten Handlungswissens aus. Hierbei seien nach wie vor „die in der Fachwissenschaft kumulierten Erkenntnisse relevant“, nur käme diesen „keine dominierende Rolle“ mehr zu (ebd.). Schart lässt damit allerdings offen, wie das lernende Subjekt die jeweiligen Wissensbe‐ stände miteinander in Beziehung setzen kann. Genau hierfür bedarf es u. E. einer konsequent reflexiven Grundhaltung, die jedoch in den Lehramtsstudiengängen möglichst disziplinübergreifend im Sinne einer Querschnittsaufgabe angebahnt und gefördert werden sollte. Eine derartige Reflexivität lässt sich noch einmal auffächern in Fragen des ‚sich Auskennens‘ in den Disziplinen eines Faches und in Fragen des Wissens über die Kontexte des Wissens. Die KMK-Richtlinien zur Lehrer*innenbildung (KMK, 2008/ 2019), die für die gegenwärtige Strukturierung lehrer*innenbildender Studiengänge eine wich‐ tige Grundlage bilden, lassen ein Verständnis erkennen, demzufolge angehende Lehrer*innen für die modernen Fremdsprachen über Fachwissen in dem Sinn 132 Anka Bergmann, Stephan Breidbach & Lutz Küster verfügen, dass sie sich innerhalb der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen auskennen. Sie können, folgt man den in dieser Hinsicht unspezifisch gehal‐ tenen Zielformulierungen der Richtlinien, dieses Wissen auch in Bezug auf gesellschaftliche Bedeutung und in Bezug auf die Legitimation von Fremdspra‐ chenunterricht nutzen. Daniela Caspari (2018, S. 37) stellt treffend fest, dass die Formulierungen „nicht von (zukünftigen) professionellen Anforderungen, sondern von den einzelnen Disziplinen aus gedacht sind.“ Zudem ist es uns wichtig zu betonen, dass sich diese Art von Wissen auf der Ebene der Reflexivität erster Ordnung, also innerhalb eines Wissenssystems bewegt. Die Studierenden wissen aber nicht - jedenfalls werden sie nicht ausdrücklich auf diese Ebene hingewiesen -, wie und auf welche Weise sie wissen (epistemologische Dimen‐ sion) und warum sie auf diese Weise wissen sollen (bildungstheoretische Dimen‐ sion, was dementsprechend als Reflexivität zweiter Ordnung zu fassen wäre). Beide Dimensionen sind jedoch für einen bildenden Fremdsprachenunterricht unverzichtbar. Auch hier ist das Argument letztlich wieder ein sehr einfaches: Wenn es zur Professionalität von Fremdsprachenlehrer*innen gehört, bei den Lernenden bildende Erfahrungen anzustoßen, zu erkennen, wahrzunehmen und empathisch zu begleiten, dann wäre die Tätigkeit des Unterrichtens zu verstehen als eine aufmerksame Intervention in das Selbst- und Weltverhältnis anderer Menschen (also der Kinder und Jugendlichen, die uns anvertraut sind). Ein reflektiertes Bewusstsein dafür, wie der fachliche (also der sprach-, literatur- und kulturwissenschaftliche) Zugriff auf Welt strukturiert ist, ist folglich eine entscheidende Bedingung dafür, die einzelnen Lernenden als den*die jeweils Andere*n in ihrer Integrität anzuerkennen und ihnen eine empathische Auf‐ merksamkeit entgegenzubringen. Die für Lehrer*innen entscheidende Frage lautet daher - tentativ formuliert: Worin besteht die individuelle Integrität meines Gegenübers und wie wird sie in der von mir verantworteten fachlich fundierten Begegnung mit der Fremdsprache tangiert? Diese Frage bewusst stellen zu lernen, ist aus unserer Sicht der Professiona‐ lisierungsweg, auf dem die Universität die Studierenden im Fachstudium für das Lehramt proaktiv zu begleiten hat. 4 Zum Verständnis der Fachlichkeit in den fremdsprachen‐ philologischen Studienanteilen Um nun zu diskutieren, welchen Beitrag zu einer so verstandenen Professionali‐ sierung die fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Studienanteile leisten können, welche Gelegenheiten für Reflexion sie bieten, ist zu überlegen, wie Studierende den einzelnen Bereichen in ihrem Studium begegnen. 133 Professionalisierung in biografischer Perspektive Sprache ist Gegenstand sprachwissenschaftlichen Wissens sowohl als allge‐ mein-menschliches Vermögen wie auch als kommunikative Praxis. Auf diesen vielgestaltigen und komplexen Gegenstandsbereich gibt es viele Perspektiven mit unterschiedlichen Fragestellungen. Die Linguistik ist daher weit mehr als die Beschreibung von Sprache als System und die Frage nach dem Syste‐ matischen ihrerseits nur ein Aspekt in der Betrachtung der Sprachtätigkeit (vgl. Glück, 2005, S. 633-635). Dabei sind grundsätzlich synchrone und dia‐ chrone (bzw. historische) Betrachtungen einerseits und Theoretische und An‐ gewandte Linguistik andererseits zu unterscheiden. Während die Sprachtheorie auf die zusammenhängende Erklärung der Phänomene natürlicher Sprachen zielt, und zwar bezogen sowohl auf (grammatische) Strukturen als auch auf Phänomene wie Sprachwandel, Sprachverwandtschaft, Sprachproduktion und -verarbeitung, Spracherwerb u. a. (vgl. ebd., S. 629), richten sich Ansätze der Angewandten Sprachwissenschaft auf Praxisfelder. So ist Lexikographie eine Anwendung der Lexikologie, automatische Übersetzungsprogramme basieren auf Erkenntnissen der formalen Linguistik, Probleme im Bereich von Sprache und Gesellschaft (z. B. Sprachenpolitik, Sprachwahl, Mehrsprachigkeit) werden unter soziolinguistischer Perspektive behandelt und Fragen von Sprachlernen und Sprachvermittlung basieren auf einem umfassenden Begriff der Sprachbe‐ herrschung und der Analyse erfolgreicher Kommunikation vornehmlich in der Psycholinguistik. Es ist anzunehmen, dass für Lehramtsstudierende, die eine sehr konkrete Vorstellung davon haben, für welches Tätigkeitsfeld das Studium sie qualifizieren soll, ein solch angewandter Fokus für die Erwartungen an das Studium zentral ist. Reflexionspotential entsteht im sprachwissenschaftlichen Studium auf zwei Ebenen: Zunächst wird eine Diskrepanz zwischen Alltagswissen zum Ge‐ genstandsbereich Sprache, wesentlich geprägt von eigenen Sprach(lern)er‐ fahrungen, und dem wissenschaftlichen Zugriff der Linguistik auf Sprache offensichtlich. Auf einer weiteren Ebene werden Studierende mit unterschied‐ lichen Zugriffen in der Disziplin selbst konfrontiert. Hinzu kommt noch die Rückführung auf sprachliche Universalien als das aus den Varianten durch Analyse und Vergleich zu erschließende Invariante. Ohne diese Komplexität des wissenschaftlichen Zugriffs im Studium zu erkennen, sind metareflexive Wendungen nur schwerlich vorstellbar, die es erlauben würden, auch die Relevanz und Reichweite linguistischen Wissens im eigenen Handeln als Fremd‐ sprachenlehrer*in zu erkennen. Das Potenzial der sprachwissenschaftlichen Studienanteile liegt zunächst in einer umfassenden linguistischen Expertise im Bereich der Einzelsprache, im Wissen über die Strukturen, Funktionsbereiche und -mechanismen, Diskurse, kulturhistorische Perspektiven, Funktionen der 134 Anka Bergmann, Stephan Breidbach & Lutz Küster Sprache in der Gesellschaft und für das Individuum. Über dieses einzelsprach‐ liche Wissen, im besten Fall vergleichend bezogen auf das gesamte Spektrum der gekannten und gekonnten Sprachen, kann auch ein Verständnis für die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten sprachlichen Handelns entstehen. Ohne ein solches allgemeines Verständnis könnten Fremdsprachenlehrer*innen, seien sie noch so kompetente Sprecher*innen, lediglich eigenen Sprachgebrauch „reproduzieren“ und weitergeben, weswegen auch Muttersprachler*innen eben nicht automatisch gute Sprachlehrer*innen sind. Der Unterricht ist linguistisch fundiert, hat jedoch nicht die Systematik der wissenschaftlichen Disziplin als Ziel der Vermittlung. Die notwendigen Transformationen zu erkennen, ist die Herausforderung für angehende Fremdsprachenlehrer*innen, und zwar auch mit Bezug auf das eigene Sprachenlernen. In der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Herangehensweisen an das Phänomen Sprache kann ersichtlich werden, inwieweit Sprachunterricht und Sprachdidaktik Moden und Strömungen der Sprachwissenschaft als Bezugsdisziplin ausgesetzt sind. Dazu gehören etwa folgende Einsichten: • dass und wie unterschiedliche Sprachbegriffe methodische Traditionen bedingen, • dass die umfassende Beschreibung grammatischer Kategoriensysteme, die die strukturalistische Sprachwissenschaft geleistet hat, bis heute prägend ist für die Darstellung von Sprache in der Schulgrammatik, in Lehrbüchern und damit für die Strukturierung von Sprache als Lernge‐ genstand und auch für gewisse methodische Traditionen des schulischen Unterrichts, • dass auch neuere Ansätze z. B. der korpusbasierten Forschung oder kognitionslinguistische Erkenntnisse zu einer Weiterentwicklung des Fremdsprachenunterrichts beitragen können. Kommen wir zur Literaturwissenschaft. Literatur stellt - wie wir alle wissen - seit Menschengedenken den Versuch dar, soziale Wirklichkeit sprachlich zu erfassen, auf unterschiedliche Weise zu interpretieren und anderen Menschen nahe zu bringen. Sprache entfaltet in diesem Kontext ihre ästhetischen Dimen‐ sionen. Sie gibt dem*der Leser*in bzw. Zuhörer*in einen von Alltagsverpflich‐ tungen und vordergründig utilitaristischen Zwängen befreiten Raum, Genuss an sprachlich-künstlerischen Manifestationen zu empfinden, eigene Welt- und Selbstsichten zu reflektieren, mithin Sprache als etwas zu erleben, das eigene Gedanken-, Gefühls- und Wissenshorizonte zu erweitern anregt. Literatur verweist jedoch nicht nur auf ein ihr Äußeres, sondern ist zugleich autoreferentiell; jedes Werk „spricht“ von und mit anderen Werken (intertex‐ 135 Professionalisierung in biografischer Perspektive tuelle Ebene), ist Teil eines größeren Geflechts. Ähnlich verhält es sich mit der Literaturwissenschaft. Sie ist unmittelbar auf literarische Manifestationen bezogen, die sie in formal-inhaltlicher Weise analysiert, zugleich aber ist auch sie insofern autoreferentiell, als sie die Geschichte ihrer methodischen Zugriffe stets mittransportiert, reflektiert und erweitert. Wenn Studierende in Bezug auf die Breite fachwissenschaftlicher Studienan‐ teile des Öfteren einwenden, sie bräuchten so vieles davon nicht, um Fremd‐ sprachenunterricht erteilen zu können, kann dies als Ausdruck enttäuschter Erwartungen und somit negativer Erfahrungen gedeutet werden. An diesen könnte und sollte u. E. ein reflexiver und metakognitiver Prozess ansetzen. Da Studierende nicht automatisch und selbstverständlich über die Fähigkeit und die Motivation verfügen, die Gegenstände und Verfahren ihres Studiums in ihrer Komplexität zu reflektieren und die eigenen Haltungen zu ihnen kritisch zu beleuchten, bleibt zu fragen, wie sie beides entwickeln können. Das Gegenstandsfeld der Literatur- und Kulturwissenschaften bietet in dieser Hinsicht wertvolle Anschlussmöglichkeiten ganz eigener Natur. Die Beschäftigung mit Literatur, zuallererst als Leser*in, dann aber auch im Rahmen literaturwissenschaftlicher Studien ist ein Akt ästhetischer Kommu‐ nikation und Anlass ästhetischer Erfahrungen. Deren Kern ist nach Rüdiger Bubner (1989, S. 52) eine zwischen den Polen Anschauung und Begriff hin und her spielende Reflexionstätigkeit. Wie auch Martin Seel (1985, S. 314) betont, besteht somit ein enger Nexus zwischen Reflexivität und ästhetischer Erfahrung. Ein spezifisches Potenzial literaturwissenschaftlicher Anteile des Lehramtsstudiums ist u. E. darin zu sehen, eine Expertise für ästhetische Bildung aufzubauen. Dazu bedarf es auf Seiten der Studierenden eigener Zugänge zu Fragen ästhetischer Kommunikation, die allerdings erst dann Teil von Bildungs‐ prozessen werden, wenn der*die Einzelne sie zum Auslöser von Reflexionen der eigenen Selbst- und Weltverhältnisse nimmt und auf diese Weise zugleich Reflexionsfähigkeiten schult. Mit anderen Worten: Literatur und Literaturwis‐ senschaften können aus unserer Sicht wichtige Lernorte darstellen, um sich die Komplexität und Diversität von Selbst- und Weltverhältnissen zunehmend reflexiv zu erschließen. Die Relevanz der hier beschriebenen Fähigkeiten und Praktiken für den schu‐ lischen Fremdsprachenunterricht liegt auf der Hand. Denn der Bildungsauftrag von Schule richtet sich nicht zuletzt auf ästhetische Bildung. Eine wissenschaft‐ lich fundierte Literaturdidaktik wird darauf abzielen, Schüler*innen Zugänge zu literarischen Werken zu vermitteln, die jenseits aller Reduktionen auf rein kognitiv erfassbare Lernprozesse die Ebene sinnhafter Wahrnehmungen (aisthesis) einschließen, und damit Anstöße für individuelle Bildungsprozesse 136 Anka Bergmann, Stephan Breidbach & Lutz Küster im oben genannten Sinne vermitteln können (vgl. hierzu u. a. Steininger, 2018; Küster, 2015). Was den Teilstudiengang der Fachdidaktik betrifft, lässt sich herausstellen, dass das Prinzip der Reflexivität explizit in den Konzepten der Sprach- und Sprachlernbewusstheit (language und language learning awareness) zur Geltung kommt, die als Gegenstand fachdidaktischen Wissens der Reflexivität erster Ordnung zugeordnet werden können. Mutatis mutandis lässt sich dies auch in Bezug auf die Reflexion eigener Sprachlernerfahrungen im Rahmen einer kritischen Distanzierung von subjektiven Scheingewissheiten sagen. Hinzu kommt die Bedeutung einer Reflexion von Lehrerfahrungen im Kontext schu‐ lischer Praxisphasen, die ein wesentliches Element theoriegeleiteter fachdidak‐ tischer Studien darstellt. Was jedoch die Entwicklung einer Reflexivität zweiter Ordnung angeht, besteht u. E. deutlicher Entwicklungsbedarf, sowohl auf der Ebene fachdidaktischer Lehre als auch fachdidaktischer Forschung. Während zum erstgenannten Bereich nur (inter-)subjektive und daher notwendigerweise selektive Wahrnehmungen herangezogen werden können, liefert eine kritische Durchsicht des Sammelbandes der „Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts“ (Burwitz-Melzer, Riemer & Schmelter, 2018) zur Professionalität von Fremdsprachenlehrenden konkrete Anhaltspunkte. Refle‐ xivität wird hier ganz überwiegend auf der Ebene erster Ordnung verhandelt. Andererseits kann der Umstand, dass hier explizit nach der Rolle der Fremd‐ sprachendidaktik im Kontext von Lehrer*innenbildung gefragt wird, bereits als Ansatz einer Reflexivität zweiter Ordnung betrachtet werden. Eine solche Metaperspektive wäre u. E. allerdings explizit stärker als solche in der Forschung wie in der Lehre zu verankern. 5 Fazit Mit Bonnet (2019, S. 171) können wir festhalten: „Nach Ende der eigenen Schulzeit bietet das Studium berufsbiographisch den ersten Ort institutionali‐ sierter Reflexion und ggf. Irritation habitualisierter Überzeugungen und Hand‐ lungsmuster“. Dabei ist es nach unserem Dafürhalten weniger das Wissen über die Gegenstände des Studiums an sich, das in unmittelbarer Weise zu Professionalität von Lehrer*innen führt, sondern ein metareflexives Verständnis von den Perspektiven auf Studieninhalte und die spezifischen Weltzugriffe und Praktiken der Disziplinen eines Faches. Lehrangebote in allen drei Teilen fachspezifischer universitärer Lehrer*innenbildung sollten dementsprechend als Räume für subjektiv relevante Erfahrung gestaltet werden, die in einem 137 Professionalisierung in biografischer Perspektive fachdisziplinären Kontext und in berufsbiografischer Perspektive Gegenstand reflexiver Bildungsprozesse sein kann. Literatur Abendroth-Timmer, Dagmar (2017). Reflexive Lehrerbildung und Lehrerforschung in der Fremdsprachendidaktik: Ein Modell zu Definition und Rahmung von Reflexion. Zeitschrift für Fremdsprachenforschung (28) 1, 101-126. Bonnet, Andreas (2019). Die Rolle von Fachlichkeit für die Professionalität und Professio‐ nalisierung von Lehrer_innen - theoretische Überlegungen und empirische Befunde. Zeitschrift für interpretative Schul- und Unterrichtsforschung 8, 164-177. Bonnet, Andreas & Hericks, Uwe (2014). Professionalisierung und Deprofessionalisie‐ rung im Lehrer/ innenberuf. Ansätze und Befunde aktueller empirischer Forschung. 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In diesem Beitrag soll an drei Beispielen gezeigt werden, wie man sich forschenden Fremdsprachenunterricht vorstellen kann: Die Erforschung lebensweltlicher Praktiken und Kenntnisse der Lernenden soll anhand digitaler Praktiken und Erfahrungen illustriert werden (Teil 3). Am Beispiel der forschenden Erkundung eines Pop-Festivals in Ghana soll das ethnographische Verfahren für die Erforschung fremdsprachiger Kulturen verdeutlicht werden (Teil 4). Schließlich dient ein Beispiel aus einem größeren pädagogischen und didaktischen Forschungsprojekt dazu, eine Vorstellung von forschender Unterrichtsentwicklung zu vermitteln (Teil 5). Am Beginn stehen aber Überlegungen zum Verhältnis von forschender Wissenschaft und Unterrichtspraxis (Teil 1) sowie zur Eignung des ethnographischen Ansatzes für die hier vorgeschlagenen Zwecke (Teil 2). 1 Die Forschung als wissenschaftliche Domäne und die Unterrichtspraxis Das neugierige, erforschende Verstehen der eigenen Umwelt ist eine anthropo‐ logische Grundhaltung: Weltverstehen in einem sehr allgemeinen, aber auch domänenspezifischen Sinne ist gleichsam (über-)lebenswichtig. Der menschliche Verstand ist darauf angewiesen, aus einer riesigen, unendlich großen Zahl von Daten, Wahrnehmungen und Sinneseinflüssen ‚Sinn‘ zu konstruieren, um sich zu orientieren, Problemlösung zu betreiben und handlungsfähig zu sein. Diese zuge‐ gebenermaßen sehr allgemeine Lebensweisheit betrifft alle gesellschaftlichen und kulturellen Domänen, das Alltagsleben ebenso wie das berufliche Feld oder Bildung und Ausbildung. Diese forschende Grundhaltung hat durch Spezialisierung zur Herausbildung einer großen Zahl wissenschaftlicher Disziplinen geführt, unter denen die Fremdsprachendidaktik eine der jüngsten ist. Immer noch ist sie dabei, sich an Universitäten überhaupt erst als Disziplin zu etablieren. Die Einsicht in die unmittelbare Verwandtschaft zwischen einer neu‐ gierig-verstehenden Haltung in der Alltagswelt und der wissenschaftlichen Erforschung der Welt stellt Daniela Caspari an den Beginn ihres Grundlagen‐ beitrags im Handbuch „Forschungsmethoden in der Fremdsprachendidaktik“ Caspari et al., 2016, scheint es doch in der Natur des Menschen zu liegen, Phänomenen in seiner Umwelt auf den Grund zu gehen, nach Gesetzmäßigkeiten zu suchen sowie auf der Basis von Beobachtungen und Erfahrungen Theorien aufzustellen und Vorhersagen zu machen. Während dies im Alltag in der Regel eher zufällig, unbewusst und ad hoc geschieht, zumeist um konkrete Herausforderungen und Probleme des täglichen Lebens zu meistern, zeichnet sich wissenschaftliche Forschung durch eine systematische und methodisch kontrollierte Herangehensweise aus. (Caspari, 2016a, S. 7) Mit der Herausbildung spezialisierter wissenschaftlicher Disziplinen geht aller‐ dings auch im Feld der schulischen Lehrprofession ein generelles Auseinander‐ treten von wissenschaftlicher Forschung und Theorie einerseits und Praxis und Erfahrungswissen andererseits einher, das erhebliche Auswirkungen nicht nur für das Verständnis von Forschung, sondern auch für die Lehrer/ innenbil‐ dung hat: Nach wie vor wird zwischen dem wissenschaftlichen Studium für das Lehramt an Universitäten, der auf der Anwendung pädagogischer und didaktischer Konzepte und Theorien beruhenden zweiten Phase der Lehrer/ innenbildung und der eigentlichen Praxis unterschieden. Nicht selten wird diese Trennung als Bruch oder gap empfunden: Die wissenschaftliche Orientierung ist nach der Ausbildung erledigt, Handlungs- und Erfahrungswissen werden als praxisleitend betrachtet und nicht selten der Relevanz der wissenschaftlichen Ausbildung entgegengesetzt: „The division between research and practice is legendary“ (Bryks, 2015, S. 475). Eine solche „Theorie-Praxis-Opposition“ („the old paradigm separation between the roles of reseracher and subject“; Heron, 1996, S. 27) hat schwerwiegende Nachteile, die oft der angeblichen Praxisferne der universitären Lehrer/ innenaus‐ bildung angelastet wird. Die viel wichtigere Frage ist aber, ob bei den großen gesellschaftlichen, kulturellen und medialen Veränderungsdynamiken der Gegen‐ wart, einem hohen Erneuerungstempo des Wissens und global verfügbaren neuen 142 Wolfgang Hallet Orientierungen didaktischen und pädagogischen Denkens, Wissenschaftsferne den Anforderungen des Schul- und Unterrichtsalltags genügen kann. Der Ansatz, der im Bereich des Fremdsprachenunterrichts dieser Problematik am ehesten Rechnung zu tragen versucht, ist der einer reflective practice (vgl. Wallace, 1991; Leitch & Day, 2000). Allerdings ist die entscheidende Frage, im Lichte welcher wissenschaftlichen Erkenntnisse die Unterrichtspraxis jeweils reflektiert wird. In der Regel sollen Fortbildungsangebote die sich über die Jahre vergrößernde Lücke zwischen didaktischen oder pädagogischen Innovationen und dem Unter‐ richtshandeln schließen. Es ist jedoch offensichtlich, dass diese Form der Aktuali‐ sierung der wissenschaftlichen Grundlagen des pädagogischen und didaktischen Alltagshandelns eher punktuell und unsystematisch erfolgt, wenn Schulen oder Fachschaften nicht programmatisch und strategisch vorgehen. Als entscheidendes Instrument der kontinuierlichen Erneuerung der wissen‐ schaftlichen Grundlagen wird deshalb hier vorgeschlagen, das Forschen als professionelle didaktische Kompetenz zu definieren, die als Selbstverständnis, Haltung und Handeln ein fester Bestandteil der professionellen Tätigkeit ist. 2 Ethnographie als Methode Die Zahl der Ansätze, die für einem forschungsorientierten Unterricht heran‐ gezogen werden können, ist natürlich unüberschaubar groß. Für ein Lehren und Lernen, das stets mit der Annäherung an kulturelle Gegebenheiten und Entwicklungen in fremdsprachigen Gesellschaften befasst ist und das zugleich stets die lebenswelltichen Erfahrungen der Lernenden als Bezugspunkt und -folie benötigt, drängt sich ein ethnographischer Ansatz auf. Als Disziplin und Methode (in anderen Disziplinen wie der Kulturanthropologie oder der Sozio‐ logie) hat die Ethnographie eine lange Tradition der systematisierenden und interpretativen Erfassung und Beschreibung kultureller und sozialer Gegeben‐ heiten, Praktiken, Strukturen und Prägungen. In den Fremdsprachendidaktiken ist das ethnographische Forschen als fester Bestandteil des Unterrichtshandelns am ehesten in der Lage, neuen Entwicklungen Rechnung zu tragen, und zwar in einem dreifachen Sinne: • Die Lebenswelt der Lernenden ist von einer großen Änderungsdynamik bestimmt, mit der kulturelle, ethische oder weltanschauliche Orientie‐ rungen einhergehen und die mit kommunikativen, medialen und so‐ zialen Praktiken verbunden ist. Ein treffendes Beispiel dafür ist das informelle Englischlernen und -nutzen in online gaming communities, in denen Videospiele neue Formen der ästhetischen Erfahrung, der (fremd‐ sprachigen) kommunikativen Praxis und der sozialen Verbundenheit 143 Ethnographische Forschung als professionelle Kompetenz hervorbringen (vgl. umfassend Jones, 2018). Ohne die gründliche und wissenschaftlich gesicherte Vertrautheit mit solchen Erfahrungen der Schüler/ innen muss Lernendenorientierung eine Leerformel bleiben. • Alle fremdsprachigen Kulturen sind beständig und in jüngerer Zeit vermehrt von oft substanziellen Änderungen betroffen. Zu dieser Her‐ ausforderung durch neue politische und gesellschaftliche Veränderungen kommt hinzu, dass das im Studium vermittelte kulturelle und politische Wissen angesichts der Vielzahl fremdsprachiger Gesellschaften stets nur ausschnitthaft und sehr begrenzt sein kann. • Es kommt hinzu, dass, wie es für die Fremdsprache Englisch der Fall ist, mit Afrika ein ganzer Kontinent marginalisiert oder gar gänzlich ignoriert wird. Abhilfe kann hier nur die eigenständige Erforschung solcher neuen oder vernachlässigten Gegenstände schaffen, wenn sie im Unterricht vorkommen sollen. • Im Sinne einer reflective practice muss einerseits das eigene Unter‐ richtshandeln im Licht aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse kon‐ tinuierlich evaluiert werden. Andererseits muss aber auch neuen wis‐ senschaftlich-didaktischen Konzepten Rechnung getragen werden. Die systematische und kontinuierliche Erforschung der Unterrichtspraxis ist ein didaktisches Gebot, und der ethnographische Ansatz ist hier das Mittel der Wahl, denn er „bevorzugt die Feldforschung oder teilnehmende Beobachtung, also die handelnde Anwesenheit der Forschenden im zu erforschenden Feld“ (König, 2020, S. 517). • Im günstigsten Fall kann die Unterrichtspraxis selbst Teil einer wissenschaft‐ lich fundierten Unterrichtsentwicklung sein, wenn in der damit verbun‐ denen eigenen ethnographischen oder autoethnographischen Unterrichts‐ forschung „Gütekriterien für qualitative Forschung gefunden werden, etwa Transparenz, intersubjektive Nachvollziehbarkeit und Gegenstandsange‐ messenheit“ (Berger & Dreßler, 2017, S. 17; vgl. auch Choi, 2017). Ein solches forschendes Herangehen an die eigene Unterrichtspraxis weist über notwendige Aktualisierungen des im Studium erworbenen wissenschaftlichen Wissens oder die Verringerung einer Theorie-Praxis-Lücke hinaus. Es definiert die Haltung gegenüber dem eigenen Tun als systematische und beständige Er‐ forschung, bestimmt das Feld der Praxis als Gegenstand der eigenen Forschung wie z. B. in der Aktionsforschung und befragt zugleich die wissenschaftlichen Disziplinen in Pädagogik und Didaktik nach ihrer eigenen Forschungspraxis, die den Unterricht gängigerweise als distanten Forschungsgegenstand und die Lehrer/ innen als ‚zu Beforschende‘ betrachtet. Das ethnographische Prinzip der systematisierten Beobachtung und Interpretationen von kulturellen Praktiken 144 Wolfgang Hallet und Strukturen in fremdsprachigen Gesellschaften und in der Lebenswelt der Lernenden kann insofern auch zu einem neuen Verhältnis von Wissenschaft und Unterricht führen und die Lehrer/ innen als Forschende in kollaborativen Forschungs- und Entwicklungsprojekten etablieren. Die Fähigkeit zur ethnographischen Beobachtung und zum eigenen kultu‐ rellen Lernen können Lehrer/ innen in der unmittelbaren täglichen Unterrichts‐ interaktion erlernen und entwickeln. Das kulturelle Wissen entsteht in der Interaktion mit den Lernenden. Diese Art der Ethnographie ist immer der Perspektive der Betroffenen, also der Lernenden als participants der forschenden Exploration verpflichtet, damit das Beobachten nicht zum spying wird (vgl. Slembrouck, 2010, S. 256f. oder van Lier, 1988, S. 37ff.): Ethnography’s premium on contact comes with a commitment to and explicit display of the participant perspective: the participant as a resource of knowledge and as an interpretative perspective that cannot be explained away. (Slembrouck, 2010, S. 256) Eine solche Gewichtung der Perspektive der Lernenden für das kulturelle Lernen von Lehrer/ innen verhindert, dass Schüler/ innen bloße Objekte der Er‐ forschung durch ihre Lehrer/ innen werden. Zugleich kann ein solcher partizipa‐ tiver Ansatz die jungen Menschen dazu anleiten, selbst einen ethnographischen Blick auf die eigene Lebenswelt zu richten und eine distanzierend-kritische Fragehaltung dazu zu entwickeln: „Lernende werden als kulturelle Akteure modelliert, die befähigt werden, die eigene Lebenswelt und fremdsprachliche Kulturen zu erforschen“ (Legutke, 2020, S. 506). Wenn sich der Blick auf die Lebenswelt außerhalb der Schule weitet, so kommt die Ethnographie in einem strengeren Sinn ins Spiel. Sie ist eine Methodologie, die unmittelbar mit solchen wissenschaftlichen Disziplinen verknüpft ist, deren Gegenstand die Erforschung und das Verstehen (oft fremder) Kulturen sind, also z. B. der Kulturanthropologie oder der Soziologie. Green & Bloome (2004, S. 183) unterscheiden für didaktische und pädagogische Zwecke im Kontext anderer Fächer und Disziplinen drei Ebenen ethnographischen Forschens: 1. Ethnographie im ursprünglichen, disziplinären Sinn „involves the fra‐ ming, conceptualizing, interpreting, writing and reporting associated with a broad, in-depth, and long-term study of a social or cultural group.“ 2. Das Einnehmen einer ethnographischen Perspektive ermöglicht es, to take a more focused approach „[…] to study particular aspects of everyday life and cultural practices of a social group. Central to an ethnographic perspective is the use of theories of culture and inquiry practices derived from anthropology or sociology to guide the research“. 145 Ethnographische Forschung als professionelle Kompetenz Jede Erforschung von lebensweltlichen und kulturellen Phänomenen muss also, auf jeden Fall auf der Lehrer/ innenseite und für die Planung eines Projektes, von Theorien und wissenschaftlichen Konzepten zur Be‐ schreibung und Erfassung des in Frage stehenden Phänomens bestimmt sein. 3. Die dritte Abstufung betrifft ethnographic tools: „Using [them] refers to the use of methods and techniques usually associated with fieldwork. These methods may or may not be guided by cultural theories or questions about the social life of group members“. Wie man sieht, lassen sich im schulischen Kontext und, mit Blick auf die ethnographischen Kompetenzen der Lehrer/ innen, die Lebenswelten junger Menschen und die fremdsprachigen Kulturen von den Lehrer/ innen wie von den Lernenden mit den beiden letztgenannten Verfahren erfassen, je nach Anspruch und Klassenstufe auf systematischere Weise (ethnographic perspective, vgl. das Beispiel bei Street, 2010) oder mit reduzierteren Mitteln und begrenzteren Zielen (ethnographic tools). Zu den angesprochenen methods and techniques gehören solche, die auch Schüler/ innen nicht nur anwenden, sondern selbst entwickeln können: • direkte Beobachtung und Beschreibung von Verhaltens- und Interakti‐ onsweisen in field notes (vgl. König, 2020, S. 518) mit dem Ziel, Regulari‐ täten zu erkennen, z. B. des Nutzungs- und Interaktionsverhaltens bei der Benutzung eines smartphones; • discourse analysis: Analyse und Interpretation sprachlicher Äußerungen mit dem Ziel, wiederkehrende Elemente und Muster zu erkennen; • das Studium von Texten aller Art (auch Filmen und Videos) und anderen Artefakten, die Aufschluss über den Gegenstand der Forschung geben können, im Falle digitaler Praktiken z. B. durch die Lektüre der Nut‐ zungsbedingungen bei facebook oder der technischen Optionen eines elektronischen Gerätes; • die Erstellung und Auswertung von Umfragen und Fragebögen, die um Auskunft zu einem bestimmten Fragefokus bitten, z. B. zu Nutzungs‐ gewohnheiten, Motiven oder zur technischen Ausstattung bei online- Aktivitäten; • die Durchführung von Interviews mit einem Fokus auf ähnlichen Fragen der Mediennutzung oder digitaler Praktiken. Die Ethnographie hält also ein Instrumentarium bereit, das für die Erfassung, Beschreibung und das Verstehen lebensweltlicher und fremdsprachiger Kul‐ turen bestens geeignet ist. Mit Ausnahme der direkten Beobachtung lassen 146 Wolfgang Hallet sich die Methoden und Techniken auch auf das Studium und das Verstehen englischsprachiger Kulturen anwenden, teils, wie im Fall von Fragebögen und Interviews, im direkten Kontakt mit Menschen in englischsprachigen Ländern per Mail oder Videochat, teils auf der Grundlage des Studiums von online zugänglichen Quellen, Archiven, Äußerungen und Dokumenten. Wie man erkennt, müssen die ethnographischen Kompetenzen von Fremd‐ sprachenlehrer/ innen zweifacher Art sein: Sie müssen sich gleichermaßen auf die Lebenswelt der Lernenden (auch die der Lehrperson selbst) wie auf die zahlreichen fremdsprachigen Kulturen und Subkulturen richten. Und so ist auch die damit verbundene fremdsprachige Diskursfähigkeit stets mehrfacher Natur: Als kulturelle go-betweens müssen Fremdsprachenlehrer/ innen an die le‐ bensweltlichen Diskurswelten der Lernenden anschließen können, andererseits müssen sie mit den verschiedensten Diskursen in fremdsprachigen Kulturen vertraut sein; und schließlich müssen sie transkulturelle und globale Prozesse erkennen und über verschiedene Kulturen hinweg verhandeln können. 3 Ethnographie als lebensweltbezogene Forschung und Grundlage des Unterrichts Eigentlich muss man nicht betonen, dass das kulturelle Wissen der Lehrenden von der Lebenswelt der Lernenden ein Dreh- und Angelpunkt aller pädagogi‐ schen Anstrengungen in der schulischen Bildung und ihrer bildungstheoreti‐ schen Grundlegung ist. Diese Setzung findet sich in kondensierter Form im etablierten Prinzip der Lernendenorientierung. Dazu sind jedoch gesicherte Erkenntnisse und weitreichende Annahmen über die Verfasstheit der gegen‐ wärtigen und der zukünftigen Lebenswelten der jungen Generation, über deren Lebensweisen und Fähigkeiten und die Stellung des Individuums in den Gesellschaften des 21. Jahrhunderts erforderlich. Selbst entwickelte Bildungs‐ theorien sind in ihren Gesellschaftsdiagnosen jedoch empirisch oft nicht gut abgesichert oder in ihren Beschreibungen so abstrakt, dass sie noch nichts über das tatsächliche Leben der Individuen im Klassenzimmer aussagen. Außer der Herkunft oder dem Hintergrund bestimmen viele andere lebensweltliche Bezugsgrößen das schulische Lernen. Für eine substanzielle Lernendenorientie‐ rung sind Kenntnisse über die soziale Situierung und das Bildungsinteresse des Elternhauses, religiöse und weltanschauliche Orientierungen sowie damit verbundene ethische, soziale und kulturelle Normen (heute oft individualisiert und gerade nicht auf einfache Weise an die kulturelle Herkunft gekoppelt), Lebensstile (life styles) und subkulturelle Zugehörigkeiten (mit ihren eigenen, von außen schwer durchschaubaren Denk-, Lebens- und Sprechweisen) erfor‐ 147 Ethnographische Forschung als professionelle Kompetenz derlich. Darüber hinaus aber sind gerade in einem auf Kommunikation zielenden Unterricht die sozialen, kommunikativen und medialen Praktiken von großem Interesse, die das Alltagsleben der jungen Menschen bestimmen und auf die sie das zu Lernende und das Gelernte stets beziehen. Inhalte und Verfahren, die das unberücksichtigt lassen, laufen Gefahr, nicht Bestandteil des aktiven Lernens zu werden und gerade die Formen und Formate auszulassen, mit denen die Lernenden vertraut sind. Es wird also deutlich, dass die Lehrer/ innenbildung aufgrund der großen Dynamik gesellschaftlicher und medialer Transformationsprozesse zukünftige Lehrer/ innen nicht einfach mit einem Wissensvorrat über die Lebenswelt, die Vielfalt der kulturellen Phänomene und die Denk- und Verhaltensweisen der Lernenden ausstatten kann. Eine zentrale Frage für alle lernendenorientierten Ansätze lautet daher: Auf welche Weise gelangen Lehrer/ innen eigentlich zu einem fundierten, verlässlichen, besser systematisierten Wissen über die Gesellschaften, über die Lebenswelt der Lernenden und über die communities, in denen sich bewegen? Man erkennt, dass statt eines vorgefertigten Wissens viel eher die Fähigkeit verlangt ist, Gesellschaften und Lebenswelten selbst zu studieren und sich auf diese Weise kulturelles Wissen beständig neu anzueignen. Eine solche konkrete Erforschung von Lebenswelten, sowohl der eigenen als auch der fremdsprachigen, die auf eine systematischere (vs. rein intuitive) Beschreibung und Erklärung, auf tieferes kulturelles Verstehen und auf eine kritische Reflexion angelegt ist, ist auf ethnographische Verfahren angewiesen. Ein solches lebensweltbezogenes ethnographisches Wissen kann nur im stän‐ digen Kontakt und Austausch mit den Lernenden selbst gewonnen werden und muss, wenn es gesichert und nicht bloß impressionistisch sein soll, systematisch erforscht werden. Daher müssen Lehrer/ innen die Fähigkeit der ethnographi‐ schen Beobachtung und des eigenen kulturellen Lernens in der unmittelbaren täglichen Unterrichtsinteraktion erlernen und besitzen. Zum anderen folgt daraus, dass alles kulturelle Wissen das Ergebnis von Aushandlungsprozessen in der Interaktion mit den Lernenden selbst, aber auch mit anderen schulischen Akteur/ innen ist, mit den Kolleginnen und Kollegen, mit Eltern, mit Bildungs‐ experten, durch das Studium journalistischer oder wissenschaftlicher Literatur und, natürlich, auch durch eigene (ethnographische! ) Beobachtungen in den zahlreichen eigenen lebensweltlichen Kontexten. Ein Feld, das nicht selten durch Impressionen und vorschnelle Annahmen charakterisiert wird, ist die große Bandbreite und Dominanz digitaler Praktiken im sozialen Verhalten und in der Alltagskommunikation. Die Auswirkungen dieser Praktiken auf die generelle Verfasstheit der Kultur sind so substanziell, dass Stalder (2016) mit Blick auf die Orientierungen, auf neue Formen der 148 Wolfgang Hallet Gemeinschaftlichkeit und auf algorithmische Praktiken von der Digitalität der Kultur spricht, zu der man gewiss noch die Visualität der Kommunikation hinzufügen muss (vgl. The New London Group, 2000, S. 9). Zum genaueren Verständnis der Kultur der Digitalität sind allgemeine Annahmen über die Mediennutzung und die damit verbundenen Kompetenzen und Praktiken nur bedingt nützlich. Denn einerseits ist das gesamte Nutzungsverhalten ständigen Änderungen unterworfen und die digitalen Formate ändern sich selbst sehr rasch. Zum anderen sitzen in jeder Lerngruppe Persönlichkeiten, deren Nut‐ zungsverhalten und deren Einstellungen individuell stark variieren können. Auf jeden Fall lassen sich unter dem Gesichtspunkt digitaler Praktiken eine Vielzahl von Phänomenen erkennen, die es wert sind, genauer erforscht, erklärt und kritisch betrachtet zu werden. So können die Lernenden als Forschende unter bestimmten, vorher zu definierenden Gesichtspunkten die eigenen social networks-Praktiken oder die ihrer peers dokumentieren, erklären und bewerten. Zu diesem Feld gehört auch die große Vielfalt der Plattformen und Formate, in denen die jungen Menschen, oft mit wechselnden Vorlieben, Formen der Gemeinschaftlichkeit und der Kommunikation entwickeln, oft auch Formen der visuellen Kommunikation wie auf der Instagram-, der Twitter- oder der TikTok-Plattform. Es bietet sich an, für auf diese Entwicklung zielende kulturexplorative Untersuchungen eine komplexe Aufgabe zu entwickeln (ein Beispiel bei Haß & Kroschewski, 2012). Dem Frage- und Forschungsinteresse der Lernenden sind hier kaum Grenzen gesetzt, weil digitale Formen und Praktiken der Kommunikation und der Wissensgenerierung (z. B. in Online-Archiven und Datenbanken) allgegenwärtig sind. Im Unterricht bieten sich zwei Wege an, dieses Feld gemeinsam mit den Lernenden zu erforschen: Zum einen können mit den Lernenden Forschungs‐ fragen entwickelt werden, die das soziale Feld oder die Gruppe und den Forschungsgegenstand definieren, die Art der zu gewinnenden Erkenntnisse festlegen und Formate für die Ergebniskommunikation vereinbaren (zu den einzelnen Forschungsschritten vgl. Legutke, 2020). Zum anderen können digi‐ tale Zielformate als Produkte einer komplexen Forschungsaufgabe bestimmt werden, sodass die Lernenden ihre Kompetenzen auf dem Feld der digitalen Präsentation und Kommunikation erproben und weiterentwickeln können (vgl. Hallet, 2020). Ein solches Format kann beispielsweise ein Themenheft eines digitalen teen magazine sein, in dessen Gestaltung die jungen Menschen ihre Fähigkeiten und Kenntnisse in der multiliteralen Kommunikation, ihre persönlichen Schwerpunktsetzungen in der lebensweltbezogenen Forschung, aber auch die eigenen Stile und ästhetischen Gestaltungsweisen einfließen 149 Ethnographische Forschung als professionelle Kompetenz lassen können - alles in der Fremdsprache. Auf diese Weise kann auch das große Feld der Digitalität zum Bestandteil der fremdsprachigen Diskursfähigkeit werden. Eine solche Art des ethnographischen Lernens im Fremdsprachenunterricht löst das Postulat der Lernendenorientierung bestens ein, stellt es doch die Er‐ fahrungen, die Wissensgenerierung und die sozialen, medialen und kulturellen Praktiken der Lernenden selbst sowie die Reflexion darüber in den Mittelpunkt des Lernens. Die Befähigung zu dieser Art des Denkens und Verstehens nimmt die Lernenden als kulturelle Subjekte und als citizens ernst, die in der Lage sind, gesellschaftliche Prozesse und kulturelle Entwicklungen, in die sie involviert sind, kritisch zu betrachten und selbst aktiv mitzugestalten. Zugleich können solche Lernaktivitäten ein Bestandteil des beständigen ethnographischen Ler‐ nens der Lehrer/ innen sein, wenngleich diese stets auch wissenschaftliche und systematisierende Literatur hinzuziehen müssen, um gute Aufgaben entwickeln und die Lernenden kompetent anleiten zu können. 4 Ethnographie als kulturelle Forschung Ein breites Feld der kulturellen Forschung betrifft die Entwicklungen und Gegebenheiten in den fremdsprachigen Gesellschaften. Es ist offensichtlich, dass im universitären Studium dieser Kulturen jeweils nur eine kleine Aus‐ wahl und sehr begrenzte Ausschnitte sichtbar gemacht werden können. Hinzu kommen sich ändernde Bedingungen in den fremdsprachigen Gesellschaften, die gegenwärtig häufig politischer Natur sind und die, wie die Ära Trump in den USA oder der Brexit in Großbritannien, noch vor zehn Jahren nicht absehbar waren. Da es sich um einschneidende Änderungen handelt, die sogar die Demokratie als System betreffen, ist es nicht mit ein paar Materialien für die Hand der Lernenden getan; vielmehr handelt es sich auch um das tiefere Verstehen der Ursachen und Auswirkungen solcher Entwicklungen, die die Frage der eigenen politischen Einstellung dazu bis hin zum persönlichen politischen Engagement aufwerfen. Auch solche Entwicklungen eignen sich für die Erforschung durch die Schüler/ innen und ihre Lehrer/ innen im Sinne der ursprünglichen klassischen Ethnographie als Methode der Erforschung von Kulturen in der Anthropologie: Im Rahmen einer Online-Ethnographie lassen sich z. B. die Einstellungen von Jugend‐ lichen zu den populistischen Diskursen erforschen, wie sie derzeit in Donald Trumps USA ebenso wie durch Ukip in Großbritannien, den Front National in Frankreich und die AfD in Deutschland sozial und kulturell stark polarisieren. (König, 2020, S. 519) 150 Wolfgang Hallet Die Schüler/ innen können darauf Bezug nehmende fremdsprachige Äuße‐ rungen von Bürger/ innen der betroffenen Staaten oder ihrer Verbündeten (in beiden Fällen der Europäischen Union) „auf ihre verschiedenen Bedeutungs‐ ebenen“ hin analysieren, „um so die kulturellen Sinnkonstruktionen hinter den politischen Einstellungen nachvollziehen zu können“ (König, 2020, S. 519). Ein zweites Beispiel ist ein popkulturelles Ereignis in Ghana, anhand dessen J. Jacovini zeigt, dass sich die ethnographische Methode auch zur Erforschung jüngster Entwicklungen in einer englischsprachigen afrikanischen Gesellschaft eignet. Das Afrochella-Festival in Accra, der Hauptstadt Ghanas, wurde im De‐ zember 2017 zum ersten Mal als Musik-, Mode- und Kulturfestival veranstaltet und ist schon jetzt so erfolgreich, dass es weltweit ausstrahlt und die ghanaische Regierung es auch dazu nutzt, um unter emigrierten Ghanaer/ innen für die Rückkehr in ihr Herkunftsland zu werben. In Jacovinis (2020) Beispiel zielt das Einüben ins ethnographische Forschen auf das Erstellen eines „promotional flyer for the festival that makes readers interested in West African culture and way(s) of life” ( Jacovini, 2020, S. 10) als Zielprodukt. Diese Erforschung eines kleinen Ausschnitts einer afrikanischen Kultur und Gesellschaft anhand eines pop events, das für die Lernenden ebenso wie für ihre Lehrer/ innen (jedenfalls in ihrer großen Zahl) neu ist, kann als para‐ digmatisch verstanden werden: Durch diese kleine Studie kann sehr viel über die Gegenwart Ghanas in Erfahrung gebracht werden bis hin zur Emigration und Remigration ghanaischer Bürger/ innen, aber auch zur Produktivität, Kreativität und Attraktivität seiner Kultur, sodass damit auch gängigen Stereotypen in Vorstellungen zu Afrika entgegengewirkt werden kann. Natürlich ist auch vorstellbar, dass in einem einzigen Unterrichtsprojekt mehrere solche kleine Fallstudien kombiniert werden, sodass ein breiteres und diverseres Bild von der ghanaischen Gesellschaft entsteht, auch mit kritischen Seiten wie z. B. denen der Kinderarbeit, die F. Matz in den Mittelpunkt eines forschenden Vorschlags stellt (vgl. Matz, 2017). Das Studium von Kinderbiogra‐ phien (auch in Videos) oder von Kampagnen gegen Kinderarbeit mündet in einer Petition als Zielaufgabe. Vorschläge für die ethnographischen tools, die sie einsetzen möchten, sollten die Schüler/ innen selbst machen. 5 Ethnographie als fremdsprachendidaktische Praxisforschung: Aufgaben und Unterrichtsentwicklung In der Fremdsprachendidaktik als wissenschaftlicher Disziplin sind ethnogra‐ phische Methoden seit Langem zum Zweck der empirischen und systematisie‐ renden Unterrichtsbeobachtung und -forschung etabliert (vgl. z. B. van Lier, 151 Ethnographische Forschung als professionelle Kompetenz 1988, S. 37ff.; Dörnyei, 2007, S. 129ff.; Teil 3 in Coffin et al., 2010; Kap. 5 in Caspari et al., 2016). Allerdings ist die wissenschaftliche Expertise in diesem klassischen Ansatz der Unterrichtsforschung in der Regel und oft ausdrücklich mit externer wissenschaftlicher Expertise und Forschung verbunden. Erst in jüngerer Zeit wurden für die empirische Unterrichtsforschung partizipative Formen als forschende Zusammenarbeit von Lehrer/ innen und Forscher/ innen entwickelt. Unter dem Begriff der Aktionsforschung konnten dann auch Lehrer/ innen als Forscher/ innen verstanden werden, die durch ethnographische und autoethnographische Methoden (vgl. Choi, 2017) wissenschaftliche Erkennt‐ nisse über ihren Unterricht, die Lernprozesse oder die Lernenden gewinnen konnten (vgl. Leitch & Day, 2000; Caspari, 2016b, S. 72ff.; Benitt, 2020). In dem hier vorgeschlagenen Ansatz kommt es darauf an, dass die Lehrer/ innen sich genau in diesem Sinne als Forscher/ innen aus eigenem Recht verstehen. Darauf zielt ein größeres Bund-Länder-Forschungsprojekt zur Bega‐ bungserkennung und -förderung („Leistung macht Schule“ - LemaS), in dem die Lehrer/ innen in die Lage versetzt werden sollen, die Begabungen der Schüler/ innen ihrer Lerngruppe in der gesamten Bandbreite denkbarer Begabungen mittels komplexer Aufgaben zu entdecken und zu fördern (vgl. im Einzelnen Hallet & Schäfer, 2020). Einerseits entwickeln die Lehrer/ innen also - meist in Teams - komplexe Auf‐ gaben, die geeignet sind, die Begabungen der Schüler/ innen einer Lerngruppe zu aktivieren und sichtbar zu machen (auch für die Lernenden selbst). Diese Eignung wird dann evaluiert, zum Teil durch gegenseitige Hospitation oder den Austausch von Erfahrungen, aber auch durch die Rückmeldungen von Schüler/ innen, die auch systematisch erhoben werden können. Zum anderen wird in kollaborativer Arbeit mit den Lehrer/ innen ein Kategoriensystem erprobt und weiterentwickelt, das der Identifizierung einer breiteren Palette von Begabungen und der Erschaffung ganzheitlicher Persönlichkeitsbilder der Lernenden dient. Diese beiden Ziele erfordern also den Einsatz ethnographi‐ scher tools durch eine/ n wissenschaftliche/ n Partner/ in im Projekt oder durch Kolleg/ innen vom Fach: field notes, thick description, Lehrer/ innen-Interviews, Schüler/ innen-Evaluation und -Feedback; Unterrichts-Videographie (auch auf Lernendenseite; vgl. Abendroth-Timmer, 2020); Analyse der Schüler/ innenar‐ beit und der Aufgabenprodukte; Schüler/ innen-Interviews zu den Erfahrungen in der Arbeit mit der komplexen Aufgabe. Um autoethnographische Methoden mit den entsprechenden tools handelt es sich, wenn die Lehrer/ innen ihre eigene Unterrichtspraxis und -arbeit zum Ge‐ genstand der Forschung machen. In jedem Fall ist das forschend-systematische Beobachten und Evaluieren des Unterrichts ein Bestandteil der Entwicklung der 152 Wolfgang Hallet didaktischen Kompetenzen der Lehrkräfte, deren Ziel die Aufgabenentwicklung und die Entwicklung eines Unterrichts ist, der die Leistungspotenziale aller Lernenden zur Geltung bringen und Räume der Begabungsentfaltung schaffen kann. 6 Ethnographisches Forschen als didaktische Kompetenz Wenn ethnographische Verfahren wie vorgeschlagen und beschrieben ein inte‐ grierter Bestandteil des professionellen Handelns werden, ergeben sich daraus mehrere Wirkungen, die sich wie folgt formulieren lassen: • Nur eine kontinuierliche kulturelle Forschung kann gewährleisten, dass kulturelle und technologische Veränderungen sowie der damit verbun‐ dene kommunikative und soziale Wandel Eingang in den Unterricht finden und Gegenstand der schulischen Bildung werden. • Die ethnographische Forschung stellt den Unterricht aufgrund der sys‐ tematisierten Lernendenorientierung und des immerzu aktualisierten kulturellen Wissens auf eine neue Grundlage. Diese wird von den Lehrer/ innen selbst bestimmt und in kollaborativer Form mit den Lernenden zusammen erarbeitet. • Diese Art der kollaborativen Forschung von Lehrer/ innen gemeinsam mit ihren Lerndenden macht das Lernen zu einer gemeinsamen explorativen Erforschung der Lebenswelt und der fremdsprachigen Gesellschaften. Neugier und gemeinsamer Forschungswille verbinden die Lernenden und ihre Lehrkräfte. • Eine forschende Unterrichtspraxis bestimmt das Verhältnis von Wissen‐ schaft und Unterrichtspraxis neu. Es gibt kein Theorie- oder Designgefälle von den Wissenschaften zur schulischen Praxis mehr, sondern Wissen‐ schaft und Unterricht entwickeln sich gegenseitig auf Augenhöhe weiter und integrieren sich gegenseitig in ihre jeweiligen Domänen. Letztlich ist die Hoffnung, dass sich durch ein solches Verständnis von for‐ schender Praxis und von praxisbasierter Forschung der Unterricht zum Nutzen der Lernenden weiterentwickelt. Deren Lernprozesse werden nunmehr zu For‐ schungsprozessen, in denen sie als kulturelle Akteure selbst die Welt erforschen. 153 Ethnographische Forschung als professionelle Kompetenz Literatur Abendroth-Timmer, Dagmar (2020). Videografie. In Wolfgang Hallet, Frank G. Königs † & Hélène Martinez (Hrsg.) Handbuch Methoden im Fremdsprachenunterricht (S. 522-524). Hannover: Friedrich - Klett Kallmeyer. Benitt, Nora (2020). Aktionsforschung. In Wolfgang Hallet, Frank G. Königs † & Hélène Martinez (Hrsg.) Handbuch Methoden im Fremdsprachenunterricht (S. 513-517). Hannover: Friedrich - Klett Kallmeyer. Berger, Maike & Dreßler, Constanze (2017). Autoethnographie, Fremdsprachendidaktik, Professionalisierungsprozesse. Können Nachwuchswissenschaftler_innen durch au‐ toethnographische Analysen eigene Professionalisierungsprozesse anstoßen? In Maike Berger & Constanze Dreßler (Hrsg.) Autoethnographien zur Professionalisierung des wissenschaftlichen Nachwuchses (S. 13-24). Tübingen: Narr. 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Legutke Der Beitrag skizziert Forschungsperspektiven, die sich durch das weltweit angebotene Fort- und Weiterbildungsprogramm Deutsch Lehren Lernen des Goethe-Instituts für die fremdsprachendidaktische Lehr- und Professionsfor‐ schung ergeben. Zugleich werden Traditionslinien der Fortbildungsansätze des Goethe-Instituts nachgezeichnet, die sich in einer Reihe von Prinzipien handelnden und forschenden Lernens manifestieren. Letztere werden als Orientierungsrahmen für einen forschenden Zugriff auf die Praxis der Fort- und Weiterbildung präsentiert. Bezugspunkt des Beitrags ist der Kongress 10 Jahre Deutsch Lehren Lernen im September 2020. 1 Das Forschungsfeld Lehr- und Professionsforschung Nimmt man die Forschung der letzten 20 Jahre in diesem Feld in den Blick, dann fällt ein gestiegenes Interesse an der Lehrperson auf. Lange bevor in Deutschland die Qualitätsoffensive Lehrer*innenbildung (vgl. BMBF, 2015) und die Metastudien Hatties (2008) die systematische Befassung mit Fragen der Lehrperson und ihrer (Aus)Bildung beflügelten, hat Daniela Caspari in Anleh‐ nung an das Forschungsprogramm Subjektive Theorien herausgearbeitet, welche Schlüsselstellung dem beruflichen Selbstverständnis der Lehrkräfte zukommt. Sie zeigt, dass Überzeugungen sowie lern- und berufsbiographische Aspekte nicht nur das Selbstverständnis der Lehrperson prägen, sondern auch die Wahr‐ nehmung von Unterricht und damit letztendlich das unterrichtliche Handeln (vgl. Caspari, 2003). Die Beschäftigung mit der Frage, „[was] in den Köpfen von Fremdsprachenlehrer(innen) vorgeht“ (Caspari, 2014, S. 20) und wie diese Innensicht der Lehrenden mit ihrem Handeln im Unterricht zusammenhängt, 1 https: / / www.goethe.de/ de/ spr/ unt/ for/ dll.html [17.11.2020]; Legutke & Rotberg 2018 wie sich solche Zusammenhänge beschreiben und verstehen lassen, gehört mittlerweile zu einer der Kernaufgaben in diesem Forschungsfeld, nicht zuletzt auch deshalb, weil sich aus den Antworten auf die Frage Konsequenzen für die Professionalisierung ergeben. Casparis Arbeiten stehen hier stellvertretend für eine Reihe weiterer Studien, die diese Aspekte erkunden. Sie repräsentieren zudem nur einen Schwerpunkt in einem in den letzten 20 Jahren breiter gewordenen Forschungsfeld (vgl. Gerlach, 2020, S. 58-67; Legutke & Schart, 2016). Betrachtet man die fremdsprachendidaktische Forschung zur Lehrperson und ihrer Professionalisierung in ihrer Gesamtheit, dann fallen drei Teilbereiche auf, die bisher nur in Ansätzen Berücksichtigung fanden. Alle drei verdienen größere Aufmerksamkeit. Hier ist erstens die Praxis universitärer Lehrer*innenbildung zu nennen. Die dort handelnden Lehrpersonen, die von ihnen inszenierten Lehr- und Lernformen in Verbindung mit den fachdidaktischen Inhalten und anvisierten Kompetenzen zukünftiger Lehrkräfte sind nach wie vor so gut wie nicht erforscht. Die Vertreter*innen der Fremdsprachendidaktik haben ihre originäre Handlungspraxis bisher weitgehend aus der Forschung ausgeblendet. Das zweite Desiderat betrifft den sogenannten Vorbereitungsdienst, eine Schlüs‐ selphase der Lehrer*innenbildung in Deutschland. Bildungswissenschaftliche Studien sind hier dünn gesät. Für die Fremdsprachendidaktik hat erstmals David Gerlach mit seiner Studie Zur Professionalisierung der Professionalisier‐ enden (2020) zu diesem Aspekt einen professionstheoretisch fundierten und empirisch validierten Beitrag geleistet. Der Studie kommt eine Pionierfunktion zu, denn sie nimmt die Personen in den Blick, die als Fachleiter*innen bzw. Ausbilder*innen die Professionalisierung zukünftiger Fremdsprachenlehrkräfte im Vorbereitungsdienst (LiV) verantworten. Drittens schließlich ist die fremd‐ sprachendidaktische Fortbildung von Lehrkräften zu nennen. Auch für dieses Arbeitsfeld ist bemerkenswert, dass die Praxis der dort Handelnden und die Wirkung der Programme nur in Ansätzen empirisch untersucht wurde. Das gilt besonders auch für international operierende Institutionen wie die Zentrale für das Auslandsschulwesen des Bundesverwaltungsamtes und das Goethe-Institut, die Organisation mit dem höchsten Aufkommen an Fortbildungsstunden und Teilnehmenden weltweit für das Fach Deutsch als Fremdsprache. Im Folgenden sollen mit Bezug auf das weltweit genutzte Fort- und Weiter‐ bildungsprogramm Deutsch Lehren Lernen (DLL) des Goethe-Instituts 1 zunächst dem Programm zugrundeliegende Prinzipien erörtert und daran anschließend einige Forschungsperspektiven für dieses dritte Arbeitsfeld vorgestellt werden. 158 Michael K. Legutke 2 Bis zum September 2020 haben laut Logdaten des Goethe-Instituts 30 000 Personen weltweit an DLL-Kursen teilgenommen. 560 Tutor*innen führen solche Kurse durch und wurden für ihre Tätigkeit qualifiziert. 3 1. Lehrkompetenz und Unterrichtsgestaltung (2012), 2. Wie lernt man die Fremdsprache Deutsch? (2013), 3. Deutsch als fremde Sprache (2014), 4. Aufgaben, Übungen, Interaktion (2014), 5. Lernmaterialien und Medien (2014), 6. Curriculare Vorgaben und Unterrichts‐ planung (2013). 