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Die Sichtbarkeit der Übersetzung

2021
978-3-8233-9465-5
Gunter Narr Verlag 
Birgit Neumann

Vor gut 25 Jahren beklagte Lawrence Venuti die Unsichtbarkeit des Übersetzers, und Beispiele für solche Unsichtbarkeiten gibt es in der Tat zuhauf. Es gibt aber auch eine andere Geschichte der Übersetzung, eine Geschichte der Sichtbarkeit und Agentialität - und diese Geschichte, eingeschlossen ihrer verschiedenen Theorien und Praktiken, stellt der geplante Sammelband mit Blick auf die Zielsprache Deutsch ins Zentrum. Das Interesse gilt dabei dem verändernden Potential der Übersetzung sowohl zwischen als auch innerhalb von Sprachen. Der Band versammelt Beiträge von Wissenschaftler:innen und Übersetzer:innen.

ISBN 978-3-8233-8465-6 TRANSFER Kulturen, Sprachen, Literaturen in / der Übersetzung #25 Vor gut 25 Jahren beklagte Lawrence Venuti die Unsichtbarkeit der Übersetzenden, und Beispiele für solche Unsichtbarkeiten gibt es in der Tat zuhauf. Es gibt aber auch eine andere Geschichte der Übersetzung, eine Geschichte der Sichtbarkeit und Agentialität - und diese Geschichte, eingeschlossen ihrer verschiedenen Theorien und Praktiken, stellt dieser Sammelband mit Blick auf die Zielsprache Deutsch ins Zentrum. Das Interesse gilt dabei dem verändernden Potential der Übersetzung, die sowohl zwischen als auch innerhalb von Sprachen stattfinden kann. Der Band versammelt Beiträge von Wissenschaftler: innen und Übersetzer: innen. www.narr.de Birgit Neumann (Hrsg.) #25 Die Sichtbarkeit der Übersetzung #25 Birgit Neumann (Hrsg.) Die Sichtbarkeit der Übersetzung Zielsprache Deutsch Die Sichtbarkeit der Übersetzung TRANSFER Kulturen, Sprachen, Literaturen in / der Übersetzung 25 Herausgegeben von Volker C. Dörr, Vera Elisabeth Gerling, Birgit Neumann Birgit Neumann (Hrsg.) Die Sichtbarkeit der Übersetzung Zielsprache Deutsch © 2021 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Satz: pagina GmbH, Tübingen Druck: CPI books GmbH, Leck ISSN 0939-9941 ISBN 978-3-8233-8465-6 (Print) ISBN 978-3-8233-9465-5 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0297-1 (ePub) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® Umschlagabbildung: La Torre de Babel de Libros von Marta Minujín (Foto: Estrella Herrera; Ausschnitt). Quelle: Wikimedia Commons, lizenziert unter CC-BY-2.0. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. 7 9 35 53 75 95 115 135 157 Inhalt Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Birgit Neumann Zur Einleitung: Die Sichtbarkeit der Übersetzung - Zielsprache Deutsch . Theorien der Übersetzung Klaus Kaindl Sichtbarkeit(en) der Übersetzung - Sichtbarkeit(en) der ÜbersetzerInnen. Überlegungen zur theoretischen Fundierung eines schleierhaften Konzepts Albrecht Buschmann Dienstboten, Kuppler, Verräter. Warum Übersetzer moralisch im Zwielicht stehen und kulturgeschichtlich unsichtbar bleiben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Praktiken der Übersetzung - Zielsprache Deutsch Ursula Reutner / Philipp Heidepeter Clainefousse, Grossetittes und Besatzung hautnah: Zur Sichtbarkeit der deutschen Übersetzer beim Umgang mit Namen und Kulturspezifika in Zazie dans le métro . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Helena Küster Allgegenwart und Unsichtbarkeit des Englischen in der Zielsprache Deutsch - Unauffällige Anglizismen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eva Ulrike Pirker Figur(ation)en des Übersetzens als übersetzerische Herausforderung: Petina Gappahs Roman Out of Darkness, Shining Light . . . . . . . . . . . . . . . . . Rike Bolte Selbstübersetzung und anderer Schmuggel. Bivokale Übergaberituale im Kontext der ‚indigenen Dichtung‘ von Vito Apüshana (Kolumbien) . . . . . Christine Ivanovic Die radikale Übersetzung. Zur translationalen Schreibweise von Yoko Tawada . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 197 213 239 265 273 281 289 295 Poetologien der Übersetzung - Übersetzung und Multilingualität innerhalb deutschsprachiger Literaturen Arvi Sepp Sprachreflexivität und Kulturtransfer: Übersetzung als hermeneutische Denkfigur bei Yoko Tawada und Emine Sevgi Özdamar . . . . . . . . . . . . . . . . Volker C. Dörr Über Sätze, Wörter und Bilder aus dem Türkischen. Sichtbare Übersetzung bei Emine Sevgi Özdamar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vera Elisabeth Gerling Im Zwischenraum der Sprache: Transkulturelles Erinnern in Nachtleuchten von María Cecilia Barbetta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Monika Schmitz-Emans Wörterbuchgeschichten, Wörterbuchgedichte. Über literarisch-graphische Inszenierungen sprachlicher Übergänge und Zwischenräume und ihre Poetiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Denkräume: Die Sichtbarkeit der Übersetzer: innen Sichtbarkeit in und von Übersetzungen - „Übersetzung ist die radikalste Veränderung und Zerstörung eines Textes“. Gespräch zwischen dem Schriftsteller, Übersetzer und Literaturkritiker Jan Wilm und Birgit Neumann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der „dienend-schöpferischen Arbeit“ der Übersetzung: Gespräch zwischen der Übersetzerin Reinhild Böhnke und Birgit Neumann . . . . . . . Susanne Lange Im Klaren fischen? Sichtbare und unsichtbare Wellenpakete beim Übersetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Wir müssen uns auch sichtbar machen“ - Die subversive Lust am Regelverstoß. Miriam Mandelkow im Gespräch mit Birgit Neumann . . . . . Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt Danksagung Jedes Buch entsteht im Austausch. Dieses Buch verdankt sich zuallererst dem Austausch mit den Beitragenden des Bandes, die sich inspiriert und kritisch mit der Sichtbarkeit der Übersetzung auseinandergesetzt haben und mir dabei zahl‐ reiche neue Perspektiven auf das Thema eröffnet haben. Für viele bereichernde Gespräche danken möchte ich auch meinen Kolleg: innen an der Hein‐ rich-Heine-Universität Düsseldorf, namentlich Vittoria Borsò, Vera Elisabeth Gerling, Eva Ulrike Pirker, Volker Dörr und Alexander Nebrig. Arvi Sepp, Stefan Helgesson, Pieter Vermeulen und Gesine Müller waren in den letzten Jahren wichtige Gesprächspartner: innen zum Thema Literatur und Übersetzung. Meinen Studierenden danke ich für viele kritische Nachfragen. Meine Mitar‐ beiterinnen Miriam Hinz und Christina Slopek standen mir bei der Redaktion der Beiträge unermüdlich zur Seite - dafür ein sehr herzliches Dankeschön. Schließlich danke ich Kathrin Heyng vom Narr Verlag für die kompetente Un‐ terstützung bei der Produktion des Bandes. 1 Die Diskussion um mögliche Übersetzer: innen von Amanda Gormans Gedicht „The Hill We Climb“, verfasst anlässlich der Amtseinführung von Joe Biden im Januar 2021, durchkreuzt diese Unsichtbarkeit auf eigenwillige Weise. Sichtbarkeit wird hier an die kulturelle Hypervisibilität ‚schwarzer Haut‘ geknüpft; es geht um Identitätspolitik und Gruppenzugehörigkeit, aber zumindest implizit auch um Machtstrukturen und Reprä‐ sentation innerhalb des literarischen Feldes. Mindestens ebenso diskussionswürdig sind aber die Kreativität und Agentialität von Übersetzer: innen sowie die sprachlichen Ent‐ scheidungen, die Übersetzungen zugrunde liegen. Letztlich sind es auch diese Ent‐ scheidungen, die bestimmte Weltdeutungen, Sinnstiftungen und Identifikationen er‐ lauben und andere ausschließen. Zur Einleitung: Die Sichtbarkeit der Übersetzung - Zielsprache Deutsch Birgit Neumann, Universität Düsseldorf On ne parle jamais qu’une seule langue […]. On ne parle jamais une seule langue. (Derrida 1996: 21) 1 Zur Ethik und Poetik der (un-)sichtbaren Übersetzung Vor gut 25 Jahren beklagte Lawrence Venuti (1995) die Unsichtbarkeit der Über‐ setzer: innen, und Beispiele für solche oftmals strategischen Invisibilisierungen gibt es in der Tat zuhauf. Die Namen von Übersetzer: innen werden auf den meisten Buchcovern nicht genannt und in vielen Rezensionen finden sie allen‐ falls dann Erwähnung, wenn es um Erwartungen an sprachliche Flüssigkeit und Transparenz geht. 1 Die für die kritische Reflexion von Übersetzungen rele‐ vanten Fragen, z. B. nach kreativen Veränderungen, ästhetischen Neuerungen und Funktionen innerhalb der Zielkultur, werden nur selten gestellt. Werden diese Fragen thematisiert, dann zumeist im Fall von Neuübersetzungen klassi‐ scher und kanonischer Literatur, selten aber bei der Besprechung von zeitge‐ nössischer übersetzter Literatur. Diese Unsichtbarkeit setzt sich auf der Ebene des Textes fort. Der internationale Buchmarkt prämiert vor allem im Bereich des Mainstreams transparente, geschmeidige und leserfreundliche Literatur, die 2 Die entsprechende kulturelle Prägung seiner Thesen macht Venuti (1995: 17) explizit; er möchte sie dezidiert im Kontext des anglo-amerikanischen Buchmarktes verstanden wissen: „The translator’s invisibility is symptomatic of a complacency in Anglo-Ame‐ rican relations with cultural others, a complacency that can be described - without much exaggeration - as imperialistic abroad and xenophobic at home.“ 3 Zu den Zahlen siehe https: / / www.boersenverein.de/ markt-daten/ marktforschung/ wirt schaftszahlen/ buchproduktion/ ; http: / / www.rochester.edu/ College/ translation/ threep ercent/ about/ ; sowie die Translation Database (https: / / www.publishersweekly.com/ pw / translation/ search/ index.html) [26. 02. 2021], die Übersetzungen in Erstauflage erfasst. Im Jahr 2019 erschienen in den USA der Datenbank zufolge 719 übersetzte Bücher (im Vergleich zu 9.802 in Deutschland). Die Zahlen sind mit Vorsicht zu genießen; eine deutliche Tendenz lassen sie dennoch erkennen. ihren übersetzten Charakter verschleiert und die Illusion erweckt, sie hätte ebenso gut in der Zielsprache verfasst werden können. Solche domestizierenden und glättenden Übersetzungen, die tatsächlich erhebliche Eingriffe durch Über‐ setzer: innen erfordern, reflektieren implizit bestehende Hierarchien zwischen Sprachen, denn im globalen Geflecht wird die kulturelle Dominanz von Spra‐ chen auch durch den Eindruck ihrer schier grenzenlosen Assimilationsfähigkeit gefestigt. Immer noch haftet der Übersetzung ein Stigma an; Venuti spricht sogar vom ‚Skandal der Übersetzung‘. Übersetzung wird als minderwertige, unkrea‐ tive und bloß derivative Praxis abgetan, die aber doch immensen Einfluss auf die Wahrnehmung anderer Kulturen nimmt (vgl. 1998: 1-4). Seit der Veröffentlichung von Venutis The Translator’s Invisibility: A History of Translation (1995) hat sich Einiges getan und es gibt Anzeichen dafür, dass Übersetzungen und Übersetzer: innen nicht ganz so unsichtbar sind, wie von dem amerikanischen Übersetzungswissenschaftler nahegelegt. Venutis Thesen von der Unsichtbarkeit der Übersetzung wurden vielfach kritisch kommentiert - nicht zuletzt von ihm selbst (vgl. Venuti 2008) - und in diesem Zusammenhang maßgeblich relativiert. Verschiedentlich wurde darauf aufmerksam gemacht, dass seine Behauptung der Unsichtbarkeit eben dezidiert mit Blick auf die Be‐ sonderheiten des amerikanischen Buchmarktes formuliert wurde und sie sich daher kaum problemlos auf andere Kontexte übertragen ließe. 2 Anders als etwa in Deutschland, Italien, Frankreich, Brasilien oder Indien spielen Übersetzungen auf dem amerikanischen Buchmarkt tatsächlich eine vergleichsweise geringe Rolle. Während Übersetzungen in Erstauflage auf dem deutschen Buchmarkt im Jahr 2019 immerhin 12,45 % aller Publikationen ausmachten, lag der Wert in den USA bei nur ca. 3 % (vgl. Neumann 2021). 3 Die viel beschworene ‚Bibliodiver‐ sität‘, die eine Möglichkeit der Erfahrbarkeit sprachlicher und kultureller Alte‐ rität bietet, ist damit recht niedrig. Aber auch in den USA sind Übersetzer: innen und Übersetzungen längst nicht mehr unsichtbar; gerade in den letzten Jahren 10 Birgit Neumann 4 So denn auch die gängige Definition von Übersetzung als „das schriftlich fixierte Re‐ sultat der Übertragung eines Textes von einer Sprache in eine andere“ (Kopetzki 2013: 377). Zur Kritik an diesem westlichen Verständnis siehe u. a. Tymoczko: „[T]he transfer metaphor implicit in Western conceptualizations of translation undermines the self-re‐ flexivity and empowerment of translators, encouraging a sort of amnesia about the ideology in translation processes that facilitates the unexamined ascendancy of the values, discourses and ideological agendas of dominant powers within a culture and throughout the globalizing world.“ (2014: 7) sind viele übersetzte Werke aus ihrem Schattendasein hervorgetreten. Der Trend zur zunehmenden Monopolisierung des internationalen Buchmarktes durch die sogenannten ‚Großen Fünf ‘ (gemeint sind Hachette, Harper Collins, Macmillan, Penguin Random House und Simon and Schuster) geht mit einer gegenläufigen Entwicklung einher, nämlich der Herausbildung etlicher unab‐ hängiger Verlagshäuser, die, wie etwa Granta Books und Portobello Books, ge‐ rade auf den symbolischen Wert übersetzter Literaturen bauen (vgl. Thompson 2010; Vermeulen / Hurkens 2019). Es gibt also auch eine andere Geschichte der Übersetzung, eine Geschichte der Sichtbarkeit, Profilierung und Agentialität - und diese Geschichte, einge‐ schlossen ihrer verschiedenen Theorien und Praktiken, will der vorliegende Sammelband exemplarisch mit Blick auf die Zielsprache Deutsch ins Zentrum stellen. Der Fokus liegt dabei auf textuell generierten Formen der Sichtbarkeit, die in der Agentialität der Übersetzer: innen gründet. Um dieser Sichtbarkeit auf die Spur zu kommen, lohnt ein Blick auf die Vieldeutigkeiten, die dem Begriff selbst eingeschrieben sind. Der Begriff ‚Übersetzung‘ impliziert nämlich nicht nur Bewegung; vielmehr ist er selbst ein paradigmatisches travelling concept (vgl. Bal 2002), ein Konzept, das zwischen verschiedenen Disziplinen, Ansätzen und Wissenschaftskulturen reist. Diese ‚Reisen‘ lenken den Blick auf semanti‐ sche Polyvalenzen sowie die transformativen Dimensionen von Austausch und Relokation. Abgeleitet von dem altgriechischen Begriff metaphrásein (‚para‐ phrasieren‘, ‚übersetzen‘) lässt sich ‚Übersetzen‘ als Transfer „eines mobilen Guts von einem Ufer zum anderen“ (Borsò 2014: 32) verstehen und damit die Übertragung bzw. Setzung von Bedeutung akzentuieren. 4 Aber gemäß der Ety‐ mologie lässt sich auch das ‚über‘ betonen, und aus dieser Perspektive stellt sich der Akt der Übersetzung als viel dynamischer, sogar als überbordend dar, näm‐ lich „als Herausforderung der Bewegung“ (ebd.) zwischen Sprachen, zwischen Texten und Kulturen. Ins Blickfeld geraten dabei die wechselseitigen Verstri‐ ckungen, Veränderungen und Neuformationen des Eigenen und Fremden bzw. des Wörtlichen und Figürlichen, auf die der Begriff metaphrásein verweist (vgl. Cheyfitz 1991). Übersetzungen lassen sich als offene Prozesse der Bedeutungs‐ übertragung verstehen, bei denen durch sprachliche Kreativität, semantischen 11 Zur Einleitung: Die Sichtbarkeit der Übersetzung - Zielsprache Deutsch Transfer und Verknüpfung Neues, also ein Drittes, entsteht. Sie bringen Verän‐ derungen und ‚Ver-anderungen‘ hervor, die über Bestehendes hinausgehen und die beide durch sie ins Spiel gebrachte Sprachen in Bewegung versetzen. Impli‐ ziert sind damit die Instabilität und Polyvalenz innerhalb jeder einzelnen Sprache, „[t]he existence of two languages within a single language“ (Guldin 2016: 20), die den Wechsel und Übergang zwischen dem Wörtlichen und Figür‐ lichen allererst ermöglicht. Aber dass die der Etymologie eingeschriebene Dichotomie - zwischen dem Eigenen und dem Wörtlichen auf der einen Seite und dem Fremden, Figürlichen und Uneigentlichen auf der anderen - Übersetzungen auch in die Nähe von Verfälschungen und Manipulationen rückt, liegt auf der Hand. Die Überset‐ zungsgeschichte liefert dafür zahlreiche Beispiele, insbesondere im Kontext von Kolonialgeschichten, Krieg und globalen Machthierarchien, wo bewusst ent‐ stellende Übersetzungen strategisch zur Enteignung, Assimilation und Stigma‐ tisierung anderer Gruppen eingesetzt wurden. Die italienische Formel „tradut‐ tore / traditore“ versinnbildlicht, wie eng Übersetzung und Verrat beieinander liegen. Zwischen Verrat, Entstellung und Fehlübersetzungen auf der einen Seite und der notwendigen Offenheit, Transformationskraft und Kreativität der Über‐ setzung auf der anderen tut sich ein breites Spektrum sprachlicher Entschei‐ dungsmöglichkeiten auf. Dieses so zu nutzen, dass die Singularität und Differenz anderssprachiger Texte einerseits gewahrt und anerkannt, Differenz anderer‐ seits im Kontext vorhandener Sprach- und Wissensstrukturen vermittelbar und sogar verständlich wird, ist eine zentrale Aufgabe der Übersetzung. Als Praxis des „Sowohl-Als-Auch“ bleibt die Übersetzung auf paradoxe Weise „mit einem Weder-Noch“ verbunden (Ette 1998: 22). Die Transformationskraft von Übersetzungen, um die es diesem Band geht, hat viel mit Differenzen zwischen Sprachen und dem Fehlen von Äquivalenz zu tun, die u. a. von Walter Benjamin in seinem Aufsatz „Die Aufgabe des Über‐ setzers“ (1923) beschrieben wurde. Sprachen sind im kulturellen Imaginären verortet und historisch gewachsen; sie bestehen aus kulturell spezifischen Kon‐ zepten, die auch im Laufe ihrer Geschichte Bedeutungen, Denotationen und Konnotationen erworben haben, die sich der vollständigen Übersetzbarkeit ent‐ ziehen. Sie weisen spezifische grammatikalische Strukturen, konkrete Klänge und Rhythmen auf, die, wie es Christine Ivanovic in ihrem Beitrag zum Band formuliert, „sinnlich-sinnlos“ bleiben. Die ästhetische Verdichtung fiktionaler Literatur steigert notwendigerweise die Offenheit und Unbestimmtheit von Sprache. Literarische Formen führen semantische Mehrdeutigkeiten ein, die schon das sogenannte Original bzw. den Ausgangstext mit Überschuss, Irritation und Instabilität versehen und die jede Lektüre zu einem vorläufigen und sub‐ 12 Birgit Neumann 5 Heibert versteht den Begriff der Wirkungsäquivalenz als „ästhetische Wirkung“, die „sich äquivalent zur angenommenen Wirkung des Originals auf die Originalleserinnen verhält“ (Heibert 2015: 225). Aber selbst dieses offene Ideal wird dort brüchig, wo es auf eine Wirkung setzt, die nicht nur, wie auch der Begriff ‚angenommen‘ indiziert, auf subjektiver Interpretation beruhen muss, sondern die auch die Pluralität und Offenheit möglicher Rezeptionsweisen von sog. ‚Originalleserinnen‘ unterschätzt. Gerade in un‐ serer zunehmend transkulturell vernetzten Welt, in der Autor: innen ebenso wie litera‐ rische Werke und Leser: innen oftmals ‚ohne festen Wohnsitz‘ (vgl. Ette 2006) existieren, ist die Hypostasierung von ‚Originalleserinnen‘ wenig plausibel. Translokalität, Aus‐ tausch, Vernetzung und Translation sind längst keine sekundären Faktoren (mehr), die in sich geschlossene Originale erst nachträglich in Bewegung versetzen (vgl. Friedman 2012). Vielmehr sind sie Teil des Produktionsprozesses selbst; wie etwa die Texte von Yoko Tawada oder Emine Sevgi Özdamar zeigen, werden sie in transkulturellen Poe‐ tiken, multilingualen Strategien und inszenierten Übersetzungen sinnfällig. 6 Zum Begriff der relevanten Übersetzung siehe Derrida (2005). jektiven Akt der Bedeutungskonstitution werden lassen. „[A]lle Übersetzung“, schreibt Benjamin (1977: 55), ist „nur eine irgendwie vorläufige Art […], sich mit der Fremdheit der Sprachen auseinanderzusetzen.“ Annäherung, Ähnlichkeiten, Äquivalenz ‚ohne Identität‘ (vgl. Ricœur 2004) sowie ‚Wirkungsäquivalenz‘ 5 sind daher einige der Begriffe, die in der Übersetzungstheorie die Diskussion um das angemessene Verhältnis zwischen Ausgangs- und Zieltext prägen. Sie unter‐ streichen, dass Übersetzungen stets auch Interpretationen sind, die auf subjek‐ tiven Lektüren gründen (vgl. Spivak 2009: 205) - die Translation Studies spre‐ chen sogar von einer Neuschaffung bzw. einem „Rewriting“ (Lefevere 1992; vgl. Bassnett 2014: 3). Die besondere Herausforderung der Übersetzung besteht vielleicht gerade in diesem „quand même“ (Apter 2009: 86), nämlich in der Bereitschaft, sich auf die semantischen, ästhetischen und materiellen Partikularitäten eines Textes ein‐ zulassen, sie in einen relevanten Bezug zu einer anderen Sprache zu stellen 6 - und dabei doch gleichzeitig zu wissen, dass man ihnen nur ansatzweise gerecht werden kann. Offenheit, Instabilität und Fremdheit innerhalb der sowie zwi‐ schen den Sprachen entbinden daher nicht von der Aufgabe der Übersetzung; vielmehr sind sie eine Ressource und ermöglichen, wie Benjamin darlegt, erst die Übersetzbarkeit von Literatur: Sie laden ein zur Verhandlung von Mehrdeu‐ tigkeiten, die gerade auch im Lichte historisch geprägter Wissensordnungen nach variablen Aktualisierungen verlangen. Jede neue Übersetzung ist daher Zeugnis für die Übersetzbarkeit des Ausgangstextes; paradoxerweise zeigt sie zugleich dessen Unübersetzbarkeit an, denn sie markiert Vorläufigkeit und weist ihrerseits auf kommende Übersetzungen voraus (vgl. Hermans 2014: 61). Erst solche ständigen übersetzerischen Neudeutungen sichern bekanntlich das ‚Fort‐ leben‘ - und eben auch die potentielle Sichtbarkeit - des Ausgangstexts; sie 13 Zur Einleitung: Die Sichtbarkeit der Übersetzung - Zielsprache Deutsch 7 In anderen Worten: Das Original weist auf die Übersetzung voraus und so ist es, wie Derrida in seiner Benjamin-Interpretation darlegt (vgl. Derrida 1985: 184), das Original, das gleichsam in der Schuld der Übersetzung steht. schaffen zugleich mehrdimensionale Temporalitäten, die konventionelle Vor‐ stellungen von Vorgängigkeit und Nachträglichkeit durchkreuzen. 7 „[ J]e ne crois pas que rien soit jamais intraduisible - ni d’ailleurs traduisible“, schreibt Jacques Derrida (2005: 19), und macht damit deutlich, dass das Unübersetzbare eben nicht das Gegenteil der Übersetzbarkeit bezeichnet, sondern es oftmals erst einen Raum für Interaktion, Verquickung und Verhandlung eröffnet. Ganz ähn‐ lich betont Barbara Cassin, Initiatorin und Herausgeberin des groß angelegten Vocabulaire européen des philosophies: Dictionnaire des intraduisibles (2004), dass das Unübersetzbare nicht das ist, das nicht übersetzt werden kann. Vielmehr fordert es zu immer neuen Übersetzungen auf und verweist damit auf das Offene und Unfertige: „l’intraduisible, c’est plutôt ce qu’on ne cesse pas de (ne pas) traduire.“ (2004: xxvii) Die Unübersetzbarkeit wird dort zur Chance und felix culpa (vgl. Borsò 2006: 15), wo sie eine Anerkennung der Einzigartigkeit anderer Sprache möglich macht, ohne auf strikte Binäroppositionen und starre Grenz‐ ziehungen zwischen dem sogenannten ‚Eigenen‘ und ‚Anderen‘ zurückzufallen (vgl. Wetzel 2003: 154). Die Offenheit und bisweilen sogar Unübersetzbarkeit von Sprache stellt Übersetzer: innen vor hermeneutische und sprachliche Entscheidungen, die be‐ deutungskonstitutiv sind und die Wahrnehmungsmöglichkeiten anderer histo‐ rischer und kultureller Kontexte, auch hinsichtlich möglicher Gemeinschafts‐ erfahrungen, maßgeblich prägen. Übersetzer: innen aktualisieren - auch auf der Grundlage subjektiver Deutungen, kulturhistorisch geprägter Wissensord‐ nungen und Marktanforderungen - spezifische semantische, formale und ma‐ terielle Potentialitäten des Ausgangstextes (vgl. Venuti 1995: 18). Aktualisie‐ rungen implizieren aber stets Ausschlüsse und Verwerfungen, auch wenn diese als latenter Überschuss bestehen bleiben. Die Forderung nach der Sichtbarkeit von Übersetzungen und Übersetzer: innen lässt sich auch aus dieser bedeutungs- und wahrnehmungsstiftenden Dimension ableiten: Sprache bildet keine vor‐ gängige Realität ab; vielmehr ist sie eine Form der Welterschließung, die sinn‐ stiftende Bezugnahmen auf die Welt ermöglicht. Sichtbarkeit, so die Prämisse des Bandes, ermöglicht ein Reflexivwerden jener sprachlichen Entscheidungs‐ prozesse, welche die in überdeterminierten Texten angelegten Deutungsmuster in der Gegenwart präsent machen bzw. aktualisieren und das Spektrum kulturell möglicher Weltbezüge, eingeschlossen von Vergangenheitsdeutungen und Zu‐ kunftsvisionen, präfigurieren. Gerade auch aus dieser erinnerungsstiftenden Funktion von Übersetzungen, die zugleich Ermöglichungsbedingungen für Ge‐ 14 Birgit Neumann genwarts- und Zukunftsentwürfe sind, ergeben sich weitreichende ethische Fragen, die den Umgang mit sprachlicher Alterität betreffen. Sandra Berman (2005: 7) betont: „If we must translate in order to emancipate and preserve cul‐ tural pasts and to build linguistic bridges for present understandings and future thoughts, we must do so while attempting to respond ethically to each langua‐ ge’s contexts, intertexts, and intrinsic alterity.“ Übersetzungen, so Berman, ant‐ worten aus der Perspektive gegenwärtiger Bedingungen auf die Anforderungen anderer Texte, Sprachen und ihrer spezifischen Kontexte; sie bauen Brücken, die bei aller Fragilität doch intellektuellen Austausch, Transposition und Pas‐ sagen ermöglichen (vgl. Bhabha 1994). Dass Antworten auf die Anforderungen und Anrufungen Anderer eine ethische Dimension haben, liegt auf der Hand. Für Arvi Sepp (2017: 63) beinhaltet die übersetzerische Antwort daher zugleich einen Akt der Verantwortungsübernahme: Die Übersetzung „übernimmt Ver‐ antwortung, indem sie die Ansprache durch den Anderen beantwortet.“ Sie übernimmt aber auch Verantwortung, indem sie die Ermöglichungsbedin‐ gungen und Voraussetzungen offenlegt, die dieser Antwort zugrunde liegen - und es ist diese Offenlegung, die Leser: innen die Möglichkeit bietet, entspre‐ chende Entscheidungen mitzutragen oder sie zu hinterfragen. 2 Übersetzung im Zeichen des Cultural Turn Kulturtheoretisch und -wissenschaftlich ausgerichtete Ansätze deuten die bei Übersetzungen zur Verhandlung stehende sprachliche Differenz bekanntlich metonymisch, nämlich als Evokation kultureller Alterität im Geflecht eines hie‐ rarchischen Verhältnisses zwischen unterschiedlichen Sprachen und Kulturen (vgl. z. B. Bassnett / Trivedi 1999; Bachmann-Medick 2006; Bandia 2008). Über‐ setzungen, so Sandra Richter, bilden Knotenpunkte des „Literaturkontaktes“ (2017: 23) und des Kulturtransfers. Der Übersetzungsprozess stellt sich dement‐ sprechend als interkultureller Akt der Kommunikation dar, der nach Formen der „thick translation“ (Appiah 1993), also kultur- und kontextsensitiven Deutungen verlangt. Dabei geht es um eine sprachlich vermittelte Annäherung an kulturelle Alterität, die - und das ist eine der Aporien der Übersetzung - erst in der Relation zu einer als eigen gesetzten Sprache und entsprechenden Wissensordnungen Kontur gewinnt (vgl. Neumann 2020). Kategorien wie kulturelle Differenz, Fremdheit und Eigenheit, Repräsentation und Transformation verdrängen oder überlagern damit das Interesse an sprachlicher Äquivalenz und sensibilisieren für die Machtrelationen, die Übersetzungen zugrunde liegen und denen sie um‐ gekehrt zur Geltung verhelfen (vgl. Bachmann-Medick 2011: 449). Vittoria Borsò (2006: 9) etwa konstatiert: „Die Praktiken des Übersetzens sind seit der Moderne, 15 Zur Einleitung: Die Sichtbarkeit der Übersetzung - Zielsprache Deutsch 8 In den Worten Emily Apters (2006: 6) ist Übersetzung „a means of rendering self-know‐ ledge foreign to itself; a way of denaturalizing citizens, taking them out of the comfort zone of national space, daily ritual“. besonders deutlich jedoch in der jetzigen Phase der Globalisierung, ein Labora‐ torium der Fragen, die das Verhältnis der Kulturen untereinander betreffen.“ Dies ist zweifelsohne richtig; gleichwohl wäre es gerade im Kontext der Über‐ setzung ästhetisch vieldeutiger Literatur verkürzt, eine glatte, funktionsorien‐ tierte Korrelation von Text und Kultur bzw. sprachlicher und kultureller Diffe‐ renz vorzunehmen. Die Vorstellung, dass das sprachliche Zeichen als Träger fixierbarer kultureller Alterität fungiert, läuft Gefahr, ein Referentialitätsmodell zu perpetuieren, das die Instabilität und Mehrsinnigkeit von Sprache unter‐ schätzt und essentialisierenden Zeichen- und Kulturkonzepten in die Hand spielt. Hinzu kommt, dass homologe Verbindungen zwischen Sprache und Kultur im Zeichen zunehmender Diversität innerhalb von Gesellschaften sowie entsprechender multi- und translingualer Konfigurationen, die Mehrfachzuord‐ nungen, Zwischenräume und hybride Konstellationen implizieren, an Plausibi‐ lität verlieren (vgl. Ette 2006). Welche kulturelle Alterität etwa steht in der deut‐ schen Übersetzung des Erfolgsromans Open City (2011) zur Disposition, verfasst von Teju Cole, einem Autor, der zugleich amerikanisch, nigerianisch, amerika‐ nisch-nigerianisch und postnational ist und dessen Roman einen in New York lebendenden nigerianisch-deutschen Protagonisten ins Zentrum stellt? Eine Übersetzungskritik, die sprachliche, kulturtheoretische und ideologiekritische Aspekte zusammendenkt, sollte sprachliche Differenz auch als Moment einer ästhetisch ermöglichten Selbstreflexion und kommunikativen Friktion ver‐ stehen, das zwar kulturelle Wissensordnungen anklingen lässt, sich aber ein‐ deutigen Funktionszuschreibungen widersetzt. Die sozio-politische und ethische Bedeutung von Übersetzungen erwächst aus der ihnen eingelassenen Dynamik von Eigenem und Fremden, eine Dy‐ namik, die, und das ist zentral, Übersetzungen einerseits implizieren und ande‐ rerseits in ihrer Performativität mitgestalten. Übersetzung, so Anselm Haver‐ kamp (1997: 7), „ist die Agentur der Differenz, welche die trügerische Identität von Kulturen sowohl schafft, als auch sie im Zwiespalt ihrer ursprünglichen Nicht-Identität erneuert und vertieft“. Übersetzungen können gleichermaßen identitätsstabilisierende wie -destabilisierende Effekte haben. Sie führen zum einen differentielle Kategorien und Irritationen in Sprache und Kultur ein und öffnen das Eigene für das Andere; 8 zum anderen können sie den Monolingua‐ lismus insbesondere von hegemonialen Sprachgemeinschaften fördern und per‐ formativ durch die Markierung als ‚eigen‘ und ‚fremd‘ homogenisierende Vor‐ stellungen von Sprache und Gemeinschaft festigen. Es sind diese letzteren, auf 16 Birgit Neumann 9 Die Unterscheidung zwischen domestizierendem und verfremdendem Übersetzen geht bekanntermaßen auf Friedrich Schleiermachers Aufsatz „Über die verschiedenen Me‐ thoden des Übersetzens“ (1813) zurück. Eine differenzierte historische Einordnung des Aufsatzes liefert Snell-Hornby (2015). Zur Übersetzungstheorie der deutschen Ro‐ mantik, eingeschlossen ihrer Abgrenzung von der französischen Praxis der belles infi‐ dèles siehe Lee (2014: 99). Identitätsstabilisierung angelegten Übersetzungen, die Venuti von der episte‐ mischen ‚Gewalt der Übersetzung‘ sprechen lassen: [T]he violence […] resides in the very purpose and activity of translation: the recon‐ stitution of the foreign text in accordance with values, beliefs and representations that preexist it in the target language, always configured in hierarchies of dominance and marginality, always determining the production, circulation and reception of texts. […] Translation is the forcible replacement of the linguistic and cultural differ‐ ences of the foreign text with a text that is intelligible to the translating-language reader. […] The aim of translation is to bring back a cultural other as the recognizable, the familiar, even the same; and this aim always risks a wholesale domestication of the foreign text (Venuti 2008: 14). Man muss den übergeneralisierenden Charakter der Aussage nicht mittragen, aber auch die Geschichte der Übersetzung zeigt, dass Übersetzungen, die Alte‐ rität tilgen bzw. domestizieren und an die Ordnungen der ‚eigenen‘ Sprache anpassen, zumeist dann Konjunktur haben, wenn es darum geht, das Monopol einer Kultur zu stärken bzw. durchzusetzen. Domestizierende Übersetzungen, wie Venuti sie in Rückgriff auf die romantische Übersetzungstheorie von Fried‐ rich Schleiermacher (1813) nennt, sind auf Glättung von Differenz im Dienste eines scheinbar reibungslosen Transfers von einer literarischen Kultur in eine andere und auf Bestätigung bestehender Ordnungen angelegt. 9 Anstatt die Fremdheit des Textes zu kuratieren und für Momente ästhetischer und kultur‐ eller Brechung, Neuerung und Irritation produktiv zu machen, schmelzen do‐ mestizierende Übersetzungen Fremdes ein und setzen an dessen Stelle das Ei‐ gene. Ein Blick auf die Übersetzungsgeschichte zeigt aber auch, dass es oftmals domestizierende Übersetzungen sind, die neuen, scheinbar fremden Autor: innen zur Geltung verhelfen und die (wahrgenommene) historische und kulturelle Distanzen überbrücken. Dies zeigt die Geschichte der deutschen Shakespeare-Übersetzungen ebenso wie zahlreiche Übersetzungen von anglo-afrikanischen Literaturen. Anders gesagt: Domestizierende Überset‐ zungen können zumindest für eine größere Wahrnehmung, bisweilen sogar Akzeptanz von bislang unbekannten fremdsprachigen Autor: innen sorgen. Häufig sind es dann, wie etwa im Fall von Chinua Achebes Klassiker Things Fall 17 Zur Einleitung: Die Sichtbarkeit der Übersetzung - Zielsprache Deutsch 10 Siehe Venuti (1995: 20): „[F]oreignizing translation seeks to restrain the ethnocentric violence of translation […]. Foreignizing translation in English can be a form of resis‐ tance against ethnocentrism and racism, cultural narcissism and imperialism, in the interests of democratic geopolitical relations.“ Apart (1958), Neuübersetzungen, die verfremdende Strategien einführen und Leser: innen mit der Differenz anderer literarischer Gemeinschaften konfron‐ tieren. Gegen die Gefahr einer auf Tilgung von Differenz angelegten Übersetzungs‐ praxis setzt Venuti - wie viele andere Übersetzungstheoretiker: innen - das wi‐ derständige ‚verfremdende‘ Übersetzen, das sich für sprachliche und kulturelle Andersheit öffnet. 10 Verfremdendes Übersetzen ist für Venuti ‚sichtbares‘ Über‐ setzen, denn es bringt die Spuren anderer Sprachen zum Vorschein und wider‐ setzt sich monologischen Strukturen und universalisierender Aneignung. Ve‐ nutis Prämisse ist, dass sichtbares und verfremdendes Übersetzen die Grenzen eigener Sprach- und Wissensordnungen anzeigt und nicht-assimilierbare Par‐ tikularitäten gegen totalisierende Kulturansprüche stark macht. Verfremdende Übersetzungen, so Venuti in The Scandals of Translation: Towards an Ethics of Difference (1998), erkennen die Eigenwilligkeit des fremden Textes an: „This translation ethics does not so much prevent the assimilation of the foreign text as aim to signify the autonomous existence of that text behind (yet by means of) the assimilative process of the translation.“ (Venuti 1998: 11) Das ethisch relevante Spannungsverhältnis zwischen der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit der Übersetzung impliziert mithin auch „eine Spannung zwischen dargestellter Identität und Nicht-Identität der Kulturen“ (Sepp 2017: 60). Natürlich - dies ist oben angedeutet und darauf haben Kritiker: innen ver‐ schiedentlich hingewiesen (vgl. Grutman 1998; Pym 1995) - ist Venutis Unter‐ scheidung zwischen domestizierenden und verfremdenden Übersetzungen zu dichotom konzipiert. Zwischen domestizierenden und verfremdenden Überset‐ zungen liegen etliche Zwischenformen, die sich eindeutigen Zuordnungen ent‐ ziehen. Anthony Pym (1995) zufolge blendet die Unterscheidung die vermit‐ telnden, transitorischen Räume des Dazwischen aus, wobei es aber gerade diese sind, in denen sich ständig in Bewegung befindliche Übersetzer: innen befinden, die Verbindungen zwischen Sprachen, Texten und Gemeinschaften allererst ausloten und knüpfen. Auch Venutis Korrelation zwischen verfremdend, sichtbar und widerständig greift zu kurz, denn letztlich kann jedwede Überset‐ zung zum Instrument von ethnozentrischer Selbstbehauptung werden (vgl. Ty‐ moczko 2000; Boyden 2006). Wie u. a. Pym (1995) in seiner Kritik an Schleier‐ macher und Venuti darlegt, zeigt nicht zuletzt die deutsche Geschichte, dass das verfremdende Übersetzen oftmals in den Dienst des Nationalen gestellt und für 18 Birgit Neumann die Profilierung der Nationalsprache sowie des Nationalbewusstseins verein‐ nahmt wurde. Um zu einer differenzierten Einschätzung des Wirkungspoten‐ tials von domestizierenden und verfremdenden Übersetzungen zu gelangen, gilt es darüber hinaus auch, Hierarchien zwischen Sprachen zu berücksichtigen. Wie übersetzungssoziologische Ansätze zeigen (vgl. Sapiro 2015; Casanova 2015), werden etwa Texte, die in einer auf dem internationalen Buchmarkt als presti‐ geträchtig angesehenen Sprache verfasst sind, häufiger verfremdend übersetzt als Texte aus weniger prestigeträchtigen Sprachen. Anders gewendet: Hegemo‐ niale Alterität, allen voran diejenige von englischsprachigen Texten, wird sel‐ tener getilgt als die von minoritären oder peripheren Sprachen, wobei es aber gerade letztere sind, die, wie Gayatri Spivak betont, besonderen Schutzes be‐ dürfen (vgl. Spivak 1993). Venutis Korrelation greift aber auch angesichts his‐ torisch und kulturell variabler Literaturverständnisse und Translationsprak‐ tiken (vgl. Coldiron 2012), verschiedener Rezeptionsweisen und Veränderungen des internationalen Buchmarktes zu kurz. Der gegenwärtige Buchmarkt bei‐ spielsweise setzt im Lichte einer regelrechten „alterity industry“ (Huggan 2001: x) verstärkt auf die Vermarktung von ‚Identität‘ und ‚Differenz‘. Gerade in rezenten Übersetzungen von postkolonialen Literaturen ist (selektive) Sicht‐ barkeit, etwa in Form der Integration fremdsprachlicher Begriffe, zu einer er‐ wartbaren Strategie geworden: Sie dürfte sich im Lektüreprozess problemlos als Chiffre für eine nicht näher zu bestimmende, allenfalls noch exotisierend wir‐ kende Fremdheit naturalisieren lassen (dies gilt umso mehr, wenn entspre‐ chende Begriffe, wie häufig üblich, kursiviert sind); verdichtet sich aber wohl kaum zu einer Ethik der Differenz. Kreative und eigenwillige Übersetzungen, Übersetzungen, die die Spuren an‐ derer Sprachen, eingeschlossen ihrer semantischen Kategorisierungen, Form‐ gebungen und konkreten Materialitäten, sichtbar und auch hörbar werden lassen, die der Versuchung entgehen, bestehende und eingeschliffene Sprach‐ muster im Sinne der Transparenz und Leserfreundlichkeit zu reproduzieren, sind nicht an und für sich ethisch. Sie bieten aber eine Möglichkeit, identitäts‐ stabilisierende Homogenitätsfantasien zu unterlaufen und festgezurrte sprach‐ liche Kategorien an ihre Grenzen stoßen zu lassen (vgl. Gerling / Santana López 2018). Sie schreiben der Zielsprache die Eigenwilligkeiten anderer Sprachen, Denkordnungen und Kulturen ein; sie versehen das scheinbar allzu Vertraute mit dem ‚Stachel der Fremdheit‘ (vgl. Waldenfels 1990) und sorgen damit zu‐ gleich für eine ständige Fortschreibung und unvorhersehbare Erweiterung der Zielsprache. Dabei sind sie zugleich eine Chance, die Besonderheiten einzelner Sprachen und die durch sie ermöglichten epistemischen und affektiven Welter‐ fahrungen zum Vorschein zu bringen. ‚Sichtbare‘ Übersetzungen schaffen einen 19 Zur Einleitung: Die Sichtbarkeit der Übersetzung - Zielsprache Deutsch 11 Siehe Coldiron (2012: 189), die betont: „If we expand Venuti’s powerful concept to inc‐ lude more generally the in / visibilities of all foreign elements in a text, […] then the visibly foreign elements in translations may appear not only as sites of resistance that bring to light the too-often suppressed labor and art of translators, but also as aesthetic successes of collaborative intertextuality, and perhaps even as ethical models for en‐ countering alterity.“ 12 Siehe auch Beecroft (2015: 5), der von einem „dialect continuum“ spricht, das der Stan‐ dardisierung von Sprache und ihrer Klassifikation als Nationalsprache vorgängig ist: „Within this continuum it is difficult to draw firm boundaries of mutual intelligibility, and to the extent that they exist such boundaries do not correspond to national boun‐ daries“. Raum, um Neukonfigurationen von Sprache jenseits einer unterstellten Uni‐ versalität zu erproben und sprachliche Entscheidungen reflexiv werden zu lassen. 11 3 Übersetzung zwischen Sprachen, Übersetztheit der Sprache Anders als von Venuti impliziert, geht es bei solchen verfremdenden, die andere Sprache sichtbar machenden Übersetzungen aber nicht nur um die Anerken‐ nung der Differenz einer anderen Sprache und die vollständige ‚Autonomie‘ des Fremden. Vielmehr geht es auch darum, Differenz und Fremdheit innerhalb der eigenen Sprache sichtbar zu machen und allzu statische Unterscheidungen zwi‐ schen der eigenen und der fremden Sprache, wie sie Roman Jakobsons Konzept der interlingualen Übersetzung (1959) unterstellt, durch Hybridisierung und Verflechtung zu verflüssigen (vgl. Berman 1984; Bandia 2008; Young 2016; Neu‐ mann 2020). Historisch konkret macht der Komparatist und Historiker Naoki Sakai (1997, 2009) diesen Sachverhalt. Er argumentiert, dass die Einheit und Zählbarkeit von sogenannten ‚Sprachen‘ Übersetzungen keineswegs vorgängig seien; vielmehr wurden entsprechende Vorstellungen auch durch ein be‐ stimmtes ‚Regime der Übersetzung‘ geschaffen, das eng an den sich im 18. Jahr‐ hundert herausbildenden Nationalstaat und das damit verbundene monolin‐ guale Paradigma geknüpft ist: „[T]ranslation is anterior to the unity of language and […] this unity is posited through the specific representation of translation.“ (2009: 71) In anderen Worten: Das dominante Regime der Übersetzung, das Sprache als Nationalsprache konfiguriert und mit einem Territorium und ‚Volks‐ charakter‘ assoziiert, ist zugleich ein Akt der Grenzziehung, der Differenzen zwischen Sprachen (nicht zuletzt auch in Abgrenzung von sogenannten Dia‐ lekten) hypostasiert und damit Relationen zwischen nunmehr als Nationen vor‐ stellbaren Gemeinschaften entscheidend prägt. 12 Der interlingualen Überset‐ zung ist vor diesem Hintergrund eine Ambivalenz zu eigen, denn sie überbrückt 20 Birgit Neumann 13 Zur Idee einer gastfreundlichen Sprache, der „hospitalité langagière“ (2004: 19), siehe auch Ricœur in Sur la traduction. Ricœur versteht diese Gastfreundschaft als „le plaisir d’habiter la langue de l’autre“ (ebd.). Anders als Derrida setzt er dabei aber die Existenz des Eigenen, eines „propre demeure d’accueil“ (20) voraus, in dem das Fremde emp‐ fangen werden kann. nicht nur Grenzen zwischen Sprachen; vielmehr setzt sie diese Grenzen auch in Szene und konstituiert Sprache damit als eine mehr oder weniger in sich ge‐ schlossene Entität. Jacques Derrida greift die Vorstellung der Fremdheit innerhalb der eigenen Sprache in seiner Schrift Le monolinguisme de l’autre (1996) aus philosophischer Perspektive auf. In dieser stark autobiographisch geprägten Schrift reflektiert er seine Erfahrung als Jude in der französischen Kolonie Algerien und später in Frankreich vor dem Hintergrund hegemonialer Sprachpolitiken. Der Herder‐ schen Vorstellung von einer Muttersprache und einem entsprechend genealo‐ gisch begründeten Sprachbesitz stellt er die Erfahrung sprachlicher Enteignung entgegen und leitet hieraus die These ab, dass Sprache immer nur angeeignet ist. Sprache, so sein wesentliches Argument, ist niemals Eigentum, weil ein na‐ türlicher Zusammenhang zwischen Sprachen, Identitäten, Territorien und Sub‐ jekten nicht besteht. Sie hat immer kulturell multiple bzw. heteronome Her‐ künfte und ist überdies von anderen Sprachen und ihren Geschichten überlagert. Die scheinbar eigene Sprache ist daher immer auch eine Fremdsprache, die Sprache des Anderen, die, nicht zuletzt aufgrund einer ihr eingelassenen diffé‐ rance, nie mit sich identisch ist: „Ma langue, la seule que je m’entende parler et m’entende à parler, c’est la langue de l’autre.“ (Derrida 1996: 47) 13 Gegen die vor allem im Kolonialismus vorherrschende Gewalt kultureller und sprachlicher Usurpation und gegen die Gefahr einer ‚Herrensprache‘ (vgl. 44), die auf mo‐ nokulturelle Hegemonie und Unterdrückung von Differenz angelegt ist, setzt Derrida das transformative Potential der ‚gastfreundlichen‘ Sprache (vgl. 119) - einer Gastfreundschaft vor jeder Einladung. Diese Sprache bleibt für das Andere und den Anderen und somit auch für ihr eigenes Werden offen: „la langue est à l’autre, venue de l’autre, la venue de l’autre.“ (127) Angesichts dieser Verflech‐ tungen findet Übersetzung, so Derrida, eben nicht nur zwischen Sprachen, son‐ dern vielmehr innerhalb jeder einzelnen Sprache statt. Anders gewendet: Jede Sprache ist bereits eine übersetzte, also eine von kultureller und historischer Übersetzung geprägte Sprache. Anselm Haverkamp fasst diese Erkenntnis zu‐ sammen: „Jede der Sprachen, zwischen denen übersetzt, über-gesetzt werden soll, ist bereits eine von Übersetzung tief gezeichnete Sprache: keine ursprüng‐ lich natürliche, sondern eine ursprünglich kultivierte, überbaute Sprache.“ (Ha‐ verkamp 1997: 9) 21 Zur Einleitung: Die Sichtbarkeit der Übersetzung - Zielsprache Deutsch Vor dem Hintergrund Derridas philosophischer Reflexion des Monolingua‐ lismus lässt sich eine ganze Reihe jüngerer literarischer Texte lesen, die Ver‐ flechtungen zwischen scheinbar getrennten Sprachen erproben und in diesem Prozess die Übersetztheit jeder einzelnen sichtbar machen. Oftmals verfasst von Autor: innen, die mehreren Kulturen angehören, die zwischen Welten leben und verschiedene Sprachen sprechen - Feridun Zaimoğlu, Yoko Tawada, Emine Sevgi Özdamar und Philipp Khabo Köpsell stehen dafür ein -, verlagern sie den Akzent auf die Übersetzung innerhalb jeder einzelnen Sprache und machen Übersetzungsprozesse selbst zum zentralen Prinzip poetologischer Kreativität. Die Literaturwissenschaftlerin Rebecca Walkowitz (2015) bezeichnet solche Li‐ teraturen treffend als born translated, also als Texte, die in der Übersetzung ent‐ stehen und deren Poetik durch sprachliche und kulturelle Übersetztheit geprägt ist. Born translated-Texte unterlaufen die Dichotomie zwischen der vorgängigen Kreativität des Originals und der scheinbar bloß imitierenden Nachträglichkeit der Übersetzung und lassen stattdessen die übersetzerische Dimension der Poiesis zum Vorschein treten. Indem sie unterschiedliche Sprachen miteinander in einen Dialog bringen und in diesem Prozess die Grenzen zwischen Sprachen dynamisieren, unterminieren sie eindeutige und eindimensionale Relationen zwischen Sprache, Kultur, Raum und Identität und machen das monolinguale Paradigma als Grundlage nationaler Gemeinschaft hinterfragbar (vgl. Yildiz 2012). Verfasst in verschiedenen Sprachen, einer „plurality without a number“, wie Helgesson und Kullberg (2018: 137) zurecht betonen, bedeuten sie einen Affront für native readers, die meinen, privilegierten Zugang zum Text zu haben, weil dieser in ‚ihrer‘ Sprache verfasst wurde. Es sind Texte, die die transkultu‐ relle Dimension von Sprache jenseits von Binäroppositionen offenlegen und die gegen die ‚Wut der Aneignung‘ (vgl. Derrida 1996: 46) Mehrfachzugehörigkeit, Austausch und Translingualität stark machen. Der Reiz einer solchen unge‐ zähmten Translingualität liegt darin, dass sie sich eben nicht länger auf eine „pluralisierte Einsprachigkeit“ (Stockhammer 2017: 20) zurückführen lässt: Die aufgerufenen Sprachen werden hier ‚fremdgeschrieben‘ (vgl. Ette 2007: 173) und entgrenzt, dabei aber zugleich in eine neue, dritte Sprache übersetzt, die lokal und translokal zugleich ist und die polyzentrische Formen der Gemeinschafts‐ bildung konkret werden lässt: „Translinguale Übersetzungsprozesse“, schreibt Ottmar Ette (174), „charakterisieren sich dabei durch ihre spezifische Unab‐ schließbarkeit. Das ihnen Eigene ist die an keinen Fixpunkt gelangende Bewe‐ gung.“ 22 Birgit Neumann 4 Sichtbarkeit im Spannungsfeld von Text und literarischem Feld Die Praktiken des Übersetzens bieten ein Laboratorium für den Umgang mit sprachlicher Differenz. Dieses Laboratorium wird von verschiedenen, nicht immer gleichberechtigten Akteur: innen bespielt, nämlich von Übersetzer: innen, Lektor: innen, Verlagen, Rezensent: innen, etc. Dies bedeutet auch, dass Sicht‐ barkeit nicht nur ein textuelles Phänomen ist, sondern auch ein institutionelles und institutionell generiertes, das aufs Engste mit dem literarischen Feld ver‐ bunden ist. Das literarische Feld ist, wie u. a. Pierre Bourdieu und Wissen‐ schaftler: innen aus dem Bereich der Übersetzungssoziologie zeigen (vgl. Sapiro 2015; Neumann / Stedman 2020), von nationalen Besonderheiten geprägt; es ist aber auch zunehmend eingebunden in einen transnational operierenden Buch‐ markt, der auf globale Distribution bei gleichzeitiger Berücksichtigung lokal disparater Leserschaften ausgerichtet ist. Die Sichtbarkeit der Übersetzung, so eine zentrale Prämisse des Bandes, entsteht im Spannungsfeld zwischen Text und den literaturrelevanten Institutionen bzw. Agent: innen, also Verlagen, Lektor: innen, Kritiker: innen, Rezensionsorganen, Literaturpreisen, Kanonisie‐ rungsprozessen etc. Wie sichtbar Übersetzungen sein können und sein dürfen, hängt etwa maßgeblich von verlagspolitischen Entscheidungen und (tatsächli‐ chen oder unterstellten) Rezeptionserwartungen ab. Die Übersetzungssozio‐ login Gisèle Sapiro (2015, 2016) hat gezeigt, dass gerade große, vornehmlich nach marktökonomischen Prinzipien operierende Verlage bzw. Verlagskonglomerate glättende Übersetzungen prämieren und dazu tendieren, Übersetzer: innen - z. B. auf Buchcovern oder Verlagsseiten - unsichtbar zu machen. Ihr Name wird zu‐ meist nur auf dem Innenumschlag genannt. Dies gilt verstärkt im Fall der Über‐ setzung von sogenannter Mainstream-Literatur bzw. ‚airport fiction‘, die oftmals auf alt bewährte Plotmuster, Topoi und Erzählverfahren setzt. Der Akt der Übersetzung wird hier kaum als eigene, kreative Leistung anerkannt, sondern zu einem Instrument der Maximierung von Zirkulation herabgesetzt. Instituti‐ onell produzierte Unsichtbarkeit wird von dem Übersetzer, Literaturkritiker und Schriftsteller Jan Wilm in diesem Band auch auf kapitalistische Gewinnsteige‐ rung zurückgeführt: „Durchs Unsichtbarmachen der Übersetzer*innen ergeben sich für Verlage tatsächlich kapitalistische Vorteile, da die Werbekampagne aus‐ schließlich auf die schreibende Person konzentriert werden kann. Es ist in vielen Fällen gar nicht gewünscht, dass man als Übersetzer*in selbst als Fürsprecher*in eines übersetzten Werkes auftritt.“ Hingegen ist bei kleineren, unabhängigen Verlagen oder aber auch im Falle der Übersetzung von klassischer, kanonischer oder international bereits konsekrierter Literatur zumindest eine Tendenz zu erkennen, die kreativen Eigenleistungen von Übersetzungen zu würdigen und 23 Zur Einleitung: Die Sichtbarkeit der Übersetzung - Zielsprache Deutsch 14 Siehe etwa Sandra Richter Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur (2017), die diese Geschichte als Übersetzungsgeschichte rekonstruiert. Übersetzer: innen in ihrer transformativen Agentialität ins Rampenlicht zu rü‐ cken. Bei groß angelegten Übersetzungsprojekten finden sich oftmals Porträts der Übersetzer: innen oder Erläuterungen zum Übersetzungsprozess auf den Verlagsseiten, so etwa bei der Übersetzung von Olga Tokarczuks Księgi Jaku‐ bowe (2014) / Die Jakobsbücher (2019; Kampa Verlag) durch Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein oder im Falle von Sam Selvons Klassiker The Lonely Lon‐ doners (1956) / Die Taugenichtse (2017; dtv), übersetzt von Miriam Mandelkow. Die Übersetztheit wird hier als eigener, symbolischer Wert anerkannt, der der Originalität keinen Abbruch tut, sondern sie im Gegenteil steigert. Mit dieser Anerkennung einher geht ein verändertes Verständnis von übersetzter Literatur, die nunmehr als kollaboratives Projekt erscheint und ohnehin überkommene Vorstellungen vom geschlossenen Werk und der Autonomie von Autor: innen unterläuft. Auch auf anderen Ebenen sind kleinere Veränderungen zu erkennen, die von einem gesteigerten Bewusstsein für den Wert der Übersetzung zeugen. Insbe‐ sondere wurden mehr Übersetzer: innenpreise und -stipendien eingerichtet, so etwa die Radial-Stipendien des Deutschen Übersetzerfonds, der Deutsch-Heb‐ räische Übersetzerpreis oder der Nerval-Goethe-Preis. Und natürlich: Auch die Forschung wendet sich verstärkt der Rolle von Übersetzungen zu, holt diese aus ihrem vermeintlichen Schattendasein heraus und leistet damit einen kleinen Beitrag, die Bedingungen, Möglichkeiten und Folgen von Literaturkontakten zu reflektieren. 14 Diesem Ziel ist auch der vorliegende Band verpflichtet, der die Sichtbarkeit der Übersetzung aus dem Spannungsfeld zwischen Text und lite‐ rarischem Feld heraus begreift und exemplarisch konkretisiert. Um dies zu leisten, werden in dem Teil I „Theorien der Übersetzung“ Formen und Strategien der Un / Sichtbarkeit von Übersetzungen thematisiert und kritisch kommentiert. Klaus Kaindl problematisiert in seinem Beitrag auch unter Rückgriff auf Ralph Ellisons Roman Invisible Man (1952) und dessen (Neu-)Übersetzung allzu eindi‐ mensionale Konzepte von Sichtbarkeit. In seiner theoretischen Fundierung zeigt er in kritischer Auseinandersetzung mit Venutis Thesen, dass flüssige Überset‐ zungen keineswegs gleichzusetzen sind mit der Unsichtbarkeit von Über‐ setzer: innen. Sichtbarkeit, so eines seiner zentralen Argumente, ist keine tex‐ tuell gegebene Kategorie, sondern wird durch verschiedene Akteur: innen generiert und ist damit als ‚multifaktoriell‘ zu konzipieren. In seinem Beitrag über „Dienstboten, Kuppler, Verräter“ setzt sich Albrecht Buschmann aus be‐ griffsgeschichtlicher und kulturtheoretischer Perspektive mit dem Phänomen 24 Birgit Neumann der Sichtbarkeit auseinander und gelangt dabei zu einer Unterscheidung zwi‐ schen einer philologisch objektivierbaren Sichtbarkeit und der kulturellen Wahrnehmung derselben. Um dieser Wahrnehmbarkeit auf die Spur zu kommen, stellt er zwei bislang wenig beachtete Bereiche ins Zentrum, nämlich zum einen die Thematisierung des Übersetzens in Sprichworten und Redens‐ arten, zum anderen die Sichtbarkeit von Übersetzungen in Bibliotheken bzw. Bibliothekskatalogen. Teil II des Bandes „Praktiken der Übersetzung - Zielsprache Deutsch“ setzt sich zum Ziel, interlinguale Übersetzungen ins Deutsche zu analysieren und einige der Voraussetzungen und Effekte translatorischer Entscheidungen zu re‐ flektieren. Berücksichtigt werden nicht nur die Rolle von Übersetzer: innen, sondern auch die Anforderungen des Buchmarktes. Die Analyse sprachlicher Spezifika wird hier ergänzt durch soziologisch orientierte Ansätze zum litera‐ rischen Feld, auch in der Absicht, starre Grenzen zwischen dem sogenannten Innen und Außen des Textes zu dynamisieren. Der Beitrag von Ursula Reutner und Philipp Heidepeter untersucht translatorische Sichtbarkeit aus vergleich‐ ender Perspektive: Es geht um die Übersetzung sowie Neuübersetzung von Ra‐ ymond Queneaus Klassiker Zazie dans le métro (1959), vorgelegt von Eugen Helmlé (1960) bzw. Frank Heibert (2019). Dabei steht der unterschiedliche Um‐ gang mit Namen und Kulturspezifika, die als Kristallisationspunkte für die Ver‐ mittlung sprachlicher und kultureller Alterität verstanden werden, im Vorder‐ grund. Um Fragen nach translatorischer Sichtbarkeit zu beantworten, entwickelt der Beitrag aus sprachwissenschaftlicher Perspektive Kategorien, die das Maß der sprachlichen Akzentuierung von französischen Partikularitäten im Zieltext beschreibbar machen. Es geht weiter mit einem Beitrag von Helena Küster zur „Allgegenwart und Unsichtbarkeit des Englischen in der Zielsprache Deutsch“, der sich wiederum auf grundlegendere Weise mit Venutis Unterschei‐ dung zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit befasst und zugleich die Rolle von Anglizismen in deutschsprachigen Übersetzungen beleuchtet. Der Beitrag problematisiert die kulturspezifische Prägung von Venutis Thesen, die sich, so die grundlegende Einsicht, gerade auch aufgrund symbolischer Hierarchien zwischen Sprachen kaum auf andere Kontexte übertragen lassen. Die Integra‐ tion von Anglizismen in deutschsprachigen Übersetzungen ist eben nicht primär als Strategie der Verfremdung zu verstehen, die auf Akzentuierung von sprach‐ licher und kultureller Differenz ausgerichtet ist. Vielmehr unterstellt sie eine oftmals trügerische Nähe und Verstehbarkeit anglo-amerikanischer Kulturen. Der Beitrag von Eva Ulrike Pirker nimmt sich den übersetzerischen Herausfor‐ derungen an, die „Figur(ation)en des Übersetzens“ in literarischen Texten mit sich bringen. Konkret geht es um die deutsche Übersetzung von Petina Gappahs 25 Zur Einleitung: Die Sichtbarkeit der Übersetzung - Zielsprache Deutsch Roman Out of Darkness, Shining Light (2019), die von Anette Grube (2018) an‐ gefertigt wurde. Übersetzungsfigurationen in der Literatur machen häufig ge‐ rade auf die Unübersetzbarkeit - von Wertvorstellungen und Weltzugängen in unterschiedliche Kontexte, Medien und Sprachen - aufmerksam. Sie erfordern daher ein besonderes Maß von Reflexion über die in der Übersetzung getrof‐ fenen Setzungen. Der Artikel zeigt in einer kontextsensiblen und rezeptionso‐ rientierten Analyse von Grubes Übersetzung Gewinne und Verluste entsprech‐ ender Setzungen. Der darauffolgende Artikel von Rike Bolte beleuchtet die Herausforderungen von Übersetzungen aus indigenen Sprachen in hegemoniale Literatursprachen - ein Thema, das trotz seiner Brisanz bislang kaum Beachtung gefunden hat. Ihr geht es vor allem um ethische Fragen, die die Übersetzung von in Wayuunaiki verfasster Literatur - konkret die Dichtung von Vito Apüshana - aufwirft. Wie lassen sich, so fragt die Wissenschaftlerin und Übersetzerin, die sozialen, politischen, kulturellen und kosmologischen Besonderheiten der süd‐ amerikanischen Wayuu-Kultur - und ihrer Sprache, Wayuunaiki -, überhaupt angemessen ins Deutsche übersetzen? Die Herausforderung, die entsprechende Übersetzungen ins Deutsche bedeuten, gründet nicht zuletzt in dem Umstand, dass diese immer medialisiert sind, also von einer bereits vorliegenden spani‐ schen Übersetzung ausgehen. Christine Ivanovics Beitrag „Die radikale Über‐ setzung“ bildet schließlich den Abschluss von Teil II und schlägt bereits einen Bogen zu Teil III . Ivanovic fragt nach dem Stellenwert von sichtbaren und ver‐ fremdenden Übersetzungen, die trotz aller übersetzungstheoretischer Argu‐ mente bis heute eine untergeordnete Rolle auf dem Buchmarkt spielen. Sind radikalere Formen des Übersetzens, die Mehrdeutigkeiten und Leerstellen ge‐ nerieren, allein die Domäne einer übersetzerischen Avantgarde? Vor diesem Hintergrund lenkt Ivanovic den Blick auf das mehrsprachige und vielschichtige Werk von Yoko Tawada. Tawada ist eine der - im deutschsprachigen Raum stark wahrgenommenen - transkulturellen Autor: innen, die übersetzen und schreiben und das historisch belastete Verhältnis von Original und Übersetzung neu definieren. Teil III „Poetologien der Übersetzung - Übersetzung und Multilingualität in‐ nerhalb deutschsprachiger Literaturen“ verlagert den Akzent von der Überset‐ zung zwischen den Sprachen auf die Übersetztheit innerhalb der Sprache. Er verfolgt das Ziel, jene literarischen Texte, zumeist Beispiele der transkulturellen und exophonen Literatur, zu analysieren, die auf inszenierte Mehr- und Zwi‐ schensprachigkeit setzen, um die inhärente Übersetztheit der deutschspra‐ chigen Literatur und Sprache zum Vorschein zu bringen. Vorstellungen von Sprachen als geschlossenen Gebilden werden hier ebenso in Frage gestellt wie die Herdersche Korrelierung von Territorium, Sprache und Gemeinschaft. Mit 26 Birgit Neumann diesen zwischensprachlichen Konstellationen und translatorischen Poetiken verbinden sich weiterreichende sozio-politische Fragestellungen nach Formen der Sozialität jenseits von identitären Homogenitätskonstruktionen, wie sie etwa durch ‚Nationalsprache‘, aber auch ‚Nationalliteratur‘ perpetuiert werden. Arvi Sepp untersucht in seinem Beitrag Übersetzung als hermeneutische Denk‐ figur in der Prosa von Yoko Tawada und Emine Sevgi Özdamar und zeigt den engen Zusammenhang zwischen Sprachreflexivität und einer Ethik des Kultur‐ transfers auf. Er analysiert die Texte der transkulturellen Autorinnen hinsicht‐ lich der metaphorischen Ausgestaltung sprachlicher und kultureller Dislokation und illustriert, wie der Topos der ‚Zunge‘ zum Ausgangspunkt wird, um eine radikale multikulturelle Erfahrung von Körperlichkeit zwischen Sprachen und Kulturen zu modellieren. Gerade die Sichtbarkeit der Materialität von Sprache und Text dient hier der Profilierung einer transkulturellen Poetik, die sich aus grenzüberschreitenden Literatur- und Kulturpraktiken speist. Der Beitrag von Volker Dörr nähert sich den Erzähltexten von Emine Sevgi Özdamar aus anderer Perspektive, einer Perspektive, die Interferenzen zwischen den beteiligten Spra‐ chen Türkisch, der ‚Muttersprache‘ der Autorin, Arabisch, der Sprache u. a. des Islam, und Deutsch, der vorherrschenden Sprache der Texte, in den Vordergrund rückt. Die translatorische bzw. transkulturelle Poetik Özdamars integriert un‐ übersetzte Wörter, markierte Übersetzungen und unmarkierte wörtliche Über‐ setzungen, um das Verhältnis zwischen Sprachen auszuloten. Deutlich wird dabei, dass solche translatorischen Poetiken eben nicht nur grenzüberschrei‐ tende und subversive Akte sind; vielmehr implizieren sie auch performative Sprechakte, die Differenzen zwischen Sprachen allererst herstellen. Vor dem Hintergrund einer solchen Dynamik von Konstruktion und anschließender De‐ konstruktion stellt sich die Frage nach dem politischen Potential sprachlicher Hybridität in der Tat neu. Es folgt ein Beitrag von Vera Elisabeth Gerling, der den Blick auf María Cecilia Barbettas Roman Nachtleuchten (2018) lenkt und damit einen Roman erforscht, der sprachliche Vernetzungen zum Ausgangs‐ punkt transkultureller Formen der Erinnerung nimmt. Die in Argentinien ge‐ borene, in Berlin lebende Autorin erinnert in ihrer Zweitsprache Deutsch an die Geschichte der argentinischen Militärdiktatur. Übersetzerische Verfahren, so zeigt Gerling, werden in diesem exophonen Werk vor allem genutzt, um kul‐ turelle, nationale und territoriale Grenzen zu überschreiten und einen hybriden Raum des Erinnerns zu schaffen, der sich nationalkultureller Vereinnahmung widersetzt. Teil III schließt mit einem Beitrag von Monika Schmitz-Emans, der literarisch-graphische Inszenierungen sprachlicher Übergänge und Zwischen‐ räume in ausgewählten Texten von Ernst Jandl, Oskar Pastior, Yoko Tawada, Ann Cotten, Theresa Hak Kyung Cha und Uljana Wolf untersucht. Akte der 27 Zur Einleitung: Die Sichtbarkeit der Übersetzung - Zielsprache Deutsch Übersetzung zwischen und innerhalb von Sprachen werden in diesen Texten nicht nur durch vielschichtige multilinguale und zwischensprachliche Poetiken sichtbar; vielmehr werden sie auch durch Brüche mit orthographischen Kon‐ ventionen sowie die Mischung von Schriftsystemen sinnfällig gemacht. Soge‐ nannte fremdschriftliche Texte, dies zeigt der Beitrag eingängig, weisen Leser: innen zumeist beharrlicher ab als fremdsprachliche Texte, denn sie ent‐ ziehen sich selbst einer Oberflächenlektüre. Zugleich haben fremdschriftliche Zeichen, Zeichenketten und Arrangements eine starke ‚Fremdheitsanmutung‘, die zu leserseitigen Auseinandersetzungen mit Fremdheit einlädt, die sie aber auch zu Impulsgebern innovativer Schreibverfahren macht. Der Aufsatz illust‐ riert deutlich, welch vielschichtige Formen die Auseinandersetzung mit Über‐ setzung in der Literatur annehmen kann und welch unterschiedliche Effekte diese translatorischen Poetiken auszulösen vermögen. Der Band schließt mit Beiträgen der Übersetzer: innen Jan Wilm, Reinhild Böhnke, Susanne Lange und Miriam Mandelkow und übergibt damit das letzte Wort denjenigen, um die es hier zentral geht. In ihren in Teil IV versammelten Beiträgen thematisieren Wilm, Böhnke, Lange und Mandelkow die Herausfor‐ derungen und Freiheiten von Übersetzungen, deren Kreativität und Eigensinn im Spannungsfeld zwischen der Agentialität von Übersetzer: innen und den An‐ forderungen des Buchmarktes. Dabei formulieren sie zugleich weiterreichende Ideen, wie Übersetzungen zu größerer Sichtbarkeit verholfen werden kann. Einmal mehr zeigen diese Beiträge, welch immenses Innovationspotential Über‐ setzungen als kreative Interventionen in bestehende Sprach-, Literatur- und Denkordnungen bieten; dieses sichtbarer zu machen und auszuschöpfen bleibt auch weiterhin ein zentrales Desiderat. Literaturverzeichnis Appiah, Kwame Anthony. 1993. „Thick Translation.“ Callaloo 16 / 4, 808-819. Apter, Emily S. 2006. The Translation Zone. A New Comparative Literature. Princeton: Princeton University Press. —. 2009. „Untranslatables. A World System.“ Tamkang Review: A Quarterly of Literary and Cultural Studies 40 / 1, 1-14. Bachmann-Medick, Doris. 2006. Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissen‐ schaften. Reinbek: Rowohlt Verlag. —. 2011. „Übersetzung als Medium interkultureller Kommunikation und Auseinander‐ setzung.“ In: Friedrich Jaeger / Jürgen Straub (Hg.). 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(Ellison 1952: 3) Unsichtbarkeit ist in der Literatur ein immer wiederkehrender Topos. Verknüpft wird diese meist mit Marginalisierung und sozialer Nichtexistenz - aufgrund der Ethnizität, Sexualität oder des Geschlechts. So auch in dem Roman Invisible Man von Ralph Ellison (1952), in dem wir die Geschichte eines namenlosen (schwarzen) Erzählers erfahren, der für seine (weiße) Umwelt unsichtbar ist. Unsichtbarsein bedeutet für den Protagonisten, dass er nur als Projektion wahr‐ genommen wird; was und wer er wirklich ist, ändert sich, je nachdem, wer durch ihn hindurchschaut. Im Roman sind all seine Versuche, sichtbar zu werden, letztlich zum Scheitern verurteilt und er fristet sein Dasein in einem Kellerloch, wo er seine Geschichte erzählt. Indem Ellison die Unsichtbarkeit sichtbar macht, zeigt er, wie eng beide Begriffe miteinander verwoben sind und man trotz phy‐ sisch-visueller Sichtbarkeit letztlich sozial unsichtbar bleiben kann. Der Roman wurde zwei Jahre nach seinem Erscheinen von Georg Goyert unter dem Titel Unsichtbar (Ellison 1954) ins Deutsche übersetzt. In einer Re‐ zension wurde vermerkt, dass der Autor ein „Negerschicksal ganz mit den Mit‐ 1 Eine ausführliche Beschreibung seines Lebens und seiner Übersetzungen findet sich in Barlach u. a. 2017. teln höchster Erzählkunst der weißen Rasse“ erzähle (zit. in: Hettche 1995). Ralph Ellison hat in seinem epochalen Roman jedoch keineswegs nur mit er‐ zählerischen Mitteln von weißen AutorInnen gearbeitet sondern eine Vielzahl von Stilmitteln, wie z. B. Oral History und die musikalische Form des Blues ein‐ gesetzt (vgl. Callahan 2004a), die allerdings in der Übersetzung zugunsten eines flüssigen, den Lesegewohnheiten des Zielpublikums entgegenkommenden Stils in den Hintergrund traten. Die Erstübersetzung wurde - mit neuem Titel, nun‐ mehr Der unsichtbare Mann - 1995 neu aufgelegt und schließlich 2019 vom Übersetzer Hans-Christian Oeser stark überarbeitet, wobei dieser sich viel stärker als Goyert an den Stil und sprachlichen Duktus des Originals anlehnte. Georg Goyert (1884-1966), der Erstübersetzer, arbeitete aus dem Englischen, Französischen, Italienischen und Niederländischen und übersetzte insgesamt 135 Werke von knapp 60 verschiedenen AutorInnen, darunter James Joyce, Vir‐ ginia Woolf, Aldous Huxley, D. H. Lawrence etc. 1 Obwohl er durch seine Über‐ setzungen zahlreiche AutorInnen erstmals einem deutschen Publikum näher‐ brachte, blieb er zeitlebens ein diskreter Kulturvermittler, der in der Öffentlichkeit kaum in Erscheinung trat. Hans-Christian Oeser (geb. 1950), der die überarbeitete neue Version schuf, übersetzt aus dem Englischen und ist auch schriftstellerisch tätig. Er ist durch Lesungen aus seinen Übersetzungen und eigenen Texten, durch Vorträge und Interviews, aber auch durch soziale Medien sowie eine eigene Homepage ( URL : Oeser Website) öffentlich präsent und sichtbar. Betrachtet man diese beiden Übersetzungen und Übersetzer, so scheint die Sache - folgt man Lawrence Venutis (1995) Vorstellung von Sichtbarkeit - ein‐ deutig: Eine erste Übersetzung, die nicht so sehr die Eigenheit und damit Fremd‐ heit des Originals in den Blick nimmt, sondern einen eher gut lesbaren Text zum Ziel hat und damit gewissermaßen das Übersetzt-Sein des Textes verschleiert; eine andere Übersetzung, die - auch wenn sie keine völlige Neuübersetzung darstellt - in vielen Fällen versucht, den sprachlichen Duktus des Originals wiederzugeben und somit als Übersetzung sichtbar ist. Ein erster Übersetzer, der trotz seiner Produktivität in der Öffentlichkeit kaum in Erscheinung tritt, wäh‐ rend der zweite Übersetzer, Hans-Christian Oeser, medial präsent ist und auch als „respecter of difference“ (Oeser 1997) gewissermaßen das Sichtbarmachen von Fremdem propagiert. Im Roman von Ralph Ellison hingegen sind die Rollen und Funktionen von Sicht- und Unsichtbarkeit nicht derart eindeutig verteilt. Der namenlose Er‐ 36 Klaus Kaindl zähler nutzt seine Unsichtbarkeit durchaus auch zu seinem Vorteil, da er un‐ greifbar für sein Gegenüber bleibt und so auch frei sprechen kann. Auch am Ende des Romans, wenn er sich entscheidet, seine Höhle zu verlassen, bleibt unklar, welche Auswirkungen dies auf seine Sichtbarkeit haben wird: „I’m sha‐ king off the old skin and I’ll leave it here in the hole. I’m coming out, no less invisible without it, but coming out nonetheless.“ (Ellison 1952: 581) Es bleibt den LeserInnen überlassen, ob der Erzähler damit seine Unsichtbarkeit resig‐ nativ akzeptiert oder sie als einen Raum für eine neue, eigene Handlungsmäch‐ tigkeit sieht. Während im Roman die Vieldeutigkeit und die komplizierten Bedingungen von (Un-)Sichtbarkeit zu Tage treten, wird der Sichtbarkeitsbegriff in der Über‐ setzungswissenschaft meist sehr eindeutig, um nicht zu sagen eindimensional gesehen. Der folgende Beitrag will daher blinde Flecken in der übersetzungs‐ wissenschaftlichen Diskussion von Sichtbarkeit aufzeigen und einen Beitrag zu ihrer Theoretisierung und auch Differenzierung leisten. Hierfür sollen ausge‐ hend von Venutis Forderung nach Sichtbarkeit bzw. Kritik an der Unsichtbarkeit von ÜbersetzerInnen, Erkenntnisse aus anderen Disziplinen, die sich mit Sicht‐ barkeit beschäftigen, herangezogen und für die Übersetzungswissenschaft nutzbar gemacht werden. 2 Theoretische Aspekte von Sichtbarkeit Ellison hat in seinem Roman gezeigt, dass man Unsichtbarkeit sichtbar machen muss, um sie zu erkennen. In der Übersetzungswissenschaft hat dies Venuti (1995) geleistet, indem er erstmals die Unsichtbarkeit von ÜbersetzerInnen the‐ matisierte. Ausschlaggebend ist für ihn dabei die Übersetzungsmethode: Je flüssiger sich eine Übersetzung liest, je stärker sie das Fremde, das Andere des Originals verschleiert, desto unsichtbarer wird sie und damit auch die überset‐ zende Person. Ihm geht es somit um die Effekte, die bestimmte Übersetzungs‐ methoden auslösen. Vom US -amerikanischen Buchmarkt und von Verlagen wird laut Venuti eine flüssige, domestizierende Übersetzung forciert, die die kulturellen und sprachlichen Eigenheiten des Originals für das Publikum neut‐ ralisiert und so die, wie Jiri Levy (1969) es formulieren würde, „Illusion“ erzeugt, ein englischsprachiges Original zu lesen. Als sichtbare Übersetzungsstrategie identifiziert Venuti die verfremdende Übersetzung, deren Möglichkeiten und Spielarten er im weiteren Laufe des Bu‐ ches beschreibt. Er versteht diese übersetzerische Haltung als einen Akt des Widerstands „against ethnocentrism and racism, cultural narcissism and impe‐ rialism in the interest of democratic geopolitical relations“ (Venuti 1995: 20). 37 Sichtbarkeit(en) der Übersetzung - Sichtbarkeit(en) der ÜbersetzerInnen 2 Am heftigsten wohl die Kritik von Pym (1996), weitaus sachlicher Delabastita (2010). Sein „call to action“, wie das letzte Kapitel des Buches lautet, ruft Übersetzer- Innen dazu auf, Übersetzungen dazu zu nutzen, das kulturell Andere sichtbar zu machen und so letztlich auch dazu beizutragen, die Lesegewohnheiten zu ändern: A translated text should be the site where a different culture emerges, where a reader gets a glimpse of a cultural other, and resistancy, a translation strategy based on an aesthetic of discontinuity, can best preserve that difference, that otherness, by re‐ minding the reader of the gains and losses in the translation process and the un‐ bridgeable gap between cultures. (Venuti 1995: 306) Sichtbarkeit wird bei Venuti aus einem ethischen Blickwinkel betrachtet und mit einer bestimmten Übersetzungsmethode, nämlich der verfremdenden Über‐ setzung, erreicht. Sein Buch leistete zweifelsohne einen wesentlichen Beitrag zu einer Neufokussierung des übersetzungswissenschaftlichen Interesses, das nun‐ mehr die übersetzende Person verstärkt in den Blick nahm. Gleichzeitig gab es auch heftige, teils polemische Kritik. 2 Ohne das Verdienst Venutis schmälern zu wollen, bleiben eine Reihe von offenen Fragen, die Jieun Kiaer, Jennifer Guest und Xiaofan Amy Li (2019: 2) auf den Punkt bringen: How and when is something made visible through translation, perhaps at the cost of obscuring something else? (In)Visible to whom and made (in)visible by whom, for what purposes and in what contexts? Maybe it is precisely the understanding of in‐ visibility that needs to be diversified and made more visible in discussions about translation, rather than easily dismissing invisibility as undesirable. Für einen umfassenden Blick auf die Frage der Sichtbarkeit, ihre Manifestati‐ onsformen und ihr Verhältnis zur Unsichtbarkeit, die A. E. B. Coldiron (2012: 189) als „mirror notion“ bzw. „alter idem“ bezeichnet, scheint es nützlich, über den disziplinären Zaun zu blicken. Erkenntnisse und Diskussionen aus den Kunstwissenschaften (z. B. Schaffer 2008; Klein / Mai / Tumanov 2017), der Phi‐ losophie (z. B. Foucault 1977), der Kritischen Theorie (z. B. Butler 1990, 2004), und vor allem der Soziologie (z. B. Honneth 2003a, 2003b; Thompson 2005; Brig‐ henti 2007, 2017), können wertvolle Beiträge zu einer Theoretisierung transla‐ torischer (Un-)Sichtbarkeit leisten. Zunächst jedoch sollen einige der Probleme und offenen Fragen, die Venutis Verständnis von Sichtbarkeit mit sich bringen, dargelegt werden. Fremdheit scheint bei Venuti ein im Text gesetztes Faktum zu sein. Wenn allerdings in der Übersetzung Fremdheit repräsentiert wird, so bedeutet dies 38 Klaus Kaindl nicht, dass damit eine Realität des Anderen wiedergegeben wird. Judith Butler, unter anderen, weist auf die Gefahr hin, die Beziehung zwischen der sichtbaren Repräsentation und dem Realen zu verwechseln: „[T]he real is positioned both before and after its representation; and representation becomes a moment of the reproduction and consolidation of the real“ (Butler 1990: 106). Eine Absolutset‐ zung des kulturell Anderen bzw. seiner Repräsentation in der Übersetzung, wie dies Venuti indirekt fordert, birgt letztlich auch die Gefahr seiner bzw. ihrer Essentialisierung. Wie Clive Scott (vgl. 2012: 11) treffend feststellt, führt die Annahme einer unhinterfragten Differenz zwischen zwei Sprachen dazu, dass ÜbersetzerInnen in Begriffen wie sprachlicher Identität und nationaler Kultur gefangen gehalten werden und damit der Blick auf andere übersetzerische Mög‐ lichkeiten und damit auch Formen von Sichtbarkeit versperrt wird. Das kulturell Andere und seine Vermittlung durch eine verfremdende Über‐ setzungsstrategie wird bei Venuti in eine lineare Relation zur Sichtbarkeit ge‐ setzt. Sichtbarkeit wird also von vornherein und unabhängig von situativen, sozialen und kulturellen Faktoren mit bestimmten Eigenschaften verknüpft, eine Haltung, die der Soziologe Axel Honneth in seiner Diskussion von Sicht‐ barkeitskategorien als „starken Wertrealismus“ (Honneth 2003a: 331) be‐ zeichnet. Sichtbarkeit ist jedoch von Normen, Erwartungen und Werten ab‐ hängig, die einem ständigen, kulturellen und sozialen Wandel unterworfen sind. Folglich erweist sich die Annahme einer starren Korrelation zwischen Sicht‐ barkeit und einer bestimmten Übersetzungsmethode als nicht haltbar, was ge‐ rade bei einem weiteren Blick zurück in die Geschichte der Übersetzung deutlich wird: Wie Coldiron (2012) in ihrer Studie zeigt, wurde die (Un-)Sichtbarmachung des Fremden in verschiedenen Epochen mit unterschiedlichen Wertigkeiten versehen. Eine flüssige Übersetzung bedeutete nicht automatisch Unsichtbar‐ keit von ÜbersetzerInnen, im Gegenteil, sie konnten durch Vorworte, Kommen‐ tare auf die Schwierigkeiten der Übersetzung hinweisen, ihren Wert hervor‐ streichen und gleichzeitig das Fremde weitgehend naturalisieren. Gerade eine - zumindest als Postulat - stark einbürgernde Übersetzung, wie Luthers deutsche Fassung der Bibel zeigt, wie immens sichtbar und exponiert eine Übersetzung sein kann, obwohl sie gerade die Lesbarkeit und Verständlichkeit zur Maxime erhebt. Zwar integriert Venuti - wie auch der Untertitel seines Buches deutlich macht - eine historische Dimension in seine Betrachtungen, die allerdings im Wesentlichen nur ins 19. Jahrhundert, das von der romantischen Sicht auf die Fremdheit der Sprachen geprägt war, zurückreicht. Wie eine Übersetzung in Erscheinung tritt und damit sichtbar wird, wird durch die Normen und Erwartungen und auch die Einstellungen geregelt, die in einer Zeit, einer Kultur einer Gesellschaft für ein bestimmtes Genre bestehen. 39 Sichtbarkeit(en) der Übersetzung - Sichtbarkeit(en) der ÜbersetzerInnen 3 Das bei Honneth gesellschaftstheoretisch breit angelegte Konzept der Anerkennung muss bei seiner übersetzungswissenschaftlichen Adaptierung auf Texte, genauer gesagt Übersetzungen, natürlich stärker auf den Aspekt der Anerkennung individueller Leis‐ tungen eingeschränkt werden. In diesem Zusammenhang scheint auch eine genauere Unterscheidung von Sichtbarkeit in einen Akt des Erkennens und des Anerkennens, wie sie der So‐ zialphilosoph Axel Honneth (2003b) vorgenommen hat, für die Übersetzung sinnvoll zu sein: 3 Das Erkennen eines Translats stellt einen Akt der Identifika‐ tion dar. Dieser wird gesetzt, indem ich bewusst wahrnehme, dass ein Text eine Übersetzung ist. Da Übersetzungen zeit- und kulturabhängig unterschiedliche Merkmale aufweisen können, sind auch die jeweiligen Identifikationsmerkmale unterschiedlich. Vom Erkennen der Übersetzung ist die Anerkennung der Über‐ setzung zu unterscheiden. Anerkennung stellt einen „expressiven Akt“ dar, durch den dem Identifikationsakt „die Bedeutung des ‚Geltenlassens‘ der ‚Be‐ fürwortung‘“ verliehen wird (Honneth 2003b: 15). Das komplexe und komplizierte Verhältnis dieser beiden Dimensionen von Sichtbarkeit kann an der Übersetzung von Lawrence Norfolks Roman Lempriè‐ re’s Dictionary (1991) illustriert werden. Die Übersetzung löste - mit einiger Zeitverzögerung - eine heftige Debatte um die Qualität der Übersetzung bzw. (fehlende) Maßstäbe der Übersetzungskritik aus. Sie veranschaulicht allerdings auch das dynamische Verhältnis zwischen Erkennen und Anerkennen der Über‐ setzung. Als die Übersetzung von Hanswilhelm Haefs im Herbst 1992 erschien, waren die Rezensionen meist hymnisch. Der Fokus lag auf den Konstruktions‐ prinzipien des Romans, seinen historischen Bezügen und vor allem den sprach‐ lichen Meriten von Norfolk, die mit Umberto Eco und Thomas Pynchon vergli‐ chen wurden. Dass es sich um eine Übersetzung handelte, wurde nirgends ausführlich thematisiert; die stilistischen Eigenschaften des deutschen Textes wurden ausschließlich dem Autor zugeschrieben. Das Identifizieren des deutschsprachigen Textes als Übersetzung erfolgte sehr beiläufig: In der Rezen‐ sion von Die Zeit (vgl. Kilb 1992) wurde lediglich am Ende der Rezension in den bibliographischen Angaben der Name des Übersetzers genannt; im Spiegel wurden die bibliographischen Angaben inklusive Nennung von Hanswilhelm Haefs in den Text eingefügt (vgl. Saltzwedel 1992). Wofür der Übersetzer Aner‐ kennung erhielt, waren seine Sacherläuterungen, die für die Lektüre als hilfreich erachtet wurden (vgl. Saltzwedel 1992). Die Tatsache, dass der Übersetzer in einem Nachwort explizit anführte, dass er seine Aufgabe in der strengen Nach‐ bildung des Originals und nicht im „Dienst an sogenanntem ‚schönen Deutsch‘“ sieht (Haefs 1992: 711), wurde nirgends erwähnt. 40 Klaus Kaindl 4 Dieser Brief sowie die gesamte Dokumentation der darauffolgenden Diskussion in un‐ terschiedlichen Printmedien findet sich in der Sondernummer der Zeitschrift Der Über‐ setzer (1993) wieder. Einige Monate später ging allerdings ein heftiges Rauschen durch das deut‐ sche Feuilleton: 11 literarische ÜbersetzerInnen wandten sich in einem offenen Brief, der an den Verlag der deutschen Ausgabe, Buchhändler- und Verleger‐ verbände sowie die Presse ging, gegen die Übersetzung mit dem Argument: 4 „Es ist gar keine Übersetzung, sondern ein schon im Ansatz falscher und in der Ausführung jämmerlich gescheiterter Versuch einer Übersetzung.“ (Baumrucker u. a. 1992 / 1993: 1) Die Übersetzung erfüllt laut den unterzeichnenden Überset‐ zerInnen nicht die Identifikationsmerkmale einer Übersetzung, folglich kann sie als solche auch nicht anerkannt werden. Mit dem Versuch, die Übersetzung nicht gelten zu lassen - eine Form der Unsichtbarmachung - rückte die Übersetzung und die Legitimität der von Hanswilhelm Haefs postulierten verfremdenden Übersetzungsstrategie jedoch erst recht ins Rampenlicht. Die klare Sichtbar‐ keitsordnung von Venuti - auf der einen Seite die Verlage, die eine flüssige und damit unsichtbare Übersetzung wollen, auf der anderen Seite die Übersetzer- Innen als MaklerInnen der Fremdheit - wurde dabei zum Teil auf den Kopf gestellt: Der Knaus Verlag, in dem Lemprière’s Wörterbuch erschien, aber auch Verlagslektoren, wie Karl Heinz Bittel, plädierten für eine sperrige und gegen eine flüssige, leicht verständliche Übersetzung (vgl. Bittel 1993: 10 f.), während ÜbersetzerInnen darin vor allem einen Mangel an Stilempfinden, Sprach‐ kenntnis und fehlender Lektoratsqualität sahen. Dass der Verlag sicherlich auch - oder vielleicht sogar vornehmlich - aus ökonomischen Gründen so ar‐ gumentierte, um den bis dahin sehr erfolgreichen Verkauf des Buches nicht zu gefährden, ist sehr gut möglich. Dieser Fall zeigt sehr deutlich, dass Sichtbarkeit nicht einfach ist, sondern durch die Handlungen und unterschiedlichen Inte‐ ressen der beteiligten AkteurInnen geschaffen wird. Sichtbarkeit vollzieht sich nicht auf eine bestimmte Weise, sie ist multifaktoriell. Die Praktiken der Sicht‐ barmachung sind dabei abhängig von sozialen, kulturellen, ästhetischen und auch ökonomischen Faktoren, die letztlich auch ausschlaggebend sind, inwie‐ weit die Sichtbarkeit positiv oder negativ ausfällt. Während in der Übersetzungswissenschaft Sichtbarkeit grundsätzlich als po‐ sitiv dargestellt und Unsichtbarkeit als Problem erachtet wird, werden von Wis‐ senschaftlerInnen anderer Disziplinen auch die dunklen Seiten der Sichtbarkeit bzw. die Vorteile der Unsichtbarkeit thematisiert. Vor allem Michel Foucault hat gezeigt, wie Sichtbarkeit zu einem Instrument der Kontrolle werden kann. In seinem Buch Überwachen und Strafe (1977) beschäftigt er sich ausgehend von den Überwachungspraktiken in Strafsystemen mit der Problematik der Sichtbarkeit 41 Sichtbarkeit(en) der Übersetzung - Sichtbarkeit(en) der ÜbersetzerInnen und kommt zu dem Schluss: „Sichtbarkeit ist eine Falle.“ (Foucault 1977: 257) In der Folge wurde auch in anderen - vor allem in sozialen - Kontexten Sichtbar‐ keit kritischer diskutiert. Auch ÜbersetzerInnen sehen Sichtbarkeit nicht zwangs‐ läufig als Vorteil. So schreibt die Übersetzerin Mascha Dabić (2020: 62): häufig ertappe ich mich dabei, dass ich mich frage, ob Sichtbarkeit nicht überbewertet wird, oder, anders gesagt, ob die Kraft, die der Unsichtbarkeit innewohnt, nicht mit‐ unter unterschätzt wird. Ja, Übersetzer arbeiten im Stillen, in der Unsichtbarkeit, aber darin steckt auch ein großes Potenzial. Unsichtbarkeit ist auch ein Schutz. Sich au‐ ßerhalb des Rampenlichts zu bewegen und doch Teil der Literaturproduktion zu sein, ist nicht zwingend ein Nachteil. Die Literaturkritikerin Sieglinde Geisel (2018), sieht in der Unsichtbarkeit sogar eine Möglichkeit, Macht auszuüben: „Übersetzerinnen haben Macht, umso mehr, als sie meistens unsichtbar bleiben.“ Gerade in asymmetrischen Macht‐ konstellationen kann Unsichtbarkeit ein großer Vorteil sein, da sie Übersetzer- Innen hilft, weniger angreifbar zu sein. Aber nicht nur in gesellschaftlichen Machtkonstellationen, in denen einige wenige die Kontrolle über viele andere anstreben, kann Sichtbarkeit problema‐ tisch sein. Auch durch die neuen Kommunikationsmedien - von sozialen Me‐ dien über Youtube, interaktive Websites etc., durch die der Einzelne für viele sichtbar wird, kann Sichtbarkeit, wie es John Thompson nennt, ein zweischnei‐ diges Schwert sein (vgl. Thompson 2005: 41), da Kommunikationsverläufe auch unkontrollierbare Dynamiken auslösen können und die ständige Beurteilung und Überprüfung durch andere Netzuser auch zu einer Belastung werden kann. Aus dem bisher Gesagten sollte deutlich geworden sein, dass eine theoreti‐ sche Fundierung von Sichtbarkeit nicht von einer statischen oder eindeutigen Beziehung zwischen Macht, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit auf der einen Seite und bestimmten Übersetzungsmethoden auf der anderen Seite ausgehen kann, sondern die verschiedenen Einflussfaktoren, die letztlich die Frage der Sicht‐ barkeit bestimmen, in ihrer dynamischen Vernetztheit in den Blick nehmen muss. Auch muss der, wie es Tom Holert im Kontext der Kunstkritik formulierte, „Imperativ der Sichtbarkeit“ (Holert 2002: 200) in der Übersetzungswissenschaft kritisch hinterfragt werden. Wenn Sichtbarkeit nicht nur ein Schlagwort für die Übersetzungswissen‐ schaft sein soll, sondern ein vollwertiges übersetzungswissenschaftliches In‐ strument, so braucht es eine Theorie übersetzerischer Sichtbarkeit. Hierfür kann der soziologische Ansatz von Andrea Brighenti (2007, 2017) herangezogen und adaptiert werden. Für Brighenti beruht Sichtbarkeit auf drei Säulen: Ästhetik und Politik, die durch eine bestimmte Symbolik miteinander verbunden sind 42 Klaus Kaindl 5 Eine andere Kategorisierung trifft Koskinen, die zwischen textueller, paratextueller und extratextueller Sichtbarkeit unterscheidet (vgl. Koskinen 2000: 99). (vgl. Brighenti 2007: 324 f.). Überträgt man dies auf die Übersetzung, so liegt Sichtbarkeit am Schnittpunkt der Übersetzungspoetik einerseits, d. h. welche Haltung ÜbersetzerInnen zur Übersetzung und ihrem Umgang mit dem Aus‐ gangstext einnehmen und wie diese sich in Übersetzungsstrategien manifestiert; und der Übersetzungspolitik andererseits. Letztere bezeichnet die Machtbezie‐ hungen, die das Verhältnis von Übersetzung und Original, von ÜbersetzerIn und den anderen beteiligten AkteurInnen wie Verlage, AutorInnen, Publikum, prägen. Das verbindende Symbol zwischen diesen beiden Dimensionen wäre die Fremdheit des Ausgangstextes, die sowohl für die Übersetzungspoetik als auch die Übersetzungspolitik der Dreh- und Angelpunkt sind. In welchem Licht Fremdheit dabei gesehen wird, wie mit ihr in der Übersetzung umgegangen wird und ob dieser Umgang zur Sichtbarkeit oder Unsichtbarkeit führt, kann nur vor dem Hintergrund der jeweiligen historischen, kulturellen und sozialen Bedin‐ gungen analysiert werden. Die Relationalität von Sichtbarkeit - und dies machte die Diskussion der Übersetzung von Lemprière’s Dictionary deutlich - bezieht sich auch auf das Verhältnis von Übersetzung und ÜbersetzerIn. Zwar bezieht sich Sichtbarkeit immer auf beides - sowohl den Text als auch die Person - das Verhältnis ähnelt dabei am ehesten der Figur-Grund-Wahrnehmung. Was bzw. wer im Vorder- oder Hintergrund steht, hängt davon ab, worauf ich meine Aufmerksamkeit richte. Je stärker die individuelle Spezifik einer Übersetzung in den Blick gerät, desto stärker wird sich Sichtbarkeit auf die übersetzende Person beziehen, je generischer das Wesen der Übersetzung betrachtet wird, desto stärker wird Sichtbarkeit am Text festgemacht werden. Darüber hinaus spielt auch eine Rolle, von welcher Dimension von Sichtbarkeit die Rede ist. Diese sollen im folgenden Abschnitt näher behandelt werden. 3 Dimensionen von Sichtbarkeit Sichtbarkeit ist nicht nur multifaktoriell, sie ist auch multidimensional und voll‐ zieht sich auf verschiedenen Ebenen, die allerdings meist zusammenwirken und daher in der Regel nicht isoliert betrachtet werden können. Hierbei möchte ich vier Dimensionen unterscheiden: textuelle, mediale, soziale und wissenschaft‐ liche Sichtbarkeit von ÜbersetzerInnen. 5 43 Sichtbarkeit(en) der Übersetzung - Sichtbarkeit(en) der ÜbersetzerInnen Textuelle Sichtbarkeit ÜbersetzerInnen produzieren nicht nur Übersetzungen, sondern auch andere Texte, wie Vor- und Nachworte, Interviews zu ihren Arbeiten etc. Wenn es um die Sichtbarkeit in der Übersetzung geht, so wurde die Perspektive meist auf die Frage verfremdende oder einbürgernde Übersetzungsmethode verengt. Es gibt jedoch auch noch andere Möglichkeiten, die sichtbare Präsenz von Übersetzer- Innen jenseits der Frage, wie sie mit dem Fremdheitspotential des Ausgangstexts umgegangen sind, zu diskutieren, nämlich inwieweit ÜbersetzerInnen als Indi‐ viduen in ihren Texten sichtbar werden. Diese Frage rückte etwa zeitgleich mit Venutis Buch zur Unsichtbarkeit von ÜbersetzerInnen (1995) in das Blickfeld der Übersetzungswissenschaft. Einen wesentlichen Beitrag lieferte dabei Theo Her‐ mans, der mit dem Konzept der Stimme von ÜbersetzerInnen (1996) und später dem Konzept der „attitude“ (2007) individuelle Interventionen von Übersetze‐ rInnen sichtbar machen wollte. Diese umfassen sowohl stilistische Charakte‐ ristika, subjektive Entscheidungen als auch ideologische und ethische Werthal‐ tungen. Statt der eher generischen Sichtbarkeit, die pauschal an eine bestimmte Übersetzungsmethode gebunden wird, rückt nunmehr die Subjektivität über‐ setzerischer Entscheidungen in den Mittelpunkt, wodurch Übersetzer- Innen in ihrer Individualität sichtbar gemacht werden können. Auch postmoderne Vertextungsstrategien wie bricolage, Selbstreferentialität, Collagentechniken etc. eröffnen für ÜbersetzerInnen neue Möglichkeiten, sich in den Zieltext einzuschreiben. In diesem Sinne plädiert Coldiron dafür, Sicht‐ barkeit nicht nur im Hinblick auf Fremdheit, sondern auch als „aesthetic re‐ sources, ludic elements“ (Coldiron 2012: 196) zu untersuchen. Ein Beispiel für solche Spielräume stellt Mark Z. Danielewskis Roman House of Leaves (2000) dar, ein Roman, der mit unterschiedlichen Typographien, Textsorten, einem riesigen Fußnoten- und Anmerkungsapparat arbeitet, durch die eine rhizomartig aufge‐ baute Erzählung entsteht, die sich wie ein „metafiktionaler, postmoderner Hy‐ pertextroman“ liest (Frankfurter Allgemeine Zeitung 2007). Während die deut‐ sche Übersetzerin dies lediglich dazu nutzte, sich mit etymologischen Ausführungen über das Wort „Rätsel“ in der Erzählung sichtbar zu machen (vgl. Danielewski 2009: 45), schuf der französische Übersetzer, Claro, einen eigenen Fußnotenapparat mit eigener Typographie, der eine zusätzliche Ebene der Er‐ zählung bildete (vgl. Danielewski 2002). Inwieweit diese Sichtbarkeitsstrategien mit einem kulturspezifischen Übersetzungsverständnis oder mit individuellen übersetzerischen Entscheidungen zu tun haben, wäre eine eigene Untersuchung wert. ÜbersetzerInnen können sich jedoch nicht nur in ihren Übersetzungen, son‐ dern auch in Paratexten (wie Vor- und Nachworten, Anmerkungen in der Über‐ 44 Klaus Kaindl setzung) und Epitexten (wie zum Beispiel Interviews zu ihren Übersetzungen) (un-)sichtbar machen. Ob sie dabei ihre Arbeit, ihre Übersetzungsstrategien, ihre Auffassungen, Interpretationen sichtbar machen, oder diese verschleiern, indem sie zum Beispiel vor allem über den Autor bzw. die Autorin und das Original schreiben bzw. reden, ist historisch variabel und hängt wie‐ derum von kulturellen und auch verlagspolitischen Faktoren ab (vgl. Batchelor 2018: 33 f.). Mediale Sichtbarkeit Vor allem die mit Computern und Internet verbundenen Kommunikationsme‐ dien, von Youtube-Kanälen über Websites bis hin zu sozialen Medien, ermögli‐ chen eine Reihe neuer Formen der Sichtbarkeit für ÜbersetzerInnen, wobei die medialen Charakteristika sowohl Form als auch Inhalt der Sichtbarkeit mit‐ prägen. Dabei wird deutlich, dass Sichtbarkeit auch inszeniert wird und die dafür eingesetzten Mittel nicht nur sprachlicher, sondern auch nonverbaler Natur sind. Der Schwerpunkt solcher Sichtbarkeitsinszenierungen verlagert sich dabei von der Übersetzung auf die Darstellung der Übersetzung und der Person. Zu den medialen Sichtbarkeitsformen zählen auch filmische Dokumentationen über ÜbersetzerInnen wie jene von Vadim Jedreynko (2009) über Svetlana Geier oder über Juri Elperin von Manfred Wiesner und Grigory Manyuk (2015). Hier spielen Kameraperspektiven, Schnitttechniken, Ton und Musik wesentliche Rollen bei der Sichtbarmachung der ÜbersetzerInnen, die medialen Bedin‐ gungen prägen wesentlich, was wir sehen und wie wir das Gesehene verstehen. Durch die Einbeziehung der medialen Vermittlungstechniken muss das Ver‐ ständnis von Sichtbarkeit, wie sie erzeugt und wahrgenommen wird, somit auch um multimodale Aspekte erweitert werden. Eine Sonderform dieser medialen Sichtbarkeit stellen fiktionale Darstel‐ lungen von ÜbersetzerInnen dar. Mit der Globalisierung, wie wir sie seit den 1980er Jahren erleben, setzte ein wahrer Boom an literarischen und filmischen Darstellungen von ÜbersetzerInnen ein, die als „master metaphor“ für aktuelle Zustände wie Migration, Identität, Entwurzelung, Mehrsprachigkeit usw. dienen (Delabastita 2009: 111). Interessanterweise werden, wie ich (vgl. Kaindl 2008) in einer Studie zeige, ÜbersetzerInnen häufig als einsame Außenseiter‐ Innen, Heimatlose und GrenzgängerInnen beschrieben, deren Arbeit meist mühsam und frustrierend ist, wodurch sie häufig auch krank, mürrisch, de‐ pressiv, ja sogar schizophren werden. Die massive Präsenz fiktionaler Darstel‐ lungen ist, was die damit einhergehende Sichtbarkeit betrifft, sicherlich ambi‐ valent zu sehen, da sie einerseits ÜbersetzerInnen aus ihrem Schattendasein 45 Sichtbarkeit(en) der Übersetzung - Sichtbarkeit(en) der ÜbersetzerInnen 6 Beispiele hierfür aus der Geschichte finden sich z. B. in Albrecht / Plack (2018); einen speziellen Fall, nämlich die Rabelais-Übersetzung von Fischart aus dem 16. Jahrhundert, behandelt ausführlich Hausmann (1995). holt, andererseits die häufige Verbindung ihrer Person und Tätigkeit mit den problematischen Seiten der Globalisierung ein negatives Bild erzeugen kann. Soziale Sichtbarkeit In der Soziologie wird Sichtbarkeit vor allem vor dem Hintergrund der Präsenz im sozialen Raum analysiert: „Visibility is a social dimension in which thresholds between different social forces are introduced. In this sense, the visible can be conceived of as a field of inscription and projection of social action, a field which can be explored as a territory.“ (Brighenti 2010: 4) Die Frage, wie ÜbersetzerInnen im öffentlichen Raum sichtbar sind, stellt sich in verschiedenen Kontexten. So zum Beispiel im Rahmen von Lesungen: Sind ÜbersetzerInnen auf dem Podium präsent, welchen Raum nehmen sie dabei ein, sitzen sie zentral oder eher am Rand, wie viel Redebzw. Lesezeit wird Ihnen gegeben? Während es inzwischen durchaus üblich ist, ÜbersetzerInnen im Rahmen von Buchpräsentationen, aber auch auf Buchmessen sichtbar zu positionieren und zu präsentieren, haben Übersetzungen und ihre SchöpferInnen in Buchhandlungen und Bibliotheken meist keinen eigenen Raum. Diese sind meist rund um AutorInnen oder auch um Genres strukturiert; eigene Bücherregale mit Übersetzungen hingegen sind die Ausnahme. Zur sozialen Dimension kann im weiteren Sinne auch die rechtlich-politische Sichtbarkeit gezählt werden, wie sie sich in Form von Urheberrechtsbestim‐ mungen, Berufsvertretungen etc. manifestiert. Berufsvertretungen haben zum Beispiel lange für das Recht auf Namensnennung gekämpft, bis es schließlich im Urheberrecht auch verankert wurde. Auch hier zeigt sich, dass Sichtbarkeit nicht nur an sprachlichen Faktoren gemessen werden kann, sondern eine se‐ miotisch-räumliche Kategorie ist: Wo und in welcher Schriftgröße der Name von ÜbersetzerInnen aufscheint, ist entscheidend für den Grad der Sichtbarkeit und ist zeit- und kulturgebunden. So war es bis ins 17. Jahrhundert hinein durchaus üblich, dass der Name des Übersetzers (meist waren es Männer), größer und vor dem Namen des Autors genannt wurde, eine Praxis die heutzu‐ tage kaum vorstellbar ist. 6 Wissenschaftliche Sichtbarkeit Die Sichtbarkeit der Übersetzerin / des Übersetzers war in der übersetzungswis‐ senschaftlichen Theoriebildung lange kein Thema. Die übersetzende Person wurde in frühen Ansätzen entweder überhaupt nicht thematisiert (z. B. Mounin 46 Klaus Kaindl 7 Zu einer ausführlichen Darstellung dieser Entwicklung vgl. Kaindl (2021). 1963; Catford 1965) oder als möglichst neutraler Vermittler erachtet (z. B. Kade 1968). Wenn ÜbersetzerInnen eine eigene Persönlichkeit zugestanden wurde, so sollten diese bei der Übersetzung möglichst unterdrückt werden, wie dies Nida forderte, wenn er schreibt: „the human translator is not a machine, and he ine‐ vitably leaves the stamp of his own personality on any translation he makes. This being the case, he must exert every effort to reduce to a minimum any intrusion of himself “ (Nida 1964: 154). Der Weg zu einer Humanisierung der Übersetzungswissenschaft war dementsprechend mühsam und lange, 7 Venutis Kritik an der Unsichtbarkeit von ÜbersetzerInnen gilt gewissermaßen auch für die Übersetzungswissenschaft. Erst in den letzten 20 Jahren hat sich dies geän‐ dert, nicht zuletzt mit Andrew Chestermans Entwurf der Translator Studies (2009) und Anthony Pyms Aufruf zu einer stärkeren Humanisierung der Über‐ setzungsgeschichte (2009). Indem nun die Subjektivität übersetzerischer Ent‐ scheidungen nicht mehr als Problem, sondern als integraler Bestandteil trans‐ latorischen Handelns gesehen werden konnte, wurde auch die Frage der Sichtbarkeit erweitert. Mit der Einbeziehung von persönlichen Texten wie Briefen, Tagebüchern, Autobiographien etc. können ÜbersetzerInnen als „people with flesh-and-blood bodies“ (Pym 1998: 161) gesehen werden. Damit ist die Forderung verknüpft, in der Wissenschaft vermehrt die individuelle Per‐ sönlichkeit, die jede / r Übersetzer / in hat, und damit seine / ihre Einzigartigkeit sichtbar zu machen. 