2 Rückblick auf zehn Jahre Deutsch Lehren Lernen: Prinzipien „wirksamer“ Lehrer*innenfortbildung Unter dem Motto „10 Jahre Deutsch Lehren Lernen“ veranstaltete das Goethe-In‐ stitut in Zusammenarbeit mit der Friedrich-Schiller-Universität Jena und dem Klett Verlag im September 2020 einen Kongress, um Bilanz zu ziehen und Perspektiven für die Zukunft der Lehrer*innenfortbildung DaF zu erörtern (vgl. Goethe-Institut, 2020). Mit über 1000 Anmeldungen aus 91 Ländern unterstrich der Kongress die weltweite Nutzung des Programms, das auch Eingang in die Ausbildung zukünftiger Lehrkräfte gefunden hat. 2 DLL richtet sich an Deutschlehrende im Ausland, die im Primarbereich in der Sekundarstufe und in der Erwachsenenbildung (Sprachenschulen, Goethe-In‐ stitute und Universitäten) tätig sind. Da die thematischen Einheiten 3 in unter‐ schiedlichen Medienformaten angeboten werden, können diese entweder nur online, im Blended-Learning-Format oder in klassischen Präsenzseminaren bearbeitet werden. Eine Zertifizierung erbrachter Arbeitsleistungen und nach‐ gewiesener Kompetenzen nach dem Modell des europäischen ECTS-Systems ist vorgesehen. Der fortbildungsdidaktische Ansatz schreibt Prinzipien konsequent fort, die bereits den konzeptionellen Rahmen früherer Fortbildungsansätze des Goethe-Instituts ausmachten. Er berücksichtigt aber auch neuere professions‐ theoretische Ansätze sowie fremdsprachendidaktische Forschungen und setzt damit neue Akzente. Eines der auf dem Kongress bearbeiteten Themenfelder war der Frage nach der Wirkung DLL-basierter Fort- und Ausbildung gewidmet. Ziel des Themen‐ feldes war es, erste Forschungsansätze im Umfeld von DLL zu bündeln und Perspektiven für weitere Forschung zu entwickeln. Die Arbeit des Themenfeldes orientierte sich dabei an den Leitprinzipien, die der Entwicklung der ersten sechs Basiseinheiten von DLL zugrunde lagen und mit denen sich klare Vorstellungen über Fortbildungspraxis verbanden und Erwartungen an die Wirkungen des Programms verknüpften. Konzeption und Realisierung von DLL knüpfen an Diskursen und Prak‐ tiken an, die bis in die 1990er Jahre zurückreichen, als das Goethe-Institut 159 Fremdsprachendidaktische Professionalisierung - Prinzipien & Forschungsansätze die ersten Lieferungen eines Handbuchs Fortbildung veröffentlichte, das Fortbildungszenarien aus aller Welt sammelte und für die Praxis anbot (vgl. Goethe-Institut, 1995). Ziel der Initiative war es, eine Wende in der Fortbildungspraxis einzuleiten, die bis dahin noch sehr stark von Top-down Modellen bestimmt war. Angereiste oder entsandte Expert*innen vermittelten neue fachdidaktische Erkenntnisse mit der Erwartung, Lehrer*innen würden diese in neue Praxis übersetzen. Demgegenüber galt es eine veränderte, kontextsensible und teilnehmerorientierte Praxis zu entwickeln. Dazu sollten die Szenarien des Handbuchs helfen, die von Fortbildenden vor Ort entwickelt und erprobt worden waren und durch die ein Dialog über Fortbildungspraxis angestoßen werden sollte. Flankiert und begründet wurde diese Initiative von zehn Leitprinzipien für gute Fortbildung, präsentiert in der Einleitung des Handbuchs (vgl. Legutke, 1995). 25 Jahre nach ihrem Erscheinen und im Licht der Erfahrungen mit DLL lohnt es sich, diese Prinzipien nochmals zu beleuchten. Es wird sich nämlich zeigen, dass diese mit modifizierten und deutlich akzentuierten Fokussierungen einen Orientierungsrahmen für die Bestimmung von Forschungsperspektiven bieten. Gegen die Top-Down-Praxis von Fortbildung in den 1990er Jahren wurde eine Orientierung am Potenzial der Deutschlehrkräfte gefordert. Lehrer*in‐ nenfortbildung müsse sich dezidiert auf das einlassen, was Deutschlehrende mitbringen. Das gelte es weiterzuentwickeln, anstatt zu betonen, was sein sollte, was sich Lehrkräfte neu aneignen müssten. Würde diese Orientierung am Potential missachtet, bestehe die Gefahr, dass Lehrer*innenfortbildung Defizitgefühle stärkt, anstatt Selbstbewusstsein zu entwickeln. Die konkrete Praxis der Lehrkräfte erscheine dann leicht als minderwertig. Lokales Wissen werde entwertet. Damit wirke Lehrer*innenfortbildung kontraproduktiv. Diese Grundüberzeugung schreibt auch die Konzeption von DLL fort. Erst eine Orientierung am Potential, so die Argumentation, schaffe die Bedingungen für die Aufnahme von Neuem, die am ehesten dann erfolgen kann, wenn Fortbildung einen Perspektivenwechsel anstößt, wenn es gelingt, dass Deutschlehrende das so Vertraute, den eigenen Unterricht von einem neuen, distanzierenden Blick sehen, wenn es möglich wird, das oft routinisierte und zugleich höchst komplexe Unterrichtsgeschehen für einen Moment anzuhalten, Aspekte zu betrachten, Fragen zu stellen. Die Verunsicherung, die mit einer neuen Perspektive verknüpft sein könnte, kann nur dann ausgehalten und produktiv gewendet werden, wenn sich die Lehrenden des eigenen Könnens sicher sind. Wenn das Neue sie nicht in ihrem Selbstverständnis grundlegend erschüttert. In modifizierter Form verstärkt DLL diese Intentionen durch die 160 Michael K. Legutke Aufgaben zu den thematischen Einheiten und die Konzeption der Praxiserkun‐ dungsprojekte, von denen noch die Rede sein wird. Die Einleitung des Handbuchs Fortbildung nennt dann das Prinzip der Pro‐ zessorientierung. Lehrer*innenfortbildung müsse Lernerfahrungen ermögli‐ chen, die zur Anwendung im Unterricht herausfordern. Dazu bedürfe es einer Seminarmethodik, die Probehandeln simuliert und damit Erprobungen anbahnt. Mit der Prozessorientierung ist zugleich das Prinzip der Kontinuität aufgerufen. Lehrer*innenfortbildung müsse kontinuierlich und geduldig sein, denn Entwicklung und damit Veränderungen brauchen nicht nur Zeit, son‐ dern vollziehen sich in kleinen Schritten. Es sind genau die kleinen Schritte, die als Indikatoren guter Fortbildung gelten müssten. Solche Veränderung in kleinen Schritten findet vor allem dann Verstärkung und Unterstützung, wenn sie in Kooperation mit anderen vorbereitet und begleitet wird. Folglich wird dem Prinzip der Kollegialität eine zentrale Funktion für die Professionalisie‐ rung durch Fortbildung zugewiesen. Die beiden letzten Prinzipien wenden sich gegen eine Fortbildungspraxis, die von unverbundenen Einzelangeboten lebt, ohne nach ihren Folgen zu fragen und sich für mögliche Wirkungen zu interessieren. Hier versucht die Praxis von DLL ein starkes Gegengewicht zu schaffen. Geprägt vom Fachdiskurs am Ende der 1990er ruft das Prinzip des Fremd‐ verstehens die Frage auf, ob und inwieweit es der Lehrer*innenfortbildung gelingt, sich im Spannungsfeld unterschiedlicher Kulturen und pädagogischer Wertsysteme zu definieren, wie sie es schafft, partnerschaftliche und kollegiale Diskurse zu ermöglichen und nicht Norm setzende Konzepte von Unterricht zu propagieren und zu exportieren. Eine ganz besondere Herausforderung, der sich Institutionen wie das Goethe-Institut stellen müssen und eine besondere Herausforderung für DLL. Implizit ist hier die Bedeutung fremdsprachendidaktischer Forschung und theoretischer Konzepte angesprochen, welche das Prinzip der theoretischen Fundierung aufruft. Eine partnerschaftliche, kollegiale Fortbildungspraxis, die Lehrenden hilft, ihr Potenzial weiterzuentwickeln und Mut macht, Neues zu versuchen, kann auf eine theoretische Fundierung ihrer Arbeit nicht ver‐ zichten. Es wird vielmehr entscheidend darauf ankommen, wie es gelingt, die Theorien der Deutschlehrenden, ihre Konzepte und Überzeugungen über ihren eigenen Unterricht ernst zu nehmen und wie letztere in Austausch mit Wissensbeständen kommen können, die die Fremdsprachendidaktik anbietet. Externes Expertenwissen ist für die Lehrer*innenfortbildung unverzichtbar. Die Herausforderung, die damals im Zusammenhang der Handbuchinitiative tref‐ fend formuliert wurde, bleibt. Geht es doch um die Frage, wie es zu produktivem 161 Fremdsprachendidaktische Professionalisierung - Prinzipien & Forschungsansätze Austausch in der Fortbildung und zu wirklichen Lernpartnerschaften kommen kann. Schließlich hebt die Einleitung des Handbuchs die Kontextsensibilität als unverzichtbares Gütekriterium von Fortbildung hervor. Wie Unterricht, so bedarf die Lehrer*innenfortbildung vieler lokaler Lösungen. Universalmodelle, die von Zentralen erdacht werden, sind deshalb wenig hilfreich. Diese Prinzipien spiegeln den Forschungs- und Erfahrungstand zu Ende des letzten Jahrtausends wieder (vgl. Ehlers & Legutke, 1998) und visierten eine dialogische Fortbildungsdramaturgie an, die als ESRA/ SERA (Erfahrung, Simulation, Reflexion, Anwendung) Modell bekannt wurde und verschiedene Variationen erlebte: Die Seminarmethodik zielte darauf, ausgehend von den kontextspezifischen und berufsbiographischen Erfahrungen der Lehr‐ kräfte, in der Fortbildung Selbsterfahrungen durch Unterrichtssimulation zu ermöglichen, diese in der Gruppe zu reflektieren und als Impulse für eine antizipierende Anwendung in der je konkreten Praxis zu nutzen. Das Modell sah für die Reflexionsphase die Integration fachdidaktischer Theorie als Vertiefung und Anstoß zum Weiterdenken vor (vgl. Legutke, 1995; Ziebell, 2006). Über die internen Evaluationsverfahren des Goethe-Instituts wurde eine Vielzahl von Erkenntnissen zu Stärken und Schwächen der Fortbildungsiniti‐ ative gewonnen, die sich in der Weiterentwicklung der Fortbildungsangebote niederschlugen. Die Fragen jedoch, ob und in welcher Weise die Prinzipien und das zugeordnete Seminarmodell die Seminarpraxis prägten, welche Wirkungen sie auf das Handeln der Fortbildenden, auf die Diskurse über Unterricht, auf die Vorstellungen sowie die Wahrnehmung von Unterricht, aber auch auf die Unterrichtspraxis der Teilnehmenden hatten und nicht zuletzt, in welcher Weise die Lernenden von der Fortbildung profitierten, alle diese Fragen wurden für die Fortbildungsarbeit des Goethe-Instituts nicht systematisch untersucht. Wohl aber konnte das Seminarmodell außerhalb des Goethe-Instituts in einer Weiterbildungsreihe zur Sprachsensibilisierung von Lehrpersonen in der beruflichen Qualifizierung empirisch validiert werden (vgl. Birnbaum et al., 2016). Festzuhalten bleibt, dass die Fortbildungsinitiative, für die das Handbuch exemplarisch steht, Teil eines dynamischen Prozesses war, der vor allem die Neuausrichtung der Professionalisierung von Deutschlehrenden zum Ziel hatte. Die Dynamik lässt sich an drei Entwicklungen festmachen: (1) Bis zum Jahr 2004 war das Handbuch auf drei Bände mit über 1000 Seiten angewachsen und stellte zum Ende des Projekts ein umfassendes Angebot an erprobten Fortbildungszenarien bereit, das nicht nur Schlüsselthemen 162 Michael K. Legutke 4 Weitere Einzelheiten zur Entwicklungsgeschichte von DLL in Legutke & Rotberg 2018; ferner siehe Key Note von Karin Ende & Hermann Funk zu „10 Jahre DLL“ (Goethe-Institut 2020). fachdidaktischer Lehrkompetenz abdeckte, sondern auch Vorschläge für die Fortbildung der Fortbildenden sowie den Aufbau regionaler Fortbildungs‐ netzwerke einschloss. Wie diese Szenarien tatsächlich in der Fortbildung genutzt wurden, welche Wirkung sie entfalteten, ist kaum dokumentiert und nicht untersucht worden. (2) Die Hinwendung zum Unterricht als zentralem Gegenstand von Fortbildung und die breite Verfügbarkeit von Videotechno‐ logie, die das komplexe Geschehen im Unterricht einer Beobachtung und Erörterung zugänglich machte, lösten innerhalb des Goethe-Instituts um die Jahrtausendwende einen Boom an Unterrichtsdokumentationen (UDOs) mit der Vorstellung aus, diese in einer unterrichtsorientierten Fortbildung zu nutzen. So vielversprechend die Initiativen waren, so schwierig stellten sich allerdings die Archivierung und der Einsatz der Videodaten heraus. Erst die digitale Revolution eröffnete nicht nur der systematischen Befassung mit dokumentiertem Unterricht neue Perspektiven, sondern auch der Erforschung von Fortbildung. (3) Schließlich entwickelte sich eine breite Debatte darüber, wie ein weltweites Fortbildungsangebot für Deutsch als Fremdsprache zu entwickeln und zu verwirklichen sei, das sowohl internationalen Ansprüchen an Zertifizierung als auch den Prinzipen einer prozess- und erfahrungsba‐ sierten Professionalisierung genügt. In dieser Debatte kam dem Beirat Sprache eine Schlüsselrolle zu. Eine gemeinsame Arbeitsgruppe von Mitarbeiter*innen des Goethe-Instituts und Mitgliedern des Beirats war es dann auch, die die Entwicklung des Fort- und Weiterbildungsprogramms DLL vorantrieb. Diesem Projekt gilt nun meine Aufmerksamkeit. 4 3 Unterrichtsbezug und reflektiertes Erfahrungslernen: Merkmale des Programms Deutsch Lehren Lernen Auch wenn bereits in den 1990er Jahren die Bedeutung der Unterrichtspraxis betont wurde, rücken die Einheiten von DLL das komplexe Geschehen des Deutschunterrichts von Anfang an in das Zentrum der Arbeit. Dazu dienen einerseits Aufgabenformate, die Lehrkräften helfen sollen, eigenen Unter‐ richt zu rekonstruieren, Vorstellungen über Unterricht zu artikulieren und vor allem auch mit anderen im Kontext der Fortbildung zu besprechen. Zum anderen bieten kurze videographierte Unterrichtsdokumentationen (UDOs) aus dem Deutschunterricht weltweit einen zentralen Lerngegenstand der Reihe. Diese Mitschnitte sind in den Online-Kursräumen auf der Lernplatt‐ 163 Fremdsprachendidaktische Professionalisierung - Prinzipien & Forschungsansätze form des Goethe-Instituts eingebunden oder werden über Datenträger zu den Printmedien angeboten. Die Unterrichtsdokumente bieten damit die Möglichkeit videobasierter und zugleich themenorientierter Arbeit in der Fortbildung. Was im Fortbildungskonzept der Handbuchinitiative unter dem Begriff Per‐ spektivenwechsel und im Seminarkonzept SERA/ ESRA als Reflexion gefasst wurde, erfährt in DLL eine signifikante Aufwertung im Prinzip des reflektierten Erfahrungslernens, dessen Entwicklung vor allem das Praxiserkundungsprojekt (PEP) dient, das jede DLL-Einheit abschließt. Mit der systematischen Praxis‐ erkundung als zentralem Professionalisierungsinstrument trägt DLL Erkennt‐ nissen Rechnung, die der Reflexion des eigenen Handelns im Unterricht und der Reflexion eigener Lernprozesse in der Fortbildung positive Auswirkungen auf den Prozess der Professionalisierung zuweisen (vgl. Abendroth-Timmer, 2017; Farrell, 2015; Gerlach, 2015). Zwar knüpft das Fortbildungskonzept von DLL an Traditionen der Aktions‐ forschung an, mit dem Begriff der Erkundung wird jedoch signalisiert, dass es sich bei dieser Tätigkeit nicht um eine Erforschung unterrichtlicher Phäno‐ mene und Zusammenhänge handelt, die in allen Belangen wissenschaftlichen Gütekriterien entspricht, wohl aber um ein systematisches, in den Berufsalltag integriertes Vorgehen, das die Aufmerksamkeit auf das lenkt, was im Unterricht passiert, das hilft wahrzunehmen, ob und wenn ja in welcher Weise bestimmte Aktionen Veränderungen in der Dynamik des Unterrichts auslösen und schließ‐ lich, was passiert, wenn Vorgehensweisen erprobt werden, die die Lehrperson in der Fortbildung kennengelernt, jedoch bis dahin nicht praktiziert hat (vgl. Legutke & Mohr, 2015). Da die PEPs dem Konzept nach in Teams realisiert werden und da die Erkenntnisse der Kleingruppen der Gesamtkohorte eines Kurses in Präsens- oder vergleichbaren Onlinephasen vorgestellt und mit allen Teilnehmenden erörtert werden, bieten sie den Raum für dialogisches Lernen auf mehreren Ebenen, nämlich sowohl in den Teams als auch in der Gesamtgruppe und nicht zuletzt mit den Tutor*innen (s. u.). Da die PEPs zudem in die Erörterungen der Themen, Konzepte und Fragestellungen der DLL-Einheiten eingebunden sind, die fachdidaktisches Wissen auf aktuellem Stand bündeln, besteht für die Lehrkräfte die Möglichkeit, ihre eigenen Vorstellungen über Unterricht und ihre Erklärungen für ihr konkretes Handeln zu überdenken, neu auszurichten und möglicherweise selbstbewusster (auch begründet) zu vertreten. Eben solche Prozesse können durch das dialogische Lernen initiiert und befördert werden. Die PEPs dürfen deshalb auch als Voraussetzungen zur theoretischen Fundie‐ rung professionellen Handelns gelten. 164 Michael K. Legutke Dem Prinzip des dialogischen Lernens zugeordnet ist das der professio‐ nellen Tutorierung. Die Tutor*innen agieren als Professionalisierende und übernehmen damit eine zentrale Rolle. Sie sind die Agenten des Dialogs, denn sie begleiten nicht nur die aufgabengesteuerte Bearbeitung der Inhalte, indem sie Rückmeldung geben und sich in Gruppendiskussionen einschalten, sondern moderieren die Arbeit mit den Unterrichtsdokumenten. Ferner sind sie beson‐ ders gefordert, wenn es um die Betreuung der PEPs geht. Schließlich obliegt es ihnen, den Austausch der Seminargruppe über die Einsichten der einzelnen Erkundungsprojekte zu ermöglichen und die von den Teams angefertigten Berichte („Fazits“) zu den Projekten zu würdigen. Dezidierter als frühere Fortbildungskonzepte des Goethe-Instituts ist DLL dem Prinzip der Nachhaltigkeit verpflichtet. Diese soll u. a. durch die über Einzelveranstaltungen hinausgehende, kontinuierliche Arbeit an den thema‐ tischen Einheiten und die Integration der PEPs ermöglicht werden. Letztere können, so die Erwartung, Nachhaltigkeit befördern, weil sie die Lehrkräfte anregen, im Dialog mit anderen ihre Vorstellungen und Theorien über Unter‐ richt wahrzunehmen und zu artikulieren, Unterrichtsprozesse zu verstehen und möglicherweise anders zu gestalten. Entscheidend für die Förderung und Stabilisierung solcher Prozesse der Professionalisierung ist die konsequente Ermöglichung gemeinsamen Lernens. Konzeption, Lernmaterialien und anvi‐ sierte Fortbildungspraxis von DLL zielen darauf, zunächst auf der Mikroebene des Kurses die Möglichkeiten gemeinsamen (dialogischen) Lernens zu nutzen in der Hoffnung, dass daraus den Kurs überdauernde Lerngemeinschaften entstehen. Solche Lerngemeinschaften für Professionalisierung, sofern sie denn ent‐ stehen, spiegeln die Vielfalt der unterschiedlichen Kontexte wider, in denen Deutsch gelehrt und gelernt wird. So wie das Handbuchprojekt der späten 1990er Jahre ein Versuch war, dieser Vielfalt Rechnung zu tragen, so spielte auch in der Debatte um die Entwicklung und Implementierung von DLL die Frage eine Rolle, in welcher Weise das Fort- und Weiterbildungsprogramm dem Prinzip der Kontextsensibilität, dessen Relevanz durchaus einleuchtet, gerecht werden kann. Es ging dabei unter anderem darum, wie flexibel das Material und die konkreten Arbeitsformen an regionale Bedingungen und Bildungskulturen adaptiert werden konnten. Der konsequente Unterrichtsbezug von DLL sowie die PEPs in Verbindung mit dem dialogischen Lernen werden als Möglichkeit gesehen, regionale wie individuelle Perspektiven zu fokussieren. 165 Fremdsprachendidaktische Professionalisierung - Prinzipien & Forschungsansätze 5 Weitere Informationen zu den Perspektiven finden sich unter http: / / forschung.id-keio.org / wp-content/ uploads/ 2020/ 12/ Einfuehrung-Themenfeld-II.pdf und unter Goethe-Institut 2020, Ergebnisse Themenfeld II (Wirksamkeit). 4 Forschungsperspektiven und Forschungsstand zu DLL 4.1 Forschungsperspektiven Die Behandlung der Prinzipien in den vorangegangenen Abschnitten erfolgte aus zwei Gründen. Zum einen konnten an ihnen die Traditionslinien der Fortbildungsansätze des Goethe-Instituts nachgezeichnet werden. Zum anderen markieren die Prinzipien einen Orientierungsrahmen für einen forschenden Zugriff auf die Handlungspraxis der Fortbildung, weil mit ihnen Erwartungen an die Gestaltung und die Wirkung dieser Praxis artikuliert werden. Wie schon angemerkt, ist dieser Zusammenhang zwischen prinzipiengeleiteten Konzep‐ tionen und tatsächlicher Praxis der Fort- und Weiterbildung des Goethe-Instituts bisher empirisch kaum erforscht. Die oben erwähnte Tagung 10 Jahre Deutsch Lehren Lernen schien deshalb der angemessene Anlass, in die Bilanz auch die Forschungsperspektiven aufzunehmen. Diese sollen nun in aller Kürze skizziert werden. 5 Abbildung 1 markiert die allgemeinen Zugriffsmöglichkeiten auf DLL, die sich aus der zehnjährigen Erfahrung mit dem Programm als plausibel ergeben. Zieht man dann die für das Programm grundlegenden Prinzipien hinzu, lassen sich für die jeweiligen Zugriffsmöglichkeiten differenzierte Forschungsfragen formulieren, aus denen unterschiedliche Teilprojekte mit durchaus unterschied‐ lichen Designs hervorgehen können. Geht man von dem grundlegenden Prinzip der Unterrichtsorientierung aus, würden sich für den Zugriffsbereich DLL-Texte/ Aufgaben etwa solche Fragen ergeben: • Welche Aufgaben, die die Aufmerksamkeit der Lehrkräfte auf eigenen und fremden Unterricht richten, bieten die unterschiedlichen Einheiten an? • Wie sind diese Aufgaben strukturiert und wie verhalten sie sich zu anderen Aufgaben? Die Beantwortung solcher Fragen würde zunächst eine Dokumentenanalyse er‐ fordern. Von Interesse darüber hinaus ist allerdings weiterhin, wie die Aufgaben von den Lehrkräften in den verschiedenen Phasen der Fortbildung bearbeitet werden und welche Konzepte über Deutschunterricht dabei in Erscheinung treten. Eine Antwort auf solche Fragen macht den Einsatz anderer Forschungs‐ instrumente erforderlich. 166 Michael K. Legutke Abb. 1: Forschungsperspektiven DLL Über den Zugriff Wissenschaft könnte die Anlage des Programms zunächst mit Hilfe eines theoretischen Forschungsansatzes untersucht werden. Da das Programm für die ersten sieben Einheiten nach den Dimensionen von Unterricht strukturiert wurde (die Lehrenden, die Lernenden, die Sprache, die Interaktion, die Medien und Materialien, das Curriculum sowie die Evaluation), würden sich für einen solchen Ansatz folgende Fragen ergeben: • Wie wird die Verschränkung von fachdidaktischer Theorie und unter‐ richtlicher Praxis in den einzelnen Einheiten vorgenommen? • Welche (Teil)Aspekte fachdidaktischer Konzepte sind überbzw. unter‐ bewertet und müssten deshalb stärker berücksichtigt werden oder in den Hintergrund treten? Dieser Ansatz müsste durch Untersuchungen zu Perspektiven der Teilneh‐ menden empirisch validiert werden. • Wie sind Lehrkräfte mit der integrativen und iterativen Behandlung einzelner Teilbereiche umgegangen (z. B. der klassischen Fertigkeiten)? • Welche Neustrukturierung und/ oder Neupaketierung der Inhalte scheint auf der Basis von Erfahrungen und Rückmeldungen angeraten, wenn man die Weiterentwicklung von DLL ins Auge fasst? Fokussiert man den Zugriffsbereich UDOs (videographierte Unterrichtsdoku‐ mente aus dem DaF Unterricht), würden Fragen folgender Art relevant werden: 167 Fremdsprachendidaktische Professionalisierung - Prinzipien & Forschungsansätze • Wie ist das Potenzial der gewählten Videomitschnitte für die Professio‐ nalisierung der Deutschlehrkräfte einzuschätzen? • Welche fachdidaktischen Konzepte und welche methodischen Aspekte lassen sich mit ihrer Hilfe in der Fortbildung fokussieren? • Mit Hilfe welcher Aufgaben werden die UDOs in die thematischen Einheiten eingebunden? Nimmt man wiederum den Zugriffsbereich Teilnehmende hinzu, liegen folgende Fragen auf der Hand: • Wie rezipieren Lehrkräfte die Unterrichtsdokumente? • Welche Verbindungen stellen sie zum eigenen Unterricht her? • Wie engagieren sie sich bei der videobasierten Arbeit? Welche Sichtweisen und Überzeugungen zum Deutschunterricht werden dabei sichtbar? Eine weitere Fokussierung der Forschungsfragen würde sich ergeben, wenn man das Prinzip des dialogischen und kooperativen Lernens als Orientierungs‐ rahmen wählt, wie sich in Bezug auf die PEPs zeigen lässt. Abbildung 1 trägt der herausragenden Bedeutung der PEPs für den Professio‐ nalisierungsansatz Rechnung. Ergänzend zu den allgemeinen Zugriffsmöglich‐ keiten auf diese sind hier zum einen die Strukturierung und die Verlaufsdynamik der PEPs von Interesse, hier als „Praxis“ gefasst (z. B. die Initiierung, Konkretisie‐ rung und Präzisierung der Forschungsfrage, die Planung und Durchführung des Projekts, aber auch die Betreuung durch die Tutor*innen und die Kooperation mit den Teammitgliedern). Gesondert hervorzuheben sind die Formen und In‐ halte der „Präsentationen“ der Projektergebnisse und ihrer „Dokumentationen“. Rahmung und Schärfung der Forschungsfragen würden in Bezug auf diesen Teilbereich sowohl über das Prinzip des reflektierten Erfahrungslernens als auch über das dialogische Lernen erfolgen können: • Wie bewerten Lehrkräfte die vom Programm als verbindlich erhobene Forderung nach Praxiserkundung? • Wie gehen die Teilnehmenden vor, wenn sie ihre PEP-Fragen formu‐ lieren? Wie stimmen sie sich mit ihren Teams ab? • Welche Indikatoren lassen sich in dem Prozess isolieren, die Auskunft über die Reflexivität der Lehrkräfte geben? • Welche Entwicklungen lassen sich im Verlauf mehrerer Erkundungspro‐ jekte bezüglich der PEP-Fragen feststellen? • Welche Rolle kommt den Tutor*innen zu? • Über welche Qualifikationen müssen Tutor*innen verfügen, damit sie die Praxiserkundungsprojekte begleiten können? 168 Michael K. Legutke Fragestellungen zu diesem Teilkomplex ergeben sich nicht zuletzt aus dem Prinzip der Kontextsensibilität, denn die Konzeption von DLL stattet die PEPs mit dem Potenzial aus, regionalen und individuellen Perspektiven Ausdruck zu verleihen und unterschiedliche Sichtweisen über das Lehren und Lernen von Deutsch verhandelbar und damit für die Professionalisierung nutzbar zu machen. Folgende Fragen könnten hier aufgenommen werden: • Welche Erfahrungen zu regional bestimmten Diskursen zu Aspekten des Deutschunterrichts liegen vor? • Welche Schwerpunktsetzungen lassen sich für Regionen festhalten? • Welche Gegenpositionen zu den Angeboten und Anregungen von DLL sowie zu den Verfahren der Fortbildung lassen sich isolieren? • Welche thematischen Schwerpunkte werden aus regionaler Perspektive gewünscht? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Weiter‐ entwicklung von DLL? 4.2 Forschungsstand Die Tagung 10 Jahre Deutsch Lehren Lernen diente mit dem Themenfeld II (Wirkung) nicht nur dazu, die Perspektiven für zukünftige Forschung zu schärfen, sondern bot die Möglichkeit erste abgeschlossene und laufende Studien im Umfeld von DLL zu würdigen und möglicherweise durch den Aufbau eines Netzwerks der Forschenden zu verstetigen. Die Mehrzahl der vorliegenden Arbeiten befasst sich mit den PEPs. Abbildung 2 verdeutlicht die Zugriffe und Rahmungen der Studien. Abb. 2: Der Forschungsstand 169 Fremdsprachendidaktische Professionalisierung - Prinzipien & Forschungsansätze Auf folgende Beispiele kann hier verwiesen werden: • eine multiperspektivische Studie (Dissertationsprojekt kurz vor der Fer‐ tigstellung) mit 22 Lehrkräften des Goethe-Instituts in DLL-Kursen in Hongkong und Tokyo (vgl. Niewalda, 2016) • eine Umfrage unter 118 weltweit für DLL tätigen Tutor*innen bzw. DLL-Verantwortlichen (vgl. Legutke & Rotberg, 2018) • eine Analyse von 60 schriftlichen PEP-Dokumentationen (vgl. Mohr & Schart, 2016) • eine Analyse von 81 PEP-Dokumentationen aus dem DLL Weiterbil‐ dungsstudiengang der Friedrich-Schiller-Universität Jena (vgl. Saunders et al., 2020) • weitere Arbeiten sind auf dem Weg und/ oder in Vorbereitung. In Hinblick auf das zentrale Professionalisierungsinstrument, die PEPs, lassen sich aus den Studien mit aller Vorsicht folgende Tendenzen ableiten, die ohne Frage weiterer Klärung bedürfen: • Die PEPs werden überwiegend als ungewohnte Herangehensweise wahr‐ genommen und als entsprechend anspruchsvoll und herausfordernd erlebt. • Dabei scheinen die Lehrkräfte im DLL-Kontext die Vorgehensweise deut‐ lich weniger abzulehnen als es sich aus Untersuchungen mit Lehramts‐ studierenden anzudeuten scheint (vgl. Weyland, 2019). • PEPs scheinen wertvolle Ansatzpunkte zu bieten, um über den Unterricht ins Gespräch zu kommen. Denn im Austausch über die Unterrichtspro‐ jekte werden Überzeugungen über Unterricht sichtbar und verhandelbar. PEPs eröffnen damit ganz im Sinne von Caspari (2014) einen Zugang zur Innensicht der Lehrkräfte und ihrem Selbstverständnis. • Dialogische Prozesse unter den Teilnehmenden während der Bearbeitung der Aufgaben und vor allem während der Durchführung der PEPs über‐ nehmen eine unterstützende Rolle. 4.3 Forschungsnetzwerk Das gestiegene Interesse der Fremdsprachendidaktik an der Lehrperson, das sich in einer wachsenden Zahl von (auch interdisziplinär betriebenen) Studien im Forschungsfeld Lehr- und Professionsforschung zeigt, lässt hoffen, dass auch die anspruchsvolle und differenzierte Fort- und Weiterbildungspraxis des Goethe-Instituts mit dem Programm Deutsch Lehren Lernen in stärkerem Maße das Interesse von Forscher*innen bindet. Die oben skizzierten Forschungsper‐ spektiven unterstreichen das Potenzial DLL-bezogener Studien. Von ihnen 170 Michael K. Legutke 6 Goethe-Institut 2020. Themenfeld 2 „Wirksamkeit“ mit den Arbeisgruppen Evaluation, PEP Dokumentation und DLL in der Ausbildung von Lehrkräften (B.A.) können Erkenntnisse zur Professionalisierung von Fremdsprachenlerkräften erwartet werden, die auch für andere Bereiche und Formen der Lehrer*innen‐ bildung relevant sein dürften. Erste Schritte wurden bereits unternommen, die vor allem der Praxiserkundung als Ansatz des Forschenden Lernens gelten. Weitere Studien stehen vor der Fertigstellung oder sind in Planung, wie sich in den Arbeitsgruppen des zweiten Themenfelds „Wirksamkeit“ der Tagung 10 Jahre Deutsch Lehren Lernen andeutet. 6 Drei Ergebnisse der Arbeit in dem Themenfeld können hier zum Abschluss in Thesenform festgehalten werden. (1) Angesichts des weltweiten Einsatzes von DLL in Kontexten der Fort- und Weiterbildung, aber auch in Ausbildungsprogrammen für Deutschlehrkräfte, bedarf es eines aktiven Netzwerks der Forschenden, das es möglich macht, Forschungsansätze aus den unterschiedlichen Kontexten zu erörtern, Daten auszutauschen und gemeinsam zu nutzen, das der Literaturbeschaffung und der kollegialen und kritischen Diskussion von Ergebnissen dient. (2) Ein solches Forschungsnetzwerk muss nicht nur Personen des Goethe-In‐ stituts einbinden, sondern in gleicher Weise an empirischer Arbeit interessierte Institute von Universitäten, deren Forschungskompetenz unverzichtbar ist. An‐ zustreben wären Kooperationen nicht nur mit den Fremdsprachendidaktiken, sondern auch mit den Bildungswissenschaften. (3) Schließlich bleibt festzuhalten, dass es Forschung nicht umsonst gibt. Hier sind neben der Fähigkeit professioneller Forscher*innen an Universitäten, Forschungsanträge zu stellen und Gelder zu akquirieren, vor allem auch Insti‐ tutionen wie das Goethe-Institut gefordert. Es wäre zu wünschen, dass sie, nicht zuletzt im Sinne der Nachhaltigkeit, parallel zur Finanzierung der Entwicklung und Implementierung der Programme auch Mittel für eine kooperative Begleit‐ forschung vorsehen. Literatur Abendroth-Timmer, Dagmar (2017). Reflexive Lehrer*innenbildung in der Fremdspra‐ chendidaktik: Ein Modell zur Definition und Rahmung von Reflexion. Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 28 (1), 101-126. Birnbaum, Theresa, Dippold-Schenk, Katja, Hirsch, Désirée, Kimmelmann, Nicole, Kupke, Juana, Ohm, Udo, Schramm, Karen, Seyfarth, Michael & Wernicke, Anne (2016). Empirische Evaluation von Weiterbildungseinheiten zur Sprachsensibilisie‐ 171 Fremdsprachendidaktische Professionalisierung - Prinzipien & Forschungsansätze rung von Fachlehrenden in der beruflichen Qualifizierung. Zeitschrift für Fremdspra‐ chenforschung 27 (2), 201-226. Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) (2015). Vom Hörsaal ins Klassen‐ zimmer. Eine Qualitätsoffensive bringt die Lehrer*innenbildung voran. www. qualitaetsoffensive-Lehrer*innenbildung.de/ [17.11.2020]. Caspari, Daniela (2003). Fremdsprachenlehrerinnen und Fremdsprachenlehrer: Studien zu ihrem beruflichen Selbstverständnis. Tübingen: Narr. Caspari, Daniela (2014). Was in den Köpfen von Fremdsprachenlehrer(inne)n vorgeht, und wie wir versuchen, es herauszufinden. Eine Übersicht über Forschungsarbeiten zu subjektiven Sichtweisen von Fremdsprachenlehrkräften (2000-2013). Fremdsprachen lehren und lernen 43 (1), 20-35. Ehlers, Swantje & Legutke, Michael (1998). 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Kölner Beiträge zur Sprachdidaktik. Mehrsprachigkeit macht Schule 4 (S. 31-44) Köln: Gilles und Francke. 173 Fremdsprachendidaktische Professionalisierung - Prinzipien & Forschungsansätze Themenblock II: Fremdsprachendidaktik als Ausbildungsdisziplin Neue Professionalitätsfacetten im frühen Englischunterricht auf Distanz Bianca Roters Die durch Covid-19 ausgelöste weltweite Pandemie hat dazu geführt, dass (Fremdsprachen-)lehrkräfte ihren Unterricht digital gestützt - in Teilen auch vollständig auf Distanz - ausrichten müssen. Sich flexibel auf neue Anforderungen einstellen zu können ist wichtiger Bestandteil einer adaptiven Einstellung zur eigenen Professionalität von Fremdsprachenlehrkräften (vgl. Gerlach, Roters & Steininger, 2020) und kann sich auch in einem flexiblen und agilen Unterrichtsmanagement äußern. 1 Lernarrangements auf Distanz im frühen Englischunterricht Eine wichtige Voraussetzung für die Ausgestaltung digitaler Lernarrangements sind neben der medialen Ausstattung die digitalen Kompetenzen aller am Unterricht Beteiligten: der Schülerinnen und Schüler sowie der Lehrkräfte. Bei der Entscheidung, welche unterrichtlichen Phasen synchron oder asynchron gestaltet werden, sollte der kommunikative Aspekt des Fremdsprachenunter‐ richts, der digital schwieriger realisiert werden kann, berücksichtigt werden. In kollaborativen Arbeitsphasen der Schülerinnen und Schüler sollte die Mög‐ lichkeit des direkten Feedbacks eingebaut werden − auch, um die Motivation aufrechtzuerhalten. Formen des scaffolding unterstützen die Lernenden darin, selbstständig in kleineren Projekten zu arbeiten. Gleichzeitig können Unter‐ richtskonzepte eine gewisse schematische Herangehensweise in Form einer zentralen Modellierung durch Lehrkräfte beinhalten. 1 An dieser Stelle gilt mein ausdrücklicher und herzlicher Dank Kathrin Scheffer für die inspirierenden Gespräche über unterrichtliche Möglichkeiten eines Englischunter‐ richts auf Distanz. Im Folgenden werden zwei unterrichtspraktische Herangehensweisen im frühen Englischunterricht aufgezeigt 1 , in denen sich die Fähigkeit zur Flexibilität und zur situativen Adaptivität der Lehrkräfte durch die Bereitstellung adäquater digitaler Lernumgebungen in synchronen und asynchronen Phasen realisiert (vgl. Marek & Wu, 2019), gerade auch unter Berücksichtigung des Selbststän‐ digkeitsgrades der Schülerinnen und Schüler sowie der wichtigen Komponente der Lehrkraft als Sprachmodell. Beispiel I: Phasen direkter Instruktion Im Folgenden wird beispielhaft eine Unterrichtseinheit aufgezeigt, in der direkte Phasen mit kollaborativen Arbeitsphasen ergänzt werden. Phase Merkmale Unterrichtliche Realisierung Vorbe‐ reitung Transparenz über Produkt und Bewer‐ tungskriterien Strukturierungs‐ hilfen synchron Transparenz über Produkt und Bewertungskriterien Chunks als Sprachangebot (z. B. to brush your teeth, to take a shower) Funktionswortschatz, cohesion markers Teil I I do (it) Modellierung synchron, als Wiederholungs‐ schleife asyn‐ chron Bildbasiertes Erzählen eines Tagesablaufs: Einstieg durch Modellierung: Lehrkraft zeigt Fotoreportage/ kurze Videoeinheit über den eigenen Tag, mit voice-over (z. B. at 7pm I brush my teeth) Independent practice You do (it inde‐ pendently) asynchron Übungsphase: digitales Arbeitsblatt mit stills aus dem Video (Differenzierungsmöglichkeit: mix-match − chunks zuordnen) Guided instruction We do (it) synchron Nachfragen, Sicherungsphase - Gelegenheit für Feed‐ back 178 Bianca Roters Collaborative learning You do (it toge‐ ther) asynchron Kollaborative Schreibphase als Brainstorming: What other things do you do during your day? (mögliches Format als Binnendifferenzierung: Brea‐ kout rooms) Weitere Übungsphase − sprachlicher support durch Lehrkraft: learning apps, gestaltet als Memory Teil II I do Modellierung synchron 2. Video der Lehrkraft (Kennzeichen: leise, undeutlich); Funktion: SuS erkennen über Negativbeispiel Merk‐ male guter Videos You do synchron Bündelung aus vorheriger Phase Strategietraining: Feedbacktraining als Unterstützungsmaterial: Checkliste gutes Video We do Bildung von SuS-Teams zur Entwicklung eines Mini-Zwischenprodukts, mit peer feedback, ggf. mit Lösungsbogen Teil III I do Modellierung synchron Zieltransparenz, Vorstellung des Produktes: verbes‐ sertes, ausführliches Video aus Teil I (mehrkanalig, mit voice-over, Schrift) in Videokonferenz (als Positivbei‐ spiel) − Feedback der SuS zu Video I wird eingebaut We do synchron L/ SuS Feedbackphasen mit Lehrkraft und in Teams (check-in mit SuS − wo brauchen SuS mehr Unterstützung: inhaltlich, sprachlich, strukturell im Sinne eines time‐ frame, technische Unterstützung; ggf. auch als Audio‐ feedback zu Zwischenprodukten? ) SuS erstellen eigenes kleines Produkt (Video über ihren Tagesablauf), ggf. auch aus Datenschutzgründen mit Bildern im Sinne eines Erklärvideos Ab‐ schluss We do (it toge‐ ther) Präsentation synchron Wertschätzung der Arbeiten der SuS Optional: game-based activity: who is it? Einsatz eines Feedbackbogens Tab. 1: Unterrichtseinheit: A day in the life of…. Aus kommunikativer Perspektive liegt der Fokus in diesem Unterrichtsvor‐ haben im zusammenhängenden Sprechen, vor allem mit Blick auf das zu erstellende Produkt in asynchronen Arbeitsphasen, in denen die Lernenden in ihrem eigenen individuellen Tempo an einer vorgegebenen Aufgabe arbeiten können. Da in asynchronen Phasen im Distanzunterricht die Lehrkraft bei Fragen der Lernenden nicht ad hoc reagieren kann, ist eine klar formulierte, gut verständliche und transparente Aufgabenstellung eine besonders relevante Unterstützung, damit die Lernenden eigenständig und zielorientiert arbeiten können (vgl. Henseler, 2020, S. 36). Die synchronen Phasen können zur Beglei‐ 179 Neue Professionalitätsfacetten im frühen Englischunterricht auf Distanz tung von Lernprozessen genutzt werden. Aus der Perspektive der Individua‐ lisierung sind zwar die Arbeits- und Sozialformen vorgegeben, jedoch kann das Video unterschiedlich ausgestaltet werden, z. B. als Erklärvideo, Comic, Fotostory oder Film, ggf. auch in Stop-Motion Technik (vgl. Heusinger, 2020, S. 20-21) und auch die Zeit der Bearbeitung ist nicht im Detail festgelegt. Die Lernenden können entscheiden, welche Aspekte ihres Tages sie in ihrem Produkt thematisieren wollen. Damit ist der Rahmen festgelegt, aber noch nicht der gesamte Lösungsweg, da unterschiedliche inhaltliche Facetten thematisiert werden können. Die oben genannten Überlegungen gelten vor allem für den Distanzunter‐ richt. Die stärkere Steuerung am Anfang ermöglicht der Lehrkraft, Sprach‐ modell zu sein. Mit Blick auf kommunikative Sprechgelegenheiten für die Lernenden ist die geöffnete Phase am Ende besonders geeignet, in peer-interac‐ tion kommunikative Aushandlungsprozesse, z. B. durch Feedback der Produkte, vorzunehmen und gleichzeitig ein Strategietraining durchzuführen. Da die Videos aufgenommen werden, sind sie auch zur nachträglichen Diagnose, sowohl für die Lehrkraft als auch für die Lernenden, besonders geeignet. Es bietet sich an, nach dieser Phase der verstärkten Steuerung eine stärkere kom‐ munikative-lernendenorientierte Öffnung des Unterrichts durch Einbindung von tasks vorzunehmen. Diesem Beispiel liegt der Ansatz der direkten Instruktion zugrunde, der mög‐ licherweise phasenweise im Distanzunterricht eine größere Rolle spielt, z. B. bei der Vermittlung von Grundlagenwissen oder der Notwendigkeit strukturierter Lerngelegenheiten. Darauf weisen auch erste empirische Daten hin. Eine kleine Interviewstudie mit Englischlehrkräften, die im April 2020 durchgeführt wurde, zeigt u. a., dass Distanzunterricht teilweise als deutlicher lehrkraftzentrierter empfunden wird, der Grad der Selbstständigkeit der Lernenden in Abhängigkeit von ihrem Alter noch stärker Berücksichtigung finden muss und gleichzeitig der Unterricht deutlich projektorientierter geplant wird (vgl. Roters, eingereicht). Ein Zitat soll dies verdeutlichen: „Statt kurzer Erklärung in schriftlicher Form auf Moodle oder per Mail bei den älteren SuS, nehme ich für die jüngeren Klassen ein Erklärvideo auf, in dem ich es vormache, wenn ich etwas Neues vorstelle (sowohl bzgl. Medien/ Apps/ Plattform oder inhaltlich)“ (Interviewpartner 1). Eine ähnliche Herangehensweise zeigt ein Zitat aus der in der Corona-Zeit entwickelten Handreichung zum hybriden Lernen mit Stimmen aus dem #twitterlehrerzimmer: „Ich habe regelmäßig meinen Unterricht evaluiert. Die Rückmeldungen waren immer hilfreich, für beide Seiten. Sie haben mich darin bestärkt, in der Erarbeitungsphase (Phase 2) vor allem die Instruktionsmethode zu nutzen“ (Drabe, 2020, S. 79). 180 Bianca Roters Als Unterrichtsmethode ist direkte Instruktion adaptiv in ihrem Wechsel zwischen der Steuerung durch die Lehrkraft und der Selbstständigkeit der Lernenden und weist folgende Merkmale auf (vgl. Wellenreuther, 2016, S. 4-5): • Wiederholungsübungen • Einführung neuer Inhalte • Von der Lehrkraft angeleitetes Üben • Inhaltlich Rückmeldungen geben und zu Korrekturen falscher Lösungen auffordern • Selbstständige Übungen organisieren • Wöchentliche und monatliche Wiederholungen und Zusammenfas‐ sungen durchführen Direkte Instruktion wird von der Lehrkraft zunächst in der Anfangsphase stärker gesteuert, indem sie erklärt, in neue Inhalte und sprachliche Formen einführt, Feedback zur Performanz, zu Lösungswegen oder zu Arbeitsprozessen gibt und zielorientiert ggf. weitere Übungen bereitstellt. Dies kann auch die Richtung eines Strategietrainings einnehmen. Nach einer Phase der engeren Steuerung in der Modellierung folgt eine eher kreativer ausgestaltete, lernen‐ denorientierte Projektphase, in der die Schülerinnen und Schüler das zuvor Gelernte vertiefend üben und eigenständig bearbeiten. In der Hattie-Studie erreicht direkte Instruktion eine gute Effektstärke von d=0.59 (vgl. Hattie, Beywl & Zierer, 2013, S. 283). Direkte Instruktion ist kein Frontalunterricht, sondern Unterricht an einem strukturierten Lernweg, der in die selbstständige Arbeitsphase der Lernenden führt. Die Lehrkraft steuert vor allem in der Anfangsphase. Binnendifferenzierung ist im Rahmen individueller Feedbackphasen möglich. Kritisch gesehen wird direkte Instruktion gerade wegen der anfänglichen starken Steuerung und Sequenzierung der Lerninhalte durch die Lehrkraft, die zu einem explorativen Lernen, ggf. mit Wahlfreiheit, in einem gewissen Widerspruch steht (vgl. Wember, 2011, S. 172). Die Einführung neuer Inhalte über die Modellierung der Lehrkraft steht in einem gewissen Gegensatz zu explorativen Ansätzen, in denen die Schülerinnen und Schüler sich z. B. mithilfe eines Lernvideos eigenständig Lerninhalte vorab in ihrem individuellen Lerntempo erarbeiten und die dann in der Unterrichtsstunde vertieft werden. Das model of effective teaching (vgl. ausführlicher De Florio-Hansen, 2014) orientiert sich an der direkten Instruktion, ermöglicht jedoch verstärkt lerngruppenbezogenen scaffolding und ist deshalb für den kommunikativen Fremdsprachenunterricht eher geeignet - so man aus unterrichtsphiloso‐ phischen Gründen dieser Unterrichtsvariante folgen mag. Es weist folgende 181 Neue Professionalitätsfacetten im frühen Englischunterricht auf Distanz Schrittigkeit auf: Planung, Einstieg, Darbietung, Fragen und Antworten, angeleitetes Üben, selbstständiges Üben. Eine kurze Formel der Schrittigkeit lautet: I do (instructor), We do (instructor and student/ s), You do (student practices on their own with instructor monitoring). Es handelt sich hier nicht um einen festen, starren Unterrichtsablauf, sondern um eine dynamische Herangehensweise, abhängig vom situativen Unterrichtsgeschehen und den Lernbedürfnissen der Schülerinnen und Schüler. Gerade auch diejenigen, die einen geringeren Grad an Selbstständigkeit im Sprachenlernen aufweisen, be‐ nötigen verstärkt strukturierte Unterstützungsangebote, vor allem durch die Entgrenzung in asynchronen Lernphasen. Lerngruppenbezogenes scaffolding berücksichtigt die individuellen Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler aus persönlicher, struktureller und technologischer Perspektive, auch im Zusammenspiel. Denn: Selbst bei medialen Voraussetzungen benötigen die Schülerinnen und Schüler sprachliche Unterstützung. Im frühen Fremdspra‐ chenunterricht ist die Lehrkraft in besonderem Maße sprachliches Modell. Eine anfänglich stärkere lehrkraftzentrierte Steuerung im Distanzunterricht könnte diesbezüglich hilfreich sein, gerade auch vor dem Hintergrund, dass interaktive kommunikative Handlungssituationen digital nur eingeschränkt realisiert werden können. Beispiel II: technology-mediated task-based language learning Im Folgenden wird ein Beispiel aufgezeigt, in dem der Lernweg deutlich geöffneter ist und das sich an Beispiel I anschließen könnte. Die task lautet: Send a virtual birthday present and set up a virtual birthday party. Im Fokus stehen der Tagesablauf eines besonderen Tages, je nach Lernstand auch die Verwendung des Datums und der Wochentage. Einzelne Aktivitäten der task könnten sein: • Lehrkraft berichtet über ihren Geburtstag, ggf. als Videogruß • „Tell a story shown in pictures. For example, nine small pictures show a story: A special day - your birthday. This is a paired or individual task. By describing the pictures the story unfolds“ (Nikolov, 2015, S. 85) • individuell: Geburtstagskarten für Mitschülerinnen und Mitschüler schreiben • ggf. auch kollaborativ: Videos oder Poster über den eigenen Geburtstag, ggf. gestaltet als Interview in kollaborativer Tandemarbeit • gemeinsame Videokonferenz mit Berichten über den eigenen Geburtstag Diese task ist sowohl auf Distanzals auch Präsenzunterricht ausgelegt, syn‐ chrone und asynchrone Phasen können sich also abwechseln. Die Vorteile einer 182 Bianca Roters solchen Herangehensweise sind, dass die Schülerinnen und Schüler in den asynchronen Phasen in ihrem individuellen Lerntempo arbeiten können, die Aufgaben kreativ und multimodal gelöst werden können und sich digitalisierte Produkte als Diagnosemöglichkeiten auch im Nachhinein anbieten. Der Grad der Individualisierung im Sinne der Wahlfreiheit ist relativ hoch. Es werden deshalb Feedbackschleifen durch die Lehrkraft und verschiedene Varianten des inhaltlichen, sprachlichen und ggf. auch technischen scaffoldings benötigt, damit vor allem auch Schülerinnen und Schüler mit einem geringeren Grad an Selbstständigkeit die einzelnen Aufgaben bearbeiten können und gleichzeitig alle Schülerinnen und Schüler einen kommunikativen Zugang zur Lernaufgabe finden (vgl. González‐Lloret, 2020, S. 263). Weitere Differenzierungsoptionen, z. B. über das Material, bieten sich an. In bereits erwähnter Interviewstudie wird in drei Interviews der Aspekt der frei gestalteten Projektorientierung besonders hervorgehoben (Roters, ein‐ gereicht): „Jüngere SuS benötigen mehr Anleitung […]. Man kann wiederholen, Inhalte vertiefen oder Projekte durchführen, die unabhängig sind.“ (Interview‐ partner 3). Eine Möglichkeit, auch im Distanzunterricht eine Projektorientie‐ rung einzubinden, ist die gemeinsame Arbeit an technology-mediated tasks (vgl. González‐Lloret, 2020), wie sie in Beispiel II abgebildet werden. Die Kennzeichen einer solchen task sind: primary focus on meaning, goal-oriented, address learners’ needs, learner-centered, relate to learner’s real-world, have a reflective component (vgl. Ellis, 2009; González‐Lloret, 2020, S. 261-262; van den Branden, 2006). Baralt & Gómez fassen die Erkenntnisse des Transfers von task-based language learning in eine Online-Umgebung zusammen (vgl. Baralt & Gómez, 2017, S. 34): • Nicht alle tasks lassen sich (leicht) transferieren. • Die Online-Zeit wird verstärkt für soziale und technische Fragen aufge‐ wendet. • Eine positive Lernatmosphäre ist wichtig beim Erwerb der Fremdsprache, jedoch online schwieriger zu realisieren. • Lernende sind ggf. selbstkritischer durch Online-Präsenz. • Lehrkräfte müssen zusätzliches Online-scaffolding bereitstellen, um ihre Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten und sie adäquat unterstützen zu können. Dies bedeutet einen höheren Aufwand und ist anspruchsvoller. Dazu legen sie einen Rahmen vor, der den Prozess des task-based language learning in Online-Settings verdeutlicht und grundsätzliche Merkmale einer task integriert (vgl. Baralt & Gómez, 2017, S. 36): 183 Neue Professionalitätsfacetten im frühen Englischunterricht auf Distanz • pre-task: teacher emails task and instruction to learners (includes video to serve as model) • task-cycle: task (at home), planning (learners plan to report on their task outcome during the online meeting), report (teacher models the task, learners report on their outcome) • language focus (review of online meeting) • practice (teacher emails practice activities) In dieser Herangehensweise stehen Transparenz über die Arbeitsaufträge und Formen der Modellierung der task durch die Lehrkraft (am Anfang zur task-Transparenz, verbunden mit den Instruktionen und während der Online-Konferenz), im Vordergrund. Darüber hinaus werden unterschiedliche Phasen des Feedbacks eingebaut, sowohl von Seiten der Lehrkraft als auch der Lernenden untereinander. Varianten des scaffolding begleiten den task cycle, an dessen Ende in einer synchronen Phase der explizite language focus steht, der in anschließenden Übungen vertieft wird. Im Gegensatz zum model of effective teaching ist der Lernweg hier etwas explorativer und flexibler angelegt und die Lehrkraft als facilitator stellt die Lerngelegenheiten bereit, ohne allzu viel vorzugeben. Auch wenn im Distanz‐ unterricht kommunikative Gesprächssituationen weniger leicht zu realisieren sind, sollte sprachlicher Input über die Verwendung von multimodalen Medien (Videos, Filme, Podcasts, mehrfach kodierte Texte) angestrebt werden. Hinzu kommen vielfältige Sprechgelegenheiten, Interaktion und Feedback. Ein Aspekt, in dem sich die Ansätze aus Beispiel I und II unterscheiden, ist der Grad der Individualisierung in Form von Wahlfreiheit der Aktivitäten (vgl. Heusinger, 2020, S. 13). Dies hängt auch mit dem Grad der Strukturierung der Lernumgebung zusammen. In beiden vorgestellten Ansätzen ist die Auf‐ gabenstellung von zentraler Bedeutung, insbesondere in der Anfangsphase. Im weiteren Verlauf sind die unterstützende Lernprozessbegleitung und das kontinuierliche Feedback durch die Lehrkraft wichtig. Eine solche Begleitung ist nicht als Kontrolle der Lernenden, sondern als Unterstützung zu verstehen, wobei unterschiedliche Lernende unterschiedliche scaffolding-Angebote benötigen können. Die Lehrperson sollte den Lernenden Feedback zu ihren Ideen und zum eingeschlagenen Lösungsweg geben sowie gemeinsam mit ihnen Möglichkeiten der weiteren Bearbeitung eruieren (for‐ mative evaluation). Das ist zeitintensiv, aber gerade in der Anfangsphase des Distanzlernens entscheidend (vgl. Hallet, Surkamp & Vogt, 2020, S. 6). 184 Bianca Roters Eine in beiden Ansätzen deutlich werdende explizite Herangehensweise durch die Lehrkraft bei der Aufgabenstellung, der Zieltransparenz und Model‐ lierung der task zeichnen Expertenlehrkräfte aus: Expert teachers are those who are able to enhance and maximise student learning through the manifestation of an effective repertoire of teaching practices that combine both the setting of challenging learning experiences and the provision of support. These highly effective teachers ensure that students are explicitly taught what they need to know in order to feel safe and thus be able to complete challenging tasks. (Konza, Fried & Michael, 2015, S. 25) Teil einer professionellen Grundhaltung ist, die eigenen Prämissen und Unter‐ richtskonzeptionen auf ihre Wirksamkeit in individuellen Unterrichtskontexten regelmäßig zu reflektieren und unterschiedliche unterrichtliche Zugänge im Sinne eines agilen Unterrichtsmanagements unter Berücksichtigung der situa‐ tiven Rahmenbedingungen in den Blick zu nehmen. Eine weitere Herausforde‐ rung bezieht sich auf übergeordnete Zielvorstellungen im Umgang mit Techno‐ logien, sowohl für Lehrkräfte als auch Lernende: „The challenge for teachers will be more one of helping learners develop the skills to deal successfully with the increased control and independence that technology demands“ (Reinders, 2009 in Benitt, Schmidt & Legutke, 2018, S. 20). 2 Agiles Unterrichtsmanagement durch adaptive Fremdsprachenlehrerprofessionalität Im Folgenden wird die Professionalität von Fremdsprachenlehrkräften im Kon‐ text der neuen Rahmenbedingungen beleuchtet und aufgezeigt, welche theore‐ tischen Bezüge sich anbieten, um das Konstrukt „Fremdsprachenlehrerprofessi‐ onalität“ auch aus der Perspektive des digital ausgerichteten Distanzunterrichts aufzuschärfen. Bestehende Modelle könnten um Facetten, die sich aus den Lehrprozessen im Distanzunterricht ergeben, ausgeschärft werden. Dadurch können die notwendigen Kompetenzen, die Lehrkräfte benötigen, expliziter gefasst werden. Dazu ist zunächst eine Begriffsklärung notwendig. Auch wenn die Zuschreibungen über zu erlangende Berufsabschlüsse einer Profession eine statische Konnotation beim Begriff „Professionalität“ hervorruft (vgl. ausführ‐ licher Roters, 2012, S. 26), ist das Konstrukt auf die Entwicklungsperspektive dynamisch und adaptiv zu fassen, da sich die individuellen Professionalisie‐ rungswege von Lehrkräften in ihrer Berufsphase kontinuierlich verändern (vgl. Gerlach et al., 2020, S. 114). Dies gilt nicht nur, aber insbesondere für den Bereich 185 Neue Professionalitätsfacetten im frühen Englischunterricht auf Distanz der Digitalität (Stalder, 2019) und der Ausbildung digitaler Kompetenzen der Lehrkraft als Teil ihres Professionswissens. 3 Erweiterung digitaler Kompetenzmodelle In Anlehnung an Shulmans klassische Kategorisierung von Professionswissen (vgl. Shulman, 1986; Adaption für die modernen Fremdsprachen vgl. Roters, 2017, S. 171) wurde ein um technologische Aspekte erweitertes Modell vorge‐ legt, das sogenannte TPACK-Modell (vgl. Koehler & Mishra, 2008). Darin werden die Facetten, die eine Lehrkraft für die Gestaltung digitaler Lernumgebungen benötigt, aufgezeigt. Tabelle 2 zeigt, dass die unterschiedlichen Wissensbereiche sich in gemeinsamen Schnittstellen treffen, in denen sich das benötigte Wissen dynamisch entwickelt und situativ auf die Lerngruppe ausgelegt wird. Technological Knowledge (TK) Wissen über den Umgang mit Technolo‐ gien Pedagogical Knowledge (PK) Verständnis über (fremdsprachliche) Lernprozesse Content Knowledge (CK) Fachspezifisches Wissen Diese übergreifenden Wissensbereiche können miteinander kombiniert werden und haben gemeinsame Schnittstellen. Pedagogical Content Knowledge (PCK) Fachdidaktisches Wissen Technological Pedagogical Knowledge (TPK) Fachdidaktisches technologisches Wissen über Möglichkeiten und Grenzen des Ein‐ satzes digitaler Medien Technological Content Knowledge (TCK) Wissen über Möglichkeiten der Verwen‐ dung von Technologie Technological Pedagogical Content Knowledge (TPACK) als gemeinsame Schnittmenge: Verständnis über kohärentes Zusammenspiel aller Wissensbereiche Tab. 2: TPACK-Modell Das Modell zeigt, dass hier die technologische Kompetenz zwar grundlegend ist, jedoch erst in der fachdidaktischen Durchdringung entsprechende Lerngelegen‐ heiten entwickelt werden können. Im Zusammenspiel verschiedener Wissens‐ bereiche, die nicht hierarchisch, sondern im Sinne verschiedener Schnittmengen angelegt sind, entwickelt sich das technological pedagogical content knowledge (TPACK). 186 Bianca Roters Das Referenzmodell European Framework for the Digital Competence of Educa‐ tors (DigCompEdu) wiederum wurde vom European Commission’s Joint Research Centre ( JRC) entwickelt (vgl. Redecker & Punie, 2017). Es handelt sich um ein Stufenmodell der Entwicklung von Expertise im Bereich der digitalen Kompe‐ tenzen (in Anlehnung an die Einteilung des GeR A1-C2), das drei übergeordnete Kompetenzfelder umfasst: • Professionsspezifische Kompetenzen von Lehrpersonen • Pädagogische Kompetenzen von Lehrpersonen • Kompetenzen von Lernenden Diese Felder wiederum werden flankiert von jeweils 6 Kompetenzbereichen mit insgesamt 22 Kompetenzen: „The categories cover general digital competences, subject-specific competences, and school management competences in the digital field that are prerequisite for today’s teaching profession“ (Benitt et al., 2018, S. 12). Diese Aufteilung in separate Kompetenzen lässt das Modell recht komplex erscheinen. Der Unterschied zwischen diesen beiden Kompetenzmodellen liegt nicht nur im Abstraktionsgrad, sondern auch in ihrer Funktion. Das TPACK-Modell kategorisiert das notwendige Wissen und bildet einen Ordnungsrahmen. Durch die zentrale Stellung des fachdidaktischen Wissens wird deutlich, dass ein reines technologisches Wissen - ohne Anbindung an den Lerngegenstand, die Lernsituation, die Lerngruppe etc. - nicht zielführend ist. Das DigiComp-Modell ermöglicht durch die Unterteilung in unterschiedliche (Sub-)Kompetenzen den Einbezug verschiedener Facetten, u. a. auch die Haltung der Lehrkraft sowie die Handlungsebene, und ist deshalb umfassender einsetzbar. Das Reflexionstool, das basierend auf dem DigiCompEdu-Modell zurzeit pilotiert wird und zu dem leider keine weiteren Informationen vorliegen, soll zur individuellen Professio‐ nalisierung von Lehrkräften genutzt werden können, auch wenn dies sowohl einen ausgeprägten Grad an Reflexionsfähigkeit als auch zeitliche Ressourcen voraussetzt. Mit Blick auf die Fremdsprachen hat ein Team aus Fachdidaktikern (vgl. Benitt et al., 2018) kürzlich ein Rahmenmodell (Framework of Language Teachers’ Development of Digital Literacy) vorgelegt, dass verschiedene Entwicklungs‐ schritte in der Interaktion zwischen Ausbildner/ innen und Lehramtsstudier‐ enden abbildet. Ziel ist die Ausbildung der verschiedenen (language-related) digital literacies am Ende der Professionalisierungsphase. Das Modell geht hier einen Schritt weiter als die beiden zuvor genannten, da es die universitären Lerngelegenheiten zur Ausbildung der einzelnen (Sub-)Kompetenzen in den Blick nimmt. Das Modell macht deutlich, dass die Ausbildung digitaler Kom‐ 187 Neue Professionalitätsfacetten im frühen Englischunterricht auf Distanz petenzen durch das Zusammenspiel von Wissen, Handeln und Reflexion ein komplexer Prozess ist. Die reflexive Ebene wird vor allem in ihrem Modell sowie im DigiComp-Modell deutlich, weniger im TPACK-Modell, das ein anderes Ordnungssystem darstellt. Die beliefs der Lehrkräfte sollten - auch wenn nicht immer explizit in den Modellen genannt - bei der Entwicklung digitaler/ distanter Lernarrange‐ ments im Zusammenspiel aller Komponenten deutlich in den Blick genommen werden, wie auch Bower (2019) argumentiert: „In technology-mediated learning contexts, participant beliefs, knowledge, practices and the environment all mutually influence one another“ (Bower, 2019, S. 1038-1039). Ein Bereich, in dem die beliefs der Lehrkräfte eine Rolle spielen könnten, ist der Bereich der Vorerfahrung mit neueren Technologien. Es kann im digital gestützten Fremdsprachenunterricht vorkommen, dass Lehrkräfte und Lernende aufgrund unterschiedlicher Vorerfahrungen und Expertisen die Rollen tauschen (vgl. Benitt et al., 2018, S. 18). Dies setzt Flexibilität von Seiten der Lehrkräfte voraus, nicht nur immer wieder situativ neu zu entscheiden, sondern auch ihre Einstellungen zum digitalen Sprachenlernen und beliefs zum Sprachenlehren zu reflektieren. Digital gestützter Fremdsprachenunterricht kann damit auch zu einem reflexiven Lernprozess (vgl. Caspari, 2018, S. 76) auf Seiten der Lehrenden werden. Diesem konstruktiv zu begegnen, tangiert ihre Einstellung, ihre Motivation und ihr Vertrauen in die eigene Professionalität (vgl. Benitt et al., 2018, S. 20). Indem sich Lehrkräfte den sich stetig wandelnden Rahmenbe‐ dingungen digitalen Lernens stellen, zeigen sie eine flexible Haltung gegenüber situativen Herausforderungen sowie eine Bereitschaft zu einem agilen Unter‐ richtsmanagement. In keinem der genannten Modelle wird der Aspekt der Kollaboration der Lehrkräfte erwähnt. Dieser Aspekt ist insofern relevant, als es darum geht, im gemeinsamen Austausch digitale Unterrichtsentwicklung voranzubringen, gemeinsam Haltungen und Herangehensweisen an digital gestützten oder distanten Unterricht zu reflektieren (Roters, eingereicht) und TPACK zu entwi‐ ckeln. 4 Ausblick Die neuen Rahmenbedingungen machen individuelle und unterrichtliche An‐ passungen im Sinne eines agilen Unterrichtsmanagements durch Flexibilität und Kollaborationsfähigkeit erforderlich. Bei der Gestaltung von Lernumge‐ bungen kommen neue Anforderungen an (Fremdsprachen-)Lehrkräfte hinzu. 188 Bianca Roters Schmidt & Strasser sehen die Entwicklung digitaler Kompetenzen von Lehr‐ kräften als kontinuierlichen Prozess: digital literacy skills for teachers are more than just IT-skills, like working with text processing software or knowing about hardand software. The approach considers the acquisition of various general, interdisciplinary and subject-related digital skills as a continuous process (Schmidt & Strasser, 2018, S. 215). Aus Unterrichtsentwicklungsperspektive gilt es, die durch die neue Situation entstandenen Variablen kritisch hinsichtlich ihrer Wirksamkeit für den Fremd‐ sprachenunterricht zu reflektieren. Aus Forschungsperspektive werden sich hier neue Forschungsfelder auftun, die vor allem durch Unterrichtsentwick‐ lungsforschung unter den Perspektiven von Theorie, Empirie und Praxis evalu‐ iert werden könnten. Die zutreffende These von Daniela Caspari müsste dann für diese Form der Unterrichtsentwicklungsforschung eine andere Schrittigkeit einnehmen, zumindest in Richtung einer explorativ angelegten Forschung: „Die vorherrschende Forschungstradition in der Fremdsprachendidaktik hat sich in den letzten 20 Jahren von der theoretisch-konzeptuellen zur empirischen For‐ schung verschoben“ (Caspari, 2019, S. 35). Deshalb sollten theoretisch-konzep‐ tionelle Fragen zunächst in den Blick genommen werden, bevor das neue Feld des Fremdsprachenunterrichts auf Distanz tiefergehend empirisch erforscht wird. Literatur Baralt, Melissa & Gómez, José M. (2017). Task-based language teaching online: A guide for teachers. Language Learning & Technology, 21 (3), 28-43. Benitt, Nora, Schmidt, Torben & Legutke, Michael K. (2018). Teacher learning and technology-enhanced teacher education. In Joke Voogt, Gerald Knezek, Rhonda Christensen & Kwok-Wing Lai (Hrsg.) Second handbook of information technology in primary and secondary education (Vol. 19, S. 1-24). Cham: Springer International Publishing. Bower, Matt (2019). Technology-mediated learning theory. British Journal of Educational Technology, 50 (3), 1035-1048. DOI: 10.1111/ bjet.12771 Caspari, Daniela (2018). Reflexives Fremdsprachenlernen - eine Chance zur Verbindung von Fachlichkeit und Bildungsauftrag im Fremdsprachenunterricht. 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Fremdsprachenunterricht professionell planen Ein Beitrag zur universitären Lehrer*innenbildung Bärbel Diehr Das Thema der Professionalisierung von Fremdsprachenlehrkräften nimmt einen zentralen Platz in Daniela Casparis wissenschaftlichem Lebenswerk ein. Zu diesem Thema hat sie sich stets engagiert geäußert und tut es aus aktuellem Anlass immer wieder. Mit ihren lebhaften und oft leidenschaft‐ lich vorgetragenen Wortmeldungen im Rahmen der jährlich stattfindenden Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts tritt sie gerade auch angesichts des Lehrpersonalmangels und des Seiteneinstiegs in den Lehrberuf für eine hochwertige, von Universitäten verantwortete Lehrer*innenbildung ein (vgl. Caspari, 2018). Der vorliegende Beitrag setzt an der Unverzichtbarkeit von Qualitätsstan‐ dards für die Lehrer*innenbildung an. Er entfaltet die These, dass die Integra‐ tion professioneller Unterrichtsplanung in das Studium einen bedeutenden Beitrag zur Sicherung der Qualität der Fremdsprachenlehrer*innenbildung leistet. Zu diesem Zweck wird ein Einblick in das Forschungsprojekt PETE der Bergischen Universität Wuppertal gegeben, in dem die Planungskompetenz von Englischstudierenden gezielt entwickelt und erforscht wird. 1 Der Beitrag stellt Ergebnisse der theoretisch-konzeptionellen Forschungsarbeit vor und skizziert Erfahrungen mit dem Planungsmodell Pro Plan. 1 Professionalisierung als Herausforderung für die Fremdsprachendidaktik Angehende Lehrkräfte benötigen neben dem Interesse an ihrem Fach ein um‐ fangreiches und komplexes Bündel von Wissen, Fähigkeiten und Haltungen, das im Laufe eines wissenschaftlichen Studiums erworben werden und anschluss‐ fähig an die zweite Phase der Lehrer*innenbildung, den Vorbereitungsdienst, sein muss. Die Kultusministerkonferenz strebt durch die Veröffentlichung und stetige Aktualisierung von Standards seit 2004 (Standards für die Bildungswis‐ senschaften) bzw. 2008 (Standards für Fachwissenschaften und Fachdidaktiken) die Sicherung der Qualität der Lehrer*innenbildung in Deutschland an. Dabei fällt auf, dass im Bereich der neuen Fremdsprachen die Erwartungen an die Kompetenzen der Studienabsolvent*innen von neun Nennungen im Jahr 2008 auf 14 im Jahr 2019 gestiegen sind (vgl. KMK, 2019a). Caspari (2018) macht darauf aufmerksam, dass die Angaben zu den Studieninhalten fast ausschließlich für die Fachdidaktik erweitert wurden. Nennt das Papier der KMK im Jahr 2008 nur sechs Studieninhalte, so sind es 2019 bereits elf, da die Liste um Diagnoseansätze, Förderkonzepte, Unterrichtsplanung, -durchführung und -re‐ flexion in heterogenen Gruppen, Konzepte inklusiven Unterrichts, Kooperation mit sonderpädagogisch qualifizierten Lehrkräften sowie Didaktisierung von Texten und Entwicklung von Aufgaben erweitert wurde (vgl. KMK, 2019a). Zusätzlich sollen Studierende ihre neuen Erkenntnisse zur Digitalisierung mit fachdidaktischen Konzepten verknüpfen (vgl. KMK, 2019a). Siepmann (2020) sieht Erweiterungen wie diese mit Skepsis, da „Forschung und Reflexion in der Fremdsprachendidaktik vor allem durch die Anlehnung an Themen aus den Bildungswissenschaften geprägt“ werden, was seiner Meinung nach zu einer Schwächung „des Kerngeschäfts“ führen kann. Was genau aber ist das Kerngeschäft? Die Fremdsprachendidaktik ist für das Lernen und Lehren von Sprachen deshalb von hohem Wert, weil sie forschungsbasiert Kenntnisse, Analysen und Bewertungen zu genau diesem Gegenstandsbereich zur Verfügung stellt, zu dem andere Fächer nicht über dieselbe wissenschaftliche Expertise verfügen. Es wäre kurzsichtig, dieses Alleinstellungsmerkmal unserer Disziplin herabzusetzen und das Profil der Fremdsprachendidaktik zu überdecken. Auf lange Sicht erwächst aus einer Überfrachtung des Lehramtsstudiums mit fachübergreifenden Themen die Gefahr der Deprofessionalisierung. Angesichts dieser Herausforderung stellen sich in den letzten Jahren immer mehr Fremdsprachendidaktiker*innen die Frage, was die fachliche Professiona‐ lität von Fremdsprachenlehrpersonen ausmacht und was daraus für Studium 194 Bärbel Diehr 2 Legutke und Schart (2016b) differenzieren zwischen erlebtem, dokumentiertem, anti‐ zipiertem, beobachtetem und praktiziertem Unterricht sowie Unterricht an der Hoch‐ schule. und Ausbildung folgt (vgl. z. B. Burwitz-Melzer, Riemer & Schmelter, 2018; Diehr, 2018a; Gerlach, Roters & Steininger, 2020; Klippel, 2016; Legutke & Schart, 2016a). Es herrscht weitgehend Konsens darüber, dass ein bedeutendes Allein‐ stellungsmerkmal des Fremdsprachenlehrens darin besteht, dass die fremde Sprache gleichzeitig ein Unterrichtsgegenstand und das Kommunikationsme‐ dium im Unterricht ist. Daraus folgt - und auch dieses Postulat ist unstrittig -, dass Absolvent*innen am Ende des Studiums mindestens über folgende Kennt‐ nisse und Fähigkeiten verfügen sollen: • ein breites Wissen über die Fremdsprache, ihre Varietäten und ihren Gebrauch, • eine hohe Diskurskompetenz in der Fremdsprache, • breite Kenntnisse der Diskurse, Literaturen und Kulturen der Zielspra‐ chenländer und -gemeinschaften und • Spezialwissen über Spracherwerb, Sprachlernprozesse sowie ihre Förde‐ rung. Es ist daher sinnvoll, dass zukünftige Lehrkräfte sich bereits im Studium damit beschäftigen, wie Fremdsprachenunterricht die sprachliche und kulturelle Bildung priorisieren und gleichzeitig die überfachlichen Aufgaben der Schule mithilfe der fachlichen Inhalte erfüllen kann. 2 Unterrichtsplanung als Baustein der Professionalisierung In der universitären Lehrer*innenbildung sollten die Fachdidaktiken die oben skizzierte Besonderheit in Studienordnungen und Modulbeschreibungen sichtbar machen und an exemplarischen Inhalten mit zukünftigen Lehrkräften erarbeiten. Bezugspunkt sollte ein Kompetenzprofil von Fremdsprachenlehr‐ kräften sein, dessen Modellierung derzeit verstärkt diskutiert wird, für das jedoch noch kein fremdsprachenspezifisches Modell vorliegt. Von Legutke und Schart (2016b) wurde ein durchdachter Orientierungsrahmen vorgeschlagen, welcher der Reflexion von Unterricht eine förderliche Wirkung auf die Profes‐ sionsentwicklung zuschreibt. Unter den fünf Kategorien von Unterricht 2 weisen die Autoren dem antizipierten Unterricht, also der Unterrichtsplanung, „eine Schlüsselfunktion für die Ausbildung von Professionskompetenz zu“ (Legutke & Schart, 2016b, S. 36; vgl. auch Wernke & Zierer, 2017). Gerlach et al. (2020) 195 Fremdsprachenunterricht professionell planen 3 Das PETE Team der Bergischen Universität Wuppertal besteht aus vier Personen: Dr. Agnes Bryan, Prof. Dr. Bärbel Diehr, Lea Steinkuhle und Susannah Ziegler. bezeichnen Unterrichtsplanung daher als eine „fachdidaktisch-professionsthe‐ oretische Kategorie“ (ebd., S. 120). Die Einschätzungen von Legutke und Schart (2016b) sowie Gerlach, Roters und Steininger (2020) werden im Team des Forschungs- und Entwicklungs‐ projekts PETE 3 geteilt. In PETE befassen sich Englischstudierende intensiv und dialogisch (mit der jeweiligen Dozentin, zwei Tutorinnen und Mitstudie‐ renden) mit Unterrichtsplanung und reflektieren sie auf der Grundlage von probeweise gehaltenem Unterricht. Folgende Überlegungen sprechen dafür, dass der Planung eine hervorgehobene Bedeutung in der universitären Phase der Lehrer*innenbildung zukommt: • Im Studium zielt Praxisbezug nicht auf die Entwicklung von Handlungs‐ routinen ab. Vielmehr dient die antizipierte Praxis der Entwicklung der Fähigkeit zur theoretisch fundierten Reflexion des eigenen Handelns (vgl. Diehr, 2018b). • Planungshandeln aktiviert theoretisches Wissen und versieht es mit einem Anwendungsbezug. Daher ermöglicht die Auseinandersetzung mit Unterrichtsplanung die für fachdidaktisches Denken charakteristische Verbindung von Theorie und Praxis. Dabei findet ein konzeptueller Transfer von wissenschaftlichen Inhalten auf Planungsentscheidungen für die Gestaltung von fachlichen Lernprozessen statt. • Die Beschäftigung mit Unterrichtsplanung gewährt Studierenden Frei‐ räume zum Gedankenspiel ohne den Handlungsdruck, den Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst und im späteren Schulalltag erfahren. Dort, wo Studierende Planungsentwürfe wie z. B. im PETE Projekt in Unterricht umsetzen, agieren sie unter komplexitätsreduzierten Bedingungen, um zu verstehen und zu reflektieren, was Fremdsprachenunterricht ausmacht. Ein wesentliches Element ist dabei das Zusammenwirken von Lernenden, Lerngegenstand und Kompetenzerwerb (hier: die Fähigkeit, an fremd‐ sprachlichen Diskursen teilzunehmen). • Die Arbeit an Planungsentwürfen sowie ein reflektierter Abgleich mit ihrer unterrichtlichen Umsetzung schafft Kohärenz zwischen den Phasen der Lehrer*innenbildung, wenn die Akteur*innen in den verschiedenen Institutionen (Lehrende an Universitäten, Mentor*innen im Praxisse‐ mester und Ausbilder*innen im Vorbereitungsdienst) ihre jeweiligen Planungskonzepte wechselseitig zur Kenntnis und darauf Bezug nehmen. Beispielsweise stellen institutionenübergreifende Facharbeitsgruppen 196 Bärbel Diehr zum Praxissemester geeignete Räume für den Austausch über Planungs‐ konzepte bereit. „[P]hasenübergreifende Professionalisierungsprojekte“ (Gerlach et al., 2020, S. 125) bieten sich derzeit insbesondere zur Planung des Einsatzes von digitalen Hilfsmitteln an, z. B. beim lexikalischen Lernen oder bei der Einübung von Strategien zum Aufdecken von Fake News, um nur zwei Beispiele zu nennen. Das Verständnis für die Zusammenhänge verschiedener unterrichtlicher Fak‐ toren ist nie abgeschlossen, sondern Teil des lebenslangen professionellen Lernens. Mit dem Planen von Unterricht können daher bereits Studierende be‐ deutende professionsbezogene Erfahrungen sammeln. Angesichts der einleuch‐ tenden Gründe für eine explizite Berücksichtigung von Unterrichtsplanung im Studium überrascht die Beobachtung, dass die Fremdsprachendidaktik sich nur in geringem Maße mit ihrer Bedeutung für den Professionalisierungsprozess befasst hat. 3 Studien zur Planung von Fremdsprachenunterricht Obwohl Unterrichtsplanung zu den Kernaufgaben des Lehrberufs zählt, liegen wissenschaftliche Konzepte für den Aufbau der Planungskompetenz erst in Ansätzen vor (vgl. z. B. Aprea, 2014; König et al., 2015). Wernke und Zierer (2017) titeln sogar von der Unterrichtsplanung als einem „in Vergessenheit geratene[n] Kompetenzbereich“. Dabei zeigte eine Meta-Analyse zu Planung schon 2011, dass das Nachdenken über Ziele des Unterrichts als stärkster Indikator für Professionalisierung angesehen werden kann (vgl. Seel, 2011). Nicht nur in der Allgemeinen Didaktik, sondern auch in der Fremdsprachen‐ didaktik nimmt das Interesse am Thema Unterrichtsplanung in jüngster Zeit zu (vgl. z. B. Gerlach et al., 2020; Kolb, 2016). So konzipiert Hallet (2012) das Modell der komplexen Kompetenzaufgabe explizit als Aufgaben- und Planungsmodell. Diehr, Bryan, Steinkuhle und Ziegler (Diehr et al., 2018a, 2018b; vgl. auch Diehr, 2018a) entwickeln im Rahmen des PETE Projekts das Kompetenzstrukturmodell Pro Plan, das Erkenntnisse aus der fachdidaktischen Literatur integriert, die sich mit den Spezifika des Fremdsprachenlehrens befasst, insbesondere Appel (2000), Borg (2006), Jansing et al. (2013), Kirchhoff (2017), Legutke und Schart (2016b), Mindt (2006) sowie Nold und Roters (2010). Empirische Studien zur Planung von Fremdsprachenunterricht sind noch sel‐ tener zu finden als konzeptionelle Beiträge. Ein aufschlussreiches Beispiel liefert Knorrs (2015) Untersuchung mit angehenden Englischlehrenden. Sie zeigt, dass Studierende sich bei der Planung hauptsächlich mit Schüler*innenaktivitäten beschäftigen, die Unterrichtsziele jedoch vernachlässigen (vgl. Knorr, 2015). 197 Fremdsprachenunterricht professionell planen 4 Dieser Unterricht findet in den Englischkursen des Sprachlehrinstituts der Bergischen Universität statt, in dem Hörer*innen aller Fakultäten Fremdsprachen lernen, auffri‐ schen oder vertiefen können. Zudem lassen die von ihr analysierten Planungsgespräche nur eine geringe Beschäftigung der Studierenden mit den Inhalten des Englischunterrichts er‐ kennen. Gerlachs (2020a) Studie mit Lehrerbildner*innen ist zwar keine Studie zur Un‐ terrichtsplanung im engen Sinne, zeigt aber, dass die befragten Ausbilder*innen sich auffallend häufig zum Thema Unterrichtsplanung äußern. Sie halten es für sinnvoll, Praxisbezüge in der ersten Phase dadurch auszuweiten, dass Unter‐ richtsplanung bereits in das Studium integriert wird (ebd.). Gerlach (2020a) zieht aus seiner Studie u. a. den bedenkenswerten Schluss, dass Unterrichtsplanung einen Ansatzpunkt bietet, um in der Lehrer*innenbildung „einen stärkeren Fokus auf die Diagnose und Förderung von Reflexionskompetenz zu legen“ (ebd., S. 380). Der enge Zusammenhang zwischen Unterrichtsplanung und Professionsent‐ wicklung wird auch in Steiningers Untersuchung zum Vorbereitungsdienst offenkundig (vgl. Gerlach & Steiniger, 2016; Gerlach et al., 2020). Die teilneh‐ menden Referendar*innen betonen nicht nur ihre im Verlauf der Ausbildung zunehmende Fähigkeit, sich auf die Komplexität von Fremdsprachenunterricht einzustellen, sondern auch die sicherere Zielorientierung und die Berücksichti‐ gung sprachlicher Ziele in der Planung (vgl. Gerlach et al., 2020). Ähnlich wie in Knorrs Studie stehen auch im PETE Projekt Englischstudie‐ rende und ihre Professionalisierung im Vordergrund. Das Pro Plan Modell kommt dabei sowohl zur Förderung der fachspezifischen Planungskompetenz (siehe Abschnitt 4) als auch zu ihrer Erforschung (siehe Abschnitt 5) zum Einsatz. 4 Professionalisierung mit dem Pro Plan Modell Im Rahmen des PETE Projekts setzen Lehramtsstudierende theoretisch erar‐ beitete Inhalte aus fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Lehrveranstal‐ tungen in Planungsentwürfe für antizipierten Unterricht um. Sie erhalten die Gelegenheit, mit Unterstützung einer Tutorin die Planungsentwürfe auszuar‐ beiten, in einer Unterrichtsstunde mit internationalen Studierenden praktisch umzusetzen und anschließend mit dem PETE Team zu reflektieren. 4 Da die KMK Standards für Lehrerbildung (vgl. KMK, 2019a) keine Modellierung der Planungskompetenz enthalten und da sie in der fremdsprachendidaktischen Literatur kaum thematisiert wird, entschied sich das PETE Forschungsteam, ein 198 Bärbel Diehr 5 Das Pro Plan Modell ist mit seinen Dimensionen, Komponenten und Niveaustufenkon‐ kretisierungen als work in progress als PDF hier herunterladbar: https: / / www.anglistik. uni-wuppertal.de/ de/ fachdidaktik/ diehr-homepage/ publikationen.html (16.03.2021). eigenes Modell für die fachdidaktischen Lehrveranstaltungen zu konzipieren. Ausgehend von Legutke und Scharts (2016b) Rahmenkonzept wurde das Pro Plan Modell zu Beginn des PETE Projekts als Orientierungs- und Reflexionsin‐ strument entwickelt (vgl. Diehr, 2018b): Es soll Studierende bei der Unterrichts‐ planung in einer Weise unterstützen, die dem von ihnen oft geäußerten Wunsch nach Rezepten entgegenwirkt und stattdessen zu systematischer, wissenschaft‐ licher Reflexion bei der Planung anregt. Das Modell Pro Plan umfasst sechs fachspezifische Dimensionen, die auf der Analyse der wissenschaftlichen Literatur beruhen und das Grundgerüst für Planungsüberlegungen zum Englischunterricht bilden (vgl. Diehr, Bryan, Steinkuhle & Ziegler 2020 5 ). 1. Zentrales Ziel des Fremdsprachenunterrichts ist es, Sprachlernprozesse so zu fördern, dass die Lernenden an gesellschaftlichen Diskursen teilhaben und teilnehmen können. Bei der Planung von Unterrichtsvorhaben sollte daher der angestrebte Sprachzuwachs sowohl nach den Ebenen des Sprachsystems (Phonologie, Semantik, Syntax usw.) als auch nach den Merkmalen des antizipierten Sprachgebrauchs (Fertigkeiten und Genres) und der Sprechabsichten durchdacht werden. 2. Da Sprache nicht im semantischen Niemandsland, also ohne Bedeutungs‐ gehalt, und ohne Mitteilungsabsicht, existiert, sollten die Themen und Inhalte des Unterrichts dieselbe Aufmerksamkeit bei der Planung erhalten wie die Sprachlernprozesse. Der Bildungsanspruch des Fremdsprachen‐ unterrichts erfordert eine überlegte Entscheidung für Phänomene und Texte, die es wert sind, Unterrichtszeit auf sie zu verwenden. Das können aktuelle Themen aus der Lebenswelt der Lernenden ebenso sein wie historische und literarische Inhalte oder die Sprache selbst. Bei der Planung sind bereits vorhandene Interessen der Schüler*innen und gleichzeitig die noch zu weckende Motivation zu berücksichtigen, da Kinder und Jugendliche auch für Themen begeistert werden sollten, die bislang nicht in ihrem Interessenshorizont auftauchten. Hier hat der Fremdsprachenunterricht eine besondere Verantwortung für Lernende mit bildungsfernem Hintergrund oder begrenztem Zugang zu Bildungs‐ ressourcen, weil das Fremdsprachenlernen Türen zur Welt öffnet. 3. Die enge Verknüpfung von Sprachen mit ihren Sprecher*innengemein‐ schaften bildet den Hintergrund für das Leitziel des Fremdsprachenun‐ 199 Fremdsprachenunterricht professionell planen 6 Für eine detaillierte Darstellung verwandter Begriffe wie critical literacy sei hier auf Gerlach (2020b) verwiesen. 7 Für eine Definition mit Beispielen siehe z. B. Dahl (2010). terrichts - das kulturelle Lernen. Diese dritte Dimension gilt es bei der Planung zu berücksichtigen, in dem man sich die konkreten kulturellen Wissensbestandteile, Deutungskompetenzen und Perspektivwechsel ver‐ gegenwärtigt, die in einer Unterrichtseinheit oder -stunde angestrebt werden. 4. Die bewusste Reflexion über Sprache kann verschiedene Ausprägungen haben. Sie reicht von der Entdeckung und Verbalisierung grammatischer Regeln bis hin zum kontrastierenden Vergleich unterschiedlicher Register und pragmalinguistischer Mittel in verschiedenen kommunikativen Si‐ tuationen. Die vierte Dimension, Sprachbewusstheit (weiter-)entwickeln, erfordert bei der Planung die begründete Auswahl von formalen As‐ pekten, deren Funktionen für Mitteilungsabsichten den Lernenden näher‐ gebracht werden sollen. Es sollte bei der Planung bedacht werden, dass die explizite Sprachreflexion für die Entwicklung einer kritischen Diskursfä‐ higkeit 6 unerlässlich ist. Um beispielsweise Fälle von greenwashing  7 zu entlarven, erweisen sich Vergleiche unterschiedlicher Ausdrucksformen als zielführend. Sie fördern gleichermaßen Sprachkönnen und Sprachbe‐ wusstheit. 5. Der funktionale Gedanke bestimmt auch die fünfte Dimension: Umgang mit Texten und Medien anleiten. Der Einsatz und die Analyse von Texten sowie die Nutzung spezifischer, vor allem digitaler, Medien geschieht nicht um ihrer selbst willen, sondern um Inhalte für den Unterricht verfügbar zu machen, die fremdsprachliche Kompetenz zu fördern und eine kritische Informations- und Medienliteralität zu entwickeln. 6. Mit der sechsten Dimension, Kommunikations- und Interaktionsanlässe schaffen, schlägt das Pro Plan Modell eine Brücke von den didaktischen zu den methodischen Planungsüberlegungen. Der Lern- und Bildungspro‐ zess kann sich nur entfalten, wenn die Lernenden Gelegenheit haben, sich in den Unterrichtsdiskurs einzubringen und ihn mitzugestalten. Aus der Vielzahl der fremdsprachendidaktischen Ansätze gilt es, bei der Planung eine Auswahl zu treffen, um den Lernenden entsprechend der didaktischen Zielsetzungen Angebote zur aktiven Beteiligung zu machen. Diese sechs Dimensionen werden den Studierenden grafisch in Form eines Kreises präsentiert (vgl. Diehr et al., 2020, siehe Abbildung 1), weil sie als 200 Bärbel Diehr gleichwertig erachtet werden und in ihrem Zusammenwirken das didaktische Fundament des Fremdsprachenunterrichts bilden. Abb. 1 Pro Plan Modell (vgl. Diehr et al., 2020) Sprachlernprozesse fördern Inhalte und Themen gestalten Kulturbezogenes Lernen fördern Sprachbewusstheit entwickeln Umgang mit Texten und Medien anleiten Kommunikationsangebote schaffen DIMEN S IONEN D E R UNT E R RI C HTS P LANUNG Abb. 1: Pro Plan Modell (vgl. Diehr et al., 2020) Auch wenn die beiden Dimensionen ‚Sprachlernprozesse‘ und ‚Themen und Inhalte‘ grundsätzlich unverzichtbar sind, gibt es keine unveränderliche Rei‐ henfolge für die Anwendung dieser Dimensionen. Studierende werden zudem darauf aufmerksam gemacht, dass das Modell weder den Planungsprozess noch den Unterricht in Gänze abbilden kann, sondern didaktische Priorisierungen und Schwerpunktsetzung erleichtert. Deshalb sollte Unterricht auch nicht nach einem starren Schema geplant werden. Wichtig ist vielmehr ein Bewusstsein für die fremdsprachenspezifischen Dimensionen, derer sich Berufsanfänger*innen oft nicht hinreichend bewusst sind. Der Nutzen des Pro Plan Modells in der universitären Lehrer*innenbildung liegt daher vor allem darin, dass die Studierenden angeregt werden, sich der Komplexität des Fremdsprachenlehrens bewusst zu werden und Planungs‐ handlungen begründet und zielorientiert vorzunehmen. Eine Befragung unter 25 Studierenden, die am PETE Projekt teilnahmen, zeigt, dass das Pro Plan Modell in Verbindung mit einem Tutorium tatsächlich diese bewusstmachende Wirkung ausübt (vgl. Steinkuhle & Ziegler, 2018). Insbesondere der Blick für die Notwendigkeit, das sprachliche Lernen systematisch zu fördern, wurde ge‐ 201 Fremdsprachenunterricht professionell planen schärft. Vor der Kenntnisnahme des Pro Plan Modells waren die Planungsüber‐ legungen dieser Studierenden nicht auf einen Spracherwerbsunterricht ausge‐ richtet, sondern auf eine Schüler*innenaktivierung zu interessanten Themen auf bereits vorhandenem, hohem Fremdsprachenniveau (vgl. auch Kolb, 2016). Da das Pro Plan Modell mit jeweils fünf Komponenten zu jeder Dimension (vgl. Diehr et al., 2020) zum Einsatz kommt, werden Studierende bei ihren Planungshandlungen angeregt, spezifische Aspekte zu bedenken, mit denen die recht abstrakten Dimensionen für sie handhabbarer werden. Die praktische Erprobung des eigenen Planungskonzepts in der Unterrichtsdurchführung leistet einen weiteren Beitrag zur Professionalisierung, denn in der Rolle der Lehrenden erfahren die Studierenden, dass sich Unterricht nicht vollständig und nicht sicher antizipieren lässt. Hier kann das Pro Plan Modell für ein systematisches Feedback zu den studentischen Unterrichtsversuchen genutzt werden, mit dem auch Abweichungen von und spontane Modifikationen der Planung im Dialog erörtert werden können. 5 Erforschung des Planungshandelns Da das PETE Team für die Forschung ein Kompetenzstrukturmodell benötigte, wurde zu jeder Dimension mit ihren jeweiligen Komponenten eine Skalierung mit jeweils vier Niveaustufen vorgenommen. Jede Planungskomponente wird auf einer Skala von I bis IV näher beschrieben, wobei Niveau I für eine kaum ausgeprägte und Niveau IV für eine hoch entwickelte Planungskompetenz steht (vgl. Diehr et al., 2020). Beispielsweise enthält die Dimension „Kulturelles Lernen fördern“ als eine von fünf Komponenten die „Vermittlung sozio-kultu‐ rellen Orientierungswissens“. Die Deskriptoren für die vier Niveaustufen dieser Komponente lauten: I. Erweiterung des sozio-kulturellen Orientierungswissens über anglo‐ phone Bezugskulturen bleibt dem Zufall überlassen II. Erweiterung des sozio-kulturellen Orientierungswissens wird pauschali‐ sierend ausgewiesen III. Konkrete Bestandteile des zu erwerbenden Orientierungswissens werden differenziert (materielle, mentale, soziale Dimension) benannt. Phäno‐ mene aus unterschiedlichen Bereichen (Literatur, Mode usw.) werden einbezogen IV. Zusätzlich werden Vergleiche zwischen verschiedenen anglophonen Be‐ zugskulturen und Herkunftskulturen zur Entwicklung von Selbstreflexi‐ vität angeregt. Aktualität und Relevanz der Themen werden reflektiert (vgl. Diehr et al., 2020). 202 Bärbel Diehr Mithilfe dieser Niveaustufenkonkretisierungen können Planungshandlungen eingestuft, diagnostiziert, reflektiert und erforscht werden. Es ist anzunehmen, dass ein mehrfacher Einsatz des vollständigen Pro Plan Modells im Laufe des Studiums die Chance birgt, kumulative Lernprozesse sichtbar zu machen, wenn Studierende Schritt für Schritt höhere Niveaustufen in ausgewählten Dimensionen und Komponenten entwickeln. In einer Fallstudie mit Lehramtsstudierenden einer kulturdidaktischen Lehr‐ veranstaltung wurde beispielsweise die Planungskompetenz im Bereich des kulturellen Lernens explorativ erfasst und beschrieben (vgl. Diehr, erscheint). Eine Prä-Post-Befragung von 31 Studierenden zur Selbsteinschätzung ihrer Fä‐ higkeit, kulturbezogenes Lernen zu planen, ergab, dass alle Beteiligten am Ende eines Semesters, in dem sie sich mit dem Pro Plan Modell auseinandersetzten, ihre Planungskompetenz höher einschätzen als zu Beginn. Bemerkenswert ist dabei, dass der größte Anstieg auf diejenige Komponente entfällt, die die Fähigkeit beschreibt, die kulturbezogene Deutungsfähigkeit von Lernenden zu fördern. Der schwächste Anstieg zeigt sich hingegen in der Planungskompo‐ nente, die sich auf die Schaffung kulturellen Orientierungswissens bezieht. Zusätzlich zur Befragung wurden die Unterrichtsskizzen (lesson plans) von sieben Studierenden, die ihre Planungskonzepte in Englischkursen des Sprach‐ lehrinstituts der Bergischen Universität realisierten, von drei Ratern mithilfe der Pro Plan Niveaustufen kodiert und analysiert. Die Rater waren in der Anwendung der Niveaustufen auf konkrete lesson plans zuvor vom PETE Team geschult worden. Die Auswertung (vgl. Diehr, erscheint) zeigt in der Verteilung der Kodiereinheiten auf die Komponenten der Dimension Kulturbezogenes Lernen fördern eine Schwerpunktsetzung auf die Planung von Perspektivwech‐ seln, gefolgt von der Förderung kulturbezogener Deutungsfähigkeit; geringe Aufmerksamkeit zeigt sich in den Planungsprodukten hingegen für die Identi‐ fizierung von kulturbezogenen Zielen und Kompetenzen, für die Vermittlung von kulturellem Orientierungswissen und die Förderung der interkulturellen Interaktion. Bemerkenswert ist schließlich auch der Unterschied zwischen der Fremdeinschätzung der Planungsprodukte und der Selbsteinschätzung der Planungskompetenz: Die Rater stufen mehr als drei Viertel der kodierten Passagen aus den lesson plans auf den Niveaus I und II ein, was mit der geringen Planungserfahrung der Studierenden erklärbar ist; die Studierenden selbst stufen ihre Planungskompetenz am Ende des Semesters jedoch höher, im Durchschnitt auf Niveaustufe III, ein. Insgesamt deuten die Ergebnisse aus dem PETE Projekt darauf hin, dass sich das vollständige Pro Plan Modell als Heuristik für die Forschung eignet. Des Weiteren zeigen die Erfahrungen aus zahlreichen fachdidaktischen Seminaren, 203 Fremdsprachenunterricht professionell planen dass Pro Plan genutzt werden kann, um in der fremdsprachendidaktischen Lehre Planungskompetenz wissenschaftsbasiert und systematisch zu entwickeln. Auch als Feedbackinstrument und zur individualdiagnostischen Rückmeldung scheint Pro Plan gut einsetzbar zu sein, wobei noch zu überlegen ist, ob in der frühen Phase des Professionalisierungsprozesses auf die Niveaustufenkon‐ kretisierungen verzichtet werden sollte, um der eigenständigen Reflexion mehr Raum zu geben als einer externen Bewertung. 6 Ausblick Während Knorr (2015) und Kolb (2016) kritisch anmerken, dass Unterrichts‐ planung von der fremdsprachendidaktischen Theoriebildung und Forschung weitgehend ignoriert wird, deuten neuere Publikationen darauf hin, dass sie als fachdidaktisch-professionstheoretische Kategorie (vgl. Gerlach et al., 2020, S. 120) in Zukunft vermehrt beachtet und in das Studium zukünftiger Fremd‐ sprachenlehrkräfte integriert wird. Die Ergebnisse des PETE Projekts belegen, dass Studierende Planungskompetenzen erwerben können, die anschlussfähig an den Vorbereitungsdienst sind. Voraussetzung ist eine theoriebasierte syste‐ matische Erarbeitung von fachspezifischen Unterrichtsdimensionen während des Studiums. Das hier skizzierte Pro Plan Modell soll dazu einen Beitrag leisten. Von Ausbilder*innen der zweiten Phase, die mit der Bergischen Uni‐ versität im Rahmen des Praxissemesters kooperieren, wird die Kombination von Übersichtlichkeit und Fachspezifik des Pro Plan Modells als vorteilhaft bezeichnet. Ihnen zufolge fühlen Praxissemesterstudierende sich nicht durch überfrachtete Anforderungen überlastet, sondern nehmen die überschaubare Orientierungshilfe gut an. Das Projekt zeigt zudem, dass der dialogische Aus‐ tausch insbesondere mit den studentischen Tutorinnen für die Studierenden wertvoll ist, weil neue Impulse, Anregungen und Rückmeldungen den Blick für Sprachunterricht schärfen können. Auch für die eingangs genannte Situation von Lehrkräften im Quer- und Seiteneinstieg lässt sich daraus der Vorschlag ableiten, in den entsprechenden Qualifizierungskonzepten die Zusammenarbeit mit Mentor*innen zu verankern, die den neuen Kolleg*innen bei der fachspezi‐ fischen Planung von Unterricht zur Seite stehen. 204 Bärbel Diehr Literatur Appel, Joachim (2000). Erfahrungswissen und Fremdsprachendidaktik. München: Langen‐ scheidt-Longman. Aprea, Carmela (2014). Unterrichtsplanung als Designaufgabe. Journal für LehrerInnen‐ bildung, 14 (4), 47-50. Borg, Simon (2006). The distinctive characteristics of foreign language teachers. Lan‐ guage Teaching Research, 10 (1), 3-31. Burwitz-Melzer, Eva, Riemer, Claudia & Schmelter, Lars (Hrsg.) (2018). Rolle und Profes‐ sionalität von Fremdsprachenlehrpersonen: Arbeitspapiere der 38. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen: Narr Francke Attempto. Caspari, Daniela (2018). 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Auf dieser Grundlage werden professi‐ onsorientierte, hochschuldidaktische Prinzipien zur Anbahnung, Förderung und Weiterentwicklung der Lehrkräftebildung herausgearbeitet. Deren Um‐ setzung in hochschuldidaktische Settings wird anhand von drei Beispielen aus der Fremdsprachendidaktik vorgestellt und als Impuls für die Entwicklung der fremdsprachendidaktischen Hochschullehre reflektiert. 1 Einführung Der Lehrberuf wird als eine „Profession“ aufgefasst, die sich „durch eine aka‐ demisch fundierte gesellschaftliche Aufgabe und durch berufliche Autonomie aus[zeichnet]“ (Abendroth-Timmer, 2016, S. 197). Diese Annahme verdeutlicht den Gegenpol zur Diskussion, ob es sich nicht um eine semiprofessionelle Tätigkeit handele, da die Autonomie der Lehrpersonen im Zuge der Standardi‐ sierungsbemühungen eingeschränkt würde (vgl. Klippel, 2018, S. 77). Die Professionalität von Lehrkräften und der Prozess ihrer Professionalisie‐ rung in Aus- und Weiterbildung steht z. Zt. vermehrt im Fokus fremdsprachen‐ didaktischer Forschung (vgl. Burwitz-Melzer, Riemer & Schmelter, 2018). Seit den 1990er Jahren rücken Lehrpersonen und ihre individuellen Sichten sowie hochschuldidaktische Überlegungen zur Förderung des Professionalisierungs‐ prozesses ins Zentrum wissenschaftlicher Untersuchungen (Martinez, 2018, S. 108-119; Schocker-v. Ditfurth, 2001, S. 32). Viele Vertreter/ -innen der fremdsprachendidaktischen Forschung stimmen überein, die Professionalität Fremdsprachenlehrender mithilfe einer Kombi‐ nation aus „kompetenzorientiertem, strukturtheoretischen und berufsbiografi‐ schem Ansatz“ (Bechtel, 2018, S. 9) zu beschreiben (so auch Burwitz-Melzer, 2018; Kurtz, 2018; Viehbrock, 2018). Dabei wird Professionalität zum einen als Entwicklungsprozess betrachtet, zum anderen als zu erreichender Zustand, der mit beobachteter beruflicher Fachkenntnis gleichgesetzt wird (vgl. Klippel, 2018, S. 77). Diese kann als Form professioneller Kompetenz definiert werden, die nicht nur aus deklarativen und prozeduralen Wissensbeständen besteht, sondern gleichermaßen affektiv-motivationale und attitudinale Fähigkeiten und Wertvorstellungen beinhalte, wodurch diese „mit dem Weinertschen Kompe‐ tenzbegriff “ kompatibel wird (Burwitz-Melzer, 2018, S. 22). In einschlägigen KMK-Papieren werden Lehrer/ -innen durch gesetzte Stan‐ dards dazu aufgefordert, „den Katalog an Kompetenzstandards sinnvoll zu in‐ tegrieren und im konkreten beruflichen Handeln um[zu]setzen“ (Wipperfürth, 2009, S. 21). Allerdings enthält „das KMK-Papier […] zwar ein fachspezifisches Kompetenzprofil für Neue Fremdsprachen, [legt] diesem aber kein theoretisch fundiertes Modell zugrunde“ (Diehr, 2018, S. 44). Unbenommen dieses Mangels kann Professionalität […] als eine Art Metakompetenz verstanden werden, also als die Fähigkeiten, Fertig‐ keiten und Bereitschaften (Weinert, 2001) einer Person, die für die in die eigene Zu‐ ständigkeit fallenden Aufgaben notwendigen Fähigkeiten und Bereitschaften immer wieder mit den Zuständigkeiten in Einklang zu bringen. (Schmelter, 2018, S. 179) Legutke & Schart (2016, S. 18-32) gehen weiter als die o. g. Standards, indem sie zur Spezifizierung professioneller Kompetenz von Fremdsprachenlehrkräften folgendes vierdimensionales Modell vorlegen: 210 Bergfelder-Boos, Noack-Ziegler, Franke, Deutsch, Morysr Lehren & Lernen Identität & Rolle Kooperation & Entwicklung Sprache & Kultur professionelle Kompetenzen Kontext Kontext Abb. 1: Dimensionen professioneller Kompetenz von Fremdsprachenlehrenden (Legutke & Schart, 2016, S. 18) Das Modell hat den Vorteil, dass die professionellen Kompetenzen aus mehrper‐ spektivischer Sicht in den Blick genommen und die jeweiligen Anforderungen an das Lehrer/ -innenhandeln nicht normativ, sondern heuristisch gesetzt werden (ebd., S. 24). Das Modell eröffnet damit Perspektiven, • fachwissenschaftliches und fachdidaktisches Wissen zusammen zu sehen und zu erforschen, „[u]nter welchen Bedingungen es geling[en kann], sprach-, literatur- oder kulturwissenschaftliche Wissenskomponenten in unterrichtliches Handeln zu überführen […]“ (ebd., S. 20), • das Lehrer/ -innenhandeln „sowohl in seinem individuellen als auch in seinem sozialen Charakter ernst [zu nehmen]“ (ebd., S. 23), • Aus- und Weiterbildung als einen ‚dialogischen Prozess‘ anzusehen, bei dem die Studierenden mit den universitären Lerngegenständen, den Anforderungen des Unterrichts, unterschiedlichen Forschungsmethoden und unterschiedlichen Lehr- und Lernpersonen in einen Austausch treten. 211 Professionsorientiertes Lehren und Lernen in der Lehrkräftebildung Unsere drei Beispiele fokussieren jeweils auf eine der oben genannten vier Dimensionen, haben aber immer die anderen Dimensionen als Ziel- oder als Handlungsdimension mit im Blick. Gemeinsam sind den Beispielen folgende Prinzipien: • Die Lerngelegenheiten sind mehrperspektivisch angelegt, d. h. sie geben Gelegenheit dazu, dass „die Felder der Fremdsprachendidaktik sowohl theoretisch durchdrungen als auch handelnd erfahrbar gemacht und jeweils kritisch reflektiert werden“ (Königs, 2008, S. 13 zit. nach Martinez, 2018, S. 113). • Die Lerngegenstände werden weitgehend selbstständig, eigenverant‐ wortlich und situativ erarbeitet. • Den Studierenden wird Gelegenheit gegeben, „eine forschende Haltung gegenüber ihrem Tun ein[zu]nehmen, die eigenen Handlungsspielräume [zu] erkunden und die Folgen ihrer Entscheidungen genauer in den Blick [zu]nehmen“ (Legutke & Schart, 2016, S. 25). 2 Erstes Beispiel: „Lernen durch Lehren“ in der sprachendidaktischen Grundausbildung von Lehrer/ -innen Das Konzept des „Lernen durch Lehren“ (LdL) bezeichnet „[…] eine kooperative, handlungsorientierte Unterrichtsform, bei der sich die Lernenden neue Inhalte aneignen, indem sie sich gegenseitig unterrichten“ (Schädlich, 2017, S. 215). LdL hat sich in den letzten Jahrzehnten sowohl im schulischen (Fremd-)Sprachen‐ unterricht (z. B. Martin & Kelchner, 1998; Martin, 2000, S. 105; Scheelhaas, 2003) als auch in der hochschuldidaktischen Lehrkräftebildung (Wenig & Pfeiffer, 2016, S. 2) etabliert. In der Ausbildung von Lehrer/ -innen ist damit das Ziel verbunden, angehenden Lehrenden mehr Verantwortung für die Lernprozesse in der Seminararbeit zu übertragen, eine selbstständige Erarbeitung und Ver‐ mittlung von theoretischen Fachinhalten zu initiieren und die Entwicklung von Unterrichtsplanungskompetenzen sowie eine praktische Erprobung und Reflexion unterschiedlicher Unterrichtssettings zu ermöglichen (z. B. Wenig & Pfeiffer, 2016, S. 2-4). Dieses Beispiel gibt Einblick in die sprachendidaktische Seminararbeit im Bachelorstudiengang BScE (Bachelor en Sciences de l’Education) der Universität Luxemburg. Die Studierenden absolvieren in jedem Studiensemester ein vierbis sechswöchiges Praktikum an Schulen, sie durchlaufen fachwissenschaft‐ lich, forschungsmethodologisch, künstlerisch-ästhetisch und pädagogisch-di‐ daktisch ausgerichtete Seminare. 212 Bergfelder-Boos, Noack-Ziegler, Franke, Deutsch, Morysr Das LdL-Konzept wird seit 2010 im Seminar Enseignement des langues se‐ condes et étrangères à l‘Ecole fondamentale im zweiten Studienjahr umgesetzt. Hier werden Theorien des Zweit- und Fremdsprachenerwerbs mit konkretem Praxisbezug zum Sprachenunterricht bezogen auf die Schulsprachen Luxem‐ burgisch, Deutsch und Französisch in unterschiedlichen Settings erarbeitet. Wechselnde und durch die Studierenden wählbare Themenschwerpunkte bilden z. B. Kompetenz- und Aufgabenorientierung, Immersionsmodelle, die Verbin‐ dung von Sprachen- und Inhaltslernen (CLIL) und sprachsensibler Sachfachun‐ terricht. Die Rolle der Studierenden Durchgängiges Prinzip des Seminarkonzepts ist, dass die einzelnen Themenbe‐ reiche von jeweils einer Gruppe à zwei bis drei Studierenden eigenständig erarbeitet, didaktisch aufbereitet und unterrichtet werden. Die vorhandene Seminarzeit wird fast vollständig durch die Studierenden selbst gestaltet. Ledig‐ lich die Einführungssitzung, kurze Reflexionsphasen am Ende jeder Sitzung sowie eine Abschlussreflexion werden von der Seminarleiterin moderiert. Die Verantwortung für eine effektive Nutzung der Seminarzeiten wird insofern weitgehend auf die Studierenden übertragen. Dies führt zu dem für LdL-Settings bekannten Effekt, dass bis zu 80 % des Redeanteils bei den Studierenden liegt (vgl. Martin, 2000, S. 108) und die Aktivität der Studierenden sowie die Interaktionen unter ihnen im Vergleich zu lehrkräftegesteuerten Seminar‐ formen steigen. Die fachdidaktischen Inhalte werden aus der Perspektive der Experten-Studierenden beleuchtet und für die Zielgruppe der Studien‐ kolleg/ -innen aufbereitet. So entsteht ein ressourcenorientierter Zugang zu den Thematiken, der sich an den Lernvoraussetzungen, Interessen und sprachlichen Kompetenzen der Studierenden orientiert. Es kommt zu einem Berufsfeld- und Praxisbezug, da die Studierenden sich in die Rolle der Seminarleitung begeben, praktische Erfahrungen in der Lehre sammeln und diese mit Blick auf ihre spätere Lehrtätigkeit an der Schule reflektieren. Die Rolle der Dozentin Die Einführung in das Seminarkonzept dient einerseits dazu, den Studierenden die im Vergleich zu anderen Seminaren veränderten Rollen von Dozentin und Studierenden transparent zu machen, unterschiedliche unterrichtsmetho‐ dische Umsetzungsmöglichkeiten zu diskutieren und Qualitätskriterien für die durchzuführenden Seminarsitzungen zu erarbeiten. Andererseits wird anhand von didaktischen Veröffentlichungen (z. B. Martin, 2000; Martin & Kelchner, 1998) von Anfang an reflektiert, wie eine Umsetzung des LdL-Konzepts im 213 Professionsorientiertes Lehren und Lernen in der Lehrkräftebildung Schulkontext in unterschiedlichen Alters- und Niveaustufen aussehen könnte. Die Studierenden übertragen im Seminarverlauf die eigenen Erfahrungen mit dem Konzept auf ihre spätere Berufspraxis und können didaktisch-methodische Vorgehensweisen für die altersgerechte Anleitung von Schülerinnen und Schü‐ lern erarbeiten (vgl. Martin, 2000, S. 108). Sie durchlaufen einen kontinuierlichen Lern- und Reflexionsprozess, wobei gewinnbringende Planungs- und Profes‐ sionalisierungsprozesse in Gang gesetzt werden. Die Studierenden haben so die Chance, bei der Vorbereitung, Durchführung und Reflexion der Seminare positive Selbstwirksamkeitserfahrungen zu machen. Die Unterstützung der Studierendengruppen bei der Planung, Durchführung und Reflexion ihrer Seminarsitzungen erfolgt durch die Bereitstellung von Fachliteratur durch die Dozentin, durch mindestens eine vorbereitende Sprech‐ stunde vor dem jeweiligen Seminartermin, durch Feedback zur schriftlichen Unterrichtsplanung sowie zur durchgeführten Sitzung, durch die strukturierte Rückmeldung der teilnehmenden Kommilitoninnen und Kommilitonen sowie eine gemeinsame Abschluss-Evaluation des Seminars. Die Vorbereitung und die Reflexion der Seminarsitzungen sowie das Feedback durch die Seminarlei‐ terin und die Mitstudierenden erfolgt einerseits auf inhaltlich-theoretischer, andererseits auf didaktisch-methodischer Ebene. Um den verantwortlichen Studierenden die Zusammenarbeit mit den Seminarteilnehmer/ -innen zu er‐ leichtern und die Seminare inhaltlich vorzuentlasten, erhalten alle Beteiligten von der Dozentin verpflichtende Leseaufträge zu den jeweiligen Themen sowie Diskussionsimpulse für eine vorbereitende online-Diskussion. Förderung von Reflexionskompetenzen Im Seminarverlauf werden die Studierenden systematisch anhand von Vor- und Nachbereitungsaufgaben dazu angeregt, das LdL-Konzept, die durchge‐ führten und erlebten Seminarsitzungen, ihre eigenen Arbeitsprozesse, ausge‐ wählte Aspekte der Seminarthemen sowie Möglichkeiten der Übertragung des LdL-Konzepts auf den Schulkontext zu reflektieren. Die Erfahrungen aus der Seminararbeit, die Rückmeldungen in den Reflexionen der Studierenden und die beobachteten Arbeitsergebnisse und -prozesse sind überwiegend positiv und zeigen die Relevanz des Konzepts für die sprachendidaktische Ausbildung. Die Herausforderungen bei der hochschuldidaktischen Arbeit liegen darin, die Kompetenzen der Studierenden auf der Ebene der Reflexion zu entwickeln, ohne ihre positiven Erfahrungen und Selbstwirksamkeitserlebnisse bei der Planung und Durchführung der Seminarsitzungen zu entwerten: So bleibt die didaktische Reflexion der Sitzungen auch bei unterstützender Anleitung teilweise unkritisch und nacherzählend. Die zentrale Problematik einer Un‐ 214 Bergfelder-Boos, Noack-Ziegler, Franke, Deutsch, Morysr 1 Weitere Informationen zur Mentoring-Qualifizierung siehe Kräling, Pachale & Wieland in diesem Band. terrichtssituation wird nicht immer erkannt und kriteriengeleitet analysiert. Ob und inwiefern sich das LdL-Konzept auch in (höheren) Klassenstufen der Grundschule oder in weiterführenden Schulformen durchführen ließe, wird von vielen Studierenden mit der Begründung verneint, dass Schüler/ -innen nicht die gleichen sprachlichen und didaktischen Kompetenzen hätten wie sie als zukünftige Lehrende. Vorschläge zur didaktischen Umsetzung des LdL-Kon‐ zepts im schulischen (Fremd-)Sprachenunterricht fokussieren - zumindest im Kontext der luxemburgischen Lehrkräfteausbildung des BScE - meist einseitig auf Grammatik- und Wortschatzarbeit. Das zeigt, dass die Erfahrungen mit dem Konzept im Seminarkontext nicht ohne Weiteres auf die eigene zukünftige Unterrichtspraxis transferiert werden können. Empirische Untersuchungen in diesem Bereich erscheinen insofern lohnenswert. 3 Zweites Beispiel: Verbindung von Theorie und Praxis im Berliner Praxissemester durch den ko-konstruktiven Ansatz In diesem Beispiel werden das Modul Schulpraktische Studien im Lehramts‐ studiengang der romanischen Sprachen an der FU Berlin und die dort ent‐ wickelte Mentoring-Qualifikation (MQ) auf ihr Potenzial zur Ausbildung professioneller Kompetenz für Fremdsprachenlehrkräfte untersucht. Beide Lehrveranstaltungen (bezüglich der MQ nur der fachdidaktische Teil) wurden am Lehrstuhl von Frau Prof. Caspari über Jahre aus-, um- und weiterentwickelt. 1 Den Studierenden und den Lehrkräften wird in diesen Aus- und Fortbildungs‐ veranstaltungen Gelegenheit gegeben „eine forschende Haltung gegenüber ihrem Tun einzunehmen“ (Legutke & Schart, 2016, S. 25). Diese wird durch eine Theorie-Praxis-Verbindung zwischen universitären und schulpraktischen Lern‐ gegenständen und zwischen den jeweiligen Rollen erreicht, die die Praxissemes‐ terstudierenden als Lernende und als Unterrichtende einnehmen. Somit werden Rollenverständnis und Professionalität kontinuierlich thematisiert, diskutiert und durch Wissenserwerb und Praxisphasen gefördert (vgl. Burwitz-Melzer, 2018, S. 23). Bezogen auf das Modell von Legutke & Schart (2016, S. 18-32) steht in diesen Seminaren die Dimension „Lehren und Lernen“ im Fokus. „Kooperation“ als Handlungs- und „Rolle“ als Zieldimension erfahren dabei besondere Berücksichtigung. Das Modul Schulpraktische Studien umfasst drei konsekutive Lehrveranstal‐ tungen: Zuerst besuchen die Studierenden das Vorbereitungsseminar, dann 215 Professionsorientiertes Lehren und Lernen in der Lehrkräftebildung folgt das Praxissemester, verbunden mit einem Begleitseminar und einer Nach‐ bereitungsveranstaltung. Das Modul ist prozessorientiert auf die mehrfache Entwicklung des Produkts ‚Planung einer kompetenzorientierten Unterrichts‐ reihe‘ hin konzipiert (siehe Caspari, 2020). Studierende sollen Ansätze für ein Konzept- und Theorierepertoire entwickeln, indem sie Planungsentschei‐ dungen begründet treffen und reflektieren üben. Die Studierenden wechseln hierbei immer wieder die Rollen: Als Lernende sollen sie sich Inhalte und Kompetenzen aneignen, als Lehrende erproben sie diese Rolle, indem sie für Planung, Durchführung und Reflexion eigener Unterrichtsvorhaben sowie die Reflexion der Unterrichtsreihen ihrer Kommiliton/ -innen (mit-)verantwortlich sind. Die Betreuung an den Schulen erfolgt durch Lehrkräfte, die idealerweise an der MQ teilgenommen haben. Sie sind die zentralen Bezugspersonen Studie‐ render in der Schule und begleiten sie bei schulischen Aktivitäten. Sie bieten Hospitationsmöglichkeiten und besprechen Unterrichtsversuche. Die eigens konzipierte MQ bereitet die Lehrkräfte auf ihre Betreuungsaufgaben vor (siehe Beitrag Kräling, Pachale & Wieland in diesem Band). Die MQ Romanistik soll die Lehrkräfte durch die fremdsprachendidaktische Ausgestaltung des ko-konstruktiven Ansatzes dazu befähigen, die Studierenden bei der Wissens- und Kompetenzentwicklung zu begleiten. Sie machen sich die eigene Rolle als Mentor/ -in bewusst und entwickeln diese unter Anleitung. Zum Theorie-Praxis-Verständnis Im ko-konstruktiven Ansatz sind Lehrkraft und Studierende gemeinsam in der Verantwortung, Unterricht zu planen und durchzuführen. Eine hierarchisch geprägte Arbeitsbeziehung soll durch einen Wandel der Rollenzuweisungen von ‚Lehrkraft mit Expertise‘ und ‚Studierende mit Theoriewissen‘ verändert werden. Erfahrungsgemäß tragen beide Gruppen dazu bei, die Differenzthese von „universitärer Theorie und authentischer unterrichtlicher Praxis“ (Caspari, 2018, S. 38) fortzuschreiben. Studierende sehnen sich nach der praktischen Tätigkeit in der Schule; Teilnehmer/ -innen der MQ möchten diese zunächst mehrheitlich als Fortbildungsveranstaltung nutzen. Der hier sichtbare Rationa‐ litätsbruch zwischen dem praktischen Erfahrungswissen von Lehrer/ -innen und dem theoretischen, wissenschaftlichen Wissen Studierender sollte aktueller Forschung zufolge durch reflektiertes Handlungswissen überbrückt werden (vgl. Legutke & Schart, 2016, S. 30). Studierende sollten dafür die Praxisphase in einem Umfeld der „praxisorientierten Wissenschaftlichkeit“ (Schröder zit. nach Burwitz-Melzer, 2018, S. 46) durchlaufen. Lehrer/ -innen im Praxissemester fällt dabei die Aufgabe zu, Studierende anzuleiten, zu unterstützen und ihren 216 Bergfelder-Boos, Noack-Ziegler, Franke, Deutsch, Morysr Unterricht zu evaluieren. Die in der MQ erlernte Beratungstechnik bietet ihnen hierfür eine Möglichkeit, Studierende bei ersten Didaktisierungsversuchen zu begleiten. Es werden somit die institutionellen Voraussetzungen für eine Kooperation zwischen den Beteiligten geschaffen. In der MQ und den Schulpraktischen Studien wird die Fähigkeit und Bereit‐ schaft angeleitet, sich als Lehrperson zu reflektieren und berufslebenslang fachlich und persönlich weiterzuentwickeln. Dies ist für eine erfolgreiche und befriedigende Ausübung des Lehrberufs unverzichtbar (Caspari, 2018, S. 38). Fachdidaktisches und fachliches Wissen einsetzen Während des Vorbereitungsseminars und im Praxissemester entwickeln Stu‐ dierende kooperativ Unterrichtsreihenplanungen und geben sich hierzu Rück‐ meldungen. Die Planungen erfolgen kompetenzfokussiert und nach Prinzipien des aufgabenorientierten Ansatzes. Diese Vorgaben reduzieren die Komplexität der Planungsmöglichkeiten und bieten einen roten Faden für die Analyse der Planungsprodukte. Ein dialogischer, reflexiver Bezug auf fachdidaktische Annahmen wird somit erleichtert. Eine umfassende Vorbereitung, Begleitung und Reflexion sollte zum Erwerb exemplarischen Wissens und transferfähiger Kompetenz (vgl. Burwitz-Melzer, 2018, S. 47) führen, sodass das fachdidaktische, ‚theoretische‘ Wissen nicht regelhaft zur „Problemlösung“ (Rothland, 2020, S. 273) eingesetzt wird. Gestaltungsspielräume und die Bedeutung handlungs‐ leitender Konzepte (vgl. Leguke & Schart, 2016, S. 23) können nicht nur bei der Auswertung von gehaltenem, sondern auch bei der Vorbesprechung von anti‐ zipiertem Unterricht bewusst gemacht werden. Hierfür muss der/ die Mentor/ -in für Kompetenzorientierung und Prinzipien des aufgabenorientierten Ansatzes offen sein. Um die Kooperation fachdidaktisch zu fundieren, werden in der MQ mehrere Planungen unter fachdidaktischen Gesichtspunkten analysiert. Diese Facette forschenden Lernens nutzt auf Seiten der Studierenden „universitäre Theorie“, um die unreflektierte Imitation von Unterricht zu vermeiden (vgl. Rothland & Böcker, 2014, S. 393). Sie begünstigt die Entwicklung von Profes‐ sionalität, indem Entscheidungen und ihre Folgen genauer untersucht und analysiert werden können (vgl. Legutke & Schart, 2016, S. 25). Lehrer/ -innen und Studierende können sich als Teil einer „professionellen Gemeinschaft“ (Legutke & Schart, 2016, S. 28) begreifen, die professionelles Wissen ko-konstruiert. Im Austausch über die Planungsideen können Unterschiede in der Wahrneh‐ mung entdeckt, neue Sichtweisen erkundet und wissenschaftliche Konzepte tiefergehend thematisiert werden. Ihre Kooperation ist also grundlegend, um eine forschende Haltung und damit einhergehend eine Professionalisierung der Beteiligten zu begünstigen und eine Theorie-Praxis-Verbindung zu realisieren. 