4 Fazit In Ralph Ellisons Invisible Man wird die Frage der Sichtbarkeit eng mit Identität und Gesellschaft verknüpft. Dem Protagonisten wird bewusst, dass letztlich die Komplexität des Individuums sich auch in einer Vielzahl von Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten widerspiegelt (vgl. Callahan 2004b: 297 ff.). Die Beziehung zwischen Sicht- und Unsichtbarkeit, Gesellschaft, Identität und Macht lässt dementsprechend nicht nur eine Antwort zu, sondern kann nur mit dem Blick auf den gesamten Handlungsspielraum beantwortet werden. In diesem Sinne war das Ziel dieses Beitrags eine übersetzungswissenschaftliche Theoretisierung von Sichtbarkeit als relationale Kategorie. Sichtbarkeit entsteht aus dem Verhältnis zwischen Ausgangs- und Zieltext, zwischen handelnden Personen und vor dem Hintergrund von mit der Übersetzung verbundenen Ein‐ stellungen, Erwartungen und Werthaltungen. Dementsprechend vollzieht sich Sichtbarkeit nicht immer auf die gleiche Weise, vielmehr ist sie multifaktoriell 47 Sichtbarkeit(en) der Übersetzung - Sichtbarkeit(en) der ÜbersetzerInnen und multidimensional. Die Praktiken der Sichtbarkeit sind dabei sowohl von sozialen und kulturellen als auch individuellen Faktoren abhängig. Sichtbar‐ keitsordnungen, die festlegen, was als akzeptable und somit sozial anerkannte Form von Sichtbarkeit gilt, existieren folglich nicht als expliziter Regelapparat, sondern entstehen im performativen Akt des doing translation. Literaturverzeichnis Albrecht, Jörn / Plack, Iris. 2018. Europäische Übersetzungsgeschichte. Tübingen: Narr. Barlach, Kerstin / Breuer, Hannah / Brinkhoff, Carolin / Prellwitz, Miriam (Hg.). 2017. Georg Goyert. 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Dies mag dir eine Vorstellung davon geben, wie es sich verhält mit den Urelementen, die im leeren Raum in unaufhörlicher Bewegung begriffen sind“ (Lukrez 2014: 74). - Im Folgenden werden in der Regel die männlichen Berufsbezeich‐ nungen benutzt, weibliche Akteure sind dabei immer gleichermaßen gemeint. Dienstboten, Kuppler, Verräter Warum Übersetzer moralisch im Zwielicht stehen und kulturgeschichtlich unsichtbar bleiben Albrecht Buschmann, Universität Rostock 1 Sichtbarkeiten Sichtbarkeit ist ein schillerndes Konzept. Physikalisch bezeichnet es schlicht die Möglichkeit, einen Kontrast zwischen hell und dunkel zu messen, einen Hellig‐ keitsverlauf zwischen Bildpunkten zu erfassen. Astronomisch benennt es eine Dauer, die Zeitspanne zwischen Auf- und Untergang eines Himmelskörpers. Sobald nun aber der Mensch ins Spiel kommt, liegen die Dinge komplizierter. Denn die physiologischen Prozesse der Optik lassen sich nicht unmittelbar ab‐ bilden auf die Wahrnehmungsprozesse des Gehirns. Dass die Materialität von Körper und Licht auf dem Weg zur Idee von der Welt ins Wanken gerät, hat in De rerum natura schon Lukrez formuliert beim Blick auf jene Teilchen, die im abgedunkelten, vermeintlich leeren Raum erst in einem scharfen Sonnenstrahl sicht- und wahrnehmbar werden: Wo nichts zu sein schien, tanzen auf einmal die Partikel. Und er folgert: Es gibt „Bewegungen, die nicht wahrnehmbar sind und in der Materie unsichtbar verborgen“ (Lukrez 2014: 74). Was ist, unter‐ scheidet sich von dem, was wir zu sehen meinen. 1 2 Metatexte meint z. B. Kritiken, Rezensionen, Werbematerialien sowie die meisten Fes‐ tivalformate; der editorische Paratext bezieht sich auf die Tatsache, dass der Übersetzer erst seit 40 Jahren halbwegs verlässlich auf dem Titelblatt und im Einheitstitel genannt ist und seit 20 Jahren bei manchen Verlagen auch mit einer Kurzbiographie neben der des Autors auf dem Schutzumschlag oder dem Innenumschlag. Galt Unsichtbarkeit in religiösem oder feudalem Umfeld einst als Privileg und Sichtbarkeit als Makel alles Irdischen, haben sich die Wertigkeiten im Kontext kulturwissenschaftlicher Theorie und identitätspolitischer Praxis umgekehrt: Gemäß der Logik heutiger Aufmerksamkeitsökonomien gilt das Streben nach Sichtbarkeit in der Mediengesellschaft als unerlässlich, während der Unsicht‐ bare offensichtlich nicht über Reichweite und Relevanz verfügt; und ohne Wahr‐ nehmbarkeit keine Macht. Solche Zusammenhänge mögen im literarischen Feld nicht ungefiltert gelten, doch betrifft die Konjunktur von Sichtbarkeitsimpera‐ tiven auch das Literaturübersetzen. Lawrence Venutis Studie über „the transla‐ tor’s invisibility“ (Venuti 1995, 2008) beschrieb das Übersetzen als eine nicht sichtbare Tätigkeit und reihte bereits vor über zwei Jahrzehnten die Übersetzer in die Liste all derer ein, die mehr Sichtbarkeit verdienten. Seitdem ist der Titel seines Buches zu einem Schlagwort der Diskussion geworden, ungeachtet der Tatsache, dass übersetzte Texte durchaus sichtbar sind (sonst wären sie ja nicht lesbar), ebenso wie die konkreten Personen, die übersetzen. Aber - siehe oben - „Was ist, unterscheidet sich von dem, was wir zu sehen meinen.“ Zunächst also wäre zu klären, was mit Unsichtbarkeit im literarischen Feld gemeint sein kann. Betrachten wir zunächst Übersetzungen, einmal als Buch (als Ware im Buch‐ handel), einmal als Text (als Zeichenfolge). Da die Ware, die im deutschspra‐ chigen Raum veröffentlichten übersetzten Bücher, bis heute nur in Ausnahme‐ fällen auf dem Cover einen Hinweis auf den Übersetzer tragen, sind Übersetzungen in Buchhandlungen zwar (physisch) sichtbar, aber nicht als solche (kulturell) wahrnehmbar. Ähnliches lässt sich von den übersetzten Texten selbst sagen: Sie sind lesbar, also ganz sicher nicht (physisch) unsichtbar. Aber die diskursive Rahmung übersetzter Texte, wie sie in Metatexten ebenso erfolgt wie im editorischen Paratext, befördert eine Lektüre des übersetzten Textes, so als ob es der des Autors selbst wäre. 2 Zwar entspringt jedes Wort der Überset‐ zung - mit Ausnahme von Eigennamen, Deiktika usw. - dem kreativen Prozess und den Gedanken des Übersetzers, doch die diskursiv beförderte und kulturell eingeübte Wahrnehmung lässt diese Tatsache in den Hintergrund treten. Die philologisch eindeutig zu benennende Sichtbarkeit des übersetzten Textes wird in der kulturellen Praxis überschrieben von einer Unsichtbarkeit, die korrekter als Nichtwahrnehmung zu benennen wäre (vgl. Heibert 2015). Der Grammatik, 54 Albrecht Buschmann 3 Informationen zu Urheberrechts- und Vergütungsfragen aus Sicht der Literaturüber‐ setzer finden sich auf den Seiten des Berufsverbandes „Verband deutschsprachiger Übersetzer literarischer und wissenschaftlicher Werke“ (VdÜ): https: / / literaturueberset zer.de/ berufspraktisches/ rechtliches/ urheberrecht/ [16. 12. 2020]. die hinter diesem Bestreben steht, Übersetzungen möglichst nicht als solche zu lesen, werde ich im Folgenden nachgehen. Was nun die Übersetzer betrifft, so möchte ich ihre Sichtbarkeit im folgenden Abschnitt unterscheiden entlang einer soziologischen, einer ökonomisch-juris‐ tischen und philologisch-kulturellen Achse, wobei ich in dieser Einleitung die historische Perspektive ausklammern und allein die gegenwärtige Konstellation skizzieren möchte. Soziologisch gesprochen sind Übersetzer, zumal Literaturübersetzer, irrele‐ vant: Sie sind eine kleine Gruppe, in Krisensituationen sind sie nicht „system‐ relevant“, und mangels ikonischer Zeichen des Berufstandes sind sie sozial nicht als solche erkennbar wie Ärzte (weißer Kittel) oder Polizisten (Uniform). Auch innerhalb des literarischen Feldes haben sie, die meist allein am heimischen Schreibtisch arbeiten, anders als der Buchhändler des Vertrauens oder der zeit‐ weise im Zentrum der Aufmerksamkeit stehende Autor kein Gesicht. Die ökonomisch-juristische Achse der (Un-)Sichtbarkeit nimmt Effekte in den Blick, die sich aus den im Durchschnitt mit Literaturübersetzungen zu erzielenden Einnahmen sowie dem Urheberrecht ergeben. Die geistige Urheberschaft an einem übersetzten Text ist heutzutage rechtlich zweifelsfrei anerkannt, den‐ noch drängt das Urheberrecht den Schöpfer gegenüber den Verwertern (Verlage, Sender, Plattformen usw.) in eine Position der Schwäche: Von den Berufsver‐ bänden angestrebte Rahmenverträge oder Mindesthonorare kommen seit Jahren branchenweit nicht zustande, weshalb Literaturübersetzer wie auch die meisten Autoren als Geringverdiener gelten. 3 Eine ökonomische Potenz, die sich in (mediale) Sichtbarkeit transformieren ließe, ist für Übersetzer so gut wie aus‐ geschlossen. Mangels Macht und Einfluss wird ihnen nicht der rote Teppich ausgerollt. Etwas besser steht es um die Sichtbarkeit der Literaturübersetzer als Urheber - wenn sie denn in der Lage sind auf öffentlichen Foren, Bühnen, Fes‐ tivals so gewandt und gewinnend aufzutreten, dass sie als Performer Sichtbar‐ keit gewinnen; ein Talent, das nur den Wenigsten gegeben ist. Unsichtbarkeit im philologisch-kulturellen Sinn meint zunächst einmal jene „invisibility“, die Venuti beklagte und die sich daraus ergibt, dass ( US -amerika‐ nische) Übersetzungen dazu tendierten, einbürgernden Strategien zu gehor‐ chen. Venuti argumentiert hier entlang der binär angelegten Denkfigur, wie sie sich in vielen älteren Studien zur Literaturübersetzung findet (vgl. Buschmann 2015: 165 f.), denn als Ausweg aus der selbstverschuldeten Unsichtbarkeit auf‐ 55 Warum Übersetzer kulturgeschichtlich unsichtbar bleiben grund illusionistischer Übersetzungspoetik forderte er einen verfremdenden oder anti-illusionistischen Ansatz des Übersetzens. Auf der philologisch zu be‐ arbeitenden textuellen Ebene solle der Übersetzer sich durch Syntax, Wortwahl, Idiomatik und andere Einzelentscheidungen so zu erkennen geben, dass er als Subjekt des derart verfremdet übersetzten Textes sichtbar werde. Venutis Plä‐ doyer für das „foreignizing“ im Übersetzen ist aus unterschiedlichsten Rich‐ tungen widersprochen worden (vgl. Martín Muñoz 1995; Freitas 2003; Pym et al. 2006; Prunč 2012: 265 ff.). Für die folgenden Überlegungen relevant ist vor allem die Befragung seiner Prämisse: Sind Übersetzer tatsächlich „invisible“, selbst wenn sie sich einer Poetik der Einbürgerung verschreiben und eine Über‐ setzung abliefern, die sich so liest, als wäre sie auf Deutsch geschrieben? Philolo‐ gisch betrachtet sind sie - siehe oben - ja in beinahe jedem Wort sichtbar, nur werden sie nicht als übersetzend schreibende Subjekte wahrgenommen. Auch hier wäre also zu unterscheiden zwischen einer philologisch objektivierbaren Sichtbarkeit, die aber nicht in eine entsprechende kulturelle Wahrnehmung übergeht. An diesem Punkt drängt sich zum zweiten Mal die Frage auf, wie sich dieses Auseinanderfallen von Sichtbarkeit und Wahrnehmung erklären lässt. Zu fragen ist also nach der Grammatik, die in unserer Kultur die Sichtbarkeit und Wahrnehmbarkeit von Übersetzern und Übersetzungen steuert. Eingedenk der angeschnittenen Asymmetrien untersuchen die folgenden Ausführungen zwei in der Diskussion bisher nicht berücksichtige Bereiche, die das symbolische Kapital von Übersetzern und die Wertigkeit des Übersetzers prägen: zum einen die Thematisierung des Übersetzens in Sprichworten und Redensarten, zum an‐ deren die Sichtbarkeit von Übersetzungen in Bibliotheken, insbesondere ihre Findbarkeit in Bibliothekskatalogen. Wie ich zeigen werde, gibt es zwar viele geflügelte Worte über Übersetzer, aber vor allem viele abschätzig konnotierte; es gibt zwar viele Übersetzungen in Bibliotheken, aber sie sind dort aufgrund der Systematik der Katalogisierung nur eingeschränkt recherchierbar, unauf‐ findbar und daher für die Kulturgeschichtsschreibung weitgehend unsichtbar. 2 Die Leerstelle im Archiv: Warum Literaturübersetzungen so schwer zu finden sind Bibliotheken sind das zentrale Archiv unserer Schriftkultur. Sie sammeln selbst‐ verständlich auch Übersetzungen, die dort physisch vorhanden und potenziell sichtbar sind; in Nationalbibliotheken sogar für große Zeiträume weitgehend vollständig. Dennoch sind Übersetzer in der Bibliothek unsichtbar. Übersetzer sind dort - zweitens - nicht zufällig unsichtbar, sondern systembedingt nicht zu finden, weil die Regeln der Katalogisierung sie systemisch ausschließen. Da 56 Albrecht Buschmann 4 Der vollständige Titel lautet: Instruktionen für die alphabetischen Kataloge der preussi‐ schen Bibliotheken und für den preussischen Gesamtkatalog. diese bibliothekarischen Normen erst seit den 2000er Jahren international halb‐ wegs verpflichtend vorschreiben, bei der Erfassung eines Buches auch den Übersetzer zu nennen, lässt sich - drittens - die Kulturgeschichte des Überset‐ zens auf gesicherter und quantitativ abgeglichener Grundlage nicht schreiben. Dem ließe sich entgegnen, dass Übersetzungen doch in den Bibliotheken stehen und gefunden werden: Die Übersetzungen aller großen Autoren seit der Antike sind auffindbar und bestens erforscht, ebenso die der Klassiker seit der frühen Neuzeit von Miguel de Cervantes über René Descartes zu Laurence Sterne, ganz zu schweigen von all den Fassungen der Bibel. Wolfgang von Goethe übersetzte Voltaire und Sophokles, Arthur Schopenhauer Baltasar Gra‐ cián, und Peter Handke Walker Percy. Ja, diese und zehntausende andere Über‐ setzungen stehen in den Regalen und Katalogen. Und wenn man weiß, welches Buch und welchen namhaften Übersetzer man sucht, wird man fündig. Schon deutlich niedriger liegt die Erfolgsquote bei weniger bekannten Übersetzern, vor allem bei solchen, die nicht auch als Theologen, Schriftsteller oder Philosophen publiziert haben wie Martin Luther, Goethe, Benjamin & Co; in solchen Fällen und vor dem Ende des 20. Jahrhunderts muss man Glück haben und hoffen, dass er bereits verschlagwortet wurde. Aber, sucht man nach namhaften Autoren, die auch übersetzt haben, wird man immer fündig. Sucht man nach Überset‐ zungen berühmter oder berühmt gewordener Werke (Ovids Metamorphosen, Jean Racines Dramen), wird man ebenfalls fündig. Wo also liegt das Problem? Es verbirgt sich hinter den sogenannten „Preußischen Instruktionen“ 4 von 1899. Dieses bibliothekarische Regelwerk, bald auch außerhalb Preußens ange‐ wandt, legte fest, was auf dem knappen Platz einer Katalogkarte zu erfassen war. Übersetzer waren nicht verpflichtend zu nennen, konnten aber optional in der Rubrik „weitere Verfasser“ oder „sonstige Mitwirkende“ aufgeführt werden. Das änderte sich nicht, als die Preußischen Instruktionen 1974, in den Jahren der ersten Umstellung auf elektronisch lesbare Kataloge, durch die „Regeln für die alphabetische Katalogisierung“ ( RAK ) ersetzt wurden. Denn seinerzeit wurden in einem ersten Kraftakt der Digitalisierung die alten Katalogkarten nur in ein neues Medium überführt, aber nicht inhaltlich bearbeitet. Das Problem für die Recherche nach Übersetzern und Übersetzungen der letzten 200 Jahre ist ein doppeltes: Erstens wurden die Namen der Übersetzer nur manchmal erfasst, viele von ihnen sind also gar nicht zu finden. Zweitens wurden sie unter den „sonstigen Mitwirkenden“ in der jeweiligen Datenbank (Zettelkatalog, NBV / Norddeutscher Bibliotheksverbund, GBV / Gemeinsamer Bibliotheksver‐ 57 Warum Übersetzer kulturgeschichtlich unsichtbar bleiben 5 Machine Readable Cataloging; zuvor in Deutschland MAB: Maschinelles Austausch‐ format für Bibliotheken. Weitere Informationen finden sich unter https: / / www.dnb.de/ DE/ Professionell/ Metadatendienste/ Exportformate/ MARC21/ marc21_node.html [7. 1. 2021]. 6 Es handelte sich um eine der Mitarbeiterinnen der Deutschen Nationalbibliothek (Frank‐ furt), die für solche Fragen der Erfassung von Medien sowie der internationalen Nor‐ mierung der Erfassung zuständig ist; das Gespräch fand im Juni 2019 telefonisch statt. bund usw.) unterschiedlich standardisiert erfasst. Folglich sind sie dort nicht eindeutig in ihrer Funktion als „Übersetzer“ erkennbar und zu verwechseln mit Herausgebern, Autoren von Vor- oder Nachworten usw. Bevorzugt als Über‐ setzer erfasst wurden solche Personen, die bibliothekarisch bereits als Autoren geführt wurden und auch übersetzt hatten; deshalb sind sie leichter über den Katalog zu finden. Aufgrund dieser Systematik der Bucherfassung ver‐ schwinden Personen, die nur übersetzt haben, leichter aus dem Katalog und sind in der Folge nicht mehr recherchierbar. Ab den 1970er Jahren wurden im Zuge der Normierung im internationalen Bibliotheksverkehr die digitalen Formate modernisiert und an die neuen Spei‐ chermöglichkeiten angepasst. Seitdem gibt nicht mehr eine kleine Karteikarte die Speichergröße vor, weshalb zu jedem neuen Medium in einer Bibliothek zunehmend mehr Informationen erfasst werden können. Im Machine Readable Cataloging ( MARC 21), 5 seit 2004 gültig in Deutschland (ab 2007 eingeführt), finden sich deshalb einheitliche Codenummern, hinter denen sich zum Beispiel die Angaben über die Originalsprache, das Faktum der Übersetzung und der Name des Übersetzers finden. Im heute geltenden neuen Standardformat Re‐ source Description and Access ( RDA ) müsste der Übersetzer im Feld 3010 immer erfasst sein, so versprechen es zumindest die Verantwortlichen der Datenbank K10plus, verfügbar seit März 2019. Aber, so die Aussage einer damit befassten Bibliothekarin: „Dafür, dass das Feld wirklich in jedem von den Regeln vorge‐ sehenen Fall angelegt wird, würde ich meine Hand nicht ins Feuer legen.“ 6 Selbst im Jahr 2021 kann man sich also nicht sicher sein, dass von jedem übersetzten Buch der Übersetzer im Katalog erfasst ist. Für Titel, die ab Mitte der 1970er Jahre erschienen sind, wächst also die Wahrscheinlichkeit, erfolgreich über den Katalog auf den Gesamtbestand an Übersetzungen im Archiv zugreifen zu können. Allerdings sehr langsam. Im Umkehrschluss heißt das: Vor 1975 gestalten sich die Recherchemöglichkeiten schwieriger und für die Zeit vor den „Preußischen Instruktionen“ sind sie nur in bereits digital aufbereiteten Beständen gegeben. Aber selbst für die Zeit ab den 1970er Jahren kann man als Nutzer von außen nicht systematisch auf den 58 Albrecht Buschmann kompletten Bestand an Übersetzungen zugreifen; dies ist nur über die Quell‐ daten des Katalogs möglich, also mit Hilfe von eigens erstellten Algorithmen. Die Folgen für die Übersetzungsforschung sind beträchtlich: Einerseits be‐ dingen diese Einschränkungen zu viel Clusterung und andererseits zu wenig Kontextualisierung. Was ist mit Clusterung gemeint? Historische Übersetzungs‐ forschung beschäftigt sich bevorzugt mit den immer gleichen Clustern um die sogenannte Übersetzerschule von Toledo, den Kirchenvater Sophronius Euse‐ bius Hieronymus, um Martin Luther oder William Shakespeare. Die vielen tau‐ send anderen, nicht berühmten und vermeintlich ‚namenlosen‘ Übersetzer we‐ niger berühmter Werke bleiben weitgehend unbearbeitet. Es kommt zu einem sich selbst verstärkenden Effekt, der diese Clusterung noch weiter befördert: Sobald der Don Quijote (1605) mehrmals übersetzt ist, gilt er übersetzungsge‐ schichtlich als relevant. Die Wahrscheinlichkeit steigt damit, dass man ihn eine Generation später wieder übersetzt, wodurch er sich in der Forschung zum Re‐ ferenzautor für Übersetzungen aus dem 17. Jahrhundert etabliert. Dabei fehlt jedoch jegliche Möglichkeit zur Kontextualisierung. Denn zu fragen wäre ja auch danach, welche Autoren aus Miguel de Cervantes’ Generation ebenfalls übersetzt wurden, und wann erstmals? Oder: Welche spanischen Autoren wurden noch übertragen von Pahsch Basteln von der Sohle alias Joachim Caesar, der den Don Quijote zwischen 1621 und 1648 erstmals in Teilen ins Deutsche übersetzte? Erst solche Bezüge würden es der Übersetzungsgeschichtsschrei‐ bung ermöglichen, die einzelne Übersetzung und ihren Träger in ein halbwegs vollständiges Bild ihrer „literarischen Milieus“ (Richter 2017: 472) einzuordnen - so wie es die Literaturgeschichtsschreibung mit ihren Autoren auch tut. Die folgenden Graphiken sollen eine Vorstellung davon vermitteln, was unter Kontextualisierung zu verstehen wäre. In Kooperation zwischen Hispanisten und Informatikern wurde im Rahmen eines Rostocker Forschungsprojekts ein Algorithmus entwickelt, der im deutschen Gesamtkatalog Übersetzungen aus dem Spanischen sucht. Die Recherche wurde aus den oben genannten Gründen eingegrenzt auf die Zeit ab 1970, da die digitalisiert verfügbaren Quelldaten des Katalogs nur für seit 1970 erfasste Werke halbwegs vollständig sein können. Die Graphiken sollen ausgewählte Forschungsergebnisse exemplarisch vorführen, um den hermeneutischen Wert solcher Kontextualisierungen zu belegen. Die folgende Abbildung zeigt die 20 am häufigsten aus dem Spanischen übersetzten Autoren für den Zeitraum 1970 bis 2015: 59 Warum Übersetzer kulturgeschichtlich unsichtbar bleiben Abb. 1: Die am häufigsten übersetzten spanischen Autoren (1970-2015) Für den genannten Zeitraum ist zu erkennen, dass von Miguel de Cervantes 90 Titel auf Deutsch publiziert wurden, gefolgt von Federico García Lorca mit knapp 80 Titeln. Nur 10 Autoren kommen auf mehr als 30 Titel in einem Zeit‐ raum von 45 Jahren. Dabei wurde nicht unterschieden zwischen Klassikern und Gegenwartsautoren, die vermehrt erst seit den späten 1980er Jahren übersetzt wurden. Deren Position wäre in solch einer Auflistung also in anderer Relation zu betrachten, denn Gegenwartsautoren erscheinen teils erst in der zweiten Hälfte des Untersuchungszeitraums, Klassikerausgaben hingegen finden sich von Beginn an (und erreichen folglich viel leichter eine zweistellige Zahl von Ausgaben). Wie wird das jeweilige Feld (hier: Übersetzungen aus dem Spanischen 1970-2015) von einzelnen Autoren dominiert? Gibt es Zugpferde, die die Re‐ zeption dominieren und möglicherweise befördern? Abbildung 2 zeigt das Er‐ gebnis der Berechnung, die den Anteil der 10 bzw. 20 meistübersetzten Autoren ins Verhältnis setzt zur Gesamtzahl der übersetzten Titel. 60 Albrecht Buschmann Abb. 2: Synchrone Betrachtung - Anteil der am häufigsten übersetzten spanischen Au‐ toren in Relation zur Zahl aller Übersetzungen aus Spanien (1970-2015) Allein auf die in Abbildung 1 gezeigten Top-20-Autoren, von denen jeweils mindestens 20 Werke übersetzt wurden, entfallen 25 % aller veröffentlichten Übersetzungen. Umgekehrt heißt das: Von 75 % der aus dem Spanischen über‐ setzten Autoren wurden im Untersuchungszeitraum (deutlich) weniger als 20 Titel übertragen. Schauen wir nun auf die diachrone Auswertung und die Entwicklung dieser Zahlen über die Jahre. Die blauen Balken zeigen, gemittelt auf je 5 Jahre, die durchschnittliche Gesamtzahl an publizierten Übersetzungen: Anfangs sind es um 140, später bis zu 440 pro Jahr. Die rote Linie gibt die Zahl der in den gleichen Fünfjahresschritten publizierten Titel von Cervantes an (immer zwischen 14 und 7). 61 Warum Übersetzer kulturgeschichtlich unsichtbar bleiben Abb. 3: Diachrone Betrachtung - Anteil der Cervantes-Übersetzungen am Markt der Übersetzungen aus Spanien (1970-2015) In Fünfjahresschritten gemittelt erkennt man deutlich den Boom der Überset‐ zungen aus dem Spanischen, und dass das Gewicht des meistübersetzten Autors abnimmt. Anfang der 1970er Jahre waren viel übersetzte Autoren wie Cervantes oder Lorca (bei ihm sind die Relationen ähnlich) im damals noch kleinen Ge‐ samtmarkt dominant. Ab den 1990er Jahren ändern sich die Relationen: Noch immer wird Cervantes regelmäßig und in beträchtlicher Zahl verlegt, aber in einem nun wesentlich größeren Gesamtmarkt. Seine Titel sind nunmehr Teil einer weitaus differenzierteren Rezeption der spanischen Literatur. Ein solcher algorithmengestützer Zugriff auf den Katalog ermöglicht daten‐ basierte Antworten auf vielfältige Fragestellungen zur Rezeption übersetzter Literatur. Konkret könnte man nun auf Grundlage solcher Auswertungen zum Beispiel der Frage nachgehen, ob es tatsächlich einen „Javier Marías-Effekt“ für die Rezeption der spanischen Literatur in Deutschland gab oder einen „Umberto Eco-Effekt“ im Fall der Italienischen. Einschränkend muss allerdings hinzuge‐ fügt werden, dass selbst für die Zeit nach 1970 die verfügbaren Quelldaten mit Unsicherheit behaftet sind, weil die Auszeichnung der Übersetzungen im Ka‐ 62 Albrecht Buschmann 7 Vgl. daneben auch die einschlägigen Zitate in der Datenbank „Trésor des métaphores de la traduction“ (vgl. http: / / recherche.univ-lyon2.fr/ tmt/ ), die seit 2014 an der Univer‐ sité Lumière - Lyon 2 angesiedelt ist und in dem alle Interessierten sich an der Samm‐ lung von weiteren festen Wendungen beteiligen können. talog nicht eindeutig ausgelesen werden kann. Für die Zeit vor 1970 wird die Datenbasis wackelig, vor 1900 brüchig. Wenn nun aber gilt, dass für eine valide kulturgeschichtliche Übersetzungs‐ forschung Bezüge und Relationen lesbar sein müssen, um die einzelne Überset‐ zung und ihren Träger in ein halbwegs vollständiges Bild einzuordnen, dann ist solch eine Katalogrecherche mit avancierten Algorithmen zeitlich begrenzt und mit den vorgegebenen Recherchetools der öffentlich zugänglichen Nutzerober‐ fläche so gut wie gar nicht möglich. Es mögen zehntausende von Übersetzungen in den Magazinen der Bibliotheken stehen, man kann sie für die Zeit vor 1970 nicht systematisch recherchieren. Physisch besetzt jede von ihnen im Regal eine Stelle - kulturgeschichtlich aber bleibt sie eine Leerstelle. Das ist gemeint, wenn hier von einer Leerstelle die Rede ist: Mit den vorhan‐ denen Recherchetools sind Übersetzungen im Archiv nicht auffindbar. - Kommen wir nun zum Archiv der Sprache selbst, in dem Übersetzer und Über‐ setzungen durchaus sichtbar sind. 3 Sprichwörter, Redensarten und die kollektive Rede vom Übersetzen Die bis hierher beschriebene bibliothekarische Unsichtbarkeit der Literatur‐ übersetzung mag einst erfassungstechnisch begründet gewesen sein. Doch ist die Wirkmacht preußischer Bibliotheksregeln bis zum Ende des 20. Jahrhunderts nicht allein pragmatisch zu erklären. Was könnte es noch für Gründe geben, die Übersetzer nicht zu nennen? Irgendwie scheinen sie ja als unwichtig oder wenig wichtig zu gelten, und das nicht unter bibliophoben Analphabeten, sondern auch unter Bibliothekaren. Welche kulturellen Grammatiken stehen also hinter jener Logik, die die Recherche nach Übersetzern unmöglich macht, weshalb sie auch nicht angemessen in das Wissen über die Entstehung kultureller Tradition ein‐ gegangen sind? Dieser Frage möchte ich im Archiv der Sprache selbst nach‐ gehen. Eine wichtige Quelle für solche Aussagen ist der Band La traduction en citations (Delisle 2007), in dem Jean Delisle über 3000 Einträge verzeichnet und allein für den Übersetzer als Akteur knapp 400 gängige Redensarten auflistet. 7 Offensichtlich gibt es ein Archiv, in dem Übersetzer gut sichtbar verzeichnet und wahrnehmbar sind: die Sprache. Hier sind sie und ihre Arbeit seit Jahrhun‐ 63 Warum Übersetzer kulturgeschichtlich unsichtbar bleiben derten präsent, und ein aufmerksamer Blick auf die vielen tausend Einträge fördert Einiges zu Tage, was den heutigen Umgang mit der Berufsgruppe erhellt. Die Aussagekraft solcher Bonmots und Redensarten ist wissenschaftlich er‐ probt: Erinnert sei an Werner Krauss, der 1946 in einer Analyse spanischer Sprichworte ein kulturgeschichtliches Porträt des spanischen Siglo de Oro des‐ tillierte (vgl. Krauss 1988). Folgt man seinen methodologischen Überlegungen, wäre solchen Redensarten die Summa aller Rede vom Übersetzen einge‐ schrieben, die sich, Tradition geworden durch häufiges Zitieren, als Kanon Tag für Tag aufs Neue selbst bestätigt. Indem sie von Mund zu Mund gehen oder als Motto gesetzt werden, erzeugen sie trügerische Evidenz. Denn ob die in ihnen aufgehobenen Thesen zum Übersetzen sachlich begründet sind, ob sie vielleicht nur als Pointen in einem längst vergessenen Disput aufblitzten, ist nicht rele‐ vant; und noch weniger, ob sie dem heutigen Stand des Wissens entsprechen. Denn das Wissen über Sprache hat sich in den letzten gut 100 Jahren grundle‐ gend verändert: Seit Ferdinand de Saussures Theorie des Zeichens haben wir eine vollkommen andere Vorstellung davon als alle Generationen vor ihm. Viele Redensarten zum Übersetzen aber lassen sich über Jahrhunderte zurückver‐ folgen, bis in Epochen, die Worte nicht als arbiträre Zeichen, sondern als Dinge betrachteten; dass im Übersetzen ein Ding nicht ein anderes Ding werden kann ohne substanzielle Veränderung leuchtete einst unmittelbar ein. Seit aber die Sprachwissenschaft Worte als Zeichen erkennt, deren Bedeutung variabel und veränderbar ist, kann das Übersetzen konzeptionell grundlegend anders gedacht werden. Doch die alten Sprichworte ficht das nicht an, denn sie werden - Saus‐ sure hin, Semiotik her - immer weiter zitiert und variiert. Wie ich nun an einigen Beispielen zeigen möchte, leben vor allem ihre alten Denkfiguren von ‚Verlust‘ und ‚Verfälschung‘ weiter. Sie sind die Zombies des Übersetzungsdenkens: Im Kern schon lange tot, aber als schaurig Untote unterhalten sie nach wie vor das Publikum. 3.1 Der skeptische Blick Eine statische Auswertung der Einträge in Delisles Sammlung sowie der er‐ wähnten Datenbank bringt folgendes Ergebnis: Nur in maximal einem Viertel der Belege kommt eine eindeutig positive Haltung gegenüber den Übersetzern zum Ausdruck, die dort etwa als ‚Brückenbauer‘ oder ‚Fährmänner‘ apostro‐ phiert sind, als ‚Friedensstifter‘ oder ‚Zauberer mit Sprachen‘. Aber gut 75 Pro‐ zent der Benennungen sind hingegen kritisch, skeptisch, wenn nicht verletzend: Übersetzer seien ‚Souffleure‘, ‚Schattenschreiber‘, ‚Lohnschreiber‘, ‚fröhliche Vampire‘, ‚Bindestriche‘, ‚Trickser‘, ‚Nacherzähler‘ oder schlicht ‚Kolonisatoren 64 Albrecht Buschmann 8 Diese und alle folgenden Sentenzen und Redensarten stammen, wenn nicht anders an‐ gegeben, aus der genannten Datenbank oder aus Delisle (2007). des Ausgangstextes‘, kurz: ‚Herumirrende zwischen Grenzen‘ oder ‚Falsch‐ münzer‘. 8 Betrachten wir im zweiten Schritt die skeptischen Aussagen zum Übersetzen, die die weitaus größte Gruppe in den Sammlungen bilden: Gerade sie wirken vertraut, klingen ganz selbstverständlich, wir alle haben sie immer schon im Ohr. „Beim Übersetzen geht immer etwas verloren“, heißt es im deutschen Volksmund bedauernd; der Franzose formuliert seine analoge Skepsis mit Esprit: „Le mariage est la traduction en prose du poème de l’amour.“ Es heißt, Übersetzer seien ‚Künstler im Auftrag‘, Zwitterfiguren, bei denen die künstlerische Seite der Arbeit dadurch abgewertet ist, dass sie nur auf Auftragsbasis, also zweck‐ gebunden erfolgt. Als Richtschnur für übersetzerisches Handeln gilt dem Mann auf der Straße: „Man muss so treu wie möglich und so frei wie nötig übersetzen.“ Friedrich Schleiermacher spitzt den gleichen Gedanken wie folgt zu: „Entweder der Uebersetzer läßt den Schriftsteller möglichst in Ruhe, und bewegt den Leser ihm entgegen; oder er läßt den Leser möglichst in Ruhe und bewegt den Schrift‐ steller ihm entgegen.“ (Schleiermacher 1963: 47) Schleiermacher konstruiert hier eine Entweder-Oder-Maxime, die klug klingt, sich bei der praktischen Arbeit am konkreten Text aber schnell in Luft auflöst, weil die sprachlichen Entscheidungen feinstofflich zu komplex sind für solch ein Schwarz-Weiß-Schema. Viele skeptische Redensarten basieren auf sol‐ chen Entweder-Oder-Aussagen. Sie wirken wie Aporien, als ob sich die Pole ihrer Aussage kategoriell ausschließen würden. Es klingt ja auch irgendwie „lo‐ gisch“, dass eine Übersetzung nicht zugleich treu und frei sein kann, oder? Aber die Grundlage solcher Entweder-Oder-Aussagen sind oft schlichte Setzungen ohne argumentative Herleitung. Denn was zum Beispiel im Umgang mit natür‐ lichen Sprachen Treue sein soll und was Freiheit, bleibt unausgesprochen und wird nicht definiert. Die Wirkung solcher Setzungen, die sich als Aporien spreizen, ist weitreichend: Aus der Denkfigur des Entweder-Oder folgt als ver‐ meintlich logischer Schluss, dass Übersetzen - egal wie man es nun anstellt - so oder so defizitär sein muss. Die binär konstruierte Aussage suggeriert, dass ein dritter Zugang nicht gedacht werden könne. Folglich übersetzt man ent‐ weder zu treu, agiert dann aber nicht frei und umgekehrt. Wer auf solche Ent‐ weder-Oder-Aussagen kritisch zu antworten versucht, sitzt schnell in der Falle, denn er kann schwerlich heraustreten aus der falschen Setzung. Besonders gut ist die Konstruktion solcher Pseudo-Aporien an dem folgenden Beispiel zu erkennen: „Übersetzungen sind wie Frauen, die Schönen sind untreu, 65 Warum Übersetzer kulturgeschichtlich unsichtbar bleiben die Treuen sind hässlich.“ Dieser Voltaire zugeschriebene Ausspruch wird seit 200 Jahren zitiert - offensichtlich ohne je über seine bedeutungsgebende Set‐ zung nachzudenken. Die lautet, dass Frauen wahlweise hässlich oder untreu sind, was im Frankreich des 18. Jahrhunderts vielleicht als geistreich galt, logisch dennoch Unfug ist. Der Satz kann stellvertretend für viele andere gelesen werden, die die ästhetische Wertung des Übersetzens mit einer moralischen Abwertung verknüpfen. Exemplarisch kann er stehen für all die Blicke männ‐ licher Kommentatoren, deren Rhetorik das Übersetzen weiblich konnotiert oder Übersetzungen als weibliche Wesen imaginiert, von per se zweifelhafter Ver‐ lässlichkeit. Ein anderer Typus von skeptischen Aussagen entspringt dem unmittelbaren Vergleich von Original und Übersetzung. Da die bis heute in der der westlichen Welt gängigen Vorstellungen davon, was im Gutenberguniversum ein Original ist, vom Geniekult der europäischen Romantik geprägt wurden, kommt die Übersetzung umso schlechter weg, je näher die jeweilige Aussage dem Gravi‐ tationsfeld romantischer Poetiken steht. Zum Beispiel in der Gegenüberstellung: „Originale reifen, Übersetzungen altern.“ Begründen ließe sich diese Opposition allenfalls auf Grundlage eines traditionellen Werkbegriffs und historisch argu‐ mentierend: Ein Werk - einmal von letzter Hand veröffentlicht - bliebe gemäß dieser Sichtweise für immer unverändert. Wohingegen Übersetzungen immer wieder neu angefertigt werden, sich also verändern. Mit guten Gründen und unterfüttert mit vielen Beispielen aus der Übersetzungsgeschichte ließe sich entgegnen, dass es häufig umgekehrt war. Denn Originalwerke aus früheren Epochen sind keineswegs stabil, jede kritische Gesamtausgabe erstellt ein neues Original, im Wissen um frühere Lücken oder Fehler, Varianten, Auslassungen, Verlagszensur, konkurrierende Editionen. Außerdem werden Originale mit den Jahren unverständlich: Kein britischer Schüler versteht Shakespeare ohne An‐ merkungen. Und vor allem verändern die angeblich still vor sich hin reifenden Originale ihre Bedeutung, gerade durch das Wissen um die Tatsache, dass sie übersetzt und in anderen Sprachwelten anders verstanden werden. Mehr noch, Neuübersetzungen halten Klassiker frisch: Weshalb wir deutschsprachigen Leser immer wieder neue King Lears und Madame Bovarys vorgestellt bekamen, je nach Maßgabe des sich wandelnden literarischen Geschmacks. Die Metapher der Reife verliert also recht schnell an Prägnanz, wenn man etwas genauer hin‐ schaut. Ebenso die des Alterns, zumal sie ebenso für Übersetzungen in Anspruch genommen werden kann: Noch immer wird der Barockautor Baltasar Gracián auch in der Übersetzung Schopenhauers gelesen, Shakespeare in den Worten von August Wilhelm Schlegel und Ludwig Tieck oder Marcel Proust gerne in der Syntax von Eva-Maria Mertens. Offenbar alles gut gealterte Übersetzungen. 66 Albrecht Buschmann 9 Zitiert nach diesem Artikel der Deutschen Welle: https: / / www.dw.com/ de/ die-weltlitera tur-wird-von-%C3%BCbersetzern-gemacht-internationaler-%C3%BCbersetzertag-2017 / a-40754685 [7. 1. 2021]. Originale reifen, Übersetzungen altern? Man könnte darauf antworten und im Wissen um die heutige Sicht auf den Status von Übersetzungen im literari‐ schen Gefüge einen Gegen-Sinnspruch kreieren: Originale verdunkeln, Über‐ setzungen erhellen. Aber der darin aufgehobene freundliche Blick aufs Über‐ setzen klingt nicht recht sprichworttauglich. Das Kollektiv redet mehrheitlich anders. Denn es orientiert sich an einem idealistisch gedachten Original, das auratisch überhöht wird, weshalb die daneben sich mühende Übersetzung selbstverständlich abfallen muss, als ob es ein Naturgesetz wäre. Um noch einmal auf das letzte Beispiel zu kommen: Es ist die bestechende biologische Evidenz der Gegenüberstellung „Reifen versus Altern“, die die überzeitliche Gültigkeit der Aussage rhetorisch unterfüttert und ihre Bedeutung schließlich überführt in den Bereich der naturgesetzlichen Wahrheit. Der Satz tut so, als ob er nicht von Kultur spräche, sondern von der Natur. Das klingt eingängig, das wirkt überzeugend, dem zu widersprechen steht nicht an. Deshalb wird es gerne nachgesprochen. 3.2 Der freundliche Blick Die Aussagen, in denen Vertrauen und Wertschätzung gegenüber Literatur‐ übersetzern zum Ausdruck kommen, finden sich deutlich seltener; sie machen etwa ein Viertel der in den Datenbanken und Sammlungen verzeichneten Ein‐ träge aus. Die ihnen zugrundeliegenden Denkfiguren unterscheiden sich deut‐ lich von denen der skeptischen Aussagen, denn sie verfolgen oft einen be‐ schreibenden Ansatz: Wenn Übersetzer als ‚Brückenbauer‘ oder ‚Fährmänner‘ benannt werden, sind sie markiert als Akteure eines gelingenden und offenbar fruchtbringenden Transports von A nach B, von einer Kultur oder / und Sprache in andere. Als solche machen sie ein Konzept wie ‚Weltliteratur‘ überhaupt erst denkbar, wie es in folgendem Diktum zum Ausdruck kommt, das nicht nur José Saramago zitiert: „Schriftsteller schreiben Nationalliteratur, aber es sind die Übersetzer, die Weltliteratur schreiben.“ 9 In die gleiche Richtung dachte Johann Wolfgang von Goethe: Und so ist jeder Übersetzer anzusehen, dass er sich als Vermittler dieses allge‐ mein-geistigen Handels bemüht und den Wechseltausch zu befördern sich zum Ge‐ schäft macht. Denn was man auch von der Unzulänglichkeit des Übersetzens sagen mag, so ist und bleibt es doch eines der wichtigsten und würdigsten Geschäfte in dem allgemeinen Weltverkehr. (Goethe 1967a: 237) 67 Warum Übersetzer kulturgeschichtlich unsichtbar bleiben Zwar gilt Lyrik als besonders schwierig zu übersetzen, doch formuliert Paul Valéry, obwohl Lyriker, mit Nachdruck den Gedanken, dass Übersetzen natür‐ lich gelingen kann: „Traduire, c’est produire avec des moyens différents des effets analogues.“ (zit. in: Delisle 2007) Eine Variation dazu liefert der Ausspruch von Günter Grass, der den Kerngedanken noch einmal anders zuspitzt, wenn er sagt: „Die Übersetzung verwandelt alles, um nichts zu ändern.“ Auffällig ist, dass sich in dieser Gruppe viele zeitgenössische Schriftsteller als Quellen finden, also Autoren, die dank heutiger Kommunikationsformen in engem Austausch mit ihren Übersetzern in der ganzen Welt stehen und sie offenbar als sehr gute Le‐ serinnen kennengelernt haben. Ihre Sentenzen lesen sich, als ob sie eine Ge‐ genposition markieren wollten zur allfälligen Kritik, wie das folgende Beispiel von Alberto Manguel zeigt: „Der ideale Leser ist ein Übersetzer […]. Er ist in der Lage, einen Text zu zerlegen, ihm die Haut abzuziehen, ihn bis aufs Mark aus‐ zuweiden, jeder Arterie und jeder Vene nachzugehen, um dann ein neues le‐ bendiges Wesen zu erschaffen“ (Manguel 2003). Manguel imaginiert den Über‐ setzer als Demiurgen, der gleich dem Autor fähig ist, aus dem Material der Sprache, das er anthropomorphisiert herbeizitiert, einen lebensfähigen literari‐ schen Text zu erschaffen. Und vor dem Hintergrund all der leserzentrierten Li‐ teraturtheorien der letzten Jahrzehnte kann es wohl keinen größeren Ausdruck der Wertschätzung geben an als den, der „ideale Leser“ zu sein. 3.3 Der scharfe Blick Kommen wir zur dritten Gruppe von Aussagen, bei denen zur Skepsis in der Sache eine bittere Note tritt, ein schärferer Ton, eine manchmal sogar ins Ag‐ gressive kippende Haltung. Übersetzer werden hier beispielsweise als ‚Diener zweier Herrn‘ bezeichnet, und anders als in Carlo Goldonis gleichnamiger Ko‐ mödie (1746) ist das nicht lustig gemeint. Ein solches Diktum bezieht sich zu‐ nächst einmal auf die schlichte Evidenz, dass Übersetzer sowohl der Ausgangswie der Zielsprache verpflichtet sind, also einer doppelten Verpflichtung unterliegen, die Entscheidungen zwischen mehreren möglichen sprachlichen Lösungen erfordert. Doch nicht die dafür benötigte Erfahrung oder Kreativität wird thematisiert, sondern eine (servile, erduldete) Abhängigkeit beleuchtet; mehr noch, in der Verdoppelung der Herren steckt nicht nur eine Verstärkung, sondern auch ein unauflösbares moralisches Dilemma: weil zwei Herren gleich‐ zeitig zu dienen gemäß der herbeizitierten aristokratischen Ordnung unmöglich ist, denn eine Seite muss dabei zwingend zu kurz kommen. Im Dienen steckt die Pflicht zur Loyalität, zwei Herren zu dienen heißt illoyal zu sein. Ergo: Über‐ setzer sind illoyal. 68 Albrecht Buschmann 10 Etwa, wenn Klaus Laermann (2014) die Trope vom Verrat in einem Pfingst-Essay in der Neuen Zürcher Zeitung erneut durchdekliniert und der Übersetzung attestiert: „Verrat ist ihr Metier, auch wenn sie noch so treu tut.“ Auch der erotische Echoraum wird gern genutzt. Etwa von Johann Wolfgang von Goethe: Er bezeichnet die Übersetzer als „geschäftige Kuppler, die uns eine halb verschleierte Schöne als höchst liebenswürdig anpreisen“ (Goethe 1967b: 499). Damit rückt er das Metier in die Nähe der Zuhälterei, was immerhin noch nicht ganz so verächtlich klingt wie jene Redensart, Übersetzen sei ‚das zweit‐ älteste Gewerbe der Welt‘, Übersetzer also gleichzusetzen mit Prostituierten. Nicht vertrauenswürdige Dienstboten, zwielichtiges Gewerbe, käufliche Sex‐ arbeiter - gibt es noch eine Steigerung? Zwei Worte genügen und fertig ist die wohl am häufigsten zitierte moralische Herabsetzung der Übersetzer: „tradut‐ tore traditore“ lautet die kürzeste und zugleich schlagend herabwürdigend for‐ mulierte Gleichung zwischen Übersetzer und Verräter. Dank des Gleichklangs der beiden Worte im Italienischen ist sie unmittelbar eingängig, wenn auch selten weiter begründet. Die Homophonie tritt an die Stelle des Arguments, was der Verbreitung offensichtlich zuträglich war und ist. 10 Ähnlich wie Goethe imaginiert Miguel de Cervantes das, was zwischen Aus‐ gangs- und Zieltext steht, in einer optischen Metapher. An die Stelle des ver‐ führerischen Schleiers tritt bei ihm die Webart eines Teppichs, wenn er seinem Protagonisten Don Quijote folgendes Urteil in den Mund legt: Dennoch bin ich der Ansicht, das Übersetzen von der einen Sprache in eine an‐ dere, […], so ist, als betrachtete man die flämischen Wandteppiche von der Rückseite her, wo man die Figuren zwar erkennt, doch nur unter allerlei Fäden, die sie ver‐ schleiern, so dass sie nicht in der Klarheit und dem Farbenglanz hervortreten wie auf der Vorderseite. (Cervantes 2008: 545) Der Ritter kommentiert hier wohlgemerkt eine Übersetzung aus dem Italieni‐ schen ins Spanische: Das Bild des Teppichs, dessen kunstvolle Muster auf der Rückseite nur schemenhaft erkennbar seien, bezieht sich bei Cervantes konkret auf eine Übersetzung zwischen eng verwandten Sprachen und vor allem auf jenen Sonderfall, bei dem jemand Ausgangs- und Zielsprache gut beherrscht. Nur dann kann man beim ersten Blick auf die Übersetzung eine Ahnung von der sprachlichen Formung des Originals bekommen. Beide Einschränkungen aber haben die weite Verbreitung dieses Bildes über 400 Jahre hinweg nicht bremsen können. Noch im 20. Jahrhundert sekundiert der italienische Schrift‐ steller Leonardo Sciascia: „Am besten hat es Cervantes ausgedrückt: Überset‐ zung ist wie die Rückseite eines Teppichs“ (Cervantes 2008: 545). Gut zu er‐ kennen ist hier, wie sich in der Überlieferungstradition das Bild (der Teppich 69 Warum Übersetzer kulturgeschichtlich unsichtbar bleiben 11 Zum „Übersetzen als Problem“ sowie zum Unmöglichkeitstopos in der Übersetzungs‐ forschung vgl. Buschmann (2015: 175 f.). und seine Webart) von den beiden höchst spezifischen Voraussetzungen der Aussage (verwandte und vom Sprecher beherrschte Sprachen) gelöst hat. Zudem suggeriert es bildhaft konkret und folglich sehr überzeugend, dass Literatur‐ übersetzen nur eine Ahnung von dem vermitteln kann, was ursprünglich gesagt wurde; die Vorderseite des Teppichs, ihre dicht gewebte Schönheit ohne Bre‐ chung sowie die darauf beruhende ästhetische Wirkung des Originals bleiben für die Übersetzung unerreichbar. Kurz gesagt: Gutes Übersetzen ist unmöglich. Die Unmöglichkeit guten Übersetzens: Diesen Gaul reiten zahlreiche Re‐ densarten, mal schneidend („Poesie ist das, was in der Übersetzung verloren geht“, Robert Frost), mal pointiert („Das Original ist der Übersetzung nicht treu“, Jorge Luis Borges), mal die Metapher der Schifffahrt aufnehmend, die zwangs‐ läufig im Schiffbruch endet. So Wilhelm von Humboldt: Alles Übersetzen scheint mir schlechterdings ein Versuch zur Auflösung einer un‐ möglichen Aufgabe. Denn jeder Übersetzer muss an einer der beiden Klippen schei‐ tern, sich entweder auf Kosten des Geschmacks und der Sprache seiner Nation zu genau an sein Original oder auf Kosten seines Originals zu sehr an Eigentümlichkeiten seiner Nation halten. Das Mittel hierzwischen ist nicht bloß schwer, sondern geradezu unmöglich. (Humboldt 1963: 78) Der preußische Sprachwissenschaftler, der als Kenner europäischer, orientali‐ scher und asiatischer Sprachen wusste wovon er sprach, ist eine der vielen Stimmen im Chor, die in solchen Entweder-Oder-Sätzen das Übersetzen als un‐ möglich markieren. Dessen Gesang ist so reich, dass er einen Unmöglich‐ keits-Topos erschaffen hat, der sich in Hunderten von Aufsatz- und Buchtiteln niederschlägt, die vom Übersetzen einzig und allein als ‚Problem‘ sprechen können. 11 4 Vom Misstrauen zur Unsichtbarkeit Redensarten über das Übersetzen speichern, tradieren und vermitteln viel Skepsis und Vorbehalt, reichlich Herabwürdigung, ein wenig Lobpreis. Soweit der Befund. Doch was steht hinter diesen Aussagen? Denn „ganz allgemein ge‐ sprochen wären Sprichwörter als Medium zu verstehen, in dem die Sprecher auf einen spezifischen Reiz reagieren, dem sie eine im Sprichwort formulierte Hal‐ tung ausdrücken, als Ausdruck eines spezifischen Bewusstseins“, so Werner Krauss (1988: 27). Wenn es einen Begriff für die Haltung gibt, die hinter der 70 Albrecht Buschmann Mehrzahl der Aussagen steht, dann ist es der des Misstrauens. Misstrauen steckt in allen Aussagen der ersten Gruppe, der sich die weitaus meisten Belege zu‐ ordnen lassen. Dem Übersetzer und der Übersetzung wird grundsätzlich miss‐ traut. Die beiden anderen Rubriken der hier vorgeschlagenen Sortierung wären demgegenüber zu verstehen einerseits als Zuspitzung (wenn aus Misstrauen Verachtung wird), andererseits als Gegenrede. Letztere, mit der dem Misstrauen demonstrativ eine Geste des Vertrauens entgegengesetzt wird, findet sich v. a. seit dem 20. Jahrhundert. Wie aber passt dieser schlechte Leumund zusammen mit dem unbestreitbaren kulturellen Nutzen des Übersetzens? Wie lässt sich erklären, dass Übersetzen für die Entwicklung unserer Kulturen zentral und allgegenwärtig ist, dass es aber zugleich keine Wertschätzung erfährt, die dieser Relevanz annähernd an‐ gemessen wäre? Mehr noch, wie erklärt sich die Selbstverständlichkeit, mit der dieses Misstrauen von Generation zu Generation im Archiv der Sprache wei‐ tergetragen wird? Wie auch immer die Ursprünge und Gründe für das Misstrauen kulturge‐ schichtlich zu erklären wären - fest steht, dass es unserer Sprach- und Diskurs‐ geschichte so tief eingeschrieben ist, dass es ganz und gar selbstverständlich und wie naturalisiert daherkommt. Als ob hier ein Naturgesetz Geltung beanspru‐ chen würde: Wasser kocht bei 100 Grad, auf den Sommer folgt der Herbst, Über‐ setzen ist verdächtig und den Übersetzern ist zu misstrauen. Wenn dem so ist, erklärt sich immerhin die lange selbstverständliche Sortierung der Bibliothek nach Grundregeln, die Übersetzungen unauffindbar macht. Denn wer so einen schlechten Ruf hat wie die Übersetzer, für den muss man keinen Platz auf der Karteikarte freiräumen. Er kann ruhig unauffindbar bleiben und in der Folge kulturell unsichtbar. 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Durch Louis Malles Verfilmung (1960) erreichte dieser auch cineastischen Kultstatus und mit über 1 Million verkauften Exemplaren hält er sich in Frankreich bis heute als Longseller. Er handelt von der pubertären Zazie, die ein Wochenende bei ihrem Onkel Gabriel in Paris verbringt, damit ihre Mutter Zeit für ihren Liebhaber hat. Gabriel, ein philosophischer wie prügelbe‐ reiter Koloss, arbeitet als Balletttänzer in einer Homosexuellenbar - seine eigene sexuelle Identität bleibt aber offen, genau wie die seiner Frau Marceline, die am Ende plötzlich Marcel heißt. Gleich am ersten Morgen haut Zazie ab, trifft auf einen potenziellen Kinderschänder, der ihr Bluejeans kauft, auf eine Touristen‐ gruppe, die ihren Onkel entführt, und dann noch auf eine liebeswütige Witwe und einen ebenso falschen wie unfähigen Polizisten. Ihr dringlichster Wunsch, einmal mit der Metro zu fahren, erfüllt sich am Ende des Romans, jedoch ver‐ schläft Zazie die Fahrt. Der Inhalt scheint nicht nur wirr, er ist es auch: Die Identität der Protago‐ nisten ist widersprüchlich, die Handlung sprunghaft, ein roter Faden, eine Ent‐ wicklung der Charaktere oder „Erlebnistiefe“ (Berger 2005: 74) sind kaum er‐ kennbar. Mona Wodsak konstatiert bei Queneau eine „Lust an der Umkehrung, der Aufhebung, der Infragestellung aller vermeintlichen Sicherheiten“ (Wodsak 1994: 296) und kommt zu dem Schluss, daß der Roman keine ernsthafte Evokation einer wie auch immer gearteten ‚außerli‐ terarischen Realität‘ sein will, daß er kein politisches, sozialkritisches, philosophisches etc. Anliegen vertritt und keine Botschaften dieser Art vermitteln will (Wodsak 1994: 296). Durch diese systematische inhaltliche Verunklarung „wird der Blick des Lesers auf den Ausdruck, das ‚Wort‘, die ‚Sprache an sich‘ gelenkt“ (Wodsak 1994: 297). Queneau experimentiert hier mit der Sprache und setzt damit seine theo‐ retischen Überlegungen zur Reform der Literatursprache um (vgl. Bigot 1994: 21). Das von ihm entworfene néo-français orientiert sich grammatikalisch und vor allem orthographisch an der Sprechsprache (ortograf fonétik, vgl. Blank 1991: 192-224). Im Roman führt dies etwa zur graphischen wie phonetischen Agglu‐ tination von Wörtern (vgl. 293 ff.), französisierten Schreibung von Fremdwör‐ tern, (teils bewusst falschen) Verschriftlichung der Liaison (vgl. Bigot 1994: 24 f.), Kürzung und Ersetzung von Graphemen sowie zu weiteren Zugeständnissen an das français parlé in Grammatik und Syntax (vgl. Blank 1991: 295-303). Im le‐ xikalischen Bereich verleiht die Verwendung von Argot und Umgangssprache der Sprechsprache mehr Raum. Zusätzlich rückt Queneau die Sprache durch Neologismen und Wortspiele ins Zentrum. Als spielerisches textprägendes Ele‐ ment kommen intertextuelle Bezüge hinzu, mit denen Queneau vereinzelt auf eigene und vor allem auf fremde Werke anspielt (vgl. Bigot 1994: 171-185). Der Roman stellt damit inhaltlich wie sprachlich eine Herausforderung für die Übersetzung dar, der sich im deutschsprachigen Raum zwei Personen stellen. Schon 1960 legte Eugen Helmlé, der später u. a. mit Le Chiendent (1972, Original 1933) auch noch weitere Werke Queneaus übersetzte, mit Zazie in der Metro eine auf dem Buchmarkt erfolgreiche Übersetzung vor (vgl. Wodsak 1994: 315), die von der Übersetzungswissenschaft aber stark kritisiert wurde (vgl. u. a. Rauch 1982: 286; Wodsak 1994: 315; Berger 2005: 85). 2019 erschien eine von der Presse positiv bewertete und etwa von Thea Dorn im Literarischen Quartett als „bril‐ lant“ geadelte, von der Übersetzungswissenschaft bislang noch nicht behandelte Neuübersetzung durch Frank Heibert. Dieser konnte durch die Ko-Übersetzung der Exercices de style (2016, Original 1947) zuvor bereits Erfahrung mit der Wie‐ dergabe von Queneau sammeln und erklärt die Neuübersetzung von Zazie zu‐ gleich als Reaktion auf die auch von ihm diplomatisch kritisierte Erstüberset‐ zung (vgl. Heibert 2019b: 237). Dass zu einem Ausgangstext zwei zumal sehr unterschiedliche Versionen vorliegen, ist für die Übersetzungswissenschaft ein Glücksfall. Vergleiche der Zieltexte mit dem Ausgangstext münden zwangs‐ läufig in eine Gegenüberstellung beider Übersetzungen und lassen so Unter‐ schiede hervortreten. Beide deutschen Zazie-Fassungen erschienen im Suhrkamp-Verlag, der mit der Veröffentlichung von Übersetzungen prominenter Werke nicht zuletzt aus den romanischen Sprachen die Vermittlung fremder Literaturen und Kulturen 76 Ursula Reutner / Philipp Heidepeter fördert. Dies gilt auch dann, wenn wie hier im deutsch-französischen Überset‐ zungskontext Ausgangs- und Zielkultur historisch eng und seit dem Versöh‐ nungsprozess nach dem Zweiten Weltkrieg auch freundschaftlich verbunden sind, sodass in Deutschland ein zuverlässiges Interesse an französischer Lite‐ ratur besteht und bei der deutschen Leserschaft ein gewisses Allgemeinwissen über Frankreich vorausgesetzt werden kann, was im Übersetzungsprozess zu berücksichtigen ist. Entsprechend gut ansetzen kann ein Vergleich zweier Übersetzungen gerade dort, wo zur sprachlichen eine kulturelle Übersetzungsdimension hinzutritt, im Ausgangstext also eine starke kulturelle Einbettung vorliegt (vgl. Reutner 2011: 13 f.). So erfordert die ausgangskulturelle Bindung in der Übersetzung jeweils Entscheidungen, ob und wie Kulturspezifika bewahrt werden können oder sollen (vgl. 14), was beträchtlichen Einfluss auf das Ausmaß und das Gelingen von Fremdheitsvermittlung im Zieltext haben kann (vgl. Kujamäki 2004: 924). Schon Friedrich Schleiermacher ([1813] 2009: 65 f.) stellt dabei die einbürgernde der ver‐ fremdenden Übersetzung gegenüber und bietet damit die Vorlage für Lawrence Venutis Trennung zwischen „domesticating“ und „foreignizing“ (Venuti 2008: 15). Juliane House (u. a. 2005) unterscheidet im Anschluss an Schleiermacher ähnlich dichotom zwischen overt- und covert-Übersetzung, wobei erstere „den Einfluss einer fremden Sprache und Kultur“ (House 2005: 82) deutlich werden lässt, wäh‐ rend die covert-Übersetzung stärker einbürgert, indem sie das Original durch einen „kulturellen Filter“ (85) laufen lässt und so weniger Fremdheit vermittelt. Ist ein Übersetzer nun dann besonders sichtbar, wenn sich der Zieltext nicht flüssig liest? Sichtbarkeit würde sich demnach in sprachlichen Ungereimtheiten manifestieren und zumindest einen nicht bewusst mit Brüchen in der Idiomati‐ zität arbeitenden Übersetzer eher negativ hervortreten lassen. Oder wird Sicht‐ barkeit eher in Abhängigkeit vom Ausmaß der bewussten Fremdheitsvermittlung verstanden? Sie bezöge sich dann auf einen Übersetzer, der die divergierende Herkunftskultur seines Textes nicht verschleiert, sondern mit dem Übersetzungs‐ charakter spielt und dezidiert den ‚Stachel der Fremdheit‘ setzt. Beide Interpreta‐ tionen von Sichtbarkeit sind möglich; der vorliegende Beitrag geht jedoch von der zuletzt genannten, mit ihrer entschiedenen Fremdheitsvermittlung durchaus po‐ sitiv zu wertenden Deutung aus und legt dabei die folgende Prämisse zugrunde: Je stärker ein Übersetzer einbürgernd vorgeht, die Illusion der Vertrautheit er‐ zeugt und somit fremdkulturelle Elemente des Originals verschwinden lässt, desto weniger wird bei spontaner Lektüre sein Wirken und damit er selbst sichtbar. Umgekehrt gilt, dass bei einer ausgeprägten Wahrung von Fremdheitselementen das Original und damit auch der Übersetzer sichtbarer bleiben. 77 Zazie dans le métro Leitend für den vorliegenden Beitrag sollen nun zwei Fragen sein: Welches Maß an Fremdheit vermitteln die Zieltexte in der Wiedergabe kulturspezifischer Inhalte? Wie stark werden dabei die Übersetzer sichtbar? Dafür setzt die Analyse fünf Kategorien an, die in Anlehnung an die Kategorisierung von Lehngut von Ursula Reutner (2011: 27-35, vgl. auch 2013: 453-455) für die Übersetzungsfor‐ schung entwickelt wurden: Eine direkte Übernahme (i.i) liegt vor, wenn ein ausgangstextuelles Element ohne Änderung übernommen wird, was im Fol‐ genden Ausdrücke einschließt, bei denen lediglich die französischen Minuskeln zu deutschen Majuskeln wurden (z. B. brie zu Brie); die Kategorie entspricht im Entlehnungsschema dem Fremdwort. Die Einordnung als angepasste Über‐ nahme (i.ii) erfolgt, wenn der ausgangssprachliche Ausdruck mit graphischen, phonetischen oder morphologischen Änderungen übernommen wird, wobei bereits die Tilgung von Akzenten als Anpassung gewertet wird, zumal die Ak‐ zentwahrung die französische Ausgangskultur im Zieltext auch graphisch stärker hervortreten lässt und mit der Tilgung häufig Ausspracheunterschiede einhergehen (z. B. Pantheon statt panthéon); diese Kategorie entspricht im Ent‐ lehnungsschema dem Lehnwort. Eine direkte Übersetzung (ii.i) tritt ein, wenn ein ausgangssprachlicher Ausdruck in allen semantischen Einheiten eins zu eins übersetzt wird; lediglich Veränderungen beim Numerus bleiben unberücksich‐ tigt (z. B. im Namen Clainefousse ‚Kleinfuß‘ für Petits-Pieds ‚kleine-Füße‘); diese Kategorie entspricht der Lehnübersetzung. Die angepasste Übersetzung (ii.ii) umfasst zielsprachliche Ausdrücke, die keine direkte Übersetzung mehr dar‐ stellen, wohl aber formale und / oder denotative Nähe wahren und damit der Lehnübertragung entsprechen, wobei die semantische Nähe bei der Überset‐ zungsanalyse auch durch den Gebrauch eines in der Zielsprache geläufigen Standardäquivalents gegeben sein kann (z. B. Dornröschen statt La Belle au bois dormant). Zur Adaption (iii) kommt es, wenn der ausgangssprachliche Ausdruck nicht wie in (i) und (ii) ganz oder teilweise übernommen oder übersetzt, sondern durch einen im Zieltext mehr oder minder wirkungsäquivalenten Begriff ersetzt wird. Die Einordnung als Kompensation (iv) erfolgt, wenn Anspielungen, die als solche im Ausgangstext an gleicher Stelle nicht enthalten sind, im Zieltext frei und zielsprachengerecht ergänzt werden. Keine Berücksichtigung (v) liegt vor, wenn die mit dem ausgangssprachlichen Ausdruck einhergehende Kultur‐ spezifik im Zieltext nicht mehr erkennbar ist. 78 Ursula Reutner / Philipp Heidepeter Abbildung 1: Vertrautheits- und Sichtbarkeitskontinuum Die Abbildung 1 zeigt mit Blick auf das Maß an Fremdheit und Sichtbarkeit im Gegensatz zu den eingangs skizzierten Positionen keine Dichotomie, sondern ein Kontinuum: Die Fremdheitswirkung des Zieltexts ist bei der direkten Über‐ nahme von Ausdrücken des Ausgangstexts in der Regel besonders hoch, was den Übersetzungscharakter hervortreten und damit die Sichtbarkeit des Über‐ setzers steigen lässt. Hieran ändert auch eine eventuell bereits zuvor erfolgte Übernahme der entsprechenden Ausdrücke wenig, die beim deutschen Leser zu unterschiedlichen Graden der Fremdheitserfahrung führen kann (vgl. z. B. bei‐ nahe schon fest eingedeutschte Ausdrücke wie Bouillon oder Aperitif gegenüber nicht allen Lesern geläufige Ausdrücke wie Consommé), zumal diese Varianz auch bereits für den Leser des französischen Originals gegeben ist (vgl. z. B. die bekannten Parfüm- und Getränkenamen Eau de Cologne und Beaujolais gegen‐ über den weniger bekannten oder gar fiktionalen Namen Chartreuse oder Bar‐ bouze, berühmte Persönlichkeiten wie Parmentier gegenüber weniger be‐ rühmten wie Vermot, existierende literarische Werke wie La dame aux camélias gegenüber inexistenten wie Mémoires du général Vermot oder innerhalb der To‐ ponymie einen geläufigen Ort wie Sacré-Cœur gegenüber Orten wie Saint-Montron). Angewandt auf die deutschen Übersetzungen von Zazie dans le métro definiert sich Fremdheitsvermittlung also nicht primär durch die ohnehin eher subjektive Frage, wie gut ein Ausdruck dem Leser bekannt ist, sondern dadurch, wie stark er den Leser auf den französischen Ursprung des Romans hinweist. Mit der zunehmenden Einbürgerung steigt die Vertrautheitswirkung und sinkt zugleich die Sichtbarkeit des Übersetzers. Dies gilt besonders für kre‐ ative übersetzerische Akte, die den Übersetzer durch eine zielsprachengerechte Adaption (Neckermannrechnung für facture Levitan) oder gar durch kompensa‐ torische Ergänzung zielkultureller Elemente (Neandertal für première homini‐ 79 Zazie dans le métro sation ‚erste Menschwerdung‘) in der höheren Vertrautheitswirkung seines Textes aufgehen oder zumindest zurücktreten lassen, und für die ausbleibende Fremdheitsvermittlung an Stellen, an denen die ausgangskulturelle Einbettung im Zieltext unberücksichtigt bleibt, der Übersetzungscharakter damit verschleiert wird und die Sichtbarkeit des Übersetzers gegen null tendiert. Der Beitrag analysiert in Kapitel 2 den Umgang der Übersetzungen mit Namen und kulturspezifischen Bezeichnungen und betrachtet dafür die Namen der Ro‐ manfiguren (2.1) sowie der erwähnten (historischen) Persönlichkeiten und Per‐ sonengruppen (2.2), Orte, Marken und Institutionen (2.3), Zeitungen und Werke (2.4) sowie Speisen und Getränke (2.5). In Kapitel 3 wird der Umgang mit inter‐ textuellen (3.1) und historischen Anspielungen (3.2) untersucht. Die Unterka‐ pitel präsentieren jeweils zuerst das Vorkommen im Ausgangstext und erläu‐ tern dann das Vorgehen beider Zieltexte anhand von Beispielen, die nach den oben erklärten Kategorien gegliedert sind, wobei aus Platzgründen in manchen Bereichen nur ausgewählte Stellen zur Illustration herangezogen werden. Ka‐ pitel 4 liefert einen quantitativen Überblick der vollständigen Analyse des Ro‐ mans in Tabellenform und stellt das Gesamtergebnis der Auswertung dar. 2 Namen 2.1 Romanfiguren Ausgangstext - Viele Protagonisten tragen ‚sprechende‘, d. h. bedeutungstra‐ gende Namen, die häufig auf Körper- oder Charaktereigenschaften der Figuren schließen lassen und teils auch intertextuelle Bezüge mit sich bringen; Queneaus Namenswahl ist damit ein wichtiges Element seines doppelbödigen Sprach‐ witzes. Direkte und angepasste Übernahme - Der Kneipenwirt, dessen Namen beide Zieltexte direkt übernehmen, trägt mit Turandot den Namen der Prinzessin aus Giacomo Puccinis gleichnamiger Oper (1924) und lässt so Gendergrenzen ver‐ schwimmen (vgl. Berger 2005: 83). Solch international bekannte ‚sprechende‘ Namen sind auch für nicht-frankophone Leser meist erfassbar, während in an‐ deren Fällen die Zusatzbedeutung bei der Übersetzung leicht verloren geht. Dies gilt zum Beispiel für die direkte Übernahme des Schusternamens Gridoux (< gris ‚grau‘) und des Papageiennamens Laverdure (< verdure ‚Grünes‘) in beiden Übersetzungen sowie im Falle von Fédor Balanovitch (wörtlich ‚Sohn des Balan‘, mit ballant ‚baumelnd, schlenkernd‘, vgl. Heibert 2019b: 234), dessen Name Hei‐ bert direkt und Helmlé mit Akzenttilgung angepasst übernehmen. Heibert kom‐ mentiert für diese drei Fälle: „[D]as Sprechende an den Eigennamen [ist] bes‐ tenfalls herzig, in diesen Fällen habe ich keinen Bedarf empfunden, die Wirkung 80 Ursula Reutner / Philipp Heidepeter 1 Bigot (1994: 168) vermutet hier stattdessen das Verb locher ‚schütteln‘, das im Argot auch die Bedeutung ‚masturbieren‘ trägt. 2 Die Kurzangabe O bezieht sich auf den französischen Originaltext von Queneau (1959), die Angaben Ü1 auf die deutsche Erstübersetzung von Helmlé (1960) und Ü2 auf die deutsche Neuübersetzung von Heibert (2019). 3 Denkbar ist darüber hinaus auch die verbürgte sexuelle Lesart von rouscailler (vgl. Delvau [1874] 1968, s.v., wörtlich ‚meckern‘). 4 Heibert hierzu: „Übersetzer müssen ebenso geschmacklos sein dürfen wie ihre Autoren“ (Heibert 2019b: 234). der sprechenden Namen zu erhalten“ (ebd.). Über diese verschmerzbaren Ver‐ luste hinaus übernimmt Helmlé auch stärker bedeutungsgeladene Namen di‐ rekt: den Namen von Zazies freizügiger Mutter, Jeanne Lalochère (< ugs. loches ‚Brüste‘), der im Original auf eine entsprechende Oberweite verweist, 1 den der Kellnerin Mado Ptits-pieds, der auf kleine Füße (petits pieds) schließen lässt, den der Witwe Mouaque (< moi que), der sich aus ihren Sterbeworten ergibt („Moi qu’avais des rentes“ ‚Ich, die ich Zinserträge hatte‘, O: 234), 2 den des erfolglos mit Marceline flirtenden Polizeiinspektors Bertin Poirée, der auf das Argotwort poirer ‚erwischen‘ verweist (vgl. 222), und den des Polizisten Trouscaillon, hinter dem sich laut Günter Berger (2005: 75) trousser ‚flachlegen‘ und caille ‚Hure‘ verbergen. 3 Mit der angepassten Übernahme von Aroun Arachide als Harun Al‐ raschid bewahrt Helmlé zudem den literarischen Verweis auf die Figur Harun ar-Raschid (frz. Hâroun ar-Rachîd) aus Tausendundeine Nacht (vgl. Heibert 2019a: 222), nicht aber das Wortspiel, das im Original durch die Homophonie von ar-Rachîd und arachide ‚Erdnuss‘ entsteht. Direkte und angepasste Übersetzung - Der mutmaßliche Kinderschänder, mit dem Zazie den Flohmarkt besucht, stellt sich Gabriel als Händler namens Pédro-surplus vor (< Pédro + surplus ‚Restbestand, Warenstock‘); Helmlé über‐ setzt den Namen mit Warenstock-Pedro direkt, ebenso tut dies mit Reste-Pedro Heibert, der zudem Mado Ptits-Pieds als Mado Clainefousse (< Kleinfuß) direkt übersetzt. Bei der Wiedergabe von Jeanne Lalochère als Jeanne Grossetittes (< große Titte(n)), 4 von Mouaque als Dassemire (< Das mir), von Trouscaillon als Ramlère (< Rammler) und von Bertin Poirée als Bertin Airtappe Poirée (< er‐ tapp(t)) arbeitet er mit angepassten Übersetzungen. Der Name der Witwe Das‐ semire richtet sich wie im Original nach ihren Sterbeworten: „‚Und dasse mire‘, murmelte sie, ‚mit meinen schönen Zinsen, sowas Blödes.‘ Sie stirbt“ (Ü2: 196). Im Fall von Bertin Airtappe Poirée ergänzt Heibert mit Airtappe einen Zweit‐ namen zur Übertragung der Bedeutung von poirer ‚erwischen‘, sodass hier so‐ wohl eine direkte Übernahme als auch eine direkte Übersetzung vorliegt. Be‐ merkenswert ist dabei nicht nur, dass Heibert die Figurennamen überhaupt übersetzt, sondern vor allem, dass er zwar deutsche Wörter nutzt, ihnen aber 81 Zazie dans le métro ein französisch wirkendes Klang- und Schriftbild gibt. So bleiben die Namens‐ bedeutungen direkt oder angepasst bestehen und behalten zugleich ihre fran‐ zösische Verankerung. Heibert kommentiert, dass hier, um eine äquivalente Wirkung zu erzielen, etwas [geschah], das man beim Lite‐ raturübersetzen eigentlich nie tut: Die Eigennamen wurden verändert, neue spre‐ chende ‚französische‘ Namen geprägt. Denn französisch klingen sollen sie schon, schließlich sind wir in Paris (Heibert 2019b: 234). Zwar ist die Übersetzung sprechender Namen gar nicht so ungewöhnlich, wie etwa ein Blick auf die verschiedenen Sprachversionen der Astérix-Reihe zeigt. Dessen ungeachtet gelingt es Heibert hier, durch die französisierte Schreibung Fremdheit zu vermitteln und durch die Übertragung der Namensbedeutungen zugleich Informationen zu wahren und Vertrautheit zu generieren; in der schwierigen Gratwanderung zwischen Fremdheits- und Vertrautheitswirkung findet Heibert somit für diese Fälle eine goldene Mitte, die beides vereint. Adaption - Die Übersetzung von Aroun Arachide vollzieht Heibert durch eine angepasste Übernahme und Adaption zugleich: Harunn Ara Schitt orientiert sich nur noch phonetisch am Original, aber nicht mehr semantisch, da nun ornitho‐ logische (Ara) und skatologische (Schitt) Komponenten im Namen enthalten sind. 2.2 (Historische) Persönlichkeiten und Personengruppen Ausgangstext - Queneau verweist vereinzelt auf überwiegend historische Per‐ sönlichkeiten Frankreichs sowie auf Personengruppen, die insbesondere mit Bezug zum Militär und / oder zum Zweiten Weltkrieg zu sehen sind. Direkte und angepasste Übernahme - Bei (historischen) Personennamen und Personengruppen neigen beide Zieltexte zur Übernahme. Direkt übernommen werden die Namen der Schauspielerin Michèle Morgan (1920-2016; O: 85; Ü1: 67; Ü2: 70), des Agronomen Antoine Parmentier (1737-1813; O: 169; Ü1: 135; Ü2: 141) sowie der französischen Königin Louise de Vaudémont (1553-1601; O: 100; Ü1: 79; Ü2: 83) und von Heibert zudem der Königsname Henri Trois (eigentlich Henri III , 1551-1589; O: 100; Ü2: 83). Aus dem Bereich der Personengruppen übernehmen beide Zieltexte mit Clochards (Ü1: 165; Ü2: 173) den französischen Ausdruck zur Bezeichnung städtischer Obdachloser direkt. Eine angepasste Übernahme liegt bei Helmlé phonetisch und bei Heibert auch graphisch wie morphologisch vor, wenn die herablassende Bezeichnung für deutsche Soldaten „les Fridolins“ (O: 48) in der Erstübersetzung mit „[d]ie Fridolins“ (Ü1: 37) und in der Neuübersetzung mit „[d]ie Fridoline“ (Ü2: 38) wiedergegeben wird. Als „General Vermot“ angepasst übernommen wird in beiden Zieltexten auch der 82 Ursula Reutner / Philipp Heidepeter Name der fiktiven Figur des général Vermot (O: 15), die Zazie mit Joseph Vermot (1828-1893) verwechselt, dem Begründer des humoristischen Almanach Vermot (u. a. Ü1: 11; Ü2: 11). Angepasst übernimmt Heibert zudem den Nachnamen des Regisseurs Albert Lamorisse (1922-1970), der bei Queneau in „marchande de ballons Lamoricière“ (O: 55) deriviert erscheint, in „Lamoriss’sche Ballonver‐ käuferin“ (Ü2: 45). Direkte und angepasste Übersetzung - Helmlé übersetzt den Königsnamen Henri Trois als „Heinrich der Dritte“ (Ü1: 79) direkt und Heibert als „Jottdreis“ (< Jot + drei, Ü2: 60) Queneaus „jitrouas“ (< ji + trois, O: 73), eine phonetisch geschriebene Abkürzung, die in der regulären Schreibung J3 ab 1941 ursprüng‐ lich Lebensmittelkarten für Jugendliche (vgl. Heibert 2019a: 220) und hier in erweiterter Bedeutung Jugendliche im Allgemeinen bezeichnet. Auch das fiktive Reitbataillon der „spahis jurassiens“ (O: 232), das auf einheimische Soldaten der französischen Kolonialtruppen (spahi) und das Juragebirge (jurassien) verweist, übersetzt Heibert mit „Spahis aus dem Jura“ (Ü2: 194) direkt. Angepasste Über‐ setzungen liegen vor, wenn neben Fridolins eine weitere Bezeichnung für deut‐ sche Soldaten, „les Frisous“ (O: 48), bei Helmlé erneut mit „die Fridolins“ (Ü1: 37) und bei Heibert mit „die Fritze“ (Ü2: 38) wiedergegeben wird. Keine Berücksichtigung - Helmlés unspezifische Übersetzung von jitrouas mit „Halbstarke“ (Ü1: 57) bewahrt den Bezug zur Jugend, nicht aber den zur histo‐ rischen Personengruppe. Die spahis jurassiens werden von Helmlé generalisie‐ rend mit „Gebirgsreiter“ (Ü1: 185) wiedergegeben, sodass der historisch-geo‐ graphische Bezug verschwindet. Das Namensadjektiv in Queneaus „marchande de ballons Lamoricière“ entfällt bei Helmlés „Ballonverkäuferin“ (Ü2: 43) voll‐ ständig. 2.3 Orte, Marken, Institutionen Ausgangstext - Bei aller Unberechenbarkeit der Handlung ist der Roman zu‐ mindest insofern stereotyp französisch, als regelmäßige Kneipenbesuche und der Konsum von Genussmitteln thematisiert werden, was die Verwendung von Marken- und Restaurantnamen mit sich bringt; auch Pariser Straßen und Se‐ henswürdigkeiten sowie Polizeiwagen, Fußballvereine und Parfümnamen finden Erwähnung. Direkte und angepasste Übernahme - Beide Zieltexte übernehmen u. a. die Ortsnamen Sainte-Chapelle (Ü1: 94; Ü2: 99), Saint-Montron (Ü1: 51; Ü2: 53) und Sacré-Cœur (Ü1: 85; Ü2: 89) sowie die Getränkemarken Fernet-Branca (Ü1: 142; Ü2: 149) und Chartreuse (Ü1: 50; Ü2: 52) direkt; ebenso den im Deutschen relativ geläufigen Parfümnamen Eau de Cologne (Ü1: 72; Ü2: 75), obwohl hier mit Köl‐ nisch Wasser eine äquivalente und dem Zielpublikum vertraute deutsche Be‐ 83 Zazie dans le métro 5 Historisch bezieht sich mont-de-piété (< it. monte di pietà ‚(wörtl.) Berg der Barmher‐ zigkeit‘, wohltätige Einrichtung, die Geld verleiht) auf mildtätig ausgerichtete Banken, die gegen Pfand Kredite an Bedürftige verleihen (vgl. TLFi 2019, s.v.). zeichnung vorläge, auf die beide Übersetzer jedoch zugunsten der Fremdheits‐ wirkung verzichten. Darüber hinaus übernimmt Helmlé den fiktiven Fußballverein Stade Sanctimontrais direkt (Ü1: 52), Heibert die Restaurant- und Bar‐ namen La Cave (Ü2: 16), Brasserie du Sphéroïde (Ü2: 136) und Mont-de-Piété (Ü2: 148) sowie u. a. die Ortsnamen Place de la République (Ü2: 96) und Panthéon (Ü2: 12). Zur morphologischen Anpassung greift er mit der Auslassung des Tei‐ lungsartikels beim Namen café du Vélocipède (café Vélocipède, Ü2: 133), der bei Helmlé mit Café Volicipede (Ü1: 127) auch graphisch und phonetisch angepasst wird. Die Auslassung von (Teilungs-)Artikeln sowie die teilweise graphische Anpassung findet bei Helmlé auch bei den Restaurantnamen Cave (Ü1: 15; O: La Cave), Brasserie Spheroide (Ü1: 127; O: Brasserie du Sphéroïde) und Nyctalopes (Ü1: 172; O: Aux Nyctalopes) statt. Direkte und angepasste Übersetzung - Übersetzungen liegen in diesem Bereich nur selten vor: Der (weitere fiktive) Fußballverein Étoile-Rouge de Neuflize wird in beiden Zieltexten direkt mit Roter Stern von Neuflize (Ü1: 52; Ü2: 54) übersetzt. Helmlé übersetzt zudem den Place de la République mit „Platz der Republik“ (Ü1: 91) und den Parfümnamen Barbouze, un parfum de chez fior (Barbouze < barbe ‚Bart‘, O: 12) mit „Bartuse, ein Parfüm von Fior“ (Ü1: 7) direkt, Heibert hingegen facture Levitan mit „Möbelrechnung von Levitan“ (Ü2: 175), wobei der Zusatz, dass es sich um ein Möbelunternehmen handelt, ein explikatives Mediations‐ element darstellt. Angepasste Übersetzungen liegen in beiden Zieltexten je einmal vor: Helmlé übersetzt die Bar Mont-de-Piété historisch korrekt 5 mit „Pfandhaus“ (Ü1: 141), Heibert macht aus Stade Sanctimontrais das eng am aus‐ gangssprachlichen Ausdruck orientierte „Stadion Saint-Montron“ (Ü2: 54). Adaption - Zur Adaption kommt es in beiden Zieltexten, wenn der umgangs‐ sprachlich als panier à salade (wörtl. ‚Salatkorb‘) bezeichnete französische Po‐ lizeiwagentyp durch die ebenfalls umgangssprachlichen deutschen Wagen‐ typen Grüne Minna (Ü1: 177) bzw. Bullenwanne (Ü2: 185) wiedergegeben wird. Helmlé ersetzt zudem den Namen des französischen Unternehmens Levitan durch den der deutschen Firma Neckermann (Ü1: 166) und die französische Lackmarke Ripolin durch die deutsche Marke Becolin in „becolingelackt“ (Ü1: 30). Heibert ersetzt den Parfümnamen Barbouze, un parfum de chez fior durch „Gorilla, ein Parfüm aus dem Hause Myves St. Fleurant“ (Ü2: 7) so, dass durch die Verfremdung der französischen Marke Yves St. Laurent trotz semantischen Ersatzes die Fremdheitswirkung erhalten bleibt; zudem entsteht durch die Pa‐ ronymie zwischen Myves und Mief ein neues Wortspiel. Die Schaffung eines 84 Ursula Reutner / Philipp Heidepeter (diesmal anzüglichen) Wortspiels ist als Motivation auch hinter dem Ersatz des Barnamens Aux Nyctalopes (< nyctalope ‚nachtsichtig‘) durch „Les sextantes“ (< Sex + Tante, Ü2: 180) zu vermuten. Keine Berücksichtigung - Nicht berücksichtigt wird in beiden Zieltexten die französische Halsbonbonmarke Valda in der Fügung „boîte de Valdas“ (O: 98), die als „Bonbonschachtel“ (Ü1: 77) bzw. „Eukalyptusbonbonschachtel“ (Ü2: 80) wiedergegeben wird. Bei Heibert findet zudem die französische Lackmarke Ri‐ polin in der Übersetzung des abgeleiteten Adjektivs „ripoliné“ (O: 40) mit „pi‐ cobello“ (Ü2: 32) keine Berücksichtigung. 2.4 Zeitungen und Werke Ausgangstext - Auch die explizite Nennung von Zeitungs-, Film-, Musik-, Bal‐ lett- und Buchtiteln verstärkt die kulturelle Einbettung, zumal die genannten Titel allesamt aus Frankreich stammen oder im Fall der russischen Ballettkom‐ position La mort du cygne (1905) zumindest auf französischer Musik beruhen. Direkte Übernahme - Direkte Übernahmen werden in beiden Übersetzungen je einmal verwendet: Helmlé übernimmt den Zeitungstitel Argus de la Presse direkt (Ü1: 52), Heibert den Titel der fiktiven Zeitung Sanctimontronais du di‐ manche, den er um den explikativen Zusatz „[unser] Sonntagsblättchen“ er‐ gänzt, sodass auch hier ein Mediationselement vorliegt (Ü2: 93). Direkte und angepasste Übersetzung - Direkt übersetzt werden in beiden Ziel‐ texten der Werktitel La dame aux camélias mit „Kameliendame“ (Ü1: 67; Ü2: 70), die fiktiven Mémoires du général Vermot, bei denen Michel Bigot (1994: 176) einen Verweis auf die Memoiren von Charles de Gaulle (1954-1959) ver‐ mutet, mit „Memoiren des General Vermot“ (Ü1: 11; Ü2: 11), und das auf Simone de Beauvoirs Le deuxième sexe (1949) verweisende „les personnes du deuxième sexe“ (O: 78) mit „die Personen des zweiten Geschlechts“ (Ü1: 61; Ü2: 64). Helmlé übersetzt außerdem zwei Titel von Militärmelodien direkt: Die im Original mit l’extinction des feux ‚das Auslöschen der Feuer‘ betitelte Melodie wird singula‐ risch mit „das Auslöschen des Feuers“ übersetzt, der salut au drapeau wird zum „Flaggengruß“ (O: 32; Ü1: 24). Angepasst übersetzen beide Zieltexte den Titel des von Gabriel dargebotenen Balletts La mort du cygne ‚der Tod des Schwans‘ mit dem im Deutschen üblichen Titel Der Sterbende Schwan (O: 101; Ü1: 79; Ü2: 83). Auch der Name von Charles Perraults Märchen La belle au bois dormant ‚die schlafende Schöne im Wald‘ (1697; O: 40) wird angepasst übersetzt: Mit Dorn‐ röschen (Ü1: 31; Ü2: 32) wählen beide Zieltexte den aus Grimms Märchen be‐ kannten Titel für das aus dem Französischen ins Deutsche übernommene Mär‐ chen. Den Titel einer weiteren Militärmelodie, caporal conconcon (O: 32), geben Helmlé mit „den Gefreiten Oberdepp“ (Ü1: 24) und Heibert mit „das Lied vom 85 Zazie dans le métro 6 Frz. con ist polysem und bedeutet in vulgärer Markierung ‚weibliches Geschlechts‐ organ‘, in umgangssprachlicher Markierung ‚doof, bescheuert‘. Helmlé spielt auf die letztgenannte Bedeutung an, Heibert auf die erstgenannte. Leutnant La-La-Loch“ (Ü2: 25) als angepasste Übersetzungen wieder, wobei nur Heibert den alliterativen Charakter wahrt. 6 Adaption - Die oben erwähnte Melodie l’extinction des feux adaptiert Heibert zum „Zapfenstreich“ (Ü2: 32). Zudem übersetzt er den Filmtitel Les visiteurs du soir ‚die Besucher des Abends‘ (1942; O: 38) mit dem Titel des deutschen Schla‐ gers „Freunde der Nacht“ (Ü2: 30). Keine Berücksichtigung - Vier beiläufige und eher versteckte Nennungen von Film- und Buchtiteln sind in beiden Zieltexten nicht als solche erkennbar. Dies betrifft Roger Ferdinands Theaterstück Les J3 (1946; O: 73), George Batailles Roman Le bleu du ciel (1935; O: 127), André Bretons Gedichtband Le Mont de Pitié (1919; O: 154) und den Film L’affaire est dans le sac der Brüder Prévert (1932; O: 178). Ein weiterer Fall findet sich bei Helmlé: Er übersetzt Les visiteurs du soir zwar korrekt mit „die Abendbesucher“ (Ü1: 29); der deutsche Filmtitel lautet jedoch Die Nacht mit dem Teufel (vgl. Heibert 2019a: 219), sodass der Bezug zum Film verloren geht. 2.5 Speisen und Getränke Ausgangstext - Neben den bereits in Kapitel 2.3 behandelten mit Lebensmitteln verbundenen Markennamen, die hier nicht erneut erfasst werden, verstärkt auch die Erwähnung weiterer spezifisch französisch konnotierter Speisen und Getränke im Ausgangstext und in den Zieltexten die Verankerung in der fran‐ zösischen Kultur. Direkte und angepasste Übernahme - Helmlé übernimmt im Bereich der alko‐ holischen Getränke Ausdrücke wie Apéritif und Beaujolais direkt (O: 20; Ü1: 15 f.), Heibert Muscadet (u. a. O: 216; Ü2: 180), Beaujolais (u. a. Ü2: 16) und zudem die Käsesorte Gruyère (O: 225; Ü2: 188), die Ausdrücke Consommé und Bouillon für ‚Brühe‘ (O: 28; Ü2: 21) sowie den französischen Ausdruck Croûton für ‚gerösteter Brotwürfel‘ (O: 223; Ü2: 187). Die pâté de campagne wird zur „Landpâté“ (O: 161; Ü2: 135), womit der erste Teil des zweigliedrigen Ausdrucks übernommen, der zweite direkt übersetzt und zugleich die romanische Konstituentenabfolge in eine germanische übertragen wird. Angepasst übernimmt Helmlé das zu „Panaschee“ geänderte panaché des Originals (O: 23; Ü1: 16), während Heibert den apéritif zum „Apéro“ kürzt (Ü2: 15) und die „Croutons“ (O: 102; Ü2: 84), anders als in der oben genannten Singularform, nun unsystematischerweise ohne Akzent schreibt. In beiden Zieltexten liegt zudem eine angepasste Übernahme vor, wenn grenadine 86 Ursula Reutner / Philipp Heidepeter au kirsch (O: 28) als „Grenadine mit Kirsch“ (Ü1: 20; Ü2: 21) wiedergegeben wird, wobei das Lehnwort Kirsch hier ins Deutsche zurückkehrt. Direkte und angepasste Übersetzung - Bei Heiberts oben genannter „Landpâté“ stellt Land eine direkte Übersetzung von campagne dar. Eine angepasste Überset‐ zung liegt vor, wenn Helmlé gruyère zu „Schweizerkäse“ (Ü1: 179) generalisiert. Adaption - Helmlé greift dreifach zur Adaption: So ist die provenzalische Bonbonsorte berlingots (O: 161) ebenso wenig mit den immerhin noch franzö‐ sisch konnotierten „Karamellbonbons“ (Ü1: 129) gleichzusetzen wie die pâté de campagne mit der deutschen „Hausmacher-Leberwurst“ (Ü1: 129) oder der aus dem Loiretal stammende Muscadet mit der immerhin ähnlich klingenden Reb‐ sorte „Muskateller“ (Ü1: 172). Keine Berücksichtigung - Die Einbettung in die Ausgangskultur geht verloren, wenn die Zieltexte das Gericht bœuf mironton (O: 167) mit „Zwiebelrindfleisch“ (Ü1: 133) bzw. „gekochtem Rindfleisch mit Zwiebeln“ (Ü2: 139) wiedergeben; auch die erwähnten berlingots verlieren mit der Generalisierung „Bonbons“ (Ü2: 135) bei Heibert die kulturelle Einbettung. Gleiches gilt bei Helmlé für die Über‐ setzung von bouillon und consommé mit „Fleischbrühe“ (Ü1: 20) und die von croûton(s) mit „Semmelbrocken“ (Ü1: 178) bzw. „geröstete[n] Semmelbrocken“ (Ü1: 81). Die Wiedergabe von foie gras als „Leberpastete“ (O: 28; Ü1: 20; Ü2: 21) lässt zwar inhaltlich an Frankreich denken, nicht aber sprachlich. Im Gegensatz zu Helmlé ist auch bei Heiberts Übersetzung von panaché mit „Radler“ (Ü2: 16) kein Frankreichbezug mehr erkennbar. 3 Anspielungen 3.1 Intertextualität Ausgangstext - Intertextuelle Bezüge liegen nicht nur in der bereits behandelten direkten Nennung von Werktiteln (vgl. 2.4) und vereinzelt bei den Namen von Romanfiguren (vgl. 2.1) oder (historischen) Persönlichkeiten und Personen‐ gruppen vor (vgl. 2.2), sondern auch in Anspielungen, die andere Texte in Form von verfremdeten Werktiteln, Textzitaten oder zitatähnlichen Passagen evo‐ zieren. Queneau nimmt dabei vor allem auf französische Lieder und Bücher Bezug; mit Zitaten u. a. aus der Bibel, von Aristoteles, Martial, Pedro Calderón, Robert Burns oder William Shakespeare gehen Queneaus Anspielungen jedoch auch über den frankophonen Raum hinaus. Die Analyse stützt sich hier auf die bei Bigot (1994: 171-185) gelisteten intertextuellen Elemente. Direkte Übernahme - Die direkte Übernahme erfolgt in den Zieltexten neben dem einleitenden Aristoteleszitat „ὁ πλάσας ἠφάνισεν“ (Verkürzung von ὁ δὲ πλάσας ποιητὴς ἠφάνισεν ‚der, der sie schuf, ließ sie wieder verschwinden‘) vor allem im 87 Zazie dans le métro Bereich der mündlichen Rede. So wird etwa das lateinische Martialzitat „Male bonas horas collocamus“ ‚wir verlieren unsere Zeit‘ (O: 117; Ü1: 93; Ü2: 97) ebenso übernommen wie die inhaltlich wenig sinnbehaftete Zitatkollage „Ne sutor ultra crepidam usque non ascendam anch’io son pittore“ (O: 99; Ü1: 78; Ü2: 81f.), die Zitate des griechischen Malers Apelles (4. Jh. v. Chr., „ne sutor ultra crepidam“ ‚Der Schuster steht nicht über dem Schuh‘), des französischen Finanzministers unter Ludwig XIV ., Nicolas Fouquet (1615-1680, „usque non ascendam“ ‚was ich nicht alles erreichen werde‘), und des italienischen Malers Antonio da Correggio (1489-1534, „anch’io son pittore“ ‚auch ich bin Maler‘) vereint (vgl. Heibert 2019a: 220). Direkte und angepasste Übersetzung - Die Verfremdung des Titels von Jean-Paul Sartres existenzialistischem Hauptwerk L’être et le néant (1943, dt. Das Sein und das Nichts) in „L’être ou le néant“ (O: 115) wird in beiden Zieltexten mit „Das Sein oder das Nichts“ (Ü1: 91; Ü2: 95) direkt übersetzt. Bei Heibert ist zudem die direkte Übersetzung der „marchande de ballons Lamoricière“ (O: 55) erwähnenswert, die auf den Film Le ballon rouge von Albert Lamorisse (1956, vgl. Heibert 2019a: 220) anspielt und die Heibert mit „Lamoriss’sche Ballonver‐ käuferin“ (Ü2: 45) wiedergibt, wobei das aus dem Namen des Regisseurs abge‐ leitete Adjektiv zugleich eine angepasste Übernahme darstellt (vgl. 2.2). Eine angepasste Übersetzung liegt bei Helmlé und Heibert vor, wenn beide Queneaus Hamlet-Zitat „voilà le problème“ (O: 115) mit der üblichen deutschen Formulierung „das ist hier die Frage“ (Ü1: 91; Ü2: 95) wiedergeben. Beide Ziel‐ texte übersetzen zudem Queneaus Anspielung auf das schlüpfrige Volkslied Les trois orfèvres ‚die drei Goldschmiede‘ angepasst: Die Passage „parce que le chat lui-même y aurait passé. Comme dans la chanson. Vous connaissez? “ (O: 66) wird bei Helmlé zu „denn da hätte er sogar die Katze gegriffen. Wie in dem Lied. Kennen Sie es? “ (Ü1: 52) und bei Heibert zu „da wär auch die Katze der drei Goldschmiede nicht vor ihm sicher gewesen. Kennen Sie das Lied? “ (Ü2: 54), wobei Heibert durch die Ergänzung „der drei Goldschmiede“ den Liedtitel ex‐ plizit nennt und mit diesem Mediationselement der deutschen Leserschaft die Anspielung verständlicher macht (vgl. auch Heibert 2019a: 219). Diese Media‐ tionsstrategie verwendet Heibert auch bei der Anspielung auf das Volkslied Aux marches du Palais ‚auf den Stufen des Palastes‘, wenn er „on tire un coup, sur les marches du palais“ (O: 97) mit „dann schieben wir ne Nummer, auf den Stufen zum Palast, wie im Lied“ (Ü2: 80, eigene Hervorhebung) übersetzt. Im Vergleich neigt Heibert deutlich stärker zur angepassten Übersetzung. So übersetzt er etwa „cracher sur nos bombes glacées“ ‚auf unsere Eisbomben spu‐ cken‘ (O: 168), das bei Queneau durch Paronymie auf den Roman J’irai cracher sur vos tombes (1946) von Boris Vian verweist, mit „auf unsere Leber spucken“ 88 Ursula Reutner / Philipp Heidepeter (Ü2: 141), womit die Anspielung auf den deutschen Titel Ich werde auf eure Gräber spucken gewährleistet ist (vgl. Heibert 2019a: 221 f.). Ähnlich verhält es sich mit den „voies du silence“ ‚Straßen der Stille‘ (O: 118), die bei Queneau durch die Homophonie von voies ‚Straßen‘ und voix ‚Stimmen‘ auf den Titel des kunst‐ theoretischen Essais Les voix du silence (1951) von André Malraux anspielt und die Heibert in Anlehnung an die deutsche Malraux-Übersetzung Stimmen der Stille mit „stimmende Stille“ angepasst übersetzt (Ü2: 99, vgl. auch Heibert 2019a: 220). Adaption - Queneaus Passage „je ne puis illico, bellicose l’uniforme“ ‚ich kann nicht sofort, wegen der Uniform‘ (O: 160) nutzt den Rhythmus des in Frankreich verbreiteten Volkslieds Sur le pont d’Avignon. Heibert adaptiert den Sprech‐ rhythmus so, dass er in „Stande pede keine Rede, Uniform nicht konform“ (Ü2: 133) dem des in Deutschland und Frankreich bekannten Kanons Bruder Jakob/ Frère Jacques entspricht (vgl. Heibert 2019a: 221). Keine Berücksichtigung - Viele textuelle Anspielungen finden in beiden Ziel‐ texten keine Berücksichtigung, darunter Verweise auf Lieder wie Malbrough s’en va-t-en guerre, Le Roi Renaud („tenant ses tripes dans ses mains“ ‚ihre Eingeweide in den Händen haltend‘, O: 234) oder La tour, prends garde. Auch Verweise auf François Rabelais durch das direkte Gargantua-Zitat „substantifique moelle“ ‚(wörtl.) substantielles Knochenmark, (fig.) Quintessenz‘ (O: 193) oder auf Victor Hugo durch die einen Vers seines Gedichts Booz endormi (1859) verfremdende Passage „avant l’heure où les gardiens de musées vont boire“ ‚vor der Stunde, wo die Museumswächter trinken gehen‘ (O: 125) sind jeweils nicht mehr er‐ kennbar. Die Tendenz zur Nicht-Berücksichtigung ist bei Helmlé stärker als bei Heibert; paradigmatisch für Helmlés Vorgehen ist wie etwa bei „auf unsere Eis‐ bomben spucken“ (Ü1: 135) die wörtlich korrekte, aber gänzlich anspielungsfreie Wiedergabe. 3.2 Historizität Ausgangstext - Verfremdende Anspielungen auf Sprichwörter und nicht-litera‐ rische historische Anspielungen sind bei Queneau ausschließlich frankreich‐ zentriert und zielen vor allem auf die beiden Weltkriege ab. Direkte Übernahme - Beide Zieltexte übernehmen den Schlachtruf Montjoie Sainte-Chapelle (Ü1: 105; Ü2: 109) direkt, eine Verfremdung des ab dem 12. Jahr‐ hundert verwendeten französischen Schlachtrufs Montjoie Saint Denis (vgl. Hei‐ bert 2019a: 221). Direkte und angepasste Übersetzung - Direkte Übersetzungen liegen in beiden Zieltexten vor, wenn Zazie ihre Muscheln bei Queneau mit einer „férocité mé‐ rovingienne“ (O: 63), bei Helmlé mit „merowingischer Wildheit“ (Ü1: 50) und 89 Zazie dans le métro bei Heibert mit „merowingischer Grausamkeit“ (Ü2: 52) verschlingt. Auch „la libération du territoire“ (O: 76), das auf das Ende des Zweiten Weltkriegs ver‐ weist, wird bei Helmlé mit „[die] Befreiung des Gebiets“ (Ü1: 60) und bei Heibert mit „[die] Befreiung des Territoriums“ (Ü2: 63) jeweils direkt übersetzt. Eine angepasste Übersetzung wählt Heibert für die Stelle, an der Jeanne La‐ lochères deutschsprachige Antwort durch die Besatzungszeit erklärt wird: In „Natürlich, dit Jeanne Lalochère qui avait été occupée“ ‚Natürlich, sagt Jeanne Lalochère, die besetzt gewesen war‘ (O: 14), ist occuper ‚besetzen‘ sowohl mili‐ tärisch als auch sexuell lesbar und deutet so Jeannes Promiskuität auch während des Krieges an. Die Passage übersetzt Heibert mit „Natürlisch, sagt Jeanne Gros‐ setittes, sie hat die Besatzung hautnah miterlebt“ (Ü2: 9) so, dass mit dem me‐ taphorisch wie nicht-metaphorisch lesbaren „hautnah“ die sexuelle Polysemie erhalten bleibt, wobei die deutsche wörtliche Rede des Originals auch in der Übersetzung deutsch bleibt, aber mit einem französischen Akzent versehen wird („Natürlisch“) und so die Einbettung in die französische Kultur sogar verstärkt. Heibert übersetzt ferner das verfremdete französische Sprichwort Je vous vois venir avec vos pataugas ‚Ich sehe Sie kommen mit ihren Wanderstiefeln‘ (ei‐ gentlich mit gros sabots ‚dicke Holzschuhe‘ statt pataugas) angepasst durch das funktionsäquivalente berlinerische Nachtigall, ick hör dir trapsen, hier elliptisch wiedergegeben durch „Nachtigall, Nachtigall“ (Ü2: 48). Adaption - Eine historisch unzutreffende Adaption vollzieht Helmlé, wenn Jeanne Lalochère statt Deutsch nun Englisch spricht und er die deutsche Besat‐ zung Frankreichs während des Zweiten Weltkriegs durch eine amerikanische er‐ setzt, wodurch vor dem Hintergrund der US -amerikanischen Besatzung manch deutscher Regionen nach dem Zweiten Weltkrieg zumindest für einen Teil der deutschen Leserschaft ein mögliches Vertrautheitselement entsteht: „Naturally, sagt Jeanne Lalochère, die amibesetzt gewesen war“ (Ü1: 9). Plausibler erscheinen Heiberts Adaptionen: Mit Zazies Frage, ob der Taxifahrer Charles sein Fahrzeug „sur les bords de la Marne“ ‚an den Ufern der Marne‘ (O: 20) gefunden habe, ver‐ weist Queneau auf die offizielle Nutzung von Pariser Taxis für Truppentran‐ sporte durch die Regierung im Ersten Weltkrieg, wodurch die Bezeichnung taxis de la Marne aufkam (vgl. Heibert 2019a: 219); Heibert wahrt den Verweis, indem er die Erwähnung des Marne-Ufers durch „Stammt wohl noch von 14 / 18, das Ding? “ (Ü2: 14) ersetzt. Bei Queneaus Verweis auf den Möbelstil der Neorenais‐ sance Henri II in „buffet genre hideux“ ‚Anrichte von grässlicher Art‘ (O: 199), das diesen durch die Klangähnlichkeit zwischen genre hideux und Henri II evoziert (vgl. Heibert 2019a: 222), rettet Heibert mit der angepassten Übersetzung „die Anrichte, die die Neorenaissance angerichtet hat“ (Ü2: 167) sowohl die Anspie‐ lung auf den Möbelstil als auch den wortspielerischen Charakter. 90 Ursula Reutner / Philipp Heidepeter Kompensation - An einer Stelle wird Heibert in diesem Bereich kompensie‐ rend aktiv. „Depuis l’hominisation première, ça n’avait jamais arrêté“ ‚Seit der ersten Menschwerdung hatte das niemals aufgehört‘ (O: 12; Ü1: 8) fokussiert die menschliche Evolution und bietet sich somit gut für Heiberts alliterative Er‐ gänzung „Nichts Neues seit Neandertal“ (Ü2: 8) an. Durch den Verweis auf den deutschen Ort und die dort gemachten fossilen Funde erzielt Heibert eine Ver‐ trautheitswirkung und verwebt zugleich Ausgangs- und Zielkultur. Keine Berücksichtigung - Die meisten Fälle von Nicht-Berücksichtigung be‐ treffen Helmlés Übersetzung. Exemplarisch zu nennen sind der im Original durch den Verweis auf das Marne-Ufer gegebene und bei Helmlé fehlende Welt‐ kriegsbezug in „Haben Sie den nicht zufällig auf dem Autofriedhof gefunden? “ (Ü1: 14) oder die nicht berücksichtigte Anspielung auf den Möbelstil Henri II , wo Helmlé die Klangähnlichkeit übersieht und mit „das häßliche Buffet“ (Ü1: 159) erneut bloß wörtlich übersetzt. 4 Fazit und Ausblick Die quantitative Gesamtschau in Abbildung 2 fasst die verschiedenen Strategien zusammen und verdeutlicht so das Ausmaß der Fremdheitsvermittlung und der entsprechenden Sichtbarkeit der Übersetzer. Die Namen der Romanfiguren übernimmt Helmlé häufiger direkt. Heibert wird zwar durch die Übersetzung und Adaption einiger Namen stärker einbür‐ gernd aktiv, trägt jedoch durch die Wahrung des französischen Schriftbildes trotzdem zur Fremdheitsvermittlung bei (2.1). Im Bereich (historischer) Per‐ sonen und Personengruppen sind insgesamt nur geringe Unterschiede mit einer leicht höheren Fremdheitswirkung bei Heibert festzustellen (2.2). Mit Blick auf die Namen von Orten, Marken und Institutionen neigt Heibert mehr zur direkten Übernahme als Helmlé und verstärkt so die ausgangskulturelle Einbettung, die jedoch auch durch die bei Helmlé häufiger gewählte angepasste Übernahme noch gegeben ist. Durch eine leicht stärkere Adaption und Nicht-Berücksichti‐ gung erweist sich Heibert hier als etwas einbürgernder und somit als gering‐ fügig weniger sichtbar (2.3). In der Nennung von Zeitungs- und Werktiteln sind die meisten Strategien ähnlich häufig vertreten; Heibert schafft durch leichte Adaptionstätigkeit Vertrautheit, Helmlé noch stärker durch etwas häufigere Nicht-Berücksichtigung (2.4). Bei den Speisen und Getränken ergibt sich durch Unterschiede in der direkten Übernahme ein Übergewicht an Fremdheitsver‐ mittlung bei Heibert, während Helmlés häufigere Nicht-Berücksichtigung Ver‐ trautheit schafft und die Sichtbarkeit des Übersetzers minimiert (2.5). 91 Zazie dans le métro Namen Anspielungen Romanfiguren (Historische) Personen und Personengruppen Orte, Marken, Institutionen Zeitungen und Werke Speisen und Getränke Intertextualität Historizität gesamt Ü1 Ü2 Ü1 Ü2 Ü1 Ü2 Ü1 Ü2 Ü1 Ü2 Ü1 Ü2 Ü1 Ü2 Ü1 Ü2 direkte Übernahme 11 8 4 5 17 23 1 1 3 9 5 5 1 1 42 52 angepasste Übernahme 2 1 2 3 10 4 0 0 3 3 0 0 0 0 17 11 direkte Übersetzung 1 3 1 2 8 6 5 3 0 1 5 4 3 2 23 21 angepasste Übersetzung 0 3 1 1 1 1 4 5 1 0 5 11 3 6 15 27 Adaption 0 1 0 0 3 4 0 2 3 0 0 1 1 2 7 10 Kompensation 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 1 0 1 keine Berücksichtigung 0 0 3 0 1 2 5 4 6 4 27 20 5 2 47 32 Abbildung 2: Quantitative Auswertung der Fremdheitsvermittlung Im Bereich der intertextuellen Anspielungen ist bei Heibert eine stärkere Ten‐ denz zur angepassten Übersetzung festzuhalten. Dies bewirkt im Vergleich zu Helmlé, der mehr Anspielungen unberücksichtigt lässt, ein höheres Maß an fremdkultureller Vermittlung, die zudem durch die als deutlich sichtbares Ele‐ ment einzuordnende Kommentierung vieler Anspielungen durch Heibert im Anmerkungsteil (vgl. Heibert 2019a: 219-223) sowie durch gelegentliche Medi‐ ationselemente ergänzt und erleichtert wird. Die zahlreichen Nicht-Berücksich‐ tigungen lassen sich den Übersetzern kaum anlasten, und Heibert selbst zeigt sich nachsichtig mit Helmlés höherer Auslassung von Anspielungen, da „deren genaues Verständnis erst oft durch die literaturwissenschaftliche Forschung möglich wurde“ (Heibert 2019b: 237): Queneaus Anspielungen sind erstens oft schwer zu erkennen und verweisen zweitens auch auf Titel, die selbst in Frank‐ reich kaum bekannt und damit umso schwerer als Anspielung übersetzbar sind (3.1). Auch im Bereich der historischen Anspielungen, wo Heibert durch die häufigere Verwendung von angepasster Übersetzung, Adaption und Kompen‐ sation zwar ebenfalls einbürgert, sticht Helmlé durch eine auffallend häufige Nicht-Berücksichtigung hervor, die der Fremdheitsvermittlung entgegensteht und so eine noch geringere Sichtbarkeit generiert (3.2). Wie die letzte Tabellenspalte zeigt, übernimmt Heibert häufiger direkt (Ü2: 52 > Ü1: 42); auch summiert mit der angepassten Übernahme, zu der Helmlé häufiger greift (Ü1: 17 > Ü2: 11), überwiegt Heibert in der Überkategorie der lexikalischen Übernahme (Ü2: 63 > Ü1: 59). Helmlé weist etwas mehr direkte Übersetzungen auf (Ü1: 23 > Ü2: 21), in der stärker einbürgernden angepassten 92 Ursula Reutner / Philipp Heidepeter Übersetzung überwiegt hingegen sehr deutlich Heibert (Ü2: 27 > Ü1: 15), ebenso in der Summe von direkter und angepasster Übersetzung (Ü2: 48 > Ü1: 38). Hei‐ bert ist in Adaption (Ü2: 10 > Ü1: 7) und Kompensation (Ü2: 1 > Ü1: 0) stärker einbürgernd aktiv und wird dadurch weniger sichtbar. Eine noch geringere Sichtbarkeit im Sinne ausbleibender Fremdheitsvermittlung liegt jedoch durch die stärkere Nicht-Berücksichtigung bei Helmlé vor (Ü1: 47 > Ü2: 32). Insgesamt gelingt Heibert somit trotz des ausgeprägteren Adaptions- und Kompensationsverhaltens im Bereich der Übersetzung von Namen, kulturspe‐ zifischen Bezeichnungen und intertextuellen wie historischen Anspielungen eine stärkere Vermittlung ausgangskultureller Fremdheit. Dies gilt umso mehr für Namen, die in der Tabelle jeweils nur einfach gezählt werden, im Roman aber häufig vorkommen, ihn damit prägen und so für die Fremdheitsvermittlung stärker zu gewichten sind als Ausdrücke, die nur einmalig erscheinen. Im Ver‐ gleich zu Helmlé wird Heibert also seinem Anspruch gerecht, „dem Lesepub‐ likum mehr Komplexes und Fremdes [zuzumuten]“ (Heibert 2019b: 237), wäh‐ rend die Fremdheitsvermittlung bei Helmlé häufiger komplett entfällt. Gerade durch diese Nicht-Berücksichtigung bleibt Helmlé im Unterfangen der Fremd‐ heitsvermittlung weniger sichtbar als Heibert, dessen Übersetzung durch die stärkere Präsenz der Ausgangskultur des Originals deutlicher erkennen lässt und damit stärker overt ausfällt als die von Helmlé. Dies beantwortet die Frage der Sichtbarkeit der Übersetzer in der Fremd‐ heitsvermittlung der deutschen Zazie-Fassungen. Nicht näher berücksichtigt werden konnte an dieser Stelle die translatorische Umsetzung von Queneaus sprachexperimenteller und -spielerischer Stilistik, die die Lektüre des Originals durch die offensive Infragestellung sprachlicher Gewohnheiten zu einem glei‐ chermaßen fordernden wie anregenden Erlebnis macht. Da das Maß an stilisti‐ scher Treue bei Helmlé und Heibert sehr unterschiedlich auszufallen scheint, sind entsprechende Untersuchungen ausdrücklich wünschenswert. Literaturverzeichnis Berger, Günter. 