217 Professionsorientiertes Lehren und Lernen in der Lehrkräftebildung Zum Rollenverständnis und Rollenwechsel Die Lehrer/ -innen können als Mentor/ -innen ihre berufliche Identität weiter ausdifferenzieren. In der MQ sind sie zunächst Lernende, indem sie ihr fachdi‐ daktisches Wissen erweitern. Dann schlüpfen sie in die Rolle von Beratenden, indem sie das neu erworbene Wissen in der ko-konstruktiven Planung und Rückmeldung von Unterrichtsreihen anwenden. Sie erkunden in der Gruppe diskursiv und reflexiv ihre Rolle und loten aus, wie sie diese ausgestalten können. Einen Rollenwechsel unter umgekehrten Vorzeichen vollziehen Studierende, die aus ihrer Lernenden-Rolle heraus Lehrende werden. Sie erkunden Hand‐ lungsoptionen bei der Unterrichtsplanung und erproben in der Umsetzung sowohl deren Wirksamkeit als auch eine Passung zu ihrem sich entwickelnden beruflichen Selbstbild. Ob und wie Theorie und Praxis didaktisch vermittelt und Theoretisches praktisch angewandt werden könnte (vgl. Rothland, 2020, S. 3), ist dabei der Entwicklung einer professionellen Reflexionskompetenz untergeordnet. Zwar gibt es Hinweise darauf, dass universitäre Praxisphasen zur Entwicklung letzterer nicht ausreichen (vgl. Legutke & Schart, 2016, S. 35), doch enthielten „dialogisch-diskursive Lernformen“, wie sie zusätzlich zu den universitären Angeboten durch die Mentoring-Begleitung realisiert werden, das größte Potenzial für die angestrebte Kompetenzentwicklung, da „der geplante und praktizierte Unterricht […] Gegenstand forschenden Lernens“ wird (ebd., S. 36). Unsere Erfahrungen mit den Schulpraktischen Studien und der MQ zeigen, dass der reflexive Umgang mit Wissen sowie die reflexive Verarbeitung von Erfahrung im Blick auf die Relationierung von wissenschaftlicher Theorie und pädagogischer Praxis unabweisbar bedeutsam ist. Hierzu bedarf es einer doppelten Professionalisierung. Der „wissenschaftlich-reflexive Habitus wie auch der Habitus des routinisierten, praktischen Könners in Ausbildung und Berufspraxis [benötigen] jeweils bestimmte Orte und Rahmungen […] und [müssen] besonders in der beruflichen Praxis reflexiv aufeinander bezogen werden […]“ (Häcker, 2017, S. 35). 4 Drittes Beispiel: Performativ-forschendes Lernen und Lehren in der Lehrkräfteweiterbildung Forschendes Lernen als universitäres Lehr-Lernkonzept ist seit den 2000er Jahren (u. a. Schocker-v. Ditfurth, 2001; Benitt, 2014; Cornelius, 2020) Gegen‐ stand fremdsprachendidaktischer Forschung (Legutke & Schart, 2016, S. 38). Die Anwendung des Konzepts in der Lehrkräftebildung mit dem Ziel, auf 218 Bergfelder-Boos, Noack-Ziegler, Franke, Deutsch, Morysr Seiten der Studierenden „eine für ihren […] schulpädagogischen Beruf relevante forschende Haltung, Reflexivität und Professionswissen“ (Thünemann, Schütz, & Doğmuş, 2020, S. 125) zu fördern, wird als Motor für eine „Veränderung der Strukturen“ (Legutke & Schart, 2016, S. 38) universitärer Lehrkräftebildung angesehen. Für die Teilnehmer/ -innen einer Lehrkräfteweiterbildung eröffnet die Umsetzung des Konzepts Möglichkeiten (vgl. Bergfelder-Boos & Caspari, 2020, S. 71-76), • fachwissenschaftliches und fachdidaktisches Wissen durch ‚verbindende‘ Forschungsfragen zu verzahnen, in unterrichtliche Fragestellungen zu überführen und die didaktische Umsetzung in ihrem Unterricht zu er‐ proben, • erworbenes Professionswissen durch einen fragegeleiteten Blick auf den Prüfstand zu stellen, • die Weiterbildungs-Lerngruppe zu einer ‚forschenden Gemeinschaft‘ zu entwickeln und diesen kommunikativen Raum zum Diskutieren, Üben und Experimentieren zu nutzen. Forschendes Lernen wird im Folgenden als hochschuldidaktisches Lehrkonzept verstanden und im Rekurs auf Huber wie folgt definiert: Als Lehrkonzept betrachtet gewichtet es [das forschende Lernen] besonders die Entdeckung und Definition offener Probleme und die Entwicklung eigener Fragen dazu durch die Studierenden, die möglichst selbstständige Durchführung von Unter‐ suchungen, die Auswertung und Darstellung der Ergebnisse vor irgend einer Art von Öffentlichkeit und die Reflexion des ganzen Projekts (Huber, 2014, S. 25). Unter ‚Untersuchungen‘ subsummiert Huber theoriegeleitete Interpretationen von Texten und empirische Erhebungen. Das hier vorgestellte Konzept des ‚performativ-forschenden‘ Lehrens und Lernens wird als eine Lernform aufge‐ fasst, bei der die Studierenden unter einer Fragestellung Vermittlungsformen des Performativen (z. B. Vorträge, Lesungen, Erzählperformances) analysieren, in unterschiedlichen Anwendungssituationen (z. B. im Seminar, im Unterricht) vor unterschiedlichem Publikum selbst hervorbringen und den performativen Produktions- und Rezeptionsprozess kriteriengeleitet reflektieren. Das Konzept ist progressiv angelegt und mündet in Planung, Durchführung und Reflexion eines Unterrichtsvorhabens im Format eines Aktionsforschungsprojekts (vgl. Bergfelder-Boos & Caspari, 2020, S. 44-50). Das Konzept wurde in einem der Weiterbildungsstudiengänge ‚Romanische Sprachen‘ der FU Berlin erprobt und wissenschaftlich begleitet (vgl. Berg‐ 219 Professionsorientiertes Lehren und Lernen in der Lehrkräftebildung 2 Die Vorteile und die gleichwohl bestehende Problematik der begleitenden Forschungs‐ arbeit durch die Weiterbildungsdozentin (vgl. Bergfelder-Boos, 2018, S. 214-216) wurden mit den Teilnehmer/ -innen der Weiterbildung besprochen, Verabredungen für die jeweiligen Verantwortlichkeiten wurden getroffen. 3 Zum Begriff des Performativen siehe Bergfelder-Boos (2018, S. 103-107). felder-Boos, 2018). 2 Es handelt sich um ein sechssemestriges, berufsbegleitendes Fremdsprachenstudium mit einem an den Anforderungen des Lehramtsstu‐ diums orientierten, auf die Zielgruppe der Lehrkräfte zugeschnittenen Curri‐ culum. Dazu werden thematische Schwerpunkte an einer ‚Schnittstelle‘ (vgl. Cornelius 2020, S. 208f.) zwischen den Fachwissenschaften und der Fachdidaktik vereinbart und curricular verankert. Die Weiterbildungsstudierenden nehmen an den Lehrveranstaltungen der regulär Studierenden teil, besuchen aber auch für sie speziell konzipierte Begleitseminare, in denen sie eine von der Wei‐ terbildungsdozentin betreute Gruppe bilden. Die im Folgenden dargestellten, progressiv angelegten Phasen des performativ-forschenden Lernens fanden in den Begleitseminaren statt. Sie erstreckten sich über die ersten vier Semester des Studiums. Thematischer Schwerpunkt war die Diskursform Erzählen. Phase 1: Sensibilisierung und Einstieg In der ersten Phase wird das Performative 3 auf pragmatischer Ebene erforscht: durch Anwendung von zuvor erarbeiteten erzähltheoretischen Kategorien auf die Analyse literarischer Texte und durch das kreative Weiter- und Umschreiben narrativer Texte, wobei die Ergebnisse in performativen ‚Vorleserunden‘ prä‐ sentiert werden. Am Ende dieser Einstiegsphase wird ein Forschungsschwerpunkt festgelegt. Hier fiel die Wahl auf das performative Erzählen. Folgende übergreifende Forschungsfragen wurden formuliert: (1) Was sind die charakteristischen Merk‐ male von Geschichten? (2) Wie können wir sie vor Publikum erzählen? (3) Worin besteht das Potenzial des mündlichen Erzählens für den Fremdsprachenunter‐ richt? (4) Wie können wir es nutzen? Phase 2: Erarbeitung Zur Beantwortung der ersten Forschungsfrage untersuchten die Studierenden erzähltheoretische und textlinguistische Texte im Hinblick auf Merkmale schriftlichen und mündlichen Erzählens. Ergebnis der Recherche war u. a. eine Merkmalliste von ‚Geschichten‘, ein intermedial angelegtes Prototypenmodell narrativer Vermittlungsformen und ein Texttypenmodell. Die Modelle wurden laufend erweitert und modifiziert. 220 Bergfelder-Boos, Noack-Ziegler, Franke, Deutsch, Morysr Die Beantwortung der zweiten Forschungsfrage erfolgte einerseits im krea‐ tiven Schreiben, bei dem nunmehr die intendierte mündlichkommunikative Realisierung (Texte zum Vorlesen und zum mündlichen Erzählen) den Schreib‐ prozess leitete, andererseits im freien Erzählen in verschiedenen Formen und Partner/ -innenkonstellation. Den Höhepunkt dieser Phase bildeten die ersten Zielprodukte performativen Forschens: die Erzählperformances der Teil‐ nehmer/ -innen vor dem Seminarpublikum. Sie wurden für die Reflexion der Ergebnisse videografiert. Die Äußerungen der Erzählenden nach den Performances bezogen sich auf emotionale, kognitive und ästhetische Erfahrungen: auf die Versuche, Kontakt zum Publikum aufzunehmen, Spannung durch textuelle Veränderungen und performative Gestaltungsmittel zu erzeugen und zu halten. Textuelle Verände‐ rungen seien durch Eingehen auf das Publikum und durch Zuspitzungen auf die Pointe entstanden, wobei die Textsorte ‚sich modifizierte‘. Aus mancher Alltagsgeschichte wurde eine fiktionale Geschichte. Die Reflexionen auf der Grundlage der Videoaufnahmen bezogen sich vor allem auf die Erzählwürdig‐ keit der Geschichten, auf die Erzählhaltung und auf die textuellen und perfor‐ mativen Mittel zur Gestaltung der Performance. Als gemeinsames Ergebnis wurden die performativ recherchierten Gestaltungsmittel in eine ‚Merkmal- und eine Checkliste zum freien mündlichen Erzählen‘ überführt. Hypothesen zum Potenzial mündlichen Erzählens wurden formuliert. Phase 3: Anwendung und Reflexion Zur Beantwortung der dritten und vierten Forschungsfrage wurden fachdi‐ daktische Ansätze auf Anregungen zur Kompetenzentwicklung und zur Un‐ terrichtsgestaltung sowie Videoaufnahmen einer professionellen Erzählperfor‐ mance auf den Einsatz performativer Mittel befragt. Unterrichtsszenarien zu verschiedenen Erzähltexten wurden entworfen. Die Ergebnisse wurden mit den Eingangshypothesen verglichen, die Merkmallisten anhand neuer Erkenntnisse erweitert. Die Aktionsforschungsprojekte der Studierenden wurden in Teams geplant und durchgeführt. Jedes Team sollte im Rahmen der übergeordneten Fragen (3 und 4) einen individuellen Forschungsschwerpunkt setzen und ein Un‐ terrichtsdesign zum Einsatz performativen Erzählens entwerfen. Die impuls‐ gebende Erzählung war aus einer Sammlung auszuwählen oder selbst zu verfassen und in einer Erzählperformance-Aufführung in ihren Lerngruppen 221 Professionsorientiertes Lehren und Lernen in der Lehrkräftebildung 4 Die systematische, theoriegeleitete Datenaufbereitung und -analyse wurde von der Forscherin geleistet (vgl. Bergfelder-Boos, 2018, S. 340-385). Sie diente als empirisches Material für die Forschungsarbeit zum mündlichen Erzählen als Performance (vgl. ebd.). Die Ergebnisse wurden den Teilnehmer/ -innen vorgestellt. Material zum mündlichen Erzählen in der Fremdsprache unter: https: / / tinyurl.com/ erzaehlprojekt [08.02.21]. zu präsentieren. Die Erzählstunden waren anhand der erarbeiteten Kriterien vorzustellen und in einem Dossier zu reflektieren. 4 Aus den Reflexionen der Projektteilnehmer/ -innen lässt sich schließen, dass für alle Beteiligten der (fremd-)sprachliche Aspekt ihres Kompetenzerwerbs − besonders im Hinblick auf die Anforderungen ihres Professionsfeldes - von zentraler Bedeutung war. Wichtig waren auch die Verbindungslinien zwischen Erwerb und Anwendung fachlichen und fachdidaktischen Wissens sowie der wachsende Mut und die Motivation zum Erproben von Neuem, Ungewohntem. Das performativ-forschende Lernen hält Potenzial bereit, Fachkompetenz „als ein mehrdimensionales Konstrukt, das aus einer fachwissenschaftlichen Kom‐ petenz […], einer fremdsprachlichen Kompetenz und einer fachdidaktischen Kompetenz besteht […]“ (Bechtel, 2018, S. 12), zu begreifen und integrativ zu fördern. Diese Kompetenzentwicklung wird im vorliegenden Beispiel er‐ reicht durch die curricularen Verbindungslinien, das Fokussieren auf einen Untersuchungsgegenstand, der aus unterschiedlichen Perspektiven erforscht wird. Der Untersuchungsgegenstand lässt sich variieren − z. B. durch andere Diskurs- oder Vermittlungsformen wie die digitale Kommunikation. Auch das Aktivitätsniveau (vgl. Ruess, Gess & Deicke, 2016, S. 25) im Hinblick auf das selbstständige Forschen ist variierbar. Weitere Formen von Aktionsforschung konnten in den o. g. Weiterbildungsstudien erprobt, ein Konzept zum Einsatz der Methode in der Lehrkräfteweiterbildung konnte entwickelt werden (vgl. Bergfelder-Boos & Caspari, 2020, S. 39-78). 5 Schlussreflexion Aus unseren hochschuldidaktischen Praxis-Beispielen ergeben sich Impulse für eine mehrdimensionale, fremdsprachendidaktische Spezifizierung profes‐ sioneller Kompetenzen (vgl. Bechtel, 2018, S. 12; Legutke & Schart, 2016, S. 18) künftiger und bereits ausgebildeter Fremdsprachenlehrkräfte. Es hat sich gezeigt, dass jedes Setting spezifische Kompetenzen fördert, die sich schwer‐ punktmäßig einem der vier Dimensionen des Modells von Legutke & Schart zuordnen lassen und sich aufeinander beziehen. Gleichzeitig lassen sie sich in den von Bechtel benannten Dimensionen „fachwissenschaftlich, fachdidaktisch, 222 Bergfelder-Boos, Noack-Ziegler, Franke, Deutsch, Morysr fremdsprachlich“ (Bechtel, 2018, S. 12) verorten, wobei wie von ihm gewünscht, das Fachdidaktische im Vordergrund steht. Im ersten Beispiel können vor allem Kompetenzen in der Dimension „Lehren und Lernen“ (Legutke & Schart, 2016, S. 21ff.) entwickelt werden, z. B. die Kompetenzen, • Lernprozesse kompetenzorientiert zu planen, anzuleiten, zu unterstützen und zu evaluieren und sich damit ein fremdsprachendidaktisches Hand‐ lungsrepertoire anzueignen, • sich konstruktiv Feedback zu geben und Probleme in der gemeinsamen Interaktion zu lösen. Im zweiten Beispiel können vor allem Kompetenzen in den Dimensionen „Kooperation und Entwicklung“ sowie „Lehren und Lernen“ gefördert werden. Dazu gehören z. B. die Kompetenzen, • Fachwissen kooperativ und theoriegeleitet anzuwenden und Unterrichts‐ praxis theoriegeleitet zu reflektieren, • Kooperation mit Lehrkräften auf Augenhöhe herzustellen, d. h. Gemein‐ samkeiten in der Diskussion zu finden, um theoriegeleitet und gleichzeitig praxisorientiert zu diskutieren und Perspektivwechsel zu generieren. Im dritten Besipeile werden Kompetenzen vor allem in der Dimension „Sprache und Kultur“ gefördert, z. B. die Kompetenzen, • fremdsprachlichen Input in unterschiedlichen mündlichen Kommunika‐ tionsformen sprachlich und situativ angemessen zu geben, • Fachwissen in Unterrichtsgegenstände zu transformieren bzw. Unter‐ richtsgegenstände theoriegeleitet zu erarbeiten und geeignete Vermitt‐ lungsformen zu finden. Die Dimension „Identität und Rolle“ ist in allen drei Beispielen wirksam: In den ersten zwei Beispielen geschieht dies durch die Fähigkeit zur Rollenaus‐ gestaltung und zum Rollenwechsel, im dritten Beispiel durch die Fähigkeit zur Identitätsbildung und zur Ausbildung emotionaler und volitionaler Kompe‐ tenzen wie z. B. einer Sicherheit im Gebrauch der Fremdsprache und einer performativen ‚Bühnenpräsenz‘. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Die in unseren Beispielen geschil‐ derten hochschuldidaktischen Prinzipien sind flexibel anwendbar. Sie lassen sich progredient einsetzen wie im ersten und auch semesterübergreifend im dritten Beispiel, besonders dann, wenn sie zu einem ‚Endprodukt‘ wie einem Aktionsforschungsprojekt führen. Sie eignen sich für spezifische Phasen der 223 Professionsorientiertes Lehren und Lernen in der Lehrkräftebildung Lehrkräftebildung wie dem Praxissemester oder der universitären Weiterbil‐ dung. Sie lassen sich auch punktuell anwenden: Das Prinzip ‚Lernen durch Lehren‘ kann zum Einsatz kommen, um im Seminar in Stamm- und Experten‐ gruppen unterschiedliche Themen zu erarbeiten, das ‚performativ-forschende Lernen‘, um den fachdidaktischen Einsatz unterschiedlicher Diskursformen im Fremdsprachenunterricht zu erproben. Ein häufiger punktueller und ein curricular verankerter, langfristig angelegter und gezielter Einsatz dieser Prin‐ zipien könnte sich unserer Ansicht nach ‚kumulativ‘ auswirken. Er könnte die Professionalisierung angehender und bereits praktizierender Lehrkräfte im Sinne eines lebenslangen Lernens nachhaltig fördern und sie befähigen, Lehr-/ Lernprozesse systematisch, theorie- und praxisgeleitet zu reflektieren und einen forschenden Habitus im Hinblick auf ihr unterrichtliches Handeln zu entwickeln. Literatur Abendroth-Timmer, Dagmar (2016). Lehrerforschung. In Carola Surkamp (Hrsg.) Metzler Lexikon Fremdsprachendidaktik. Ansätze - Methoden - Grundbegriffe (S. 196-199). Stuttgart: Springer Verlag. Bechtel, Mark (2018). Zur Professionalität von Fremdsprachenlehrpersonen. In Eva Bur‐ witz-Melzer, Claudia Riemer & Lars Schmelter (Hrsg.) Rolle und Professionalität von Fremdsprachenlehrpersonen. Arbeitspapiere der 38. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts (S. 9-20). Tübingen: Narr. Benitt, Nora (2014). Forschen, Lehren, Lernen - Aktionsforschung in der fremdsprachli‐ chen Lehrerbildung. Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 25(1), 39-41. 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Zur Professionalisierung von Fremdsprachenlehrpersonen - Überlegungen im Kontext von Quer- und Seiteneinstieg. In Eva Burwitz-Melzer, 224 Bergfelder-Boos, Noack-Ziegler, Franke, Deutsch, Morysr Claudia Riemer & Lars Schmelter (Hrsg.) Rolle und Professionalität von Fremdsprachen‐ lehrpersonen. Arbeitspapiere der 38. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdspra‐ chenunterrichts (S. 32-42). Tübingen: Narr. Caspari, Daniela (2020). Ausbildung von Reflexionskompetenz im fachdidaktischen Studium am Beispiel der romanischen Sprachen der Freien Universität Berlin. In Manuela Franke & Kathleen Plötner (Hrsg.). Fremdsprachendidaktische Hochschullehre 3.0: Alte Methoden −Neue Wege? Innovatives im Fokus und Bewährtes neu gedacht (S. 1-9). Stuttgart: Ibidem-Verlag. Cornelius, Helen (2020). Disziplinäre Schnittstellen als Potenzial - Literaturwissenschaft und Fachdidaktik im Lehramtsstudiengang Französisch. In Thomas Hofmeister, Hen‐ ning Koch & Peter Tremp (Hrsg.) 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Diese Behauptung manifestiert sich häufig bereits während der ersten Praxiserfahrungen in Orientierungs- oder Unterrichtspraktika, in Berlin im sogenannten Praxissemester. Untermauert wird diese Haltung oftmals auch von den praktizierenden Lehrer*innen, welche die Studierenden als Mentor*innen betreuen und/ oder von den Verantwortli‐ chen der Referendar*innenausbildung. Neuere Ansätze und Fragestellungen der Didaktik gelangen nicht oder nur sehr langsam, zum Teil auch deformiert in die Praxis und Impulse, die Unterricht im positiven Sinne bereichern und erneuern könnten, verpuffen. Wichtiges Wissen wird nicht transferiert und verbleibt im universitären Raum. Ein Dialog zwischen den beiden Welten Universität und Schulpraxis ist die Ausnahme. Genau dieser Dialog und auch die Frage, wie es gelingen kann, Lehrer*innen‐ bildung so zu gestalten, dass ein Brückenschlag zwischen der universitären (Aus-)Bildung und der Schulpraxis erfolgt und Kohärenzerleben möglich wird, sollen als wesentliches und langjähriges Anliegen der Jubilarin im Zentrum dieses Beitrags stehen. Veranschaulichen kann dies besonders gut das Modul Schulpraktische Studien, das in den letzten Jahren mit der Einfüh‐ rung des Praxissemesters neu ausgerichtet wurde und damit die Möglichkeit eröffnete aktuelle Ansätze der Kompetenzorientierung als Grundlage zu etablieren. Neben dem weit verbreiteten Prinzip der Aufgabenorientierung fand hier die fokussierte Kompetenzschulung Eingang, die im Arbeitsbereich Romanische Sprachen und Literaturen am Institut für Romanische Philologie der Freien Universität Berlin als Ansatz für die zweiten und dritten Fremd‐ sprachen diskutiert und weiterentwickelt wird. 1 Problemaufriss Wie nachhaltig ist das im Lehramtsstudium vermittelte Wissen? Wie können universitär geführte fachdidaktische Diskurse in der schulischen Praxis, sei es im Praktikum, im Referendariat oder später im Berufsleben, nicht nur überleben, sondern von den Akteur*innen als etwas wahrgenommen werden, das sie im unterrichtlichen Handeln stützt und ihnen kontinuierliche Impulse auch lange nach dem eigenen Studium gibt? So wichtig und unabdingbar Praxiserfahrungen in der Lehramtsausbildung sind, sie bergen auch immer die Gefahr eines Bruches. Die lang ersehnte erste Möglichkeit, sich tatsächlich in der Rolle als Lehrkraft im Unterricht zu er‐ proben, wird überhöht und von den Studierenden zuweilen als Legitimation des eigenen unterrichtlichen Handelns genutzt. Damit eine notwendige Reflexion des eigenen Handelns, die nicht nur auf unmittelbare methodische Aspekte des Unterrichts reduziert ist, stattfinden kann, muss diese angeleitet werden (vgl. u. a. Schädlich, 2019). Das in der ersten Praxis gesammelte Erfahrungswissen, das in der Wahrnehmung der Akteur*innen viel direkter mit dem späteren Beruf zu tun hat und daher relevanter, greifbarer, ja realer erscheint, überlagert die stärker auf Abstraktion, Reflexion und allenfalls simuliertes unterrichtliches Handeln ausgerichteten didaktischen Ansätze. Die didaktische - und die pädagogische - Forschung setzt sich seit Jahr‐ zehnten mit dem Verhältnis von Theorie und Praxis auseinander. Es herrscht durchaus Einigkeit darüber, dass es nicht das Ziel ist, Wissensbestände aus der Universität direkt anwenden zu können, sondern dass es immer eines Transfers, also der Überführung von Wissen in Handeln (vgl. Neuweg, 2011 und 2014) bedarf. Radtke (2004, S. 117) geht davon aus, dass „[d]as ‚richtige Wissen‘ […] nur ‚verstümmelt‘ zur Anwendung [kommt], es geht beim Transfer unterwegs zumindest teilweise verloren oder es wird bis zur Unkenntlichkeit trivialisiert […]“. Schädlich (2019, S. 16ff.; vgl. auch Radtke, 2004, S. 120ff.) macht hierfür vor allem die Strukturdifferenz von Wissenschaftswissen und schulpraktischem (Erfahrungs-)Wissen verantwortlich. Bei erstem geht es eher um die analytische Dimension der Didaktik, um das Beschreiben von Unterricht und das Aufzeigen von Handlungsmöglichkeiten mit engem Bezug zur Forschung, bei zweitem hingegen um die eher normative Ausrichtung von Didaktik, nämlich um die Bewältigung von Unterrichtssituationen nach bildungspolitischen Vorgaben, aber auch nach eigenen subjektiven bzw. kollektiven (z. B. kollegial im Fachbe‐ reich generierten) Vorstellungen. 228 Katharina Kräling, Helene Pachale & Katharina Wieland 1 Exemplarisch sei an dieser Stelle das Projekt „KoLBi - Kohärenz in der Lehrerbildung“ der Bergischen Universität Wuppertal genannt, dessen Ergebnisse aus der ersten Förderphase der Qualitätsoffensive Lehrerbildung in dem von Katharina Hellmann, Jessica Kreutz, Martin Schwichow und Katja Zaki herausgegebenen Sammelband „Kohärenz in der Lehrerbildung“ (2019) veröffentlicht wurden. 2 Schwerpunkte und Projekte des Arbeitsbereiches Didaktik der romanischen Sprachen und Literaturen zur Weiterentwicklung des Moduls Schulpraktische Studien waren u. a. „Sprachbildung im Lehramtsstudium Fremdsprachen“ (2015), https: / / tinyurl.com / mf2psavp [12.02.2021] und das E-Learning-Projekt „ViLeBe - Virtueller Lern- und Begegnungsort im Praxissemester der romanischen Sprachen“ (2019), https: / / tinyurl.c om/ ycn7dbo3 [12.02.2021]. 2 Fokussierte Kompetenzschulung als kohärenzstiftendes Element 2.1 Kohärenzerleben und wechselseitige Bezugnahme Kohärenz innerhalb der Phasen der Lehrer*innenbildung sowie zwischen diesen herzustellen, ist ein hehres Ziel. Um diesem auf unterschiedliche Weise einen Schritt näher zu kommen, werden seit 2015 im Rahmen der bundesweiten „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ (Verbund-)Projekte an den Hochschulen gefördert, die u. a. die Kooperation und Abstimmung zwischen der an der Lehrer*innenbildung beteiligten Akteur*innen und Institutionen stärken sowie die Phasen und die innerhalb dieser zu vermittelnden Inhalte und Kompetenzen besser aufeinander abstimmen (vgl. Gemeinsame Wissenschaftskommission, 2013, S. 3). 1 Weiterhin soll im Zuge der Vorhaben u. a. die Passung zwischen schulischen Gestaltungsmöglichkeiten und einer darauf ausgerichteten fachdi‐ daktischen Lehrer*innenbildung verbessert sowie neben der Lehrer*innenaus‐ bildung auch die Weiterbildung strukturell so an der Hochschule verankert werden, „dass sie als profilbildendes Element der gesamten Hochschule wirken“ (ebd.). Die an dieser Stelle ausgewählten Ziele sind auch die, denen sich die Jubilarin und ihr Team im stetigen Prozess der Gestaltung und Überarbeitung des Moduls Schulpraktische Studien bereits lange vor Einführung der „Quali‐ tätsoffensive Lehrerbildung“ widmeten und welche sie weiterhin verfolgen. 2 Die Möglichkeiten, Kohärenz innerhalb oder zwischen den Phasen der Lehrer*innenbildung herzustellen, sind ebenso vielseitig wie herausfordernd, da ihre Umsetzung immer auch an eine gelingende Kooperation und Abstimmung zwischen den jeweiligen beteiligten Akteur*innen gebunden ist (vgl. Diehr, 2020). Eine der vier Ebenen, auf der nach Diehr Kohärenz angestrebt werden kann, ist die der kognitiven Kohärenz, welche als „[…] gedankliche Leistung der Studierenden […]“ beschrieben wird, die sie dazu befähigt, „[…] selbst Teilbereiche eines Fachs bzw. das in ihnen erworbene Wissen und Können selbstständig auf professionsbezogene Aufgaben- und Problemstellungen zu be‐ 229 Vernetzung und Kohärenzerleben in der fremdsprachlichen Lehrer*innenbildung ziehen“ (ebd., S. 329). Den Studierenden kommt damit nach Diehr (ebd., S. 331f.) zunächst die Rolle von Kohärenznehmer*innen zu. Es ist aber auch wichtig, dass die Studierenden zunehmend aktiv ihre Rolle als Kohärenzstifter*innen wahrnehmen, also für die Vernetzung von Wissen und Können sorgen. Dies kann gelingen, wenn sie dabei von Dozierenden durch Impulse und Hinweise sowie das Schaffen struktureller und thematischer Gelegenheiten, die das Erleben von Kohärenz ermöglichen, unterstützt werden. Mit den Zielen der Vernetzung zwischen den Akteur*innen, dem inhaltlichen Austausch und der gemeinsamen Reflexion haben überdies alle beteiligten Akteur*innen, z. B. auch die Mentor*innen und die Fachberater*innen vielfältige Möglichkeiten, Kohärenz zu erleben und erlebbar zu machen (siehe 3.3 und 3.4). Schädlich (2019, S. 19) beschreibt unter Bezugnahme auf Radtke (2004) ver‐ schiedene Ansätze, das „praktische“ Alltagswissen von (angehenden) Lehrkräften durch theoretische Wissensanteile zu ersetzen. Als zentral charakterisiert sie den Begriff der Anwendung und meint damit die fälschlicherweise angenommene Vorstellung, dass Können mit Wissensanwendung gleichzusetzen sei. Diese Annahme sei aus zweierlei Gründen problematisch, denn zum einen solle es nicht darum gehen, Wissenschaftswissen dem Handlungswissen vorzuziehen, zum anderen dürfe auch nicht außer Acht gelassen werden, dass die Handlungssi‐ tuation „Unterricht“ sehr komplex sei. Das einfache Ausstatten von (angehenden) Lehrkräften mit Theoriewissen reicht also nicht; aber auch der umgekehrte Ansatz, auf Professionalisierung als Theoretisierung der unterschiedlichen Hand‐ lungsrepertoires von Lehrkräften (vgl. Lave & Wenger, 1991) zu setzen, greift zu kurz. Vielversprechender erscheint eine Integration beider Ansätze, bei der im Zen‐ trum die Befähigung der (angehenden) Lehrkräfte zum Perspektivenwechsel besteht, also der Fähigkeit, beide Wissensbereiche aufeinander zu beziehen. Schädlich betont, dass dieser bewusste Perspektivenwechsel nicht als Automa‐ tismus funktioniere und längst nicht alleinig verantwortlich für gekonntes Expertenhandeln sei. Gleichzeitig hebt sie aber hervor, dass „durch gesteuerte Lerngelegenheiten Praxiserfahrung und Theoriewissen aufeinander bezogen und für das Verstehen unterrichtlichen Handelns sowie seine Veränderung fruchtbar gemacht werden können“ (Schädlich, 2019, S. 23). 2.2 Fokussierte Kompetenzschulung Aufgrund der zeitlich begrenzten Studienzeit und der zahlreichen Lern- und Ausbildungsfelder von angehenden Lehrkräften stellt sich die Frage, wie diese gesteuerten Lerngelegenheiten beschaffen sein sollten und mit welchen Inhalten sie im vorliegenden Fall im Bereich der Didaktik der romanischen 230 Katharina Kräling, Helene Pachale & Katharina Wieland Schulfremdsprachen gefüllt werden können. Die Frage nach den Inhalten hängt eng mit den Möglichkeiten der Schwerpunktsetzung der Fachdidaktik im Rahmen der für die Lehrer*innenbildung geltenden bildungspolitischen und teilweise länderbzw. universitätsspezifischen Vorgaben zusammen. Eine klare bildungspolitische Vorgabe liegt in der Forderung nach Kompetenzori‐ entierung des Unterrichts, welche in den fremdsprachlichen Fächern eng mit der Realisierung in Form von Lernaufgaben zusammenhängt (vgl. Caspari, 2016; Bechtel, 2011). Aus der Beobachtung heraus, dass der Kompetenzaufbau eng mit der Erarbeitung von sprachlichen Mitteln, der Möglichkeit des be‐ wussten Übens sowie der Heranführung an Lernstrategien zusammenhängt, plädiert Caspari (2016) zum einen für das kontextualisierte und damit kohä‐ rente Üben innerhalb von Lernaufgaben, zum anderen für einen fokussierten Kompetenzaufbau in diesen. Die fokussierte Kompetenzschulung ermögliche die systematische und bewusste Arbeit an einer (Teil-)Kompetenz innerhalb einer Lernaufgabe und verschaffe die nötige Zeit zum Üben sowie zum Erwerb, zur Behaltenssicherung und zur Verfügbarkeit der für die Aufgabe erforderlichen sprachlichen Mittel (vgl. Caspari 2016, S. 47f.). Bei der fokus‐ sierten Kompetenzschulung steht nur eine Kompetenz im Mittelpunkt (die anderen wirken höchstens dienend), so dass die Lernenden die Möglichkeit haben, sich kompakt und systematisch einer Kompetenz bei der Bewältigung von Aufgaben zu widmen. Dies kann als Chance für Lernende begriffen werden, die nicht in der Lage sind, für sie zusammenhanglose Übungen zu einem kommunikativen Ganzen zu vernetzen (vgl. Klotz, 2018, S. 24). Klotz (ebd.) spricht der fokussierten Kompetenzaufgabe einen wichtigen Beitrag zur Schüler*innenmotivation zu, beleuchtet aber auch das Lernpotenzial für die zweite Fremdsprache insgesamt, vor allem, wenn die Lernenden geeig‐ netes Feedback erhalten und zur Selbstreflexion ihres Lernprozesses angeregt werden: „Das Respektieren und Thematisieren von Lernschwierigkeiten sowie das schüler- und zielorientierte Vorgehen führt zu mehr Bereitwilligkeit, sich auf einen sehr übungsintensiven, jedoch durch die Fokussierung überschau‐ baren Lernprozess einzulassen“ (ebd., S. 27). Verschiedene Gründe haben dazu geführt, dass die fokussierte Kompetenz‐ schulung eines der zentralen Themen in der ersten Phase der Lehrkräftebildung in der Berliner Romanistik geworden ist. Dazu zählen die bereits skizzierten Vorteile für den Kompetenzaufbau bei den Lernenden einer zweiten oder dritten Fremdsprache und die Möglichkeit des Erlebens von Progression innerhalb der zeitlich begrenzten Struktur einer Unterrichtsreihe durch die Studierenden im Praxissemester. Der Impuls für dieses Thema und seine konsequente Weiterverfolgung gingen dabei zentral von der Jubilarin und ihrem Team 231 Vernetzung und Kohärenzerleben in der fremdsprachlichen Lehrer*innenbildung aus. Ihr Einsatz für das Thema „fokussierter Kompetenzaufbau“ wirkt hier prägend nicht nur in die erste, sondern in alle Phasen der Lehrer*innenbildung hinein. Zugleich ist die fokussierte Kompetenzschulung ein bis jetzt vor allem fremdsprachendidaktischer Ansatz, dessen schulische Umsetzung noch wenig verbreitet ist. Die romanistischen Fachdidaktiken der Berliner Universitäten gehen aktuell davon aus, dass das Kohärenzerleben für die Studierenden nur möglich ist, wenn gezielt eine Vernetzung stattfindet und alle Akteur*innen, die das Praxissemester begleiten, an der Etablierung dieses Ansatzes beteiligt werden. Die fokussierte Kompetenzschulung als neuer Ansatz bietet auch die Chance zu überprüfen, ob und inwieweit mit ihr eine Vernetzung gelingen und kohärenzstiftend sein kann. Aus diesem Grund haben wir uns dafür entschieden, unsere Überlegungen zur Gestaltung der (Berliner) Lehrer*innenbildung und zum Versuch der Vernetzung am Beispiel der fokussierten Kompetenzschulung im Kontext des Praxissemesters zu illustrieren. 3 Vernetzung von Strukturen, Inhalten und Phasen der Lehrer*innenbildung 3.1 Vernetzung zwischen den Lehrstühlen für die Didaktik der romanischen Sprachen an der Freien Universität und der Humboldt Universität Die Berliner Lehrer*innenbildung für die Sekundarstufen I und II (folgend Sek I und Sek II) hat gegenüber vielen anderen Bundesländern die Besonderheit, dass die Studierenden in der ersten und zweiten Phase für alle Schulformen der Sek I und Sek II in der Fachdidaktik gemeinsam ausgebildet werden. Wie in anderen Bundesländern auch ist die Lehrer*innenbildung in drei Phasen gegliedert, in die erste Phase der universitären Ausbildung (Bachelor mit Lehramtsoption sowie dem sich anschließenden Master of Education), in die zweite Phase des Vorbereitungsdienstes und in die dritte Phase der beruflichen Fort- und ggf. Weiterbildung. Nach einem berufsfelderschließenden Orientierungspraktikum im Bachelor bietet das fünfmonatige Praxissemester im Master of Education eine intensive und angeleitete Praxiserfahrung an den Schulen, die von universitärer Seite begleitet wird. Das Praxissemester hat die fachbezogenen Blockpraktika im Master abgelöst. Seine Einführung im Wintersemester 2015/ 2016 erfolgte auf Grund der Verabschiedung des neuen Lehrkräftebildungsgesetzes des Landes Berlin im Jahr 2014. Die neuen Vorgaben führten zu einer Überarbeitung der bestehenden Studien- und Prüfungsordnungen, wodurch im positiven Sinne Raum für eine kritische Revision sowie eine neue Ausgestaltung von Studien- und Seminarinhalten entstanden ist. Bei diesem Prozess kam es zu einer Abstim‐ 232 Katharina Kräling, Helene Pachale & Katharina Wieland mung zwischen den Lehrstühlen für die Didaktik der romanischen Sprachen an der Freien Universität und der Humboldt-Universität. Einerseits wurden Abläufe und organisatorische Fragen besprochen, andererseits wurden zentrale inhaltliche Schwerpunkte für das Vorbereitungsseminar und die Unterrichtspla‐ nung im Praxissemester definiert und ausgehandelt. Lange vor gemeinsamen Verbundbestrebungen beider Universitäten hatten die Verantwortlichen (dar‐ unter auch die Jubilarin) die gemeinsame Ausbildungsverpflichtung erkannt und sich für Kooperation statt für Wettbewerb entschieden. Im Folgenden sollen die zentralen Absprachen, die maßgeblich zu einem Kohärenzerleben beitragen können, kurz skizziert werden. 3.2 Abstimmung im Modul Schulpraktische Studien Mit der Überarbeitung der Studien- und Prüfungsordnungen wurde die Aus‐ gestaltung des Moduls Schulpraktischen Studien, in das das Praxissemester eingebettet ist, in den romanischen Sprachen diskutiert und ein gemeinsames Verständnis erarbeitet. Dieses geht von denselben Grundannahmen und Zielen der Praxisphase im Master of Education aus und hat eine gemeinsame Struk‐ turierung des Moduls (Vorbereitung, Praxissemester, Nachbereitung und Refle‐ xion) mit vergleichbaren Standards hervorgebracht. Verbindliche Inhalte sind zum einen die Aufgabenorientierung und zum anderen die fokussierte Kompe‐ tenzschulung, die sich als Unterrichtsprinzipien verbinden lassen, nicht aber verbinden müssen und die beide einen kompetenzorientierten Fremdsprachen‐ unterricht ermöglichen. Konkret bedeutet dies, dass sich die Studierenden in den Vorbereitungsseminaren auf Basis fachdidaktischer Texte mit der Kompetenz‐ orientierung auseinandersetzen und durch Beispiele, erste eigene Planungen und gemeinsame Reflexion erfahren, wie fokussierte Kompetenzschulung in einer Unterrichtsreihe oder Stunde umgesetzt werden kann. Im anschließenden Praxissemester sind die Studierenden aufgefordert, im Rahmen der zu leistenden 16 Unterrichtsstunden im fremdsprachlichen Fach, eine eigene Unterrichtsreihe mit einem klaren Kompetenzschwerpunkt eigenständig zu planen und durch‐ zuführen. Eigenständig heißt dabei, dass die Planung federführend von den Studierenden erstellt wird, dass aber immer eine enge Rücksprache mit den Mentor*innen stattfindet und diese insbesondere mit ihrem diagnostischen Wissen zur jeweiligen Lerngruppe sowie ihrem Überblickswissen zur Einbet‐ tung der Reihe ins gesamte Schulhalbjahr zentrale Hilfestellungen geben können. Im anschließenden Nachbereitungsseminar geben sich die Studie‐ renden in Tandems gegenseitig ein ko-konstruktives Feedback dazu, ob und wie die fokussierte Kompetenzschulung in Planung und Umsetzung im Praktikum jeweils gelungen ist. Im Austausch schulen sie nicht nur den kritischen Blick auf 233 Vernetzung und Kohärenzerleben in der fremdsprachlichen Lehrer*innenbildung eigenen und fremden Unterricht, sondern üben sich auch darin, Rückmeldungen zu geben und zu erhalten. Darüber hinaus erfahren sie durch den Austausch, wie bei anderen Studierenden die fokussierte Kompetenzorientierung umgesetzt wurde und erweitern ihr fachdidaktisches Repertoire. Die bewusste Entscheidung beider Lehrstühle für eine Kooperation und gemeinsame Absprachen für die Praxisphase ist an dieser Stelle für ein Ko‐ härenzerleben aller beteiligten Akteur*innen (Studierende, Dozierende sowie Mentor*innen an den Schulen) wichtig. Eine unterschiedliche Ausgestaltung dieser Phase würde ansonsten Irritation hervorrufen und die angestrebte Er‐ fahrung von Kohärenz bei allen Beteiligten unterlaufen: In Berlin können an einer Schule in einem Fach (z. B. eine romanische Sprache) Studierende beider Universitäten gemeinsam das Praxissemester absolvieren, da die Zuteilung der Praktikumsplätze zentral durch die Senatsverwaltung in Zusammenarbeit mit den Praktikumsbüros der Universitäten organisiert wird. Eine Lehrkraft kann also zeitgleich oder in verschiedenen Semestern nacheinander Studierende der Freien Universität und Studierende der Humboldt Universität im Praktikum betreuen. Ein Praxissemester mit völlig unterschiedlichen Inhalten oder Struk‐ turen würde damit eine Begleitung erschweren. Auf der anderen Seite tauschen sich Studierende beider Universitäten, die im Praxissemester an den Schulen aufeinandertreffen, aus, kooperieren und vergleichen die universitären Rahmenbedingungen des Praktikums. Auch hier sind gemeinsam abgestimmte Inhalte und Ziele sowie vergleichbare Strukturen wichtig, um die Basis für eine gemeinsame Reflexion über Unterricht zu schaffen. Diese gemeinsame Reflexion greift hier auf die oben genannten Unterrichtsprinzipien der Aufgabenorientierung und fokussierten Kompetenz‐ schulung zurück, die verbindliche Inhalte der Schulpraktischen Studien an beiden Universitäten sind. Gleichzeitig ist das Praxissemester auch eine Schnittstelle, an der Ak‐ teur*innen der ersten und zweiten Phase miteinander interagieren, da die Ausbildner*innen der zweiten Phase die Begleitung des Praxissemesters in Teilen und in Abstimmung mit der Universität mitgestalten. Eine Vernetzung der Phasen und die Anschlussfähigkeit der zweiten an die erste Phase kann besser ermöglicht werden, wenn es einen gemeinsamen Ausgangspunkt gibt. Die bewusste Entscheidung der beiden Universitäten für eine Kooperation und gemeinsame Absprachen im Kontext des Moduls Schulpraktische Studien betrifft daher auch die Begleitung des Praxissemesters durch die Lehrkräfte. 234 Katharina Kräling, Helene Pachale & Katharina Wieland 3.3 Abstimmung in der Mentoringqualifizierung Mit der Einführung des Praxissemester verbunden war die Einrichtung einer sogenannten Mentoringqualifizierung, die an den Universitäten verortet ist und deren fachdidaktischer Anteil gemeinsam mit Ausbildner*innen der zweite Ausbildungsphase gestaltet wird. Ziel der Mentoringqualifizierung ist es, die betreuenden Lehrkräfte während des Praxissemesters in Bezug auf ihre Bera‐ tungstätigkeit weiterzubilden. Für Berlin wurde für alle Fächer der Ansatz des ko-konstruktiven Unterrichtscoaching nach Kreis und Staub (2013) gewählt. Die Qualifizierung besteht aus allgemeinen und fachdidaktischen Anteilen. Letztere wurden von den einzelnen Fachdidaktiken inhaltlich und methodisch ausge‐ staltet. Im Fall der fachdidaktischen Module im Bereich der romanischen Spra‐ chen und Literaturen erfolgte auch an dieser Stelle eine gemeinsame Planung durch die Vertreter*innen beider Universitäten sowie eine Einigung auf zentrale Inhalte und Ziele. Im Sinne des angestrebten Kohärenzerlebens aller beteiligten Akteur*innen werden in den fachdidaktischen Seminaren der Mentoringquali‐ fizierung den Lehrer*innen, welche sich hier als Mentor*innen qualifizieren, die zentralen fachdidaktischen Themen und Studieninhalte im Lehramtsstudium erläutert und ein besonderer Fokus auf die Inhalte des Vorbereitungsseminars und die Anforderungen im Praxissemester gelegt. In diesem Zusammenhang werden die Aufgabenorientierung und die fokussierte Kompetenzschulung als Möglichkeit der Umsetzung eines kompetenzorientierten Fremdsprachenunter‐ richts dargelegt, welche die Studierenden in ihrer Planung und Reflexion des eigenen Unterrichts berücksichtigen sollen. Für die Mentor*innen bedeutet die Durchdringung dieser Prinzipien und ihre Reflexion die Grundlage für eine kompetente Beratung ihrer Praxissemesterstudierenden und zugleich die Chance, aktuelle Ansätze der Fremdsprachendidaktik kennenzulernen, wenn diese nicht Teil der eigenen Lehramtsaus- und Fortbildung waren und sind. Darüber hinaus gibt es im Rahmen der Mentoringqualifizierung die Möglichkeit für die Lehrer*innen, Studierende aus dem Modul Schulpraktische Studien, die sich im Vorbereitungsseminar oder am Beginn ihres Praxissemesters befinden in ihren Reihenplanungen zu beraten. Für die Studierenden ist diese Beratung eine zusätzliche Option, um konstruktives Feedback zu ihrer Planung zu er‐ halten. Die künftigen Mentor*innen können auf diese Weise ihre Beratung unter Einbeziehung der in der Qualifizierung vermittelten fachdidaktischen und pädagogischen Ansätze unmittelbar erproben und im Anschluss, unter Anleitung der Dozierenden der Universität, gemeinsam kritisch reflektieren. Die universitär angesiedelte Mentoringqualifizierung öffnet einen Raum für kollegiale Begegnung der verschiedenen Phasen und für fachdidaktischen Austausch, bei dem die Lehrer* in ihrer Doppelrolle als Expert*innen und als 235 Vernetzung und Kohärenzerleben in der fremdsprachlichen Lehrer*innenbildung Lernende zugleich die Universität als relevanten Impulsgeber für ihre Praxis erleben können. Im besten Falle verändert sich so nicht nur die Beratung der Studierenden, sondern es werden auch Wege für neue Impulse und Ansätze der Fachdidaktik für den Unterricht eröffnet, die durch die Studierenden im Praxissemester oder auch im Rahmen von Fortbildungen gegeben oder angeregt werden. Abb. 1: Dialog und Kooperation zwischen den Phasen und Akteur*innen am Beispiel des Moduls Schulpraktische Studien in Berlin 3.4 Kooperation mit der zweiten und dritten Phase der Lehrer*innenbildung Mit dem neuen Lehrkräftebildungsgesetz wurde im Rahmen der Schulprakti‐ schen Studien seitens der Berliner Senatsverwaltung eine Vernetzung zwischen erster und zweiter Phase vorgegeben, deren konkrete Ausgestaltung den Uni‐ versitäten und ihren beteiligten Instituten, Arbeitsgebieten etc. obliegt. In den romanischen Sprachen an beiden Berliner Universitäten gibt es Kooperationen mit Fachseminarleiter*innen, von denen jeweils eine oder einer in der Rolle einer sogenannten Fachberatung in die Gestaltung des Moduls Schulpraktische Studien einbezogen wird. Die Fachseminarleitung gestaltet dabei in der Regel eine Seminarsitzung, bei der es um das Kennenlernen von Inhalten und Themen des Vorbereitungsseminars geht und die Perspektive der zweiten Phase auf Unterricht sowie auf die Reflexion von Unterricht beleuchtet 236 Katharina Kräling, Helene Pachale & Katharina Wieland 3 Die Themen der bisherigen Studientage finden sich auf der Webseite der Didaktik der romanischen Sprachen und Literaturen der Freien Universität unter: https: / / tinyurl.co m/ yr4u5j8a [12.02.2021]. 4 Auf der Webseite der Didaktik der romanischen Sprachen und Literaturen der Freien Universität finden sich das Programm und der Einführungsvortrag der Jubilarin zu diesem Thema: https: / / tinyurl.com/ 29djemn7 [12.02.2021]. werden. Die Fachseminarleitung kann als Fachberater*in darüber hinaus für die Studierenden Ansprechpartner*in während des Praxissemesters bezüglich der eigenen Unterrichtsreihe sein. Möglich ist in der Regel auch ein Besuch der Studierenden im Fachseminar. Eine weitere gezielte Vernetzung der ersten, zweiten und dritten Phase ergibt sich im Rahmen des sogenannten Studientags, der seit 2005 jährlich an der Freien Universität veranstaltet wird. 3 Der Studientag greift jedes Jahr von Neuem aktuelle Fragen und Themen aus Fachdidaktik, Schule und Unterricht auf, um diese gemeinsam aus wissenschaftlicher und unterrichtspraktischer Perspektive zu betrachten und kritisch zu beleuchten. Im Jahr 2016 war das Thema z. B. die fokussierte Kompetenzschulung und damit verbunden die Anbahnung von Progression im Fremdsprachenunterricht. 4 Am Studientag gibt es Vorträge, Workshops und Diskussionsforen, die von Studierenden der Freien Universität, von Referendar*innen, von Lehrenden der Freien Univer‐ sität oder von Gästen anderer Universitäten sowie von Mitarbeiter*innen und hinzugezogene Lehrkräfte des Landesinstituts für Schule und Medien Berlin Brandenburg (LISUM) gestaltet und angeboten werden. Die Planung und inhalt‐ liche Ausgestaltung der Workshops erfolgt mit den Studierenden in der Regel im Rahmen ihrer universitären fachdidaktischen Seminare; die Angebote, die die Referendar*innen am Studientag durchführen, werden im Kontext ihrer Fachseminararbeit vorbereitet und durch die Fachseminarleitung begleitet. Zusätzlich gibt es einen vorbereitenden inhaltlichen Austausch zwischen der beteiligten Fachseminarleitung und der Fachdidaktik der romanischen Sprachen und Literaturen der Freien Universität, bei dem es vornehmlich darum geht, sich über die theoretische Ausgangsbasis der jeweiligen Themen zu verständigen und neuere Impulse aus der Fachdidaktik ggf. auch in die Fachseminare zu tragen. Ähnliches erfolgt im vorbereitenden Austausch mit dem LISUM, welches die Perspektive der Fortbildung mit in den Studientag trägt und die Themen und Fragen des Studientags auch im Kontext rechtlicher und curricularer Vorgaben betrachtet sowie aufzeigt, ob und wie sich diese in Handreichungen, Empfehlungen oder Beispielaufgaben niederschlagen. Die Einbeziehung des LISUM als Kooperationspartner in die Gestaltung der Studientage schlägt den Bogen zur dritten Phase und macht schon für Studie‐ 237 Vernetzung und Kohärenzerleben in der fremdsprachlichen Lehrer*innenbildung rende sichtbar, dass fachdidaktische Diskurse in allen Phasen von Relevanz sind. So werden Möglichkeiten der Fortbildung sowie Ressourcen aufgezeigt, auf die Studierende und Referendar*innen später in ihrem Beruf zurückgreifen können. Der Studientag ist ein Ort für Austausch und Begegnung der Akteur*innen aller Phasen, an dem die Universität und die universitären Fachdidaktiker*innen zwar Gast- und thematische Impulsgeberinnen sind, es aber keine klar defi‐ nierten Expert*innen gibt. Alle Beteiligten erklären sich an diesem Tag bereit, von- und miteinander zu lernen und die vorgestellten Beispiele nicht als best practice, sondern als Anlass zur Reflexion und Weiterentwicklung von Unterricht zu verstehen. 4 Reflexion und reflexive Handlungspraxis Die Fähigkeit, das eigene Unterrichtshandeln zu reflektieren wird als essenziell für die Professionalität von Lehrpersonen angesehen. Dabei wird angenommen, dass Lehrkräfte in einen beständigen komplexen Prozess aus Planung, Entschei‐ dungsfindung, Hypothesentesten, Ausprobieren und Reflektieren eingebunden sind (vgl. Zyklisches Reflexionsmodell von Korthagen, 2002). Wie kann nun aber sicher gestellt werden, dass die Reflexion der eigenen Handlungspraxis wirklich zu einer Professionalisierung bzw. zu einer beruflichen Weiterentwicklung führt, sowohl bei angehenden Lehrkräften als auch bei solchen, die schon seit geraumer Zeit in ihrer Unterrichtspraxis verhaftet sind? Die Gefahr besteht, dass die Reflexion selbstreferentiell wird, weil beispielsweise neuer Input fehlt, nicht konsistent oder kohärent ist oder weil dieser Input nicht übernommen wird. Insbesondere dieses Nicht-Übernehmen von Input ist ein Problem, dem sich die Forschung zur Lehrer*innenbildung in Bezug auf Reflexion mehrfach ange‐ nommen hat. Das „Zwiebel-Modell“ der Reflexion von Korthagen und Vasalos (2005) verdeutlicht uns zunächst, dass die Reflexion des eigenen Handelns auf ver‐ schiedenen Ebenen angesiedelt ist. Bezogen auf die Reflexion als Lehrkraft bilden die äußeren Schalen der Zwiebeln leicht zugängliche Ebenen ab, auf denen man über das Zusammenspiel des eigenen Handelns mit den Lernenden nachdenkt, eigene fremdsprachliche, methodische oder unterrichtsplanerische Kompetenzen hinterfragt. Im Inneren der Zwiebel finden sich aber weitere Ebenen, welche innere Überzeugungen betreffen und eng mit der eigenen Lehrer*innenidentität verbunden sind. An dieses modellhaft dargestellte „innere Wissen“, welches schwer verbalisiert werden kann und sich der direkten Beobachtung entzieht (vgl. Polanyi, 1966, S. 4; Schädlich, 2019, S. 4), heranzukommen, scheint ein Schlüssel in Bezug auf eine reflektierte Handlungspraxis zu sein, die nicht nur selbstreferen‐ 238 Katharina Kräling, Helene Pachale & Katharina Wieland tiell ist und damit auf individuelle Erfahrungen und Erfahrungswissen aufbaut, sondern auch durch äußere Impulse herangetragenes explizites Wissen einbezieht (vgl. Gerlach, 2020). Laut Neuweg (2014) bildet dieses „innere Wissen“ mentale Strukturen, Schemata, prozedurales Wissen ab, welches die (angehenden) Lehrkräfte als theoretisches Wissen in Aus- und Fortbildung gelernt haben, welches aber auch aus Erfahrung resultieren kann. Im Idealfall sind explizites Wissen und implizites Wissen hier im Austausch begriffen. Geht man nun aber davon aus, dass es vor allem das implizite Wissen ist, welches insbesondere in beruflich anspruchsvollen, vielleicht auch spontanen Situationen, wirkt (vgl. Bohnsack, 2017), ist es zum einen nötig, dieses implizite Wissen von (angehenden) Lehr‐ kräften sichtbar zu machen. Zum anderen ist es wichtig, Möglichkeiten für die (angehenden) Lehrkräfte zu schaffen, neues explizites Wissen in ihr implizites Wissen zu überführen. Gerlach (2020) geht davon aus, dass dies vor allem in Austauschsituationen geschehen kann, die durch Narrativität und weniger durch einen Frage-Ant‐ wort-Stil (Interview-Stil) geprägt sind. Die genannten Beispiele der Betreuung der Studierenden im Praxissemester durch die universitären Betreuenden als auch seitens der schulischen Mentor*innen greifen diese Idee auf. Es werden in der Auseinandersetzung mit der zentralen Idee des fokussierten Kompetenz‐ aufbaus durch immer wieder genutzte reflexive und auf Ko-Konstruktion aufbauende Momente zahlreiche narrativ geprägte Situationen geschaffen, in denen die universitäre „Theorie“ in die schulische Praxis gelangen kann und aus dieser heraus in die Universität zurückwirkt. Diese Ko-Konstruktion mit ihren reflexiven Elementen ist - wie aufgezeigt wurde - auch ein zentraler Bestandteil der Mentoringqualifizierung und wird darüber hinaus durch Fachberater*innen den Studierenden als auch den Referendar*innen nähergebracht. Durch diese Vernetzung hat ein expliziter fachdidaktischer Input (hier: die fokussierte Kompetenzschulung) erstens die Chance, wirklich anzukommen, also in das implizite Wissen aufgenommen und damit eventuell auch handlungswirksam zu werden; zweitens wird dadurch, dass in all diesen Phasen der Lehrer*innen‐ bildung sowohl vergleichbare explizite Inhalte vermittelt als auch ähnliche ko-konstruktive Austauschsituationen geschaffen werden, Kohärenzerleben ermöglicht. 239 Vernetzung und Kohärenzerleben in der fremdsprachlichen Lehrer*innenbildung 5 Ausblick Der Ansatz der fokussierten Kompetenzschulung ist und bleibt aus unserer Sicht auch in nächster Zeit spannend, seine Wirkungskraft muss aber an anderer Stelle diskutiert werden. Begrüßenswert wäre, wenn dieser Ansatz weiter erforscht und z. B. im Rahmen von Aktionsforschung untersucht werden könnte. Die Frage, ob Vernetzung und Abstimmungen zwischen den Akteur*innen der verschiedenen Phasen der Lehrer*innenbildung, also auch zwischen den Lehrstühlen der Universitäten, zu einem stärkeren Kohärenzerleben führen können, müsste ebenfalls durch Befragungen aller Beteiligten geklärt werden. Aus der beschriebenen Erfahrung mit der Gestaltung des Praxissemesters als selbst beteiligte Akteur*innen beider Universitäten und des LISUM sowie im Austausch mit vielen anderen Beteiligten können wir jedoch positive Rückmel‐ dungen hinsichtlich eines Kohärenzerlebens konstatieren. Eine Herausforderung bleibt der zusätzliche Aufwand, den Abstimmungen und Absprachen immer bedeuten. Die Einarbeitung aller Beteiligten, die für die Impulsgebung in diesem Prozess mitverantwortlich sind, erfordert immer wieder zusätzliche Zeit, da der im Beitrag beschriebene dargestellte Prozess der Vernetzung (vgl. auch Abbildung 1) von wechselnden Personen begleitet und gestaltet wird und auch Prozesse innerhalb einer Phase (z. B. in der ersten Phase an der Universität) selten in einer Hand liegen. Neben zusätzlichen Abstimmungen müssen zentrale Ergebnisse und verbind‐ liche Absprachen verschriftlicht und so niedergelegt werden, dass unabhängig von einzelnen Personen Zugriff darauf besteht. Hier sollte auch über das Verhältnis zwischen der Freiheit der Lehre und der Notwendigkeit verbindlicher gemeinsamer Inhalte diskutiert werden. Gleichzeitig darf man den Prozess der Vernetzung und der damit verbun‐ denen Abstimmung nicht als einmal abgeschlossen ansehen, da sich die inhalt‐ lichen Fragen und Schwerpunkte sowie personellen Zusammensetzungen im ständigen Wandel befinden. Der Prozess der Vernetzung muss demnach auch ein Teil der kritischen Reflexion sein, aktuelle fachdidaktische Diskurse müssen wahrgenommen und in den Prozess eingebracht werden. Zu überlegen wäre auch, wie bisher weniger oder gar nicht beteiligte Akteur*innen stärker in diesen Prozess einbezogen werden könnten. Hier geht es beispielsweise um Vernetzungsmöglichkeiten zwischen Fachdidaktiken, Fachwissenschaften sowie den Bildungs- und Erziehungswissenschaften oder auch zwischen den Didaktiken der unterschiedlichen Fächer. Auch der Dialog mit der zweiten Phase könnte verstärkt werden. Ein zentrales Anliegen sollte 240 Katharina Kräling, Helene Pachale & Katharina Wieland dabei sein zu klären, anhand welcher gemeinsamen Gegenstände sinnvolle Aushandlungsprozesse in Gang gesetzt werden könnten, die den Weg für ein Kohärenzerleben ebnen und damit Impulse für gelungene Unterrichtsentwick‐ lung geben. Literatur Bechtel, Mark (2011). 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Metzler/ Springer. 242 Katharina Kräling, Helene Pachale & Katharina Wieland Unterrichtsentwicklung als gemeinsames Ziel? ! Christine Junghanns, Waltraud Löchel, Elke Philipp, Kerstin Rauch & Andrea Schinschke Die Autorinnen dieses Beitrags sind in unterschiedlichen Rollen mit Fragen der Unterrichtsentwicklung verschiedener Fremdsprachen befasst. Gemeinsam arbeiten sie an der Schnittstelle von fachdidaktischer Lehre und Forschung, bildungspolitischen Vorgaben, Schule, Aus- und Fortbildung von Lehrkräften. Von Erfahrungen an dieser Schnittstelle soll der Beitrag handeln. Wir sind der Meinung, dass das Zusammenwirken im Handlungsfeld der Unterrichtsentwicklung verbesserungswürdig ist im Hinblick auf eine Qualitätssteigerung des Fremdsprachenunterrichts. Dafür werden am Ende Richtungen aufgezeigt. 1 Unsere Perspektive: die Schnittstelle Unser berufliches Handlungsfeld wird von mehreren Institutionen gestaltet, die den Unterricht in verschiedenen Fremdsprachen an den Schulen in Berlin und Brandenburg beeinflussen und steuern. Dazu zählen die Hochschulen, die über Lehre und Forschung in verschiedenen Disziplinen in der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften wirken, weiterhin die Ministerien, deren bildungspolitische Entscheidungen und Vorgaben Schule prägen, außerdem das Landesinstitut, das die bildungspolitischen Entscheidungen in die Praxis von Schule und Unterricht bringen soll, schließlich die Kulturinstitute der Länder, mit deren Sprachen wir uns befassen und vor allem natürlich die Schulen und die Lehrkräfte selbst. Auf all diese Akteure stoßen wir in unseren Rollen als Lehrerinnen und Fort‐ bildnerinnen, Autorinnen von Handreichungen, Rahmenlehrplänen, Beispiel-, Diagnose- und Prüfungsaufgaben usw. für den Unterricht verschiedener Fremd‐ sprachen. Die Schnittstelle prägt unseren Blick in besonderer Weise - wie sehr, ist uns tatsächlich erst in der gemeinsamen Arbeit an diesem Text deutlich ge‐ worden. Denn sie verhindert, dass wir den Fremdsprachenunterricht fokussiert entweder als Gegenstand normativen Handelns oder als Forschungsgegenstand oder in den praktischen Herausforderungen des schulischen Tagesgeschäfts betrachten und frei gestalten können. Andererseits erlaubt uns die Schnittstelle einen speziellen Blick auf den Fremdsprachenunterricht als Gegenstand normativen Handelns sowie theore‐ tischer und praktischer Beschäftigung. Aus dieser speziellen Perspektive, die einen Rundumblick nicht nur ermöglicht, sondern quasi erzwingt, wollen wir in diesem Beitrag in einem ersten Schritt einen Blick auf ausgewählte aktuelle Momente des Zusammenwirkens der o. g. Bereiche richten und dabei besonders die Rolle der Bildungsverwaltung/ -politik betrachten. Die Bestandsaufnahme führt zu einigen grundsätzlichen Fragen hinsichtlich der Zusammenarbeit zwischen Schule, Hochschule und Bildungspolitik bzw. Bildungsverwaltung, auf die wir in einem nächsten Schritt näher eingehen wollen. Abschließend formulieren wir Wünsche an die Zusammenarbeit, die mit Vorschlägen an alle beteiligten Mitspieler/ -innen einhergehen. Dabei ist unser Ziel die Verbesserung der Qualität des Fremdsprachenunterrichts, d. h., wir verorten uns explizit in der Unterrichtsentwicklung. Allgemeine Themen der Schulentwicklung (Schulpro‐ grammentwicklung, Inklusion etc.) interessieren uns in ihrer fachspezifischen Auswirkung auf den Fremdsprachenunterricht. Die Grundlage unserer Reflexionen sind die Erfahrungen in dem o. g. berufli‐ chen Handlungsfeld. Insofern erlauben wir es uns, den Wunsch nach Belegen an mancher Stelle nicht einzulösen. Die Veröffentlichung des Abschlussberichts zur Bildungsqualität des Berliner Schulwesens (vgl. Qualitätskommission 2020) traf uns inmitten der Arbeit an diesem Artikel. Der Bericht enthält Empfehlungen zu insgesamt sechs Handlungsfeldern und nennt dabei auch Aspekte, die in diesem Beitrag eine Rolle spielen. 2 Ausgewählte Momente des Zusammenwirkens in der Bildungsregion Berlin-Brandenburg Für die folgende Bestandsaufnahme haben wir uns nur mit Anlässen der Zusam‐ menarbeit im Bereich des Fremdsprachenunterrichts beschäftigt, an denen wir in den o. g. Rollen beteiligt waren bzw. sind. In anderen Bundesländern mag eine davon abweichende Organisation der Beteiligung und Zusammenarbeit vorliegen. 2.1 Studientag romanische Sprachen Der Studientag ist ein jährlich stattfindender Fachtag, der von der Didaktik der romanischen Sprachen und Literaturen der Freien Universität Berlin und dem Landesinstitut (LISUM) unter Einbeziehung von Ausbilder/ -innen der zweiten 244 Christine Junghanns, Waltraud Löchel, Elke Philipp, Kerstin Rauch & Andrea Schinschke Phase und Lehramtsanwärter/ -innen zu gemeinsam gewählten und vorberei‐ teten Themen organisiert wird. Studierende, Lehramtsanwärter/ -innen und Lehrkräfte aus den Fächern Französisch, Spanisch, Italienisch sind eingeladen, in Vorträgen, Workshops und Diskussionen ein fremdsprachendidaktisches Thema theoretisch und anhand von Unterrichtsbeispielen in der praktischen Umsetzung zu reflektieren. Dieser Anlass hat den Anspruch, fachdidaktische Theorie und Praxis in einen Austausch treten zu lassen und verdankt seine Realisierung der Überzeugung der Organisatorinnen, dass dieser Austausch sinnvoll und notwendig ist. Die nunmehr 15-jährige Erfahrung zeigt aber, dass die avisierte Vernetzung zwischen den drei Phasen der Lehrer/ -innenbildung zum Problem wird, wenn sie nicht ausreichend institutionalisiert ist, sondern in zu großen Teilen auf Interesse und freiwilligem, zusätzlichem Arbeitsaufwand fußt. Außerdem stellt sich immer wieder die Frage, ob und wie der angestrebte Austausch funktioniert. Tatsächlich stehen ihm verschiedene Hürden im Weg, so z. B. • die Erwartungen vieler Lehrkräfte: Sie wünschen sich fertiges Hand‐ werkszeug für die Unterrichtspraxis mehr als Anlässe zur Reflexion über deren Machart, • die Einsicht in die Relevanz des für die avisierte Impulsgebung gewählten Themas. Die Teilnehmer/ -innen aus der Schulpraxis, v. a. aus der 3. Phase, kommen mit thematisch-inhaltlichen Erwartungen an die Hochschule, die ihrer Meinung nach von ihr dann nicht (zufriedenstellend) bedient werden. Dahinter steht - nach Aussagen der Teilnehmer/ -innen der 3. Phase v. a. in der jüngsten Zeit - die Tatsache, dass sie in den Schulen vorrangig mit der Anforderung konfrontiert werden, fachübergreifende Themen (so z. B. Inklusion, Digitalisierung, Sprachbildung) auf den Fremdsprachenunterricht anzupassen. Darin fühlen sie sich von der Fremdsprachenforschung alleine gelassen. Der Studientag ist strukturell ein geeignetes Instrument, um die gewünschte Zusammenarbeit zu fördern. Inhaltlich stößt er sich an den unterschiedlichen Erwartungen der Beteiligten, die mit den dominierenden Anforderungen ihres jeweiligen Arbeitskontexts (Schule, Studium) einhergehen. 2.2 Rahmenlehrplanentwicklung Die Entwicklung neuer curricularer Vorgaben wird von der Bildungspolitik initiiert - ebenso die Eckpfeiler ihrer Ausgestaltung. Das Landesinstitut erhält den Auftrag, die Rahmenlehrpläne zu erstellen und lässt sich dabei wissenschaftlich beraten. Am Ende wird die Umsetzung ministerieller Vorgaben in die Textsorte 245 Unterrichtsentwicklung als gemeinsames Ziel? ! ‚Rahmenlehrplan‘ von der Bildungsverwaltung zur Inkraftsetzung in den Schulen freigegeben. Die Erstellung des derzeit gültigen Rahmenlehrplans 1-10 (vgl. SenBJW, 2015) folgte einem fachübergreifenden Konzept (konkretisiert in Niveau‐ stufen, Basiscurricula, übergreifenden Themen). Seiner Inkraftsetzung ist eine Anhörungsphase vorausgegangen, die sich an die gesamte Öffentlichkeit richtete. Die Auswertung einer Online-Befragung und schriftlicher Rückmeldungen (v. a. von Verbänden und Institutionen) wurde Ausgangspunkt zahlreicher Überarbei‐ tungen des Rahmenlehrplans. Es entstand ein Plan, mit dem die Bildungspolitik wesentliche Anstöße für eine Veränderung des Fremdsprachenunterrichts und am Ende auch für die Fremdsprachendidaktik, die in diesen Anstößen neue Forschungsfelder findet bzw. finden könnte, gab. Wie und wie stark diese Impulse auf den Fremdsprachenunterricht und die Unterrichtsentwicklung aktuell wirken, sei an drei Beispielen ausgeführt: • Es gibt in Berlin-Brandenburg keine einzelsprachlichen Rahmenlehrpläne mehr. Der gemeinsame Plan für die modernen Fremdsprachen stellt den Rahmen für jeden Fremdsprachenunterricht in der Sek. I (vgl. Junghanns & Schinschke, 2020) in Bezug auf die sprachlichen Kompetenzen ebenso wie auf die Themen und Inhalte. Damit geht einher, dass keine Unter‐ schiede gemacht werden zwischen den Vorgaben und Anforderungen für die erste, zweite, dritte Fremdsprache (vgl. SenBJW, 2015). Der Rahmen‐ lehrplan transportiert also auf vordergründig sehr innovative Weise eine sprachenübergreifende Perspektive und versucht, die Idee einer Kompe‐ tenz des Sprachenlernens, über die Grenzen der Einzelsprachen hinweg, umzusetzen. Gleichzeitig erschwert er den Unterricht in der zweiten und dritten Fremdsprache, weil er auf die spezifische Lehr-und Lernsitu‐ ation dieser Sprachen keine Rücksicht nimmt. Stattdessen werden für die Umsetzung der sprachenübergreifenden Perspektive Anforderungen formuliert, die vornehmlich am Unterricht von Englisch als erster Fremd‐ sprache orientiert sind. • Der o. g. Plan enthält die Verpflichtung für alle Fächer, also auch für jede Fremdsprache, fachübergreifende Festlegungen schulintern auf die ein‐ zelnen Fächer anzupassen (so z. B. die Medienbildung, die Sprachbildung). Dazu gehört auch die Forderung, eine Auswahl aus einem vorgegebenen Katalog übergreifender Themen (z. B. Demokratiebildung, Gesundheits‐ förderung, Gleichstellung und Gleichberechtigung der Geschlechter) in dem einzelnen Fach zu berücksichtigen. Die „Schulkultur [ist] geprägt durch das Berücksichtigen übergreifender Themen, die für die persön‐ liche Lebensgestaltung der Schülerinnen und Schüler bedeutsam und von besonderer gesellschaftlicher Relevanz sind“ (SenBJW, 2015, S. 3). Dies 246 Christine Junghanns, Waltraud Löchel, Elke Philipp, Kerstin Rauch & Andrea Schinschke 1 Unterstützendes Material findet sich aber in Caspari, 2017, im Rahmen des Projekts „Sprachen - Bilden - Chancen“. wirft die Frage auf, ob genügend Raum bleibt für das fremdsprachenspe‐ zifische Ziel der interkulturellen kommunikativen Kompetenz, ist sie doch „gerichtet auf Verstehen und Handeln in Kontexten, in denen die Fremdsprache verwendet wird“ (KMK, 2012, S. 19). Verändert sich die Begegnung mit sprachlich und kulturell Fremdem, wenn mit der Vorgabe übergreifender Themen die Beschäftigung mit der fremden Perspektive (zumindest teilweise) von der „Schulkultur“ gesteuert wird? • Zu der o. g. Verpflichtung für alle Fächer gehört auch, das sogenannte Basiscurriculum Sprachbildung für die fremdsprachlichen Fächer anzu‐ wenden. Die Notwendigkeit einer besonderen Modellierung der Sprach‐ bildung in den Fremdsprachen im Gegensatz zu anderen Fächern wurde damit den Schulen übertragen, die dies in ihren schulinternen Festle‐ gungen leisten mussten. 1 Alle Aspekte legen die Schlussfolgerung nahe, dass bei diesem für die Unter‐ richtsentwicklung so wichtigen Instrument des Rahmenlehrplans Erkenntnisse der fremdsprachendidaktischen Forschung zugunsten fächerübergreifender Ansprüche nicht ausreichend berücksichtigt wurden. Das Zusammenspiel der o. g. Akteure scheint an dieser Stelle nicht optimal verlaufen zu sein. Von der Bildungsadministration wurde die Tendenz einer Vereinheitlichung, die die Spezifika einzelner Fächergruppen und Fächer übergeht, in die Unterrichtsent‐ wicklung getragen. Eine wirkungsvolle Kritik daran benötigt argumentative Unterstützung von Vertreter/ -innen der fachdidaktischen Lehre und Forschung. Ohne diese werden die Bedürfnisse des schulischen Fremdsprachenunterrichts den fachunspezifischen Anforderungen der Schulentwicklung untergeordnet, zunächst im Rahmenlehrplan, in der Folge dann in dessen Umsetzung an den Schulen. 2.3 Fortbildungskonzept der 3. Phase: „Englischunterricht konkret“ In den Ländern Berlin und Brandenburg gibt es seit 2012 ein Fortbildungspro‐ jekt, das die Unterrichtsentwicklung im Bereich des Englischunterrichts zum Ziel hat und das vom Gedanken an den Austausch von fachdidaktischer Theorie und Forschung und schulischer Praxis getragen wird. Das Projekt „Englischunterricht konkret“ sieht vor, dass sich für jeweils zwei Jahre Englischlehrkräfte der Grund- und Sekundarschulen verpflichten, an jährlich vier regionalen Arbeitsgruppen und zwei zentralen Fachtagen teil‐ zunehmen. An den Fachtagen halten Vertreter/ -innen der Fachdidaktik Impuls‐ 247 Unterrichtsentwicklung als gemeinsames Ziel? ! vorträge und in Workshops wird über Möglichkeiten zur unterrichtspraktischen Umsetzung dieser Impulse nachgedacht. In den regionalen Treffen überlegen die Lehrkräfte gemeinsam, wie sie diese Impulse in ihrer eigenen Unterrichtspraxis zur Anwendung bringen können. Über ihre Erfahrungen beim Anwenden der fachdidaktischen Konzepte tauschen sie sich danach in der Gruppe aus. Die Vorteile dieser stabilen und langfristigen Fortbildungsstruktur liegen auf der Hand. In den kleinen Gruppen entsteht eine Vertrauensbasis zwischen Lehrkräften, die es erlaubt, unterrichtspraktische Fragen zu thematisieren, die sonst nicht angesprochen werden, z. B. Disziplin- und Motivationsprobleme, ein Gefühl der Hilflosigkeit und des Versagens, etwa angesichts der Forderung nach Differenzierung in inklusiv unterrichteten Klassen. Viele Lehrkräfte berichten in den begleitenden Evaluationen, dass dieser Aspekt des offenen Austauschs für sie am meisten zur Weiterentwicklung ihrer Unterrichtspraxis beigetragen hat. Welche Bedeutung haben fachdidaktische Theorien und Forschungen in diesem Konzept? Wie können sie dazu beitragen, dass die Zusammenarbeit der Lehrkräfte über den (selbstverständlich legitimen) Anspruch eines kollegialen Austauschs hinausgeht? Tatsächlich vollzieht sich ohne den Beitrag der Fachdidaktik keine Unter‐ richtsentwicklung im Sinne der Verbesserung von Unterrichtsqualität, denn häufig greifen Lehrkräfte in ihren wechselseitigen Empfehlungen auf Altbe‐ kanntes und vermeintlich Bewährtes zurück. Die Erfahrungen im Projekt zeigten schließlich, dass es für die Unterrichtsentwicklung wirksam ist, einen fachdidaktischen Ansatz als konzeptionelle Grundlage für die gesamte Arbeit im Projekt zu wählen. Den Ausgangspunkt bildete 2010 das Task Based Lear‐ ning als fachdidaktisches Grundmodul unter der fachdidaktischen Begleitung von Marita Schocker und Andreas Müller-Hartmann, Otfried Börner, später Torben Schmidt. Davon ausgehend wurden im weiteren Verlauf andere Mo‐ dule festgelegt, die aber immer zu Prinzipien des Task Based Learning in Beziehung gesetzt wurden. Der angestrebte Transfer fachdidaktischer Konzepte zur Unterrichtspraxis hatte mit vielen Stolpersteinen zu kämpfen. Dabei fiel v. a. auf, dass die Teilnehmer/ -innen die Diskrepanz zwischen den fachdidak‐ tischen Impulsen bei den Fachtagen und der Unterrichtspraxis als sehr stark empfanden. Die fachdidaktischen Vorträge wurden von den Lehrkräften mit Interesse verfolgt. Aber schon die anschließenden Workshops, die zeigten, wie bestimmte fachdidaktische Ansätze in ausgesuchten Unterrichtsszenarien und Projekten umgesetzt werden können, wirkten nicht nur inspirierend, sondern auch einschüchternd. Einmal alleine auf sich gestellt in den Regionalgruppen, fragten sich die Lehrkräfte, wie sie den fachdidaktischen Impuls angesichts ihrer schulischen Rahmenbedingungen umsetzen sollten und fühlten dann 248 Christine Junghanns, Waltraud Löchel, Elke Philipp, Kerstin Rauch & Andrea Schinschke eher Frustration statt Motivation. Dieses Problem wurde an die Projektleitung herangetragen. Gleichzeitig wurde aber auch deutlich, dass gerade der An‐ satz des Task Based Learning vielen einleuchtete und sie motivierte, ihren Unterricht anders zu planen und zu gestalten. Das Feedback der Lehrkräfte zu den Fachtagen war immer dann besonders positiv, wenn Vertreter/ -innen aus der Fremdsprachenforschung mit unterrichtspraktischer Erfahrung oder Unterrichtspraktiker/ -innen mit fremdsprachendidaktischer „Aufrüstung“ refe‐ rierten. Ihnen gelang es, fachdidaktische Theorien mit ihren Schlussfolgerungen für die Unterrichtspraxis zu erklären, ohne den dahinterliegenden wissenschaft‐ lichen Diskurs auszuführen. Auch die Sprache, in der Impulsvorträge verfasst waren, spielte eine entscheidende Rolle. Sie scheint für die Lehrkräfte ein Indikator für Praxisnähe zu sein. Das fachdidaktische Modul beispielsweise wird mittlerweile nicht mehr Task Based Learning genannt, sondern „Mit guten Auf‐ gaben motivieren und Kompetenzen fördern“. Insgesamt lässt sich feststellen, dass in den Workshops fachdidaktische Konzepte nicht so umgesetzt wurden und werden, dass sie den zugrundeliegenden theoretischen Anforderungen vollumfänglich genügen. In den Regionalgruppen geht es inzwischen darum, dass Lehrkräfte überschaubare Schritte in der Unterrichtsentwicklung machen und diese als spürbare Verbesserung des Unterrichts erfahren. So hat sich wohl das Projekt „Englischunterricht konkret“ zunehmend davon entfernt, fachdidaktische Ansätze wie das Task Based Learning konzeptionsge‐ treu im Unterricht umsetzen zu wollen. Das Projekt bietet jedoch den beteiligten Lehrkräften zwei Jahre lang Gelegenheit, über guten Unterricht zu reflektieren und dafür Impulse aus der Fremdsprachenforschung zu erhalten. Für viele ist das nach eigenen Aussagen das erste Mal in einer langjährigen Unterrichtser‐ fahrung, dass sie eine derartige Gelegenheit überhaupt erhalten und mit ihrer Erfahrung und Realität wahrgenommen werden. 2.4 Fremdsprachentag Die von den Bildungsverwaltungen initiierte Fortbildung der Lehrkräfte durch Schulberater/ -innen bietet zwar ein regionales, aber gerade durch diese Regio‐ nalität und die zur Verfügung stehenden Ressourcen beschränktes Angebot an fachlicher/ fachdidaktischer Fortbildung im Bereich der Fremdsprachen. In diese Lücke springen vielfältige Partner/ -innen des Fremdsprachenlernens in Berlin und Brandenburg, u. a. die Kulturinstitute, die Schulbuchverlage, die Fremdsprachenlehrerverbände und die Hochschulen. Will der o. g. Studientag romanische Sprachen gerade zur Reflexion über ein fachdidaktisches Thema und dessen mögliche Umsetzung im Unterricht anregen, versteht sich der seit 2005 stattfindende Berliner und seit 2011 Berlin-Brandenburger Fremdspra‐ 249 Unterrichtsentwicklung als gemeinsames Ziel? ! chentag eher als ein stark praxisorientiertes Fortbildungsformat. In Ergänzung zur regionalen Fortbildung können thematische Schwerpunkte gesetzt werden, die über die bildungspolitisch vorgegebenen hinausgehen bzw. von ihnen abwei‐ chen. Der Tag bietet die Möglichkeit, sich im Unterrichten einer oder mehrerer Fremdsprachen vielfältig fortzubilden, aktuelle Tendenzen und neue Materialien kennenzulernen, muttersprachliche Referent/ -innen zu hören und natürlich in Austausch zu treten. Obwohl an einem Samstag stattfindend, ist dieser Tag mit ca. 400-500 Teilnehmenden die fremdsprachendidaktische Veranstaltung mit den höchsten Besucherzahlen in der Bildungsregion Berlin-Brandenburg. Damit bestätigt er das vorhandene Fortbildungsbedürfnis der Lehrkräfte, das im „Tagesgeschäft“ stark an einer schnellen Umsetzbarkeit im Unterricht orientiert ist. 2.5 Zentrale Prüfungen Für zentrale Prüfungen gilt das gleiche wie für die Entwicklung neuer curricu‐ larer Vorgaben: Sie werden von der Bildungspolitik/ -verwaltung initiiert und in den Grundzügen ihrer organisatorischen und inhaltlichen Durchführung gestaltet. Der Einfluss auf den Unterricht ist nicht zu unterschätzen (s. u. zur Rolle der Bildungsverwaltung), umso erstaunlicher ist es für uns Autorinnen, dass Vertreter/ -innen der Fremdsprachendidaktik an den Hochschulen hier nicht stärker und nachhaltiger eingebunden wurden bzw. von ihnen diese Forderung nicht laut erhoben wurde. Rückblickend lässt sich sagen, dass die Einführung zentraler Prüfungen 2006 (MSA) und 2007 (Zentralabitur) in der Bildungsregion Berlin-Brandenburg die Unterrichtsarbeit veränderte, indem sie bislang tendenziell vernachlässigte Kompetenzbereiche wie Sprechen, Hörverstehen und Sprachmittlung in den Fokus rückten. Dies zeigte sich auch im großen Interesse an entsprechenden Fortbildungen, zumal die Lehrwerke seinerzeit noch wenig Material und Auf‐ gaben zu den „neuen“ Kompetenzbereichen anboten. Der Bedarf an Fortbildung richtete sich vorrangig auf Fragen der unmittelbaren Vorbereitung der Ler‐ nenden auf die neuen Aufgabenformate. Hingegen waren Veranstaltungen zum langfristig angelegten Kompetenzaufbau vergleichsweise wenig nachgefragt. Der Vorwurf des teaching to the test ist in der Tat nicht ganz unbegründet, denn nach wie vor wird ein Großteil der Lernenden über mehrere Jahre eher traditionellen, d. h. vorrangig an einer grammatischen Progression orientierten Unterricht genießen und erst in der 10. Klasse an Aufgabenformate der Prü‐ fung herangeführt. Das Umsteuern auf langfristige Kompetenzschulung ist aufwändig und nicht jeder Lehrkraft einsichtig. Insofern gilt für die Bewertung zentraler Prüfungen in ihrer Rolle als Impulsgeber für Unterrichtsentwicklung: 250 Christine Junghanns, Waltraud Löchel, Elke Philipp, Kerstin Rauch & Andrea Schinschke Von den einen werden sie als Verhinderer von Unterrichtsentwicklung gesehen, von den anderen als Beförderer. Umso mehr erstaunt die Empfehlung der Qualitätskommission, die obligatorischen zentralen Prüfungen zum mittleren Schulabschluss in Berlin am Gymnasium abzuschaffen (2020, S. 80f.). Denn auch nach Meinung der Autor/ -innen dieses Berichts sind „die Abschlussarbeiten ein wichtigesVehikel, um die Vorgaben der Bildungsstandards in den Schulen umzusetzen“ (Qualitätskommission, 2020, S. 74) und tragen dazu bei, „dass die Kompetenzorientierung der Standards prinzipiell auch in den Unterricht getragen werden kann“ (Qualitätskommission, 2020, S. 78). 2.6 Bildungsstandards, Vergleichsarbeiten Seit fast 20 Jahren arbeiten wir auf der Grundlage von Bildungsstandards (vgl. KMK, 2003) und in der ersten Fremdsprache in der Folge auch mit den Aufgaben und Ergebnissen von Vergleichsarbeiten und Lernstandserhebungen. Ähnlich wie für die zentralen Prüfungen lässt sich auch hier feststellen, dass davon Impulse für die Unterrichtsentwicklung ausgehen (könnten). Lohnenswert ist ein Blick auf den Unterricht in der ersten im Vergleich zur zweiten und dritten Schulfremdsprache. Denn in letzteren gibt es diese Instrumente, die das Erreichen eines Standards diagnostizieren, nicht. Insofern könnte man schlussfolgern (und das tun wir ohne Belege), dass jeder Zwang oder Impuls zur Unterrichtsentwicklung fehlt und diese auch in geringerem Maße vorange‐ trieben wird - es sei denn, die Lehrkraft gehört zu der sehr kleinen Gruppe von Lehrkräften, die eine andere Sprache als Englisch als erste Fremdsprache unterrichten und darin auch die o. g. Instrumente anwenden, oder sie überträgt Erfahrungen oder Erkenntnisse aus ihrem Erstfach Englisch auf ihr Zweitfach, eine andere Fremdsprache. 3 Bildungspolitik/ Bildungsverwaltung - ein verkannter Akteur? An den meisten der oben genannten Anlässe der Zusammenarbeit ist die Bil‐ dungspolitik/ -verwaltung beteiligt. Deshalb soll im Folgenden ihre Rolle für die Unterrichtsentwicklung, speziell des Fremdsprachenunterrichts, noch einmal genauer betrachtet werden. Wie wird die Unterrichtsentwicklung von Impulsen aus der Bildungspolitik/ -verwaltung beeinflusst und gesteuert? Am stärksten ist der Einfluss der Bildungspolitik/ -verwaltung in der letzten Zeit sicherlich spürbar geworden durch die Bildungsstandards und die Durchführung daran orientierter Vergleichsarbeiten (VERA 8, Ländervergleiche) sowie zentraler Prüfungen (MSA, Abitur). Diese Instrumente werden häufig kritisch betrachtet im Hinblick auf ihre Wirkung auf die Unterrichtsentwicklung, in den Augen 251 Unterrichtsentwicklung als gemeinsames Ziel? ! einiger Kritiker erzeugen sie lediglich ein teaching to the test und nivellieren Unterrichtsinhalte (v. a. im Abitur). In der Tat haben diese Instrumente direkten Einfluss auf den Unterricht, z. B. durch Prüfungsanforderungen nicht nur in Bezug auf Themen und Inhalte, sondern auch durch das Festlegen der abzu‐ prüfenden Kompetenzbereiche, der Aufgabenformate und Bewertungskriterien. Darüber hinaus etabliert die Bildungspolitik/ -verwaltung aber auch Unterstüt‐ zungsangebote, die den Lehrkräften dabei helfen sollen, mit diesen Vorgaben umzugehen, womit letztlich eine Veränderung des Unterrichts angestrebt wird. Hier sind für Berlin/ Brandenburg zwei Angebote hervorzuheben: • Fachbriefe: Sie greifen aktuelle Themen und Anforderungen eines ein‐ zelnen Fachs/ einer Fächergruppe auf und wenden sich dabei direkt an die Lehrkräfte. • Fortbildungen: Beide Bundesländer haben ein dezentrales Fortbildungs‐ system eingesetzt. Sogenannte Schulberater/ -innen (für die Fächer, für fachübergreifende Themen) sind für die Fortbildung von Lehrkräften zuständig. Schulberater/ -innen sind in der Schule tätige Lehrkräfte, die für diese spezielle Aufgabe der Fortbildung am Landesinstitut qualifiziert werden. Die Themenschwerpunkte für diese Qualifizierung werden von der Bildungsverwaltung vorgegeben, fachliche/ fachdidaktische Themen müssen diesen zugeordnet werden. Gerade diese Unterstützungsangebote unterstreichen den Anspruch der bil‐ dungspolitischen Maßnahmen für die Unterrichtsentwicklung, werden hier doch aktuelle Themen wie z. B. Kompetenzorientierung, Outputorientierung, Aufgabenorientierung, Differenzierung, Diagnose etc. verhandelt, verbunden mit Themen der Schulentwicklung wie z. B. schulinternes Curriculum, fach‐ übergreifende Zusammenarbeit, Inklusion, Ganztag, Medienbildung usw. Tatsächlich ist manchmal nicht ganz nachvollziehbar, wie die Impulse für die Unterrichtsentwicklung eigentlich den Weg in die Bildungsverwaltung finden. 4 Fragen Aus der Bestandsaufnahme gehen mehrere Fragen hervor, die es für ein ge‐ meinsames Bemühen um Unterrichtsentwicklung im Fremdsprachenunterricht zu bedenken gilt. Sie nehmen die Zusammenarbeit der drei Hauptakteure Hochschule (1. und 2. Phase der Lehrerbildung)/ Politik, Verwaltung/ Schule (inkl. 2. und 3. Phase der Lehrkräftebildung) in den Blick, ausgehend von den Erfahrungen der Autorinnen an der eingangs beschriebenen Schnittstelle: 252 Christine Junghanns, Waltraud Löchel, Elke Philipp, Kerstin Rauch & Andrea Schinschke 2 Vgl. z. B. den Erwartungshorizont zu der Aufgabe 5 des erhöhten Anforderungsniveaus im Kompetenzbereich Sprachmittlung (vgl. IQB, 2019), wo der Forderung nach „ex‐ plications de spécificités culturelles“ nachgekommen wird durch die Erwartung, dass zwei kulturspezifische Begriffe erläutert werden, nämlich „Neue Deutsche Welle“ und „CSU". Diese Anforderung ist dem inhaltlich abgeschlossenen Erwartungshorizont, der übrigens diese Erläuterungen nicht enthält, angefügt. 1. Wird fachdidaktisches Wissen/ fachdidaktische Innovation angemessen in Entscheidungen und Vorgaben der Bildungspolitik/ Bildungsverwal‐ tung berücksichtigt, so dass Unterrichtsentwicklung in neue Bahnen gelenkt wird? Die Erarbeitung der Bildungsstandards für die fortgeführte Fremdsprache Englisch/ Französisch (vgl. KMK, 2012) ist ein Ergebnis der Zusammenarbeit zwischen Bildungspolitik und anderen Akteuren (universitäre Fremdsprachen‐ didaktik, Lehrkräfte, Landesinstitute). Je nachdem, wie kritisch man zur Ent‐ wicklung von Bildungsstandards und ihrem normierenden Einfluss steht, wird man zu unterschiedlichen Bewertungen dieser Zusammenarbeit gelangen. Die Konkretisierung der in Bildungsstandards formulierten Anforderungen (mit Orientierung an fremdsprachendidaktischen Konzepten) in Prüfungs- oder Lernaufgaben (die der Freigabe durch die Bildungsverwaltung unterliegen) ist wahrscheinlich einer der herausforderndsten Momente des Zusammentreffens von fremdsprachendidaktischer Theorie, bildungspolitischem Handeln und schulischer Praxis. Exemplarisch sei hier auf den Standard zur interkulturellen Kompetenz hingewiesen (vgl. KMK, 2012, S 19 f.). Er wird in den Abituraufgaben (vgl. IQB, 2019) u. a. durch die Anforderung konkretisiert, kulturspezifische Begriffe in der Fremdsprache erläutern zu können - losgelöst von der kommu‐ nikativen Notwendigkeit. 2 In diesen Momenten wird deutlich, dass dort, wo eine Zusammenarbeit im Hinblick auf die Entwicklung von Unterricht stattfindet, die fremdspra‐ chendidaktische Expertise nicht immer ausschlaggebend für bildungspolitische Entscheidungen und Vorgaben wirkt. Für die Lehrkraft kann am Ende eine Diskrepanz zwischen dem, was sie in der Ausbildung, später in der Fortbildung lernt und dem, was von ihr in der Schule qua Vorgabe gefordert wird, erfahrbar werden. Mit diesen Diskrepanzen umzugehen ist für manche Lehrkräfte eine besondere Hürde. Darüber hinaus sind viele der aktuellen, bildungspolitisch gesetzten Themen und Impulse fachunspezifisch. Es ist also nicht die fachdidaktische Innovation, die Veränderungen in der Schule initiiert. Die fachspezifische Anpassung, die unterrichtspraktische Umsetzung, wird von den Lehrkräften in den Schulen gefordert. Gerade hier wünschen sie sich eine Unterstützung von Seiten der 253 Unterrichtsentwicklung als gemeinsames Ziel? ! Fremdsprachenforschung, um die politisch initiierte Unterrichtsentwicklung professionell voranzutreiben. 2. Wird fremdsprachendidaktisches Wissen/ fremdsprachendidaktische In‐ novation in die Schule weitergetragen, so dass die Unterrichtsentwick‐ lung davon profitiert? Die o. g. Beispiele aus der dritten Phase (Studientag, Fremdsprachentag, „Eng‐ lischunterricht konkret“) zeigen, dass seitens der Lehrkräfte ein großes Be‐ dürfnis nach Fortbildung besteht, aber Uneinigkeit herrscht, ob diese den Fokus setzen sollte auf Austausch, die Reflexion von innovativen Konzepten oder das Kennenlernen von fertigen Unterrichtsrezepten. Die Diskrepanz zwischen den am Tagesgeschäft orientierten Bedürfnissen und dem Anspruch theoretischer Reflexion als Grundlage von professionellem Handeln durchzieht all unsere Aktivitäten im Handlungsfeld der Unterrichtsentwicklung. Die Fortbildung (Landesinstitut, dezentrale und zentrale Fortbildung) wirkt darin in der altbe‐ währten Weise mit mehr oder weniger Erfolg, sie gibt für die Schule Impulse, die akzeptiert, abgelehnt, passend zur eigenen Handlungspraxis gemacht werden können. In einem Bereich, der hier nicht näher beschreiben wird, weil wir Auto‐ rinnen damit nicht befasst sind, scheint es anders auszusehen, nämlich in den Praxissemestern (siehe dazu die Beiträge von Katharina Kräling et al. sowie Gabriele Bergfelder-Boos et al. in diesem Sammelband). Sie sind dem Konzept nach tatsächlich in verschiedenen Bereichen verankert und die Vernetzung hat auch in der Formulierung der Ziele für ihre Durchführung Eingang gefunden. „Durch das Zusammenwirken der Beteiligten öffnen sich neue Perspektiven: Universitäten lernen Schulen und Vorbereitungsdienst noch besser kennen, Schulen erhalten Einblicke in aktuelle Fragen der universitären Arbeitsbereiche, Fachseminarleitungen bringen ihr Expertenwissen aus der zweiten Phase der Lehrkräftebildung ein und profitieren von aktuellen Forschungserkenntnissen der Hochschulen“ (Freie Universität, 2020, S. 5). Schaffen es die Studierenden im Praxissemester aber tatsächlich, das an der Universität Gelernte/ von ihr Geforderte in der Schule umzusetzen, den Schulen somit die o. g. Einblicke zu er‐ möglichen, obwohl sie dabei vielleicht gegen Traditionen und Erfahrungswerte der Kollegen und Kolleginnen anecken? Oder verhindert der Anpassungsdruck die avisierte Vernetzung und die für die Schule gewünschten Einblicke? 3. Werden Impulse aus der Bildungspolitik in der Form in die Schulen getragen, dass Unterrichtsentwicklung angestoßen wird? 254 Christine Junghanns, Waltraud Löchel, Elke Philipp, Kerstin Rauch & Andrea Schinschke 3 Vor allem VERA 8 und LAL 7 werden unserer Erfahrung nach kritisiert, weil sie zusätzlichen Korrekturaufwand generieren, ohne vom Sinn der für die Evaluation und Auswertung vorgesehenen Formate zu überzeugen. Der Umgang mit Aufgaben, die unterrichtsunabhängig an Standards orientiert sind, stößt auf Skepsis, umso mehr als die Ergebnisse dieser Lernstandserhebungen als Grundlage für weitere Unterrichtspla‐ nung genutzt werden sollen. Hier eröffnet sich ein vermeintlich einfacher Weg, denn er ermöglicht die Un‐ terrichtsentwicklung qua Anordnung. Zwei Beispiele illustrieren, wie holprig er dennoch ist: • Alle in Berlin/ Brandenburg zentral vorgegebenen Prüfungen/ Vergleichs‐ arbeiten/ Lernstandserhebungen für den Fremdsprachenunterricht orien‐ tieren sich an einer kompetenzorientierten Aufgabenkultur (VERA 8 für Englisch und Französisch, die Lernausgangslage 7 (LAL 7) für Englisch und Französisch, die Prüfungen zum mittleren Schulabschluss darüber hinaus für alle Fremdsprachen, die an den Berliner Europaschulen als erste Fremdsprache angeboten werden). Alle Innovationen, die in Zu‐ sammenhang mit Prüfungen bzw. Lernstandserhebungen in die Schulen kommen, begegnen dem Vorwurf des teaching to the test und einer eher schulorganisatorischen und konzeptionellen Ablehnung. Dies trifft besonders die Lernstandserhebungen VERA 8 und LAL 7, beide mit offensichtlich schwer vermittelbarer diagnostischer Zielsetzung. Hier werden im Prinzip begrüßenswerte fremdsprachendidaktische Innova‐ tionen in einem von der Bildungsverwaltung vorgegebenen, aber für viele Beteiligte nicht akzeptablen Kontext 3 präsentiert und verlieren dadurch an Wirkung. Genau deswegen erscheint dieser Weg besonders umstritten in seiner Wirkung auf die Unterrichtsentwicklung. Wir würden uns wünschen, dass gerade die Impulse aus der Aufgabenentwicklung als Beförderer besser genutzt werden unter der Voraussetzung, dass die Vorgaben fachlich und fremdsprachendidaktisch im Hinblick auf die Unterrichtsentwicklung abgestimmt sind. • Eine Vielzahl von Veränderungen wurden als bildungspolitische Schwer‐ punkte den Schulen vorgegeben, so z. B. die Forderung nach Sprachbildung in allen Fächern, inklusivem Unterricht oder Unterricht in einer digitalisierten Welt etc. Die Beachtung dieser Schwerpunkte stellte und stellt die Lehrkräfte in der praktischen Umsetzung vor Herausforderungen, für deren Bewälti‐ gung es ihnen an Unterstützung mangelte - in ihren Augen auch von Seiten der Fremdsprachendidaktik, s. o. die Ausführungen zur ersten Frage. Manche Impulse aus der Bildungspolitik kamen und kommen zu einem Zeitpunkt in die Schule, zu dem sie auch für die Wissenschaft noch neu 255 Unterrichtsentwicklung als gemeinsames Ziel? ! waren bzw. sind. Für die Lehrkräfte in der Praxis bedeutet dies, schnell und eigenverantwortlich zu handeln - und dabei Erfahrungen zu machen, die für die Wissenschaft wertvolle Impulse erbringen könnten. 4. Die letzte Frage ist grundsätzlicher Natur und nimmt die Zusammenarbeit aller drei Hauptakteure in den Blick. Wie ist mit dem in diesem Beitrag mehrmals zitierten Wunsch der Lehrkräfte nach mehr Unterstützung durch die fremdsprachendidaktische Lehre und Forschung in der Umset‐ zung bildungspolitischer Vorgaben umzugehen? Würde die wissenschaft‐ liche Betätigung dann in Auftragsforschung münden? Bisher sind wir davon ausgegangen, dass die Zusammenarbeit zwischen Theorie - Praxis - gestaltender und verwaltender Politik wünschenswert wäre. Ist das aber wirklich so? Hier sind wir uns unsicher, ob unsere Perspektive von der Schnittstelle angemessen ist. Engt ihr Wunsch nach starker Zusammenarbeit die universitäre Forschung nicht ein, so dass diese weniger innovativ sein kann? Wird damit die Fremdsprachendidaktik in der universitären Ausbildung nicht zum Dienstleister degradiert? 5 Wünsche Unsere Perspektive ist eine, die in einem bestimmten beruflichen Handlungs‐ feld, welches eingangs als Schnittstelle beschrieben wurde, verortet ist. Der kritische Rundumblick zeigt, dass es unter denjenigen, die sich mit dem Fremd‐ sprachenunterricht befassen, unterschiedliche Vorstellungen darüber gibt, wie dessen Qualität verbessert werden kann. So benötigt Unterrichtsentwicklung in den Augen vieler Lehrkräfte gute Rezepte für die konkrete Gestaltung von Unterricht, für die Bildungsverwaltung sind primär Vorgaben und Verord‐ nungen impulsgebend. Die Fremdsprachendidaktik wiederum beforscht Frage‐ stellungen und zieht Rückschlüsse auf Merkmale gelungenen Unterrichts. Unser zentraler Wunsch wäre es, eine Verständigung nicht nur darüber herzustellen, wie guter Unterricht aussehen sollte, sondern vor allem darüber, wie diese Unterrichtsentwicklung anzustoßen und zu begleiten wäre. Konkret hieße dies • eine institutionalisierte Zusammenarbeit aller Phasen der Lehrkräftebildung, • die Berücksichtigung der fremdsprachendidaktischen Expertise in Ent‐ scheidungsprozessen der Bildungspolitik/ -verwaltung, • verstärkte Zusammenarbeit in Projekten der Unterrichtsentwicklung, z. B. im Rahmen von Ansätzen der Aktionsforschung. Dies muss struk‐ turell ermöglicht, wissenschaftlich begleitet und ausgewertet werden. 256 Christine Junghanns, Waltraud Löchel, Elke Philipp, Kerstin Rauch & Andrea Schinschke „Wir brauchen bundesweite Anstrengungen, um den Fachunterricht zu verbes‐ sern […]. Eine Schwachstelle ist die Lehrerfortbildung. Dort liegt der Fokus zu wenig auf dem Fachunterricht. Stattdessen werden Themen gepflegt wie Inklu‐ sion oder der Umgang mit unterschiedlich leistungsstarken Schülern allgemein, aber eben nicht speziell“ (Interview mit Olaf Köller, in Die Zeit N° 43, 15.10.2020). Was Olaf Köller hier für den Mathematikunterricht feststellt, gilt für jeden anderen Fachunterricht ebenso. Unser Anliegen ist es, von der fachdidaktischen Lehre und Forschung Unterstützung für die angemahnte Verbesserung des Fachunterrichts und das heißt für die Unterrichtsentwicklung zu erhalten - ohne sie in die Rolle eines Dienstleisters zu drängen. Literatur Caspari, Daniela (2017). Durchgängige Sprachbildung - Der Beitrag des Fremdsprachen‐ unterrichts. In Brigitte Jostes, Daniela Caspari & Beate Lütke (Hrsg.) Sprachen - Bilden - Chancen: Sprachbildung in Didaktik und Lehrkräftebildung (S. 205-219). Münster: Waxmann. Vgl. auch das Material unter: www.sprachen-bilden-chancen.de/ [07.03.2021]. Freie Universität Berlin, Humboldt Universität zu Berlin, Technische Universität Berlin, Universität der KünsteBerlin (2020, 5. Auflage). Leitfaden Praxissemester im Berliner Lehramtsstudium. https: / / tinyurl.com/ 5e9k5w2t [23.02.2021]. IQB (Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen) (2019). Pools für das Jahr 2019. www.iqb.hu-berlin.de/ abitur/ pools2019/ franzoesisch [03.02.2021]. Junghanns, Christine & Schinschke, Andrea (2020). One for all? Ein gemeinsamer Rahmenlehrplan für alle modernen Fremdsprachen in den Jahrgangsstufen1-10. Die Neueren Sprachen 8/ 9 für 2017/ 18, 30-42. Kultusministerkonferenz (2012). Bildungsstandards für die fortgeführte Fremdsprache (Eng‐ lisch / Französisch) für die Allgemeine Hochschulreife. (Beschluss der Kultusministerkonfe‐ renz vom 18.10.2012). https: / / tinyurl.com/ 7pjeeyap [05.01.2021]. Kultusministerkonferenz (2003): Bildungsstandards für die erste Fremdsprache (Eng‐ lisch/ Französisch) für den Mittleren Schulabschluss. (Beschluss der Kultusministerkon‐ ferenz vom 04.12.2003). https: / / tinyurl.com/ yh9jv5ba [07.03.2021]. Qualitätskommission zur Schulqualität in Berlin (2020). Empfehlungen zur Steigerung der Qualität von Bildung und Unterricht in Berlin. Abschlussbericht der Expertenkommis‐ sion. https: / / tinyurl.com/ y2f65fad [05.01.2021]. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft Berlin/ Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg (2015). Rahmenlehrplan Jahrgangsstufe 1-10, Teil C, Moderne Fremdsprachen, Jahrgangsstufen 1-10. Berlin, Potsdam. https: / / tinyurl.com/ rvufbux6 [05.01.2021]. 257 Unterrichtsentwicklung als gemeinsames Ziel? ! 1 Bei den Genderformen wurde wo immer möglich versucht, Partizipialformen u. Ä. zu verwenden. Zugunsten der Lesbarkeit wurde entschieden, lediglich in Einzelfällen bei Komposita auf Doppelnennung zu verzichten. Sprachlernberatung in der Lehrerausbildung - Lernszenarien zum Erwerb professioneller Kompetenzen Hélène Martinez Lernberatung gewinnt vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und bil‐ dungspolitischen Entwicklung und einem veränderten konstruktivistisch ge‐ prägten Lernverständnis zunehmend an Bedeutung. Je mehr den Lernenden 1 Selbstständigkeit und Lernerautonomie zugelassen und zugeschrieben wird, desto notwendiger erscheint Lernberatung. Bereits 2009 stellte Pätzold fest: „Auch in der pädagogischen [und fremdsprachendidaktischen: HM] Literatur kommt man an der Beratung kaum vorbei, insbesondere wenn es um Fragen wie die des Lernkulturwandels oder einer zeitgenössischen (Fremdsprachen-)Didaktik geht“ (Pätzold, 2009, S. 196). Beratungskompetenz zählt zu den wichtigsten Kompetenzen von Lehrkräften und Beratung ist in den meisten aktuellen Modellen neben Fachwissen, fachdidaktischem Wissen, allgemein pädagogischem Wissen und Organisationswissen zur professionellen Handlungskompetenz von Lehrkräften integriert (vgl. z. B. Baumert & Kunter, 2006). Die Notwendigkeit der Übernahme der Funktionen eines Lernberaters/ einer Lernberaterin im schulischen Kontext scheint auch auf einen Konsens unter den praktizierenden Lehrkräften zu treffen. Allerdings verweisen empirische Studien auf Schwierigkeiten vieler Lehrkräfte mit der Übernahme der Be‐ raterbzw. Coach-Rolle. Lehrkräfte mit einem transmissiven Lehrverständnis empfinden die Rolle des/ r Lernberatenden sogar als unzumutbar (vgl. Perk‐ hofer-Czaper & Potzmann, 2016, S. 266). Was den Fremdsprachenunterricht betrifft, zeigt Caspari (2003) in ihrer qualitativen Studie, dass nur wenige Teil‐ nehmende bzw. Lehrkräfte die Rolle des/ r Beratenden in ihr Selbstverständnis integrieren würden. Zu den hinderlichen Faktoren für die Übernahme der Beraterbzw. Coach-Rolle zählen neben schulischen Rahmenbedingungen unzureichende Beratungs- und Coachingkompetenzen. Viele Lehrkräfte sind für das Führen von Beratungsgesprächen nicht ausgebildet (vgl. Hertel, 2009). Scheinbar fehlt ihnen auch eine klare Vorstellung der Funktionen eines/ r Beratenden; Beratung wird dementsprechend oft dem Segment der Wissensvermittlung zugeordnet - im Sinne von Informationen, Tipps etc. Demgegenüber wird aber (Lern-)Beratung als ein Potenzial für die professio‐ nelle Weiterentwicklung betrachtet: Caspari (2003, S. 252) zeigt, dass es sich bei den Funktionen „Lernberater“ und „Organisator von Lernprozessen“ um Handlungsfelder handelt, die in besonderem Maße Potenzial und Anstoß zur persönlichen Weiterentwicklung beinhalten. Für Kleppin und Spänkuch (2014, S. 107) besteht kein Zweifel daran, dass „das Wissen über Konzept und Funktion der Sprachlernberatung und des Sprachlern-Coachings und über die damit verbundenen Kompetenzprofile […] Auswirkungen auf eine weitere Professionalisierung des Lehrberufs an Schulen und Hochschulen hat […]“. Welche Implikationen die Beschäftigung mit Sprachlernberatung an der Hochschule und vor allem in der Lehrerausbildung haben kann, ist Gegen‐ stand der vorliegenden Ausführungen. Es soll gezeigt werden, welchen Beitrag Sprachlernberatung zur Entwicklung der Professionalität angehender Fremdsprachenlehrkräfte leisten kann. Dabei wird auf die Konstruktion von Lerngelegenheiten bzw. -aufgaben zum Erwerb einer professionellen Kompetenz im universitären Rahmen fokussiert. 1 Sprachlernberatung: von den Bedürfnissen der Lernenden zu den Kompetenzen der Lehrenden In den letzten Jahren sind zunehmend Publikationen zur Sprachlernberatung erschienen (u. a. Bernd & Deutschmann 2014; Kleppin & Spänkuch 2014; Kleppin 2019). Daher soll im Folgenden lediglich an einige für den vorliegenden Beitrag relevante Aspekte erinnert werden. Obwohl Beratung bzw. Sprachlernberatung in der fremdsprachendidakti‐ schen Forschung als etabliert gelten kann, existiert keine allgemein gültige Definition, was u. a. darauf zurückzuführen ist, dass mit Sprachlernberatung unterschiedliche Konzepte und Vorstellungen verbunden werden, die in Form, Funktion und Setting divergieren (vgl. Claußen, 2020). Darüber hinaus werden 260 Hélène Martinez unterschiedliche Begriffe wie Sprachberatung, Sprachlernberatung und/ oder Sprachlerncoaching etc. verwendet (vgl. Pätzold, 2009; Kleppin, 2019). (Sprachlern-)Beratung wird übereinstimmend als „Hilfe zur Selbsthilfe“ be‐ zeichnet, d. h. sie wird als eine Form von Unterstützung beim Lernen von Fremd‐ sprachen gesehen, welche sich auf der Grundlage einer verbalen Interaktion - eines Beratungsgesprächs - zwischen Ratsuchenden und Beratenden entfaltet. „C’est par la discussion que l’apprenant va faire évoluer ses savoirs et ses savoir-faire“ (Gremmo, 1995, S. 35). Der Begriff „Hilfe zur Selbsthilfe“ verweist auf die Verantwortlichkeiten von sowohl Ratsuchenden als auch Beratenden. 1.1 (Sprachlern-)Beratung im Rahmen selbstständigen Lernens Sprachlernberatung ist entstanden im Rahmen der Diskussion um Lernerauto‐ nomie (vgl. Holec, 1979) bzw. selbstgesteuertes Lernen (apprentissage autodirigé) - Konzepte, die auf einer radikalen Veränderung der Lehr- und Lernstruktur sowie einer Ablehnung des traditionellen Wissensvermittlungsverständnisses, nach dem Lehren Lernen verursacht, beruhen. Grundlage selbstgesteuerten Lernens ist der Grad der non-directivité bzw. non-dépendance (vgl. Rogers, 1969; Holec, 1988). Dabei ist allerdings non-dépendance bzw. Lernerautonomie nicht mit Unabhängigkeit (indépendance) gleichzusetzen, welche darin besteht, dass der oder die Lernende unabhängig von einer Lehrperson ist oder ein „apprentissage préconstruit“ konsumiert: „L’apprenant qu’on laisse libre de ‚consommer’ à sa guise un apprentissage préconstruit est indépendant mais il n’est pas autonome“ (Holec, 1988, S. 7). Sprachlernberatung erweist sich als eine notwendige Maßnahme zur Umset‐ zung der alternativen Form des selbstständigen Fremdsprachenlernens (appren‐ tissage autodirigé). Die Ausbildung der Lehrenden zu Sprachlernberatenden („apprendre à former les apprenants, apprendre à les conseiller“) wird neben der Ausbildung der Lernenden und der Bereitstellung von Lernressourcen als eine der Voraussetzungen für eine gelungene Implementierung des „apprentissage autodirigé“ gesehen (vgl. Holec, 2000, S. 177f.). Dabei wird in Anlehnung an die „autoformation assistée“ (Schwartz, 1973, S. 182) betont, dass pädagogische Praktiken sich in dem Maße entwickeln, wie sich die Rollen und Verantwortlichkeiten von Beratenden und Lernenden weiterentwickeln: L’individualisation de la relation pédagogique entraîne une recherche d‘adaption aux besoins de chaque personne en formation, à son rhythme d’apprentissage, à ses capacités et compétences, le but étant de permettre des progressions différenciées. 261 Sprachlernberatung in der Lehrerausbildung Dies geht einher mit einer Analyse und Charakterisierung der Beraterrolle, die mit der heute als etwas schematisch empfundenen Dichotomie „conseiller“ vs. „enseigner“ auf den Punkt gebracht wurde (vgl. Gremmo, 1995; Riley, 1997). 1.2 Beratungsformen Das Konzept der individuellen Sprachlernberatung ist im Rahmen der Erwach‐ senenbildung entstanden und wird heute noch überwiegend in Lehr- und Lernkontexten für Erwachsene angeboten. Der Paradigmenwechsel der Lerner‐ orientierung mit der Hinwendung zum Lernenden und zum Lernprozess - und die Forderung nach Autonomisierung des Lernenden in institutionellen Kontexten (Stichwort: Lernen des Lernens) (vgl. zuletzt Little et al., 2017) - blieb allerdings nicht ohne Konsequenz für die Funktion des Lehrenden. Damit stellt sich die Frage nach der Rolle und der Intervention von Lehrpersonen im institutionellen Kontext. Es wird allgemein davon ausgegangen, dass die alleinige Form der Intervention die Hilfe des Lehrenden darstellen kann: The emphasis has moved from teacher-training to learner-training, with the teacher’s own role changing from that of authority (in both the ‘boss’ and the ‘expert’ senses) to that of helper: his task is no longer to direct a unidirectional flow of modelling behaviour onto a passive learner (these classical psychological ‘theories of learning’ are in fact theories of teaching) but to facilitate learning by training the learner to learn, actively. (Riley, 1982, S. 61; Hervorhebung im Original) Aktuell besteht sowohl in der pädagogischen als auch in der fremdsprachen‐ didaktischen Literatur Konsens darüber, dass die Erweiterungen des Aufga‐ benbereichs der Lehrkraft mit einer Rollenerweiterung einhergehen, welche auch die Beratungsfunktion einschließt (u. a. Kleppin & Spänkuch, 2014; Perk‐ hofer-Czapek & Potzmann, 2016). Demnach lassen sich zwei Grundformen von Sprachlernberatung im institu‐ tionellen (Schul-)Kontext unterscheiden: Lernberatung als Lernprozessbeglei‐ tung und Lernberatung als didaktische Form. Letztere lässt sich im Sinne eines methodisch strukturierten - formalisierten - Beratungsgesprächs mit klar zugeordneten Rollen (Beratende/ Ratsuchende) als professionelle Beratung/ pro‐ fessionelles Coaching bezeichnen. Erstere ist im institutionellen (Fremdspra‐ chen-)Lehr-Lernprozess integriert und in der Fremdsprachendidaktik auch unter dem Begriff „Beratungselemente“ bekannt (vgl. Kleppin, 2001, S. 55). 262 Hélène Martinez 2 Die vorliegende Auflistung zielt nicht auf Vollständigkeit, sondern dient lediglich der Konkretisierung des Sachverhalts. Abb.1: Grundformen von Sprachlernberatungen (nach Pätzold, 2009, S. 197) Auch wenn beide Formen unterschiedlich sind, fußen sie doch auf der Beherrschung spezifischer Beraterkompetenzen: Feldkompetenzen, Gesprächsführungssowie entsprechende persönlichkeitsbezogene Kompetenzen (vgl. Kleppin & Spänkuch, 2014; Kleppin, 2019, S. 581). Diese müssen im Rahmen der Lehrerbildung auf- und ausgebaut werden. 1.3 Beraterkompetenzen Untersuchungen zur Rolle des/ r Lernberatenden im Rahmen selbstgesteuerten Lernens liefern einen wichtigen Beitrag zur Konzeptualisierung und Operatio‐ nalisierung der Beraterkompetenzen auch von Lehrenden (vgl. Sturtridge, 1997; Riley, 1997; Albéro, 2000; Kleppin 2001; Claußen & Spänkuch, 2018). Wird von den (Fremdsprachen-)Lehrkräften erwartet, dass sie die Rolle des/ r Sprachlernberatenden übernehmen und über eine professionelle Beraterkom‐ petenz verfügen, so erfordert dies die Aktivierung einer ganzen Reihe von Ressourcen. Diese umfassen primär die folgenden - in einer Wechselbeziehung stehenden - Bereiche (vgl. Candelier, 2009; Kleppin, 2019, S. 580f.). 2 263 Sprachlernberatung in der Lehrerausbildung • Savoir (deklaratives Wissen): Feldkompetenz d. h. Fachwissen über Sprachlernberatung (Ziele, Funktionen, Formen, Ablauf etc.); Fachwissen bezüglich der Förderung individueller Lernprozesse; Fachwissen über individuelle Faktoren, die das Lernen beeinträchtigen; Fachwissen über Strategien und language (learning) awareness; Fachwissen über Kompe‐ tenzen des/ r Lernberatenden; Fachwissen über Gesprächstechniken etc.; • Savoir-faire (prozedurales Wissen): Handlungskompetenz bzw. fach‐ lich-methodische Kompetenzen (Gesprächsführung, Fragetechniken, Phasierung einer Beratung, Hypothesenbildung etc.); • Savoir-être (persönlichkeitsbezogene Kompetenz): Akzeptanz, Empathie, Bereitschaft und Offenheit; • Savoir-apprendre/ savoir réflechir : Steuerung und Regulierung der eigenen Handlung durch monitoring bzw. Überwachungs- und Evaluationspro‐ zesse im Hinblick auf die mobilisierten Ressourcen und deren Ange‐ messenheit - was eine Reflexionskompetenz voraussetzt. Bereitschaft, eventuelle nicht angemessene subjektive Theorien/ Annahmen in Frage zu stellen etc. Abb. 2: Beraterkompetenzmodell (nach Kleppin, 2019, S. 581) 264 Hélène Martinez 1.4 Sprachlernberatung am Institut für Romanistik der JLU Gießen Die Selbst-Lern-Werkstatt Romanistik (SLW-Rom) ist ein Lehrprojekt, das am Institut für Romanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen entstanden ist und kontinuierlich in Theorie und Praxis weiterentwickelt wird. Die SLW-Rom schafft eine Lernumgebung, die Studierende der Romanistik bei der Optimie‐ rung ihrer Fremdsprachenlernprozesse unterstützt. Anknüpfend an das Konzept von Studienwerkstätten in der Lehrerbildung zielt die SLW-Rom darauf, den traditionellen universitären Raum um einen zusätzlichen innovativen Lernort zu erweitern. Das Angebot der SLW-Rom beruht auf den drei Säulen Lernen, Lehren und Forschen und ihrer engen Verzahnung in Bezug auf Fremdsprachen. Eine Besonderheit der Gießener SLW-Rom ist das Konzept der Sprachlern‐ beratung. Mit Sprachlernberatung wird hier ein Lehr- und Lernarrangement bezeichnet, das - anhand einer strukturierten Abfolge von Erstberatungen, Zwischen- und Abschlussgesprächen - Romanistikstudierende individuell in ihren Lernvorhaben begleitet und dabei unterstützt, Verantwortung für den eigenen Lernprozess zu übernehmen, (selbst-)reflexive und prozessbezogene Kompetenzen zu entwickeln und Lernergebnisse zu optimieren. Im Laufe des Projekts wurde die Sprachlernberatung in Veranstaltungen der französischen, spanischen und portugiesischen Sprachpraxis implementiert und sie hat auch in die neuen Studien-Curricula Eingang gefunden. In diesem Kontext werden Studierende des ersten und dritten Fachsemesters angeregt, konkrete fremd‐ sprachliche Lernziele zu formulieren, die an die Kurs- und Prüfungsinhalte der sprachpraktischen Übungen anknüpfen. So können Ansatzpunkte der insti‐ tutionalisierten Sprachkurse mit Elementen des selbstgesteuerten Lernens ge‐ winnbringend kombiniert und die heterogenen Sprachniveaus der Studierenden ausgeglichen werden. Die Lehramtsstudierenden erhalten in den Gießener Sprachlernberatungen nicht nur die Möglichkeit, ihre eigene Sprachlernkompetenz weiter zu entwi‐ ckeln, sondern auch das Angebot, die Perspektive des/ r Sprachlernberatenden einzunehmen und selbst als Sprachlernberatende zu fungieren. Um den Studie‐ renden eine solche Lehrerfahrung zu ermöglichen, wird seit dem Sommerse‐ mester 2017 ein fachdidaktisches Seminar angeboten, in welchem die Studie‐ renden lernen, individuelle Sprachlernberatungen vorzubereiten, zu planen und konkret mit Schülerinnen und Schülern der Gießener Schulen durchzuführen. So werden sie angeleitet, ihr theoretisches Wissen über Sprachlernberatungen in der Schulpraxis umzusetzen und den Beratungsprozess bzw. ihre Beratungs‐ kompetenzen zu reflektieren und weiter zu entwickeln. Darüber hinaus besteht für Studierende die Möglichkeit, eine Ausbildung zum/ r Sprachlernberatenden 265 Sprachlernberatung in der Lehrerausbildung zu absolvieren. Es handelt sich um eine Profilbildung für angehende Franzö‐ sisch- und Spanischlehrkräfte als zusätzliche Qualifikation. Die Rückbindung der SLW-Rom an die Fremdsprachenforschung erfolgt auch über die Auseinandersetzung mit Sprachlernberatungen im Rahmen von Masterbzw. Staatsexamensarbeiten. In diesem Zusammenhang haben Studierende bei‐ spielsweise auf der Grundlage der in der SLW-Rom vorhandenen Datensamm‐ lungen detaillierte Analysen von Gesprächstechniken durchgeführt. Neben studienbezogenen Zielsetzungen entwickelte sich im Verlauf des Projekts eine enge Kooperation mit Schulen aus dem Raum Gießen. So ist es für Schülerinnen und Schüler mit den Zielsprachen Französisch und Spanisch möglich, an individuellen Sprachlernberatungen teilzunehmen. 2 Sprachlernberatung: Grundlage eines komplexen Lehr-Lern-Szenarios in der Lehrerausbildung Im Folgenden soll auf ein fachdidaktisches Seminar zum Thema Sprachlernbe‐ ratung aus dem Sommersemester 2020 eingegangen werden. Gemäß den Prinzipien der Handlungs- und Erfahrungsorientierung wurden die Studierenden im Rahmen eines didaktischen Seminars zum Thema Sprach‐ lernberatung angeregt, sich mit den theoretischen Grundlagen der Sprachlern‐ beratung auseinanderzusetzen und anhand konkreter praktischer Beispiele die Rolle und Kompetenz von Sprachlernberaterinnen und -beratern zu reflektieren. Dazu wurden sie angehalten, zunächst eine Sprachlernberatung als Ratsuchende zu besuchen und danach eine Sprachlernberatung mit einer Schülerin bzw. einem Schüler als Beratende/ r zu übernehmen. Folgende zu erwerbende (erwartende) Kompetenzziele wurden fixiert: Studierende… • sind fähig, die eigenen Einstellungen bezüglich des Fremdsprachenlehr- und -lernprozesses, der Lernerrolle, der Lehrerrolle etc. zu reflektieren; • kennen die Ziele und Funktionen von Sprachlernberatungen; • kennen die grundlegenden Beraterkompetenzen und -techniken; • können die Ergebnisse der fremdsprachendidaktischen Forschung in Bezug auf Sprachlernberatung reflektieren; • sind fähig, Sequenzen aus Sprachlernberatungen zielführend zu analy‐ sieren; • sind bereit und fähig, die Funktion eines/ r Lernberatenden zu über‐ nehmen; • sind bereit und fähig, über eigene Beraterkompetenzen kritisch zu reflek‐ tieren. 