2005. Der Roman in der Romania. Neue Tendenzen nach 1945. Tübingen: Narr. Bigot, Michel. 1994. Michel Bigot, avec la collaboration de Stéphane Bigot, présente Zazie dans le métro de Raymond Queneau. Paris: Gallimard. Blank, Andreas. 1991. Literarisierung von Mündlichkeit. Louis-Ferdinand Cécile und Ray‐ mond Queneau. Tübingen: Narr. Delvau, Alfred. 1968 [1874]. Dictionnaire érotique moderne. Genf: Slatkine. 93 Zazie dans le métro Heibert, Frank. 2019a. „Anmerkungen des Übersetzers.“ In: Raymond Queneau. Zazie in der Metro. Aus dem Französischen übersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Frank Heibert. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 219-223. —. 2019b. „Frechheit siegt. Aus dem Sprachlabor des Übersetzers.“ In: Raymond Queneau. Zazie in der Metro. 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Helena Küster, Universität Düsseldorf 1 Die Grenzen der Übertragbarkeit von domestication und foreignization Die wissenschaftliche Rezeption von Lawrence Venutis The Translator’s Invisi‐ bility: A History of Translation (2004 [1995]) zeigt, dass nicht nur in der Über‐ setzungspraxis, sondern auch in der Übersetzungswissenschaft die Problematik der Unübertragbarkeit auftaucht, deren Rolle aber häufig unterschätzt wird (vgl. Apter 2013). Venutis Ideen zur Unsichtbarkeit der Übersetzung sowie die Stra‐ tegien domestication und foreignization bilden die Grundlage zahlreicher Ana‐ lysen von Übersetzungen mit verschiedensten Ausgangs- und Zielsprachen. Das Werk wurde in überraschend wenige andere Sprachen übersetzt und wird daher zumeist im Original zitiert; selten wird dabei hinterfragt, ob Venutis Konzepte überhaupt auf die jeweiligen Kontexte übertragen werden können. Die Begriffe werden in vielen Studien nicht genau definiert, also implizit als eindeutig und universal betrachtet (vgl. Paloposki 2011: 41; Kemppanen / Jänis / Belikova 2012). Erich Prunč spricht etwa von der „vielzitierten und manchmal generalisierend fehlinterpretierten Strategie der foreignizing translation“ (Prunč 2019: 312). Bei Venuti wird jedoch bereits deutlich, dass er die Konzepte nicht als allgemeingültig, sondern als kontextabhängig versteht (vgl. Nicklaus 2018: 72). Eine Schlüsselfrage ist dabei die der Dominanz bzw. des internationalen Ein‐ flusses einer bestimmten Kultur: Venutis politische Agenden sind, auch wenn oder gerade weil sie auf globale Verhält‐ nisse abzielen, zunächst aus der Perspektive eines Schreibenden im Zentrum einer übermächtigen Gesellschaft und Kultur zu verstehen. Vor einer unkritischen Über‐ nahme ist die Gewichtung der verfremdenden und der domestizierenden Übersetzung im jeweiligen soziohistorischen Kontext, im Machtspiel zwischen den Kulturen, zu verorten. (Prunč 2019: 312; siehe auch Stolze 2016: 72 f.) 1 Venutis Gebrauch des Begriffs „English“ ist problematisch, denn er grenzt die ‚englische Zielsprache‘ auf Großbritannien und die USA ein. Erstens ist diese Eingrenzung vage (vgl. Pym 1996: 168 f.) und vernachlässigt Unterschiede zwischen diesen geographisch wie sprachlich entfernten Kulturen (man bedenke etwa die amerikanischen Überset‐ zungen der Harry-Potter-Romane). Zweitens marginalisiert sie andere anglophone Kulturen, in denen möglicherweise andere Arten der Übersetzung praktiziert werden. Im vorliegenden Beitrag werden Übersetzungen aus verschiedenen Varietäten des Eng‐ lischen angesprochen, um der Diversität der Sprache Rechnung zu tragen. Die Über‐ setzungsstrategien können aber in diesem begrenzten Raum nicht differenzierend im Hinblick auf die jeweilige Varietät gedeutet werden. Tamar Steinitz weist außerdem darauf hin, dass Venutis Ideen auf einem west‐ lichen, individualistischen Verständnis von kreativem Schaffen beruhen, das sich z. B. kaum auf islamisch geprägte Diskurse übertragen ließe (vgl. Steinitz 2013: 14). In bestimmten kolonialen Kontexten können zudem auch Domesti‐ zierungsstrategien ein subversives Potential entfalten, wie im Fall von aktuellen Theateradaptionen in Hongkong, wo westliche literarische Klassiker auf die Zielkultur projiziert werden, um auf lokale Machtverhältnisse hinzuweisen, in diesem Fall die Dominanz Chinas (vgl. Chen 2012). Ebenso drängt sich die Frage auf, inwiefern der Zusammenhang zwischen domestizierender Übersetzungs‐ praxis, einem geringen Anteil von Übersetzungen auf dem Buchmarkt und In‐ visibilisierung, der laut Venuti den angloamerikanischen Literaturbetrieb prägt (vgl. Venuti 2004: 309), auch in anderen literarischen Kulturen feststellbar ist. Anthony Pym etwa zweifelt diesen Zusammenhang an - in Brasilien würden ebenfalls flüssige Übersetzungen bevorzugt, obwohl der Anteil an Überset‐ zungen auf dem dortigen Buchmarkt deutlich höher ist (vgl. Pym 1996). Ein weiterer vernachlässigter Aspekt ist die Historizität von Venutis These. Ein Vierteljahrhundert nach dem Erscheinen von Invisibility hat die Übersetzung auch im angloamerikanischen Raum an Anerkennung gewonnen. So haben sich bei einigen kleineren, unabhängigen Verlagen Publikationsstrategien etabliert, die Übersetztheit und Übersetzende bewusst in den Mittelpunkt stellen (vgl. Vermeulen / Hurkens 2019). Auch dies spricht dagegen, verallgemeinernd von einer Vorherrschaft der Unsichtbarkeit auszugehen. Venuti selbst fordert Übersetzer*innen dazu auf, vor dem Entwurf einer Über‐ setzungsstrategie die Kultur der Zielsprache zu analysieren, mit ihren Hierar‐ chien, Ausgrenzungen und Beziehungen zu „cultural others“ (Venuti 2004: 309). Diese Forderung ist auch als Auftrag für die Übersetzungsforschung zu ver‐ stehen. Daher will dieser Beitrag einen Ansatz zur kritischen Einschätzung des kulturellen Kontextes der Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche 1 zu Beginn des 21. Jahrhunderts leisten. Ohne wie Venuti normativ argumentieren zu wollen, wird auch diskutiert, wie Übersetzende seine Aufforderungen zur 96 Helena Küster 2 Die deutschsprachigen Autoren Jean-Luc Bannalec, Pierre Martin und Gil Ribeiro ver‐ fassen Frankreich- oder Portugalkrimis. Im pseudo-englischen Bereich gibt es Sarah Lark, Jason Dark, Thorn Forrester, Gregory Kern, Clark Darlton und Emil Sinclair. foreignization und zum Widerstand gegen die Unsichtbarkeit in diesem Kontext umsetzen könnten. 1.1 Der besondere Fall der Zielsprache Deutsch Es gibt mehrere Gründe, die nahelegen, dass im Falle der Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche nicht im gleichen Maße von Invisibilisierungen aus‐ gegangen werden kann, wie sie Venuti für den anglo-amerikanischen Kontext feststellt. Tatsächlich führt Venuti selbst die Zielsprachen Englisch und Deutsch als Beispiele für eher gegensätzliche Übersetzungspraktiken auf - und dies so‐ wohl hinsichtlich ihrer Übersetzungstraditionen als auch der Position über‐ setzter Texte in ihren literarischen Systemen. Übersetzungen, die die Ausgangssprache sichtbar machen, haben laut Venuti im deutschsprachigen Kontext eine längere Tradition. Die theoretische Grund‐ lage der foreignization, das von Friedrich Schleiermacher (1963) befürwortete verfremdende Übersetzen, orientierte sich stark an der Ausgangssprache. Diese Strategie verfolgte jedoch das Ziel, die deutsche Sprache und Kultur zu berei‐ chern (vgl. Venuti 2004: 99), was laut Venuti von einem ‚kulturellen Narzissmus‘ zeugt (vgl. 110), bei dem das Fremde für die Bildung einer Nationalidentität ‚benutzt‘ wurde. Entgegen der weit verbreiteten Annahme versteht Venuti also verfremdende Strategien nicht grundsätzlich als Ausdruck einer selbstlosen Wertschätzung des Fremden. Die Tradition der sichtbaren Ausgangssprache setzt sich heute auf dem deut‐ schen Buchmarkt, vor allem in der Unterhaltungsliteratur, in teils kuriosen Phä‐ nomenen fort: Romane werden etwa als ‚Island-Krimi‘, ‚Schweden-Krimi‘ oder ‚Provence-Krimi‘ vermarket. Die Texte sind voller Lokalkolorit und Begriffe aus der jeweiligen Originalsprache, die durch Kursivierungen hervorgehoben werden. Doch was nach einer Übersetzung aussieht, entpuppt sich häufig als Werk deutscher Autor*innen, die unter fremdsprachlichen Pseudonymen schreiben. 2 Es geschieht also eher das Gegenteil dessen, was Venuti als domes‐ tizierende Übersetzungsstrategie beschreibt: Anstatt dass eine Übersetzung vor‐ täuscht, es handele sich um ein Original, gibt hier ein Original vor, eine Über‐ setzung zu sein. Solche exotisierenden Pseudoübersetzungen dienen vielleicht noch heute der Konstruktion einer weltoffenen deutschen Nationalidentität. Sie folgen jedoch Strategien der kulturellen Aneignung und zeugen ebenfalls von einer ‚xenophoben Selbstgefälligkeit‘ (vgl. 17), da sie Fremdheit allenfalls vor‐ täuschen. Kulturelle Annahmen, oftmals stereotyper Art, werden von deutsch‐ 97 Allgegenwart und Unsichtbarkeit des Englischen in der Zielsprache Deutsch 3 Diese überraschend starke Position einer nicht-europäischen Sprache lässt sich durch die Popularität von japanischen Comics bzw. Mangas erklären (BuBiZ 2019: 100). 4 Statistiken über Ausgangs- und Zielsprachen im internationalen Vergleich für 2019 sind online beim Index Translationum der UNESCO zu finden. Die Datenbank ist jedoch unvollständig und so können die Statistiken nur zur groben Orientierung genutzt werden. 5 Laut Venuti profitierten auch nicht-amerikanische Verlage von der politischen und ökonomischen Dominanz der USA nach dem Zweiten Weltkrieg, indem sie zunehmend amerikanische Texte publizierten und somit aktiv zur Zirkulation anglo-amerikanischer Kultur beitrugen. Er suggeriert hier also, dass in diesen Übersetzungen eine Art foreig‐ nization, bei der die Werte allein durch ihre Darstellung aufgedrängt werden, die vor‐ herrschende Übersetzungsmethode ist. 6 „Verfremdendes Übersetzen“ wird hier als Übersetzung von „foreignizing translation“ verwendet. Damit ist aber nicht gemeint, dass Venutis Konzept dem von Schleiermacher entspricht. Siehe dazu auch Prunč 2019: 312. sprachigen Autor*innen auf andere Kontexte projiziert. Eine Klassifizierung dieses Phänomens als domestication oder foreignization gestaltet sich schwierig, denn es verbindet Merkmale beider Methoden. Doch auch ‚echte‘ Übersetzungen stellen auf dem deutschen Buchmarkt einen signifikanten Anteil der Publikationen dar; laut Venuti ist dies ein weiterer Un‐ terschied zwischen den Zielsprachen Englisch und Deutsch: In Deutschland waren im Jahre 1990 14,4 % aller Publikationen Übersetzungen, während sie auf den amerikanischen und britischen Märkten mit zwei bis drei Prozent eine mar‐ ginale Rolle einnahmen (vgl. 14). Seitdem haben sich die Verhältnisse kaum verändert: 2018 waren 13,7 % aller Erstveröffentlichungen in Deutschland Über‐ setzungen. Englisch war mit 63,1 % dieser Titel weiterhin die führende Aus‐ gangssprache, gefolgt von Französisch (10,3 %) und Japanisch 3 (9,2 %) (Buch und Buchhandel in Zahlen 2019: 97 f.). Auch weltweit ist Englisch noch immer die bedeutendste Ausgangssprache, wohingegen Deutsch die Sprache ist, in die die meisten Werke übersetzt werden (vgl. Beecroft 2015: 255). 4 Das ‚Handelsungleichgewicht‘ zwischen Englisch und anderen Sprachen hat ‚ernsthafte kulturelle Konsequenzen‘ (vgl. Venuti 2004: 14). ‚Angloamerikani‐ sche kulturelle Werte‘ 5 würden der internationalen Leserschaft aufgedrängt, während in englischsprachigen Ländern die Vorherrschaft des Monolingua‐ lismus gefördert und die Aufgeschlossenheit dem Fremden gegenüber verhin‐ dert werde (vgl. 15). Auch daher liegt nahe, dass bei der Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche vergleichsweise häufiger Strategien der foreignization zum Einsatz kommen. Denn Macht und Prestige einer (literarischen) Kultur haben Einfluss darauf, inwieweit diese domestizierend oder verfremdend 6 über‐ setzt wird. So lautet die weit verbreitete Annahme: 98 Helena Küster [D]ominant literatures tend to domesticate STs [source texts] from minority litera‐ tures, while minority literatures tend to maintain more of the foreignness of STs from hegemonic cultures, thus incorporating elements of these literatures into their own […]. (Klinger 2014: 75; vgl. auch Grutman 2006) Zwar handelt es sich beim Deutschen um die drittstärkste Ausgangssprache weltweit (vgl. Beecroft 2015: 255), also kaum um eine ‚minority literature‘. Im Vergleich zu Englisch nimmt Deutsch aber eine eher unterlegene Position ein, was sich am Einfluss des Englischen auf die deutsche Sprache zeigt (vgl. Klinger 2015: 75). Dies bedeutet auch, dass ‚dominant‘ und ‚minority‘ relative Begriffe sind und im Geflecht interlingualer Relationen betrachtet werden müssen. Die deutsche Übersetzungsgeschichte, die Rolle von Übersetzungen auf dem Buchmarkt und die Machtverhältnisse zwischen Englisch und Deutsch deuten an, dass Venutis Ideen nicht als universal zu verstehen sind. Besonders für die Zielsprache Deutsch kann nicht von einer vornehmlich domestizierenden Über‐ setzungspraxis und einer allgemeinen Unsichtbarkeit von Übersetzungen aus‐ gegangen werden. Auch reicht die Unterscheidung zwischen domestication und foreignization nicht aus, um Übersetzungsstrategien und Phänomene in dieser Zielsprache zu beschreiben, was in Teil 2 dieses Beitrags veranschaulicht werden soll. Diese Unterscheidung beruht auf einem Verständnis von Sprachen als starre, klar voneinander getrennte Systeme, in denen Vermischung die Aus‐ nahme, nicht die Regel darstellt. Dieses Verständnis ist aber angesichts ständiger Sprachkontakte nicht haltbar, was die Übersetzungsforschung oft nicht hinrei‐ chend berücksichtigt. Robert Young stellt etwa fest: If translation presupposes the discrete model of family trees, it cannot deal with the other, simultaneous aspect of language: dialect, dialectics, and mixture. Translation in its conventional conception can operate successfully in contexts where distinct, usu‐ ally written, languages have been established but not in situations where there is a multiplicity of different languages that merge seamlessly across a language zone in many forms and varieties. (Young 2016: 1216) Was bedeutet es also, wenn Englisch bereits in die deutsche Sprache integriert ist? Kann die Sichtbarkeit des Englischen in deutschen Zieltexten dann als fo‐ reignization in Venutis Sinne wirken? Dies ist fraglich, denn selbst deutsche Ausgangstexte sind bereits vom Einfluss des Englischen geprägt. Dies hängt mit dem höheren Prestige von Übersetzungen in Deutschland zusammen: Laut Itamar Even-Zohar tragen Übersetzungen in literarischen Polysystemen, in denen sie eine zentrale Rolle spielen, aktiv zur Innovation der dort produzierten Literatur bei, unter anderem in Form von ‚neuer poetischer Sprache‘ (vgl. Even-Zohar 1990: 46 f.). Anglizismen in deutschsprachigen Werken zeigen, dass 99 Allgegenwart und Unsichtbarkeit des Englischen in der Zielsprache Deutsch diese längst Bestandteil der Literatursprache sind. Der Einfluss des Englischen auf die deutsche Literatur und die Übersetzungsstrategien deutschsprachiger Übersetzer*innen von Medien und Literatur begünstigen sich wechselseitig, Übersetzung und Sprachkontakt durchkreuzen also die traditionelle Dichotomie von Ausgangs- und Zieltext, Ausgangs- und Zielsprache. Daher gilt es, Venutis Konzepte für diesen Kontext kritisch zu erweitern. 1.2 Englisch als allgegenwärtige und unsichtbare Ausgangssprache Aamir Muftis Forget English! Orientalisms and World Literatures (2016) könnte helfen, die Diskussion um die übersetzerische Unsichtbarkeit zu bereichern und die Begriffe domestication und foreignization so zu erweitern, dass komplexere Vorgänge jenseits der Dichotomie in den Blick geraten. Mufti untersucht die hegemoniale Rolle der englischen Sprache in der globalen Literaturproduktion, unter anderem als dominanteste Ausgangssprache, literarische lingua franca und als wichtigste Sprache der Literaturwissenschaft. Er beschreibt ein zentrales Paradox, das mit der Sichtbarkeit der Ausgangssprache Englisch in der Über‐ setzung korreliert: However, this institutionalized visibility is only part of the story. lt is an element in the social situation (and power) of English worldwide that it can assume an aura of universality and transparency, including as language of theory and criticism, disap‐ pearing from view precisely as it assumes various mediating and officiating functions. Any critical account of literary relations on a world scale - that is, any account of world literature as such - must thus actively confront and attend to this functioning of English as vanishing mediator rather than treat it passively as neutral or transparent medium […]. (Mufti 2016: 16) Die Allgegenwart der englischen Sprache generiert laut Mufti eine Unsichtbar‐ keit; das Englische fungiert als ‚verschwindende Vermittlungsinstanz‘ (vgl. Mufti 2016: 12). Das Phänomen schlägt sich auch im Bereich der literarischen Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche nieder: Die Ausgangssprache Englisch wird eben nicht strategisch vertuscht, sondern ist in Form von Angli‐ zismen präsent. Deren Prominenz impliziert, dass das Englische für das Ziel‐ textpublikum transparent ist und dass die Grenzen zwischen Sprachen längst fließend sind. Doch obwohl Englisch tatsächlich weltweit die häufigste Zweit‐ sprache ist, ist sie für die meisten Leser*innen nicht komplett verständlich (ebd.). Wenn Verlage und Publikum entgegen dem Sprachpurismus die Präsenz und auch Intransparenzen des Englischen akzeptieren, liegt dies zweifellos am Pres‐ tige der Sprache. Das Englische gilt als attraktiv, ermöglicht Personen räumliche wie soziale Mobilität und verleiht Kulturgütern Reichweite. Doch die starke, 100 Helena Küster normalisierte Präsenz des Englischen in deutschen Zieltexten führt nicht mehr zur Sichtbarkeit. Verfremdende Elemente, die bei der Übersetzung aus anderen Sprachen innovativ wirken können, sind bei Übersetzungen aus dem Englischen so gängig, dass sie kaum auffallen. Auf der Grundlage der entwickelten Thesen soll im Folgenden untersucht werden, welche Strategien die Ausgangssprache Englisch beziehungsweise die Übersetztheit von ursprünglich englischsprachigen Werken sichtbar und / oder unsichtbar machen. Bei den untersuchten Texten handelt es sich um Überset‐ zungen englischsprachiger Bestseller, die ab 2010 bei größeren deutschen Ver‐ lagshäusern erschienen sind. Laut Gisèle Sapiro können sich nur große Verlage die Teilnahme am Wettstreit um die Übersetzungsrechte für solche Werke er‐ lauben (vgl. Sapiro 2008: 157). Auch wenn die Texte an sich anspruchsvoll sind und auf komplexe kulturelle und linguistische Verhältnisse hinweisen, ist zu vermuten, dass die Verlage mit der Publikation in erster Linie darauf abzielen, den kommerziellen Erfolg des Ausgangstexts zu reproduzieren. Venuti be‐ schreibt solche Mechanismen wie folgt: [T]he drive to invest in bestsellers has become so prevalent as to focus the publisher’s attention on foreign texts that were commercially successful in their native cultures, allowing the editorial and translating process to be guided by the hope of a similar performance in a different language and culture. (Venuti 1998: 124) Die Übersetzung soll heute möglichst zeitnah zum Original erscheinen, um von dessen medialem Echo zu profitieren. Durch die immer größere Rolle von In‐ ternetplattformen und sozialen Netzwerken für das Marketing von Literatur wird dies noch verstärkt. So bleibt Übersetzenden meist wenig Zeit für eine sorgfältige, der Komplexität der Texte gerechte Übertragung. Ein weiterer As‐ pekt verhindert innovative Übersetzungslösungen: Laut Venuti sind Überset‐ zungen nur profitversprechend, wenn sie Erwartungen der Zielkultur erfüllen (ebd.). So würden Bestsellerübersetzungen tendenziell auch viel mehr über die Zielkultur verraten als über die ‚fremde‘ Kultur, die sie eigentlich repräsentieren sollen (vgl. 125). 2 Die Normalisierung der Ausgangssprache Englisch 2.1 Ausgangssprache als Marketingstrategie - Englische Titel für deutsche Zieltexte Vor der Lektüre eines literarischen Textes wird die Erwartungshaltung des Pub‐ likums von Peritexten beeinflusst, die die Übersetzung im Vorfeld sichtbar oder unsichtbar machen können: Auch bei Covergestaltung, Klappentexten und der 101 Allgegenwart und Unsichtbarkeit des Englischen in der Zielsprache Deutsch 7 Die Verfilmung des Romans heißt im Deutschen Crazy Rich (2018). Der asiatische Ur‐ sprung wird invisibilisiert, der angloamerikanische hingegen betont - ein drastisches Beispiel dafür, wie die Toleranz der Fremdheit gegenüber vom Prestige der Ausgangs‐ sprache und -kultur abhängt. Wahl des Titels handelt es sich um Akte der Übersetzung, die Charakteristika der domestication oder foreignization aufweisen können. Da diese Entschei‐ dungen meist von der Marketingabteilung des Verlags getroffen werden, ent‐ sprechen sie nicht unbedingt den Strategien der Übersetzer*innen, üben aber einen starken Einfluss auf die Rezeption aus. Besonders in der Unterhaltungsliteratur bleiben Titel häufig unübersetzt, mi‐ nimal an deutsche Schreibweisen angepasst oder lediglich mit einem deutschen Untertitel versehen. Dies trifft beispielsweise auf die meisten Nick-Hornby-Ro‐ mane zu: Fever Pitch. Ballfieber (1996), High Fidelity (1996), About a Boy oder der Tag der toten Ente (1998), How to be Good (2001), A Long Way Down (2005), Slam (2008) und Juliet, Naked (2009) lauten die Titel der deutschen Übersetzungen. Weitere aktuelle Beispiele sind Erfolgsromane wie Fifty Shades of Grey - Ge‐ heimes Verlangen von E. L. James (2011), The Hate U Give von Angie Thomas (2017), One of Us Is Lying (2018) von Karen McManus und Crazy Rich Asians  7 von Kevin Kwan (2019). Diese Titel zeugen bereits von der zentralen Position von Übersetzungen auf dem deutschen Buchmarkt: Gerade dass sie in der Un‐ terhaltungsliteratur üblich sind, wo eigentlich domestizierende Strategien zu erwarten wären, zeigt, dass die Übersetzung vom Englischen ins Deutsche ein besonderer Fall ist, für den Venutis Thesen offenbar nicht gelten. Die Ausgangs‐ sprache wird nicht verborgen, sondern soll einen Konsumanreiz darstellen. Doch auch daraus resultieren wiederum Unsichtbarkeiten: Englische Titel sind so gängig, dass sie kaum als solche auffallen; sie fordern daher nicht zur Refle‐ xion über die Rolle von Übersetzungen und der ihnen eingelassenen Fremdheit auf. So wird durch die Integration von fremdsprachigen Elementen eben nicht Alterität anerkannt oder im Sinne von Emily Apters Politics of Untranslatability (2013) auf Unübersetzbarkeit hingewiesen. Stattdessen werden Nähe und Trans‐ parenz suggeriert - beim Publikum soll der Eindruck erweckt werden, es han‐ dele sich um eine der deutschen Kultur nahe, vertraute Kultur, die unproble‐ matisch verstanden und rezipiert werden kann. In anderen Fällen werden englische Titel durch neue, oft einfachere englische Titel ersetzt, wie beim aktuellen Bestseller Time to Love von Beth O’Leary (2020), im Original The Switch, und zahlreichen anderen Werken der Unterhaltungsli‐ 102 Helena Küster 8 Gillian Flynns Sharp Objects wird in deutscher Übersetzung zu Cry Baby (2015), Ma‐ ckenzi Lees Bygone Badass Broads zu Kick-Ass Women (2019), alle Romane von Anna Todd haben in deutscher Übersetzung andere englische Titel. 9 Wie bei den deutschen Versionen der asiatischen Filme Parasite (2019), In the Mood for Love (2000), Eat Drink Man Woman (1994) sowie dem Roman Sputnik Sweetheart von Haruki Murakami (2002). Folgende spanische Werke haben englische Titel: Me too - Wer will schon normal sein? (2010), The Body - Die Leiche (2014), Timecrimes (2008) sowie Javier Cercas’ Roman Outlaws (2014). teratur. 8 Vertraute Phrasen ersetzen intransparentere; parallel zur Erhaltung der Fremdheit kommt es also zu einer gewissen Domestizierung des Werks aus der hegemonialen Sprache. Eine weitere, besonders problematische Strategie be‐ steht darin, Werken aus nicht-englischsprachigen Ländern in Deutschland eng‐ lische Titel zu geben, wodurch ein angloamerikanischer Ursprung suggeriert wird: Viele asiatische, aber auch europäische Werke etwa werden in Deutsch‐ land unter ihrem englischen Titel vertrieben. 9 Auch diese Strategie kann nicht eindeutig als domestication oder foreignization klassifiziert werden. 2.2 (Un)Sichtbarkeit von Anglizismen in literarischen Übersetzungen Nicht nur Marketingabteilungen, auch die eigentlichen Übersetzer*innen lite‐ rarischer Werke wenden Strategien an, die die Ausgangssprache Englisch und damit die Übersetztheit für alle sichtbar, aufgrund ihrer Omnipräsenz aber gleichzeitig in gewisser Weise unsichtbar machen. Eine der Strategien zur Sicht‐ barmachung, die Venuti in Invisibility anspricht, ist der Gebrauch von unüber‐ setzten Begriffen der Ausgangssprache. Während domestication fremdsprach‐ liche Wörter vermeide, sind „polylingual experiments“ eine Erscheinungsform der verfremdenden Übersetzung (Venuti 2004: 5). Venuti nennt das Beispiel einer Übersetzung aus dem Japanischen, wo japanische Begriffe unübersetzt im Ziel‐ text erscheinen. Martina Nicklaus beschreibt das radikale Potential dieser Stra‐ tegie wie folgt: Genau genommen votiert Venuti hier für eine extrinsische Fremdheit in ihrer ext‐ remsten Ausprägung. Der referentielle Wert des fremden, aus der Ausgangssprache übernommenen Elements muss vom Rezipienten neu bestimmt werden, möglicher‐ weise bleibt es auch bei dem Effekt der (feinen) Irritation ohne Zuweisung eines Re‐ ferenzobjekts. (Nicklaus 2018: 72) Bei der Ausgangssprache Englisch ist aber fraglich, ob die gleiche Strategie überhaupt auffällt oder ‚extrem‘ wirkt. Da Anglizismen Bestandteil der deut‐ schen Zielsprache sind, können unübersetzte englische Begriffe keine „deviation from dominant linguistic norms“ (Venuti 1998: 86) darstellen, also keine echte foreignization bewirken. 103 Allgegenwart und Unsichtbarkeit des Englischen in der Zielsprache Deutsch 10 Die Kursivierung fremdsprachlicher Wörter ist eine fragwürdige Praxis, da Übergänge vom Fremdwort bis zur Integration in den deutschen Wortschatz fließend sind. Die Praxis zementiert Grenzen zwischen Sprachen, die sich aber faktisch durch Aneig‐ nungs- und Assimilationsprozesse herausbilden (vgl. Young 2016). Würden Verlage auf Kursivierung ‚fremdsprachlicher‘ Begriffe verzichten, könnten künstlich festgelegte Grenzen hinterfragt und Sprachen treffender als dynamische Systeme dargestellt werden. Tatsächlich übernehmen viele Übersetzer*innen englische Begriffe, auch ohne dass dies durch eine lexikalische Lücke in der deutschen Sprache gerecht‐ fertigt wäre. Diese Anglizismen werden in der Regel durch ihre Schreibweise zusätzlich normalisiert. Zunächst werden sie grundsätzlich nicht kursiviert. Dies ist bemerkenswert, denn Lektoratsvorgaben verlangen meist die Kursivie‐ rung von fremdsprachlichen Wörtern, wodurch ihre Fremdheit markiert wird (vgl. Lennon 2010: 82). Die implizierte Asymmetrie ist problematisch, da sie Hierarchien zwischen sogenannten kleinen und großen Sprachen perpetuiert und maßgeblich zur Exotisierung anderer Kulturen beiträgt (vgl. Mufti 2016). 10 Dass die Akzeptanz englischer Wörter als Teil der deutschen Sprache durch die Übersetzung vorausgesetzt wird, erkennt man auch daran, dass ihre Schreib‐ weise an deutsche Normen angepasst wird, wie die Großschreibung von Nomen und Bindestriche bei Komposita. Die folgenden Zitate aus aktuellen Überset‐ zungen zeigen, dass diese Strategien die Ausgangssprache zwar nicht unsichtbar machen, aber so weit normalisieren, dass sie kaum noch auffällt. Die deutsche Übersetzung von Conversations with Friends (2018), Sally Roo‐ neys hochgelobtem Romandebüt, erschien 2019 beim renommierten Luchter‐ hand Literaturverlag, der 2001 von Random House übernommen wurde. Der Zieltext, verfasst von Zoë Beck, spiegelt den Sprachgebrauch einer jungen Ge‐ neration wider, der nicht ohne Anglizismen auskommt: Bobbi and I often performed at spoken word events and open mic nights that summer. When we were outside smoking and male performers tried to talk to us, Bobbi would always pointedly exhale and say nothing, so I had to act as our representative. (Rooney 2018: 19) Bobbi und ich traten in jenem Sommer oft bei Spoken-Word- und Open-Mic-Veran‐ staltungen auf. Wenn wir draußen standen und rauchten und die männlichen Per‐ former mit uns sprechen wollten, atmete Bobbi immer betont aus und sagte nichts, so dass ich als unsere Repräsentantin herhalten musste. (Rooney / Beck 2019: 28) Hier wird eine neuere Kunstform angesprochen, für deren Begriffe es teils keine etablierten deutschen Äquivalente gibt. Großschreibung und Bindestriche sig‐ nalisieren, dass die Begriffe möglicherweise ins deutsche Lexikon übergehen 104 Helena Küster werden, denn die Anglizismen haben bereits die Form deutscher Wörter. Die Übersetzung ist hier also allein durch die ausgangssprachlichen Wörter nicht als solche erkennbar. Doch auch weniger bekannte amerikanische Konzepte werden unmarkiert übernommen: Die Übersetzung von Imbolo Mbues Behold the Dreamers (2016) erschien 2017 bei Kiepenheuer & Witsch. Übersetzerin Maria Hummitzsch er‐ hält darin viel von der kulturellen und sprachlichen Alterität aufrecht, doch gerade dies macht die englische Ausgangssprache auch unauffällig: [ Jende Jonga was a] livery cabdriver in the Bronx, responsible for taking passengers safely from place to place. (Mbue 2016: 3) [ Jende Jonga war] Fahrer eines Livery Cabs in der Bronx, zuständig für die sichere Beförderung der Fahrgäste von A nach B. (Mbue / Hummitzsch 2017: 9) Hier besteht eigentlich ein Irritationspotential im Sinne der foreignization. Le‐ sende könnten durch das Konzept livery cab auf ein gewisses Maß von Unver‐ trautheit mit der amerikanischen Kultur hingewiesen werden. Vergleichbare Begriffe aus anderen Sprachen würden zweifelsohne kursiv gesetzt werden. Bei spontanen Entlehnungen aus dem Englischen weckt die Großschreibung aber den Eindruck, es handele sich um einen Eigennamen oder um ein gängiges Konzept, das keiner Erklärung bedarf. Die Intransparenz wird also übersehbar. Solche ad-hoc-Anglizismen finden sich in vielen aktuellen Bestsellerüberset‐ zungen. Ocean Vuongs Roman On Earth We’re Briefly Gorgeous (2019) wurde ebenfalls von Kritik und Publikum gefeiert. Er erschien bereits wenige Wochen nach dem Original in deutscher Übersetzung von Anne-Kristin Mittag beim re‐ nommierten Hanser Verlag. Die schnelle Übertragung ist problematisch: „Weil der Buchhandel überhitzt ist, so schnell dreht, glauben alle, die deutsche Fassung müsse nur sechs Wochen später vorliegen. Übersetzern und Lektoren bleibt keine Zeit mehr, ihre Aufgabe gut zu erledigen“, schreibt eine Rezensentin (Heintges 2019) und bemängelt unter anderem wörtliche Übersetzungen. Tat‐ sächlich bleibt die Übersetzerin oft nah an der Wortwahl des Originals, was teilweise aber durch die junge Erzählstimme gerechtfertigt ist. Wie bei Sally Rooney greift die Übersetzung auf Anglizismen zurück, um die Jugendsprache authentisch zu gestalten: I was in the Italian American Lit class at a city college in Brooklyn when I saw, on my phone, a Facebook update from Trevor’s account, posted by his old man. (Vuong 2019: 167) Ich saß in dem Seminar über italoamerikanische Literatur in einem City College in Brooklyn, als ich auf meinem Handy ein Update von Trevors Facebook-Account sah, das sein Alter gepostet hatte. (Vuong / Mittag 2019: 182) 105 Allgegenwart und Unsichtbarkeit des Englischen in der Zielsprache Deutsch Es werden aber auch Anglizismen gewählt, die kein englisches Äquivalent im Ausgangstext haben und eher dazu dienen, dem Zieltext Lokalkolorit zu ver‐ leihen: Ma, I swear I saw him. I know it’s stupid but I saw Phuong on the train. (Vuong 2019: 10) Ma, ich hab ihn gesehen, ich schwör’s. Ich weiß, es ist dumm, aber ich habe Phuong in der Subway gesehen. (Vuong / Mittag 2019: 18 f.) Viele entlehnte Begriffe sind zudem ungebräuchlich und vermeidbar, was ver‐ muten lässt, dass diese Entscheidungen womöglich der Zeitnot geschuldet sind, wie etwa „Glow-in-the-dark-Sterne“ (Vuong / Mittag 2019: 201), „Pier-1-Ge‐ schäfte“, „Whole-Foods-Supermärkte“ (232) und „C-Town-Kasse“ (233). Auch diese Komposita legen eine kulturelle Nähe zwischen Ausgangs- und Zielkultur nahe. Der dritte Roman der nigerianischen Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie, Americanah, erschien 2014 in deutscher Übersetzung von Anette Grube bei S. Fischer. Der Ausgangstext, der 2013 vom amerikanischen Verlag A. Knopf veröffentlicht wurde, enthält viele metasprachliche Referenzen, Sprachvarie‐ täten und Kulturspezifika, was die Übersetzung besonders interessant macht. Die folgenden drei Beispiele zeigen, wie die Übersetzerin durch verschiedene Methoden Nähe zur angloamerikanischen Kultur suggeriert. Kim’s kids do supervised TV, only PBS. (Adichie 2013: 148) Kims Kinder dürfen nur beaufsichtigt fernsehen, nur PBS, den öffentlich-rechtlichen Sender. (Adichie / Grube 2015: 191) Da der Sender PBS dem Zielpublikum unbekannt sein könnte, fügt die Überset‐ zerin eine Erklärung hinzu. Doch die Information ist in der wörtlichen Rede getarnt: Es scheint, als würde die weiße US -amerikanische Figur der nigeriani‐ schen Gesprächspartnerin etwas erläutern, als wäre dieser, nicht den Lesenden, PBS fremd. Zum Vergleich: Nigerianische Realia werden im Zieltext in einem Glossar erläutert, was Distanz schafft, Alterität betont und einen didaktischen und exotisierenden Effekt hat (vgl. Gerling 2004: 133; Howard 2006: 48). Der Ausgangstext weist außerdem auf Unterschiede zwischen US -amerika‐ nischer und britischer Kultur hin. Viele dieser Aspekte, etwa Beschreibungen von Sprachvarietäten, sind schwer übersetzbar und bleiben im Zieltext unüber‐ setzt. Die folgende Übersetzungsentscheidung resultiert hingegen nicht aus Un‐ übersetzbarkeit; vielmehr zeugt sie von einem Machtgefälle zwischen den USA und Großbritannien in der Wahrnehmung der Zielkultur. Dieses verleitet die 106 Helena Küster Übersetzerin dazu, ein britisches Gebäck in ein amerikanisches zu verwandeln, das in Deutschland verbreitet ist: A glum dusk was settling over London when Obinze walked into the bookshop café and sat down to a mocha and a blueberry scone. (Adichie 2013: 256) Eine düstere Dämmerung senkte sich über London, als Obinze in das Café der Buch‐ handlung ging und sich mit einem Mokka und einem Blaubeermuffin setzte. (Adi‐ chie / Grube 2015: 325) Eine Fremdheit wird so durch eine andere, näher liegende ersetzt - was mit Venutis Konzepten nicht ausreichend beschrieben werden kann. Auch zeigt das Beispiel, wie Globalisierungsprozesse und Sprachmischung dazu führen, dass viele Kulturspezifika nicht mehr bestimmten Kontexten zugeordnet werden. In der folgenden Textstelle wird zudem deutlich, wie fließend sich Sprachmischung in der Übersetzung vollzieht und dass auch Übersetzer*innen das Englische als Teil des Deutschen wahrnehmen: She enjoyed the unfamiliar - the McDonald’s hamburgers with the brief tart crunch of pickles […], the wraps Aunty Uju brought home, wet with piquant dressing, and the bologna and pepperoni […]. (Adichie 2013: 113) Sie genoss das Ungewohnte - die Hamburger von McDonald’s mit dem kurzen Knir‐ schen von sauren Pickles […], die Wraps, die Tante Uju nach Hause mitbrachte, feucht mit einem pikanten Dressing, und die Sandwiches mit Mortadella und Peperoni […]. (Adichie / Grube 2015: 147) Hier erscheinen zahlreiche Anglizismen aus dem Bereich der Gastronomie. Dabei fällt kaum auf, dass Pickles eigentlich noch ein fremdsprachliches Wort ist: Es gehört zwar laut Duden bereits zum deutschen Lexikon, jedoch im Sinne von Mixed Pickles, nicht Essiggurken. Es ist zu vermuten, dass es sich hier nicht um bewusste Verfremdung handelt - die Übersetzerin wurde in ihrer Entschei‐ dung wahrscheinlich eher von den anderen, gängigen englischen Begriffen in diesem Satz - Wraps, Dressing, Sandwiches - beeinflusst. Doch es ist gut möglich, dass der Begriff durch Entscheidungen wie diese künftig auch in dieser Bedeu‐ tung gebräuchlich werden wird. 2.3 Die Ähnlichkeit von Ausgangs- und Zieltexten All diese Übersetzungen demonstrieren die Allgegenwart von Anglizismen in deutschen Texten und ihr mangelndes Potential zur Verfremdung. Sie zeigen aber auch, dass die klare Trennung von Ausgangs- und Zielsprache nicht sinn‐ voll ist, da ständig Grenzen überschritten werden und Sprachmischungen statt‐ finden. Dies erkennt man auch an aktuellen deutschsprachigen Romanen, in 107 Allgegenwart und Unsichtbarkeit des Englischen in der Zielsprache Deutsch denen englische Wörter selbstverständlicher Teil der Ausgangssprache sind. So greift Leif Randt in seinem Roman Allegro Pastell (2020), der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde, auf zahlreiche Anglizismen zurück, um eine Liebesbeziehung in Deutschland zu beschreiben: Tanja und Jerome hatten keine Policies der Informationsvergabe vereinbart. Sie er‐ zählten sich, wonach ihnen war, zumeist in langen iMessages, und in selteneren Fällen e-mailten sie. (Randt 2020: 30) Die Zielsprache und ihre Literatur sind bereits vom Englischen geprägt, durch eine Kombination aus Globalisierung, dem Internet, Medien und Literatur. Ge‐ rade Veröffentlichungen großer Verlage, die ein junges Publikum ansprechen, sind voller unmarkierter englischer Begriffe. Diese Texte zeichnen sich durch ihre Translingualität aus: Sie weisen auf die Konstruiertheit von Grenzen zwi‐ schen Sprachen hin, indem diese ständig überschritten werden (vgl. Hel‐ gesson/ Kullberg 2018). Das Beispiel von Randt ist kaum von den zitierten Über‐ setzungen zu unterscheiden. Beide wählen eigentlich verfremdende Strategien und ähneln sich paradoxerweise gerade deswegen. Denn die Ähnlichkeit von Ausgangstexten und Zieltexten in einer Sprache ist gleichbedeutend mit der Unsichtbarkeit der Übersetzung. So schreibt Prunč über domestication: „Der Übersetzer, der sich auf eine solche Übersetzungsstrategie einlasse, mache sich selbst unsichtbar, da sich die Übersetzung nicht von der heimischen Textpro‐ duktion unterscheide“ (Prunč 2019: 311). Was bedeutet dies für die Übersetzungspraxis? Venuti fordert im letzten Ka‐ pitel von Invisibility, „Call to Action“ (Venuti 2004: 307 ff.), Übersetzende dazu auf, Widerstand gegen Normen zu leisten, die Übersetzungen unsichtbar ma‐ chen. Anstatt dominante ‚linguistische Normen‘ und ‚kulturelle Werte‘ in der Zielkultur zu bestätigen, sollen Übersetzende diese durch Betonung der Diffe‐ renz der Ausgangssprache und -kultur transformieren: Resistance assumes an ideology of autonomy, locating the alien in a cultural other, pursuing cultural diversity, foregrounding the linguistic and cultural differences of the source-language text and transforming the hierarchy of cultural values in the target language. (Venuti 2004: 308) Aber welche Implikationen hat die oben beschriebene Problematik, dass eben verfremdende Übersetzungsstrategien zu Unsichtbarkeit führen können? Der von Venuti geforderte Widerstand gestaltet sich schwierig, wenn die Normen und Werte der Zielkultur angloamerikanisch geprägt sind. Durch die Strategie, Begriffe unübersetzt zu lassen - eine Strategie, die bei anderen Ausgangsspra‐ chen eine ‚Hervorhebung der linguistischen und kulturellen Unterschiede‘ be‐ 108 Helena Küster deuten könnte - wird im deutschen Kontext vielmehr die Dominanz des Eng‐ lischen perpetuiert. Auf englische Begriffe zu verzichten wäre aber auch kein Widerstand in Venutis Sinne, sondern sprachpuristische Domestizierung. Daher können Übersetzende nur durch explizitere Methoden Widerstand leisten. 2.4 Möglichkeiten der Sichtbarmachung: Multilinguale Literatur, Paratexte und Typographie Wenn Anglizismen in deutschen Zieltexten vertraut wirken, müssen Über‐ setzer*innen Konventionen missachten, um die Übersetzung sichtbar zu ma‐ chen: Flüssige Übersetzungsstrategien, die in den Lektoraten etablierter Verlage bevorzugt werden, naturalisieren die Allgegenwart des Englischen, ohne dass das Publikum dazu eingeladen wird, sich mit dem Thema der Sprachvermi‐ schung auseinanderzusetzen. Gerade die Anpassung an deutsche Rechtschrei‐ bung, Nicht-Kursivierung und fehlende Erläuterungen zeugen zudem von einer verbreiteten Ungleichbehandlung des hegemonialen Englischen anderen Spra‐ chen gegenüber, mit Normalisierung auf der einen, Exotisierung auf der anderen Seite. Nur Übersetzungen, die sich gegen diese Konventionen sperren, können als foreignizing beschrieben werden. So können Strategien, die für andere Aus‐ gangskulturen üblich, wegen ihres exotisierenden Effekts aber problematisch sind, die vermeintliche Neutralität des Englischen durchkreuzen. Eine Möglichkeit für solche Innovationen bieten multilinguale Romane, die zwei oder mehr verschiedene Sprachen in Dialog oder gar Erzählstimme ein‐ setzen. Diese Romane, die seit 2000 immer populärer werden, setzen sich häufig explizit mit Sprachkontakt und Übersetzung auseinander (vgl. Hassan 2018). Sie machen Lesende auf die Relevanz dieser Themen aufmerksam und erlauben so auch Übersetzenden, sichtbarer zu agieren. Stefanie Kuhn-Werners Übersetzung von Julia Álvarez’ dominikanisch-amerikanischem Roman How the García Girls Lost Their Accents (1991), erschienen 1992 bei Econ, einem Imprint der Ull‐ stein-Verlagsgruppe, ist ein Beispiel für eine heute eher seltene Form der Sicht‐ barmachung des Englischen. Der Text enthält Fußnoten, die nicht etwa die ins Englische eingebettete ‚Minderheitssprache‘, lateinamerikanisches Spanisch, erläutern, sondern Wortspiele und Kulturspezifika aus dem Englischen, wie unter anderem: *Tycoon: jap.-am. Bezeichnung für einen Industriemagnaten; polemisch: Großkapi‐ talist, Oberbonze. (Álvarez / Kuhn-Werner 1992: 80) *Unübersetzbares Wortspiel: Shrinking violet bedeutet im Englischen: scheues Wesen, wobei shrink umgangssprachlich auch für Psychiater gebraucht wird. Im Original: He named her Violet after shrinking violet when she had hasted seeing Dr. Payne. (Ál‐ varez / Kuhn-Werner 1992: 85) 109 Allgegenwart und Unsichtbarkeit des Englischen in der Zielsprache Deutsch 11 Zum Beispiel in den deutschen Übersetzungen der multilingualen Erfolgsromane Ame‐ ricanah (2013) von Chimamanda Ngozi Adichie (Übersetzung von Anette Grube, 2014 bei S. Fischer), Brick Lane (2003) von der in Bangladesch geborenen Londoner Autorin Monica Ali (Übersetzung von Anette Grube, 2004 bei Droemer Knaur) sowie dem do‐ minikanisch-amerikanischen The Brief Wondrous Life of Oscar Wao (2007) von Junot Díaz (Übersetzung von Eva Kemper, 2009 bei S. Fischer). Während die Originaltexte auf Glossare verzichten, wurde in der Übersetzung eines hinzugefügt, das Konzepte der nicht-englischen Sprache erläutert. **Unübersetzbares Wortspiel. Das auf dem Gleichklang des Namens Dr. Payne und des englischen Wortes pain = Schmerz basiert. (ebd.) Die Übersetzerin macht sich und ihre Arbeit selbstbewusst sichtbar, auch in ihren Grenzen, und macht auf Unübersetzbarkeiten aufmerksam. Gleichzeitig konfrontiert die Übersetzung Lesende, wie im Ausgangstext, mit der Alterität der hispanischen Kultur. Heute ist es selten, dass Verlage in Belletristiküberset‐ zungen Fußnoten akzeptieren, vor allem wenn es sich um englische Begriffe handelt. Doch zeigen auch große Verlagshäuser wie der Fischer Verlag, Droemer Knaur und dtv bei multilingualer, postkolonialer Literatur eine größere Bereit‐ schaft, Glossare zu den Übersetzungen hinzuzufügen. 11 Diese reagieren zunächst vor allem auf die implizierte Alterität der jeweils anderen, nicht-englischen Ausgangskultur, bieten aber theoretisch Platz, auch englische Konzepte zu er‐ läutern und somit ihre Fremdheit zu markieren. Noch radikaler wäre ein neuer Umgang mit der Typographie. Über‐ setzer*innen könnten englische Wörter, die noch nicht ins deutsche Lexikon aufgenommen wurden, klein schreiben und gegebenenfalls kursiv setzen. Dies wäre womöglich bei Lektoraten etablierter Verlage schwer durchsetzbar, da diese tendenziell eher auf Standardisierung setzen (vgl. Sapiro 2008: 156). Über‐ setzungsstrategien, die mit Lesegewohnheiten brechen, haben bei kleinen, un‐ abhängigen Verlagen bessere Chancen, denn diese sind tendenziell offener für innovative Methoden, die Übersetzungen sichtbar machen können (vgl. ebd.; siehe auch Vermeulen/ Hurkens 2019). Die englische Sprache kann nur Prozessen der foreignization unterzogen werden, wenn die Übersetzung die Machtverhältnisse sichtbar macht. Es genügt nicht, möglichst viele englische Begriffe zu übernehmen; vielmehr muss den Lesenden vor Augen geführt werden, dass es sich um eine hegemoniale Sprache mit globalem Einfluss handelt, nicht um ein neutrales, für alle zugängliches Medium. Zuschreibungen von Differenz durch Markierung sollten, wenn sie vorgenommen werden, alle Sprachen gleichsam betreffen. 110 Helena Küster 3 Ausblick Die aktuelle Übersetzungspraxis in Deutschland zeigt, dass übersetzerische Un‐ sichtbarkeit keine transkulturelle und transhistorische Gültigkeit hat. Im Fall der prestigeträchtigen Ausgangssprache Englisch wird der US -amerikanische oder britische Ursprung betont, nicht invisibilisiert. Diese Konvention trägt je‐ doch nicht mehr zur Sichtbarmachung der Übersetzung bei, sondern vielmehr dazu, dass die Omnipräsenz des Englischen naturalisiert wird. Die gängige Praxis, für den deutschen Markt englische Titel zu wählen, setzt nicht darauf, Lesende mit kultureller Alterität zu konfrontieren, sondern darauf, das Produkt attraktiver zu gestalten: Die deutsche Ausgabe soll vom Prestige der Ausgangssprache profitieren, was vor allem bei Populärliteratur und einem jungen Publikum attraktiv sein dürfte. Literarische Übersetzer*innen folgen of‐ fenbar selbst - bewusst oder unbewusst - der Annahme, Englisch sei hochgradig transparent und zugänglich. Dies wiederum korreliert mit der literarischen Pro‐ duktion in Deutschland - auch deutschsprachige Texte sind vom Englischen durchzogen. Foreignization in Form einer präsenten Ausgangssprache hat in diesem Kontext keine widerständigen Effekte; vielmehr hat sie eine domesti‐ zierende Wirkung. Wollen Übersetzer*innen sich und ihre Arbeit sichtbar machen, müssen sie Lesenden die sprachlichen Machtverhältnisse vor Augen führen, indem die ver‐ meintliche Neutralität des Englischen gebrochen wird. Die englische Sprache ist eben keine egalitäre lingua franca. Mehrsprachige Literatur bietet durch ihren hohen Gehalt an Metasprachlichkeit und die Thematisierung kultureller Alte‐ rität die Möglichkeit, dies zu verdeutlichen, so etwa durch Paratexte und ver‐ schiedene Methoden der Markierung. Um auch bei der Übersetzung anderer Arten literarischer Texte Sichtbarkeit zu erreichen, könnten Übersetzer*innen sich an der Translationswissenschaft orientieren. Derzeit besteht aber noch eine große Forschungslücke, was die Frage der Sichtbarkeit in literarischen Übersetzungen aus dem Englischen ins Deutsche betrifft. Es mangelt an Studien über die Konventionen und kreativen Abweichungen; auch über Typographie und Paratexte in diesem Kontext wurde bislang kaum geforscht. Auf der Grundlage dieser Forschung könnten Vor‐ schläge formuliert werden, wie sich foreignization in verschiedenen Genres pro‐ duktiv umsetzen lässt. Die Übersetzungsforschung muss zudem dem Umstand Rechnung tragen, dass Sprachen nicht isoliert existieren. Übersetzung kann nicht als Übertragung aus statischen, voneinander getrennten Systemen betrachtet werden. Daher reicht auch die Unterscheidung von Ausgangs- und Zielsprachen nicht aus. 111 Allgegenwart und Unsichtbarkeit des Englischen in der Zielsprache Deutsch Diese sind jeweils durch Sprachmischung geprägt und werden auch gerade durch Übersetzung immer weiter transformiert. Auch reicht es nicht, in der Übersetzungsforschung von dominanten und dominierten literarischen Sys‐ temen auszugehen, denn trotz der offensichtlichen Machtposition des Engli‐ schen sind Machtgefüge relativ und vielschichtig und sollten für jeden Kontext neu untersucht werden. Für die Übersetzungsforschung - aber auch für Über‐ setzende - bleibt also noch viel zu tun, um in Anbetracht der Sprachmischung und insbesondere des spezifischen Kontexts der Zielsprache Deutsch innovative Strategien der foreignization und Sichtbarmachung auszuloten. Literaturverzeichnis Adichie, Chimamanda Ngozi. 2013. Americanah. London: Fourth Estate. —. 2015. Americanah. Roman, übers. Anette Grube. 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Das in der deutschen Übersetzung von Anette Grube unter dem Titel Aus der Dunkelheit strahlendes Licht (2019) erschienene Werk handelt vom Totentransport des David Livingstone vom Bangweulusee nach Sansibar und somit von einer Reise über zahlreiche Sprach- und Kultur‐ grenzen. „They spoke another tongue“ (Gappah 2019: 82) ist eine wiederkeh‐ rende Feststellung; Übersetzungsakte sind im Roman hypervisibel: Überset‐ zende Figuren, Übersetzungspraxen und -probleme nehmen viel Raum ein und sind sowohl auf der Ebene des Erzählten als auch auf der Ebene des Erzählens Gegenstand vielfältiger Verhandlungen; Mehrsprachigkeit wird referiert und inszeniert; Teile des Romans begegnen uns als „born translated“ (Walkowitz 2015: 4); die Übersetzung - oder gerade die Unübersetzbarkeit - von Wertvor‐ stellungen und Weltzugängen in unterschiedliche Kontexte, Medien und Spra‐ chen (auch jenseits verbaler Verständigungssysteme) wird problematisiert. Diese Aspekte lassen die Herausforderungen, die sich bei einer Übertragung des Romans für Übersetzende ergeben, bereits erahnen. Auf Basis der Einsicht, dass literarische Übersetzungsentscheidungen notwendigerweise Entscheidungen 1 Mit Anette Grubes Arbeit liegt die einzige Übersetzung des Romans ins Deutsche vor. Die Regulierung von Übertragungsrechten erschwert Mehrfachübersetzungen rezenter Literatur und somit eine öffentliche Auseinandersetzung mit Übersetzungsalternativen. Vor diesem Hintergrund wäre eine noch ausgeprägtere Kultur der Debatte über Über‐ setzungen durch Rezensierende - also ein öffentliches, kritisches Sichtbarmachen der Übersetzung - wünschenswert. Der vorliegende Band eröffnet dafür einen Raum. Für die Einladung, diesen Raum zu nutzen, danke ich der Herausgeberin Birgit Neumann. für Setzungen sind, wird die von Anette Grube angefertigte Übersetzung zum Anlass genommen, über diese Herausforderungen produktiv nachzudenken. 1 2 „Ein kohärentes Sprachbild“: Fragen der Übersetzungsorientierung Anette Grube hat ein breites Spektrum anglophoner Gegenwartsliteratur über‐ tragen. Viele dieser Romane und Erzählungen verweisen ausführlich auf spezi‐ fische (trans)kulturelle Kontexte und verlangen somit nach kontextsensiblen bzw. „dichten“ Übersetzungen (vgl. Appiah 1993: 817). Anette Grubes Überset‐ zungen werden, sofern sie in Rezensionen gesondert Erwähnung finden, ge‐ meinhin gelobt für ihren eleganten Stil und ihre Lesbarkeit, und zwar auch in solchen Fällen, in welchen der Ausgangstext als ‚widerständig‘ empfunden werden mag. So ist beispielsweise bemerkt worden, Grubes Übersetzung von Chimamanda Ngozi Adichies Roman Americanah sei ein „flüssig lesbarer, schöner deutscher Text“ - ohne die Stolpersteine, die uns das englischsprachige Original stellt, das sprachlich wie formal seine Leserschaft herausfordert, indem es sie mit unterschiedlichen Textsorten und Sprachvarianten konfrontiert (Melsted 2018). Ausdrücklich hervorgehoben wissen möchte die Rezensentin der Süddeutschen Zeitung, Hanna Engelmeier, Grubes Arbeit an Gappahs mehrstim‐ migem Roman Out of Darkness, Shining Light: Grube habe, so Engelmeier, zahl‐ reiche „Differenzierungen im Deutschen erhalten und die vielen Einsprengsel aus Suaheli so eingearbeitet […], dass ein kohärentes Sprachbild entstanden ist.“ (Engelmeier 2019) Der Roman ist in drei Teile gegliedert, die von chorartigen Pro- und Epilog‐ passagen gerahmt sind. Besonders in sich hat es der zweite Teil, bestehend aus den umfangreichen Tagebucheinträgen des Jacob Wainwright, eines von Briten aus der Versklavung befreiten und dann in einer Missionsschule ausgebildeten jungen Mitglieds der „Livingstone-Expedition“ (Gappah / Grube 2019: 225). Wainwrights „selbstgerechte Stimme“ entbehre jeglicher „dramatischer Energie, die notwendig sei, um die Geschichte voranzutreiben“, wie Caryl Phillips in seiner ansonsten lobenden Rezension in der New York Times schrieb: „Trapped 116 Eva Ulrike Pirker 2 Johnston schreibt dies mit Blick auf die Übersetzung dramatischer Texte für Bühnen‐ inszenierungen. Da jede Übersetzung aber eben mit der Veröffentlichung eine einmalige Setzung darstellt, ist der Gedanke durchaus auch übertragbar auf Übersetzungen von Erzählliteratur oder Dichtung. in a single low gear, the narrative chugs along, prefaced by a series of lackluster imitations of 19th-century chapter headings that announce what is to follow.“ (Phillips 2019) Laut Engelmeier sind Wainwrights Tagebucheintragungen auch in der deutschen Ausgabe „ein nicht enden wollender, von der eigenen Würde schwer ergriffener Sermon, den er von denen übernommen hat, die ihn befreit haben - der Eindruck einer Überassimilation bleibt den ganzen Roman über erhalten.“ (Engelmeier 2019) An dem Umstand, dass die Geschichte, „deren Aus‐ gang ja von vornherein bekannt ist, auf 450 Seiten zwar durch den Atem der vielen sprechenden Figuren sehr lebendig ist, aber eben auch sehr langatmig wird“, konnte auch Anette Grubes von Engelmeier gelobte Übersetzung „[n]ichts ändern.“ (Engelmeier 2019) Schwingt bei dieser Feststellung ein Ton des Bedauerns mit? Oder zumindest die Implikation, Anette Grube sei bei dem Unterfangen, aus einem widerstän‐ digen Original ein lesbares Buch für den deutschen Markt zu produzieren, bis an die Grenzen ihres Metiers gegangen? Ist Anette Grube mithin nicht nur eine ‚unsichtbare Übersetzerin‘ von Literatur im Sinne Lawrence Venutis (vgl. 1995: 5), sondern sogar eine Optimiererin derselben? Und wenn ja, wäre dies ver‐ werflich? Schließlich ist jede literarische Übersetzung ein eigenes Sprachkunst‐ werk, das nicht nur Bedeutungselemente von der Ausgangssprache in die Ziel‐ sprache transferiert, sondern in der Zielsprache auf je eigene Art und Weise performativ agiert. Jede Übersetzung ist, um mit dem Übersetzungswissen‐ schaftler David Johnston zu sprechen, somit ein re-kreativer Akt, eine Insze‐ nierung, die abzielt auf ein bestimmtes kontextualisiertes Rezeptionserlebnis (vgl. Johnston 2013: 374). 2 Wenn Grubes Gappah-Übersetzung in ähnlicher Weise glättet wie es für ihre Adichie-Arbeit konstatiert worden ist, so war doch die Lesbarkeit für ein ganz bestimmtes, vom Verlag avisiertes Segment von Lesenden ein scheinbar wich‐ tiges Ziel. Und in der Tat mag das Lesevergnügen beim ‚Konsum‘ der deutschen Ausgabe bisweilen - zumindest in denjenigen Passagen, die englischsprachige Lesende in besonderem Maße strapazieren - ungebrochener sein. Anette Grubes Übersetzung hat mit Sicherheit dazu beigetragen, Gappahs Lesbarkeit im Deut‐ schen zu gewährleisten und für eine positive Aufnahme ihres Romans in deutschsprachigen Lesekreisen gesorgt. Diejenigen, denen die Übersetzung ein zufriedenstellendes, als authentisch empfundenes Leseerlebnis beschert hat, haben keinen Anlass, nachzuforschen, Grubes Setzungen einer Prüfung zu un‐ 117 Figur(ation)en des Übersetzens: Petina Gappahs Out of Darkness, Shining Light terziehen. Denjenigen allerdings, die über das Übersetzen nachdenken, sich mit dem Übersetzen auseinandersetzen, muss sich unweigerlich die Frage nach dem Tribut für das Ideal der Lesbarkeit stellen: In welcher Form ist es entrichtet worden? Worin liegt der Verlust der Setzung? Dies zu erschließen erfordert den Vergleich und ein tieferes Eintauchen in die Form und Sprache des Originals sowie seine Genese. 3 Hermeneutisches Reisen - hermeneutisches Meißeln Die Recherche- und Schreibarbeit zu Out of Darkness, Shining Light hat Gappah über insgesamt zwei Jahrzehnte beansprucht. Demgegenüber erschien die deut‐ sche Übersetzung noch im selben Jahr wie die englischsprachige Ausgabe. Selbst wenn die Übersetzung bereits vor Erscheinen der englischsprachigen Ausgabe angestoßen worden ist, sind die unterschiedlichen Zeitspannen im Hinblick auf die implizierten Hintergründe, aber auch auf die Reifung der Charaktere und Stimmen bemerkenswert. Anette Grube stellte sich der Herausforderung, Gappahs dichtem Text in einer vergleichsweise kurzen Zeitspanne gerecht zu werden. Dicht ist Gappahs Roman in vielerlei Hinsicht: So hat sie ihre literari‐ sche Arbeit einmal als Prozess der Reduktion beschrieben - „wie Bildhauerei. Alles Überflüssige wird weggemeißelt, bis etwas sichtbar wird.“ (Gappah in Mayer 2016) Dies bedeutet wiederum, dass hinter jeder Figur weit mehr steckt als das, was das Werk unmittelbar preisgibt. Dieser Umstand wiederum lässt sich nicht ohne Weiteres mit dem Verdikt der genannten Rezensierenden hin‐ sichtlich der „Längen“ vereinbaren - Längen, die Gappah ja als wesentlich und unkürzbar betrachtete, als das, was am Ende sichtbar bleiben sollte. So gesehen steht Gappahs Text durchaus widerständig im Raum, wenn man das Monieren der Kritik hinsichtlich der Längen berücksichtigt. Sie hatte ja bereits reduziert und das, was übriggeblieben ist, als wesentlich erachtet. Der Totentransport Livingstones wurde bereits 1874 deutschsprachigen In‐ teressierten nahegebracht als überaus „rühmlicher Akt der Pietät“ von „Livingstones Dienern“, die ihm das letzte Geleit gaben. Niemand hätte ihnen einen Vorwurf machen können, wenn sie ihren Herrn an dem Orte seines Todes begraben hätten, aber in dem Bewusstsein, wie hoch er daheim in Ansehen stand, fassten sie den großen Entschluss, ihn, so gut sie es vermochten, vor der Fäulnis zu bewahren und den 1800 Kilometer weiten Weg nach Zanzibar auf ihren Schultern zurückzutragen. (Petermann in Wainwright 1874: 24) Anstelle von Livingstone selbst oder von Horace Waller, dem Herausgeber seiner Last Journals, werden wir mit den Stimmen derjenigen konfrontiert, die 118 Eva Ulrike Pirker 3 Benannt nach ihrem Aufentalt in der britischen Auffangstation für aus der Versklavung Befreite im nordwestindischen Nashik. ihn begleitet hatten und seinen Leichnam in einer strapaziösen Reise vom Ufer des Bangweulusees im heutigen Sambia zurück nach Bagamoyo zur Überfahrt nach Sansibar brachten. Der Enormität dieses Akts war man sich, wie der zitierte Auszug aus Petermanns Einführung belegt, in Geographenkreisen gewahr. Es ist ein Akt, der Fragen aufwirft, der Erklärung bedarf, zu Interpretationen ani‐ miert hat. Unter den möglichen Interpretationen hat sich über ein gesamtes Jahrhundert eine kolonialromantische Sichtweise durchgesetzt, gemäß welcher Livingstones Gefolgschaft eine homogene Gruppe ergebener Diener darstellt, die ihr Handeln im Dienste eines angesehenen europäischen Herrn nicht infrage stellen. Nicht allein wurden die Begleiter zu devoten, treuen Trägern herabge‐ würdigt und so im Sinne eines Bildes von Afrikanern als dankbaren Empfängern europäischer Glorie und Mission verniedlicht - sie wurden aktiv aus der Ge‐ schichte herausgeschrieben (vgl. etwa Bridges 2007: 339; Lewis 2015: 2). In Gappahs Roman werden sie ausführlich vorgestellt: Namen, Herkunft und Funktion in der Gruppe werden genannt, zahlreiche Mitglieder werden extensiv charakterisiert. Die dreistufige Hierarchie unter den männlichen Begleitern - neben den 5 Führern Chowpere, Munyasere, Susi, Chuma und Amoda finden sich 12 „Nassickers“ 3 und mehr als 50 Träger („lesser pagazi“) - wird als Ord‐ nungssystem sowie als Konfliktquelle beschrieben, und die Anwesenheit von Frauen und Kindern, die aus der Hierarchie herausfallen, wird wiederholt the‐ matisiert und problematisiert (vgl. etwa Gappah 2019: 72). Nahegebracht werden uns die Gruppe und ihre Erlebnisse durch unterschiedliche Erzählinstanzen. Im Prolog spricht ein kollektives „we“ für die gesamte Karawane. Teil 1 wird aus der Sicht der Köchin Halima erzählt, Teil 2 aus der Sicht des in der Mission geschulten Wainwright. Der dritte Teil bietet in zwei langen Abschlusskapiteln Ausblicke sowohl auf Halimas als auch auf Wainwrights weitere Schicksale. Der Epilog besteht aus Zitaten: Zwei sind den Grabtafeln in Chitambo, wo Livingstones Herz begraben liegt, und London, entnommen; das dritte entstammt einem Tagebucheintrag Livingstones. Zusammen stellen sie die institutionali‐ sierte, dominante Erinnerungskultur um diesen ‚großen weißen Mann‘ zur De‐ batte. Der Epilog bildet so die Antithese zum Prolog, in welchem die Geschichts‐ vergessenheit hinsichtlich der vielen afrikanischen Expeditionsteilnehmenden angeprangert wird. Grube fängt in ihrer Übersetzung die Repräsentationen verschiedener Erin‐ nerungsmedien hervorragend ein. Die eigentliche Herausforderung liegt aller‐ dings in der Übersetzung der jeweiligen Haltung und Sprache, mit denen 119 Figur(ation)en des Übersetzens: Petina Gappahs Out of Darkness, Shining Light Gappah ihre beiden Haupterzählenden ausgestattet hat. Sowohl der Nassicker Jacob Wainwright als auch die Köchin Halima stehen in der Hierarchie der Ka‐ rawane vergleichsweise weit unten. Beide befinden sich gegenüber dem Expe‐ ditionsleiter in einem Abhängigkeitsverhältnis. Halimas Weltsicht ist gefiltert durch ihre Erfahrungen des Lebens als „bondswoman“ und durch ihr Handwerk, das Zubereiten von Nahrung. Obwohl er hierarchisch über ihr steht, macht sie sich lustig über „the tall figure of Jacob Wainwright, fully dressed even at this hour. It can rain the hail of a thousand storms, and the sun can bake with the cruelty of Tippoo Tip’s slave raids, and still Jacob will wear his suit.“ (13-14) Schnell wird nach dem Prolog deutlich, dass die Gruppe alles andere als ho‐ mogen und vielmehr eine transkulturell geprägte Schicksalsgemeinschaft ist, in der sich Menschen unterschiedlicher Sprachen, Kulturen, Hintergründe und Fertigkeiten, aber auch unterschiedlicher Dispositionen und Beweggründe zu‐ sammenfinden müssen. Gappah ging es somit nicht so sehr um eine Gegenüberstellung von europä‐ isch-hegemonialen, kolonialnostalgischen Darstellungen der Living‐ stone-Reisen einerseits und afrikanischen Perspektiven andererseits, sondern um die Reinszenierung einer Vielfalt von Perspektiven auch unter den margi‐ nalisierten afrikanischen Stimmen, die dem Single-Story-Syndrom entgegen‐ wirken soll. Diesem Ziel wird zum einen Rechnung getragen durch die Inklusion von Dialogsituationen und Beschreibungen einer signifikanten Zahl von afri‐ kanischen Figuren, die ein großes Spektrum bezüglich Herkunft und Wissen, Traditionen und Gebräuchen aber auch individuellen Eigenheiten und Hal‐ tungen abbilden. Zum anderen ist es die kontrastive Konstruktion der Erzähl‐ figuren Halimas und Wainwrights, die uns unterschiedliche Perspektiven auf dieses Spektrum bietet und es somit erweitert. Halima wie Wainwright sind lediglich durch die Umstände ihrer zufälligen, nicht von ihnen selbst geplanten, Teilnahme an der Expedition gemeinsame Zeugen der Ereignisse, wobei ihre kontrastiven Perspektiven, Weltsichten und Haltungen direkt dazu beitragen, die den Ereignissen zugeschriebene Faktizität in Frage zu stellen. Was gesehen worden ist und überliefert wird, hängt, so die implizite Aussage dieser Gegen‐ überstellung, vom Auge der Betrachtenden ab. Jede Überlieferung ist eine Über‐ setzung von Ereignissen gefiltert durch das Bewusstsein und die Artikulations‐ möglichkeiten der Überliefernden. Dies ist eine Kernerkenntnis in bzw. aus Gappahs Roman. Die stimmliche Vielfalt und die individuellen Charaktere Gappahs werden nicht allein auf der Handlungsebene hervorgehoben, wie es die zahlreichen Hinweise auf, bzw. Ausgestaltungen von Übersetzungssituationen vor Augen führen, sondern auch - und vor allem - auf der Ebene des Erzählens. Auch in 120 Eva Ulrike Pirker sprachlich-medialer Hinsicht werden uns mit Halima und Wainwright zwei kontrastive Figuren vorgeführt, die ausschweifend plaudernde Köchin und der evangelisierte Chronist. Es stellt sich zu Recht die Frage, wie sich das in Gappahs Roman so wichtige Momentum der Differenz mit der für Anette Grubes Über‐ setzung konstatierten Kohärenz vereinbaren lässt. In der Tat sind die überset‐ zerischen Herausforderungen der beiden Erzählstimmen sehr unterschiedlich. Beide Extreme nutzt Gappah, um exemplarisch zwei Grundkonstanten postko‐ lonialer Kritik herauszuarbeiten: Diejenige des subalternen Sprechens und die‐ jenige des kolonisierten Denkens. 4 Die Subalterne hat ein „ungeheuerliches Mundwerk“ Zu Livingstones Köchin Halima lagen Gappah nur wenige, eklektische Hinweise aus den Aufzeichnungen Livingstones und Stanleys vor, die ihr jedoch eine Steilvorlage für die literarische Ausgestaltung der Figur boten: Public punishment to Chirango for stealing beads […] It was Halima who informed on Chirango […]. This was so far faithful in her, but she has an outrageous tongue. [David Livingstone, The Last Journals of David Livingstone] (Gappah 2019: 34) Halimah, the female cook of the Doctor’s establishment, was … afraid the Doctor did not properly appreciate her culinary abilities; but now she was amazed at the extra‐ ordinary quantity of food eaten, and she was in a state of delightful excitement. … Poor, faithful soul! While we listened to the noise of her furious gossip, the Doctor related her faithful services. „You have given me an appetite,“ he said. „Halimah is my cook, but she never can tell the difference between tea and coffee.“ [Henry Morton Stanley, How I Found Livingstone] (Gappah 2019: 44) Halima ran away in a quarrel […]: I went over to Sultan bin Ali and sent a note after her, but she came back of her own accord, and only wanted me to come outside and tell her to enter. I did so, and added, „You must not quarrel again.“ … She has been extremely good ever since I got her from Katombo or Moene-mokaia: I never had to reprove her once. … I shall free her, and buy her a house and garden at Zanzibar, when we get there. [David Livingstone, The Last Journals of David Livingstone] (Gappah 2019: 55) Während diese Passagen andeutungsreich sind in Bezug auf die historische Figur der Halima und in Ansätzen eine gewisse gegenseitige Wertschätzung suggerieren, sind sie doch auch Zeugnisse der paternalistischen Haltung des europäischen Entdeckungsreisenden gegenüber den afrikanischen Mitgliedern seiner Karawane und spiegeln koloniale Strukturen. Innerhalb dieser nimmt Halima - und insgesamt die Frauen der Karawane, die in der expliziten Nennung 121 Figur(ation)en des Übersetzens: Petina Gappahs Out of Darkness, Shining Light der hierarchischen Struktur der Gruppe noch nicht einmal Erwähnung finden - den Platz der Subalternen ein, die mit Leib und Leben den Entscheidungen an‐ derer ausgeliefert ist. Die Auszüge führen zudem vor Augen, dass Machtpositi‐ onen innerhalb der kolonisierten Welt sich nicht allein in der Frage nach der Möglichkeit der Artikulation manifestieren, sondern in der Art und Weise, in der diese stattfinden muss, um Gehör zu finden. Halima spricht, dies ist offen‐ sichtlich, wird aber mit Blick auf ihre „outrageous tongue“, „quarrel“ und „fu‐ rious gossip“ herabgewürdigt und der Lächerlichkeit preisgegeben. Gappah schafft für die auf der historischen Halima besierende literarische Figur Raum, ihre eigene Sicht der Dinge und die ihr eigene Räson darzulegen - und zwar in einer ihr gänzlich eigenen, sie charakterisierenden Sprache, der Sprache der Küche. Gerade weil Fragen der Nahrung und ihrer Zubereitung nicht allein Halimas Metier sind, sondern ihr Medium und Weltzugang, ist sie von Stanleys Aussage - um die herum Gappah ein gesamtes Kapitel spinnt - bis ins Mark getroffen. Halima benutzt für sämtliche Angelegenheiten dem seman‐ tischen Feld der Nahrung entlehnte Bilder: „Well, there is Susi, but he has Mizozi, hasn’t he, and I was never one to cry over a tomato plant that is being tended in someone else’s garden“, erzählt Halima, die von Livingstone für den wenig gallanten Amoda als Gefährtin erworben worden war und gelegentlich den be‐ reits vergebenen Abdallah Susi anschmachtet, in ihrer Abhandlung über die habgierige („greedy“) und hässliche („ugly“) Männerwelt (Gappah 2019: 29). „[ J]ust like green limes, men are sometimes well looking enough on the outside, but once you open them up it is something else.“ (30) Grube übersetzt diese Passagen folgendermaßen: Na ja, da ist Susi, aber der hat Mizozi, und ich war noch nie jemand, der wegen einer Tomatenpflanze in einem fremden Garten weint. […] [W]ie grüne Limonen wirken Männer manchmal von außen überaus gut, doch wenn man sie aufschneidet, sieht die Sache anders aus. (Gappah / Grube 2019: 47) In Grubes Übersetzung wird die Nahrungsmetaphorik zwar grundsätzlich bei‐ behalten, auch wenn sie begrifflich an vielen Stellen ungenau bleibt: mit „green limes“ ist die Limette gemeint, die gerade dann unangenehm sauer sein kann, wenn ihr Grün eine besonders tiefe Ausprägung hat. Noch komplexer ist das Bild der „Tomatenpflanze in einem anderen Garten“. In Grubes Arbeit gehen durch die hier recht wörtliche Übertragung wichtige einander überlagernde Be‐ deutungsschichten verloren. Zum einen ist das Halima implizit charakterisie‐ rende Bild der Tomatenpflanze beizubehalten, zum anderen das Thema des Neids zu evozieren - eine der „Todsünden“, vor denen in nahezu allen Sprachen durch je eigene Redensarten gewarnt wird. Der einigermaßen absurd erschei‐ 122 Eva Ulrike Pirker 4 Mit Studierenden des Masterstudiengangs Literaturübersetzen der HHU Düsseldorf habe ich diese Passage diskutiert. Der genannte Vorschlag enstand u. a. auf Basis studenti‐ scher Übersetzungsvorschläge und ist somit das Ergebnis einer gewissen Schwarmintel‐ ligenz. Die Arbeitsrealität von Literaturübersetzenden ist allerdings in der Regel geprägt von einsamen Entscheidungen, die unter einem gewissen Zeitdruck getroffen werden müssen. 5 Die Geschichte der Verbreitung der Tomate, eine wandernde, vielfältig ‚übersetzte‘ Pflanze aus der Neuen Welt, legt nahe, dass Halima die Frucht aus ihrem Dienst als Köchin wohlhabender und einflussreicher Männer kennengelernt hat. nende Signifikant „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Tomatenpflanze“, von Halima mit großer Ernsthaftigkeit hervorgebracht, fordert also heraus. Ein Übersetzungsvorschlag ins Deutsche könnte sein: „und ich war noch nie eine, die nach den Tomaten in Nachbars Garten schielt.“ 4 Hier wäre Halimas Aneig‐ nung der biblischen Redensart von der verbotenen Frucht einerseits re-konkre‐ tisierend domestiziert (Nachbars Garten) und andererseits verfremdet (To‐ maten), wie es bereits im Original der Fall ist. 5 Neben der Verwischung semantischer Felder fällt Grubes Auslassung des Einschubs „hasn’t he“ auf. Handelte es sich um einen Einzelfall, so fiele diese Entscheidung nicht ins Gewicht; tatsächlich unterminiert Grubes Übertragung geradezu systematisch durch derartige Auslassungen den Eindruck der im Ori‐ ginal suggerierten Mündlichkeit, den Eindruck einer Konversation mit einem konkreten Gegenüber. Bei der Übersetzung von Halimas Bericht über die un‐ freiwilligen Reisen ihrer Mutter, „My mother Zafrene, who made such a journey herself as a girl, from a land close to Nubia it was, told me […]“, glättet Grube die syntaktische Irritation: „Meine Mutter Zafrene, die als Mädchen selbst von einem Land nahe Nubien so weit marschiert ist, hat mir erzählt“ (Gappah 2019 33; Gappah / Grube 2019: 55). Die Lesenden des englischen Texts schlüpfen durch das Einlassen auf Halimas Erzählduktus unweigerlich in die Rolle von Zuhörenden. Um den oral-interaktiven Charakter des Originals beizubehalten, müsste man etwa wie folgt verfahren: „Meine Mutter Zafrene hatte selbst eine solche Reise unternommen, als Mädchen, von einem Land, irgendwo bei Nubien war das, und erzählte mir […]“. In der Gesamtheit wirken Generalisierungen und Omissionen etwa der von Halima regelmäßig hinzugefügten Bemerkungen „I will / can tell you that“ fi‐ gurenverändernd, wie die folgenden Beispiele zeigen: It was the word ‚fish‘ that gave me the idea. It is not for nothing that I am a cook, I can tell you that. ‚We will smoke him,‘ I said. (Gappah 2019: 78) Es war das Wort Fisch, das mich auf die Idee brachte. Ich bin nicht umsonst Köchin. ‚Wir werden ihn räuchern‘, sagte ich. (Gappah / Grube 2019: 117) 123 Figur(ation)en des Übersetzens: Petina Gappahs Out of Darkness, Shining Light I was pleased to go, I will tell you that. […] I know but little about the world, that is true, but there is nothing you can tell me about how slaves are passed on and how they are freed. (Gappah 2019: 28) Ich verließ ihn nur zu gern, das muss ich sagen. […] Ich weiß nur wenig über die Welt, wohl wahr, aber ich weiß alles darüber, wie Sklaven an andere übertragen und wie sie befreit werden. (Gappah / Grube 2019: 47-48) Das erste Beispiel entstammt der Diskussion der Karawane über die Frage, wie Livingstones Leichnam für den Transport zu präparieren sei. Halimas Bestehen auf ihrer Expertise in Konservierungsfragen wird zwar auch von Grube gut ein‐ gefangen, allerdings schwächt die von Grube vorgenommene reduzierende Ver‐ änderung der beiden Sätze „It is not […] tell you that“ den performativen Aspekt der Interaktionssituation entscheidend ab. Auch im zweiten Beispiel vermeidet Grube durch die Verwendung der Phrase „das muss ich sagen“ anstelle von „das kann ich Dir / Euch sagen“ eine direkte Anrede („you“), die im Englischen sowohl einen als auch mehrere Adressaten implizieren kann und im Deutschen eine Entscheidung für den Singular oder den Plural erfordert. Durch ihre Überset‐ zung umgeht Grube die Entscheidung elegant, allerdings verliert die Figur der Halima dadurch im Deutschen entscheidend an Tiefenschärfe. Dies wird in der zweiten Hälfte des Zitats noch deutlicher: Die im Englischen effektvolle, zudem eine Negation enthaltende - und somit Widerspruch antizipierende - direkte Anrede in „there is nothing you can tell me about“ weicht der sprecherbezo‐ genen positiven Aussage „ich weiß alles darüber, wie“. Im Ergebnis verliert die Figur der Halima an der ihr von Gappah - auf Basis der ihr vorliegenden Infor‐ mationen - zugeschriebenen Widerständig- und Lebhaftigkeit. Ein Überset‐ zungsvorschlag, der zudem eine Alternative für die beinahe euphemistisch an‐ mutende Formulierung „übertragen“ bereithält, wäre: „darüber wie Sklaven herumgereicht werden und wie sie befreit werden kannst Du / könnt ihr mir nichts erzählen.“ Halimas Empörung ob der ihr von Stanley unterstellten Unkenntnis des Un‐ terschieds zwischen Kaffee und Tee entlädt sich in Gappahs Text in zahlreichen Retourkutschen, die allerdings in der deutschen Übersetzung nicht sehr deutlich werden. „[T]hat Bwana Stanley of his was obsessed with food, I tell you“ (Gappah 2019: 46) wird zu „Bwana Stanley war besessen vom Essen, das muss ich sagen.“ (Gappah / Grube 2019: 73) Lesende werden durch die Auslassung des „you“ und des „of his“ sowie die Abwandlung in eine unpersönliche Ausdrucks‐ weise nicht allein um den Eindruck der Mündlichkeit gebracht, sondern auch um die wiederholten Spitzen Halimas gegen Stanley. Eine Lösung wie „sein Bwana Stanley (da), der war vom Essen besessen, das sage ich Dir / Euch“ hätte dem entgegengewirkt. Die Passage ist einem Kapitel entnommen, das intensive 124 Eva Ulrike Pirker 6 Offene Verweise auf eine konstitutive Übersetztheit von Passagen im Ausgangstext und auf die Sprache des Ausgangstexts tragen bei Übersetzungen in die weiteren Zielspra‐ chen automatisch zu einer Visibilisierung der Übersetzung bei. Die Implikation einer konstitutiven Übersetztheit kann insbesondere dann zu einer übersetzerischen Heraus‐ forderung werden, wenn die implizierte Sprache oder Kultur und die Zielsprache der Diskussionen der Karawane um Sinn und Unsinn des Reisens enthält. Gerade hier sind Interaktionscharakteristika ein zentrales Element der Stimmungsge‐ nese, und doch wird „They abandoned him when they got to the nearest settle‐ ment, didn’t they, and marched themselves back to the coast.“ (Gappah 2019: 47) in der Übersetzung zu „Sie haben sich aus dem Staub gemacht, als sie ins erste Dorf kamen, und sind zur Küste zurückmarschiert.“ (Gappah / Grube 2019: 75) Zahlreiche Alternativen wären denkbar, die geeignet wären, die orale Qua‐ lität - im Englischen ausgedrückt durch den sich bei der implizierten Hörer‐ schaft rückversichernden Einschub „didn’t they“ - im Deutschen einzufangen, etwa durch eine Umformulierung in rhetorische Fragen: „Haben sie sich nicht aus dem Staub gemacht, als sie zur nächstbesten Siedlung kamen? Und sind einfach zur Küste zurückmarschiert? “ Gelegentliche Streichungen des einen oder anderen Oralität markierenden Einschubs mögen gerechtfertigt sein. Allerdings ist die Konsequenz, mit der Grube diese Streichungen vornimmt, auffällig und trägt insgesamt dazu bei, dass die Erzählung der Halima in der deutschen Fassung weniger performativ-inter‐ aktiv erscheint und die Konstruktion der Figur und ihrer Sprache weniger ra‐ dikal: Die Radikalität dieser Konstruktion liegt in den Halima-Passagen unmit‐ telbar in ihrer Herausforderung der Romansprache Englisch, eine Herausforderung, die paradoxerweise in einer Variante des Englischen statt‐ findet. Dass es sich bei Halimas Erzählung um eine „born-translated“-Erzählung handelt im Sinne einer Erzählung, die bereits als Übersetzung verfasst worden ist (Walkowitz 2015: 4), wird gleich zu Beginn offensichtlich, etwa in einem Abschnitt, in dem Halima die Geschichte der Nassick-Boys kommentiert: They had been taken in these jahazi ships to India, where they were told to speak out of their own tongues, and instead learned all sorts of other muzungu tongues to speak. (Gappah 2019: 13) Auf diesen jahazi waren sie nach Indien gekommen, wo man ihnen beibrachte, den Mund nicht in ihrer eigenen Sprache aufzumachen, sondern alle möglichen mu‐ zungu-Sprachen zu sprechen. (Gappah / Grube 2019: 26) Dass Halimas Erzählung selbst Gappahs Leserschaft beinahe ausschließlich in der muzungu-Sprache Englisch überbracht wird, zieht sich wie ein Subtext durch ebendiese Erzählung. 6 Kaum zu ignorieren sind zudem im Ausgangstext die 125 Figur(ation)en des Übersetzens: Petina Gappahs Out of Darkness, Shining Light Übersetzung dieselbe sind. Dies ist für die Übersetzung von Gappahs Roman ins Deut‐ sche nicht der Fall. Widerständigkeiten im Lesefluss, erzeugt durch die Oralität suggerierenden Einschübe, die uns Halimas Rhythmus, Bildwelt und Weltverständnis auf‐ zwingen. Sie fehlen in der deutschen Übersetzung, wenn man von den „Ein‐ sprengsel aus Suaheli“ (Engelmeier 2019) absieht, die Grube in eine ansonsten unaufdringliche Syntax eingefügt hat, und die uns - wie im Ausgangstext - durch ein angefügtes Glossar erklärt werden. Gerade in der Widerständigkeit von Halimas Sprechen manifestiert sich Gappahs (dekoloniale) Agenda, und man hätte Grubes Halima eine weit gehörigere Portion der „outrageous tongue“ gewünscht. Anders verhält es sich mit der Übersetzung des zweiten Teils und insgesamt der Kapitel, die uns als von Jacob Wainwright niedergeschriebene Tagebuchein‐ träge begegnen. Die besonderen Herausforderungen bei der Übersetzung der beiden Teile sind somit so unterschiedlich wie die Figuren selbst. Verglichen mit Wainwright hat Gappah Halima zur klaren Sympathieträgerin ausgebaut, deren Individualität sich in der ihr eigenen Sprachwelt manifestiert. Die ihr in den Mund gelegten gewitzten Wendungen, sowie ihr schlussendlicher Triumph - Halima erhält ihre Freiheit und das von Bwana Daudi versprochene Häuschen in Sansibar - lassen uns über die Tatsache, dass sie sich immer wieder in ihr Schicksal und die ihr durch andere zugewiesene Position fügt, hinwegsehen. Nach dem Lesen der Halima-Kapitel betrachten und bewerten wir Wainwright unweigerlich durch ihre Augen: als eine Art Onkel-Tom-Figur, als durch und durch kolonisiertes Subjekt, in geradezu grotesk anmutender Weise stets „fully dressed“, nicht nur im Hinblick auf seine Kleidung, sondern auch auf seine opulente Verwendung der muzungu tongue. 5 Übersetzungen kolonisierten Denkens Nach seiner Sozialisierung an der Missionsschule in „Bombay“, die ihm nach der Errettung aus der innerafrikanischen Sklaverei als sprichwörtlich strahlendes Licht in der Dunkelheit erscheint, ist Jacob Wainwrights Denken und Handeln durchdrungen von dem Wunsch nach Mission, für die er implizit die Ideologie der „weißen Überlegenheit“ in Kauf nimmt. Wainwright sieht seine eigene Be‐ stimmung klar und deutlich: Niemand anders als er selbst sei wohl besser ge‐ eignet, den „Heiden [auf dem afrikanischen Kontinent] das Wort Christi [zu] bringen.“ (Gappah / Grube 2019: 183) Gappahs Wainwright folgt somit seiner eigenen, „größeren Aufgabe“ (Gappah / Grube 2019: 191), die weit über das Ziel 126 Eva Ulrike Pirker 7 In Grubes Übersetzung von „boastful and arrogant“ als „ein Angeber und überheblich“ fällt auf, dass das Register im Deutschen mit demjenigen im Englischen nicht überein‐ stimmt. Wainwrights inszeniert opulenter Sprachduktus sowie die ihrerseits inszenierte kulturelle Überlegenheit der von ihm zitierten weißen Kolonialisten wird durch die eher derbe Wortwahl „ein Angeber“ nicht in dem Maße eingefangen, wie dies hier bei einer wörtlichen Übertragung, etwa „überheblich und arrogant“, der Fall wäre. des Totentransports hinausreicht. Sein Eifer allerdings wird gebremst, als er in England von seinem Vorhaben erzählt: I was met with consternation. I had acted without the authority of a bishop or any Mission, they said. I was no missionary. Worse, they said I was boastful and arrogant, and my learning had gone to my head and driven out all humility. […] In my anger I spoke unwisely. (Gappah 2019: 286) [Sie] reagierten […] konsterniert. Ich habe ohne die Genehmigung eines Bischofs oder einer Mission gehandelt, sagten sie. Ich sei kein Missionar. Schlimmer, sagten sie, ich sei ein Angeber und überheblich, mir wäre meine Bildung zu Kopf gestiegen und habe alle Demut ausgetrieben. […] In meinem Zorn reagierte ich unklug. (Gappah / Grube 2019: 405) Wainwright verschwindet daraufhin für lange Zeit ebenso aus der Erinnerungs‐ kultur um Livingstone wie aus der britischen Missionsgeschichte. Im Schluss‐ kapitel des dritten Teils lässt Gappah ihn aus einer Anstellung am Königsstaat des Kabaka in Buganda seine Erfahrungen resümieren. Während Gappah für die Kreation der Halima nur wenige Anhaltspunkte zur historischen Figur vorlagen, verhält sich die Quellenlage in Wainwrights Fall anders. Neben Fotografien und Hinweisen auf Wainwright als Begleiter von Livingstones letzter Expedition und dann als einzigem afrikanischen Sargträger in Westminster Abbey existieren Zeugnisse von nicht besonders wohlwollenden Einschätzungen seines Charakters durch weiße Zeitgenossen (vgl. Bridges 2007: 343), die Gappah in der Aussage „they said I was boastful and arrogant“ verar‐ beitet, nachdem sie Wainwrights Figur ausführlich aufgebaut hat. In ihrer „Bib‐ liography“ erwähnt sie auch die Veröffentlichung, in der Roy Bridges die Ver‐ lässlichkeit und Neutralität der zeitgenössischen Aussagen über Wainwright in Zweifel zieht (vgl. Gappah 2019: 301). Indem er vermutet, Wainwright sei miss‐ verstanden worden und habe möglicherweise Dinge gesagt, die nicht opportun waren (vgl. Bridges 2007: 347-348), eröffnet er Interpretationsräume, die Gappah nutzten konnte: „In my anger I spoke unwisely“ füllt die historisch nicht hinreichend erklärte Lücke zwischen Wainwrights zunächst hoffnungsvollem Aufstieg und seiner Präsenz innerhalb des Livingstonekomplexes einerseits und seinem Verschwinden aus den Überlieferungsakten andererseits. 7 127 Figur(ation)en des Übersetzens: Petina Gappahs Out of Darkness, Shining Light 8 In beiden Fällen handelt es sich um Übersetzungen für wissenschaftliche Publikationen, die über einen kritischen Apparat verfügen. 9 Das zum Zeitpunkt des Schreibens nicht überprüfbare (und ob des kolonialistischen Duktus zu recht anzuzweifelnde) Authentizitätsgebaren der Herausgeber gab Gappah die Freiheit zu tun, was sie wollte - die nachträgliche Erwähnung des Originals ist indes ein Eingeständnis ihrerseits, dass sie sich diese Freiheiten genommen hat (vgl. Gappah 2019: 294). Als forschende Lesende sind wir somit dazu aufgefordert, die Existenz der Originalseiten auszublenden. Diese authentisieren de facto nachträglich die existierenden Übersetzungen in beträchtlichem Umfang und stellen Gappahs Fiktionaliserung Wainwrights somit infrage. Weit interessanter als Aussagen über Wainwright sind in diesem Zusammen‐ hang seine eigenen Aufzeichnungen, die selbst eine bewegte Geschichte der Translation, des Transfers, aber auch des Verlusts aufweisen. Das historische Tagebuch hielt die Stationen und äußeren Ereignisse des Totentransport bis nach Sansibar fest und stieß zunächst bei Europäern auf großes Interesse. Noch im Jahre 1874 fertigte August Heinrich Petermann auf Basis einer ihm zuge‐ spielten Abschrift eine Übersetzung von Wainwrights englischsprachigem Text ins Deutsche an (vgl. Wainwright 1874). In der Tat war die deutsche Übersetzung des „Wainright-Tagebuchs“ [sic.] über lange Zeit die einzige veröffentlichte und zugängliche Fassung, bis 1977 Francois Botinck eine Übersetzung ins Französi‐ sche und Roy Bridges im Jahre 2007 eine Rückübersetzung ins Englische vor‐ legten. 8 Die Originalseiten des Tagebuchs blieben unauffindbar - erst 2019 konnten einige dieser Seiten aus dem englischsprachigen Tagebuch identifiziert werden, die inzwischen - allerdings nach Erscheinen von Gappahs Roman - von der Livingstone Online Gesellschaft digitalisiert worden und einsehbar sind (vgl. Wisnicki / Ward). Umfassendere Vergleiche und Bewertungen der Versi‐ onen stehen noch aus. Wichtig ist an dieser Stelle die Erkenntnis, dass Gappah für die Schaffung der literarischen Figur Wainwrights Zugang zu Quellen hatte, die selbst keine ‚Originale‘ sind, sondern mehrfache Transfer-, Deutungs- und Übersetzungsprozesse durchlaufen haben, wenngleich sie verschiedentliche Authentizitätsversicherungen abgeben und Wainwright allein als Urheber nennen; gerade die Präsenz dieser Sekundärquellen verweist notwendigerweise auf die Absenz des Originals. Wichtig ist weiter, dass Gappah bei der Konstruk‐ tion ihres Wainwright in insgesamt 26 Kapiteln in bemerkenswerter Weise von dem ihr zur Verfügung stehenden Quellenmaterial divergiert. 9 Das Tagebuch des historischen Jacob Wainwright liefert uns - ganz gleich, welche Version wir konsultieren - keine Informationen über seine Gefühlswelt und nur sehr begrenzt über seinen Charakter. Ganz dem geographischen Er‐ kenntnisinteresse verpflichtet hält es neben dem Verlauf der Reise die Namen von Orten, Gruppen und deren Anführern fest, die der Karawane begegnen. 128 Eva Ulrike Pirker Gappah übersetzt Wainwrights historische Präsenz, Stimme und dokumentarische Autorität in ihr Werk, doch es ist eine freie Übersetzung, mit der sie uns konfrontiert. Sie macht Wainwrights Missionseifer, seine Tragik, vor allem aber seine Wortwahl größer und gewaltiger, als es die historischen Quellen hergeben. Wainwrights Tagebuch macht schon aus diesem Grunde einen Großteil von Gappahs Roman aus: Die Länge und Üppigkeit im Ausdruck sind Teil von Gap‐ pahs eigener Ausschmückung; sie sind das, was sie Wainwright angedeihen lassen wollte, und das, was nach ihrem oben erwähnten kreativen Reduktions‐ prozess übriggeblieben ist, das Wesentliche, das in ihrer offen performativen Übersetzung der Figur sichtbar bleiben soll. Dass diese Rechnung aufgegangen ist, zeigt die ungeduldige Bewertung der Wainwright Passagen in der Kritik: Sie sind in ihrer Opulenz und Länge der in Erinnerung bleibende Störfaktor schlechthin. Die Wainwright-Kapitel in Gappahs Roman führen vor Augen: Nicht in der Handlung, die schnell erzählt ist und sich im Wesentlichen minutiös an den rekonstruierbaren Stationen und Ereignissen orientiert, liegt das Kern‐ interesse des Romans, sondern in der Erzählung und der Frage nach der erzäh‐ lerischen Autorität, mit welcher Lesende nicht nur konfrontiert werden, son‐ dern die sie vielmehr auszuhalten haben. Als habe sie die historischen Personen vor Augen gehabt, die Wainwright nicht als Tischnachbarn oder Koautor haben wollten, präsentiert sie uns Wainwrights Darstellung als gewaltigen Wort‐ schwall. Für die Übersetzung der Wainwright-Kapitel galt es also, Gappahs unver‐ lässliche Konstruktion der Figur in ihrer ganzen Opulenz einzufangen. So wie Halimas Sprachgebrauch ist auch derjenige Wainwrights durch Filter struktu‐ riert. Während sich Halima in ihrer Erzählung der multisensorischen Erfah‐ rungswelt der Nahrung bedient, ist Wainwrights Artikulationsfilter John Bu‐ nyans Pilgrim’s Progress (1678). „[H]e discovereth deep things out of darkness, and bringeth out to light the shadow of death“ (Bunyan 2008: 86) heißt es in einer Passage der allegorischen Darlegung eines Glaubensweges aus dem 17. Jahrhundert, die für Gappahs Wainwright-Kapitel einen Schlüsseltext dar‐ stellt. Unmittelbar nach seiner Entstehung in der anglophonen Diaspora reli‐ giöser Geflüchteter in die Welt transportiert, spielte The Pilgrim’s Progress in unterschiedlichen (kolonialen) Widerstandskontexten ebenso eine Rolle wie in der Mission. Allein auf dem afrikanischen Kontinent wurde der Text in mehr als 80 Sprachen übertragen (vgl. Hofmeyr 2002: 20). Als weit zirkulierter Text der Weltliteratur, als ein „born translated text“ im Sinne von „übersetzt für“ zahl‐ reiche Kontexte (Walkowitz 2015: 4), ist seine Verwendung als Folie für die Konstruktion von Wainwrights Figur und Perspektive durchaus schlüssig. Für die Übersetzung stellt sich somit die Herausforderung, genau diesen Filter ein‐ 129 Figur(ation)en des Übersetzens: Petina Gappahs Out of Darkness, Shining Light 10 Der von Joachim Martin auf Basis der Übersetzungen von 1713, 1858 und 1868 bear‐ beitete Text erschien mit einem Nachwort („Ewiger Vorrat christlicher Poesie“) des Schweizer Reformtheologen Walter Nigg in der Reihe „Bibliothek des positiven Den‐ kens“ beim auf Themen der Lebenshilfe ausgerichteten Oesch-Verlag. Es ist erwäh‐ nenswert, dass Grube andere Eintragungen Gappahs in der „Bibliographie“ belässt und teilweise um deutsche Übersetzungen ergänzt. Bridges wichtige Arbeit zu Wainwright (als Historiker und Übersetzer) wird beispielsweise durch gesonderte Nennung noch deutlicher hervogehoben als in der englischsprachigen Ausgabe, in der man ihn unter der Herausgeberschaft von Beals et al. suchen muss (vgl. Gappah 2019: 301; Gappah / Grube 2019: 428). Die Entscheidung für die Schweizer Bunyan-Ausgabe und die Art ihrer Einbringung sind indes nicht nachvollziehbar. zufangen und nachzuempfinden. Mehrere Vorgehensweisen bieten sich bei diesem Unterfangen an. Gappah führt in ihrer „Bibliography“ die von Roger Pooley 2008 herausgegebene, mit einem kritischen Apparat versehene Ausgabe an, die auf der letzten zu Lebzeiten Bunyans veröffentlichten Ausgabe basiert (vgl. Bunyan 2008). Welchen Text konsultiert nun aber die Übersetzerin? Grube übersetzt Gappahs „Bibliography“ nicht einfach ins Deutsche, sondern ersetzt den angeführten Bunyan-Eintrag durch Nennung einer deutschspra‐ chigen, 1988 in Zürich veröffentlichten Ausgabe, ohne Angaben zur Überset‐ zung und dem Veröffentlichungskontext. 10 Dies ist insofern wichtig, als sie durch die Konsultation dieser Ausgabe bereits von anderen Übersetzungen vor‐ genommene Setzungen übernimmt. Das „Mehr“ an Bedeutungs- und Interpre‐ tationsprozessen, die implizit auch in Grubes Übersetzungsarbeit eingeflossen sind, bleibt für interessierte deutsche Lesende obskur, auch wenn Anlehnungen an Bunyans Werk insgesamt erkennbar geblieben sind. Es ist der konstitutiven Übersetztheit von Bunyans Werk zu verdanken, dass seine Sprache auch im Deutschen keiner detaillierten kulturellen Übersetzung bzw. Domestizierung bedarf. Dennoch schwächt Grube Gappahs extensive Übernahme von Bunyan‐ schen allegorischen Personifikationen und anderen Hervorhebungen immer wieder ab. Ein Beispiel mag dies stellvertretend illustrieren: In my mind I saw […] the light shining […] across the entire continent, as heathen after heathen was washed in the blood of the Lamb, removing Sin and Darkness, and above all, Slavery, the Dark Stain that has blighted many a life. (Gappah 2019: 192) Vor meinem geistigen Auge sah ich […] das Licht, das […] über den ganzen Kontinent loderte, während ein Heide nach dem anderen mit dem Blut des Lammes gewaschen und von Sünde und Finsternis befreit wurde und vor allem von der Sklaverei, dem dunklen Schandfleck, der so viele Leben zerstört hat. (Gappah / Grube 2019: 276) Grube hat hier Gappahs opulent Bunyanschen Wainwright leicht domestiziert. Bedingt durch die orthographischen Differenzen zwischen Ausgangs- und Ziel‐ 130 Eva Ulrike Pirker sprache müssten für Hervorhebungen im Deutschen andere Lösungen gefunden werden als die Großschreibung, die bei einer Häufung von Substantiven nicht weiter auffällt. Die intertextuelle, biblisch-Bunyansche Referenz geht in dieser Passage nahezu verloren. Zudem kann die Entscheidung gegen eine Überset‐ zung der Doppelung „heathen after heathen“ (wörtlich etwa „Heide um Heide“) als Beleg dafür dienen, dass Grube zwar eine elegante deutsche Entsprechung gefunden hat, allerdings um den Preis des Verzichts auf die Wiederholung eines starken Begriffs, ein Mittel, dessen sich Gappahs Wainwright durchgängig be‐ dient. Wie bereits Halimas Erzählung wird Wainwrights Tagebuch in der deut‐ schen Übersetzung weniger widerständig im Duktus. Es ist die hyperbolische Anwendung der intertextuellen Referenzen und Filter, die uns über Wainwright stolpern lassen, uns zum Nachdenken über seine offensichtlich wie ein Gewand übergeworfene Sprache, sein internalisiertes und zugleich nach außen gekehrtes koloniales Denken anregen soll. Wird diese Technik abgeschwächt, so wird der Impetus der Reflektion unmittelbar gehemmt. 6 Widerständige Schlüsse Von Halimas „outrageous tongue“ existiert keine Aufnahme. Wainwrights Ta‐ gebuch wurde aus der britischen-kolonialen Geschichtsschreibung zugunsten eines anderen Narrativs sprichwörtlich ‚herausradiert‘. In Großbritannien ist Livingstones Tod auf seiner letzten, der Suche nach den Quellen des Nil gewid‐ meten Expedition, mythologisch überhöht und als Höhepunkt der Konstruktion eines sentimentalen Narrativs um Livingstones missionarische und philanthro‐ pische Aktivitäten inszeniert worden (vgl. Lewis 2015: 2). Seine Begleiter auf der Expedition wurden gewissermaßen in dieses Narrativ eingefügt als dankbare Empfänger seiner Wohltaten, als Rädchen im Werk des kolonial-missionari‐ schen Getriebes. Gappahs Wainwright setzt dem entgegen, „it was clear to most that […] this was no longer just the last journey of the Doctor, but our journey too“ (Gappah 2019: 233) - oder, in Grubes Worten, „den meisten war klar, dass es sich […] nicht länger nur um die letzte Reise des Doktors handelte, sondern auch um unsere Reise.“ (Gappah / Grube 2019: 332) Und doch bringt auch Gappah ihren Livingstone nicht zum Schweigen, sondern bietet ihm Raum für eine Neu‐ inszenierung. Auch Livingstone hat schließlich in den hagiographischen Erzäh‐ lungen um seine Person an Komplexität eingebüßt. Durch ausgewählte Zitate, vor allem aber durch den Blick und die Stimmen ihrer Figuren gibt Gappah Livingstone etwas von der Ambiguität zurück, die im kolonialen Narrativ ver‐ lorengegangen ist. 131 Figur(ation)en des Übersetzens: Petina Gappahs Out of Darkness, Shining Light Hamilton Cain schreibt in der simbabwischen Zeitung Newsday, Gappahs Gestaltung ihrer Figuren sei von der größeren Thematik des Vermächtnisses der Kolonisierung durchdrungen (vgl. Cain 2020). Dieses Vermächtnis hat sich tief in Geschichtsbilder, aber auch in Denkmuster eingeprägt, europäische wie af‐ rikanische, die in Gappahs Roman in ihrer Vielfalt und Komplexität offengelegt werden. Welche Spielräume bleiben hier einer Übersetzerin ins Deutsche? Die Kreation eines leserfreundlichen und stilistisch kohärenten Texts auf Basis des herausfordernden Materials - in vergleichsweise kurzer Zeit - ist Anette Grubes Verdienst. Einige Lesende hätten den Roman möglicherweise schnell weggelegt, wären sie mit den Widerständigkeiten des Originals konfrontiert gewesen. Und doch gibt es auch Lesende, die Irritationen zum Anlass nehmen, über vermeint‐ liche Selbstverständlichkeiten nachzudenken, große Geschichte(n) zu hinter‐ fragen. Dies spiegelt sich auch in der ambivalenten Haltung der Kritik. Während die eingangs zitierten Rezensierenden die Widerstände monieren, heißt es in der anonym verfassten Besprechung der simbabwischen Business Weekly: There were moments when I found myself wishing for a revving of the narrative engine; when the novel felt loaded too heavily with information at the expense of plot. But in the scheme of this ambitious, meticulously researched work, perhaps a craving for more plot might be considered a failing on my part. (Herald House 2019) Dies ist eine Aufforderung an andere Lesende, sich auf die Widerständigkeiten des von Gappah vorgelegten Romans einzulassen und diese zum Anlass für ei‐ gene hermeneutische Reisen zu nehmen. Übersetzende und Verlegende von Übersetzungen können diese Reisen ermöglichen oder verhindern. Ihre tra‐ gende Rolle in der Gestaltung der Voraussetzungen für die Rezeption eines Textes sollte daher sichtbar und diskutierbar sein. Literaturverzeichnis Appiah, Kwame Anthony. 