266 Hélène Martinez 2.1 Grundprinzipien Die Gestaltung und Durchführung des Seminars beruht auf folgenden Prä‐ missen: Die im Seminar angebotenen Aktivitäten sind als „Lerngelegenheiten“ kon‐ zipiert: In Anlehnung an Crabbe (2003, S. 18) verstehe ich Lerngelegenheit als „access to any activity that is likely to lead to an increase in [pedagogical: HM] knowledge and skills“. Ausgehend von der These, wonach Kompetenzen nicht gelehrt werden können, werden Lerngelegenheiten entwickelt, die angehende Lehrende anregen sollen, adäquate Ressourcen zur Lösung von Aufgaben/ Pro‐ blemen zu identifizieren, mobilisieren, miteinander zu kombinieren sowie zu reflektieren. • Dabei wird eine enge Verzahnung von Theorie und Praxis angestrebt. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass fachdidaktisches Wissen und Können nicht ausschließlich auf theoretisch erworbenem Fachwissen ba‐ sieren, sondern zum Teil durch eigene praktische Erfahrungen erworben wird. • Die Theorie-Praxis-Relation ist eng mit den Rollen verbunden, die die Studierenden übernehmen. Lerngelegenheiten aus der Perspektive des/ r Lernenden, des/ r Lehrenden und des/ r Forschenden werden angeboten und jeweils reflektiert. In Anlehnung an die Weiterent‐ wicklung des Modells des experiential learning (vgl. Kohonen, 1992) wird davon ausgegangen, dass Professionalisierung von (angehenden) Lehrenden „requires a continous recycling of experience, reflection, conceptualisation and active experimentation“ (ebd., S. 29). Es wird angenommen, dass die Reflexion über individuelle Lern- und Lehr‐ erlebnisse einen Einblick in die eigenen Lernprozesse und ein Ver‐ ständnis der jeweiligen Aufgaben ermöglicht. Dies trägt zur Stärkung der Selbstwirksamkeit bei bis zur Anbahnung einer forschenden Hal‐ tung und einer professionellen Identität (vgl. Martinez, 2015 und 2018; zur Rolle von Reflexion in der Lehrerbildung vgl. Abendroth-Timmer & Schneider, 2016). • Reflexivität wird als Kompetenz verstanden mit den Anteilen Wissen, Fertigkeiten und Einstellungen. Diese lassen sich beschreiben und somit operationalisieren und durch geeignete Aufgaben/ Lernszenarien fördern (vgl. von Aufschnaiter et al., 2019). 267 Sprachlernberatung in der Lehrerausbildung 3 An anderer Stelle (vgl. Martinez, 2015) habe ich mich explizit für opportu‐ nity-to-learn-Standards und für ein reflexiv metakognitives/ selbstregulatives Training für angehende Lehrkräfte ausgesprochen. 2.2 Komplexes Lehr- und Lernszenario Somit entsteht eine Lernumgebung bzw. ein komplexes Lernszenario, in dem die Themenfelder der Sprachlernberatung sowohl theoretisch durchdrungen als auch handelnd erfahrbar gemacht und jeweils kritisch reflektiert werden (vgl. Königs, 2008, S. 13). 3 Konkret umfasst das komplexe Lernszenario folgende Aktivitäten bzw. Auf‐ gaben: • Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Beiträgen zum Erwerb fach‐ didaktischen Wissens; • Teilnahme an einer Sprachlernberatung aus der Perspektive des/ r Ler‐ nenden; • Fallarbeit: Bearbeiten von (interaktiven) Video-Sequenzen; • Konstruktion von Fragen/ Aufgaben (zu Video-Sequenzen); • Simulierung von Sprachlernberatungssequenzen; • Erprobung ausgewählter Beratungsinstrumente (z. B. Wheel of Language Learning, vgl. Kato & Mynard, 2016, S. 42); • Durchführung und Analyse einer Sprachlernberatung; • Partner- und Gruppendiskussionen. Die angebotenen Lerngelegenheiten werden im Sinne von Le Boterf (2016, S. 84) verstanden als „un ensemble d’opportunités [c’est-à-dire un ensemble de] situations diverses d’apprentissage, chacune d’entre elles pouvant apporter une contribution spécifique à un parcours de professionnalisation“. Die Lerngelegenheiten beruhen auf der Relevanz der „theoretisch-konzeptu‐ elle[n] Durchdringung und Analyse beobachteter oder selbst erfahrener Praxis“ (Expertenkommission, 2006, S. 8, zit. nach Herzmann & König, 2016, S. 157) sowie den Prozessen des selbstreflexiven Lernens. Die Vergegenwärtigung und die Reflexion der selbst gemachten Erfahrungen als Ratsuchende im Rahmen von Sprachlernberatung erlaubt es den Studie‐ renden, Ziele und Funktionen, Schritte etc. von Beratungen nachzuvollziehen. Die intendierte Rückkopplung an Theorie durch die Bearbeitung wissenschaft‐ licher Texte lässt die Studierenden zugleich Abstand gewinnen und ihre eigene Erfahrung und Praxis kritisch aus einer neuen theoriebasierten Perspektive betrachten. Dies führt oft zu einem tieferen Verständnis und einem Perspekti‐ venwechsel. Beispielsweise wird die oft als irritierend empfundene zurückhal‐ tende Rolle der Sprachlernberatenden erst im Nachhinein in der Reflexion 268 Hélène Martinez der Thematik Direktivität/ nicht-Direktivität verstanden und die eigene Erwar‐ tungshaltung (Lernberatende als Informationsvermittler) in Frage gestellt. Der Einsatz von im Rahmen der SLW-Rom durchgeführten videographierten Beratungssequenzen dient der Veranschaulichung unterschiedlicher Aspekte einer Sprachlernberatung und dem potentiellen Erwerb von Handlungswissen und -strategien. Die Reflexion der Sequenzen fördert die Ausbildung analyti‐ scher Fähigkeiten (beobachten, analysieren, interpretieren von Teilaspekten der Sprachlernberatung). Das konkrete, anschauliche Szenario regt Studierende an, differenziert über Aspekte einer Sprachlernberatung nachzudenken, und zum Beispiel alternative Beratungsstrategien zu entwerfen. Dieser Prozess wird durch interaktive Videos ermöglicht. Interaktive Videos zeichnen sich dadurch aus, dass einzelne Sequenzen mit Fragen und/ oder Reflexionsanregungen ver‐ sehen sind. An ausgewählten Stellen der Sequenz wird das Video durch ein Programm automatisch unterbrochen und es erscheint ein Pop-Up-Fenster mit einer Aufgabe. Im folgenden beispielhaften Ausschnitt aus einem interaktiven Video geht es um die Veranschaulichung, kritische Betrachtung und das Nachdenken über den Einsatz von wichtigen Gesprächstechniken seitens der Sprachlernberaterin. Die Fragen im Pop-Up-Fenster regen an, über eine angemessene verbale Reak‐ tion der Sprachlernberaterin in Bezug auf eine Äußerung einer Ratsuchenden nachzudenken. Minute 00: 04: 30 (#00: 09: 00-6#): „Welche Möglichkeiten stellen eine adäquate Reaktion auf die Frage der Studentin dar? “. Kreuzen Sie sinnvolle Antwortmöglichkeiten an: • „Echt? Sie empfinden Angst vor Büchern und Filmen? “ • „Verstehe ich das richtig, Sie empfinden Angst vor fremdsprachigen Filmen und Büchern, weil Sie denken, es sei zu schwierig? “ • „Welche Bedeutung hat ‚Angst‘ für Sie? “ • „Ich denke, Sie müssen sich nicht vor neuen Büchern oder Filmen fürchten. Trauen Sie sich ruhig was zu. Sie können das! “ • „Angst? “ Die Studierenden erhalten auf die geschlossenen Aufgaben jeweils ein entspre‐ chendes Feedback. Diese Aufgaben zu den Videosequenzen sind so angelegt, dass sie im Rahmen selbstständiger Einzelarbeit - entweder als häusliche Arbeit oder als Einzelar‐ beitsphase im Rahmen eines Seminars - bearbeitet werden können. Die Ergeb‐ nisse werden anschließend im Präsenzseminar aufgegriffen und ausführlich diskutiert. Die kritische Reflexion und der Austausch in der Seminargruppe 269 Sprachlernberatung in der Lehrerausbildung dienen auch als Feedback und eröffnen einen Perspektivenwechsel, der über das subjektive individuelle Verständnis hinausgeht. Die Übernahme und anschließende schriftliche Reflexion einer konkreten Sprachlernberatung mit einer Schülerin bzw. einem Schüler - als Grundlage für die Prüfungsleistung im Seminar - schließt die Reihe von forschenden Experimenten (Simulations- und Erprobungsaufgaben) ab. Die Organisation der individuellen Sprachlernberatungen bzw. die Zuordnung der Studierenden zu Französisch- und Spanischschülerinnen und schülern findet in enger Koopera‐ tion mit Gießener Schulen statt. Es kann zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht erwartet werden, dass die Studierenden alle Beraterkompetenzen im Rahmen des Seminars vollständig erworben haben. Vielmehr geht es darum, im Rahmen einer praktischen Erprobung erste Berateraktivitäten zu erfahren, zu reflek‐ tieren und zu erforschen. Die eigenständig durchgeführten Sprachlernberatung werden per Audio oder Video dokumentiert, transkribiert und liefern so eine reichhaltige Datenbasis für die anschließende Analyse. In der Gesamtheit der beschriebenen Lerngelegenheiten entsteht eine frucht‐ bare Kombination unterschiedlicher Reflexionsformen: [D]ie Selbstreflexion als Nachdenken im Dialog mit sich selbst, die Fremdreflexion als Nachdenken im Dialog mit den anderen, die kritische Reflexion als Nachdenken im Lichte von alternativen Handlungsmöglichkeiten und die theoriegeleitete Reflexion als Nachdenken unter Bezugnahme auf theoretische Konzepte. (Abendroth-Timmer & Frevel, 2013, S. 137f.) 2.3 Ausgewählte Ergebnisse der Seminaranalyse: Studierende als „acteurs de leur professionnalisation“ Die Erfahrung mit einem so komplexen Lernarrangement zeigt, dass die Stu‐ dierenden einen eigenständigen, selbstbestimmten Bezug zum Gegenstand des Seminars und somit zu ihrer eigenen Ausbildung entwickeln. Sie werden zu „acteurs de leur professionnalisation“ (vgl. Le Boterf, 2016, S. 104), d. h. sie übernehmen die Verantwortung für ihre eigene Ausbildung. Die Analyse ihrer schriftlichen Reflexion - hier illustriert mit wenigen ausgewählten Aussagen - verdeutlicht, dass sie • sich kognitiv aber auch emotional und subjektiv mit der Thematik der Sprachlernberatung auseinandersetzen; • dem erlebten Lernarrangement eine große Bedeutung für ihre persönliche Entwicklung beimessen; • greifbar, erfahrbar und nachvollziehbar gewordene theoretische Erkennt‐ nisse in die eigene Lehrkonzeption integrieren; 270 Hélène Martinez • eigene Lernstände und Fortschritte evaluieren und ihr (Sprachlernbera‐ tungs-)Handeln kritisch reflektieren; • ihre Erfahrungen auf den schulischen Fremdsprachenunterricht trans‐ ferieren und unmittelbare Verbindungen zu ihrer zukünftigen Praxis herstellen. Student A: Das Wichtigste für mich ist, dass ich durch das Seminar sowie die Sprach‐ lernberatung eine völlig neue Perspektive erhalten habe. Eine Sichtweise, die sowohl eine Verortung eines Sprachlerncoachings in der Schule ermöglicht als auch die Notwendigkeit erkennt. Diese Neuorientierung hat mich persönlich geprägt und wird auch in meiner zukünftigen Laufbahn als Lehrer ihren Nutzen erfüllen. Ich werde die Eigeninitiative ergreifen, um das Konzept der Sprachlernberatung in meiner zukünftigen Schule zu integrieren, um den Schülerinnen und Schülern eine unterstützende und erfolgreiche Beratung offerieren zu können. Studentin N: Ein schulnahes Projekt bietet dementsprechend die Möglichkeit, sich ein eigenes Bild zu erschaffen. Dabei konnte man das Prinzip der Lernerorientierung, über die man schon so viel gehört hat, in einer konkreten Situation erfahren und durchführen. Der Perspektivenwechsel von der (angehenden) Lehrerin zum Sprachlerncoach bietet die Möglichkeit, die Perspektive des Ratsuchenden einzuschätzen und seine Situation besser nachzuvollziehen. Diese Erfahrung ist in der Schule besonders hilfreich, um auch individuelle Schwierigkeiten, die die Schüler*innen aufweisen, nachvollziehen zu können und zielgerichtet eine individuelle Lösung zu erarbeiten. In vielen ihrer Äußerungen beziehen sich die Studierenden auf die Nachhaltig‐ keit des Lernprozesses: Studentin N: Ich ziehe aus dem Seminar sowie den durchgeführten Sprachlernberatungen fächerübergreifend einen langfristigen Nutzen. Die Schnittmenge zwischen Lehren und Coachen ist größer und näher als gedacht und veranlasst mich auch langfristig, mein Lehrer- und mein Coach-Dasein zu verknüpfen. Das Seminar wurde von den Studierenden durchweg als positiv bewertet. In der Evaluation wurde ein großer Lernzuwachs betont. Entscheidend war die Aus‐ einandersetzung mit der Theorie, mit den interaktiven Videos sowie die Über‐ nahme von Sprachlernberatungen aus der Lerner- und der Beraterperspektive. Ebenso relevant wurden die vielen Diskussionen im Plenum bzw. im Rahmen von Gruppenarbeitsphasen bewertet. Dies bestätigt die Annahme, „dass Lehrer‐ bildungsprozesse durch die Interaktion mit dem Selbst, mit Konzepten, Experten oder peers erfolgen“ (Esteve, 2013 zitiert nach Abendroth-Timmer, 2016, S. 104). 271 Sprachlernberatung in der Lehrerausbildung Die Studierenden machen das durchgeführte Projekt zu ihrem „eigenen“. Ihre positiven Einstellungen und die damit verbundene Motivation scheinen von der Authentizität und Relevanz der ausgeführten Lernhandlungen abzuhängen. Studentin F: Die Umsetzung der Sprachlernberatung war für mich eine wertvolle Erfahrung. Ich war zwar auch ein wenig nervös, im Großen und Ganzen hat mir die Sprachlernberatung aber auch Freude bereitet. Sich die Audio-Aufnahme im Nachhinein noch einmal anzuhören, ist zwar manchmal etwas unangenehm, da man natürlich auch alle seine Fehler noch einmal vor Augen geführt bekommt - gerade das ist aber besonders wichtig. Ich weiß jetzt, dass ich vor allem in Sachen Hypothesenbildung noch eine Menge zu üben habe und auch mein Redeanteil ließe sich noch etwas reduzieren. Mit Übung lässt sich wahrscheinlich auch meine Nervosität auf Dauer am besten bekämpfen. Meine Stärke sehe ich ganz klar in meiner sozio-linguistischen Kompetenz. Ich denke, ich habe es ganz gut geschafft, mein Sprachregister an die Situation anzupassen, allerdings sollte ich daran denken, es nicht zu übertreiben und authentisch zu bleiben. 3 Aufgaben: Auslöser von professionellen Kompetenzen Das o. g. komplexe Lernszenario mit den unterschiedlichen Aktivitäten scheint den Erwerb professioneller Kompetenzen bei den Studierenden zu unterstützen. Dabei eignet sich das Konzept der Sprachlernberatung besonders gut, um den Lerngegenstand aus den unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten, zu analysieren und zu reflektieren. Ebenso kann das beschriebene Seminar von der Infrastruktur der SLW-Rom profitieren. In Anlehnung an das Kriterienraster zur Konstruktion und Evaluation von Lernaufgaben für Schülerinnen und Schüler, von Caspari & Schinschke (2009) ursprünglich für die interkulturelle Kompetenz entwickelt, soll der Versuch einer Mini-Typologie von Lernszenarien für die Lehrerausbildung mit dem Schwerpunkt Sprachlernberatung meinen Beitrag beschließen. 272 Hélène Martinez Aufgaben Dimensionen der Beraterkompetenz savoir savoirfaire savoirêtre savoirapprendre/ savoir réfléchir Auseinandersetzung mit wissenschaftli‐ chen Beiträgen ● (●) Teilnahme an einer Sprachlernberatung aus der Perspektive des/ r Lernenden ● ● Fallarbeit: Bearbeiten von (interaktiven) Video-Sequenzen ● ● ● Konstruktion von Fragen/ Aufgaben [zu Video-Sequenzen] ● ● ● Simulierung von Sprachlernberatung- Sequenzen ● ● ● ● Erprobung ausgewählter Beratungsinstrumente ● ● ● ● Durchführung und Analyse einer Sprachlernberatung ● ● ● ● Abb. 3: Entwurf einer Aufgabentypologie zur Sprachlernberatung Die Tabelle macht deutlich, dass die Aufgaben unterschiedliche Bereiche der Beraterkompetenz (siehe Beraterkompetenzmodell, Kap. 1. 3) fokussieren. Die Abbildung verdeutlicht auch, dass die Szenarien im Hinblick auf die genannten Dimensionen stets evaluiert werden sollten - für einen bewussten Auf- und Ausbau der professionellen Kompetenz von angehenden Fremdsprachenlehr‐ kräften. Unabhängig von der speziellen Thematik des o. g. Seminartyps stellt sich generell die Frage nach lernförderlichen Lehr-/ Lernarrangements in der Leh‐ rerausbildung. Die Stimmen der Studierenden legen den Schluss nahe, dass die entwickelten und realisierten Lernszenarien - rund um die Sprachlernberatung - einen wesentlichen Beitrag zur reflexiven Lehrerbildung und Professiona‐ lisierung leisten können. Die Lernszenarien müssen - sowohl im Hinblick auf ihre Gestaltung als auch auf ihr Angebots- und Nutzungspotential (vgl. Baumert & Kunter, 2006) verstärkt erforscht werden. Im Sinne einer „didactique professionnelle“ muss die Frage lauten: „Quelles sont les conditions à réunir 273 Sprachlernberatung in der Lehrerausbildung pour qu’une situation de travail devienne une ressource formatrice? “ (vgl. Le Boterf, 2016, S. 83) Literatur Abendroth-Timmer, Dagmar & Schneider, Ramona (2016). ‚Dass jedoch Emotionen einen immensen Einfluss auf den Lernerfolg haben können, war mir nicht bewusst‘ - Berufsbezogene Reflexionsprozesse in der universitären Lehre. In Michael K. Legutke & Michael Schart (Hrsg.) Fremdsprachendidaktische Professionsforschung: Brennpunkt Lehrerbildung (S. 99-126). Tübingen: Narr. Abendroth-Timmer, Dagmar & Frevel, Claudia (2013). Analyse handlungsleitender Ko‐ gnitionen anhand videogestützter Reflexionsprozesse angehender Spanischlehrender in verschiedenen berufsbiographischen Kontexten. In Ulrich Riegel & Macha Klaas (Hrsg.) Videobasierte Kompetenzforschung in den Fachdidaktiken (S. 133-146). Münster: Waxmann. Albéro, Brigitte (2000). 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Aus den Werken extrahieren die Lernenden positive und negative Beispiele des Umgangs mit der Andersartigkeit einer Person, schlüpfen kurzzeitig in eine Rolle aus ‚ihrem‘ Roman und reflektieren, wie sie selbst im Klassenraum miteinander interagieren möchten. 1 Einleitung So sehr gesellschaftliche Strukturen, z. B. durch äußere Differenzierung in verschiedene Schulformen, auch versuchen, (weitgehend) homogene Gruppen herbeizuführen, das Ergebnis bleibt immer ein Zusammentreffen von Indivi‐ duen, die sich u. a. hinsichtlich ihres sozioökonomischen Hintergrundes, ihrer kulturellen und sprachlichen Prägung, ihrer körperlichen Gesundheit, ihres Aussehens sowie ihrer psychisch-lern(un)bezogenen Verfasstheit voneinander unterscheiden (vgl. Koch, 2020, S. 56). Der - in Deutschland durch die UN-Be‐ hindertenrechtskonvention 2009 implementierte und mit dem Prinzip der in‐ klusiven Bildung verbundene - Anspruch, Lernende mit sonderpädagogischen Förderschwerpunkten in das Regelschulwesen einzubinden, verstärkt diese He‐ terogenität auch in gymnasialen Lerngruppen. Die angestrebte „gleichberech‐ tigte und gleichwertige Teilhabe aller SuS am Unterricht“ (Delius & Surkamp, 2017, S. 125) ergibt sich zudem nicht von selbst, was im Übrigen gleichermaßen für Lerngruppen ohne ‚Inklusionskinder‘ gilt. Immer wieder kann beobachtet werden, dass Schülerinnen und Schüler, irritiert oder verunsichert durch eine Andersartigkeit jedweder Art, Klassenkameradinnen und -kameraden von Ak‐ tivitäten ausschließen oder sich über sie lustig machen, bis hin zu körperlichen Angriffen. Aus einem Dokument des Deutschen Bundestages (2018, S. 4), das sich auf Ergebnisse der PISA-Studie von 2017 stützt, ist zu entnehmen, dass Mob‐ bing an Schulen „ein ernstzunehmendes Thema“ ist, von dem fast jede/ r sechste 15-Jährige regelmäßig betroffen ist. Als Mobbing zählen dabei physische und psychische Formen von Gewalt. Folgen für die Opfer können „soziale Isolation, niedriger Selbstwert und verminderte Leistungen, permanente Angespanntheit und Verhaltensprobleme“ (Käser & Röhr-Sendlmeier, 2018, S. 4-5) sein. Nicht nur in fachdidaktischer Hinsicht fordert ein Ernstnehmen der Heterogenität aller Lerngruppen somit eine veränderte Lernkultur, die das gleichzeitige und gleichschrittige Lernen in weiten Teilen auflöst (vgl. Kräling, 2017, S. 21). Auch auf zwischenmenschlicher Ebene ist jedes Schulfach angehalten, im Rahmen seiner Möglichkeiten einen Beitrag zu einem respektvollen Miteinander zu leisten. Im Unterricht moderner Schulfremdsprachen lässt sich dies unmittelbar mit interkultureller kommunikativer Kompetenz verknüpfen, deren Förderung das Erkennen, Hinterfragen und ggf. Revidieren eigener Werte, Haltungen und Einstellungen sowie Perspektivenwechsel explizit beinhalten sollte (vgl. KMK, 2012, S. 20). Der vorliegende Beitrag unterbreitet in diesem Sinne einen Vorschlag für eine komplexe Lernaufgabe für den Französischunterricht, die das persönlichkeits‐ bildende Potenzial von vier interaktiv gelesenen Jugendromanen als (‚dritten‘) Ort des Probehandelns nutzt (vgl. Kramsch, 1993, S. 236) mit dem Ziel der Optimierung des (lerngruppeninternen) Miteinanders. In der unterbreiteten Form ist die Aufgabe für fortgeschrittene Französischlernende der Oberstufe vorgesehen, es lassen sich aber einzelne Elemente oder Lektüren entnehmen, die bereits mit niedrigeren Jahrgängen bearbeitet werden könnten. Die emp‐ fohlenen Romane eint der thematische Fokus auf den (multiperspektiven) Umgang mit einem jungen Menschen mit Autismus, der an dieser Stelle als eine Art der Andersartigkeit in den Fokus genommen wird, wohlwissend, dass „autistic people […] are as different from each other as any other group of people on the planet“ (Osteen, 2008, S. 297). Durch die Verknüpfung von Aufgabenorientierung, Literaturdidaktik, inklusivem Fremdsprachenunterricht sowie Fremdverstehen/ Interkulturellem Lernen und damit vier einschlägigen 278 Corinna Koch 1 https: / / www.youtube.com/ watch? v=WjqiU5FgsYc [09.12.2020]. In dem mehrfach aus‐ gezeichneten Kurzfilm bekommt ein Junge von seiner Mutter einen Hund geschenkt, worüber er sich sehr freut. Als er jedoch merkt, dass der Hund nur drei Beine hat, führt dies zu dessen harscher Ablehnung. Letztendlich überwiegt aber die Lust, mit dem Hund zu spielen, und man sieht, als der Junge mit dem Hund das Haus verlässt, dass dem Jungen selbst ein Unterschenkel fehlt, was die bis zu diesem Zeitpunkt rein negative Bewertung seines zum Teil recht rabiaten Verhaltens erklärt, ggf. relativiert, und die Intention der Mutter, dem Jungen diesen Hund zu schenken, in ein anderes Licht rückt. Es wird deutlich, dass jemandem Hintergrundwissen fehlen kann, um das Verhalten einer Person einordnen, ggf. sogar ein Stück weit nachvollziehen zu können. Forschungsschwerpunkten der Jubilarin der vorliegenden Festschrift scheint dies der geeignete Ort für dieses Unterfangen zu sein. 2 Die komplexe Lernaufgabe Der stets zu Beginn einer Lernaufgabe herzustellenden Transparenz folgend, beginnt auch dieser Beitrag mit der Darstellung der tâche, die im Anschluss didaktisch-methodisch begründet wird. 2.1 Pour commencer • Regardez le court-métrage The Present (2014) et résumez l’histoire. 1 • Comment la découverte sur le protagoniste Jake à la fin du film con‐ tribue-t-elle à expliquer (ou même à justifier ? ) son comportement ? Exposez votre point de vue. • Imaginez la vie de Jake au collège. Selon vous, est-il plutôt bon ou mauvais élève ? A-t-il beaucoup d’amis ? • Si Jake faisait partie de votre classe, voudriez-vous être copain avec lui ? Pourquoi ? Comment réagiriez-vous si quelqu’un le harcelait ? • Définissez le terme de « harcèlement » (mobbing) : Qu’est-ce que c’est ? À partir de quel moment peut-on parler de « harcèlement » ? Quels en sont les raisons ? Quelles personnes sont impliquées ? 2.2 La tâche et le plan de travail La tâche « Nous sommes tous des individus. Acceptons-nous ! » Afin de bien s’entendre, il faut accepter nos différences, ce qui n’est pas toujours facile. Pour mieux comprendre comment d’autres personnes pensent et agissent, il faut être ouvert et essayer de se mettre à leur place. C’est pourquoi nous allons organiser une réunion de différents groupes de personnes d’un établissement scolaire fictif (élèves, professeurs, parents) pour fixer des règles pour un bon 279 Prêter sa voix à quelqu’un d’autre: Lernaufgabe zum inklusiven Miteinander climat en classe et dans la cour. Dans le cadre de cette réunion, vous prendrez les rôles de différents personnages littéraires. Dans ce rôle, vous devrez proposer des règles, les justifier et discuter les propositions des autres. Étape numéro 1 : Choisissez un roman. • Pour bien préparer la réunion, nous allons prendre quelques semaines. Chaque groupe choisit un roman à l’aide de la première et de la quatrième de couverture. Tous les romans traitent d’un/ e autiste et de la façon dont son entourage réagit face à lui/ elle. Étape numéro 2 : Lisez et analysez le roman à l’aide du guide de lecture. • Prenez des notes pendant que vous lisez le texte pour travailler sur les différents aspects du guide de lecture. Notez toujours la page de vos trouvailles ! Échangez vos observations régulièrement avec les membres de votre groupe, par exemple après chaque chapitre. • Tenez un journal de vocabulaire dans lequel vous notez toutes les expres‐ sions françaises qui vous paraissent pertinentes pour le sujet. Le guide de lecture La perspective Expliquez qui raconte l’histoire. Quel effet cela a-t-il sur vous ? Qu’est-ce que cela apporte au sujet abordé ? Le personnage autiste Présentez le personnage autiste : À quoi ressemble-t-il ? Qu’est-ce qu’il (n’)aime (pas), (ne) sait (pas) faire ? Quels mots (adjectifs, expressions, méta-phores, comparaisons, descriptions, etc.) sont utilisés pour caractériser le physique, le comportement et la situation du personnage ? Les autres Dessinez un tableau de tous les personnages principaux du roman (les membres de la famille, les camarades de classe, les voisins, etc.). Comment réagissent-ils face au comportement de l’autiste ? Utilisez des mots et des symboles pour caractériser leur relation et leur attitude par rapport à l’autiste (Y a-t-il des changements chez certains personnages au cours du roman ? ). Essayez d’identifier des groupes de personnages qui réagissent d’une manière similaire et marquez-les de la même couleur. Quelles stratégies sont proposées dans le roman afin de bien s’entendre avec l’autiste ? Message central Quel est le message central du roman ? Citez une ou deux phrases du roman qui, selon vous, reflète(nt) le mieux ce message. 280 Corinna Koch 2 Für die Auflösung der Abkürzungen der Romantitel siehe Absatz 3.2 des vorliegenden Beitrags. En plus (optionnel) LAMDE 2 , MFMEMBE : Cherchez des informations sur l’auteur/ l’autrice/ les auteurs du roman en relation avec le sujet abordé : Qui a écrit le roman, pourquoi et/ ou pour qui ? CLFAD, MFMEMBE : Y a-t-il des informations en plus du roman dans le livre ? Lesquelles ? À quoi servent-elles ? LAMDE, CLFAD : Quel rôle joue le terme « étiquette » et « moule »/ « case » dans le roman ? En quoi est-il problématique ? CLFAD, JVCDS : Quelle est la fonction des images (par rapport au texte) ? Présentation de votre roman Préparez une affiche de format DIN A3 sur toutes les notions ci-dessus (perspective, l’autiste, personnages principaux et leur manière d’interagir avec l’autiste, message central du roman ; éventuellement : éléments optionnels). Étape numéro 3 : Préparez la réunion. • Choisissez un des personnages de votre roman que vous voudriez inter‐ préter lors de la réunion. De cette perspective, formulez des propositions pour les règles de classe. Justifiez chaque règle du point de vue de votre personnage. Préparez des expressions qui vous aideront à réagir aux propositions des autres (p. ex. « Cette règle me paraît importante/ indis‐ pensable/ inutile/ exagérée/ … parce que …. »). Lors de la réunion, vous avez le droit d’utiliser une fiche avec des mots-clés. • Décidez qui prendra le rôle du présentateur/ de la présentatrice. Il/ Elle donne la parole aux participants et veille aux règles de conversation (qui sont à définir et à communiquer auparavant ! ). Choisissez également un responsable du compte rendu de la réunion qui notera les règles fixées. • Avant de commencer la réunion, informez-vous sur les romans de vos camarades de classe présentés sur les affiches exposées. Étape numéro 4 : Mettez la réunion en scène. Le présentateur/ La présentatrice souhaite la bienvenue à tout le monde et rappelle l’objectif et le déroulement de la réunion. Avant de présenter ses propo‐ sitions, chaque participant/ e se présente brièvement. À la fin, le présentateur/ la présentatrice résume les points les plus importants et remercie tout le monde. 281 Prêter sa voix à quelqu’un d’autre: Lernaufgabe zum inklusiven Miteinander 2.3 Pour terminer • Sortez de vos rôles et réfléchissez : Comment c’était d’agir dans ce rôle ? Qu’avez-vous appris (sur les défis et l’importance d’accepter les autres comme ils sont) ? • Regardez encore une fois les règles fixées lors de la réunion. Lesquelles aimeriez-vous adopter dans votre classe ? Justifiez votre réponse. • Pesez le pour et le contre du déroulement de la tâche par rapport à la durée, au sujet, aux textes choisis et à la tâche finale. Si vous voulez, formulez des souhaits pour le travail en classe dans le futur. 3 Didaktisch-methodische Begründung der Lernaufgabe 3.1 Grundlegende Gestaltung der Aufgabe Die für den vorliegenden Vorschlag verwendete Aufgabenorientierung ist spä‐ testens seit ihrer prominenten Positionierung im Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen (vgl. Europarat, 2001, Kapitel 7) in der Fremdspra‐ chendidaktik umfassend bekannt. Sie wurde ausgewählt, da sie „als besonders geeigneter Weg [gilt], um die in den Bildungsstandards und Lehrplänen vorge‐ gebenen Kompetenzen im Unterricht sinnvoll zu fördern und zu überprüfen“ (Caspari, 2013a, S. 5). Im Gegensatz zu einer - stark gesteuerten und an der korrekten sprachlichen Form orientierten - „Übung“, zu der es „zumeist nur eine richtige Lösung“ (ebd.) gibt, liegt der Schwerpunkt bei einer „(Lern-)Aufgabe“ auf dem Inhalt einer individuell bedeutsamen kommunikativen Handlung, die in diesem Fall im Aushandeln von Verhaltensregeln für ein gutes Miteinander besteht. Die verschiedenen Etappen des Arbeitsplans bereiten inhaltlich und sprachlich auf die Bearbeitung der tâche finale vor (vgl. ebd., S. 6), die den Lernenden von Anfang an bekannt ist. Leseverstehen, Text- und Medienkom‐ petenz, Sprechen, Schreiben sowie interkulturelle kommunikative Kompetenz werden dabei integriert verwendet und ausgebaut, so dass die Schülerinnen und Schüler - wie im Alltag -, „im Sinne des vernetzenden Lernens“ (KMK, 2012, S. 20) aufgefordert sind, „alle ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten, ihr Wissen und ihre Strategien zu mobilisieren, um die […] Aufgabe zu lösen“ (Krumm, 2001, S. 26-27). Aus den Möglichkeiten für die Erstellung von Lernaufgaben folgt der Vorschlag dieses Beitrags dem Konstruktionsprinzip II nach Caspari und Bechtel (2014, S. 13): Es steht „eine lebensweltlich orientierte kommunikative Situation im Zentrum“ (ebd.), von der ausgehend die benötigten sprachlichen und inhaltlichen Elemente und Kompetenzen identifiziert und in dienender Funktion Schritt für Schritt erworben und zusammengefügt werden. Das Arbeiten in Kleingruppen ist dabei sinnvoll, damit sich die Lernenden bei 282 Corinna Koch der Bearbeitung der Teilaufgaben und über die längere Phase der extensiven, selbstständigen Lektüre hinweg immer wieder gegenseitig unterstützen können (vgl. ebd). Als konkretes sprachliches Endprodukt ist die réunion zu betrachten (vgl. Caspari, 2019, S. 225), weitere, vorbereitende Zwischenprodukte sind das Vokabeltagebuch sowie die auf dem Poster festgehaltenen Ergebnisse des guide de lecture. Die Tatsache, dass die Lernenden in der réunion nicht als sie selbst, sondern als je‐ mand anderes handeln können, soll zunächst emotional entlasten, indem es davon befreit, die vorgebrachten Ansichten zwangsläufig persönlich zu vertreten. Im Idealfall führt der ‚Umweg‘ über Literatur als „third place“ (Kramsch, 1993, S. 236) somit zu einer offeneren Argumentation, die eigene Denkgrenzen überschreiten kann. In der Reflexion am Ende wird, neben der Formulierung des Lernertrags und der Bewertung des Lernprozesses, schließlich der Bezug zur eigenen (schulischen) Lebenswelt hergestellt. Die literarischen Texte können somit im Rahmen der Aufgabe durch das „In-Beziehung-Setzen […] zu eigenen Erfahrungen und eigenen Lebensentwürfen einen wichtigen Beitrag zur Persönlichkeitsbildung“ (Caspari, 2013b, S. 69) leisten. Es sind Romane der Jugendliteratur - verstanden als explizit für Jugendliche verfasste Werke (vgl. Caspari, 2007, S. 10) - ausgewählt worden, da sich die etwa gleichaltrigen Hauptfiguren in einer ähnlichen Lebenssituation wie die Lernenden befinden und mit ähnlichen Alltagssituationen konfrontiert sind - als selbst Betroffene oder Zuschauende. Dadurch entstehen vielfältige Identifikationsmöglichkeiten mit den Konflikten der Protagonistinnen und Prot‐ agonisten. Ferner eignen sich die Werke im Vergleich zu Erwachsenenliteratur für Fremdsprachenlernende durch ihre leichtere Erschließbarkeit in inhaltlicher wie sprachlicher Hinsicht, einen geringeren Umfang, unterstützende Typographie sowie teilweise verständnisunterstützende, ästhetisch ansprechende Illustrationen (vgl. ebd., S. 11). Der zugleich stark normative Charakter der Werke, die mit pädagogischer Intention verfasst worden sind, kann in der Reflexionsphase am Ende kritisch diskutiert werden (vgl. Willis, 2020, S. 5). In jedem Fall stellen die Romane, trotz ihres jugendliterarischen Stils, „inhaltlich eine ernstzunehmende Herausforderung für die Schüler dar“, indem sie „Problemstellungen enthalten, die zur persönlichen Stellungnahme und Diskussion, zur Identifikation oder Abgrenzung herausfordern“ (Bausch, 2008, S. 40) und in ihrer Originalfassung ohne Vokabelangaben rezipiert werden. Gerade dies kann aber zu (Lese- und Sprachlern-)Motivation sowie Erfolgserlebnissen führen, wenn die Lernenden ausreichend unterstützt werden. Daher werden die Lernenden durch den guide de lecture, ihre Gruppenmit‐ glieder sowie die individuell unterstützende Lehrkraft begleitet. Leitfäden haben sich bei der eigenverantwortlichen Lektüre längerer Texte bewährt, um die 283 Prêter sa voix à quelqu’un d’autre: Lernaufgabe zum inklusiven Miteinander Lernenden zielgerichtet durch den Leseprozess zu leiten und zum Festhalten von Zwischenarbeitsergebnissen anzuregen (vgl. ebd.). Damit einhergehend sollte die Ambiguitäts-, d. h. „Nichtverstehenstoleranz“ (Willis, 2020, S. 7) der Lernenden trainiert werden, indem verdeutlicht wird, dass eben nicht jedes Wort verstanden werden muss. Es sollten ferner, gerade zu Beginn der Lektüre, Worterschließungsstrategien eingeübt werden (vgl. Lämmle, 2020, S. 12), so dass nur ausgewählte Begriffe im Wörterbuch nachgeschlagen werden, wobei es ggf. ebenfalls einer Auffrischung des Umgangs bedarf. Der inhaltliche Schwerpunkt der Aufgabe liegt auf dem Fremdverstehen bzw. dem interkulturellen Lernen als lebenslangem „Lernprozess, in dem sich Individuen auf der Basis ihrer subjektiven Erfahrungen und ihres individuellen Wissens mit für sie Fremdem auseinandersetzen“ (Caspari & Schinschke, 2000, S. 469; vgl. auch Caspari, 1994, S. 149). Dafür benötigen Individuen die Bereit‐ schaft zum Perspektivenwechsel, der hier durch die Romane selbst und verstärkt durch die Aufgabenstellungen explizit herausgefordert wird. Für eine gewisse Zeit sollen die Lernenden somit vom Eigenen abstrahieren und eine andere Rolle einnehmen, in die sie sich kognitiv eindenken und emotional einfühlen (vgl. ebd., 150). Das bedeutet, „dass man sich des ‚Eigenen‘ sowie der Tatsache, dass das Eigene eine ‚Brille‘ zur Wahrnehmung und Beurteilung von Fremdem darstellt, bewusst wird“ (Caspari & Schinschke, 2000, S. 469). Am Ende treten die Lernenden explizit aus der Rolle wieder heraus und betrachten diese - sowie sich selbst - mit Distanz, um u. a. den Lernertrag für den eigenen (Schul-)Alltag herauszuarbeiten. Idealerweise erfolgt somit „die Korrektur der ursprünglichen eigenen Position und der Gewinn einer neuen Position durch das Verstehen“ (ebd., S. 470) anderer Sichtweisen. Um „den eigenen Erfahrungs- und Erwartungshorizont der Lernenden unvermittelt [zu] aktivieren“ (ebd., S. 473), wird auf die Vorschaltung von Informationen gänzlich verzichtet. Bei der Präsentation der Betroffenen, wie sie im jeweiligen Roman beschrieben wird, entsteht eine Zusammenschau davon, worin sich Autismus äußern bzw. wie dieser von der Außenwelt wahrgenommen werden kann. Dadurch erhalten Lernende anhand von Fallbeispielen Eindrücke der Symptome. Zwei Romane (CLFAD, MFMEMBE) beinhalten zudem weiterführende fachliche Informationen. Als erste Wissenvermittlungsinstanz fungieren jedoch die Romane: „Especialmente la literatura infantil y juvenil debe considerarse una instancia socializadora de primera magnitud, que forma las estructuras de la consciencia y las disposiciones de actuación en el trato con personas discapacitadas“ (Kühne, 2018, S. 36). Dass in der Lerngruppe mehrere, individuell dargestellte Einzelfälle rezipiert werden, kommt dem Thema entgegen, denn „no one - neither autistic or non-autistic - speaks for everyone in the autism community“ (Osteen, 2008, S. 298). 284 Corinna Koch Es ist somit von Vorteil, dass bei der vorliegenden „lecture interactive“ (Caspari & Schinschke, 2000, S. 474), einem „lire en réseau“ (Deharde, 2020, S. 21), viele Stimmen zugelassen werden können. Die Lernenden lesen in Gruppen ihren ‚eigenen‘ Text, ausgewählt aus der Vorauswahl der vier Romane. Ob alle hier vorgeschlagenen Texte genutzt werden oder nur bestimmte (passend zur Lerngruppe ggf. auch nach Länge der Werke oder mit dem Ziel der Intensivierung einer bestimmten Erzähl‐ perspektive ausgewählt), obliegt der Lehrkraft. Kern ist jedoch die „dezentrale, ex‐ tensive, […] arbeitsteilige Lektüre“ (Lämmle, 2020, S. 12), um die Multiperspektivität des Themas zu wahren und dem Beitrag der einzelnen Lernenden mehr Gewicht zu verleihen. Sie vermitteln den anderen Lernenden neues Wissen, wodurch es zu einer „echte[n] Kommunikation zwischen den Schülerinnen und Schülern“ (Caspari, 2019, S. 216; vgl. auch Caspari, 1994, S. 149-150) kommt. Des Weiteren kann die Lehrkraft die Anzahl und Dauer gemeinsamer zwischengeschalteter Plateau-Phasen im Plenum, z. B. in Form einer Besprechung von Zwischenständen und offenen Fragen der Lerngruppe, festlegen, um die Arbeit der Gruppe ggf. stärker zusam‐ menzuhalten (vgl. Caspari & Schinschke, 2000, S. 476). Die Zusammenführung der einzelnen Romane erfolgt ansonsten spätestens in der finalen réunion, in der Charaktere aus den unterschiedlichen Romanen miteinander ins Gespräch kommen (vgl. ebd., S. 475). Verschiedene Betroffene, Geschwister, Eltern und/ oder Lehrkräfte treffen aufeinander, erkennen vermutlich Gemeinsamkeiten und Unterschiede und formulieren Regeln des guten Miteinanders. Damit erfüllt die skizzierte Lernaufgabe die von Caspari (2009, S. 30-31) formulierten Qualitätsansprüche, da sie den literarischen Texten selbst gerecht wird, indem der in allen vier Romanen innewohnende Konflikt explizit ausge‐ lebt und gleichzeitig dessen Kontext und Bedeutung ausgeweitet werden. Die Aufgabe knüpft ferner an eine lebensweltliche Situation der Lernenden an und appelliert auch auf affektiver Ebene an die Lesenden, wodurch ihr Interesse an deren Bearbeitung geweckt werden dürfte. Sie ermöglicht des Weiteren eine individuelle Auseinandersetzung durch die extensive Lektüre und Wahlfreiheit bezüglich des Romans und der Rolle, die am Ende in der réunion eingenommen wird. Dabei werden zugleich zentrale Ziele des Fremdsprachenunterrichts verfolgt und textanalytische mit kreativitätsorientierten Zugängen kombiniert (vgl. Caspari, 2005, S. 14). Eine Differenzierung kann im Rahmen der tâche zudem durch die Auswahl eines mehr oder weniger langen Ausgangstextes erreicht werden. Ebenso kann die Lehrkraft individuell oder durch zusätzliches sprachliches Material, das bei der Lektüre oder der eigenen Sprachproduktion behilflich ist, weitere (optionale) Scaffolding-Angebote einbringen (vgl. Mertens, 2017, S. 10). Auch eine stärker ausdifferenzierte, kleinschrittigere Variante (zu 285 Prêter sa voix à quelqu’un d’autre: Lernaufgabe zum inklusiven Miteinander 3 In dem in Deutschland produzierten Film werden einige Worte Englisch gesprochen, der entscheidende Teil des Films verläuft jedoch nonverbal. 4 Extrait de l’ouvrage Les autres, mode d’emploi, Sylvie Baussier © oskar éditeur ; avec l’aimable autorisation de l’autrice et d’oskar éditeur. bestimmten Romanen) des guide de lecture wäre denkbar. Die optionalen En plus-Aufgaben können zudem zur Differenzierung ‚nach oben‘ beitragen. Der vorgeschaltete Einstieg anhand des dreieinhalbminütigen animierten Kurzfilms The Present  3 (Frey & Cavalcanti, 2014) dient ferner der vorbereitenden thematischen Einstimmung vor der eigentlichen tâche anhand eines konkreten Fallbeispiels einer Person mit Handicap. Aus der Diskussion der angegebenen Leitfragen kann die Lehrkraft mit den Lernenden die Notwendigkeit einer Beschäftigung mit der individuellen Perspektive jedes Menschen und damit Motivation für die Bearbeitung der Aufgabe herleiten (vgl. Mertens, 2017, S. 10). 3.2 Die ausgewählten Romane und ihre Besonderheiten Die nachfolgende Tabelle präsentiert überblicksartig die Inhalte und Cover der Romane, sortiert nach ihrer Länge in Wörtern, inklusive einer Angabe zum (Nicht-)Vorhandensein von Bildern: Titel Cover Kurzresümee Les autres, mode d’emploi. On dit de moi que je suis dif‐ férent (LAMDE) (Baussier, 2014) 8.853 Wörter keine Bilder 4 Arno (11) erzählt von seiner Kindheit und Jugend als Asperger-Autist, davon, wie er das erste Mal gesprochen hat, von seiner maîtresse Aline, dem schwierigen Wechsel zum collège und den Hänseleien. Nur Jus‐ tine (11) verteidigt ihn, v. a. vor Max und Alex (11), und Aline spricht zu seiner neuen Klasse. Arno findet alle anderen unlogisch. 286 Corinna Koch 5 Der Dialog wird nach jedem Kapitel durch Erklärungen eines psy(chiatre) ergänzt. 6 Extrait de l’ouvrage Caméléon. Les filles Asperger déboulent ! , Christine Deroin & Gilles Martinez © le muscadier ; avec l’aimable autorisation des auteurs et du muscadier. 7 Extrait de l’ouvrage Je veux changer de sœur ! , Sylvaine Jaoui © casterman ; avec l’aimable autorisation de l’autrice et des éditions casterman. 8 Extrait de l’ouvrage „Mon frère, mon enfer, mon bel enfer“ [L’autisme], Sandrine Andrews & Deroin © oskar éditeur ; avec l’aimable autorisation des autrices et d’oskar éditeur. Caméléon. Les filles Asperger dé‐ boulent ! (CLFAD) (Deroin & Martinez, 2020) 10.416 Wörter Bilder (im psy-Teil 5 ) 6 Die namenlose Ich-Erzählerin (~ 16) unter‐ hält sich mit ihrem Freund Nicolas (~16) über ihre Schwester Alice (~ 14), die As‐ perger-Autistin ist. Gemeinsam erinnern sie sich an Alices Versuche, sich in der Schule einzufinden und so zu sein wie Mitschülerin Fanny, v. a. als sich beide für Lucas interessieren. Die Versuche schei‐ tern, so dass sie schließlich versucht, sich umzubringen. In den Klassenkameraden Quentin und Fanny findet Alice jedoch Verbündete. Je veux changer de sœur ( JVCDS) ( Jaoui, 2003) 11.812 Wörter Bilder 7 Emma (12) erzählt von ihrer autistischen Schwester Alienor (6), die alle Aufmerk‐ samkeit ihrer Eltern erhält und für deren Ausbrüche Emma sich vor anderen schämt. Deshalb läuft Emma von zu Hause weg, realisiert aber, dass sie Alienor liebt, kehrt zurück und nimmt Alienor mit zu einem Klaviervorspiel, zu dem ihre ganze Klasse kommt. „Mon frère, mon enfer, mon bel enfer“ [L’autisme] (MFMEMBE) (Andrews & Deroin, 2016) 14.700 Wörter keine Bilder 8 Alternierend aus der Perspektive der Ju‐ gendlichen Garance und Hugo erzählt, erfährt man, wie sie sich kennengelernt haben. Garances Bruder Adam (8) ist Au‐ tist, was Hugo zunächst Angst macht. Da er sich jedoch für Garance interessiert, informiert er sich über Autismus, über‐ windet sich und besucht sie häufiger zu Hause; schließlich lädt er die beiden auf Anraten seines Vaters sogar zum Über‐ nachten zu sich ein. Hinsichtlich der Perspektive erzählt sowohl ein Betroffener selbst seine Ge‐ schichte (LAMDE) als auch eine Schwester (JVCDS) und je eine Schwester in 287 Prêter sa voix à quelqu’un d’autre: Lernaufgabe zum inklusiven Miteinander Kombination mit einem Freund - in direktem Gespräch (CLFAD) oder alternierend (MFMEMBE), d. h., es wird unverbunden in getrennten Kapiteln abwechselnd er‐ zählt. Ferner werden aus den jeweiligen Perspektiven heraus Familienmitglieder, Nachbarinnen und Nachbarn, Lehrkräfte und Mitschülerinnen und Mitschüler hinsichtlich ihres Umgangs mit den Betroffenen porträtiert, wodurch ein vielstim‐ miges Bild entsteht. Der Vorteil der Darstellung durch den Betroffenen selbst liegt darin, dass Einblicke in seine Denkweise erfolgen, wodurch bereits ein Perspektivwechsel angeregt wird. Die Perspektive von Geschwistern, die unter dem Zusammenleben mit der autistischen Person leiden, aber auch Liebe für sie empfinden, gibt lohnenswerte Einblicke, indem die Auswirkungen auf das Umfeld deutlich werden. Die Freunde der Schwestern fungieren als Außenperspektive und formulieren - v. a. im Fall von Hugo (MFMEMBE) - Ängste und Vorbehalte, die vermutlich viele Lernende nachvollziehen können, die zum ersten Mal in Kontakt mit autistischen Personen kommen. Die in den Romanen vorgestellten Autistinnen und Autisten verhalten sich einerseits sehr individuell, andererseits lassen sich Gemeinsamkeiten erkennen: Keine bzw. keiner von ihnen mag unvorhergesehene Dinge oder Veränderungen (LAMDE, S. 14, 32; CLFAD, S. 7; JVCDS, S. 8, 18, 39, 40, 72; MFMEMBE, S. 77) und alle haben Kommunikationsprobleme. Arno (LAMDE) und Alice (CLFAD) können zwar normal sprechen, sprechen aber ungeschönt aus, was sie denken (LAMDE, S. 29), und verstehen weder Metaphern noch indirekte Aufforderungen (ebd., S. 13, 20, 22, 23, 39, 40, 58, 60, 61, 66; CLFAD, S. 57, 59). Alienor spricht gar nicht (JVCDS, S. 8), Adam nur einzelne Wörter (MFMEMBE, S. 6). Auch mit Lärm (LAMDE, S. 15, 16, 25, 27, 33, 37, 47, 52; CLFAD, S. 7; JVCDS, S. 8, 20, 24; MFMEMBE, S. 36) und hellem Licht (LAMDE, S. 28; MFMEMBE, S. 36) haben sie Probleme. Während für Alienor (JVCDS) und Adam (MFMEMBE) kein normaler Schulbesuch möglich ist, sind Arno (LAMDE) und Alice (CLFAD) hochintelligente Asperger-Autisten. Arnos Stärken liegen im Lesen und Schreiben (LAMDE, S. 19), gerade auch im Englischen (ebd., S. 20), aber auch mathematisch ist er sehr begabt (ebd., S. 31, 43, 71); Alice ist in naturwissenschaftlichen Fächern und Musik besonders leistungsstark (CLFAD, S. 6). Beide haben ein besonderes Interessensgebiet, über das sie viel wissen, immer mehr erfahren möchten und sehr passioniert und lange erzählen können: Bei Arno sind es Vögel (LAMDE, S. 6, 7, 8, 14, 46, 65), bei Alice Pilze (CLFAD, S. 9, 17, 18, 27, 47, 56). Beide mögen keine Menschenansammlungen, sind lieber allein (LAMDE, S. 10, 11, 25, 70) und scheuen Berührungen anderer (LAMDE, 8, 68; CLFAD, 7). Die Intentionen anderer Personen können sie kaum nachvollziehen, weshalb sie in ihrer naiven Art ‚leichte Beute‘ sind (LAMDE, S. 6, 26, 29, 30, 32, 39, 43, 46; CLFAD, S. 58, 59, 65). 288 Corinna Koch Wirft man einen Blick auf den Umgang anderer Menschen mit der autistischen Person, so lassen sich Gruppen oder Typen identifizieren. In allen Romanen sind Außenstehende zunächst durch das ungewöhnliche Verhalten irritiert, vielfach wird die Person als „verrückt“ bezeichnet (LAMDE, S. 6, 11, 51; CLFAD, S. 28, 53, 54; MFMEMBE, S. 18, 19, 23, 49). Nachbarinnen und Nachbarn beschweren sich bei der Polizei über den Lärm, versuchen die Familie aus dem Haus zu vertreiben oder sprechen mit der betroffenen Person, als wäre sie ein Hund (JVCDS, S. 19, 20). Babysitter kündigen und selbst die Großeltern trauen sich eine Betreuung nicht zu (MFMEMBE, S. 13). Im schulischen Kontext wird einigen Lehrkräften ein Unverständnis zugeschrieben, das in Bestrafungen des Autisten mündet (LAMDE, S. 31, 48) oder in einem bewussten Wegsehen bei offensichtlichen Problemen besteht (CLFAD, S. 66, 68, 75). Besuchen die autistischen Jugendlichen eine Regelschule, gibt es immer Mitlernende, die die Person beschimpfen, ausgrenzen und ihre Leichtgläubigkeit bewusst ausnutzen (LAMDE, S. 38, 39, 50, 70; CLFAD, S. 16, 39, 58-60). Es gibt aber stets auch einzelne Gegenbeispiele, d. h. Mitlernende, die sich bewusst für die betroffene Person einsetzen und sie verteidigen, z. B. Justine für Arno (LAMDE, S. 40, 48, 50, 51, 69, 70, 73, 78, 82) sowie Quentin (CLFAD, S. 27, 36, 58, 60, 68, 74) und später Fanny und Lucas (ebd., S. 66, 68, 75) für Alice. Als erwachsene Fürsprecherin für Arno fungiert zudem seine Grundschullehrerin Aline (LAMDE, S. 17, 18, 20, 66, 67, 81). Bezüglich der Eltern zeigen sich unterschiedliche Verhaltensweisen: Während sich Arnos Eltern bemühen, sich nach seinen Bedürfnissen zu richten (LAMDE, S. 64), halten Alices Eltern ihre Tochter lediglich für hochbegabt, sind sehr stolz auf sie und weigern sich bis zu ihrem Selbstmordversuch, ihre Probleme anzuerkennen (CLFAD, S. 6, 67). In den drei anderen Romanen sorgt und kümmert sich stets die Mutter besonders aufopferungsvoll - teilweise bis zur Erschöpfung - um das autistische Kind, informiert sich und kündigt ihren Job (LAMDE, S. 19; JVCDS, S. 7, 9, 15; MFMEMBE, S. 6, 7, 26). Die Väter sind erwerbstätig, besonders Alienors Vater flüchtet sich in die Arbeit und kommt meist erst spät nach Hause, um den häuslichen Konflikten zu entgehen (JVCDS, S. 15). Adams Vater versucht dadurch Normalität zu schaffen, dass er ihn wie ein ‚normales‘ Kind behandelt (LAMDE, S. 57). Die jeweils älteren Schwestern in drei der Romanen teilen die Gefühle von Überforderung mit der häuslichen Situation, v. a. Emma und Garance, denen die Ausbrüche ihrer autistischen Geschwister vor anderen peinlich sind, weshalb sie ungern mit ihnen nach draußen gehen und es vermeiden, Freunde zu sich einzuladen (JVCDS, S. 7-9, 13, 14, 18, 29, 39, 41, 47, 48; MFMEMBE, S. 8-13, 24, 25, 27, 54, 55). Während sich Emma jedoch von ihrer Mutter vernachlässigt und ungerecht behandelt fühlt (JVCDS, S. 7, 32, 39, 46, 48, 56), gelingt es Garances Mutter, auch ihrer Tochter 289 Prêter sa voix à quelqu’un d’autre: Lernaufgabe zum inklusiven Miteinander 9 In CLFAD und MFMEMBE finden sich am Ende zudem Adressen von Autismus-Orga‐ nisationen. ausreichend Aufmerksamkeit zu schenken (MFMEMBE, S. 77). Alle Jugendlichen empfinden jedoch (letztendlich) auch Liebe für ihre autistischen Geschwister, sehen sie - trotz der Anstrengungen - auch als Bereicherung in ihrem Leben, fühlen sich für sie verantwortlich, verteidigen sie und bekennen sich öffentlich zu ihnen (JVCDS, S. 7, 9, 16, 39, 65, 68, 73; CLFAD, S. 8, 16, 19, 25, 26, 49, 60, 66, 67; MFMEMBE, S. 33, 34, 42, 59). Mögliche Sätze, die jeweils die zentrale Botschaft des Romans ausdrücken, könnten die folgenden sein: „Aline va venir parler de toi à ta classe, aujourd’hui. […] Il est temps que ton étiquette te serve à quelque chose. […] Pour expliquer comment tu fonctionnes. Et les autres, est-ce qu’on va m’expliquer comment ils fonctionnent, eux ? J’aimerais bien. Un mode d’emploi des conversations. Un mode d’emploi de ce qu’il faut répondre aux professeurs“ (LAMDE, S. 69). „Au final, il peut donc être difficile de distinguer une crise d’adolescence normale d’un trouble psychique débutant. C’est pourquoi […] il ne faut pas hésiter à consulter un psychiatre […]. Plus les difficultés sont prises en charge vite, moins leur retentissement sera important“ (CLFAD, S. 13). „J’avais peur de vous tous, de ce que vous alliez dire. Maintenant j’ai toujours aussi peur, mais je sais que cette petite fille-là, c’est ma sœur et je l’aime. C’est difficile pour moi, mais c’est comme ça“ (JVCDS, S. 73). „La première fois, tout le monde réagit de la même façon avec Adam. Tout le monde se bloque, se glace, se blinde, se barricade derrière un truc […]. Et évidemment plus on résiste, plus Adam insiste, et la catastrophe peut vite arriver. Je veux dire des cris stridents, les tapes aussi… Mais ça, c’est quand on s’y prend vraiment mal… parce qu’en général, il n’est pas violent“ (MFMEMBE, S. 57-58). Bezüglich der En plus-Aufgaben zeigt sich, dass sich die Autorinnen zweier Romane aus persönlichen Gründen mit diesem Thema beschäftigen: Sandrine Andrews (MFMEMBE, S. 121) und Sylvie Baussier (LAMDE, S. 83-84) sind selbst Mütter eines Autisten. Die Romane CLFAD (z. B. S. 11-13) und MFMEMBE (S. 85-105) enthalten zudem wissenschaftliche Zusatzinformationen von Psychiaterinnen und Psychiatern sowie Neuropsychologinnen und Neuropsy‐ chologen über Autismus, um zusätzlich zur Fiktion auch Fakten zu vermitteln. Im Falle von CLFAD werden jeweils nach jedem Kapitel wissenschaftliche Erklärungen für die geschilderten Verhaltensweisen von Alice geliefert. 9 Die Begriffe „moule“ bzw. „case“ und „étiquette“ spielen in zwei Romanen eine 290 Corinna Koch besondere Rolle: „Moule“ (LAMDE, S. 15, 23; CLFAD, S. 45) und „case“ (CLFAD, S. 39) gelten als das Normale, in das Arno und Alice zunächst hineingepresst werden sollen, um der ‚Norm‘ zu entsprechen. Das Etikett „Asperger“ stigma‐ tisiert die Betroffenen zwar, in beiden Romanen wird es jedoch auch als Chance gesehen, dadurch mehr den jeweiligen Bedürfnissen entsprechend behandelt zu werden (LAMDE, S. 57, 61, 69; CLFAD, S. 77). In zwei Romanen werden zudem Zeichnungen eingesetzt: In CLFAD dienen diese zur Illustration der Erklärungen des psy, man sieht z. B. Alice von Pilzen erzählen, während sich zwei Personen genervt entfernen (ebd., S. 33), oder ihrer Imitationsbemühungen hinsichtlich Fanny (ebd., S. 51). In JVCDS werden Szenen des Romans zeichne‐ risch dargestellt (z. B. ebd., S. 7, 11) - diese können durch die Auflockerung des Textes die Lesemotivation steigern und durch die Visualisierung zu einem besseren Textverständnis beitragen. 4 Schlussbemerkung Die vorgeschlagene Lernaufgabe fungiert als transparenter und persönlich bedeutsamer, klar umrissener Rahmen, der zur interaktiven Lektüre von Ju‐ gendromanen zu einem Thema einlädt, das Perspektivwechsel von sich aus herausfordert. Durch die Übernahme einer fiktiven Rolle leihen die Lernenden ihre Stimme einer anderen Person, deren Argumentation dazu beitragen kann, das Zusammenleben (im (inklusiven) Klassenzimmer) zu verbessern. Der ge‐ wählte Schwerpunkt auf Autismus ist lediglich einer von vielen möglichen. Das übergeordnete Ziel besteht darin, alle Menschen als Individuen zu betrachten, ihnen möglichst unvoreingenommen gegenüberzutreten, zu versuchen, ihre Sicht auf die Welt nachzuvollziehen, und einen Weg zu finden, mit ihnen in Kontakt zu treten und ihnen das Gefühl der Zugehörigkeit zu vermitteln. 291 Prêter sa voix à quelqu’un d’autre: Lernaufgabe zum inklusiven Miteinander Literatur Primärliteratur CLFAD = Deroin, Christine & Martinez, Gilles (2020). Caméléon. Les filles Asperger déboulent ! Paris: le muscadier. JVCDS = Jaoui, Sylvaine (2003). Je veux changer de sœur ! Paris: casterman. LAMDE = Baussier, Sylvie (2014). Les autres, mode d’emploi. On dit de moi que je suis différent. Paris: oskar éditeur. MFMEMBE = Andrews, Sandrine & Deroin, Christine (2016). „Mon frère, mon enfer, mon bel enfer“ [L’autisme]. Paris: oskar éditeur. Frey, Jacob & Cavalcanti, Fabio (2014). The Present. Filmakademie Baden-Württemberg. https: / / www.youtube.com/ watch? v=WjqiU5FgsYc [09.12.2020]. 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Kinder- und Jugendliteratur in Frankreich - eine literaturwissen‐ schaftliche Einordnung. französisch heute 51 (2), 5-10. 294 Corinna Koch Il ou elle von Bernard Friot Literarästhetische und symbolische Bildung mit jugendlichen Französischlerner*innen Dagmar Abendroth-Timmer & Birgit Schädlich Die Arbeit mit Literatur führt nach wie vor ein Schattendasein im Fran‐ zösischunterricht der Sekundarstufe I: Zwar werden aus fachdidaktischer Perspektive immer wieder Potentiale betont und konkrete Vorschläge für die Praxis formuliert. Vor der dominanten und oftmals ausschließlichen Ori‐ entierung des Unterrichts am Lehrwerk verhallen diese jedoch regelmäßig. Der vorliegende Beitrag zeigt Möglichkeiten auf, Literatur- und Spracharbeit mit jugendlichen Lernenden zusammenzuführen und schlägt dafür eine Ori‐ entierung am Konzept der symbolischen Bildung vor. Dieses wird am Thema ‚Gender‘ konkretisiert und für einen jugendliterarischen Text didaktisch aufgearbeitet. 1 Literaturarbeit als Teil des Bildungsauftrags von Fremdsprachenunterricht Fremdsprachliche Literaturarbeit bleibt häufig der Oberstufe vorbehalten. Dies folgt Vorstellungen wie dem Primat der Sprache vor den ‚interessanten Inhalten‘ oder der Annahme, Literatur könne in der Spracherwerbsphase nicht gegen‐ standsangemessen in der Zielsprache behandelt werden. Im Raum steht zudem die Befürchtung, die Literaturarbeit im Unterricht der zweiten oder dritten Fremdsprache Französisch könne die Lernenden verschrecken. Wir möchten in diesem Text eine andere Position einnehmen und Literatur gerade als möglichen Gewinn für einen lerner*innenorientierten Unterricht vorschlagen. Dafür setzen wir beim Bildungspotential von Literatur und bei der hohen emotionalen identitätsstiftenden Wirkung literarischer Texte an. Literatur bietet Anknüpfungspunkte an vielfältige lebensweltlich relevante Fragestellungen und Themen, die Kinder und Jugendliche beschäftigen. Daniela Caspari hat immer wieder dargelegt, dass zeitgenössische Kinder- und Jugendliteratur (vgl. Caspari, 2003) ebenso wie Klassiker der französischen Literaturgeschichte - bei‐ spielsweise die Fabeln von La Fontaine (vgl. Caspari, 2005) - es vermögen, Per‐ spektiven von Lernenden aufzugreifen und darüber bedeutungsvolles Sprach‐ handeln im Unterricht anzustoßen. Demgemäß stellen Kräling, Fraile & Caspari (2015, S. 92) angesichts unterrichtlicher Evidenz fest: So spielen literarische Texte und ihre Interpretation, die im Sinne der Rezeptionsäs‐ thetik als Leser-Text-Begegnung zu verstehen ist, im aufgabenorientierten Unterricht bislang eine eher geringe Rolle, obwohl sie im Hinblick auf bedeutungsvolles Sprach‐ handeln ein großes Potential bergen […]. Entgegen der hier festgestellten geringen unterrichtlichen Rolle attestiert Ca‐ spari in einem Forschungsüberblick (2008, S. 113) auf Seiten fachdidaktischer Konzeptualisierung und Modellierung von Literaturunterricht einen Boom kreativer Verfahren, eine verstärkte Einforderung authentischer Texte und - bei aller Notwendigkeit der Weiterentwicklung gerade für die Sekundarstufe I - eine positive Wirkung auf Rahmenlehrpläne, Bildungsstandards und Abiturvor‐ gaben (s. auch Caspari, 2013, S. 68ff.). Es liegen somit umsetzbare Konzepte und konkrete unterrichtspraktische Vorschläge ebenso vor (s. Abendroth-Timmer & Gerlach, 2021), wie auch ein bildungspolitischer Rahmen, diese umzusetzen. Kreative und handlungsorientierte Verfahren - so zeigen empirische Studien - treffen aber nicht selten auf eine skeptische Haltung von Lehrenden und Lernenden, durch welche ihr ebenso nachweisbares Potential auf sprachliche und interkulturelle Kompetenzen bisweilen verschenkt wird (vgl. ein Überblick über empirische Arbeiten in Delius, Surkamp & Wirag, 2021). Wenn im Fremd‐ sprachenunterricht gelesen wird, so scheint es sich dabei überwiegend um literarische Kurzformen zu handeln, zu denen die Lernenden durchaus eine positive Haltung einnehmen (vgl. Wieland, 2015, S. 60-64). Insofern ist deutlich zu unterscheiden zwischen der grundsätzlichen Akzeptanz von Literatur und der Motivierung durch den Umgang mit literarischen Texten mit dem Ziel, eine vertiefte Beschäftigung mit dem Text zu ermöglichen. Literarästhetische Bildung umfasst - so ein Modell von Diehr & Surkamp (2015, S. 25; in Weiterentwicklung des Modells von Surkamp (2012, S. 84f.) und in Zusammenarbeit mit der Klett Akademie Sektion Englisch) - motivationale und attitudinale Kompetenzen (Rezeptionshaltung, Leseinteresse, Einfühlungsver‐ mögen etc.), ästhetische und kognitive Kompetenzen (Textverstehen, Hypothe‐ senbildung, Analyse ästhetischer Mittel, fremdkulturelle Kontextualisierung, 296 Dagmar Abendroth-Timmer & Birgit Schädlich Werturteile) sowie sprachliche und diskursive Kompetenzen (Lesestrategien, Darstellung von Interpretationen, emotionale oder kritische Stellungnahme etc.). Alle drei Bereiche vereinen affektive Haltungen, den kognitiv erschlie‐ ßenden Zugang zum Text sowie den reflexiven und diskursiven Austausch über die Leseerfahrung. Dies schließt auch die eigene Produktion von Texten mit ein. Literatur liefert die herausragende Möglichkeit einer Verbindung der sprachlichen und inhaltlichen Dimension des Fremdsprachenunterrichts, wenn Rezeptions- und Anschlussaufgaben - zum Beispiel in Produktionsaufgaben - eng miteinander verbunden werden (vgl. Kräling, Fraile & Caspari, 2015, S. 99). Diese Ausführungen verdeutlichen auch, dass literarische Texte, Sprache in Literatur und literarische Sprache in ihrer ästhetischen Beschaffenheit und Wirkung zu betrachten sind und damit niemals kulturell neutral sind. Dieses Potential wird beispielweise in Lehrwerken der Sek. I zugunsten von soziokul‐ turellem Orientierungwissen sicherlich zu wenig genutzt und andere kulturelle Lernbereiche werden in die Sekundarstufe II verlagert. Die ästhetische Erfah‐ rung bei der Rezeption ist immer gleichzeitig ein sprachliches und inhaltliches Erschließen und ein subjektives Sich-Ins-Verhältnis-Setzen hierzu, das immer schon an sprachlich-kulturelles Wissen und Handeln anknüpft. Küster (2015, S. 20) betont, dass bei der subjektiven Wahrnehmung des Ästhetischen - und den damit verbundenen Irritationspotentialen - Bildungsprozesse entstehen, für die im Unterricht Zeit, Raum und Freiheit eingeräumt werden muss. Hiermit befasst sich Kramsch, die das Konzept der symbolischen Kompetenz oder symbolischer Bildung einführt. Wir schlagen dieses Konzept als weiteren Schwerpunkt vor, weil hier der Nexus von sprachlicher Form und literarisch-rhetorischer Wirkung von Sprache fokussiert wird. Damit stellt das Konzept einen Ansatz zur Beantwortung der Frage um die Schwierigkeit literarischer Texte dar, die in der didaktischen Auseinandersetzung mit Literatur immer wieder eine Rolle spielt (vgl. Caspari & Steininger, 2016). 2 Symbolische Bildung im fremdsprachlichen Literaturunterricht Wie bereits im sprachlichen Anfangsunterricht mit Literatur gearbeitet werden kann und welche Rolle dabei die Verwobenheit von Textrezeption und -produk‐ tion spielt, hat Kramsch in verschiedenen Texten entworfen, beispielsweise in der Arbeit mit dem Gedicht Inventur von Günter Eich im Deutschunterricht für Anfänger*innen (vgl. Kramsch & Zhang 2018, S. 159ff.) oder - für fortgeschrit‐ tene Lerner*innen - am Beispiel von Erich Kästners Als ich ein kleiner Junge war (Kramsch, 2011). 297 Il ou elle von Bernard Friot Die inhaltliche Dimension und kontextuelle bzw. kulturelle Situiertheit sprachlicher Äußerungen - insbesondere ästhetisch-literarischer Texte - ist gemäß dem Konzept von symbolischer Bildung unmittelbar in die sprachliche Form eingeschrieben: Kultur ist in der sprachlichen Form, wie am unten gewählten Beispiel des Textes Il ou elle deutlich werden wird. Angesichts postmoderner Sprach- und Kulturbegriffe muss das Verständnis von kommu‐ nikativer Kompetenz, die sich auf vermeintlich vorhersehbare Kommunikati‐ onspartner*innen, -kontexte, -ziele und -mittel bezieht, ausgeweitet werden (vgl. Kramsch & Whiteside, 2008). Gemeinsame Bezugshorizonte für kommuni‐ katives Handeln werden dabei nicht mehr als selbstverständlich gegeben ange‐ nommen, sondern sie werden selbst zum Gegenstand von Aushandlungs- und Mittlungsprozessen zwischen Lerner*innen mit ihren pluralen sprachlich-kul‐ turellen Repertoires (vgl. Schädlich, 2020). Die pluralen Repertoires werden dabei auch weiter gefasst als mehrspachig im engeren Sinne: Die gesamte kommunikative Handlung, zu der auch Körpersprachliches gehört und die Gegenstände, Kleidung und Bewegungen umfasst (vgl. Block, 2014), spielt für die Aushandlungsprozesse eine Rolle. Im Unterricht werden sie Gegenstand von inhaltlicher Diskussion und Sprachreflexion. Hieran schließt die Idee symbolischer Kompetenz an. Diese setzen Kramsch & Wellmon (2008, S. 221, ebenso Kramsch & Whiteside 2008, S. 664) mit Bildung gleich und definieren diese als „[…] ability not only to approximate or appropriate for oneself someone else’s language, but to shape the very context in which the language is learned and used”. Das Subjekt positioniert sich in, mit und gegenüber Sprache/ n und auf Grundlage individueller (kultureller) Be‐ zugsgrößen und (erinnerter/ konstruierter) historischer Rahmen. Symbolische Bildung meint, den subjektiven und historischen Rahmen von Diskursen zu erkennen. In der Performativität des Dialogs mit anderen entsteht wiederum eine neue sprachliche Realität (vgl. Kramsch & Wellmon, 2008, S. 221f.). Lite‐ rarische Texte bieten zudem ihre eigene ästhetische performative Welt und enthalten eigene plurale Repertoires, die es zu erschließen gilt. Darüber hinaus liefern sie den Lernenden Ansatzpunkte, um Bezüge zu ihren lebensweltlichen Erfahrungen herzustellen und diese mit der Welt des Textes abzugleichen. Dies schließt an Konzepte der kritischen Fremdsprachendidaktik an (vgl. Ge‐ rlach, 2020). Viele Themen, die in literarischen Texten verhandelt werden, bieten dazu Anlass. Ein Thema, das noch relativ wenig Beachtung findet, ist Gender. Die Frage nach der eigenen (auch und gerade genderbezogenen) Identität stellt sich besonders für die Altersgruppe von Lernenden der Sekundarstufe I, kann als Entwicklungsaufgabe (vgl. Holzbrecher, 2013, S. 129) bezeichnet werden und bietet sich auch für den Fremdsprachenunterricht an (vgl. König, Surkamp 298 Dagmar Abendroth-Timmer & Birgit Schädlich & Decke-Cornill, 2015, S. 2ff.). Die Unterscheidung zwischen der biologischen Beschreibungskategorie Geschlecht und der sozio-kulturellen Kategorie Gender steht dabei im Mittelpunkt, indem thematisiert wird, wie Gender gesellschaftlich konstruiert wird, welche Rollenvorstellungen und erwartete Handlungsmuster hiermit zusammenhängen und wie dies wiederum sprachlich ermöglicht wird - beispielsweise eben in grammatischen Kategorien, Wortfeldern, Gegenständen oder Handlungsweisen. Die gesellschaftliche Konstruktion von Gender wirkt sich auf Sprache aus und umgekehrt. Die enge Verbindung von Gender und Sprache ist Voraussetzung für gesellschaflich situierte Bedeutungszuweisungen und -aushandlungen. Auf Basis der Diskurse um Sprache und Gender bildet eine Person im Rahmen der diskursiv (un)zulässigen Möglichkeiten eine eigene genderbezogene Identität heraus, welche individuell und gesellschaftlich in die Person eingeschrieben/ gesprochen wird (und zwar auch durch Zuweisungen und Aushandlungen) (vgl. Schmenk, 2015). Die Darstellung dieser Prozesse wirkt sich in literarischen Texten wiederum durch die ihnen eigene Ästhetik aus (siehe dazu Leonhardt & Viebrock, 2020). 3 Il ou elle von Bernard Friot: Vorschläge für den Französisch‐ unterricht 3.1 Zum inhaltlichen und ästhetischen Potential des Textes Der Text Il ou elle (vgl. S. 309f.) stammt von dem Jugendbuchautor Bernard Friot. Der Text zeichnet sich durch eine hohe imaginative Kraft aus. Inhaltlich geht es um eine*n Jugendliche*n, die*der sich im Bad vor dem Spiegel zurecht macht, wobei (gender)-identitäre Fragen hervortreten. Im Sinne unserer vorherigen theoretischen Ausführungen ist der Text ein Beispiel für die Sprachlichkeit literarästhetischer und symbolischer Erfahrung, die kritisch-reflexive Bildungs‐ prozesse ermöglichen kann und aus folgenden Gründen für die Arbeit mit jugendlichen Französischlerner*innen auf der Sekundarstufe I interessant ist: Erstens handelt es sich um einen kurzen Text, der sprachlich nicht zu an‐ spruchsvoll ist. Inhaltlich ermöglicht er dennoch einen reflexiven Ich-Welt-Ab‐ gleich zum komplexen Thema Gender und Identitätskonstruktion. Dies ge‐ schieht über ein durchgehendes Sprachspiel mit den Gender-Zuordnungen der Personalpronomen ‚il ou elle‘ sowie mit dem Vornamen Dominique, der Jungen- und Mädchenname gleichermaßen sein kann. Dazu unten mehr. Der Text ist zweitens interessant, weil er - um bei dem von Holzbrecher (2013, S. 219) verwendeten Terminus der „Entwicklungsaufgabe“ zu bleiben - einen Abgleich eines Subjekts mit der Welt und ihren „Erwartungen“ nachvollzieht, hier die Konstruktion einer Geschlechtsidentität. 299 Il ou elle von Bernard Friot Der Text ist drittens interessant, weil er sprachlich selbst eine Reflexion repräsentiert: Der*die Erzähler*in lässt den*die Leser*in an Handlungen des doing gender (vgl. König, 2015) teilhaben: Indem eine oder ein Dominique im Badezimmer Rasierzeug, Lippenstift und Lidstrich ausprobiert und gedanklich kommentiert, mit welchen Gender-Kategorien oder einzelnen Menschen er*sie diese assoziiert, werden die Konstruktionsmechanismen von ‚typisch weiblich‘ oder ‚typisch männlich‘ aufgerufen und emotional mit Bedeutung versehen. Doing gender wird hier gleichzeitig vollzogen wie infrage gestellt: Der*die Protagonist*in handelt nicht einfach nur - indem Lippenstift aufgetragen oder Rasierzeug benutzt wird -, sie*er reflektiert alternative Handlungsmöglich‐ keiten, Begründungen und Emotionen, wodurch die vermeintliche Natürlichkeit einzelner Handlungen offengelegt und hinterfragt wird. Dies wird durch zwei zentrale inhaltliche Momente bzw. Textstellen realisiert. Die erste wichtige Textstelle steht zwischen Titel und Textkörper und formuliert folgende Aufforderung: „Choisir pour chaque verbe le pronom qui convient“. Damit wird auf typische Grammatikaufgaben, wie sie in Sprachlehrwerken gängig sind, verwiesen. Ein komisch-parodistischer Effekt entsteht an dieser Stelle dadurch, dass bei fiktiven Erzähltexten an entsprechender Stelle ein Motto, ein Zitat oder andere inhaltliche Vorbereitungen zum Text hinführen und diesen auf einer abstrakten Ebene rahmen. Genau dies ist hier auch der Fall; durch die an dieser Stelle fremdartig wirkende Textsorte (‚Grammatikaufgabe‘) entsteht neben dem komischen Effekt auch die Aufmerksamkeit dafür, dass eine Grammatikaufgabe vielleicht weniger neutral oder gar langweilig ist als gemeinhin angenommen, sondern subjektiv (vermutlich hochgradig) relevante Identitätsfragen berührt. Auf diese Weise rückt der Text das Thema doing gender in den Blick der Leser*innen, indem die Reflexion in Form der Parodie einer Grammatikaufgabe erzwungen wird: Die Leser*innen müssen sich gegenüber dem Text ebenso für ‚il ou elle‘ entscheiden wie Dominique im Text als Protagonist*in. Der rezeptionsästhetische Text-Leser*in-Dialog wird hier im Text selbst bereits als Leseauftrag mitgeliefert, so dass die Schüler*innen über das Problem, das hier thematisiert wird, nicht hinweglesen können. Sie werden mit Reflexionskate‐ gorien konfrontiert, auf die sie vielleicht ohne die einleitende Aufforderung gar nicht gekommen wären. Über die Pronomen lesen sie gegebenenfalls hinweg, jedoch wird ihnen durch die Aufgabe eine Entscheidung abverlangt: In der Entscheidung für ‚il‘ oder ‚elle‘ steckt ein ganzer Identitätsentwurf, der im Text durch die Überlegungen zu genderspezifischen Gegenständen und Handlungen konkretisiert wird: Dominique ist, was sie*er tut, es gibt im Bad offenbar ‚männliche‘ und ‚weibliche‘ Gegenstände - zwischen denen er*sie steht - 300 Dagmar Abendroth-Timmer & Birgit Schädlich und damit verbundene Handlungen wie sich rasieren oder sich schminken, die sie*er erprobt: Die Verben und Pronomen sind keine neutralen grammati‐ schen Kategorien zum ‚Sprache-Üben‘, wie es die Aufgabe zum Texteinstieg suggeriert: ‚il ou elle‘ sind vielmehr unmittelbar mit Alltagshandlungen, mit Identitätsfragen und Positionierungen verbunden. Das Schwanken zwischen den Optionen verweist dabei auch auf die offensichtliche Nicht-Passung der einschränkenden Dichotomie von ‚männlich‘ versus ‚weiblich‘, die durch den Text und die Pseudo-Aufgabe („choisir pour chaque verbe…“) thematisiert wird. Der Griff in die Utensilien auf der einen oder anderen Seite des Spiegels und die Entscheidung dazu bedeutet bereits eine ‚Unterwerfung‘ unter die bestehende binäre Ordnung von ‚männlich‘/ ‚weiblich‘, die nicht reflektiert werden müsste, wenn sie nicht schon da wäre und sich hier räumlich in der Anordnung der Gegenstände manifestieren würde. Zugleich wird sie über die Sprache konstituiert bzw. über den Zwang erschaffen, ‚männliche‘ und ‚weib‐ liche‘ Gegenstände, Handlungen und Personenbezeichnungen zu etikettieren. Die Kommentare, in denen ‚il ou elle‘ Bewertungen und Fragen formuliert, bestätigen diese Ordnung und stellen sie gleichzeitig in Frage. Auch die zweite Textstelle bewegt sich vordergründig auf der Ebene sprach‐ licher Eindeutigkeit, verweist jedoch gleichzeitig - ähnlich wie oben für die Grammatikaufgabe beschrieben - auf die ‚größere‘ Frage der Identitätskon‐ struktion: Dominiques Aufenthalt im Bad wird wiederholt durch Rufe der Mutter unterbrochen. Zunächst bittet die Mutter ‚il ou elle‘ aus dem Bad heraus: „Tu peux venir goûter, c’est prêt! “. Dominique bleibt aber im Bad, „il/ elle a mieux à faire“. Einige Zeilen später ruft die Mutter erneut: „Dominique, tu te décides, oui ou non? “. Aus dem textlichen Kontext (erster Ruf) ist klar, dass die Mutter das Goûter bzw. die Zwischenmahlzeit am Nachmittag meint, aus Dominiques Perspektive, an deren*dessen Entscheidungen zur Gender-Konstruktion die Leser*innen bereits teilhaben, wird die Aufforderung der Mutter zu mehr: Es geht nicht um das Goûter, sondern um ‚il ou elle‘: Dominiques Antwort „Se décider? Pourquoi, vraiment? ! “ und die sich daran anschließende Beschreibung des Ergebnisses des Badezimmeraufenthalts lassen rückschließen, wie sie*er den Aufruf der Mutter versteht: als Entscheidung für einen genderbezogenen Lebensentwurf. Auch einem solchen verweigert Dominique sich, indem er*sie festhält, dass das Aussehen jetzt erstmal perfekt ist, für diesen Moment: „Alors, non, il/ elle décidera pas. Pas aujourd’hui, pas encore, en tout cas“. Diese Überlegung von ‚il ou elle‘ verweist auf einen Prozess (mit offenem Ende! ), obwohl für diesen Moment eine ‚Lösung‘ der Entwicklungsaufgabe gefunden wird: Subjektiv wird die aktuell hervorgebrachte Kombination (Lip‐ penstift, Schnurrbart, Lidschatten, Krawatte) als „Parfait, c’est parfait comme ça“ 301 Il ou elle von Bernard Friot wahrgenommen. Der Konflikt mit ‚äußeren Anforderungen‘ - sich entscheiden zu müssen und bei dieser Entscheidung bestimmte Optionen außen vor lassen zu müssen - ist nach wie vor offen - die Entwicklungsaufgabe bleibt also bestehen. 3.2 Handlungs- und produktionsorientierte Aufgaben Die dargestellte Verzahnung von Inhalt und Sprache lässt keine Trennung in einen sprachlichen und inhaltlichen Verstehensprozess zu, der Bildungsauf‐ trag des Französischunterrichts ist von Anfang an gegeben. Dass Sprache, sprachliches Lernen und Grammatik nicht neutral oder inhaltslos sind, wird hier durch die Verbindung von Gender-Reflexion mit der Pseudo-Aufgabe am Textbeginn plastisch vorgeführt. Insofern kann der Text selbst bereits als handlungsorientiert, sogar unmittelbar handlungsbedingend gelten, indem er seine Leser*innen zu Entscheidungen auffordert, durch die das Textverstehen überhaupt erst möglich wird. Im Sinne der vorherigen Ausführungen werden wir über diese textimmanente ‚Aufgabe‘ hinaus Aufgabenbeispiele vorschlagen, die sich auf zwei Ebenen im Wechselspiel zwischen Rezeption und Produktion im Text-Leser*in-Welt-Dialog ansiedeln lassen: erstens kritische gesellschaftsreflexive Produktion im Sinne des Verständnisses für die Situiertheit von Sprache sowie zweitens kritische gesellschaftsreflexive Produktion im Sinne von Identitätsbildung und gesell‐ schaftlicher Partizipation (s. dazu auch Abendroth-Timmer & Gerlach, 2021). Diese Ebenen fließen immer wieder zusammen. Nachfolgend werden mögliche Aufgaben im Sinne der Anbahnung eines solchen zirkulären Verstehens- und Reflexionsprozesses vorgestellt. 3.2.1 Fokus auf sprachästhetische Rezeptions- und Produktionsprozesse Auf der Ebene sprachästhetisch fokussierter Rezeptions- und Produktionspro‐ zesse geht es darum, den Zusammenhang von Sprache, sprachlicher Form (hier grammatisches Genus) und kulturellem Inhalt (hier Gender-Reflexion) für sprachliches Handeln zu durchschauen. Bei diesen Aufgaben steht das eigene (sprachliche) Handeln im Mittelpunkt: Die Schüler*innen agieren spontan und nehmen eigene Positionierungen zur Gender-Debatte vor. Folgende Aufgaben sind für dieses Ziel denkbar: Wir schlagen vor, auf vorbereitende activités avant la lecture zu verzichten. Vielmehr soll die Auseinandersetzung mit dem Thema direkt über die vom Text vorgeschlagene Aufgabe angestoßen werden: „Choisir pour chaque verbe le pronom qui convient“. Die Lektüre kann also in dem ‚ernsthaften‘ Versuch bestehen, die aus dem Text heraus gestellte Aufgabe der Pronomenauswahl zu bearbeiten. Die Lehrkraft liest die Aufgabe vor und macht beispielhaft 302 Dagmar Abendroth-Timmer & Birgit Schädlich den ersten Satz vor, mit willkürlicher Entscheidung für ‚il ou elle‘, um eine Reflexion durch die scheinbare Selbstverständlichkeit der Pronomensetzung in Gang zu bringen. Im weiteren Verlauf sollen die Schüler*innen die Pronomina zuordnen, wobei Wortschatzfragen geklärt werden. Sobald die Schüler*innen den ‚Witz‘ der Aufgabe verstanden haben, kann sich eine offenere Diskussion anschließen. Eventuell wird schon der Bart in Zeile 14/ 15 der erste Stolperstein sein (ist elle ein Mädchen und hat daher keinen Bart oder ist il zu jung und hat noch keinen Bart? Dürfen oder sollen Frauen Bärte tragen? Wer tut dies und warum? ). Eine solche Diskussion, die nicht unbedingt auf Französisch geführt wird, bildet dabei den Übergang von der textrezeptiven zur textproduktiven Ebene in der Auseinandersetzung mit Gender-Fragen und knüpft den Text an lebensweltliches Wissen an. Für eine textproduktive Erarbeitung der sprachlichen Setzungen kann eine dramapädagogische Umsetzung eingesetzt werden: Die Lehrperson präpariert - eventuell auch gemeinsam mit den Schüler*innen - eine Bühne mit einem Bad oder besser noch verschiedene Bereiche im Raum mit mehreren Badvari‐ anten, in dem die Schüler*innen (pantomimisch) Gegenstände und Handlungen ausprobieren können oder die anderen beobachten und als Zuschauer*innen Notizen machen („Notez ce qu’il ou elle fait? Qu’est-ce qui vous étonne, amuse, frappe? - pourquoi? “). Ziel wäre hier die Thematisierung der Differenz zwischen dem körperlich dargestellten Spiel und der imaginären Kraft des Textes (vgl. ein ähnliches Vorgehen bei Schädlich, erscheint), denn im Spiel steht jeweils ein ‚Junge‘ oder ‚Mädchen‘, den*das die Schüler*innen als solchen*solches kennen, im Bad des präparierten Raums, auf der Ebene des Textes fehlt dieses orientierende Moment (vgl. auch König, 2015). Textproduktive Aufgaben können sich weiterhin auf das Fortschreiben der Geschichte beziehen („Comment imaginez-vous il ou elle à la fin de l’histoire … que vous ne connaissez pas encore…? “). Dies kann als Einzelarbeit durchgeführt werden oder aber als kooperatives Schreiben, das wiederum den Mehrwert eines diskursiven sprachlichen und inhaltlichen Aushandlungsprozesses zwischen den Lernenden birgt. Ein Lesestopp für diesen Zweck bietet sich beispielsweise bei Zeile 30 an („comme maman exactement…“). Gegebenenfalls wird der Text nur bis dahin zur Verfügung gestellt. Der Rest des Textes kann eventuell als eigener zusätzlicher Impuls mit Gender-konnotierter Werbung aus Zeitschriften (Parfum, Autos, Kleider, Uhren etc.) überdeckt werden. Parallel zu einer Schreibaufgabe oder auch alternativ zu dieser können die Lernenden aufgefordert werden, ähnliche Gender-Markierungen in ihrem Umfeld (z. B. in einem Einkaufszentrum) oder im Internet zu suchen und zu dokumentieren. Hieraus wiederum kann eine Collage zu einem möglichen Aus‐ 303 Il ou elle von Bernard Friot gang des Textes erarbeitet werden: „Faites le portrait de Dominique en créant un collage à l’aide des images à disposition“. Die bereits zuvor eingesetzten Bilder aus Zeitschriften oder auch weitere weniger stereotypenreproduzierende Bilder können zur Verfügung gestellt oder selbst von den Schüler*innen gesucht, zur Erstellung der Collage verwendet und in einem gallery walk kommentiert werden. Dies könnte auch verbunden werden mit dem Verfahren des heißen Stuhls, in dem die Lernenden die Sicht von Dominique einnehmen und mögliche Überlegungen im Bad verbalisieren: „Qu’est-ce que tu as décidé devant le miroir de ‚notre‘ salle de bains/ dans ton collage par rapport à la ou au vrai(e) Dominique? “. Insgesamt werden die Lernenden durch den Text zu einer anderen (sprach‐ lichen) Wahrnehmung ihrer Alltagswelt aufgefordert. Deren scheinbar selbst‐ verständliche Mechanismen können sie dadurch durchschauen und in ihrer potentiellen Problematik auch kritisieren lernen. Dies geschieht weiterhin mit den im Folgenden vorgeschlagenen Reflexionsaufgaben. 3.2.2 Fokus auf kritische Reflexionsdiskurse Gegenüber dem zunächst unmittelbaren Handeln wie es im vorangegangenen Abschnitt beschrieben wurde, geht es in den reflexiven Aufgaben darum, sowohl den Primärtext wie auch die in den Diskussionen und von den Schüler*innen hervorgebrachten sprachlichen, bildlichen und darstellenden Texte zu reflek‐ tieren. Hier wird - ähnlich wie bei Kramsch (2011) vorgeschlagen - dem eigenen Sprachhandeln nachgespürt, um eigene sprachliche Entscheidungen rückbli‐ ckend und im Vergleich mit den Entscheidungen anderer zu verstehen. Durch diese sprachreflexive Arbeit sollen Ebenen von Kritik und Ermächti‐ gung im Sinne einer Erweiterung des eigenen Handlungsrepertoires (wie es ja auch Dominique im Text durch die Reflexion seiner*ihrer Entscheidungen gleichsam ‚vorführt‘) ermöglicht werden. Im Zentrum steht die Frage, welche Gender-Konstruktionen in den Ent‐ scheidungen der Textproduktionen erkennbar werden. Dabei wird akzentuiert, inwieweit (scheinbar) selbstverständliche Zuschreibungen und grammatische Kategorien Wahrnehmungen lenken und damit auch bestimmte Meinungen nahelegen. Mögliche Impulse hierfür könnten die Folgenden sein: • Warum muss die Geschichte im Präsens stehen? (Der in Vergangenheits‐ formen notwendige accord würde Genus und in der Logik der Geschichte auch die geschlechtliche Identität von Dominique festlegen). • Warum steht in Grammatiken bei der 3. Person immer il an erster Stelle? (il/ elle/ on chante; ils/ elles chantent) - was würde sich ändern, wenn die 304 Dagmar Abendroth-Timmer & Birgit Schädlich Reihenfolge anders wäre? Hierfür können Auszüge aus den Grammatik‐ begleitheften des Lehrwerks oder auch aus linguistischen Grammatiken gezeigt und diskutiert werden. Ein Suchauftrag in der Bibliothek oder zu einer Internetrecherche wird vermutlich zu dem Ergebnis führen, dass es keine Ausnahme bei der Reihenfolge gibt. Das lässt die Reihung - und damit verbundene Hierarchisierung - selbstverständlich erscheinen, obwohl es sich um eine Setzung handelt. • Auch sprachvergleichende Reflexionen können hier fruchtbar sein, so z. B. zum gesellschaftlichen Konstruktionscharakter, wenn es im Deutschen ‚das‘ Mädchen heißt. Auch andere Sprachen, in denen die Schüler*innen Kenntnisse haben, können hier auf ihre Genderspezifik hin befragt werden. Eine kritisch-reflexive Schreibaufgabe, bei der sich die produktive und reflexive Ebene gleichermaßen realisieren, ist schließlich das Umschreiben des Textes im Hinblick auf stereotype Markierungen und die Analyse der Wirkung des alten und neuen Textes („Récrivez une partie de l’histoire en changeant ce qui vous paraît stéreotype - maman depuis la cuisine vs. papa depuis la cuisine ou maman depuis le garage, il/ elle parle elle/ il-même etc.; quel est l’effet que cela vous donne? Expliquez vos décisions à votre voisin ou voisine, au groupe“). Darüber hinaus soll es hier auch gerade um die emotionalen Reaktionen der Lernenden gehen. Dies kann beispielsweise in einer abschließenden Plenums‐ diskussion geschehen, deren Leitfragen folgende sein können: „Que fera-t-il ou elle maintenant - avez vous des idées? “; „Comment trouvez-vous…? “; „Pourquoi riez-vous? “; „Cela vous semble crédible/ réaliste? Pourquoi/ pourquoi pas? “. Das Ziel der Diskussion ist es zu erkennen, dass es Zuordnungen von ‚weiblich*männlich‘ gibt, die oft klar erscheinen, aber subjektive Unsicherheit und ‚Nicht-Zugehörigkeit‘ hervorrufen können. 3.2.3 Über den Text hinaus In einer Anschlussreflexion kann eine Rückbindung an bekannte weitere Texte erfolgen: „Avez-vous aimé cette histoire? Pourquoi/ pourquoi pas? “; „Que pensez-vous par rapport au problème de Dominique? “; „Connaissez-vous d’autres textes, films, chansons, images qui traitent un sujet pareil? “. Weitere Texte - auch in medialer Bandbreite - könnten sich als ganzes Dossier um Il ou elle herum gruppieren. Exemplarisch sei hier verwiesen auf die Filme Girl (Dhont, 2019) oder Tomboy (Sciamma, 2011). Möglich ist ferner eine Weiterentwicklung der Text- und Medienkompetenz, indem ein Vergleich zwischen den Darstellungsoptionen von kontinuierlichen und diskontinuierlichen Texten erfolgt: „En revenons à nos jeux/ collages: quels 305 Il ou elle von Bernard Friot sont les différences esthétiques? “. Hier kann darauf abgehoben werden, dass Körpersprache ein Teil von Geschlechtsidentität ist. Dies ist im Spiel direkt beobachtbar, in Collagen jedoch nur bedingt. Auch die kulturelle Relativität von Zuschreibungen kann angeführt werden, wie es in Il ou elle auch ausge‐ führt wird: So schreibt Dominique das Augenschminken einem orientalischen Prinzen als normal zu, in ihrem*seinen eigenen kulturellen Kontext ist es dies nicht. Rollenvorbilder (Vater/ Rasur vs. Mutter/ Schminken), Räume der Freiheit und des ‚Experiments‘ wie Karneval oder Mottoparties können in der Diskussion weitere Impulse darstellen. 4 Fazit und Ausblick Literatur in der Sekundarstufe I kann - so sollte unser Beitrag zeigen - zur Beschäftigung mit komplexen Inhalten beitragen. Spracharbeit und Sprachre‐ flexion können zugleich verbunden werden. Dabei steht nicht die sprachliche Form im Vordergrund, sondern die Frage, was sprachliche Formen für subjektive und gesellschaftliche Bedeutungen einnehmen. Hier geht es wie bei Kramsch (2011) weniger darum, einen gegebenen Text zu analysieren und zu kommentieren, sondern darum, das eigene sprachliche Handeln zu einer Frage, die der Text aufwirft, zu beobachten. Es finden Sprach‐ reflexion und eine Sensibilisierung für (sprachliche) Machtstrukturen statt, die an - vermeintlich - einfachen und alltäglichen Phänomenen festgemacht werden. Dem Einwand, dies sei für die Diskussion in der Fremdsprache zu anspruchsvoll, sei hier mit dem Vorschlag begegnet, die ganzheitlichen pluralen Repertoires der Lerner*innen für die Diskussion zu nutzen. Zunächst in dem Sinne, dass bei dramapädagogischen - gegebenenfalls ‚stummen‘ - Aufgaben kommunikative Kompetenzen relevant werden, die sich jenseits von Ausgangs- und Zielsprache bewegen, also körpersprachliche Anteile einbringen, die auch etwas über das Textverständnis offenbaren können, obwohl - oder gerade weil - sie nicht sprachlich ‚eingehegt‘ wurden (siehe dazu ein Beispiel bei Schädlich, erscheint). Zweitens können in thematischen Diskussionen oder reflexiven Phasen auch andere Sprachen eine Rolle spielen, und zwar sowohl als Verkehrssprache wie auch als Gegenstand der Reflexion. In diesem Sinne lässt beispielsweise Kramsch die Gedichte, die ihre Deutschstudierenden in Anlehnung an Eichs Inventur verfasst haben, metasprachlich kommentieren. Hier können die Studierenden in der gemeinsamen Ausgangssprache Englisch den Schreibprozess und ihre Entscheidungen diskutieren und auf diese Weise den Text auch in seiner historisch-literarischen Dimension erfahrbar machen (vgl. Kramsch & Zhang, 2018, S. 163). 306 Dagmar Abendroth-Timmer & Birgit Schädlich Literaturunterricht in der Sekundarstufe I kann durch den emotional-lebens‐ weltlichen Bezug und durch die Nutzung von Mehrsprachigkeit bzw. dem plu‐ ralen Repertoire der Lerner*innen interessant werden: lebensweltlich relevante Themen und DIskussionen stehen im Mittelpunkt und die Lernenden werden handelnd involviert. Dies kann zum einen zu der Erkenntnis sprachlicher Kon‐ struiertheit von Wirklichkeit führen. Es bleibt den Lehrenden zu entscheiden, wie stark eine emotionale Involviertheit in das Thema für die jeweilige Gruppe zuträglich ist und welche der vorgeschlagenen Aufgaben geeignet erscheinen. Gerade kreative Verfahren ermöglichen es aber den Lernenden auch, einen emotionalen Schutzraum einzunehmen und sich zu erproben. Dies ist eine wesentliche Entwicklungsaufgabe und unterstützt wiederum kritische Reflexi‐ onsprozesse im Sinne einer symbolischen Bildung. Literatur Abendroth-Timmer, Dagmar & Gerlach, David (2021, erscheint). Handlungsorientierung im Fremdsprachenunterricht: Eine Einführung. Stuttgart: Metzler. Block, David (2014). Moving beyond ‚lingualism’. Multilingual embodiment and multi‐ modality in SLA. In Stephen May (Hrsg.) The multilingual turn: implications for SLA, TESOL, and bilingual education (S. 54-77). New York: Routledge. Caspari, Daniela (2003). Kinder- und Jugendkrimis aus französischen Verlagen. Fremd‐ sprachenunterricht 4, 266-268. Caspari, Daniela (2005). Fabeln als Aufgabe - Aufgaben für Fabeln. Praxis Fremdspra‐ chenunterricht 4, 45-47. Caspari, Daniela (2008). Literarische Texte im Französischunterricht: Rückblick und Ausblick. 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In Katharina Delius, Carola Surkamp & Andreas Wirag (Hrsg.) 307 Il ou elle von Bernard Friot Handlungsorientierter Fremdsprachenunterricht empirisch: Studien zu schulischen und universitären Lehr-/ Lernkontexten. Göttingen: Universitätsverlag. Dhont, Lukas (2019): Girl. Paris: Diaphana. Diehr, Bärbel & Surkamp, Carola (2015). Die Entwicklung literaturbezogener Kompe‐ tenzen in der Sekundarstufe I: Modellierung, Abschlussprofil und Evaluation. In Wolfgang Hallet, Carola Surkamp & Ulrich Krämer (Hrsg.) Literaturkompetenzen Englisch. Modellierung - Curriculum - Unterrichtsbeispiele (S. 21-40). Seelze: Klett/ Kallmeyer. Friot, Bernard (1988). Histoires pressées. Toulouse: Éditions Milan Poche. Gerlach, David (Hrsg.) (2020). Kritische Fremdsprachendidaktik: Grundlagen, Ziele, Bei‐ spiele. Tübingen: Narr. Holzbrecher, Alfred (2013). Interkulturelles Lernen als Unterrichtsgegenstand: Allge‐ meindidaktische Perspektiven. In ders. (Hrsg.) Die interkulturelle Schule (Kap. 2.3, S. 185-219). 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Il/ elle s’enferme dans la salle de bains. Il/ elle allume le néon au-dessus du miroir. Sur la tablette sont rangés : à droite, rasoir, mousse à raser, lotion après rasage ; à gauche, tubes de rouge à lèvre, fard à paupières, fard à joues, mascara… Il/ elle hésite un instant, puis tend la main vers la droite. Il/ elle prend la bombe de mousse à raser, presse une grosse noix de mousse sur le bout de ses doigts et, maladroitement, s’en enduit les joues. Bien sûr, il/ elle n’a pas de barbe, pas un poil, mais qui sait ? , peut-être que ça aide de faire semblant… Il/ elle manie le rasoir avec précaution et, très vite, trouve le bon geste. La lame effleure la peau, sans la blesser. Rien d’étonnant après tout : il/ elle a si souvent observé papa. Après le rasage, l’après rasage. Ça picote un peu. Et maintenant ? Il/ elle se regarde dans la glace. Il faut essayer autre chose. Le rouge à lèvres. Comment fait maman, déjà ? Il/ elle avance ses lèvres en les ouvrant pour dessiner un petit O et passe le bâton de rouge en s’appliquant, en essayant de ne pas déborder, comme lorsqu’il/ elle colorie un dessin. Là. Puis il/ elle pince les lèvres, les roule l’une sur l’autre, comme maman exactement… — Tu peux venir goûter, c’est prêt ! C’est ma mère qui appelle depuis la cuisine. Mais il/ elle hausse les épaules. Il/ elle n’a pas faim. Il/ elle a mieux à faire que d’aller goûter. Il/ elle noircit ses cils d’un peu de mascara, puis trace un trait de khôl sous chaque œil. Comme cela change son regard ! Il/ elle a l’air d’un prince oriental. Ou d’une princesse. Pourquoi se dessine-t-il/ elle aussi, avec le crayon khôl, une fine mous‐ tache ? Et pourquoi la corrige-t-il/ elle en étalant une touche de fard sur ses paupières ? Il/ elle ne sourit pas en faisant tout cela, on sent qu’il/ elle s’applique, qu’il/ elle cherche dans le visage que reflète le miroir quelque chose qu’il/ elle ne trouve pas. 310 Dagmar Abendroth-Timmer & Birgit Schädlich Il/ elle regarde autour de lui/ d’elle. Une cravate est accrochée au porteman‐ teau fixé sur la porte. Il/ elle la décroche et se la noue autour du cou. Puis, pour rétablir l’équilibre, il/ elle pince à ses oreilles deux clips dorés trouvés dans la boîte à bijoux de sa mère. — Dominique, tu te décides, oui ou non ? Se décider ? Pourquoi, vraiment ? Il/ elle se contemple dans la glace : rouge à lèvres, moustache, fard à paupières, cravate… Parfait, c’est parfait comme ça. Alors, non, il/ elle ne décidera pas. Pas aujourd’hui, pas encore, en tout cas. Histoires pressées / Bernard Friot ; © 1998 Éditions Milan 311 Il ou elle von Bernard Friot Von der Idee zum Text - Begleitung und Konzeption von empirischen Masterarbeiten in der Fremdsprachendidaktik an der Universität Bremen Georgia Gödecke Nicht selten gehen für Lehramtsstudierende Studium, Praxisphase und Ab‐ schlussarbeit Hand in Hand. Einer ‚echten‘ Arbeit nachzugehen und auf Grund der gemachten theoretischen und praktischen Erfahrungen eine fach‐ didaktische Masterarbeit anzufertigen, kann den Übergang von der Phase der wissenschaftlichen Qualifizierung in den Berufseinstieg erleichtern. Ebenso kann durch die Ausarbeitung einer solchen Arbeit das Interesse geweckt werden, auch nach Studienabschluss forschend tätig zu sein und sich im jeweiligen Fachgebiet zu etablieren. Es ist also lohnend, fachdidaktische Abschlussarbeiten fokussierter als bisher in den Blick zu nehmen. Der vorlie‐ gende Beitrag plädiert dafür, ein stärkeres Bewusstsein hinsichtlich der Kon‐ zeption und Begleitung von fachdidaktischen Masterarbeiten zu gewinnen und damit die Nachwuchsförderung speziell in der Fremdsprachendidaktik schon früher als bisher anzusetzen. In der Didaktik der romanischen Sprachen der Universität Bremen wird die Entwicklung fachdidaktischer Masterarbeiten durch ein präzise ausgear‐ beitetes Lehrveranstaltungskonzept unterstützt, das im Zentrum des vorlie‐ genden Beitrags steht und im Folgenden vorgestellt wird. In diesem Rahmen wird auch der Aufbau einer fachdidaktischen Masterarbeit und des damit verbundenen Kolloquiums aufgezeigt. Ein Akzent liegt dabei auf der Ausein‐ andersetzung mit fachspezifischer Sprachlichkeit, die in der fremdsprachen‐ didaktischen Forschung bislang ein Desiderat darstellt, bei der Gestaltung einer fachdidaktischen Arbeit jedoch eine zentrale Rolle einnimmt. 1 Einführung Bislang existieren in der romanistischen Fachdidaktik nur sehr wenige Ausein‐ andersetzungen, die sich auf die Begleitung von Abschlussarbeiten beziehen. Anhaltspunkte bieten jedoch die Leitfäden von Corinna Koch (2018) und Marcus Bär (2020), die eine Art Richtschnur zur Erstellung von Abschlussarbeiten darstellen. Welche fachspezifischen Themenbereiche tatsächlich bearbeitet werden und wie sich in diesem Zusammenhang die konkrete Betreuung der Masterabsolvent*innen auf universitäter Seite gestaltet, geht aus den Leitfäden nicht unmittelbar hervor. Über beide Bereiche muss man sich jedoch gezielt Gedanken machen, da eine solche Unterstützung auf entscheidende Weise zu Erkenntnisgewinn und Innovation beitragen kann. Die Fremdsprachendidaktik bzw. -forschung ist ein dynamisches Feld, das sich kontinuierlich weiterentwickelt. Hinsichtlich der Themenauswahl einer Abschlussarbeit in diesem Bereich ist es für den Erwerb von beruflichen Handlungskompetenzen daher sinnvoll, ein aktuelles, fachdidaktisch relevantes Thema auszuwählen und bei der Bearbeitung Theorie- und Praxisperspektiven in ein wechselseitiges Verhältnis zueinander zu bringen. Aus Sicht der Praxis kann ein Thema für eine Abschlussarbeit beispielsweise dann von Bedeutung sein, wenn es einen konkreten Nutzen hat bzw. einen unmittelbaren Berufsfeld‐ bezug aufweist - im Rahmen des Lehramtsstudiums in der Romanistik zum Beispiel durch die Entwicklung von direkt einsetzbaren Unterrichtsmaterialien im Fremdsprachenunterricht. Aus Theorieperspektive wäre ein Thema indes geeignet, wenn es von wissenschaftlicher Relevanz ist und einen Beitrag zu Theoriebildung leisten kann. Werden in einer fachdidaktischen Masterarbeit beide Perspektiven zielführend miteinander verbunden - schließlich bezieht sich Theorie immer auch auf Praxis und umgekehrt -, geht aus der Arbeit ein Erkenntnisgewinn einher, der das sich gegenseitig Ergänzende in den Mittel‐ punkt rückt und damit sowohl Theorie als auch Praxis bereichert. Gleichzeitig kann eine solche Abschlussarbeit als Ausgangspunkt dienen, um den jeweiligen Themenschwerpunkt im Rahmen einer Promotion vertieft zu bearbeiten. Es würde sich also durchaus lohnen, einen Überblick über die wich‐ tigsten Themencluster aktueller fremdsprachendidaktischer Masterarbeiten zu erhalten, um in diesem Feld Themen und Trends sichtbar zu machen. Diese können einen besonderen Indikator für Entwicklungen im Forschungsfeld darstellen, die aktuelle Tendenzen in der Fremdsprachendidaktik aufgreifen und auf Theorie- und Praxisebene sogar vorantreiben - womöglich auch in Hinblick auf das Qualifikationsziel Promotion. 314 Georgia Gödecke 1 Eine ausführliche Modulbeschreibung am Beispiel Französisch finden Sie unter: http: / / www.fb10.uni-bremen.de/ romanistik/ module/ FD5-frz.pdf [30.11.2020]. Eine solche Form der Bewusstmachung und Förderung des wissenschaft‐ lichen Nachwuchses der Fremdsprachendidaktik unternimmt zugleich den Versuch, das Schaffen und Wirken von Daniela Caspari zu würdigen, die sich in ihrer Tätigkeit als Professorin der Didaktik der romanischen Sprachen und Li‐ teraturen stets für Nachwuchsförderung eingesetzt und zahlreiche Studierende auf ihre berufliche Tätigkeit in Wissenschaft und/ oder Schule vorbereitet hat. 2 Abschlussmodul zur Begleitung von Masterarbeiten in der Didaktik der romanischen Sprachen der Universität Bremen Wenn sich Studierende der Universität Bremen mit der Idee tragen, ihre Mas‐ terarbeit in der Didaktik der romanischen Sprachen zu verfassen, belegen sie das Abschlussmodul Fachdidaktik Französisch bzw. Spanisch. Dieses FD5-Modul 1 , das 2010 erstmals von dem Leiter des Arbeitsgebiets Andreas Grünewald konzipiert und in der Folge mehrperspektivisch weiterentwickelt wurde, um‐ fasst ein wöchentlich stattfindendes Seminar und erstreckt sich über zwei Semester (i. d. R. 3. und 4. Mastersemester). In diesem Rahmen werden die Französisch- und Spanischstudierenden bei der Themensuche, der Formulie‐ rung des Erkenntnisinteresses und der Forschungsfragen sowie der Gestaltung und Reflexion ihrer Forschungsdesigns begleitet. Dabei ist eine grundsätzliche Entscheidung der Ausrichtung der Arbeit zu fällen: theoretisch-konzeptionell, historisch und empirisch (vgl. Klippel, 2016a, S. 25ff.). Die Studierenden treffen aus diesen Forschungstraditionen eine Auswahl und legen sich dabei auf eine individuelle Themen- und Methodenwahl fest: So können sie beispielsweise über literatur- und sprachdidaktische Fragestellungen schreiben, eine Lehr‐ werkanalyse unter bestimmten fachdidaktischen Schwerpunkten vornehmen oder im Rahmen empirisch ausgerichteter Studien spezifischen Fragestellungen nachgehen, die ihnen im Rahmen der vorausgegangenen Praxisphase aufge‐ fallen sind und mit denen sie sich intensiver auseinandersetzen möchten. Da der Fremdsprachenunterricht und dementsprechend die Fremdsprachenforschung ein dynamisches, sich stetig weiterentwickelndes Feld darstellen, ist auch das Themenspektrum der fachdidaktischen Masterarbeiten breit aufgestellt: Aktuelle Tendenzen beziehen sich u. a. auf die Professionalisierung und das Professionswissen von (angehenden) Fremdsprachenlehrkräften, den Einsatz 315 Von der Idee zum Text: Begleitung und Konzeption empirischer Masterarbeiten 2 Einen Eindruck über das breite Spektrum an Themen erhalten Sie, wenn Sie sich die Titel vergangener Masterarbeiten anschauen: https: / / www.didrom.uni-bremen.de/ projekte/ abschlussarbeiten/ [30.11.2020]. digitaler Medien im Fremdsprachenunterricht sowie auf good-practice-Beispiele zum Sprachenlernen in inklusiven Settings. 2 Im Rahmen der Begleitveranstaltung finden daran anknüpfend Workshops zu unterschiedlichen Erhebungsinstrumenten wie Leitfadeninterviews, Frage‐ bögen, Lerner*innenartefakten oder Videografie statt, in deren Rahmen ins‐ besondere auch die Passgenauigkeit der einzelnen Instrumente für die indi‐ viduellen Masterarbeitsprojekte abgewogen wird. Ebenso werden mögliche Auswertungsstrategien vor dem Hintergrund der jeweils individuellen Zielset‐ zungen diskutiert und in praktischen Übungen umgesetzt. Als Unterstützung für den Forschungsprozess dienen Schreibretreats, die praxisorientierte Methoden und Strategien im Bereich des wissenschaftlichen Schreibens in der Fremdsprachendidaktik aufzeigen. Neben diesen fachspezi‐ fischen Impulsen lernen die Studierenden zudem auf überfachlicher Ebene, wie Inhalte klar strukturiert und verständlich formuliert werden können. Für ausgewählte Schwerpunktbereiche werden zusätzlich regelmäßig Expert*innen eingeladen, zum Beispiel wenn es um spezifische Strategien des Paraphrasierens bzw. Referenzierens geht. In diesem Kontext stehen u. a. folgende Fragen zur Diskussion: Wie kann deutlich gemacht werden, dass ein dargestellter Inhalt nicht der eigene ist bzw. wie können die eigenen Ideen von denjenigen anderer Autor*innen abgegrenzt werden? Und wo fängt eigentlich Plagiarismus an? Darüber hinaus organisieren die Lehrenden des FD5-Moduls einmal pro Durchgang in der zweiten Hälfte des Seminars (= Sommersemester) eine studentische Konferenz. In diesem Rahmen wird ein*e externe*r Gastredner*in eingeladen, der*die im Sinne einer Eröffnung zunächst einen kurzen Überblick über die aktuellen Leitfragen der fremdsprachendidaktischen Forschung gibt. Im unmittelbaren Anschluss an diese Auseinandersetzung mit den Grundzügen des aktuellen fremdsprachendidaktischen Diskurses und die daraus entstandene Rahmung überlegen die Studierenden des FD5-Moduls, in welchem Teilbereich sie sich mit ihren individuellen Masterarbeitsvorhaben verorten können. Im zweiten Abschnitt der Veranstaltung präsentieren drei bis vier Studierende ihren jeweiligen aktuellen Planungsstand und stellen ihn zur Diskussion - verbunden mit einer konkreten Fragestellung, die zu diesem Zeitpunkt für gewöhnlich im Bereich der Datenauswertung und/ oder Ergebnissicherung liegt. Der*die eingeladene Gastredner*in gibt in diesem Teil im Sinne eines critical friend kritisches und konstruktives Feedback. Eine solche studentische Konferenz erscheint insofern sinnvoll, als dass die Studierenden in einem 316 Georgia Gödecke 3 Das Datenblatt im PDF-Format ist zur Ansicht verfügbar unter: https: / / www.didrom .uni-bremen.de/ wp-content/ uploads/ 2020/ 11/ Datenblatt_FD5.pdf [30.11.2020]. bewertungsfreien Raum zusätzliche professionelle und mehrperspektivische Beratung erhalten. Während die Möglichkeit, im Rahmen der studentischen Konferenz den ei‐ genen Forschungsstand vorzustellen, auf Freiwilligkeit beruht, gehören zu dem FD5-Modul obligatorische Studienleistungen. Diese umfassen ein Exposé, das von den Erst- und Zweitgutachter*innen kommentiert wird, sowie regelmäßig stattfindende Kurzpräsentationen in Form von Pitches, in deren Rahmen die Studierenden kurz und prägnant den Status quo ihres eigenen Forschungspro‐ jekts offenlegen. Die einzelnen Entwicklungsschritte und prozessorientierten Rückmeldungen ihrer Masterarbeiten halten die Studierenden in einer Art Forschungstagebuch fest, das sich als eine Mischung aus Arbeits- und Notiz‐ instrument versteht. Dieses wird in analoger oder digitaler Form mit Fragen, Ideen, Problemen, Hypothesen, aber auch Erkenntnissen angereichert und von den Studierenden als ihr persönliches Studienbuch betrachtet. Ein Bestandteil des Forschungstagebuchs besteht aus einem Datenblatt, das je nach aktuellem Stand der Masterarbeit sukzessive aktualisiert wird und als Grundlage für die Einzelbesprechungen mit den Dozent*innen des FD5-Moduls dient. Vor diesem Hintergrund ist das Datenblatt das einzige Dokument aus den individuellen Forschungstagebüchern der Studierenden, das nicht allein in ihrem persönli‐ chen Bereich verbleibt, sondern dem öffentlichen Teil zugeordnet ist. 3 3 Der Aufbau einer fachdidaktischen empirischen Masterarbeit Grundsätzlich steht es den Studierenden frei, zwischen einer konzeptionelltheoretischen, einer historischen oder einer empirischen Ausrichtung ihrer Masterarbeit zu wählen. Konzeptionell-theoretisch zu arbeiten bedeutet, für eine spezifische Fragestellung den Stand der Forschung zusammenzufassen sowie integrativ und reflektiert darzustellen. Darauf aufbauend ist es möglich, die Entwicklung eines methodischen Ansatzes, Modells oder Unterrichtsarran‐ gements anzuschließen. Die Beschäftigung mit der Geschichte der Fremdsprachendidaktik hingegen fällt in die Tradition der historischen Forschung, die sich in einer „rückbli‐ ckenden Analyse von Entwicklungen, Theorien, Praktiken, Materialien und institutionellen sowie individuellen Lehr-/ Lernsituationen“ (Klippel, 2016b, S. 32) manifestiert. 317 Von der Idee zum Text: Begleitung und Konzeption empirischer Masterarbeiten Empirisch zu arbeiten bezieht sich indes auf die (theoriebasierte) Entwicklung von Forschungsfragen und ein theoriebasiertes Erheben und Auswerten von Daten - z. B. in der Schule oder Universität oder auch anhand von Lehr-Lern‐ materialien -, aus denen begründete Konsequenzen für den Fremdsprachenun‐ terricht oder die Fremdsprachenlehrkräfteausbildung abgeleitet werden. Da sich die Mehrheit der Studierenden für einen datengeleiteten Erkenntnisgewinn entscheidet, wird im Folgenden der Leitfaden für die Entwicklung einer empi‐ rischen Masterarbeit vorgestellt. Mit Empirie wird hier eine wissenschaftliche Methode beschrieben, die auf systematisch gewonnenen Daten beruht, um neue Erkenntnisse zu erwerben; die Studierenden bertreiben in diesem Rahmen eigene Forschung. Wie auch für alle anderen Varianten stehen den Studierenden bei einer empi‐ rischen Masterarbeit maximal 150.000 Zeichen (ohne Leerzeichen und Anhang) zur Verfügung. Neben formalen Bestandteilen wie Titelblatt, Inhaltsverzeichnis etc. wird ihnen auf inhaltlicher Ebene empfohlen, den Textteil ihrer empirischen Arbeit in sieben Kapitel zu strukturieren (s. Tabelle 1). Diese Struktur, die im Folgenden aufgezeigt wird, stellt jedoch nur eine Orientierung dar und sollte passend zum jeweiligen Themenschwerpunkt ausdifferenziert werden. 1. Einleitung 2. Theoretischer Teil/ Forschungsstand 3. Forschungsdesign 4. Forschungsentscheidungen und -verfahren 5. Auswertung der Daten und Ergebnisdarstellung 6. Diskussion 7. Fazit Tab. 1: Struktur einer empirischen Masterarbeit in der Didaktik der romanischen Sprachen der Universität Bremen 1. Einleitung In der Einleitung geht es um den Einstieg in das Thema. In diesem Rahmen können die Studierenden zwischen verschiedenen Einstiegsmöglichkeiten eine Auswahl treffen: Denkbar sind Zitate, Definitionen, Befunde mit aktueller Relevanz oder eine provokante Behauptung, die die Aufmerksamkeit der 318 Georgia Gödecke Leser*innen von Anfang zu sichern versucht. Ebenso sind Kombinationen aus den einzelnen Komponenten möglich. Im Anschluss an diesen Eröffnungsteil werden die Ausgangslage und der Handlungsdruck aufgezeigt. Es bietet sich an, in diesem Teil bereits auf verein‐ zelte Publikationen einzugehen, die sich auf den aktuellen Forschungsstand beziehen. So wird gleich zu Beginn deutlich gemacht, dass die Arbeit an einschlägige Fachliteratur und Diskurse anknüpft, auf die im Sinne eines roten Fadens in den späteren Kapiteln ausführlich Bezug genommen wird. Aus dem offengelegten Handlungsdruck, der ggfs. bereits mit dem Aufzeigen von For‐ schungslücken einhergeht, wird sodann die zentrale Forschungsfrage inklusive eventueller Teilfragestellungen abgeleitet. Sinnvoll ist es, in diesem Rahmen die Bedeutung des Themas für die fremdsprachendidaktische Forschung deutlich zu machen, um den Fachbezug von Anfang an sicherstellen zu können. Im letzten Teil der Einleitung empfiehlt es sich, passend zur thematischen Schwerpunktsetzung die gewählte Ausrichtung der Arbeit zu begründen sowie den Aufbau der Arbeit zu skizzieren. Als Orientierung bietet sich dabei folgende Leitfrage an: In welcher Reihenfolge wird die Fragestellung im Rahmen der Arbeit bearbeitet und aus welchen Gründen? 2. Theoretischer Teil/ Forschungsstand Im theoretischen Teil der Arbeit entfalten die Studierenden ihr Thema, indem sie es sinnvoll in Ober- und Unterkapitel strukturieren. Übergänge zwischen den Kapiteln oder auch Zwischenfazits können im Sinne der Leser*innenführung sowie zur Gewährleistung eines roten Fadens nützlich sein. Auf inhaltlicher Ebene umfasst der Theorieteil zentrale themenbezogene Begriffe, Ansätze, Modelle und Befunde aus der Fachliteratur, die nicht nur vorgestellt, sondern auch zueinander in Beziehung gesetzt und kritisch reflektiert werden sollten. Eigene Argumentationslinien, Stellungnahmen, Hypothesen etc. müssen als solche kenntlich gemacht und erläutert werden. Eine Veranschaulichung durch konkrete Beispiele bietet sich in diesem Zusammenhang besonders an. Da sich die Fremdsprachendidaktik in einem Netz aus Bezugsdisziplinen bewegt, bietet es sich bei vielen Themenschwerpunkten (z. B. im Bereich des interkulturellen Lernens, der Grammatik- und Wortschatzarbeit oder der Arbeit mit digitalen Medien) an, Bezüge zu den Fachwissenschaften und der Bildungs‐ wissenschaft herzustellen. Ebenso sollten die jeweiligen bildungspolitischen Vorgaben berücksichtigt werden, zu denen u. a. der Gemeinsame europäische Referenzrahmen, die Bildungsstandards und Strategien (z. B. zur digitalen Bildung) der Kultusministerkonferenz sowie die Kernbzw. Bildungspläne etc. gehören. In diesem Rahmen können die Relevanz des jeweiligen Themas 319 Von der Idee zum Text: Begleitung und Konzeption empirischer Masterarbeiten 4 Die Länge eines solchen Unterrichtselements variiert je nach Themenschwerpunkt und reicht von flexibel einsetzbaren Unterrichtsbausteinen bis hin zu in sich geschlossenen Einheiten von ca. 3-4 Unterrichtsstunden. belegt sowie die damit verbundenen (Kompetenz-)Erwartungen berücksichtigt werden. Grundsätzlich gilt für den gesamten Theorieteil, immer wieder einen begrün‐ deten Bezug zur zentralen Fragestellung aus der Einleitung herzustellen sowie den Zusammenhang zwischen dem theoretischen und empirischen Teil der Arbeit deutlich zu machen. 3. Forschungsdesign Aufbauend auf ihren vorausgegangenen theoriebasierten Auseinanderset‐ zungen entwickeln die Studierenden im Rahmen ihrer empirischen Masterarbeit beispielsweise ein Unterrichtselement in Form eines Lehr-Lernarrangements 4 , das in der Schulpraxis im Präsenzunterricht oder im Distance Learning eingesetzt und anschließend durch den Einsatz von Fragebögen, Interviews, teilnehmender Beobachtung, Videografie o. Ä. untersucht wird. Bei der Entwicklung und Vorstellung eines solchen Lehr-Lernarrangements müssen Lernziele, Methoden, Sozialformen, Niveau und Alter der Lernenden sowie Differenzierungsmöglich‐ keiten mitgedacht werden. Als Alternative zu der Entwicklung und Umsetzung eines Unterrichtskon‐ zepts ist es ebenso denkbar, subjektive Theorien von Lehrpersonen zu einer be‐ stimmten fremdsprachendidaktischen Fragestellung zu untersuchen. Subjektive Theorien können dabei nach Daniela Caspari „sowohl aus bewussten wie auch aus impliziten, dem Bewusstsein der Personen nicht zugänglichen Kognitionen bestehen und weisen eine zumindest implizit Argumentationsstruktur auf “ (Caspari, 2016, S. 71). In diesem Rahmen entwickeln die Studierenden theorieba‐ siert einen Interviewleitfaden, um die Vorstellungen über das Lehren und Lehren einer Person zu dem jeweils ausgewählten fachdidaktischen Schwerpunkt re‐ konstruieren zu können (z. B. in Hinblick auf die Verwendung und Vermittlung von Sprachvarietäten im Fremdsprachenunterricht). Als weitere Alternative zu den zuvor genannten Varianten kann in einer empirischen Arbeit je nach Themenschwerpunkt und Fragestellung z. B. auch die Analyse von Lehr-Lernmaterialien wie Lehrwerken im Zentrum stehen. In diesem Fall müssen die Materialien in diesem Teil der Arbeit vorgestellt werden. Eine solche Beschreibung umfasst Angaben bezüglich folgender Aspekte: (Lehr‐ werks-)Autor*innen, ggfs. Reihe, Erscheinungsjahr, Aufbau der Materialien, mediale Ausstattung bzw. Konzeption, Zielgruppe, curriculare Kalibrierung, angestrebte Kompetenzziele etc. 320 Georgia Gödecke 4. Forschungsentscheidungen und -verfahren Die Teile 3 und 4 sind eng miteinander verbunden: Der Untersuchungsplan, der im Zentrum dieses Teilkapitels steht, umfasst die Gesamtheit aller Entschei‐ dungen und Verfahren hinsichtlich des empirieorientierten Vorgehens. Zur Entwicklung des empirischen Teils stehen dabei unterschiedliche Methoden zur Verfügung: Grundsätzlich kann zwischen einem quantitativ messenden und einem qualitativ verstehenden Vorgehen unterschieden werden, welche jedoch im Kontext bestimmter Fragestellungen auch miteinander kombiniert werden können. Mit Rückbezug auf die Fragestellung bietet es sich in diesem Teil der Arbeit zunächst an, das gewählte Verfahren kurz zu begründen. Daran anschließend sollten der Zugang zum Feld und die Stichprobe beschrieben werden. Im Rahmen einer Interviewstudie könnte man in diesem Zusammenhang beispiels‐ weise folgende Frage aufgreifen (vgl. Wolff, 2000, S. 334f.): Wie gelang es, mit dem Forschungsfeld in Kontakt zu treten und das Gegenüber zur Mitwirkung zu bewegen? Die Folgefrage, nämlich wie sich der*die Forscher*in selbst im Verhältnis zum Feld positioniert hat, damit eine sachgerechte Durchführung der geplanten Forschungsarbeit gewährleistet werden konnte (ebd.), bildet sodann einen idealen Übergang zu einer Auseinandersetzung mit den für die Arbeit jeweils relevanten Gütekriterien qualitativer bzw. quantitativer Forschung. Anschließend wird das Vorgehen bei der Datenerhebung, -aufbereitung- und -auswertung erläutert sowie die Durchführung (Ablauf, Rahmenbedingungen, ggfs. Herausforderungen etc.) beschrieben. 