1993. „Thick Translations.“ Callaloo 16 / 4, 808-819. Bridges, Roy. 2007. „‚A Dangerous and Toilsome Journey.‘ Jacob Wainwright’s Diary of the Transportation of Dr. Livingstone’s Body to the Coast, 4 May 1873-18 February 1874.“ In: Herbert Beals u. a. (Hg.). Four Travel Journals. The Americas, Antarctica and Africa, 1775-1874. London: The Hakluyt Society, 329-384. Bunyan, John. 2008. The Pilgrim’s Progress: From This World, to That Which Is to Come. London: Penguin Classics. 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Online verfügbar unter: https: / / livingstoneonline.org/ [04. 01. 2021]. 133 Figur(ation)en des Übersetzens: Petina Gappahs Out of Darkness, Shining Light 1 Die im ariden Gebiet von La Guajira siedelnden Wayuu gehören den Arawak an; ihre Sprache, Wayuunaiki, ist Teil der in der Karibik und Südamerika weit verstreuten, bis nach Brasilien reichenden agglutinierenden Arawak-Sprachen (vgl. Fabre 2005). Einst nomadisch und von Fischfang und Jagd lebend, sind die Wayuu heute teilweise in der Ölindustrie beschäftigt. Für eine erste Übersicht zur Wayuu-Kultur siehe bitte Organi‐ zación Nacional Indígena de Colombia (ONIC). Online verfügbar unter: https: / / www.o nic.org.co/ pueblos/ 1156-wayuu [9. 2. 2021]. Selbstübersetzung und anderer Schmuggel Bivokale Übergaberituale im Kontext der ‚indigenen Dichtung‘ von Vito Apüshana (Kolumbien) Rike Bolte, Universidad des Norte, Barranquilla 1 Großes Kino? Eine verunsichtbarte Kultur kommt auf der Leinwand zu Wort In seiner 18. Ausgabe (Januar 2021) widmet sich das in Berlin angesiedelte, der experimentellen und politischen Dichtung gewidmete Lesereihenprojekt und das assoziierte Magazin Arti CHOKE neben der Dichtung der chilenischen Autorin Cecilia Vicuña und des australischen Dichters Lionel Fogarty dem Werk des ko‐ lumbianischen, der Wayuu-Kultur angehörigen Autors Vito Apüshana. Apüs‐ hana, als Miguelángel López im Jahr 1965 in Carraipía bei Maicao geboren, ist Dichter und Dozent an der Universidad de la Guajira. Sein Werk umfasst u. a. die Gedichtbände Contrabandeo sueños con arijunas cercanos (1992) und Encuentros en los senderos de Abya Yala (2004; Premio Casa de las Américas). Apüshana ist zudem als Kultur- und Menschenrechtsaktivist tätig und Mitglied der Junta Mayor de Palabreros Wayú (hierzu mehr in Teil 2). Die Wayuu (span. Wayú, oder auch Guajiros) 1 , die in Kolumbien 20 % der indigenen Gesamtpopulation stellen, in Venezuela 57 %, geraten immer häufiger territorial und ganz existentiell sowie moralisch in Bedrängnis, etwa durch ex‐ traktivistische Vorhaben multinationaler Unternehmen, die ihnen die Lebens‐ grundlage entziehen, aber gleichzeitig mit zivilisatorischen Heilsversprechen 2 Die unterschiedlichen Versionen (oder auch: Narrative) zur Geschichte und aktuellen Auswirkung der Mine El Cerrejón finden sich einerseits auf der Homepage des Minen‐ unternehmens (https: / / www.cerrejon.com/ ), andererseits auf der Homepage von Mul‐ tiWatch (http: / / old.multiwatch.ch/ de/ p97001390.html). Diese zweite Quelle liefert eine kritische Chronik, die den zähen Widersstand der Wayuu nachzeichnet (eingeschlossen Proteste gegen Vertreibung, systematische Einschüchterung und Morddrohungen selbst gegen noch minderjährige Wayuu). Siehe auch den neueren Stand auf Nachrich‐ tenpool Lateinamerika: https: / / www.npla.de/ thema/ umwelt-wirtschaft/ wenn-nur-die -kohle-zaehlt-der-tagebau-el-cerrejon-im-norden-kolumbien/ . In Deutschland sind mehrere Energiekonzerne (u.a Vattenfall) an dem Geschäft mit der Cerrejón-Mine be‐ teiligt. Schon im Jahr 2009 informierte das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Na‐ tionen über die Gewalt, der die Wayuu in Kolumbien ausgesetzt waren, insbesondere gewaltsame Vertreibung (deplazamiento interno forzado). Siehe https: / / www.acnur.org/ noticias/ noticia/ 2009/ 1/ 5b7e6fca14/ colombia-creciente-violencia-lleva-a-grupos-wayu u-a-huir-hacia-venezuela.html. Die Wayuu flüchteten damals nach Venezuela - wo die indigenen Gemeinden wiederum heute der nationalen Krise wegen extrem bedroht sind. [14. 2. 2021]. 3 Der Filmtitel referiert im Übrigen ein transnationales Konzept indigener Gesellschaften des (andinen) Südamerikas, in etwa: „Gutes Leben“ bzw. „Gut leben“. Es liegen jeweils Varianten des Begriffs in Quechua, Aymara etc. vor. 4 Die deutsche Fassung des Films ist mit dem Untertitel „Das grüne Gold der Wayuu“ versehen. aufwarten. 2 Der Dokumentarfilm El buen vivir (Schanze 2015) 3 berichtet von dem Kampf, den die Wayuu in Kolumbien gegen die größte Kohlemine der Welt auf‐ genommen haben. Auch der Spielfilm Pájaros de verano von Ciro Guerra und Cristina Gallego (2018) bringt die Wayuu-Kultur auf die Leinwand. Der Film führt zurück in die 1970er Jahre, als die Ausbeutung des Kohlevorkommens in der Guajira startet, fokussiert aber den gleichzeitigen Beginn des Drogenhandels und wie dieser in das Gefüge der Wayuu-Gesellschaft einbricht. Die bonanza marimbera, der rasch florierende und vor allem für die USA hoch lukrative Anbau und Handel mit Cannabis in der kolumbianischen Karibik, der nach einer ebenso goldenen wie blutigen Dekade (circa 1974-1985) vom Coca-Anbau und -Export abgelöst wird, tritt komplexe Konflikte zwischen den Clans der Wayuu los. Guerra und Gallego legen einen lokalen, auf die Hollywod-Stereotype ant‐ wortenden (mit Anleihen aus dem Magischen Realismus aufwartenden) Gangster-Film vor; das Hauptaugenmerk der Produktion liegt auf den spiritu‐ ellen wie ökonomischen Codes einer Wayuu-Familie, ihrem Aufstieg und Un‐ tergang im Lichte der grünen Goldgräberzeit. 4 Pájaros de un verano ist in Wayuunaiki gedreht und spanisch untertielt; eine Entscheidung, die die Regisseur: innen in dem Entschluss trafen, die von ihren porträtierte Kultur ‚selbst zu Wort kommen zu lassen‘ (vgl. Brodersen 2019). Das (explosive) Soziogramm, das der Film außerdem erstellt, startet bei der Initiation 136 Rike Bolte 5 Die Wayuu sind matrilineal und -lokal organisiert; Frauen haben neben der häuslichen Waltungshoheit eine wichtige symbolische Rolle inne. Als spirituelle Führerinnen ent‐ scheiden sie auch in sozial und politisch heiklen Situationen, was zu tun ist. Im Zu‐ sammenhang mit der herausragenden Bedeutung des Onirischen für die symbolische Ordnung der Wayuu kommt zudem die Schamanin zum Tragen (vgl. Diccionario básico 2005: 40), während die weibliche Handwerkkunst (insbesondere Web- und Häkelkunst) mit der Repräsentation symbolischer Weisungen (vor allem: Träume) verbunden ist. Siehe hierzu eine Reportage von Radio Nacional de Colombia. Online verfügbar unter: https: / / www.radionacional.co/ noticia/ cultura/ mujeres-wayuu-las-manos-que-tejen-vi da-su-raza. [14. 2. 2021]. Zu diesem Aspekt äußert sich auch der Schlussteil dieses Ar‐ tikels noch genauer. der (im Laufe des Films immer weiter in den Hintergrund rückenden, wenn‐ gleich das Filmplakat zentral schmückenden) weiblichen Figur. 5 Als bei dem ensprechenden Initiationstanz, chichamaya, ein Halbfremder auftaucht, ein bei alijunas (hierzu mehr in Teil 5) aufgewachsener Wayuu namens Rapayet, nimmt die fatale Geschichte ihren Anfang. Rapayet wird zum Ehemann der Initiierten, denn er kann ohne große Probleme die (unermessliche hohe) Brautgabe liefern, und zwar nach einem raschen Eintausch von Marihuana gegen Dollar des US -amerikanischen Peace Corps. Hier soll es nicht weiter um das schnell zündende Drama gehen, das das junge Paar und die unterschiedlichen Clans der Wayuu wie auch die Cannabisbauern in der umliegenden Sierra, die den US -amerikanischen Händlern zuarbeiten, erleben werden, sondern darum, dass Pájaros de un verano bei seiner (wenn‐ gleich allzu plakativen) kulturbotschaftlichen Ausrüstung für das westliche (in‐ begriffen das kolumbianische) Publikum mit Begriffen aufwartet, die für die Wayuu-Kultur insgesamt und ebenso im Werk des Dichters Vito Apüshana von zentraler Bedeutung sind. Damit sind sie selbstredend auch für die Übersetzung Apüshanas wichtig, ist diese doch automatisch beauftragt mit der Vermittlung der sozialen, politischen, kulturellen und kosmologischen Aspekte der Wayuu-Kultur (und ihrer Sprache, Wayuunaiki), die, wie im Folgenden darge‐ legt wird, aus mehreren Gründen als verunsichtbart bezeichnet werden kann. 2 Wayuunaiki und die Rehabilitation indigener Sprachen Nach der einstigen Versklavung im Zusammenhang der auf die Ankunft der Spanier folgenden Perlenausbeutung (vgl. Mansen 1988), den viehzüchterischen Umstrukturierungen während der Kolonialzeit (vgl. Daus 2006) und dem Ein‐ fluss der wenngleich nicht sehr erfolgreichen Missionierungen im 18. Jahrhun‐ dert (vgl. Perrin 1987), erleben die Wayuu heute (in ähnlichem Maße wie andere indigene Gemeinschaften Kolumbiens) strukturelle und willkürliche, oftmals 137 Selbstübersetzung und anderer Schmuggel 6 Ausgenommen von dieser Gefahr scheinen Verlage und Festivals, die sich bestimmten Sprachen und Kulturregionen in der Hauptsache verschrieben haben. 7 Siehe hier die Erklärung der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen. Online verfügbar unter: https: / / dgvn.de/ meldung/ 2019-internationales-jahr-der-indigenen-sp rachen/ sowie die offizielle Hompage des Internationalen Jahres: https: / / en.iyil2019.org / [14. 2. 2021]. 8 Hier siehe DVÜD. Online verfügbar unter: https: / / dvud.de/ 2019/ 09/ indigene-sprachen -in-deutschland/ [14. 2. 2021]. mit der Reorganisation illegal bewaffneter Truppen verbundene Gewalt, denn die Guajira ist geo-strategisch weiterhin wichtig für den Drogen- und Salz‐ handel. In der Summe haben historische und gegenwärtige Erfahrungen die Wayuu kulturell, sozial, politisch und ökonomisch marginalisiert. Ohne eine Kenntnisnahme dieser Fakten kann die überaus reiche Wayuu-Li‐ teratur (vgl. Duchesne Winter 2012: 105) kaum gelesen werden; umso mehr gilt es, Vorkehrungen zu treffen, wenn es an ihre Übersetzung geht. Gleichzeitig muss mitgedacht werden, dass der „Skandal“ der Übersetzung (vgl. Venuti 1998) im Zusammenhang von Sprachen, die in der hegemonisierenden Ordnung der Weltsprachen mehr als nur minorisiert werden, auch die Frage nach dem Skandal einer fehlenden Ethik gegenüber sprachlicher Diversität und Egalität aufwirft. Wenn dies - etwa im Zusammenhang von Festivals und anderen In‐ stitutionen, die literarische Übersetzungen in Auftrag geben - auch zur Quoten-Pose gefrieren mag, 6 so scheint es doch, dass überhaupt erst unter Wahrnehmung dieser Asymmetrien eine adäquate Übersetzungshaltung zu‐ stande kommen kann. Eine der ersten übersetzungsethischen Fragen im Falle der Übertragung von in Wayuunaiki verfasster Literatur ist, wer eine Überset‐ zung, außer ins Spanische, überhaupt bewerkstelligen kann. Übersetzungen von Wayuu-Literatur ins Deutsche werden immer medialisiert sein, auf einer bereits vorliegenden spanischen Übersetzung fußen. So ist auch die Übersetzung von Vito Apüshanas Dichtung Beispiel einer Ungradlinigkeit übersetzerischer Praxis und Poetik, wo sie von Anbeginn triangiuliert ist. Die Übersetzung aus indigenen Sprachen in hegemoniale Literatursprachen ist selten Thema der Übersetzungswissenschaft. Doch als das Jahr 2019 von den Vereinten Nationen zum Jahr der indigenen Sprachen erklärt wird, 7 eruieren entsprechende Verbände anlässlich des Internationalen Übersetzertages am 30. September, was eine indigene Sprache überhaupt sei. 8 Dabei kommt die Rede zum Weltdokumentenerbe Spaniens gehörenden, also in spanischer Überset‐ zung vorliegende Wörterlisten indigener Sprachen der ‚Neuen Welt‘: zwölf Do‐ kumente aus dem 18. Jahrhundert, die im 1785 gegründeten Archivo General de Indias von Sevilla liegen und von Missionaren und Dolmetschern in lateinisches Alphabet transkribierte amerikanische Sprachen listen. Für die Hispanisierung 138 Rike Bolte 9 Zum Statut dieses spanischen Weltdokumentenerbes siehe: http: / / www.unesco.org/ ne w/ en/ communication-and-information/ memory-of-the-world/ register/ full-list-of-regi stered-heritage/ registered-heritage-page-4/ indigenous-language-vocabulary-from-the -new-world-translated-into-spanish/ [14. 2. 2021]. 10 Siehe: https: / / www.un.org/ esa/ socdev/ upfii/ documents/ MCS_v_en.pdf. [14. 2. 2021]. des heutigen Lateinamerikas und die enzyklopädische Zeit des fortgeschritte‐ nenen 18. Jahrhunderts waren diese Listen von großer Bedeutung. 9 Weiterhin ist ein von den Vereinten Nationen in einem Abschlussbericht der Menschen‐ rechtskommission (United Nations Working Group on Indigenous Populations) im Jahre 1982 entwickelter Kriterienkatalog zur Definition des Indigenen fun‐ damental. Dieser Katalog hält unter anderem die historische (territorial gebun‐ dene) Kontinuität ebenso wie die Erfahrung von Marginalisierung im Zuge ko‐ lonialer Verdrängung, Distanz bzw. Distanzierung gegenüber dominanter (Staats-)Kultur(en) sowie Formen von Selbstidentifikation für besondere Indi‐ katoren zur Bestimmung indigener Kulturen. 10 Im Nachklang dieses UNO -Pa‐ piers organisierten und artikulierten sich vorrangig die Nachfahren von au‐ tochthonen Menschen, die in den ehemaligen europäischen Kolonien der Amerikas und der Pazifikregion leben. Und doch hat auch in anderen Regionen der Welt, etwa in Europa, innerer Kolonialismus zur Verdrängung von (teilweise schwer nachweisbaren) frühsiedelnden Sprachkulturen geführt, so dass ebenso hier Handlungsbedarf besteht (der in Fußnote 10 genannte Verband äußert sich z. B. zur sorbischen Kultur und Sprache in Deutschland). Die Debatte um den Status des Indigenen ist sozialer und politischer, jedoch auch juristischer und rechtspolitischer Natur. Klassifizierungen und insbeson‐ dere der Wechsel von Bezeichnungen wie „ethnischer Minderheit“ zu „indigener Gruppe“ sowie deren staatliche Anerkennung müssen erstritten werden. Das Jahr der indigenen Sprachen 2019 hat damit auch deutlich gemacht, dass die Kommunikation und Verteidigung indigener Rechte ohne den vorherigen oder parallelen ‚Sprach-Kampf ‘ gar nicht erst erfolgen können. Was aber bedeutet dies genau? Gemeint ist ein dringend notwendiges Engagement für mehrere tausend Sprachen von circa 5000 (auf 90 Länder verteilten) indigenen Kulturen der Welt, die sich in die etwa 2680 von insgesamt 7000 Sprachen der Welt als gefährdet gelisteten Sprachen einreihen. Wayuunaiki gehört zu diesen Spra‐ chen. 3 Die Notwendigkeit einer Selbstübersetzung der ‚inneren‘ Karibik Das Aussterben von Sprachen bedeutet auch das Ende von Epistemologien. Konsequenterweise bezieht sich das von der UNESCO eingerichtete Instrument 139 Selbstübersetzung und anderer Schmuggel 11 Siehe Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e. V. Online verfügbar unter: https: / / nachhaltig-entwickeln.dgvn.de/ meldung/ 2019-internationales-jahr-der-indige nen-sprachen/ [14. 2. 2021]. des Internationalen Jahres der indigenen Sprachen mit seinerm Förderungska‐ talog zum Schutz der sprachlichen Diversität der Welt ebenso auf internationale Verständigungs- und Versöhnungsprogramme und betont zudem, wie wichtig es sei, Wissen über indigene Sprachen zu erlangen. Hinweise zur Dringlichkeit eines Empowerments von indigenen Sprecher: innen finden sich in der UNO -Resolution 61 / 295 verankert; ganz grundlegend ist hier, dass es ein Recht auf die eigene Sprache gibt, das wiederum das Recht auf die eigene Kultur mit‐ samt ihren Denkweisen und Kosmologien impliziert. Eingeschlossen sind ent‐ sprechende Aufschreibesysteme (orale wie schriftliche Literaturen), deren Kon‐ tinuierung (über je kulturadäquate Vermittlungsverfahren, z. B. indigensprachliche Medien und Schulbildung bei Einsatz selbstbestimmter Me‐ thoden), ein Menschheitstsanliegen sein sollte. Zum Schutz indigener Gemein‐ schaften gehört außerdem das Prinzip der „freiwilligen und in Kenntnis der Sachlage erteilten Zustimmung“. 11 Dieses gilt, wenn es zum Beispiel um die Ausbeutung von in Siedlungsgebieten vorkommenden Ressourcen geht - ein Fall, der, wie der obengenannte Film von Jens Schanze zeigt, oftmals Konfron‐ tationen mit Investoren und Unternehmen bedeutet, bei denen es aber in der Regel an Übersetzungsinstanzen fehlt. In einem einschlägigen Artikel zur Wayuu-Kultur im Kontext der Karibik‐ forschung hat Juan Duchesne Winter auf eine Reihe von Aspekten hingewiesen, denen weder in der Lateinamerikafosrchung noch in der hispanistischen bzw. karibistischen Sprach- und Kulturwissenschaft viel Aufmerksamkeit zuge‐ kommen ist. So wendet sich der Autor den Topoi der genannten Wissenschaften und insbesondere der Karibistik zu, um schließlich auf die prekäre Lage der Wayuu-Kultur einzugehen, die, da sie die in die karibische See wie ein „ritueller Phallus“ ragende (dabei Aruba zugewandte) Halbinsel La Guajira besiedelt, ei‐ gentlich karibischer nicht gelegen sein könnte (Duchesne Winter 2012: 105). Die Karibikforschung indes wird, auch unter dem Eindruck der wegweisenden Schrift des Kubaners Antonio Benítez Rojo, La isla que se repite (1989), vom Paradigma der Insularität dominiert (vgl. Duchesne Winter 2012: 100-103), das Duchesne Winter als ausgewiesen kolonial auffasst: als ikonographische wie literarische Projektionsfläche des Wunsch- und Besatzungsdenkens westlicher Attitüde (vgl. 100). Die segmentierenden, dividierenden und exkludierenden Vorgehensweisen kolonialer Ermächtigungen hätten die Vielheit de-territorial‐ isiert und das Einheitliche je reterritorialisiert, den karibischen Seeraum zer‐ klüftet, gleichzeitig aber über die Ausbeutung seiner Inselwelten diese auch hy‐ 140 Rike Bolte 12 Sánchez (2017) listet folgende zentrale Werke auf: Los dolores de una raza von Antonio López (1957), Mitos, leyendas y cuentos guajiros von Ramón Paz Ipuana (1972), Relatos de Miguel Ángel Jusayú (1975). Darauf folgt Apüshanas Werk. Siehe weiterführend auch Ramírez Ipuana (2012), sowie Rocha Vivas (2008). Für einen noch größeren, allerdings schon historischen Überblick siehe: Brotherston (1997). postasiert. Die Folge: eine (in den Literatur- und Kulturwissenschaften perpetuierte) epistemologische Hierarchie, die die Karibik als einen konzent‐ risch gefassten Inselraum versteht, welcher von einem obersten Ring, Kuba, abfällt zu den kleineren Großen Antillen und dann zu den einen zweiten Ring ergebenden Kleinen Antillen (vgl. 101). Dieser konzentrischen (und stark kreo‐ lisierten sowie von der Plantagenwirtschaft geprägten) Karibik, die einen dritten Ring (die Küsten Venezuelas, Kolumbiens und des östlichen Zentralamerikas) aufgrund fehlender Insularität nicht zuzulassen scheint, stellt der Autor die Idee einer „exzentrischen“ oder inneren Karibik entgegen: einen paradigmatisch ab‐ gelegenen, wilden (Denk-)Raum, der mit dem „Insel-Objekt“ kaum etwas zu tun hat und von den kolonialen Epistemologien deswegen zur Einöde erklärt wurde: „Un hinterland, un interior marginal amerindio“ (104). Die Anerkennung oder Annäherung (an) dieses aus dem segmentierten Imperialraum der Insel-Karibik herausgefallene(n) Gebiet(s) mache eine „re-indigenización“ des karibischen Imaginariums möglich (104). Das indigene Erbe der Karibik wurde nämlich tat‐ sächlich fast restlos ausradiert. Doch die von den indigenen, rebellischen Ka‐ riben abstammenden Völker Yucatáns, Belices, Zentralamerikas und Panamás, sowie die der kolumbianischen Küste nahe der Sierra Nevada von Santa Marta, der Orinoco-Region und der Guajira besitzen alle eine, wenngleich von der westlichen Auffassung her gesehen isolierte und angeblich versprengte, so doch umfangreiche oralliterarische wie auch verschriftlichte amerindische, insge‐ samt stark verwobene, kontinuierte Kultur (vgl. 105). Die Wayuu, denen der Gedanke des Nationalstaats von ihrem Selbstverständnis her zwar fremd ist, weisen seit Mitte des letzten Jahrhunderts veröffentlichte Literatur in der Staats‐ sprache Spanisch vor, unter der sich auch zweisprachige Publikationen finden. Monolinguale Werke in Wayuunaiki hingegen sind sehr selten. 12 Interessant ist bei den zweisprachigen Ausgaben, dass es sich - zumindest der Einschätzung Duchesne Winters nach - eher um ‚Scharniertexte‘ als jeweils um Überset‐ zungen handelt. Es sind Texte, die einen zwischensprachlichen und -kulturellen Raum öffnen, der zwischen dem mündlichen und schriftlichen Register verhan‐ delt und so den literischen Raum erweitert. Wayuu-Autoren, so Duchesne Winter (der keine Autorin nennt), bildeten eher horizontale Gefüge in ihren Texten aus. Und doch fordern Wayuu-Intellektuelle überhaupt erst noch eine explizite Wayuu-Leserschaft, die eine von der eigenen, sich stark im Wandel 141 Selbstübersetzung und anderer Schmuggel 13 Die Regisseurin weist darauf hin, die Wayuu hätten, so widersprüchlich es auch klinge, durchaus kapitalistische Verhandlungsmethoden an den Tag gelegt. Eine irritierende Aussage - als habe eine indigene Gesellschaft keine kapitalistischen Interessen zu haben (vgl. Brodersen 2019). befindenden Kultur berichtende Literatur verfolgen und den Reichtum der ei‐ genen Sprache auf den Weg in die Moderne bringen möge (vgl. 105). Dieses Desideratum verlangt Selbstübersetzung in mehrfachem Sinn. Der palabrero, eine die Wortkunst verkörpernde Instanz, ist hierbei nicht wegzudenken - weder aus dem normativen noch aus dem poetischen System der Wayuu-Kultur. 4 Das Wort, das zählt: Der palabrero/ pütchipü’üi im Dienst einer awareness of alterity Zurück zum großen Kino. Mehrere eng miteinander verbundene Aspekte des Spielfilms von Guerra und Gallego (und seiner Produktion) sind für den vorlie‐ genden Artikel von Bedeutung. Erstens die gleich zu Beginn des Films extrapo‐ lierte, fast allegorische Figur des (Halb-)Fremden, des alijuna; zweitens das Kon‐ zept des Tauschhandels und der Kompensationszahlung; drittens, und dies auf der metamethodischen Ebene: das Vorgehen der Filmemacher: innen beim He‐ rantreten an die von unterschiedlichen Territorien zusammengeführten Wayuu-Teilgemeinschaften. Zuerst einmal zu diesem Punkt. Aus den für die Filmproduktion ausgewählten Wayuu-Gemeinden erstand eine Wayuu-Ge‐ meinschaft für das Set - ein mitnichten ‚authentisches‘ oder ‚originales‘ soziales Gefüge. Gallego legt dar, wie die Verhandlungen des Teams mit den Wayuu vonstattengingen (vgl. Brodersen 2019), und tatsächlich erinnert das beschrie‐ bene Szenario ein wenig auch an jene Verhandlungen, die die Wayuu im Kontext anderer Begegnungen mit Kulturfremden erleben, etwa im Zusammenhang des in ihr Territorium einbrechenden Extraktivismus. Gallego erklärt, man habe sich nach recht zähen ersten Annäherungen auf Bedingungen und Begriffe der aus‐ gewählten Gemeinden einlassen, deren ‚Codes‘ erlernen müssen. 13 Der Film‐ produktionschef sei dabei zum palabrero des Teams geworden (vgl. Brodersen 2019). Der palabrero (Wayuunaiki: pütchipü’üi [Diccionario básico 2005: 43]) unter‐ steht mittlerweile dem UNESCO -Prädikat für immaterielle Güter. Es handelt sich um eine moralische Autoritätsperson, die im Falle von Konflikten z. B. zwi‐ schen unterschiedlichen Clans als Mediator fungiert. Der palabrero repräsentiert das normative System der Wayuu, arbeitet restitutiv anstelle von punitiv, wird über Naturalien bezahlt, muss sich aber, wenn er die ihm entgegengebrachte 142 Rike Bolte 14 Siehe hier die Darstellung des Kurators Weildler Guerra Curvelo in einer im Jahr 2014 von der kolumbianischen Nationalbank (Banco de la República) im Museo del Oro re‐ alisierten Ausstellung zum palabrero. In der sehr eingängigen Reportage wird nicht nur auf die Geschichte und dynamische Entwicklung dieser Instanz hingewiesen, sondern es werden auch die symbolischen Elemente des palabrero vorgestellt, etwa der guarrara oder warrara: der dem palabrerero zugehörige Stab, mit dem in den Sand Kreisgraphiken gezeichnet werden, die die Argumente und Gegenargumente eines Konflikts visuell verdichten (siehe min 6: 35-6: 52). Der warrara wird von Guerra Curvelo als ‚Wort-Ve‐ hikel‘ („vehículo de la palabra“) bezeichnet. https: / / www.youtube.com/ watch? v=a-Ob8 pcTPzg. Der wichtigtste palabrero ist der palabrero de sangre, der im Falle von Homi‐ ziden einschreitet. Auch Frauen können als palabreras fungieren, sie treten vor allem in inter-ethnischen Konflkten auf. Zur Junta Mayor de Palabreros, der Vito Apüshana angehört, siehe folgende Videos: https: / / www.youtube.com/ watch? v=xv7n5Ea8RvQ; h ttps: / / www.youtube.com/ watch? v=8DnWPt448bo (der zweite Beitrag äußert sich zum UNESCO-Schutz des normativen Systems der palabreros). Siehe zudem - mit anschmei‐ chelndem Auftakt - ein Kurzportät auf TeleCaribe: https: / / www.youtube.com/ watch? v =wUcj9TH4-mU [14. 2. 2021]. 15 Pütchi bedeutet somit Wort, steht aber auch für Rede oder Stimme. 16 Siehe hierzu auf der UNESCO-Website: https: / / ich.unesco.org/ es/ RL/ el-sistema-norma tivo-de-los-wayuus-aplicado-por-el-putchipuui-palabrero-00435? RL=00435. Die Wayuu sind nicht explizit politisch organisiert; die indigene Rechtsprechung steht dem staatlichen Rechtssystem gegenüber, was in Kolumbien zur Aushandlung rechtsplura‐ listischer Instrumente geführt hat. Eine weitere Einschätzung findet sich hier: http: / / www.etniasdecolombia.org/ indigenas/ wayu.asp [9. 2. 2021]. Achtung nicht verlieren möchte, in der Annahme dieser Zahlungen mäßigen. 14 Die Interventionen des palabrero erfolgen auf Anfrage; er examiniert den Kon‐ flikt, dann gibt er seine Bereitschaft zur friedlichen, diplomatischen Lösung kund. Sein Wort - pütchi (43) 15 - gilt aber nur, wenn sein Einsatz zuvor anerkannt wurde. Auf die vorgetragenen Lösungsstrategien folgen Übergabezeremonien, die den Rahmen für die Wiederherstellung des sozialen Gleichgewichts lie‐ fern. 16 Ebenso der kolumbianische (jedoch aus Cali stammende und in Bogotá le‐ bende) Schriftsteller Philip Potdevin extrapoliert diese Figur in seinem Roman Palabrero (2016). Neben der Kompetenz, die ihm seine eigene Kultur zugespro‐ chen hat, besitzt Potdevins palabrero auch einen akademischen Abschluss, er ist Anwalt; und in dieser doppelten Rolle bekommt er es mit dem zitierten Kohle‐ minen-Konflikt zu tun. Der Roman referiert an dieser Stelle wiederum histori‐ sche Aufstände der Wayuu gegen die Spanier, so dass sich im aktuellen palabrero der Mut des historischen Anführers spiegelt. Potdevins Werk wird im Jahr der indigenen Sprachen als Unterrichtsmaterial für deutsche Schüler: innen ausge‐ wählt, weil er „sich unmittelbar für das interkulturelle Lernen an fiktionalen Texten sowie zur Thematisierung der awareness of alterity und durch die Nähe von Realität und Fiktion auch für die Schulung von literature awareness“ eigne 143 Selbstübersetzung und anderer Schmuggel 17 An dieser Stelle ergeht ein Dank an das Magazin, und insbesondere an Andrea Garcés. (Unterricht Spanisch 2019). Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, ob auch der palabrero aus Vito Apüshanas Dichtung für solche Zwecke geeignet wäre. Die (indirekte) Antwort darauf umfasst einige übersetzungstheoretische und -praktische Überlegungen. 5 Worte übergeben: Vom palabrero zum alijuna bei Vito Apüshana Der durch die UNESCO gewährte Schutz der Wayuu, die entsprechenden Re‐ solutionen sowie darüber hinausführende Publikationen und Studien haben den palabrero als wichtigstes Rechtselement einer indigenen Kultur Südamerikas auch über die Grenzen von Kolumbien und Venezuela bekannt gemacht. An‐ verwandlungen der Figur des palabrero in Romanen und Filmen setzen vor allem auf die symbolischen Aspekte desselben, und auf die von ihm performierte me‐ diatorische Kraft des Worts. Durch diese Darstellungen hat ein aus indigener Kultur stammender (Konzept-)Begriff zu zirkulieren begonnen und ist dabei mitunter auch stilisiert und schematisiert worden; und ebenso der vorliegende Artikel, der darum kreist, wie der palabrero in Apüshanas Dichtung vorgefunden wird, schreibt ihm noch eine übersetzungstheoretisch interessante Reichweite zu. Deswegen sei vorab eine Aussage von Apüshana selbst zitiert, der in einem in Barranquilla erfolgten Gespräch die dezidiert poetische Position des palabrero herausgestellt hat. Das normative System der Wayuu schreibe dem Wort eine Hauptrolle zu und dieses wiederum finde Rückhalt im Onirischen. Worte und Träume besitzen in der Wayuu-Kultur eine organische Lebendigkeit; ein Wort auszusprechen kommt stets einem im strengen Sinne poetischen Akt gleich, es ist eine Art Wort-Gabe: En el sistema normativo wayuu la palabra ejerce un protagonismo central y allí hay un fuerte contenido poético. Siempre estamos buscando cómo retroalimentar la pa‐ labra a través de los sueños […] Por eso el palabrero en nuestra comunidad es un poeta. […] asumimos la palabra como un ser vivo, como un órgano vivo. Por eso no es poca cosa ir entregando la palabra. (Apüshana zit. in Osorio 2019) Indem es Apüshanas Dichtung in mehreren Sprachen und Übersetzungen pub‐ liziert, nähert sich das Berliner Magazin Arti CHOKE diesen kulturellen Auffas‐ sungen. Ebenso durch den anstelle einer Lesung eingerichteten (Covid-19-)Pod‐ cast (vgl. Apüshana 2020b) engagiert sich das Magazin für die Versichtbarung minoritärer Literatursprachen. 17 Der Übersetzungsprozess wird hierbei auto‐ matisch mit auf den Plan gerufen. Als Übersetzerin (die üblicherweise in hege‐ 144 Rike Bolte 18 Siehe Diccionario de la Real Academia Española. Online verfügbar unter: https: / / dle.rae .es/ palabrero? m=form [9. 2. 2021]. monialen Sprachen verfasste lateinamerikanische und karibische Dichtung überträgt) an einem solchen Projekt teilnehmen zu dürfen, ist ein Privileg, denn es bedeutet auch, mit einem Autor zusammenzuarbeiten, der die Großzügigkeit besitzt, spanischsprachige Versionen seiner Texte zur Verfügung zu stellen, damit Wayuu-Literatur über diese ins Deutsche und Englische übersetzt werden könne. Die jeweilige Übersetzung wird (bzw. wurde) dabei zu einem doppelt komplexen Prozess, und darum soll es in den folgenden Abschnitten gehen. Die spanischen Fassungen, von denen aus Apüshana ins Deutsche und Eng‐ lische übersetzt wurde, enthalten ‚Intarsien‘ aus dem Wayuunaiki, so dass die Übersetzung nicht nur an diese bereits aus dem Inneren der eigentlich orallite‐ rarischen Wayuu-Dichtung vom Autor selbst ‚nach Außen gerichtete‘ Fassung herantritt, sondern sich auch an die darin enthaltenen Wayuunaiki-Begriffe bzw. Konzepte herantastet. Einige von diesen Begriffen wurden von Apüshana ins Spanische paraphrasiert, blieben aber neben den Umschreibungen erhalten. Nicht antiphonisch, eher ergänzend wirkt dieses Arrangement, und doch drängt sich der Eindruck auf, teilweise werde um den einen oder anderen fremd-klang‐ vollen Begriff aus dem Wayuunaiki herumgesprochen. Dazu passt, dass Du‐ chesne Winter in seinen Überlegungen zu zweisprachigen Publikationen von Wayuu-Dichtung der je indigensprachlichen Version einen rhapsodischen Sprechgestus zuschreibt (vgl. Duchesne Winter 2012: 106). Mit dem Rhapsoden tritt erneut der palabrero ins Zentrum. Palabrero ist ein spanisches Adstrat. Durchaus ließe sich auch von einer Substratinterferenz sprechen, denn zu den vom Wörterbuch der Real Academia Española angelegten, ausschließlich negativen Bedeutungen von palabrero (‚Schwafler‘ und ‚Schwätzer‘) 18 ist im Kontakt mit der Wayuu-Kultur eine positive und ja sogar normative Bedeutung hinzugekommen, die das Superstrat sich zumindest in Kolumbien und Venezuela hat wandeln lassen (das königliche spanische Wör‐ terbuch hingegen hat sich nicht gewandelt, denn die Bedeutung ist darin trotz des UNESCO -Prädikats des palabrero noch nicht verzeichnet). Der palabrero in Apüshanas Dichtung wiederum ließe sich als eine Art stu‐ dium-Punkt für die übersetzerische Arbeit an derselben verstehen. Zuvörderst, weil der Begriff aufgrund seines Status bei Beginn der Übersetzung bereits be‐ kannt war. Es fing an mit dem Gedicht „Rumaa“ (in Wayuunaiki identisch [vgl. Apüshana 2020a: 88-89]). Im ‚Gewebe‘ (zu diesem Begriff in der Wayuu-Kultur siehe Teil 5.) der zwei ersten Originale, also den Fassungen von „Rumaa“ in Wayuunaki und Spanisch, trat er deutlich hervor: einmal auf Spanisch, dann, in 145 Selbstübersetzung und anderer Schmuggel 19 Die englische Übersetzung von Juan Diego Otero und Marty Hyatt findet sich auf S. 89 des Magazins. Kenntnis der subtraktiven Entsprechung, in Wakuunaiki als putchipu’ukai. Der indigensprachliche Begriff schien damit nicht so sehr in das Gewebe der spani‐ schen Fassung hinübergehoben, sondern darin aus dem pragmatischen wie po‐ etischen Sprachkontakt herauskommend bereits eingewoben. Zur Anschauung hier die beiden Fassungen von Apüshana, die als zwei erste Originale bezeichnet werden können, daneben die deutsche Fassung (die in der Publikation von Arti CHOKE eingerichteten Fußnoten werden in etwa wiedergegeben; Fett-Markierungen R. B.). 19 Rumaa Esta tarde estuve en el cerro de Rumaa y y vi pasar al anciano Ankeei del clan Ju‐ usayuu… vi pasar a la familia de mi amigo, el „ca‐ minante“ Wouliiyuu… vi la sobrevivencia del lagarto y nidos ocultos de Paraulata… a Pülowi, vestida de espacio… a Jurachen -el palabrero- caminar hacia nuevos conflictos… a Kasiiwanou -la culebra cazadora-, a un cabrito perdido, al ave cardenal salir de un cardón hueco… y vi el rojo del último sol del día… y, ya a punto de irme, vi a un grupo de alijunas, venidos de lejos, felices, como si estuvieran en un museo vivo. Rumaa Aliika sajachi taya eekai uuchikai Rumaa je te’raka nülatüin chi laülaakai Ankeei chi Juusayuukai… je te’raka sülatüin tü nüpüshikalüirua chi tatünajutükai, chi „waraitüi“ Wo’uliyuukai, Rumaa Heute Nachmittag war ich auf dem Berg Rumaa und sah den Alten Ankeei vom Clan der Juu‐ sayuu  20 … ich sah die Familie meines Freundes, des ‚Wanderers‘ vorüberziehen, Wouliiyuu  21 … ich sah das Überleben der Echse und die geheimen Nester der Spottdrossel, Paraulata… sah Pülowi  22 , als Weltenraum gekleidet… sah Jurachen -den Mittler- neuen Kon‐ flikten entgegengehen… sah Kasiiwanou  23 - die Ringelnatter -, ein verirrtes Zicklein, den Kardinalvogel aus einer hohlen Karde schlüpfen… und sah das Rot der letzten Tagessonne… und dann, als ich gerade gehen wollte, sah ich eine Gruppe Alijunas, die, von weither gekommen, so glücklich waren, als befänden sie sich in einem lebendigen Museum. (Übersetzung Rike Bolte) 146 Rike Bolte 20 Juusayuu: Name eines Wayuu-Clans. Die „culebra sabanera“ oder „culebra cazadora“, eine Ringelnatter oder Savannen-Jagdschlange (Kasiiwanou) ist sein Totemtier. 21 Woyliiyuu: Name eines weiteren Clans; das ihm zugeordnete Tier ist das Feldhuhn. 22 Pülowi: weibliches Wesen, das geheime Kräfte besitzt. Es nimmt Gestalt einer sehr schönen Frau an und verschlingt nachts umherziehende oder alleinstehende Männer. 23 Kasiiwanou; siehe Fußnote 18. Ungiftige Schlange mit reinigenden Kräften. 24 Es existiert auch die Schreibweise „arijuna“. te’rüin müliain jünain epijawaaa chi ku’tkai je wainpiraipia onjuluushi… te’rüin pulowui kashein apülajanaa… te’rüin Jurachen—chi putchipu’ukai-p’unüin jünainmüin jekennuu kasachiki. Te’rüin kasiwano’u -tü wui alojütkaa--, te’rüin wanee kaa’ulachon amüloushi, chi wuchikai iisho oju’uitüin julu’ujee wanee kayuusia ko’usu… je te’rüin achiiruwaajatkaa ishoin ka’ikaa… je, to’uneematapa, te’rüin alijuna jutkamuuin, wattajeeje‐ lüirua, talatsüirua, müin aka julu’ukale wanee ee’iyatiaa kasa kato’uluirua. Die Übersetzung des Gedichts war von mehreren Schlüsselmomenten geprägt, die auf der praktischen wie auf der Metabene in der Figur des palabrero auf‐ scheinen, aber auch in der des alijuna. 24 Ebenso dieser bereits im Zusammenhang von Pájaros de verano gefallene Begriff ist fundamental für die kulturelle und sprachliche Identität der Wayuu. Er steht für „blanco/ -ca“, ‚Weiße / r‘, sowie für „civilizado, -da“, ‚zivilisierte Person‘, kurzum: für eine „persona no wayuu“. Alijunaiki wiederum bezeichnet die spanische Sprache (vgl. Diccionario básico 2005: 17). In Absprache mit der Redaktion von Arti CHOKE wurde das spanische Adstrat, palabrero, das durch die UNESCO international für die Wayuu-Kultur stehend institutionalisiert ist, ins Deutsche übersetzt (als „Mittler“); alijuna, ein Wayuunaiki-Begriff, der einen für die Außenwirkung der Wayuu-Kultur an‐ deren Status besitzt, jedoch (allerdings in Majuskel) stehen gelassen. In einem in der Publikation vor „Rumaa“ rangierenden Gedicht, „Culturas / Akuwa’i‐ paarua“ (Apüshana 2020a: 84-85), wurde alijuna mit einer Paraphrase versehen eingeführt. 147 Selbstübersetzung und anderer Schmuggel 25 Das Gedicht lautet auf Spanisch: „Tarashi, el Jayeechmajachi de Parasto’u, ha llegado/ para cantar a los que lo conocen./ / Su lengua festeja nuestra propia historia,/ su lengua sostiene esta manera de ver la vida./ / Yo, en cambio, escribo nuestras voces / para aquellos que no nos conocen, para visitantes que buscan nuestro respeto./ / Contra‐ bandeo sueños con alijunas cercanos.“ Und auf Wayuunaiki: „Tarashi, chi jayeechimaa‐ jachikai Parasto’u je’ewoikai,/ antüshi jüpüna nii’itajüin namüin na ni’raajüinkana./ / Kekiirasü jutuma nünüiki tü wachikikalüja’aya ma’in,/ jia ajapulu’ujaka nünüiki tü akuwa’ipa we’ria tü kataakaa o’u./ / Jiasa’a tayakai, tashajüin wanüikiirua / namüin naya me’raajüinkana waya,/ namüin na we’iyou achajaakana kojutuin watuman./ / Tekero‐ lirüin ojuunaa Iapüirua jümüin alijuna / pejepünaajatü wanain.“ Die auf die humanistischen und emanzipatorischen Momente der aktuellen Wayuu-Literatur spezialisierte Laura Lema Silva hebt hervor, Apüshanas Dich‐ tung sei eine Einladung zum interkulturellen Dialog, ja dazu, in die territoriale und kosmologische Welt der Wayuu einzutreten (vgl. Lema Silva 2020: 73). Die Figur des alijuna tritt genau hier ins Zentrum. In „Rumaa“ handelt es sich gleich um einen ganze Truppe von alijuna, von weither kommenden Fremden. In „Culturas“ 25 heißt es, ein Jayeechmajachi - d. h. ein Sänger oder Spielemann, der von historischen Ereignissen und Liebesgeschichten handelnde A-cappella-Ge‐ sänge sowie Alltagsbotschaften überbringt -, sei gekommen, „um für die zu singen, die ihn kennen“ (Apüshana 2020a: 84-85, Z. 2). Ein Beschwörer des Ei‐ genen, dem aber die vokale Instanz des Gedichts entgegentritt, um zu beteuern: „Ich hingegen schreibe unsere Stimmen nieder / für die, die uns nicht kennen“ (Z. 5-6). Diese zweite Instanz hält Ausschau nach Fremden, die das Eigene der Wayuu achten; der daraus entstehende Pakt läuft auf einen „Traumschmuggel“ mit besonderen, nämlich nahestehenden Fremden hinaus (Z. 7). Nicht von ungefähr ist dieses Gedicht mit „Culturas“, also im Plural über‐ schrieben. Denn es evoziert „Allianzen“ (Lema Silva 2020: 73) zwischen unter‐ schiedlichen Denk- und Lebensformen, oder apelliert zumindest an deren Mög‐ lichkeit. Zuvörderst aber erwähnt Lema Silva die in Kolonialzeiten belegte Bedeutung des Begriffs alijuna: eine Person, die von Ferne oder aus der Ferne Leid zufügt. 6 Mehr als ein bivokales Sprachmuseum: Eigenes und Fremdes sehen Mit der Bezeichnung alijuna war und ist der clash of cultures zwischen kolonialer und indigener Kultur trefflich beschrieben. Apüshana allerdings lässt diese Fremden nah sein, oder zumindest näher kommen. Denn auch in „Rumaa“ sind die alijunas zwar ganz bewusst noch nicht wirklich (in der Wayuu-Kultur) an‐ gekommen oder in sie eingetreten, wohl aber im Näherkommen begriffen. Selbst 148 Rike Bolte 26 Sánchez (2017) erläutert, Apüshana liefere in „Rumaa“ einen „peripheren“, zwischen Objektivität und Ironie angesiedelten Blick. 27 „Mañana llegarán nuevamente los alijuna y / traerán más preguntas acerca de nosotros y/ / nada sabrán sino [sic] escuchan el silencio de nuestros muertos / en cada sonido de nuestras vidas… y/ / nada se llevarán sino [sic] cuelgan sus miedos en los ganchos / de las mochilas familiares… y/ / reciban el asombro de la madrugada… junto al temor de / los espantos.“; „Anteena watta’a nachukuwa’a na alijunakanairua…/ ko’omüinjeerü natuma nasakiijüin wanain je / nnojoleerü kasain natijaain o’u wachiki müle aka/ nnojorüle naapajüin ko’utüin na waamakakanairua / sünainwai shi’ira tü wakuwa’ipakalüirua… je/ / nnojoleerü kasain nalü’üjain müle aka nnojorüle / nakacherüin tü namüshe’ekaa sulu’u / tü sususiakalüirua apüshii… je/ / kamüinjeena, wamüshe’enainjee,/ tü ainkia aa’in maaliajatkaa süma’alee sheema / tü mmarülakalüirua.“ wenn es scheint, dieser Eintritt und der ihm zugeschriebene Gemütszustand werde ein wenig ironisiert: die Fremden sind so glücklich, heißt es, wie „in einem lebendigen Museum“ (Apüshana 2020a: 88-89, Z. 15). 26 Freilich hätte sich diese „lebendige Museum“ auch als Freilichtmuseum über‐ setzen und domestizieren (und institutionalisieren) lassen, also handlicher in Bezug auf bekannte museale Traditionen gestalten können. Doch dieses Bild schien zu firm, zu sehr mit der in situ-Anlage verbunden, die wenig mit der Erfahrung der gewaltsamen Vertreibungen der Wayuu zu tun hat. Zudem ruft Apüshanas Text das Bild eines quasi-Museums auf, das eher mit Tourismus als mit humanistischen Bildungsbesuchen zu tun hat: Fremde kommen in eine ran‐ chería, eine Wayuu-Siedlung, um dort von (negativen wie positiven) Vourteilen bestimmte Dinge zu suchen. Im besten Falle sind diese Dinge „lebendig“, oder die (fremden) Vorstellungen davon sind lebendig genug, dass es dennoch zu einem Dialog zwischen den Kulturen kommen kann (vgl. Lema Silva 2020: 73). In „Miedo alijuna / Sümüshe’e alijuna“, „Alijuna-Angst“ (Apüshana 2020a) 27 heißt es, die Fremden würden „nichts erfahren, wenn sie nicht dem Schweigen unserer Toten lauschen / in jedem Laut unserer Leben…“; „wenn sie ihre Ängste nicht an die Haken zu den Beuteltaschen der Familie hängen“ (Z. 3-6). Diese Beutel, mochilas - die am Ende dieses Artikels noch einmal auftauchen werden -, sind (mit Vorstellungen beladene) Behältnisse, die indes abzulegen sind, denn nur „nackt“ (Lema Silva 2020: 73) kann der Eintritt in den Alltag und den kosmologischen Kreis der Wayuu-Kultur vollzogen werden. Einer Tradition Respekt zu zollen, die die Welt der Toten in das Leben mit einbindet und folglich auf einer anderen Zeitkultur gründet, gehört ebenso zur Eintrittsbedingung. Nationale wie internationale (bisweilen spirituell bzw. esoterisch motivierte) Tourist: innen (sowie Filmteams) mögen immer wieder versuchen, in indigene Gemeinschaften Lateinamerikas hineinzufinden. Ein Text wie „Rumaa“ nun rollt dieses Setting vom ‚anderen‘ Ende her auf - und genau dieses Exerzitium wird 149 Selbstübersetzung und anderer Schmuggel besonders greifbar in der übersezterischen Arbeit. Gemeint ist das Register, das das Gedicht zu Oronymen und Oykonymen, Namen von Bergen und Siedlungen, sowie solchen von Clans anlegt und der Übersetzerin (sowie den ali‐ juna-Leser: innen) zur Kenntnisnahme vorlegt. Zudem wartet das Gedicht, ebenso die spanische Fassung, mit autochthonen Tiernamen auf, etwa „Kasii‐ wanou“ (Apüshana 2020a: 88-89, Z. 10; gemeint ist die in der Fußnote bereits zitierte ungiftige Savannen-Jagdschlange; neben der spanischen Version wird sie auch in der Wayuunaiki-Version umgeschrieben: „culebra cazadora“/ „tü wui alojütkaa“). All diese in der spanischen Fassung des Gedichts kursiv gesetzten Elemente ‚sieht‘ die vokale Instanz. Dabei ist wichtig, dass dazu Menschen in der gleichen Weise wie Berge, Vögel und Schlangen gehören. Denn es handelt sich um eine Reihung gleichgestellter Wesen, „seres“, die sogar noch mit meteorologischen Phänomen verwandt sind (Lema Silva 2020: 74). Sie alle, so der Anthropologe Guerra Curvelo (2019), besitzen in der Wayuu-Kultur Agentialität und den selben ontologischen Status. Für diese von der westlichen Ontologie her grund‐ legend unterschiedene Seins-Sichtweise ist Sichtbarkeit eine fundamentale Ka‐ tegorie. Deswegen sprechen in Apüshanas Gedichten die sichtbaren Dinge auch je von ihrer Ursprünglichkeit, und werden von palabreros, jayeechis und anderen Autoritätspersonen, etwa waisen Alten, über das Wort vermittelt. Zugleich ist damit das Unsichtbare (Tote und Träume) evoziert (vgl. Lema Silva 2020: 74). Im Falle von „Rumaa“ wird dies in der skopischen Anapher „vi“/ / „vi“/ / „vi“/ / „vi“/ / „vi“/ / „vi“/ / „vi“/ / deutlich („Ich sah..“): alles Genannte, auch das Unsichtbare, wird ‚gesehen‘. Der verbale Versichtbarungsvorgang wird übersetzungspoetisch / ethisch fassbar, insofern die autochtonen Bezeichnungen in der deutschen (und auch englischen sowie spanischen Fassung des Autors) stehen und sichtbar bleiben, so dass Sichtspuren und Sehobjekte (besser noch: Seh-Wesen) ins Deutsche ein‐ gehen und das Wayuunaiki hierin (als ursprünglich orale Literatursprache! ) fortgeschrieben bleibt. Das Wayuunaiki bildet ergo mit der ihm kulturell und geographisch viel ferneren Sprache als dem Spanischen ein neues Gewebe, in dem das Deutsche nicht entstellt wird, sondern Anderes daran oder darin ‚an‐ gestellt‘ wird. Das „Überleben der Echse“ (dieses sich häutenden Reptils) aus Vers 5 in „Rumaa“ perfomiert dann beinahe das Fortleben im Benjaminianischen Sinne (nota bene: diese Echse findet in der spanischen Fassung wiederum kein Pendant in Wayuunaiki). Die von Gabriel A. Ferrer Ruiz und Yolanda Rodríguez Cadenas aufgezeigte „bivokale“ Aussprache („enunciación“) von Apüshana (Ruiz/ Rodríguez Cadenas 1998: 116, 120) führt, so ließe sich zusammenfassen, zu einer doppelten Sprach-, 150 Rike Bolte Sprech- und Begriffsexistenz, über die schließlich zwei Welten miteinander ko-existieren. Übersetzungen in andere Sprachen erweitern diese Existenz noch einmal. Apüshana selbst formuliert, er verflechte die Sprachwelten bzw. - „Me‐ lodien“ - des Spanischen und des Wayuunaiki in einem sich stetig konstruierenden, aber auch re- und dekonstruierenden poetischen Prozess. In dessen Verlauf sei die Figur des ‚Anderen‘ ganz zentral und unterliege auch dieser pro‐ zessualen Logik (vgl. Apüshana 2020b: ab min. 0: 22). Vor diesem Hintergrund lässt sich das „lebendige Museum“, in dem „Rumaa“ mündet, gar als Auffang‐ becken für Fremde verstehen. 7 Ausblick: Fremdgänger im Gewebe - Von der mochila zum Rucksack und zurück Vito Apüshanas Dichtung schöpft aus einer kollektiven Stimme, in der indivi‐ dueller Autor und kollektive Autorschaft konvergieren, und das eigene Wort zum Wort des Anderen, oder gar zum Anderen selbst, und wieder eigen werde (vgl. Apüshana 2020b: ab min. 3: 25; Apüshana spricht von sich selbst in der dritten Person). Dabei ist das gemeinschaftlich besiedelte und belebte (eine von Apüshana mit Nachdruck eingebrachte Kategorie) Territorium fundamental. Juan Guillermo Sánchez’ Beobachtung, Apüshanas Dichtung stelle „so etwas wie eine poetische Auto-Ethnographie“ dar (Sánchez 2017), erweist sich hier als sinnig. Der Dichter selbst schätzt den Begriff der „Revelation“ über alle Maße. Er spricht von der Offenbarung, die in der Begegnung zwischen dem Anderen und dem Vertrauten stattfinden könne, eine Art Brücke, errichtet auf einem Terri‐ torium, das, im Falle der Wayuu-Kultur, aus einer „pluralen Seele“ („alma plural“) gespeist werde, welche das alltägliche Leben mithilfe „zauberhafter Fäden“ webe - Gebilde, die zu Verdecktem, Unsichtbarem führen. Wie aus einem Traum gelte es, aus diesem Stoff Elemente in den Alltag zu „extrahieren“ (Apüshana 2020b: ab min. 11: 30-circa min. 17). Beinahe bestürzt die Verwendung des Be‐ griffes „extrahieren“, wenn an den Beginn dieses Artikels zurückgedacht wird. Doch meint das Extrahieren hier einen poetischen Vorgang, der auch der west‐ lichen Dichtung, insbesondere der alchemistischen Rimbauds oder auch der neo-romantischen, existentialistischen Lyrik aus dem 20. Jahrhundert, etwa jener Alejandra Pizarniks, vertraut ist. Poetische Extraktion bedeutet, ‚verbales Gold‘ ausfindig und brauchbar zu machen. Die Guajira ist für Apüshana, wie dieser in der zitierten Passage des Podcasts ebenso unterstreicht, ein Territorium der Konvergenz, ein Land der Interaktion, während (Literaturwissenschaftler und Dichter) Sánchez (2017) formuliert, im 151 Selbstübersetzung und anderer Schmuggel 28 Der Begriff Abya-Yala stammt aus der panamensischen und west-kolumbianischen Kuna-Sprache und wird in in Südamerika, eingebracht durch den Aymara Takir Mamani (Bolivien), als dekoloniale Alternative zu „Amerika“ oder „Neue Welt“ verwendet. Apüshana spricht von „Mutterraum“; die Bedeutung des Namens wird in der Regel als Kontinent des Lebens oder Land der Reife angegeben. 