5. Auswertung der Daten und Ergebnisdarstellung In Anbetracht der begrenzten Zeichenanzahl, aber auch in Hinblick auf die Gewährleistung einer angemessenen Leser*innenfreundlichkeit, bietet es sich an, umfassende Analyseprozesse nicht in den Haupttext der Arbeit mit auf‐ zunehmen, sondern im Anhang transparent zu machen und systematisch aufzubereiten (vgl. Gödecke, 2020, S. 5). In diesem Fall dient das 5. Kapitel dazu, die zentralen Aspekte aus den Analyseprozessen (z. B. Einzelfallanalysen) komprimiert darzustellen und mit Rückbezug auf die Forschungsfrage zu in‐ terpretieren. Daraus sollten in einem weiteren Schritt Konsequenzen für die Gestaltung von Fremdsprachenunterricht abgeleitet werden. 6. Diskussion Nachdem die zentralen Ergebnisse vorgestellt wurden, sollten sich die Studie‐ renden am Ende ihrer Arbeit noch einmal kritisch mit der Qualität und Reich‐ weite ihrer gewonnenen Ergebnisse auseinandersetzen. Daran anknüpfend 321 Von der Idee zum Text: Begleitung und Konzeption empirischer Masterarbeiten ist es sinnvoll, das forschungsmethodische Vorgehen zu diskutieren und sich beispielsweise folgenden Fragen zu widmen: Inwieweit war die Auswahl der Erhebungsinstrumente zielführend bzw. welchen Einfluss hatte sie auf die Forschungsergebnisse? Welche Rolle spielte die Forscher*innensubjektivität während der Erhebung und Auswertung? Haben sich Leerstellen im Rahmen des Auswertungsprozesses ergeben? 7. Fazit Im Rahmen des Fazits empfiehlt es sich, einen Rückbezug zur Einleitung vorzunehmen und die zentralen Erkenntnisse der Arbeit zusammenzufassen. Haben sich Leerstellen im Rahmen des Auswertungsprozesses ergeben (vgl. Punkt 6 Diskussion), können darauf aufbauend offene Fragen oder weitere Forschungsdesirate im Bereich des gewählten Themenschwerpunkts formuliert werden. 4 Das Kolloquium Nach der Abgabe der Masterarbeit fehlt noch ein weiterer, letzter Schritt, bevor das Studium final abgeschlossen ist: das Kolloquium. Zu diesem Teil werden die Studierenden nur zugelassen, wenn die Masterarbeit bestanden wurde. Das Kolloquium findet demnach zu einem Zeitpunkt statt, an dem beide Gutachter*innen die Arbeit bereits korrigiert sowie ihre Gutachten erstellt und beim Prüfungsamt eingereicht haben. Grundsätzlich besteht das Kolloquium aus zwei Teilen von jeweils ca. zwölf Minuten: Im ersten Abschnitt präsentieren die Studierenden ihre Masterarbeit in französischer bzw. spanischer Sprache und greifen in diesem Rahmen auf Karteikarten, Bildschirmpräsentationen, Handouts etc. zurück, um ihre Visualisierungs- und Präsentationskompetenz sowie die Strukturiertheit ihres Vortrags zu demonstrieren. Inhaltlich geht es darum, noch einmal die Relevanz des Themas und der eigenen Untersuchung zu verdeutlichen und die Erkenntnisse durch Fachwissen und -kompetenz zu unterstreichen. Dazu explizieren die Studierenden für gewöhnlich zunächst das Erkenntnisinteresse sowie den Aufbau ihrer Arbeit und reflektieren daran anknüpfend das methodische Vorgehen und die zentralen Ergebnisse. Im Anschluss an diese Präsentation erfolgt ein Austausch in deutscher Sprache. Dazu gehen die Prüflinge auf Fragen der Gutachter*innen ein, die u. a. Informationsfragen, Rückfragen, Begründungs- und Zukunftsfragen umfassen können. Im Anschluss an diesen zweiten Teil verlassen die Studierenden den Prü‐ fungsraum und warten, bis sich die Gutachter*innen beraten haben. Schluss‐ 322 Georgia Gödecke endlich wird den Studierenden ihre Note für die Masterabeit und das Kolloquium bekanntgegeben. In diesem Rahmen gehen die Gutachter*innen auch noch einmal auf ihre erstellten Gutachten ein, die die Studierenden beim Prüfungsamt in ausführlicher schriftlicher Form einsehen können. 5 Fachspezifische Sprachlichkeit Was ist unter fachspezifischer Sprachlichkeit in der Fremdsprachendidaktik zu verstehen und welche Rolle spielt sie im Rahmen von Masterarbeiten? In der fremdsprachendidaktischen Forschung stellt eine Auseinandersetzung mit dieser Frage bislang ein Desiderat dar (vgl. Gödecke, S. 2020). Dieser Umstand ist umso erstaunlicher, als dass nach Hallet (2014) jedes Fach über fachsprachliche Systeme verfügt. Bezogen auf die Fremdsprachendidaktik gehören dazu sowohl in mündlichen als auch schriftlichen Ausdrucksformen (im Folgenden nach Gödecke, 2020, S. 297f.): • der Einbezug einer angemessenen Fachterminologie, um sich in dem fremdsprachendidaktisch-wissenschaftlichen Diskurs bewegen zu können, • die sprachlich wie inhaltliche korrekte Verwendung grundlegender theo‐ retischer Trends in der Fremdsprachendidaktik (z. B. der Bereich Mehr‐ sprachigkeit) sowie • dazugehörige Schlüsselbegriffe und didaktisch-methodische Prinzipien (z. B. Lerner*innen- und Prozessorientierung, Handlungsorientierung, Aufgabenorientierung), • der kompetente Umgang mit fachspezifischen Quellen und Zitationen, • der Einbezug der Fremdsprache (z. B. bei der Entwicklung von Unter‐ richtsmaterialien, der Erstellung von Unterrichtsrastern, die die kon‐ kreten Aufgabenstellungen in der Fremdsprache aufweisen, oder dem Einbezug fremdsprachlicher Schüler*innenprodukte), • ein Bereich der Fachsprache, der nicht unbedingt fremdsprachlicher oder fremdsprachendidaktischer Natur ist: die adäquate Verwendung von Be‐ griffen wie „Legitimation“, „Didaktische Reduktion“, „Lebensweltbezug“ oder „Sachanalyse“, die u. a. durch die Erstellung eines umfassenden Unterrichtsentwurfs eingeübt werden kann. Als einfache Gleichung könnte die These aufgestellt werden: Je differenzierter die fachspezifische Sprache im Rahmen einer Masterarbeit ausfällt, desto qualitativ hochwertiger ist auch die Qualität dieser Arbeit. So einfach ist es al‐ lerdings nicht: Die Gutachter*innen müssen bei der Lektüre sehr aufmerksam 323 Von der Idee zum Text: Begleitung und Konzeption empirischer Masterarbeiten sein, denn nicht selten sind Darstellungen und wissenschaftliche Bezüge vorhanden, die sich in einer Art unverbundenem „Namedropping“ oder in einem „Dropping“ von Schlagbegriffen erschöpfen. Es reicht jedoch nicht aus, Begriffe nur fallen zu lassen, denn dann sind sie nur Worthülsen, und das Wissen bleibt in einem statischen Wissensbegriff verhaftet. Wichtig sind der reflektierte Umgang mit Prinzipien, notwendige Auseinandersetzungen und Abwägungen und damit die Einbettung in den eigenen Erfahrungskontext. Ansonsten besteht die Gefahr eines pseudowissenschaftlichen Stils, indem Behauptungen aufgestellt werden, die nur scheinbar wissenschaftlich sind, aber die Ansprüche an Wissenschaftlichkeit wie das Kriterium der Nachprüf‐ barkeit nicht erfüllen (vgl. ebd.). Es ist daher im Rahmen des FD5-Moduls aus fachdidaktischer Perspektive sinnvoll und aus sprachdidaktischer Sicht notwendig, die fachlich-sprachlichen Anforderungen durch gezielte Sprachhilfen (Methodenwerkzeuge in Form von Wortlisten, Formulierungshilfen, visuellen Darstellungen etc.) zur Analyse und Entwicklung von Texten zu unterstützen. Durch ein solches Vorgehen ist es möglich, nicht nur fachbezogenes Verstehen zu unterstützen, sondern darauf aufbauend auch zu eigenem fachbezogenem Mitteilen zu ermutigen - wohl wissend, dass auch eine solche Fachsprachlichkeit überfachliche Elemente umfasst, wie beispielsweise • einen strukturierten Textaufbau und damit • eine kohärente und nachvollziehbare Darstellung des Inhalts sowie • den Einsatz von logischen Konnektoren und/ oder passenden Stilmitteln. Ein solches Training (vgl. dazu auch Abschnitt 2) bietet den Vorteil, die sprachliche Kompetenz der Studierenden bewusst zu machen und zu würdigen sowie für weitere rezeptive und produktive Sprachleistungen auch in anderen Disziplinen zu schulen. 6 Die Bewertungskriterien Zur Beurteilung der fachdidaktischen empirischen Masterarbeiten existieren spezifische Bewertungskriterien, die sich am Leitfaden zur Erstellung von Masterarbeiten orientieren (vgl. Abschnitt 3) und in der nachfolgenden Tabelle dargestellt sind (s. Tab. 2). Die Bewertungskriterien für das Kolloquium folgen im unmittelbaren Anschluss (s. Tab. 3). 324 Georgia Gödecke Kriterium Erklärung Titel der Arbeit Entspricht der Titel dem Ziel und dem Inhalt der Arbeit? Erkenntnisinteresse Wird die Fragestellung nachvollziehbar hergeleitet? Ist die Forschungsfrage von Relevanz für die Fremdsprachendi‐ daktik bzw. den Fremdsprachenunterricht und präzise for‐ muliert? Aufbau Wird der Aufbau der Arbeit dargelegt und begründet? Ist der Aufbau plausibel? Ist ein inhaltlicher roter Faden erkennbar bzw. werden die Zusammenhänge deutlich (z. B. durch Zwi‐ schenfazits und/ oder Überleitungen zwischen den Kapiteln)? Begriffsarbeit/ Theoriebezug Werden die relevanten Begriffe, Konzepte, Modelle etc. auf wissenschaftlicher Grundlage definiert und korrekt verwendet? Wird relevante und aktuelle Fachliteratur ver‐ wendet? Argumentation Erfolgt eine selbständige und kritische Auseinandersetzung mit der Theorie? Sind die argumentativen Ausführungen stringent und kohärent? Methodisches Vorgehen Sind die Entscheidungen und Verfahren im Rahmen der Datenerhebung, Aufbereitung und Auswertung passend und nachvollziehbar und werden sie korrekt umgesetzt? Eigenleistung Zeugt die Eigenleistung (z. B. Analyse und/ oder Entwicklung von Unterrichtsmaterialien) von didaktisch-methodischer Qualität, Selbständigkeit und Originalität? Diskussion Werden die Ergebnisse und das Vorgehen mit Rückbezug auf den theoretischen Teil reflektiert? Werden theorieba‐ sierte und praktische Konsequenzen aus den gewonnenen Erkenntnissen abgeleitet? Sprachliche Gestal‐ tung des Textes Ist der Text sprachlich verständlich und fachsprachlich an‐ gemessen? Weist der Text eine korrekte Sprache auf (gram‐ matische, lexikalische und orthografische Korrektheit)? Quellen-/ Literaturangaben Sind die Literaturverweise im Text und die Quellenangaben im Literaturverzeichnis sorgfältig und stringent und entspre‐ chen sie wissenschaftlichen Standards? Darstellung/ Layout Entspricht die Arbeit in Hinblick auf Umfang und Formalia den M.Ed.-Anforderungen? Ist das Layout übersichtlich und stringent? Tab. 2: Bewertungskriterien für fachdidaktische empirische Masterarbeiten in der Di‐ daktik der romanischen Sprachen der Universität Bremen Während die schriftliche Masterarbeit 80 % der Gesamtnote ausmacht, zählt das dazugehörige Kolloquium 20 %. Wie bereits in Abschnitt 4 dargelegt, setzt 325 Von der Idee zum Text: Begleitung und Konzeption empirischer Masterarbeiten sich das Kolloquium dabei aus den zwei Teilen Präsentation und Diskussion zusammen, für die ebenso spezifische Bewertungskriterien zugrunde gelegt werden. Diese Kriterien sind in Tabelle 3 in Form von Stichworten aufgeführt, da es sich bei dem Kolloquium um eine mündliche Prüfungsform handelt, in deren Rahmen der*die Protokollant*in (i. d. R. der*die Zweitgutachter*in) aufmerksam zuhören und die wesentlichen Inhalte herausfiltern muss, um sie gleichzeitig prägnant auf den Punkt zu bringen. Auch wenn im Anschluss an das Kolloquium noch Zeit zur Nachbereitung des Protokolls zur Verfügung steht, ist ein stichwortartiger Bewertungskatalog in dieser mündlichen Prüfungssitu‐ ation handhabbarer als eine Version, die aus ausformulierten Fragen besteht. Teil I (50 %) Fachwissen • Einbezug von relevanten Fakten, Begriffen, Modellen etc. • differenzierte und korrekte Darstellung • fachliche Sicherheit • Erkennen und Aufzeigen von Zusammenhängen • Berücksichtigung von Fachliteratur Reflexions- und Lösungsorientierung • eigenständige Schwerpunktsetzung • souveräne Problemsicht • eigene Wertungen und begründete Einschätzungen • Ansatz zu selbständiger Kritik • selbständiges Weiterdenken/ Entwicklung eigener Ideen Gestaltung der Präsentation • Nachvollziehbare, logische Gliederung/ Struktur • adäquater und zielgerichteter Medieneinsatz • Anschaulichkeit der Ausführungen • sinnvolle Zeiteinteilung und korrekte Zeiteinhaltung Kommunika‐ tions-leistung in der Fremdsprache • flüssige Vortragsweise und rhetorische Gestaltung • sprachliche Richtigkeit und Ausdrucksvermögen • Einbezug von themenrelevanten Fachtermini Teil II (50 %) Fachwissen • Einbezug von relevanten Fakten, Begriffen, Modellen etc. • differenzierte und korrekte Darstellung • fachliche Sicherheit • Erkennen und Aufzeigen von Zusammenhängen • Rückbezug auf theoretische Grundlagen Reaktionen auf Fragen • passende Reaktionsweise • angemessene Dialogfähigkeit • Folgerichtigkeit der Überlegungen • Einbezug von anschaulichen Beispielen 326 Georgia Gödecke 5 Diese zusammengestellte Liste wurde 2006 zunächst von Helmut Sauer angelegt und später von Prof. Friederike Klippel weitergeführt: https: / / www.dgff.de/ publikationen/ qualifikationsarbeiten/ [20.01.2021]. Reflexions- und Lösungsorientierung • eigenständige Schwerpunktsetzung • souveräne Problemsicht • eigene Wertungen und begründete Einschätzungen • Ansatz zu selbständiger Kritik • selbständiges Weiterdenken/ Entwicklung eigener Ideen Kommunika‐ tions-leistung in deutscher Sprache • angemessene, differenzierte Sprache • Einbezug und korrekte Verwendung von themenrele‐ vanten Fachtermini Tab. 3: Bewertungskriterien für das Kolloquium im Rahmen fachdidaktischer empirischer Masterarbeiten in der Didaktik der romanischen Sprachen der Universität Bremen 7 Fazit Dem Anliegen, aktuellen Forschungstendenzen und -entwicklungen in der Fremdsprachendidaktik auf die Spur zu kommen, haben sich bereits einige Wissenschaftler*innen gewidmet (u. a. Bär, 2019; Caspari, 2019; Doff, 2015). Al‐ lerdings beziehen sich diese vornehmlich auf Dissertationen und Habilitationen - ebenso wie die Chronologie an Qualifikationsarbeiten der Deutschen Gesell‐ schaft für Fremdsprachenforschung (DGFF). 5 In solchen Zusammenstellungen bleiben fachdidaktische Abschlussarbeiten bislang unberücksichtigt, gleich‐ wohl diese ebenso aktuelle Trends der Fremdsprachendidaktik widerspiegeln und Impulse für die Weiterentwicklung der Fachdisziplin bieten können. Zumin‐ dest aber sind gegenwärtig vereinzelt Bestrebungen erkennbar, hervorragende (Abschluss-)Arbeiten auszuzeichnen, so beispielsweise der Nachwuchspreis der DGFF oder der Hans-Eberhard-Piepho-Preis, in deren Rahmen herausragende Leistungen in der Fremdsprachendidaktik gewürdigt werden. Damit fachdidaktische Masterarbeiten mit besonderem wissenschaftlichen Niveau jedoch überhaupt erst entstehen und sichtbar gemacht werden können, ist die (Aus-)Gestaltung eines Begleitkonzepts auf universitärer Seite unver‐ zichtbar. Unterstützung bei der Formulierung des Erkenntnisinteresses und der Forschungsfragen, Hilfestellungen bei der Literaturrecherche, praktische Übungen im Bereich des methodischen Vorgehens und Anleitungen zum (fach-)wissenschaftliche Schreiben sind nur einige der zentralen Bausteine, um die Begleitung einer fachdidaktischen Abschlussarbeit zielführend gestalten zu können. Gleichzeitig kann dadurch ein wichtiger Beitrag zur Qualifizierung 327 Von der Idee zum Text: Begleitung und Konzeption empirischer Masterarbeiten des wissenschaftlichen Nachwuchses geleistet werden, denn im Rahmen der Begleitung und Begutachtung solcher Arbeiten wird ersichtlich, welche Studie‐ rende für das Fach brennen, wissenschaftlich versiert und wömöglich bestrebt sind, auch zukünftig noch stärker in den wissenschaftsbezogenen Rahmen der Fremdsprachendidaktik hineinzuwachsen. Um also nicht nur bereits etablierten Wissenschaftler*innen, sondern auch fortgeschrittenen Studierenden die Gelegenheit zu geben, ihr eigenes For‐ schungsprofil zu stärken und sich in der scientific community intensiver zu vernetzen, wäre es denkbar, eine standortübergreifende Datenbank einzu‐ richten, die eine Auflistung und eventuell kurze Beschreibung herausragender Abschlussarbeiten aus den fremdsprachendidaktischen Disziplinen bereithält. Gleichzeitig müsste mehr Transparenz hinsichtlich der Förderung des wissen‐ schaftlichen Nachwuchses geschaffen werden: So sollten beispielsweise bereits bestehende universitäre Begleitkonzepte empirisch untersucht und weiterent‐ wickelt werden, um die gewonnen Ergebnisse sodann für die (Weiter-)Entwick‐ lung der rahmenden Begleitveranstaltungen an den verschiedenen Standorten nutzen zu können. Literatur Bär, Marcus (2019). Forschungsentwicklungen im Bereich der Spanischdidaktik - Ein subjektiver Blick zum state of the art für die Zeit von 2008 bis 2018. Fremdsprachen Lehren und Lernen 48 (1), 123-132. Bär, Marcus (2020). Hinweise zum Erstellen von Seminar- und Abschlussarbeiten im Arbeitsbereich „Fachdidaktik Spanisch“ an der Bergischen Universität Wuppertal. www.marcus-baer.eu/ BUW_Merkblatt-Abschlussarbeiten.pdf [27.11.2020]. Caspari, Daniela (2016). Prototypische Designs. In Daniela Caspari, Friederike Klippel, Michael K. Legutke & Karen Schramm (Hrsg.) Forschungsmethoden in der Fremdspra‐ chendidaktik - Ein Handbuch (S. 67-78). Tübingen: Narr. Caspari, Daniela (2019). Forschungstendenzen in der Fremdsprachendidaktik - Grund‐ satzüberlegungen und Auswertung der Dissertationen der Jahre 2014 bis 2016 aus dem deutschsprachigen Raum. In Annika Kreft & Mona Hasenzahl (Hrsg.) Aktuelle Tendenzen in der Fremdsprachendidaktik. Zwischen Professionalisierung, Lernerorien‐ tierung und Kompetenzerwerb (S. 17-45). Frankfurt a.M.: Lang. Doff, Sabine (2015). DER DIE DAS - WER fragt WAS? Aktuelle Forschungsfragen und Forschungsaufgaben der Fremdsprachendidaktik. In Sylvie Méron-Minuth & Senem Özkul (Hrsg.) Fremde Sprachen lehren und lernen. Aktuelle Fragen und Forschungsauf‐ gaben (S. 17-27). Frankfurt a.M.: Lang. 328 Georgia Gödecke Gödecke, Georgia (2020). Gestaltung eines e-Portfolios in der Fremdsprachenlehrkräfteaus‐ bildung zur Förderung fachspezifischer Reflexionskompetenz - eine empirische Studie. Studien zur Fremdsprachendidaktik und Spracherwerbsforschung. Trier: WVT. Hallet, Wolfgang (2014). Das Modell der komplexen Kompetenzaufgabe. Lernen als kulturelle Partizipation. In Bernd Ralle, Susanne Prediger, Marcus Hammann & Martin Rothgangel (Hrsg.) Lernaufgaben entwickeln, bearbeiten und überprüfen: Ergebnisse und Perspektiven der fachdidaktischen Forschung (S. 61-70). Münster: Waxmann. Klippel, Friederike (2016a). Forschungstraditionen in der Fremdsprachendidaktik. In Daniela Caspari, Friederike Klippel, Michael K. Legutke & Karen Schramm (Hrsg.) For‐ schungsmethoden in der Fremdsprachendidaktik - Ein Handbuch (S. 23-30). Tübingen: Narr. Klippel, Friederike (2016b). Historische Entwicklung. In Daniela Caspari, Friederike Klippel, Michael K. Legutke & Karen Schramm (Hrsg.) Forschungsmethoden in der Fremdsprachendidaktik - Ein Handbuch (S. 31-39). Tübingen: Narr. Koch, Corinna (2018). Leitfaden zum Verfassen fachdidaktischer Master of Education-Ar‐ beiten. https: / / tinyurl.com/ 92sur45z [27.11.2020]. Wolff, Stephan (2000). Wege ins Feld und ihre Varianten. In Uwe Flick, Ernst von Kardoff & Ines Steinke (Hrsg.) Qualitative Forschung. Ein Handbuch (S. 334-349). Reinbek: Rowohlt. 329 Von der Idee zum Text: Begleitung und Konzeption empirischer Masterarbeiten Varianten empirisch orientierter fremdsprachendidaktischer Abschlussarbeiten Mark Bechtel Der vorliegende Beitrag ist im Bereich der Lehrer/ innenbildung angesiedelt. Ziel ist es, unterschiedliche Varianten empirisch orientierter fremdsprachen‐ didaktischer Abschlussarbeiten zur Diskussion zu stellen, die im Bereich der Didaktik der romanischen Sprachen an der Universität Osnabrück betreut werden. Darüber hinaus werden Ziele, Inhalte und Methoden des Master‐ kolloquiums skizziert, das die hochschuldidaktische Rahmung für diese Abschlussarbeiten darstellt und den Studierenden die Gelegenheit bieten soll, sich die nötigen forschungsmethodischen Kompetenzen anzueignen. 1 Einleitung Das Zusammenwirken einer Vielzahl von für sich bereits komplexen Faktoren bestimmt das Lehren und Lernen fremder Sprachen und verdeutlicht die Sin‐ gularität und Eigengesetzlichkeit dieses Wirklichkeitsbereichs (vgl. Caspari, 2016c, S. 12). Die Faktorenkomplexion rechtfertigt den Anspruch, dass es zur Erforschung dieses Wirklichkeitsbereichs einer eigenständigen Disziplin bedarf. Auf dem Weg zur Etablierung einer Disziplin bedarf es vieler Schritte. Dazu gehören u. a. die Einrichtung von Professuren und deren adäquate Besetzung, eine angemessene curriculare Verankerung fremdsprachendidaktischer Module in den lehramtsbezogenen Studiengängen, die Förderung des wissenschaftli‐ chen Nachwuchses, eine Vereinigung zur Interessenvertretung, einschlägige Fachzeitschriften zur Diskussion des aktuellen Wissensstandes, und Vieles mehr. Wenn wir mit der vorliegenden Festschrift Daniela Caspari ehren, dann nicht nur, aber insbesondere auch, weil sie in den letzten dreißig Jahren mit ihrem bewundernswerten Tatendrang in all diesen Bereichen der Disziplin Fremdsprachendidaktik ihre Spuren hinterlassen hat. Ein besonderes Anliegen von Daniela Caspari ist die Förderung des wis‐ senschaftlichen Nachwuchses. Im vorliegenden Beitrag möchte ich diesen Interessenschwerpunkt aufgreifen und der Frage nachgehen, wie sich Studie‐ rende im Rahmen einer empirisch orientierten Abschlussarbeit im Bereich der Fremdsprachendidaktik bereits während des Studiums die dazu nötigen forschungsmethodischen Kompetenzen aneignen können. Zum einen soll bei den Studierenden das Bewusstsein dafür geweckt werden, dass diese Art von Forschung auch für Lehramtsstudierende ohne genuin forschungsmethodische Ausbildung leistbar und in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit machbar ist. Hierdurch soll darüber hinaus die Bereitschaft erhöht werden, im späteren Berufsalltag solche Forschungsprojekte als Beitrag zur Unterrichtsentwicklung selbst durchzuführen bzw. daran mitzuwirken. Zum anderen bietet diese Form von Abschlussarbeiten für den potentiellen Nachwuchs der Fremdsprachen‐ didaktik die Gelegenheit, die ersten eigenen forschungsmethodischen Erfah‐ rungen zu reflektieren und ihre diesbezüglichen Erkenntnisse im Hinblick auf eine mögliche Qualifikationsarbeit zu schärfen. Ziel des Beitrags ist, unterschiedliche Varianten von empirisch orientierten fremdsprachendidaktischen Abschlussarbeiten zur Diskussion zu stellen. Diese stehen interessierten Studierenden des Master of Education Französisch oder Spanisch an der Universität Osnabrück zur Auswahl. Darüber hinaus werden die Ziele, Inhalte und Methoden des Masterkolloquiums erläutert, das den hochschuldidaktischen Rahmen für diese Abschlussarbeiten darstellt. 2 Forschende Elemente im Rahmen der fachdidaktischen Ausbildung Nach den „Ländergemeinsame(n) inhaltliche(n) Anforderungen für die Fach‐ wissenschaften und Fachdidaktiken in der Lehrerbildung“ besteht das Kompe‐ tenzprofil eines/ einer Absolventen/ Absolventin eines Lehramtsstudiums im Bereich der Fremdsprachen u. a. in einem „forschenden Habitus“ (KMK, 2019, S. 44). Angesichts der Tatsache, dass in der Lehramtsausbildung - anders als im Studium der Psychologie oder Sozialwissenschaften - keine systematische forschungsmethodische Ausbildung vorgesehen ist, stellt sich die Frage, wo und wie sich die Studierenden diesen forschenden Habitus aneignen sollen. Teilweise geschieht dies im Rahmen erziehungswissenschaftlicher Module, wie beispielsweise an der Universität Oldenburg (vgl. Meyer & Fichten, 2009), in der Fremdsprachendidaktik ist dies bislang eher selten. Gleichwohl gibt es Studienkomponenten, in denen fachbezogenes forschendes Lernen gefördert werden kann (vgl. Schocker-v. Ditfurth, 2001). So beispielsweise im schulischen 332 Mark Bechtel 1 Wie Studierende der Fächer Französisch, Spanisch und Italienisch auf forschendes Lernen im Rahmen der Hospitation während des schulischen Fachpraktikums vorbe‐ reitet werden können, zeigt Bechtel (2016) am Beispiel des fremdsprachendidaktischen Querschnittsthemas der mündlichen Fehlerkorrektur. 2 ProVision: https: / / www.uni-muenster.de/ ProVision; LEVEL https: / / www.uni-frankfu rt.de/ 66762615/ Level_Flyer_Allgemein.pdf; MultiView: http: / / multiview.leuphana.de/ [28.12.2020]. Fachpraktikum, wenn in der Hospitationsphase verlangt wird, ein ausgewähltes fremdsprachendidaktisches Thema systematisch, theoriegeleitet zu beobachten, zu analysieren und die Ergebnisse zu dokumentieren. 1 Aber auch außerhalb des direkten Praxiskontakts kann im Rahmen eines fremdsprachendidaktischen Seminars zu einem ausgewählten Thema forschendes Lernen angeregt werden, wenn beispielsweise einige Sitzungen einer auf das Thema bezogenen, theorie‐ geleiteten Analyse von Übungen und Aufgaben eines Lehrwerks gewidmet werden. Das Gleiche gilt für die Analyse von Videoausschnitten realen Fremd‐ sprachenunterrichts. Voraussetzung dafür ist der Zugang zu Fremdvideos, wie dies an einigen Standorten durch einschlägige Projekte der Fall ist, beispiels‐ weise „ProVision“ (Münster), „LEVEL“ (Frankfurt) oder „MultiView (Lüneburg). 2 In den beschriebenen Fällen werden Studierende an forschendes Lernen heran‐ geführt, indem sie handlungsorientiert selbst Forschungsaufgaben übernehmen. Das Charakteristische hieran ist, dass die Aufgaben auf einzelne Etappen eines Forschungsprozesses begrenzt sind. Eine andere Möglichkeit, Forschungselemente ins Studium zu integrieren, ist die Durchführung eines Aktionsforschungsprojekts, bei dem alle Etappen eines Forschungsprojekts durchlaufen werden. Das Praxissemester bietet sich durch den langen Zeitraum für ein solches Projekt an, wenn eine ausreichende Anzahl an Semesterwochenstunden für die Vorbereitung, Begleitung und Nachberei‐ tung zur Verfügung steht. Wie dies im Bereich der Fremdsprachendidaktik um‐ gesetzt werden kann, zeigen beispielsweise Ansätze der Schulbegleitforschung bzw. Aktionsforschung (z. B. Bechtel, 2015; Benitt, 2015; Burns, 2010) und des Design-Based-Research (z. B. Peters & Roviró, 2017). 3 Varianten empirisch orientierter Abschlussarbeiten im Bereich der Fremdsprachendidaktik Im Folgenden stelle ich vier Varianten empirisch orientierter Abschlussarbeiten in der Fremdsprachendidaktik vor, so wie sie in der Didaktik der romanischen Sprachen an der Universität Osnabrück betreut werden. Der Fokus der Darstel‐ lung liegt auf der Ausrichtung, der Struktur und der Funktion der einzelnen 333 Varianten empirisch orientierter fremdsprachendidaktischer Abschlussarbeiten Bestandteile. Bei der Ausrichtung beziehe ich mich auf die Übersicht der Forschungsfelder, die Daniela Caspari (2016a, S. 14-15) für den Bereich der Fremdsprachendidaktik erstellt hat. Hinsichtlich der Struktur wird erläutert, wie die drei Bestandteile Theorie, Praxis und Empirie verbunden sind, und welche Funktion sie jeweils haben. Den Varianten ist gemeinsam, dass alle drei Bestandteile vorhanden sein müssen. Sie unterscheiden sich in der Abfolge der Bestandteile „Praxis“ und „Empirie“. Abb. 1: Bestandteile einer empirisch orientierten fremdsprachendidaktischen Masterar‐ beit in der Didaktik der romanischen Sprachen an der Universität Osnabrück 3.1 Variante „Aktionsforschungsprojekt“ Bei der ersten Variante handelt es sich um ein Aktionsforschungsprojekt. Der von Altrichter & Posch (2007, S. 13) im deutschsprachigen Raum bekannt ge‐ machte Ansatz beruht - so Daniela Caspari (2016b, S. 72) - auf der „Vorstellung von Lehrer/ innen als reflektierende Praktiker/ innen, die aktiv und systematisch ihren Unterricht erforschen und im Forschungsprozess verändern wollen“. An der Universität Osnabrück handelt es sich um eine bestimmte Form von Aktionsforschung, nämlich die sog. „Team-Forschung“, so wie sie von Meyer & Fichten (2009) an der Universität Oldenburg begründet wurde (vgl. Bechtel, 2015, S. 91; Altrichter & Posch, 2007, S. 340). Bei der Aktionsforschung als Team-Forschung sind neben einer Lehrkraft eine Studentin bzw. ein Student beteiligt, die durch eine Dozentin bzw. einen Dozenten von der Universität wissenschaftlich unterstützt werden. Daniela Caspari (2016a, S. 15) bezeichnet dieses Forschungsfeld als „Schulbegleit- und Schulentwicklungsforschung“, dazu zählt sie Projekte, „in denen Lehrkräfte und professionell Forschende 334 Mark Bechtel 3 Daniela Caspari weist auf die unterschiedlichen Kontexte hin, in denen Aktionsfor‐ schung angewandt wird (vgl. Caspari, 2016b, S. 72). 4 Während des schulischen Fachpraktikums haben die Studierenden u. a. die Aufgabe, ein Interview mit einer Fachlehrkraft zu führen und sie zu ihrer Motivation, das Fach zu unterrichten, zum Kontakt zum Zielsprachenland und zu den Herausforderungen des Berufs zu befragen. Darüber hinaus sollen sie die Lehrkraft fragen, welches Thema ihr aktuell „auf den Nägeln brennt“, mit welchen Problemen sie zu tun hat bzw. was sie gerne einmal in ihrem Fremdsprachenunterricht untersuchen würde. von Hochschulen und/ oder Forschungsinstitutionen zusammenwirken mit dem Ziel, die Handlungskompetenz der Beteiligten zu entwickeln“. Ein zentrales Merkmal dieser Art von Forschung ist, dass das zu befor‐ schende Thema aus der Alltagspraxis der Praktiker/ innen stammt und die Praktiker/ innen selbst zu Forschenden werden (vgl. Altrichter & Posch, 2007, S. 15; vgl. Caspari, 2016b, S. 72). Forschung soll hier als etwas erfahren werden, das nicht von außen durch externe Forscher/ innen der Schulpraxis übergestülpt wird, sondern als eine Möglichkeit, eigene Praxisprobleme zu identifizieren, unterrichtliche Lösungen zu konzipieren und deren Umsetzung zu evaluieren, mit dem Ziel, die eigene Praxis zu verbessern. 3 Einer der Vorteile des Ansatzes ist, dass es sich um eine Art interner Schulentwicklung handelt, für die eine Zustimmung durch die Schulleitung sowie die Einwilligung der Schüler/ innen und der Eltern i. d. R. ausreicht, es jedoch keiner aufwändigen Genehmigung seitens der Schulbehörde bedarf. Mit welchen Herausforderungen sind die Studierenden hierbei konfrontiert? Zunächst einmal haben sie die Aufgabe, im Gespräch mit einer Lehrkraft ein für die Praxis relevantes Problem zu identifizieren. 4 Ausgangspunkt kann auch eine Fortbildung der Lehrperson oder ein fachdidaktisches Seminar der Studentin/ des Studenten zu einem aktuellen Thema sein, woraus die Motivation entstehen kann, eine unterrichtliche Neuerung in der Praxis auszuprobieren und zu evaluieren. Der thematische Impuls kann hier sowohl von der Lehrperson als auch von der Studentin/ dem Studenten kommen. Wichtig ist nur, dass beide sich das Problem bzw. das Thema zu eigen machen und als praxisrelevant erachten. Der nächste Schritt ist, dass sich die Studentin/ der Student mit den zentralen theoretischen Aspekten des Problems bzw. Themas befasst und darlegt (= „Theorie“). Auf dieser Grundlage erarbeitet sie/ er in Absprache mit der Lehrperson die Konzeption einer Unterrichtssequenz bzw. -einheit, die zur Lösung des Problems bzw. zur Berücksichtigung des Themas im Unterricht dienen soll (= „Praxis 1“). Im nächsten Schritt wird der Unterrichtsentwurf im Unterricht erprobt (= „Praxis 2“), entweder durch die Lehrperson allein, durch die Studentin/ den Studenten in Anwesenheit der Lehrperson oder in einer Mischform. Der sich anschließende empirische Teil (= „Empirie“) bezieht 335 Varianten empirisch orientierter fremdsprachendidaktischer Abschlussarbeiten 5 Für das Anschreiben und die Einwilligungserklärung wird von der/ dem wissenschaft‐ lichen Betreuerin/ Betreuer ein Muster zur Verfügung gestellt, das auf das jeweilige Projekt angepasst werden muss. sich auf die Erprobungsphase (= „Praxis 2“). Während oder am Ende der Erprobungsphase werden die Daten erhoben. Zuvor aber muss eine Forschungs‐ frage erarbeitet worden sein. Das bedeutet, dass die Studentin/ der Student vor oder während der Erstellung des Unterrichtsentwurfs im Austausch mit der Lehrperson überlegen muss, was beide interessieren würde, im Rahmen der Erprobung zu untersuchen, und daraus eine Forschungsfrage zu formulieren. Hierbei wird die Studentin/ der Student von einer/ einem wissenschaftlichen Betreuerin/ Betreuer unterstützt, die/ der darauf achtet, dass die Forschungsfrage klar formuliert und so dimensioniert ist, dass sie mit den begrenzten personalen Ressourcen in der zur Verfügung stehenden Zeit (5-6 Monate) angemessen bearbeitet werden kann. Danach wählt die Studentin/ der Student eine geeignete Datenerhebungsmethode aus, erstellt das Datenerhebungsinstrument und be‐ reitet das Anschreiben an die Eltern sowie die Einwilligungserklärung vor. 5 Die Lehrperson holt die Zustimmung seitens der Schulleitung ein und kümmert sich um das Verteilen und Einsammeln der Einwilligungserklärungen. Während bzw. nach der Erprobungsphase führt die Studentin/ der Student die Datenerhebung durch, bereitet die Daten auf, wertet sie aus, fasst die Ergebnisse zusammen und leitet daraus Konsequenzen für die Weiterentwicklung der Unterrichtspraxis ab. Abb. 2: Variante „Aktionsforschungsprojekt“ Bei dieser Art Forschung wird lokales Wissen für das jeweilige Klassenzimmer generiert (vgl. Altrichter, Lobenwein & Welte, 2003, S. 652). Es ist nicht verall‐ gemeinerbar, liefert jedoch je nach Forschungsfrage differenzierte quantitative und/ oder qualitative Einblicke in den vorliegenden Lehr-Lern-Kontext. Ein Beispiel für diese Variante ist die Abschlussarbeit von Antje Marie Schubert (2019). In Zusammenarbeit mit einer Spanischlehrerin führte sie ein Aktionsforschungsprojekt durch, bei dem sie für eine 10. Gymnasialklasse 336 Mark Bechtel Spanisch als 3. Fremdsprache (ab Klasse 8) eine insgesamt sieben Unterrichts‐ stunden umfassende Unterrichtseinheit zum Thema La migración de México a EE.UU. konzipierte und im Unterricht unter Begleitung der Lehrerin selbst er‐ probte. Die Erprobung verknüpfte sie mit einer Untersuchung, in der sie die For‐ schungsfragen beantworten wollte, a) inwieweit es den Schüler/ innen gelungen ist, die Innenperspektive eines/ einer in die USA illegal einwandernden bzw. ein‐ gewanderten mexikanischen bzw. lateinamerikanischen Migranten/ Migrantin mittels des Schreibens eines inneren Monologs einzunehmen, und b) welche vorbereitenden Aufgaben den Schüler/ innen aus ihrer Sicht geholfen haben, die Zielaufgabe, den inneren Monolog zu verfassen, zu bewältigen. 3.2 Variante „Rekonstruktion einer subjektiven Theorie einer Lehrkraft“ Wenn ein Aktionsforschungsprojekt beispielsweise aus zeitlichen und/ oder schulorganisatorischen Gründen nicht möglich ist, kann die Variante ge‐ wählt werden, die subjektive Theorie einer Lehrperson zu einem bestimmten fremdsprachendidaktischen Thema zu rekonstruieren. Unter einer subjektiven Theorie versteht Daniela Caspari „relativ stabile Denkinhalte und -strukturen […], die sich auf die eigene Person, auf andere Personen und die übrige Welt beziehen können“, diese „können sowohl aus bewussten wie auch aus impliziten, dem Bewusstsein der Personen nicht zugänglichen Kognitionen bestehen und weisen eine zumindest implizite Argumentationsstruktur auf “ (Caspari, 2016b, S. 71). Subjektive Theorien dienen in Analogie zu wissenschaftlichen Theorien nach Caspari (ebd.) u. a. dazu, „Situationen zu definieren, Sachverhalte zu erklären, Vorhersagen zu treffen oder Handlungsentwürfe und -empfehlungen zu konstruieren“. Der von Groeben et al. (1988) stammende Forschungsansatz wurde insbesondere von Christiane Kallenbach (1996) und Daniela Caspari (2003) für die Fremdsprachendidaktik fruchtbar gemacht. Zur Rekonstruktion der subjektiven Theorie einer Lehrperson sind unterschiedliche Phasen vorge‐ sehen. In einem ersten Schritt wird die Binnensicht einer Person mithilfe eines semi-strukturierten, leitfadengestützten Interviews erhoben. Der zweite Schritt besteht darin, im „Dialog-Konsens“ zwischen Forscher/ in und Lehrperson die rekonstruierte Binnensicht nachträglich kommunikativ zu validieren (vgl. Cas‐ pari, 2016b, S. 71). Der dritte Schritt sieht eine Handlungsvalidierung vor, d. h. anhand von Beobachtungen des Verhaltens der Lehrperson wird untersucht, inwiefern ihre subjektive Theorie tatsächlich handlungsleitend ist. Wie bei Kallenbach (1996) und Caspari (2003) wird in der vorliegenden Variante einer fremdsprachendidaktischen Masterarbeit auf den dritten Schritt verzichtet. Welche Herausforderungen ergeben sich hier für eine Studentin/ einen Stu‐ denten, wenn sie/ er sich auf diese Variante einlässt? Zunächst einmal besteht 337 Varianten empirisch orientierter fremdsprachendidaktischer Abschlussarbeiten ihre/ seine Aufgabe darin, sich mit der wissenschaftlichen Theorie des ausge‐ wählten Themas zu befassen und die relevanten Begriffe, Aspekte, Konzepte, usw. auf der Grundlage der wissenschaftlichen Literatur herauszuarbeiten (= „Theorie“). Es schließt sich die empirische Untersuchung an, die die bereits erwähnten zwei Phasen beinhaltet (= „Empirie“). Beim Interview kommt es darauf an, die Lehrperson durch offene Fragen zum Reden und durch geschicktes Nachfragen zum Weiterreden zu bringen und dabei die unterschiedlichen Dimensionen des Themas abzudecken. Das erfordert eine hohe Aufmerksamkeit und eine gewisse Übung. Die Studentin/ der Student tut daher gut daran, das Interview mit einer Kommilitonin/ einem Kommilitonen zu proben. Bei der kommunikativen Validierung kommt die von Kallenbach (1996, S. 71) adaptierte Form der Heidelberger Struktur-Lege-Technik zum Einsatz: Aus den von der Studentin/ dem Studenten aus dem Interview auf Kärtchen notierten zentralen Begriffen soll die Lehrperson, die - wenn sie möchte - Kärtchen entfernen oder neue Begriffe hinzufügen kann, mit Hilfe von Relationskärtchen („Ober-/ Unterbegriff “, „Beispiel“, „Folge“, usw.) ein Strukturbild legen, das so genau wie möglich ihre subjektive Theorie wiedergibt (vgl. Caspari, 2016b, S. 71). Mit Hilfe einer „Deutungsmusteranalyse“ arbeitet die Studentin/ der Student im Anschluss an das Gespräch den Grundgedanken der subjektiven Theorie heraus (vgl. Caspari, 2003, S. 148-150). Den Abschluss des Empirieteils bildet die Gegenüberstellung der subjektiven Theorie mit der wissenschaftlichen Theorie. Dieser Vergleich ist in zweierlei Hinsicht aufschlussreich. Zum einen können ggf. „blinde Flecken“ der Lehrperson zu bestimmten Aspekten der wissenschaftlichen Theorie zum Vorschein kommen. Zum anderen können im Lichte der durch Erfahrung geronnenen subjektiven Theorie der Lehrkraft Phänomene sichtbar werden, die die wissenschaftliche Theorie bislang nicht bzw. nicht angemessen berücksichtigt hat. Der Praxisteil dieser Variante besteht in einem sich aus dem Empirieteil ergebenden Unterrichtsentwurf (= „Praxis 1“). Die Studentin/ der Student greift hier ein von der Lehrperson im Interview ge‐ schildertes Problem hinsichtlich des ausgewählten Themas oder einen „blinden Fleck“ auf. Sie/ er erarbeitet einen Unterrichtsentwurf für eine der von der Lehrperson unterrichteten Klassen, der helfen soll, das angesprochene Problem zu lösen bzw. den „blinden Fleck“ zu fokussieren und anzugehen. Ein Beispiel für diese Variante ist die Abschlussarbeit von Christina Fried‐ rich (2021) zum Thema „Binnendifferenzierung“. Die Forschungsfrage lautet, welche Vorstellungen, Überzeugungen und Erfahrungen eine Spanischlehrerin hinsichtlich Binnendifferenzierung im Spanischunterricht hat. Ausgehend von den Ergebnissen wird im Praxisteil gezeigt, wie in einer 11. Klasse Spanisch 338 Mark Bechtel als neu einsetzende Sprache die Differenzlinie „Interesse“ im Rahmen einer Unterrichtseinheit zu Andalusien berücksichtigt werden könnte. Abb. 3: Variante „Rekonstruktion der subjektiven Theorie einer Lehrperson“ 3.3 Variante „Lehrwerkanalyse“ Eine weitere Variante stellt die Lehrwerkanalyse dar. Daniela Caspari (2016a, S. 14) bezeichnet dieses Forschungsfeld als „Lehrwerks- und Materialienfor‐ schung“, der es um „die systematische Analyse historischer wie gegenwärtiger Lehrwerke und Medienverbundsysteme analoger und digitaler Provenienz geht“. Die Aufgabe der Studentin/ des Studenten besteht darin, die Theorie eines fremdsprachendidaktischen Themas in Bezug auf die zentralen Begriffe, Aspekte, Konzepte zu erarbeiten (= „Theorie“) und eine Forschungsfrage zu formulieren, die durch die Analyse von Lehrbuchmaterial beantwortbar ist. Am Ende des Theorieteils sollen die Analyseaspekte verdeutlicht und ein Analyseinstrumentarium vorgestellt werden, mit dessen Kategorien die Analyse durchgeführt werden kann. Die Phase der Datenerhebung besteht im Empirie‐ teil (= „Empirie“) im Auffinden aller Aufgaben und Übungen des Lehrwerks, die für die Beantwortung der Forschungsfrage relevant sind. Gleichsam wird damit das Korpus erstellt. Die Datenaufbereitung beinhaltet das Einscannen der Übungen und Aufgaben und die Angabe der Seitenzahl. Bei der Datenanalyse wird das Korpus systematisch anhand der Analysefragen untersucht, wobei die Kategorien des Analyseinstrumentariums zum Einsatz kommen. Das Ana‐ lyseverfahren ist zunächst deduktiv, da ausgehend von den Kategorien entspre‐ chende Beispiele aus dem Lehrwerk gesucht und diesen zugeordnet werden. Wenn bei einer Übung bzw. Aufgabe keine der Analysekategorien greift, kommt ein induktives Verfahren ins Spiel, bei dem ausgehend vom Datenmaterial eine neue Kategorie formuliert wird. Die neue Kategorie ergänzt im weiteren Verlauf das zu Beginn festgelegte Analyseinstrument und differenziert es gleichsam aus. Das dergestalt veränderte Analysekategorieninventar wird zum einen für 339 Varianten empirisch orientierter fremdsprachendidaktischer Abschlussarbeiten die Analyse des übrigen Datenmaterials genutzt. Zum anderen müssen iterativ die bis dahin analysierten Beispiele einer Re-Analyse im Hinblick auf die neu dazugekommene Kategorie unterzogen werden. Die Ergebnisse der Analyse sowie Überlegungen zu Konsequenzen für die Lehrwerksentwicklung bilden den Abschluss des Empirieteils. Abb. 4: Variante „Lehrwerkanalyse“ Es schließt sich ein Praxisteil an, in dem die Studentin/ der Student exempla‐ risch einige Übungen und Aufgaben, deren Qualität sich im Hinblick auf die Forschungsfrage als verbesserungswürdig erwiesen haben, herausgreift und in Form eines Unterrichtsentwurfs einen Verbesserungsvorschlag erarbeitet, der anhand von selbst erarbeitetem Unterrichtsmaterial eine alternative didak‐ tisch-methodische Umsetzung darstellen und begründen soll = „Praxis 1“). Ein Beispiel für diese Variante stellt die Abschlussarbeit von Shari-Thanee Lehnberg (2020) dar. Sie untersucht anhand des dritten Bandes (8. Klasse) der Französischlehrwerke „A plus! “ und „Découvertes“, welchen Beitrag sie zur Förderung der Sprachmittlung leisten. Im Einzelnen interessiert sie zu erfahren, a) wie viele Sprachmittlungsaufgaben im Schülerbuch und im Arbeitsbuch jeweils enthalten sind, b) inwiefern sie die Kriterien für gelungene Sprachmitt‐ lungsaufgaben erfüllen und c) wie variationsreich sie sind. Im Praxisteil werden exemplarisch zwei Sprachmittlungsaufgaben herausgegriffen und gezeigt, wie man die Aufgabenstellung verbessern und die Aufgabe im Unterricht konkret methodisch umsetzen könnte. 3.4 Variante „Videobasierte Unterrichtsforschung“ Bei der letzten Variante geht es um videobasierte Unterrichtsforschung. Nach der Übersicht von Daniela Caspari (2016a, S. 14) kann hiermit vor allem das Forschungsfeld der „Interaktionsforschung“ bedient werden, wobei der Fokus auf den „Bedingungen, Verlaufsformen und Strukturmerkmalen fremdspra‐ 340 Mark Bechtel chiger Interaktion in unterschiedlichen sozialen Arrangements sowie ihre[n] Erträge[n]“ liegt. Voraussetzung für diese Variante ist, dass ein Zugang zu Videoaufnahmen realen Fremdsprachenunterrichts besteht. An der Universität Osnabrück wurden im Rahmen des „DigiRom“-Projekts, das durch das Programm „Qualität Plus“ des Landes Niedersachsen finanziert wird (2019-2021), Videoaufnahmen von Französisch- und Spanischunterricht erstellt, die zu Lehr- und Forschungs‐ zwecken genutzt werden können. Strukturell ähnelt diese Variante der Variante „Lehrwerkanalyse“. Nach einer Beschäftigung mit der Theorie zu einem ausgewählten Thema (= „Theorie“) wird eine Forschungsfrage formuliert. Der Unterschied zur Variante „Lehrwerkana‐ lyse“ besteht darin, dass die Forschungsfrage anhand von Interaktionsdaten beantwortbar sein muss. Die Funktion des Theorieteils besteht darin, das Thema in seiner Differenziertheit zu erläutern und Kategorien bereitzustellen, mit denen Interaktionsdaten zum ausgewählten Thema analysiert werden können. Im Empirieteil (= „Empirie“) geht es zunächst darum, ausgehend von der Forschungsfrage ein passendes forschungsmethodisches Vorgehen zu finden und zu erläutern. Da die Daten bereits vorliegen, besteht die Datenerhebung darin, das Videomaterial zu sichten und solche Sequenzen zu identifizieren, die für die Beantwortung der Forschungsfrage relevant sind. Die Datenaufbereitung besteht darin, die relevanten Sequenzen zu transkribieren. Bei der Datenanalyse müssen solche Verfahren genutzt werden, die der Sequenzialität der Interaktion Rechnung tragen. Abb. 5: Variante „Videobasierte Unterrichtsforschung“ Wie bei der Variante „Lehrwerkanalyse“ wird in einer Mischung aus deduktivem und induktivem Vorgehen die Interaktion mithilfe des theoriegeleiteten (und ggf. während der Analyse erweiterten) Analysekategorieninventars im Hinblick auf die Fragestellung rekonstruiert und interpretiert. In der Regel besteht 341 Varianten empirisch orientierter fremdsprachendidaktischer Abschlussarbeiten das Ziel darin, Interaktionsmuster aufzuzeigen (vgl. Altrichter & Posch, 2007, S. 207-220). Es schließt sich ein Praxisteil an, in dem exemplarisch Unterrichts‐ sequenzen, die sich im Hinblick auf die Forschungsfrage als diskussionswürdig erwiesen haben, herausgegriffen und Handlungsalternativen vorgestellt werden (= „Praxis 1“). Bislang liegt noch keine Abschlussarbeit in dieser Variante vor, die erste ist in Arbeit und wird voraussichtlich im Sommer 2021 abgeschlossen. 4 Masterkolloquium „Fachdidaktik Romanische Sprachen“ Als Rahmen für die Vorbereitung, Durchführung und Begleitung der beschrie‐ benen Varianten von fremdsprachendidaktisch orientierten Masterarbeiten dient das Masterkolloquium „Fachdidaktik Romanische Sprachen“, das seit Sommersemester 2018 an der Universität Osnabrück angeboten wird. Ziel ist, dass sich die Studierenden in einem relativ kurzen Zeitraum ausge‐ hend von ersten Erfahrungen des forschenden Lernens im Rahmen des Fach‐ praktikums oder eines fachdidaktischen Seminars die Kompetenzen aneignen, die sie benötigen, um eine forschungsorientierte Masterarbeit in der Fremdspra‐ chendidaktik anzufertigen. Methodisch ist das Kolloquium so angelegt, dass die Studierenden im Laufe von 14 Sitzungen handlungsorientiert die einzelnen Etappen eines Forschungsprozesses kennenlernen, indem sie diese selbst durch‐ laufen. Für jede Etappe bearbeiten sie eine Aufgabe, die ihnen helfen soll, die Funktion der Etappe zu verstehen und sich die damit verbundenen Kompetenzen anzueignen. Inhaltlich werden folgende Themen angeboten (jedem Thema wird eine Sitzung à 90 Min. gewidmet): Sitzungen Inhalte 1 Einführung 2 Aktionsforschung: Definition, Merkmale 3 Aktionsforschung: Kritik/ Einwände vs. Vorteile, Gütekriterien, Etappen eines Forschungsprozesses 4 Erkenntnisinteresse und vorläufige Forschungsfrage formulieren 5 Eine Forschungsfrage „kleinarbeiten“ (nach Meyer & Fichten, 2009, S. 37) 6 Datenerhebungsmethode „Beobachtung“ 7 Datenerhebungsmethode „Befragung (schriftlich)“ 342 Mark Bechtel 6 Die fünfte Auflage liegt von Altrichter, Posch & Spann (2018) vor. 8 Datenerhebungsmethode „Befragung (mündlich)“ 9 Ein Forschungsexposé und einen Forschungsbericht erstellen (nach Meyer & Fichten, 2009, S. 39, S. 51) 10 Workshop „Rekonstruktion einer subjektiven Theorie“ 11 Workshop „Lehrwerkanalyse“ 12 Workshop „Unterrichtsforschung“ 13 Datenauswertung „Qualitative Inhaltsanalyse“ (nach Meyer & Fichten, 2009, S. 47-49) 14 Präsentationen zum Stand der Masterarbeit (Thema, Fragestellung, Methode der Datenerhebung, -aufbereitung, -auswertung, erste Ergeb‐ nisse) Hochschuldidaktisch wird aufgabenorientiert vorgegangen, das bedeutet, dass die Studierenden zur Vorbereitung auf eine Sitzung zu Hause eine Aufgabe bearbeiten müssen. Diese besteht i. d. R. aus der fragegeleiteten Lektüre von ein bis zwei forschungsmethodischen Texten. Bei den unterschiedlichen Da‐ tenerhebungsmethoden und der Datenauswertungsmethode wird eine weitere Aufgabe ergänzt, bei der die Studierenden ausgewählte Daten von studentischen Masterarbeiten aus vorherigen Semestern im Hinblick auf das Sitzungsthema analysieren und hierbei das forschungsmethodische Theoriewissen anwenden. Während der Sitzung haben die Studierenden Gelegenheit, sich in Partnerarbeit mit einer Kommilitonin/ einem Kommilitonen über die Texte und ihre Analysen auszutauschen. Im abschließenden Plenum werden zentrale Begriffe und Kon‐ zepte gesichert, offene Fragen geklärt und die Ergebnisse der Studierenden im Hinblick auf die Analyseaufgabe diskutiert. Für die Erstellung der Aufgaben zu den einzelnen Sitzungen haben sich insbesondere einzelne Kapitel aus niedrigschwelligen praxisorientierten Hand‐ büchern zur Forschungsmethodik als hilfreich erwiesen. Hierzu gehören die für den Bereich der Aktionsforschung geschriebene Einführung von Altri‐ cher & Posch (2007) 6 sowie aus der Oldenburger Teamforschung der „Me‐ thoden-Reader“ von Fichten et al. (2008) und die „Bausteine“ von Meyer & Fichten (2009, S. 35-50). Sie haben den Vorteil, dass sie forschungsunerfahrenen Lehrpersonen und Studierenden Mut machen, selbst zu forschen, und gleich‐ zeitig ein Handwerkszeug für die einzelnen Etappen eines Forschungsprozesses zur Verfügung stellen. Darüber hinaus werden ausgewählte Kapitel aus den 343 Varianten empirisch orientierter fremdsprachendidaktischer Abschlussarbeiten Forschungshandbüchern für den Bereich der Fremdsprachendidakatik von Caspari et al. (2016) und Daase et al. (2014) herangezogen. In den Workshops, die teilweise von wissenschaftlichen Mitarbeiter/ innen übernommen werden, wird das Forschungsdesign der jeweiligen Variante erläutert und diskutiert. Als Ergänzung zum Masterkolloquium können die Studierenden das Angebot individueller Sprechstunden nutzen, in denen sie sich von der wissenschaft‐ lichen Betreuerin/ dem wissenschaftlichen Betreuer bei Fragen zu einzelnen Etappen des eigenen Forschungsprojekts beraten lassen können. Dieses An‐ gebot wird insbesondere bei der Formulierung der Forschungsfrage, der Erstel‐ lung des Datenerhebungsinstruments (z. B. Fragebogenerstellung) und nach den ersten Versuchen der Datenanalyse in Anspruch genommen. Literatur Altrichter, Herbert & Posch, Peter (2007). Lehrerinnen und Lehrer erforschen ihren Unterricht. Unterrichtsentwicklung und Unterrichtsevaluation durch Aktionsforschung. 4. Aufl. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Altrichter, Herbert, Posch, Peter & Spann, Harald (2018). Lehrerinnen und Lehrer er‐ forschen ihren Unterricht. Unterrichtsentwicklung und Unterrichtsevaluation durch Aktionsforschung. 5. Aufl. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Altrichter, Herbert, Lobenwein, Waltraud & Welte, Heike (2003). PraktikerInnen als ForscherInnen. Forschung und Entwicklung durch Aktionsforschung. In Barbara Frie‐ bershäuser & Annedore Prengel (Hrsg.) Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft (S. 640-660). Weinheim/ München: Juventa. Bechtel, Mark (2016). Mündliche Fehlerkorrektur als Bestandteil eines fachdidaktischen Moduls in der Französisch-, Spanisch- und Italienischlehrerausbildung“. In Simona Brunetti, Josephine Klingebeil-Schieke, Chiara Maria Pedron, Marie-Christin Piot‐ rowski, Antonella Ruggieri & Rebecca Schreiber (Hrsg.) Versprachlichung von Welt / Il mondo in parole. Festschrift zum 60. Geburtstag von Maria Lieber (S. 589-607). Tübingen: Stauffenburg. Bechtel, Mark (Hrsg.) (2015). Fördern durch Aufgabenorientierung. Bremer Schulbegleit‐ forschung zu Lernaufgaben im Französisch- und Spanischunterricht der Sekundarstufe I. Frankfurt a. M. et al.: Lang. Benitt, Nora (2015). Becoming a (Better) Language Teacher. Classroom Action Research and Teacher Learning. Tübungen: Narr. Burns, Anne (2010). Doing Action Research in English Language Teaching. A Guide for Practioners. New York: Routledge. 344 Mark Bechtel Caspari, Daniela (2003). Fremdsprachenlehrerinnen und Fremdsprachenlehrer: Studien zu ihrem beruflichen Selbstverständnis. Tübingen: Narr. Caspari, Daniela, Klippel, Friederike, Legutke, Michael K. & Schramm, Karen (Hrsg.) (2016). Forschungsmethoden in der Fremdsprachendidaktik - Ein Handbuch. Tübingen: Narr. Caspari, Daniela (2016a). Grundfragen fremdsprachendidaktischer Forschung. In Daniela Caspari, Friederike Klippel, Michael K. Legutke & Karen Schramm (Hrsg.) Forschungs‐ methoden in der Fremdsprachendidaktik - Ein Handbuch (S. 7-21). Tübingen: Narr. Caspari, Daniela (2016b). Prototypische Designs. In Daniela Caspari, Friederike Klippel, Michael K. Legutke & Karen Schramm (Hrsg.) 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Oldenburg: Didaktisches Zentrum. 345 Varianten empirisch orientierter fremdsprachendidaktischer Abschlussarbeiten Peters, Maria & Roviró, Bàrbara (2017). Fachdidaktischer Forschungsverbund FaBiT: Erforschung von Wandel im Fachunterricht mit dem Bremer Modell des Design-Based Research. In Sabine Doff & Regine Komoss (Hrsg.) Making Change Happen: Wandel im Fachunterricht analysieren und gestalten (S. 19-32). Wiesbaden: Springer VS. Schocker-v. Ditfurth, Marita (2001). Forschendes Lernen in der fremdsprachlichen Lehrer‐ bildung. Grundlagen, Erfahrungen, Perspektiven. Tübingen: Narr. Schubert, Antje Marie (2019). Förderung interkultureller Kompetenz im Spanischunter‐ richt. Ein Aktionsforschungsprojekt zur Konzeption, Erprobung und Evaluation einer Unterrichtseinheit zum Thema La migración de México a EE.UU. Masterarbeit an der Universität Osnabrück. Unveröffentlichtes Manuskript. 346 Mark Bechtel Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik Die universitäre Fremdsprachendidaktik verfolgt seit langem eine doppelte Ausrichtung: In ihrer Funktion als forschende Disziplin erforscht, beschreibt und interpretiert sie Unterricht, seine Teilnehmer: innen sowie seine Lehr-Lernprozesse. Als (aus-)bildende Disziplin beschäftigt sie sich u.a. mit dem übergeordneten Ziel, (zukünftige) Fremdsprachenlehrkräfte ausbzw. weiterzubilden. Diese doppelte Ausrichtung der Fremdsprachendidaktik wurde lange Zeit eher als Widerspruch und nicht als sich notwendigerweise bedingende Ergänzung aufgefasst. Entscheidende Beiträge für das Zusammendenken und Zusammenwachsen hat Daniela Caspari während ihrer gesamten bisherigen beruflichen Laufbahn geleistet. Zu ihrem 60. Geburtstag versammelt die vorliegende Festschrift Beiträge von 32 Autor: innen, die mit ihren Überlegungen zur Fremdsprachendidaktik als forschende und (aus-)bildende Disziplin das kreative und bedeutsame Schaffen der Jubilarin an dieser für das Selbstverständnis des Faches so wichtigen Schnittstelle würdigen. ISBN 978-3-8233-8461-8