29 Siehe hierzu die entsprechenden Publikationen im Verlag Das Wunderhorn. Online verfügbar unter: https: / / www.wunderhorn.de/ buecher/ literarische-reihen/ versschmug gel/ [14. 2. 2021]. 30 Chinchorros sind zyklisch, d. h. vom Lebensbeginn bis zum Tod und sogar in die Grab‐ stätte hinein benutzte Hängematten. Territorium der Wayuu werde das Gedicht zu einer „Anleitung“ darüber, wie Austausch - und Schmuggel - funktionierten. Passend dazu sei die Tonlage von Apüshanas Dichtung „gesprächig“, beschreibend, einladend. Dichtung als solche wiederum wird von Apüshana selbst als ein „Delta“ der Begegnung apostro‐ phiert, in das Abya-Yala 28 der amerikanische „Mutterraum“, münde (Apüshana 2020b: ab min. 30: 51). Einer Revelation gleich, sei diese Mündung als Zittern, als Puls oder gar als Herzschlag zu vernehmen, auch wenn das sich darin offenba‐ rende Wort nicht levitiere, sondern ganz im Gegenteil tief in die Formen menschlicher Begegnungen eintauche - und zwar gleichermaßen wie in die der Wildnis. Da sich diese Raum-Kontakt-Auffassung synästhetisch artikuliert, nennt Apüshana auch noch eine Farbe der Konvergenz: Rot. Natürlich gibt es Grenzen für Begegnung, und für Schmuggel. Das wird nicht nur an den seit vielen Jahren vom Berliner Haus für Poesie ausgerichteten in‐ ternationalen Übersetzungswerkstätten deutlich, die den Namen VERS schmuggel tragen und stets den Balanceakt zwischen Übersetzung und Nachdichtung vollziehen müssen. 29 Wenn Apüshana den Traumschmuggel mit alijunas imaginiert und poetisiert, dann kommen ebenso hier Balanceakte zum Tragen, die sich wiederum bei der Übersetzung bemerkbar machen. In diesem Zusammenhang sei eine Anekdote erwähnt, die sich im Lektorat der Übersetzung für Arti CHOKE ereignete. Im bereits zitierten (spanischen) Gedicht „Miedo alijuna“ (Apüshana 2020a: 94-95) kommen die „mochilas fami‐ liares“ vor (Z. 6). In Kenntnis um die in der Wayuu-Kultur (ähnlich wie die chinchorros  30 ) fundamental wichtigen mochilas, wurden diese mit Beuteltaschen übersetzt (ebenso existieren die mittlerweile geschützten mochilas arhuakas oder tuti iku der Ika oder Arhuaco der Sierra Nevada de Santa Marta, die bereits in den 1960er Jahren in die Großstädte Kolumbiens ‚migrierten‘). Die (in beiden Fällen je aus Wolle oder Pflanzenfasern gefertigten) Beutel sind mit kosmolo‐ gischen Motiven versehen. Da der Begriff mochila im Spanischen Spaniens wie auch im Cono Sur (vor allem in Chile und Argentinien) einen Rucksack be‐ 152 Rike Bolte 31 In Spanien wiederum existiert der aus dem Baskischen abgeleitete Begriff zurrón, als Bezeichnung für einen (meist aus Leder gefertigten), ebenso quer über die Brust getra‐ genen Beutel, in dem einst Hirten ihren Proviant verwahrten. Die indigenen mochilas haben die Funktion der Verwahrung lebenswichtiger Dinge. zeichnet, 31 erschien im Lektorat die Beobachtung, die Verwendung des Begriffes „Beuteltasche“ für die deutsche Übersetzung fuße womöglich auf einem Miss‐ verständnis; darunter war ein Link zu Amazon eingefügt, der zu modernen Sport- oder Wanderrucksäcke für den Familiengebrauch führte. In der Lektorin fand sich so eine des Spanischen zwar überaus mächtige, aber der Wayuu-Kultur gegenüber fremde Leserin, also eine alijuna-Leserin, in deren sonst sensible Lektoratsvorschläge sich die hegemoniale (und zumal Amazon-)mochila wie ein Fremdgänger eingeschlichen hatte. Die mochilas der Wayuu hängen neben den Hängematten in den aus Kak‐ tusholz gebauten Hütten (piichi oder miichi [Diccionario básico 2005: 36]); auch deren Eingangsbereich, luma (68), ist wichtig, wo die Besucher empfangen werden. Apüshanas Weisung zufolge mögen hier die alijuna ihre Angst ablegen (oder: hinhängen), damit es zur interkulturellen Begegnung kommen kann. Auch die Vorstellung des (Outdoor-)Rucksackes, der aus einem gänzlich anderen Gewebe als die mochila der Wayuu gemacht ist, mag hier abgelegt werden, so dass, zum Abschluss dieses Artikels, der Weg frei gemacht wird für einen wei‐ teren Begriff: den des „Gewebe“. „Wir sind ein Webstück aus Knoten am Webstuhl unserer Umgebung“ heißt es in „Península“; „Woumainpa’a“, „Halbinsel“ (Apüshana 2020a: 103, Z. 4-5); und „Wir leben, wie Spinnen, im Gewebe / des mütterlichen Horts“, in „Kataa ou-outa“; „Vivir-morir“; „Leben-Sterben“ (92-93, Z. 3-4): der Begriff (und die konkrete Struktur) des Gewebes ist so substantiell in Apüshanas Dichtung wie jene(r) des Traums, der mitnichten eine Metapher darstellt, sondern, ebenso wie der Schmuggel, Bewegung und historische Erfahrung dennotiert und redimen‐ sionalisiert (vgl. Duchesne Winter 2012: 106). Schließlich sind die Wayuu wäh‐ rend der Kolonisierung widerständig gewesen dank ihrer nomadischen Lebens‐ weise, des Schmuggels und einer geschickten Handhabe der imperialen Streitigkeiten zwischen Frankreich, England, Holland versus Spanien. Zu diesem historischen und gleichwohl residualen Widerstand gehören die Träume, allerdings nicht die in der „individualpsychischen Videothek fabri‐ zierten Träume“ (107), sondern vielmehr die zum Hierseits zwar komplemen‐ tären, aber ebenso wirksamen Ansichten der Dinge (vgl. Ferrer / Rodríguez 1998: 27). Apüshana bedeutet so sein Territorium als Raum der Begegnung, und bezieht sich im gleichen Zuge auf den - abstrakteren - Raum des Traums, aus dem eine 153 Selbstübersetzung und anderer Schmuggel 32 Jouktai. Wind, der aus dem Nordosten der Guajira-Halbinsel weht. Sendung an die sichtbare Wirklichkeit ergehe (vgl. Apüshana 2020b: ab min 23: 31). In „Pisuhi-waratuui“; „Oscuridad-luz“; „Dunkelheit-Licht“ (Apüshana 2020a: 102-103) heißt es entsprechend: „Eben habe ich eine Ladung Stimmen erhalten,/ gesendet von Jouktai,  32 / dem wanderlustigen Ostwind. / / Eben habe ich dem Schweigen meiner Ahnen ein Webstück überreicht, aus Träumen, schweiß‐ bedeckten und entflammten./ / “ (103, Z. 1-7) Übergabe, gar Schmuggel, Terri‐ torium, Gewebe und Traum sind hier in einem dritten Raum aus Geschichte und Gegenwart miteinander verflochten. Die pointierten, im Spanischen wie im Wayuunaiki sehr eingängigen, eindrucksvollen Rezitationen von Vito Apüsha, das extrem pronouncierte „r“ im Spanischen, die hochschwebende und wieder‐ absinkende Melodie des Wayuunaiki, sie laden allein klanglich dazu ein, in dieses Gewebe einzusteigen, als Hörerin, quasi „nackt“. Neben der Hörerin noch als Übersetzerin an diesem Gewebe mitzuwirken ist, als sei man zu einem Übergaberitual eingeladen. Und doch ist da ein Rest, der sich solchem euphorischen Moment (auf den ersten, beinahe ‚eifersüchtigen‘ Blick) entgegenstellt. Denn es ist klar, dass Vito Apüshana ein von der Kritik und selbst von den Kulturfunktionären Kolumbiens re-konstruierter und gar imaginierter (vgl. Lema Silva 2020: 75), vielleicht sogar erträumter palabrero, Rhapsode, oder Kulturvermittler ist, und damit bereits viele alijunas zumindest im Marketing-Gewebe Hand angelegt haben. Umso interessanter erscheint dann, dass Apüshana aus seinem poetischen Territorium ein transindigenes Reiseterritorium macht (vgl. Sánchez 2017), das etwa in Encuentros en los sen‐ deros de Abya-Yala (2004) zu Rede kommt. Apüshana tritt in dieser Publikation in Dialog mit anderen indigenen Dichtern, aus der Gran Sabana in Venezuela, der Vaupés-Region, aus Amazonien und der nördlichen Andenregion, bis hin zu den Mapuche. In Encuentros en los senderos de Abya-Yala werden deren heilige Orte aufgerufen und an Mythen erinnert, z. B. an den Yuruparí (vgl. Bolte 2019). Juan Moreno Blanco (2002) hat die Beziehung zwischen dem Erzähl-Uni‐ versum des kolumbianischen Beststeller-Autors Gabriel García Márquez und dem imaginären Universum der Wayuu untersucht; die Dichtung von Vito Apüshana hingegen evoziert die von Moreno Blanco analysierten Erzähl-Topoi, als da wären: der „andere Raum“, die Verwobenheit von Hier- und Jenseits, „die andere Realität“, usf., alles Elemente, die unter der Etikette des Magischen Re‐ alismus während des lateinamerikanischen Booms problemlos nach Deutsch‐ land übersetzt wurden. Nun aber, wo der Magische Realismus im Post-(Post-)Boom der lateinamerikanischen Narrativik ausgedient hat, fragt sich, ob im Zuge jenes turns, der die dekoloniale Ästhetik in vieler Munde sein 154 Rike Bolte und immer mehr Mikromedien (Podcasts, etc.) für die kleineren Literaturformen operieren lässt, dem poetischen palabrero das Wort übergeben und auch den Übersetzungen desselben zu Hör- und Sichtbarkeit verholfen werden kann. Literaturverzeichnis Apüshana, Vito. 1992. Contrabandeo sueños con arijunas cercanos. Riohacha: Universidad und Gobernación de la Guajira. —. 2004. Encuentros en los senderos de Abya Yala. Abya Yala: Casa de las Américas. —. 2020a. Gedichtauswahl Wayuunaiki-Spanisch-Deutsch-Englisch. Übers. Rike Bolte (dt.), Juan Diego Otero / Marty Hiatt (engl.). In: ArtiCHOKE 18, 94-103. —. 2020b: Podcast von ArtiCHOKE 18. Online verügbar unter: https: / / artichokereadings .com/ ? p=2244 [21.2.21]. Benítez Rojo, Antonio. 1989. La isla que se repite. 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Zur translationalen Schreibweise von Yoko Tawada Christine Ivanovic, Universität Wien Ich stelle mir eine radikale Übersetzung vor, die keinen anderen Weg kennt, als zur Dichtung hinüberzugehen. Dort müssen nicht alle Wörter des Originaltextes durch Wörter der Zielsprache ersetzt werden. Dort muss man nicht die Leserschaft bedienen, sondern den Prozess der Übersetzung als künstlerischen Akt darstellen. Dort muss man nicht Kompromisse machen, um eine Antwort zu finden, sondern jede offene Stelle offen lassen. (Yoko Tawada, Laudatio auf Uljana Wolf, 2015a) 1 Das Dilemma der (Un)lesbarkeit von Übersetzungen Seit langem gehört es zum Selbstverständnis der Übersetzungsforschung, die ‚verfremdende‘ Übersetzung der ‚einbürgernden‘ Praxis vorzuziehen. Friedrich Hölderlins nahezu unlesbare Pindar- und Sophokles-Übertragungen genießen in der Theorie weit mehr Anerkennung als die berüchtigten, von Fehlern und Auslassungen strotzenden, alle stilistischen Unterschiede in einen einheitlichen Tonfall herunter brechenden Übersetzungen der Werke der großen russischen Erzähler des 19. Jahrhunderts ins Englische von Constance Garnett (insgesamt 71 Bände im Zeitraum 1894-1920), an denen sich die Geister scheiden. Genera‐ tionen englischsprachiger Leser und Autoren haben ‚die Russen‘ in dieser Ver‐ sion schätzen und lieben gelernt - unter ihnen Joseph Conrad und Ernest He‐ mingway -, während Kenner und Meister der russischen und der englischsprachigen Literatur wie Vladimir Nabokov und Iosip Brodskij die Übersetzungen Garnetts für desaströs hielten. Ansätze zur Revision der in der englischsprachigen Welt fest etablierten Texte durch heutige Übersetzer wie die von Richard Pevear and Larissa Volokhonsky, die sich um vollständige und kor‐ rekte Wiedergabe der sprachlichen Finessen Tolstojs und Dostoevskijs im Eng‐ lischen bemühen, stoßen bei Verlagen und Lesern regelmäßig auf immense Wi‐ derstände, weil diese ‚ihre‘ Klassiker nicht wiederzuerkennen vermögen. Ähnliches gilt für Nabokovs Puškin-Übersetzung, die den genuinen ‚Zauber‘ des Evgenij Onegin (2009) im Englischen nicht glaubwürdig zu vermitteln vermochte und sich als Lesefassung nie durchsetzen konnte. Immer wieder steht die Lesbarkeit einer Übersetzung im Konflikt mit ihrer Sichtbarkeit. Die Leserschaft zu ‚bedienen‘ gilt vielen Autoren und Kritikern als ehrenrührig, kann aber als Bedingung für die Vermittlung literarischer Werke nicht ganz ignoriert werden. Mit Recht wird die damit einhergehende Beein‐ trächtigung des künstlerischen Potentials literarischer Texte wie des literari‐ schen Übersetzens befürchtet. Unter Umständen stehen sogar die Integrität des ganzen Werkes oder aber die Kompetenz der Übersetzer auf dem Spiel. Dennoch lässt sich nicht leugnen, dass bis zur Unsichtbarkeit ‚lesbare‘ Übersetzungen den übersetzten Texten oft mehr Resonanz verschafft haben als Versuche, das Fremde des übersetzten Textes in der Zielsprache abzubilden, sein ‚Übersetzt‐ sein‘ sichtbar zu machen. Allen übersetzungstheoretischen Argumenten und zu beklagenden Verlusten zum Trotz dominiert bis heute auf dem Markt der über‐ setzten Literatur de facto das Modell der ‚unsichtbaren‘ Übersetzung, während radikalere Formen des Übersetzens, die tendenziell „jede offene Stelle offen lassen“, wie Yoko Tawada (2015a) es „sich vorstellt“, nach wie vor eher selten vorkommen. Sind sie die Domäne einer übersetzerischen Avantgarde, und finden sie Verbreitung und Anerkennung lediglich im akademischen Diskurs? Wie verträgt sich der ‚radikale‘ Impuls, das Übersetzen sichtbar zu machen, mit der de facto Unsichtbarkeit dieser Texte bei der Mehrheit der Leser, die nach wie vor vorrangig mit ‚lesbaren‘ Übersetzungen ‚bedient‘ werden? Aus diesem Di‐ lemma gibt es kein Entkommen. Es zeichnen sich aber Gegenstrategien ab: Übersetzungen werden zunehmend performativ verhandelt, anstelle der Alter‐ native von Original oder Übersetzung wird deren Simultaneität herausgear‐ beitet oder der Übergang von dem einen Lese- und Schreibmodus in den anderen in den Texten selbst vorgeführt. In den Bereichen der globalen Gegenwartslite‐ ratur, deren Autoren mehrsprachig sind, die schreiben und übersetzen, und die sich mit ihren Texten in verschiedenen kulturellen Systemen bewegen, lassen sich zunehmend Tendenzen beobachten, die Monolingualität von Texten zu un‐ terwandern, „zur Dichtung hinüberzugehen“ (Tawada 2015a) und die Grenzen zwischen Schreiben und Übersetzen durchlässig zu machen. Eine steigende An‐ zahl von Autoren weltweit ist gegenwärtig dabei, eine Poetik translationalen Schreibens zu etablieren, in der Original und Übersetzung neu definiert werden (vgl. Ivanovic / Seidl 2016). Das Übersetzen ist diesen Texten so wesentlich, dass es als deren Originalität anerkannt werden muss. Andererseits widersetzen sie sich paradoxerweise gerade dadurch dem Übersetztwerden - und damit einer globalen Distribution. Wie lässt sich das verstehen? 158 Christine Ivanovic 1 Gleich zu Beginn berichtet der Erzähler von seiner Herkunft aus Attika sowie von seinem Sprachwechsel, nachdem er nach Rom gegangen war, und entschuldigt sich für seine möglicherweise nicht ganz korrekte Diktion. Apuleius’ Roman ist ein umfas‐ sender Bericht der Erlebnisse einer Reise, die den Erzähler wieder ostwärts nach Thes‐ salien führt, das damals für seine Magie und dämonischen Frauen „weltbekannt“ war (Apuleius, 2.Kap.). Apuleius selbst stammte aus Madauros im Nordosten Algeriens. Die numidische Stadt war ein Jahrhundert zuvor im Zuge von Cäsars Eroberungen dem römischen Reich zugeschlagen worden. Ich möchte dieses Phänomen, das sich in der aktuellen Weltliteratur - einer durch Globalisierung bedingten und auf Globalität referierenden Literatur in vielen Sprachen - beobachten lässt, paradigmatisch am Beispiel der japanischen Autorin Yoko Tawada skizzieren, deren Texte seit Jahrzehnten eine feste Größe auch in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur und in der internationalen Germanistik sind. 2 Übersetzung und Verwandlung Das Thematisieren von Übersetzungsbedingungen und das intratextuelle Re‐ flektieren auf Übersetzungsvorgänge prägte bereits die frühesten Mythen und Archetexte der Weltliteratur. Eines ihrer überzeugendsten Modelle ist die Ver‐ wandlung. Von der Verwandlung des mythischen Sehers Teiresias in eine Schlange (und zurück) bis zum Goldenen Esel des Apuleius (ursprünglicher Titel Metamorphoseon libri XI ), gibt es in der antiken europäischen Literatur eine lange Tradition, in der die Metamorphose als Mittel eingesetzt wird, um von einer Welt in die andere zu gelangen, um sonst nicht erreichbare Ziele zu er‐ langen, um einer Bedrohung zu entkommen oder um die Welt aus einer anderen Position heraus neu zu entdecken. All dies sind - auch - Intentionen des inter‐ lingualen Übersetzens. In dem vergleichsweise späten Text von Apuleius (2. Jh.) wird die Verwandlung des Lucius in einen Esel durch eine Reise in eine kulturell fremde Region allererst motiviert und dabei das Problem des Sprachwechsels vom Erzähler explizit angesprochen. 1 Als manifeste Gestalt der Übersetzung wird genau dieser Esel über das Sprachspiel bottom / ass wieder herbeizitiert in einer Schlüsselszene von William Shakespeares A Midsummer Night’s Dream (1595 / 96), wenn der verwandelte Weber und Laien-Schauspieler von seinen Kollegen erstaunt als ‚übersetzt‘ erkannt wird: „Bless thee, Bottom, bless thee! Thou Art Translated! “ ( III , 1). Die Verwandlung erscheint immer dann, wenn es darum geht, die eigene Identität zu kaschieren, um in anderer Gestalt soziale, kulturelle oder sprachliche Grenzen überwinden zu können. Diesem Modell entspricht auch das vor allem in Texten Ostasiens seit dem Mittelalter belegte Motiv der Fuchsfrau, die offensichtlich als Grenzgängerin zwischen verschie‐ 159 Die radikale Übersetzung. Zur translationalen Schreibweise von Yoko Tawada denen Gruppen - Ethnien oder Kulturen - konzipiert ist. Während die von Phönizien nach Kreta ‚übersetzte‘ Europa auf dem Weg ihrer ‚Aneignung‘ durch Zeus ihrer kulturellen Herkunft für immer entsagen muss, aber immerhin zur anerkannten Stammmutter eines neuen Geschlechts wird (der ihr nachgesandte Bruder Kadmos kann derweil den Griechen das phönizische Alphabet überlie‐ fern), ‚bezahlt‘ die Fuchsfrau das Entdecktwerden ihrer doppelten Gestalt (die Frauengestalt deckt ihre darunter liegende ‚originale‘ Fuchsgestalt) meist mit dem Verlust der neu erreichten sozialen Stellung und dem Ausschluss aus der menschlichen Gemeinschaft. All diese Beispiele sind drastische Illustrationen dessen, was auch beim Übersetzen passiert: Sie lassen die Verwandlung am Körper des Agenten selbst geschehen. Es liegt nahe, Franz Kafkas berühmte Erzählung „Die Verwandlung“ (1915) auch in dieser Tradition zu lesen. Das ‚Ungeziefer‘, in das sich der Sohn Gregor Samsa verwandelt, mag die Realisierung einer (vom Vater des Autors) hinge‐ worfenen Redewendung manifestieren. Das Verfahren rührt an frühe magische Traditionen. In der Verunglimpfung anderer Personen durch die Identifikation mit Tieren findet sich der sprachliche Rest uralter Verwandlungsgeschichten. Sie zielen nicht nur auf Ab- und Ausgrenzung (aus) der eigenen (Sprach-)Ge‐ meinschaft. Sie stellen immer auch die Frage nach der Möglichkeit der Integra‐ tion des Fremdartigen in den eigenen (Sprach-)Körper. Genau einhundert Jahre nach ihrer Entstehung hat Tawada Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“ in dieser Tradition einer gewaltsamen sprachlich konditi‐ onierten Metamorphose gelesen. Tawada hat Kafkas Text wörtlich genommen und dabei an einzelnen Stellen eine bisher unbekannte Radikalität der Überset‐ zung realisiert. Hierin folgt sie genau dem eingangs zitierten Credo aus der Laudatio für Uljana Wolf: „jede offene Stelle offen lassen“ (2015a). In ihrer Kafka-Übersetzung werden demnach auch „nicht alle Wörter des Originaltextes durch Wörter der Zielsprache ersetzt“ (2015a). Am auffälligsten erscheint die Übersetzung des berühmten ersten Satzes der Erzählung. Hier bewahrt Tawada das entscheidende Wort „Ungeziefer“ phonetisch und übersetzt es nur graphisch indem sie es in der für die Schreibung von Fremdwörtern üblichen Silbenschrift Katakana wiedergibt: レゴール・ザムザがある朝のこと、複数の夢の反乱の果てに目を醒ますと、 寝台の中で自 分がばけもののようなウンゲツィーファー ( 生け贄にできないほど汚れた動 物或いは虫 ) に姿を変えてしまっていることに気がついた。 (Tawada 2015b: 9) 160 Christine Ivanovic 2 Wörtlich lautet die Übersetzung: „[…] fand er in seinem Bett, dass er seine äußere Er‐ scheinung in die eines ungeheuerähnlichen Ungetsīfā (ein Tier oder Insekt, das derart unrein ist, dass man es nicht opfern kann) verwandelt hatte.“ (Saito 2020: 31) Das deutsche Wort „Ungeziefer“ in der Schreibweise ウンゲツィーファー („ungetsīfā“) muss dem japanischen Leser der Übersetzung semantisch unver‐ ständlich bleiben. Tawada realisiert damit die Geschichte der ungeheuerlichen Verwandlung des Protagonisten als sprachlichen Akt, buchstäblich als Ver‐ wandlung in ein sprachliches Ungeheuer. Gleichzeitig lässt sie die Übersetzung in ihrer Ambivalenz von sprachlicher Grenzüberschreitung und kultureller Ver‐ mittlung einerseits, von Intrusion und gewaltsamer ‚Verwandlung‘ der Sprache andererseits sichtbar werden. Tawada erläutert allerdings in einem von ihr an dieser Stelle eigens formulierten Einschub in Klammern die Bedeutung des Konzepts „Ungeziefer“, das im Deutschen ein unreines, nicht als Opfer geeig‐ netes Tier bezeichnet. 2 In einem Interview berichtet Tawada, dass sie „das deut‐ sche Wort ‚Ungeziefer‘ […] schon immer sehr eindrucksvoll fand. […] Ich habe eines Tages das Wort ‚Ungeziefer‘ in Kluges etymologischem Wörterbuch nach‐ geschlagen und erfahren, dass es ursprünglich ‚ein unreines Tier‘, wahrschein‐ lich ‚ein nicht zum Opfer geeignete [sic! ] Tier‘, bedeutete“ (Tawada 2010: 3). Yumiko Saito argumentiert, dass Tawada in ihren im Vergleich mit anderen Übersetzungen desselben Texts ins Japanische oft befremdlichen Lösungen durch die Bewahrung größtmöglicher Wörtlichkeit dem Text stellenweise neues Erkenntnispotential abzugewinnen vermag (vgl. Saito 2020: 50). Ich würde noch schärfer formulieren, dass Tawada die immanente Translationalität von Kafkas „Verwandlung“ gerade im Akt des Übersetzens herauszuarbeiten und sichtbar zu machen vermag. Entscheidend dabei scheint mir, dass sie ihr Übersetzen nicht mehr auf die Dichotomie der Vermittlung zwischen ‚eigener‘ und ‚fremder‘ Sprache und Kultur bezieht - und das betrifft auch die konventionell gewordene Lesart Kafkas im Rahmen der ‚kleinen Literatur‘ -, sondern dass sie im Über‐ setzen den Archetypus der Verwandlung als translationale Konstellation per definitionem erfasst. Die umfassende globale Präsenz Kafkas, so Tawada in dem schon genannten Interview, habe sie immer fasziniert. Seine Texte könnten, so Tawada, „ein Schlüssel für die neue Weltliteratur werden“ (Tawada 2010: 3). In Japan gehört „Die Verwandlung“ zu den am häufigsten übersetzten Texten des Autors. In einem 1989 publizierten Überblick referiert Gerhard Schepers die Tradition der Kafka-Übersetzung in Japan, die 1933 einsetzte und einen ersten Höhepunkt in den 1950ern erreichte (vgl. Schepers 1989). Bis heute fehlt „Die Verwandlung“ in keiner Werkauswahl. Ihre Verbreitung wie die Vielzahl ihrer Übersetzungsvarianten scheint enorm. Bereits Ende der 1980er Jahre kann Sche‐ pers mindestens 13 Übersetzungen in fast 30 verschiedenen Büchern nach‐ 161 Die radikale Übersetzung. Zur translationalen Schreibweise von Yoko Tawada weisen, einige davon in Taschenbuchausgaben mit bis zu 60 Auflagen (vgl. 55). Als Tawada ihre Übersetzung anfertigt, ist „Die Verwandlung“ laut Saito bereits 20 mal ins Japanische übersetzt worden (vgl. Saito 2020: 27). Seinen Überblick abschließend formuliert Schepers einen bemerkenswerten Standpunkt: Translating Kafka into Japanese means translating him into a quite different cultural context which, however, shows a certain nearness to some elements in his works […]. It is my experience after many years in Japan that in the process of trying to under‐ stand Kafka from within Japanese culture one may become aware of aspects of his texts that are obviously important and seem to have a positive meaning for him. They have, however, up to now been neglected or negatively evaluated by most interpreters, probably because of the limitations of a cultural context that Kafka has been able to transcend. (Schepers 1989: 60) Der andere Kontext, in dem Kafka in Japan zwangsläufig gelesen wird, erweist sich für Schepers als Tor zur Neuentdeckung von Aspekten seiner Texte, die sich im Original vielleicht nicht erschließen mögen. Das Potential dieser Entdeckung wird aber, so Schepers, durch die Fixierung auf den eigenen kulturellen Kontext immer wieder beschränkt, während Kafka selbst in der Lage gewesen sei diesen zu ‚transzendieren‘. Bereits im Jahr zuvor hatte Schepers ein Buch auf Japanisch publiziert, in dem er sich mit der ‚anderen Sicht‘, die von Japan aus auf Kafka gerichtet werde, auseinandersetzt (Schepers 1988). Diesen Ansatz hat mehr als ein Jahrzehnt später Marlies Whitehouse-Furrer in einer in Zürich erstellten Zulassungsarbeit weiter verfolgt. Sie geht in ihrem Buch Japanische Lesarten von Franz Kafkas „Die Verwandlung“ (2004) der Frage nach, „inwieweit ein Über‐ setzer einerseits seinen eigenen kulturellen Hintergrund, die Gesellschafts‐ struktur und die Bedingungen aus seinem persönlichen Umfeld in eine Trans‐ lation mit einbezieht, und wie stark andererseits die Lesart des Übersetzers den Leser eines Textes beeinflussen kann“ (Whitehouse-Furrer 2004: 13). White‐ house-Furrer gelinge ihr Vorhaben, so der Rezensent Thomas Pekar, außeror‐ dentlich gut, da sie es verstehe „durch kleine Exkurse […] zum japanischen Ge‐ sprächsverhalten, Schamverständnis, Arbeitsverhältnis, dieses Geschehen ‚Übersetzung‘ in seiner ganzen kulturellen Komplexität sichtbar zu machen.“ (Pekar 2006: 199) In einer solchen Perspektive wird die akkulturisierende Über‐ setzung genutzt als Relais zum Verständnis der einbürgenden Kultur. Die Art, wie Kafkas Text übersetzt wird, sagt dem Außenstehenden etwas aus über Wert‐ vorstellungen und Praxis der japanischen Gesellschaft - vorausgesetzt es gibt jemanden wie Whitehouse-Furrer, der per Übersetzungsanalyse diese Ten‐ denzen aus dem Japanischen wieder in einen anderen kulturellen Kontext (zu‐ rück) spiegelt. Whitehouse-Furrer selbst geht von dem Postulat aus: „Der über‐ 162 Christine Ivanovic 3 Eleni Azer und Benedikt Weiser haben in einer Präsentation in meinem Seminar „Ja‐ panisches Übersetzen“ im Sommersemester 2020 an der Universität Wien auf die rege kontroverse Diskussion von Tawadas Übersetzung in japanischen Blogs und Internet‐ foren hingewiesen, die die oben skizzierte Debatte fortführt. Vgl. u. a. https: / / detail.chi ebukuro.yahoo.co.jp/ qa/ question_detail/ q10155246295, https: / / grimm.exblog.jp/ 24418 786/ , http: / / tonnytakitani.blogspot.com/ 2015/ 05/ blog-post.html, https: / / ameblo.jp/ taka nokayo/ entry-12089275009.html https: / / www.excite.co.jp/ news/ article/ E142843252554 4/ (letzter Zugriff jeweils am 22. 6. 2020). tragene Text muss […] im kulturellen Kontext der Zielsprache einen solchen Platz finden, dass er dort nicht als fremd empfunden wird.“ (2004: 19; Hervorhe‐ bung C. I.) Mit dieser Annahme, die dem Prinzip des einbürgernden Übersetzens genau entspricht, steht sie allerdings in diametralem Gegensatz zu der Überset‐ zung der „Verwandlung“ - der Verwandlung im Übersetzen -, die Tawada wie‐ derum ein Jahrzehnt später publiziert hat. 3 Denn Tawada macht genau dies: Sie realisiert die überraschende Verwandlung Gregor Samsas als Verwandlung in ein sprachliches Ungeheuer und präsentiert damit auf dem Weg der Übersetzung eine Lesart, die im Übersetzen - und nur in diesem Akt - in der Ungeheuer‐ lichkeit des Textgeschehens auch ein Gleichnis für die ungeheuerliche Ver‐ wandlung erkennt, die das Übersetzen für einen Text bedeutet - und für die Sprache, in der dies geschieht. Das Übersetzen sichtbar zu machen heißt in diesem Fall, eine Lesart des Textes aufzudecken, die sich nur im Lesen-Über‐ setzen zeigt, die erst durch das Übersetzen sichtbar gemacht wird. Komple‐ mentär zu ihrer interlingualen Übersetzung von Kafkas Text ins Japanische liest sich dann ein von Tawada auf Deutsch verfasstes Theaterstück, in dem sie die plötzliche Verwandlung von Gregor Samsa räumlich und zeitlich in den Kul‐ turraum Japans versetzt. 3 Kafka kaikoku Die menschliche Katastrophe der „Verwandlung“ (die nur in wenigen der klas‐ sischen Metamorphosen wie sie Ovid überliefert hat, thematisiert wird) und deren kulturelle Bedingtheit hat Tawada in einem weiteren ‚Übersetzungspro‐ jekt‘ ausformuliert, in dem sie dann tatsächlich „zur Dichtung hinüberge‐ gangen“ ist. Bereits 2011 wurde ihr erst seit 2013 im Druck vorliegendes Thea‐ terstück „Kafka kaikoku“ erstmals gespielt, in dem Tawada Kafkas „Die Verwandlung“ nicht in eine andere Sprache, sondern in eine andere Zeit und einen anderen Raum übersetzt - nun aber auf Deutsch (Tawada 2013: 271-284). Während Tawadas zahlreiche Bühnentexte von der Forschung eher ignoriert werden, hat dieses Stück - vermutlich wegen der Bezugnahme auf den renom‐ mierten Autor Kafka - rasch Aufmerksamkeit in der internationalen Germa‐ 163 Die radikale Übersetzung. Zur translationalen Schreibweise von Yoko Tawada nistik gefunden. Innerhalb nur weniger Jahre nach seiner Publikation wurde es von Forschern auf drei Kontinenten untersucht (vgl. Schenk 2014; Hermann 2015; Roberts 2017; Rotaru 2017). Sie alle beschäftigen sich ausführlich mit den hier angesprochenen Fragen der Modernisierung Japans (Roberts; Rotaru) sowie mit Tawadas Technik der Hybridisierung (Hermann). Keine der genannten Un‐ tersuchungen geht aber auf die translationale Basis des Stückes ein. Tawada scheint mir in diesem Text jedoch geradezu paradigmatisch das kulturkritische Potential translationalen Schreibens zu entfalten, wenn sie im performativen Durcharbeiten dieses Schlüsseltextes der modernen Weltliteratur das histori‐ sche Konzept der gezielten Modernisierung Japans, „kaikoku“, mit Kafkas „Die Verwandlung“ engführt. Auch in diesem Projekt geht es darum, nicht jedes Wort zu übersetzen, und stattdessen offene Stellen offen zu lassen. Tawada stellt im Titel ihres auf Deutsch verfassten Theaterstücks neben den bekannten Autorennamen in la‐ teinischer Umschrift und syntaktisch unverbunden den japanischen Begriff „kaikoku“ ( 開国 ). Ähnlich wie für den japanischen Leser der Kafka-Übersetzung das Wort ウンゲツィーファー („ungetsīfā“), ist „kaikoku“ in dieser Schreibweise für den deutschen Leser zwar lesbar, aber keineswegs verständlich. Wörtlich bedeutet es „Öffnung des Landes“ und bezeichnet die in der späten Toku‐ gawa-Kaikoku-Periode (zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts) von den West‐ mächten erzwungene „Öffnung“ Japans und die in deren Folge vollzogene grundlegende Transformation (‚Verwandlung‘) der japanischen Gesellschaft. Sie wird seit langem als „Übergang von einer relativ ‚geschlossenen Gesellschafts‐ form‘ zu einer relativ ‚offenen‘ Gesellschaftsform“ problematisiert (Maruyama 1964: 311; vgl. Rösch 2017) und gilt als eine beschleunigte Form der Moderni‐ sierung. Die mit dem Wort signifizierte Bedeutung steht für den nicht des Ja‐ panischen mächtigen Leser in einem konträren Verhältnis zu seiner Lesbarkeit. Auch scheint es nicht möglich, die grammatikalisch unverbundene, aber klang‐ lich reizvolle Wortfolge „Kafka kaikoku“ einer Sprache zuzuordnen und dem Titel abzusehen, in welcher Sprache der damit bezeichnete Text verfasst ist - auf Tschechisch? Auf Japanisch? Erst in dieser Kombination fällt auf, dass man das Wort „Kafka“ gewöhnlich nicht seiner Bedeutung „Dohle“ gemäß übersetzt, sondern dass es gar keiner Übersetzung mehr bedarf: es ist auf der ganzen Welt so global präsent, dass der japanische Schriftsteller Murakami Haruki den Namen Kafka problemlos (und absichtsvoll) ohne jeden Bezug auf den Prager Autor für den Protagonisten seines Romans Kafka am Strand einsetzen konnte (Murakami 2002). Der Titel „Kafka kaikoku“ lässt sich im Grunde gar nicht übersetzen: Welchen Sinn sollte „Dohle Öffnung“ haben? Was verheißt diese Vogelstimme für die Geschichte Japans? Mit der Juxtaposition der beiden un‐ 164 Christine Ivanovic 4 Vgl. im Original: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.“ (Kafka 1915: 1177) übersetzbaren Begriffe aus zwei verschiedenen Sprachen zeigt Tawada aber sehr präzise an, in welcher Weise sie das Potential der Texte Kafkas für eine Ausei‐ nandersetzung mit der erzwungenen „Öffnung“ und der daraus resultierenden grundlegenden Transformation des Landes nutzt: Indem sie „kaikoku“ konse‐ quent im Sinne jener „Verwandlung“ auffasst, die geradezu synonym für das Gesamtwerk Kafkas geworden ist. Tawadas Theaterstück erscheint wie die deutsche Übersetzung eines japani‐ schen Texts, in dem Kafkas „Die Verwandlung“ in einem anderen Kontext statt‐ findet. Das Stück erinnert damit zunächst an Tawadas früheste in Deutschland veröffentlichte Texte wie Das Bad (1989) oder Ein Gast (1993a). In ihnen findet sich typischerweise eine japanische Protagonistin in eine deutschsprachige Um‐ gebung versetzt; hier ist es der historische Autor und Zeitgenosse Kafkas, Izumi [Kyōka] (1873-1939). Das Stück beginnt mit der von dem Erzähler Izumi ge‐ sprochenen intralingualen Übersetzung des Anfangssatzes von Kafkas „Die Ver‐ wandlung“ in einen anderen Kulturraum: Als ich eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand ich mich in meinem Bett zu einem Europäer verwandelt. (Tawada 2013: 272) 4 Kafkas - von einem Erzähler mitgeteilter - Anfangssatz macht eine doppelte Aussage über Gregor Samsa: der Protagonist wird seiner selbst inne in Gestalt eines unreinen Tieres; die Gestalt des Tieres ist ins Ungeheure ausgedehnt. Ta‐ wadas Protagonist hingegen spricht selbst und formuliert - rückblickend - eine Selbsterkenntnis, in der beide Konzepte in die eine Bezeichnung „Europäer“ verschmelzen. Sie vereint für die Japaner der Edo-Zeit aber genau beide Bedeu‐ tungen: den Vorbehalt der Unreinheit als Ablehnungsstrategie kultureller An‐ dersheit, und die ungeheure Erscheinung von Wesen, deren abweichende Ge‐ staltmerkmale gerne abwertend als tierähnlich klassifiziert wurden. Izumi fühlt sich durch die Verwandlung (kaikoku) nicht nur in die Gestalt eines anderen Raums, sondern auch einer anderen Zeit versetzt. Nur vor diesem Hintergrund kann der ungeheure Schrecken, den die Feststellung für Izumi bedeutet, er‐ messen werden. Mit dem Wort „Europäer“ wird wie mit „Ungeziefer“ eine ver‐ nichtende Einschätzung artikuliert. Sich in diesem Wort erkannt zu sehen, ist die Basis der erfahrenen Verwandlung, die bei Kafka unweigerlich in den Tod des Protagonisten mündet. In ihrer Adaption verschiebt Tawada die auf einen Generations- und einen Kultur(emanzipations)konflikt verweisende Regression vom menschlichen Tier in ein nicht-mehr-menschliches Tier in den Schrecken 165 Die radikale Übersetzung. Zur translationalen Schreibweise von Yoko Tawada der am Übergang zur Moderne erzwungenen Verwandlung eines Japaners in einen Europäer. Anders als im Fall von Kafkas Held mündet Izumis Verwandlung jedoch nicht in seine Vernichtung. Im performativen Bühnengeschehen von „Kafka kaikoku“ wird das Über‐ setzen zur Dichtung. Wie in der Laudatio für Uljana Wolf avisiert, wird es als Prozess vorgeführt. Das Stück folgt dabei im Wesentlichen der storyline von Kafkas Text, der teils wörtlich zitiert, teils erzählt, und teils im Sinne eines re-enactments ausagiert wird, indem Izumi das Geschehen - die Verwandlung - am eigenen Körper erfährt. Izumi jedoch wehrt sich aktiv gegen die buchstäb‐ liche Übersetzung. Sobald er seiner Verwandlung in einen Europäer innewird, fordert er die Wiederherstellung seiner japanischen Umgebung (vgl. Tawada 2013: 272). Schon am Ende des ersten Abschnitts transformiert er sich dann ein zweites Mal, nun in eine Ratte (ebd.). Im Gegensatz zu der in Europa üblichen negativen Einschätzung der Ratte, die hier ihrerseits als eine Art von ‚Unge‐ ziefer‘ gilt, wird die Ratte an dieser Stelle als „kluges, bescheidenes, fleißiges Säugetier“ (ebd.) klassifiziert. Dies entspricht der Charakterisierung der Ratte im chinesischen Tierkreis, der Mitte des 6. Jh. aus China nach Japan eingeführt wurde; das ihr zugehörige Element ist das auch in Tawadas Stück bedeutsame Wasser. 1912, das Jahr, in dem Kafkas Text entstand, war ein Jahr der Ratte. Zugleich sind Klugheit, Bescheidenheit, Fleiß genau die Eigenschaften, auf die sich die gegen die Europäisierung optierenden Japaner der kaikoku-Epoche als positive Selbstbeschreibung beriefen. In dieser Gestalt bewahrt Izumi Intelligenz und emotionale Wahrnehmungsfähigkeit, wie sie auch den in ein ‚Ungeziefer‘ verwandelten Gregor Samsa noch auszeichnen. Im Gegensatz zu dem unausge‐ setzt sprechenden Izume verliert jener in der negativ besetzten, ihrer Sprache beraubten Tiergestalt die Grundlage seiner menschlichen Existenz, und das heißt seine Funktion und Reputation als nützliches Mitglied eines sozialen Gefüges, und wird deshalb der Vernichtung anheimgegeben. Izumi empfindet buchstäb‐ lich körperliches und sprachliches Mitleid mit den Nöten des ins Ungeziefer verwandelten Gregor. Er spricht laut Regieanweisung die entsprechende Pas‐ sage aus Kafkas Erzählung „gebrochen, als hätten die Sätze Knochenbrüche“ (Tawada 2013: 277). Entsprechend wird von dem aus Europa nach Japan ge‐ langten ‚Landarzt‘ „eine sprachliche Krankheit“ diagnostiziert: „Die Glieder, ja diese Satzglieder gesellen sich nicht zu Ihren Gliedern“ (278), womit hier noch einmal auf die rasante Modernisierung Japans nach europäischem Vorbild an‐ gespielt wird, die aufgrund der intensiven Übersetzung von Texten aus anderen Kulturen und den damit notwendig gewordenen neuen Wortschöpfungen auch einen grundlegenden Sprachwandel initiierte. Izumis dritte Verwandlung ver‐ dankt sich dann der gezielten Intervention des ‚Landarztes‘, der Izumi mittels 166 Christine Ivanovic einer Pille in eine Figur seiner ‚eigenen‘ Kultur zurückversetzt: seinen eigenen Vorbehalten zum Trotz verwandelt sich Izumi „sofort in eine weibliche Puppe aus dem Bunraku-Theater“ (ebd.); die therapeutische Maßnahme soll ihm helfen, die Moderne „viel leichter [zu] ertragen“ (ebd.). Izumi selbst hatte die Puppe jedoch zuvor als Relikt „aus der alten Zeit“ identifiziert (ebd.). In dieser genuin japanischen Theaterform bedienen drei ‚unsichtbare‘ stumme Schauspieler eine Puppe von der Größe eines kleinen Menschen; sie entstand im 17. Jahrhundert in Osaka. In der Verwandlung Izumis in eine von anderen manipulierten Mari‐ onettenpuppe kann man einen ironischen Reflex Tawadas auf die Perzeption Japans aus westlicher Perspektive erkennen, die die Menschen hier nur in Re‐ gression auf Relikte ihrer eigenen Kultur wahrnimmt. Auch die Verwandlung in eine weibliche Figur reproduziert das Schema eines kulturhegemonialen Blicks auf eine fremde Kultur, deren (als unterlegen konzipierte) Repräsentanten nur weiblich vorgestellt werden können. Izumis Rolle und Identität geraten im weiteren Verlauf des Stückes zunehmend ins Fließen. Mal ist er eine „Kreatur“ (281), die sich mit dem verwandelten Gregor zusammen im Tanz verliert, mal übernimmt er Aufgaben von dessen Schwester (vgl. 279 f.). Dann wieder fungiert er als Erzähler von Gregors Geschichte, und zuletzt erscheint er als Zug‐ schaffner, als die Eltern aufs Land hinausfahren (vgl. 284). Dieses fließende Mo‐ ment korrespondiert den im Stück mehrfach auftauchenden Ukiyoe-Darstel‐ lungen der Edo-Zeit und dem damit einhergehenden Stereotyp der „floating world“ (vgl. Clark 2002), das ebenfalls den westlichen Blick auf Japan seit der Öffnung nachhaltig geprägt hat. Tawada thematisiert damit mehrfach (vor allem in Bezug auf Kafka und dessen literarische Figur Gregor) die Nicht-Identität mit dem Bild, aus dem die Figuren hinaussteigen können oder das ihnen als leerer Spiegel vorgehalten wird. Dies gilt zuletzt auch für Izumi selbst. Obwohl die Erzählung Kafkas im Theaterstück konsequent zu Ende erzählt, beziehungs‐ weise in einer Art von re-enactment durchgespielt wird, löst sich Izumi schritt‐ weise von seinem Vorbild. Mit dem dreifachen Gestaltwandel entwickelt er sich von einem Objekt der Verwandlung zu einem aktiv teilnehmenden Beobachter und kann sich von der Schuld- und Opferproblematik der Geschichte schließlich explizit distanzieren. Dazu gehört auch, dass in Tawadas „Kafka kaikoku“ nicht nur einzelne Passagen aus Kafkas „Die Verwandlung“ wiedergegeben werden, sondern auch Protagonisten aus weiteren Texten von Kafka („Ein Landarzt“) sowie von (dem historischen Autor) Izumi selbst ( 夜叉ヶ池 [Yasha-ga-Ike]) einbezogen werden. Als Protagonist von Tawadas Stück teilt Izumi das Ge‐ schehen um Gregor Samsa - und teilt es mit, ohne es zu bewerten. Er tritt mit den anderen Protagonisten in einen Dialog, und er stellt Fragen, die Antworten offen lassen. In dieser inneren Konsequenz und Unabhängigkeit gegenüber 167 Die radikale Übersetzung. Zur translationalen Schreibweise von Yoko Tawada seiner äußeren Gestalt unterscheidet sich Izumi deutlich von der Figur „Schein“: die Funktion der Zimmerherren in Kafkas Erzählung übernimmt in Tawadas ‚Übersetzung‘ ein Büroangestellter, der im Japanischen als „shain“ bezeichnet wird (Tawada 2013: 275). Seine Existenz wird durch den gleichlautenden deut‐ schen Namen „Schein“ geradezu entlarvt. In der Mitte des Stückes findet dann ein Austausch zwischen Izumi und Kafka / Gregor statt, in dem Autorschaft und Übersetzung zur Sprache kommen. Hier begegnen wir auch noch einmal dem Konzept von Vater oder Mutter in Bezug auf die eigene Genese bzw. die Genese des eigenen Werks; beide Bezugnahmen werden auf komplementäre Weise ad absurdum geführt (vgl. 273). Und hier stehen an zwei Stellen die japanische und die deutsche Sprache nebeneinander, ohne dass übersetzt würde: einmal in einer Passage, in der die Wasserschlange - Izumis ‚Mutter‘ (eigentlich eine Gestalt aus seiner Erzählung „Yasha-ga-Ike“) - für die Anerkennung von Nähe und Ver‐ schiedenheit plädiert (vgl. 276 f.); und einmal in einem Moment, in dem Gregor und Izumi sich über ihre neue Sprachfähigkeit austauschen und im Herstellen von Zischlauten die Worte „Zweisprachig“ und „Zweckfrei“ sinnlich-sinnlos zur Sprache bringen: GREGOR: Jetzt bin ich stolz auf die Geräusche, die ich produzieren kann. Wiederholt Zischlaute mit dem Mund und bemerkt bald, dass Izumi neben ihm steht. Können Sie das auch? Zischt weiter mit dem Mund. IZUMI: つつつつれない つつつつましい つつつつま つつつつまらない な つつつつがない毎日 つつつつらいことも つつつつかれることもな い つつつついてないな つつつつくえのうえには退職届 つつつつってや ろう大きな魚 海のないボヘミアで つつつつくえの上には原稿用紙 GREGOR: Zzzzzzzweisprachig - Zzzzzzzweckfrei - Zzzzzzzweisprachig - Zzzzzzzweckfrei - Zzzzzzzweisprachig - Zzzzzzzweckfrei - Zzzzzzzweisprachig - Zzzzzzzweckfrei - (Tawada 2013: 279) In „Kafka kaikoku“ lässt Tawada demnach in einer intralingualen Übersetzung und einer grotesk-witzigen Performance Schauspieler Kafkas „Die Verwand‐ lung“ in den Kontext jener Epoche der japanischen Geschichte übertragen, in der eine Verwandlung des Landes durch die Übernahme europäischer Denk- und Verhaltensmuster forciert wurde - es ist grosso modo die Epoche, in der Kafkas Text selbst entstanden ist. In der Engführung von sprachlichem Aus‐ druck und körperlicher Transformation war dieses Modell bei Kafka schon an‐ gelegt. Die translationale Schreibweise aber entlarvt nicht nur die Gewalt der Verwandlung / Übersetzung. Sie weist auch die dem europäischen Erzählmuster 168 Christine Ivanovic 5 Das Stück endet mit diesem Wortwechsel: „MUTTER: Wir werden einen neuen Bräu‐ tigam finden./ VATER: Wir werden einen frischen Körper finden./ MUTTER: Einen blutjungen Körper./ IZUMI: Blut? / VATER: Das ist eine Bestätigung unserer neuen Träume und guter Absichten./ Ein unbequemes Ende.“ (Tawada 2013: 284) zugrunde liegende Schuld- und Opferproblematik zurück. In der Auseinander‐ setzung mit Kafkas Text und Gregors Schicksal bleibt ein Staunen zurück, wie es sich in Izumis letzter Frage offenbart. 5 In ihrem auf Deutsch verfassten Stück, dem Translationalität auf mehreren Ebenen eingeschrieben ist, entwickelt Ta‐ wada die translationale Form zu einer Möglichkeit der Reflexion, die nicht im europäischen Diskurs dezidierter Kritik (und daraus abgeleiteter ideologischer Lehren und ihnen korrespondierender Herrschaftsansprüche) erstarrt. Dies ge‐ lingt vor allem dadurch, dass nicht ein Text als Objekt auf dem Wege der Über‐ setzung gewaltsam angeeignet wird, sei es im alternativen Modus der Einbür‐ gerung oder der Verfremdung, sondern dass das verwandelnde Potential der Übersetzung den Agenten dieses Verfahrens zurückerstattet wird: Sie sind näm‐ lich dezidiert sprechende Subjekte eines Bühnengeschehens und nicht, wie Gregor Samsa, Objekte einer Erzählung. Tawadas Transposition der „Verwand‐ lung“ in den historischen Kontext der „kaikoku“-Zeit erinnert an ihr Verfahren, die Gedichte Celans ‚auf Japanisch‘ zu lesen und ihnen dadurch ein in ihnen enthaltenes Erkenntnispotential neu abzugewinnen (vgl. Tawada 1996, 1997, 2007a). In diesem Verfahren gelingt es Tawada, ähnlich wie in ihrer Übersetzung von „Die Verwandlung“ ins Japanische, das kulturkritische Potential von Kafkas Text, das weit über die individuelle Problematik seines Protagonisten hinaus‐ weist, offen zu legen. Translationale Literatur wie sie Tawada, aber auch Au‐ toren einer jüngeren Generation wie Uljana Wolf in zunehmendem Maße ge‐ nerieren, unterläuft die Hierarchie der Nationalsprachen und -kulturen und betont anstelle der Nachträglichkeit von Original und Übersetzung die Simul‐ taneität von Sprachen und Kulturen als Abenteuer und als zu bejahende Gleich‐ zeitigkeit ihrer Verschiedenheit. Daher begegnen wir in ihren Texten immer wieder Passagen, in denen beide Sprachen nebeneinander stehen und mitei‐ nander kommunizieren können. Selbst wenn die Leser die Worte der jeweils anderen Sprache ihrer Wortbedeutung nach nicht ‚verstehen‘ können, wie das Wort ウンゲツィーファー („ungetsīfā“) in der japanischen Übersetzung oder wie die japanischen Zischlaute im Theaterstück „Kafka kaikoku“, verstehen sie dennoch was in diesem Moment sprachlich geschieht: eine ungeheuere Ver‐ wandlung oder ein ‚reines‘ Sprechen in zwei Sprachen, das ‚zweckfrei‘ ge‐ worden ist. Ohne dabei sein kritisches Potential aufzugeben, verweigert sich translationales Schreiben den hegemonialen Ansprüchen monolingualen Den‐ kens und der Versuchung nationaler Vereinnahmung von Sprachen, Texten und 169 Die radikale Übersetzung. Zur translationalen Schreibweise von Yoko Tawada 6 Vgl. Tawada (2002, 2009, 2016) für Bernofsky und Tawada (2003, 2007b, 2017, 2018) für Mitsutani. Kulturen. In hohem Maße scheint es die unserem heutigen post-nationalen kri‐ tischen Bewusstsein angemessene Schreibweise zu sein. 4 Conclusio In der literarischen Praxis wie in der öffentlichen Wahrnehmung lässt sich eine erhebliche Diskrepanz zwischen der Akzeptanz der ‚radikalen Übersetzung‘ und den nach wie vor weithin geläufigen ‚unsichtbaren‘ Formen des Übersetzens nicht leugnen. Dies wird an der Rezeption der Werke von Tawada selbst beson‐ ders deutlich. Eine ganze Anzahl ihrer Texte ist nur in einer Sprache verfasst und nie in die andere übersetzt worden. Dies betrifft gerade diejenigen Texte, die dem Prinzip der ‚radikalen Übersetzung‘ am nächsten stehen, wie zum Bei‐ spiel der nur auf Japanisch (und in englischer Übersetzung von Margret Mitsu‐ tani) vorliegende Roman Arufabetto no kizuguchi (Tawada 1993b, 1998b), der eine vollständige Übersetzung von Anne Dudens Text Der wunde Punkt im Al‐ phabet (1995) in die Romanhandlung inkorporiert. Es scheint, als ob gerade die translationale Schreibweise, die darauf abzielt das Übersetzen sichtbar zu ma‐ chen, sich der Übersetzbarkeit eher entzieht. Im Fall der auf Deutsch publizierten Texte Tawadas macht sich zudem die Tendenz bemerkbar, diese wie Originale auch dann zu lesen, wenn unübersehbar darauf verwiesen wird, dass es sich um Übersetzungen handelt. Die meisten von ihnen stammen von dem Japanologen Peter Pörtner, so auch ihr zuletzt auf Deutsch erschienenes Buch Sendbo-o-te (Tawada 2018b). Im Gegensatz zu Tawadas Übersetzerinnen ins Englische (Susan Bernofsky aus dem Deutschen und Margaret Mitsutani aus dem Japani‐ schen 6 ) ist Pörtner nie durch entsprechende Auszeichnungen anerkannt, noch ist seine umfangreiche Übersetzungsleistung je wissenschaftlich diskutiert worden. Bis heute ist Pörtner ein im klassischen Sinne ‚unsichtbarer‘ Übersetzer der Werke Tawadas geblieben. Des Weiteren ist zu bemerken, dass die Texte, in denen Tawada die Begegnung der beiden Sprachen am intensivsten gestaltet - wie etwa in dem in zwei Sprachen agierenden Theaterstück Till (Tawada 1998a) - zu den am wenigsten rezipierten Texten ihres Gesamtwerks gehören, während jenes Buch, in dem Tawada kaum auf das Übersetzen Bezug zu nehmen scheint, ihr Roman Etüden im Schnee (2014), der am häufigsten übersetzte Text ihres gesamten Werks geworden ist. Alle bisherigen Übersetzungen dieses Bu‐ ches aber beruhen, soweit ich sehe, nicht auf dem japanischen ‚Original‘ (vgl. Tawada 2011), sondern auf Tawadas späterer Selbstübersetzung vom Japani‐ 170 Christine Ivanovic schen ins Deutsche (vgl. Tawada 2014). Es mag hier offen bleiben, in welchem Maße diese Übersetzungen ‚die Leserschaft bedienen‘. Zweifellos sind die vielen Übersetzungen anderer, in denen die Werke Tawadas u. a. auf Deutsch, auf Eng‐ lisch, auf Französisch (Bernard Banoun) vorliegen, anerkennenswerte sprach‐ liche Leistungen sui generis. Sie tragen zur steigenden Popularität der Autorin bei und sollten immer als solche genannt und evaluiert werden. Tawadas ‚radi‐ kale Übersetzungen‘ hingegen bleiben in der Gesamtwahrnehmung immer noch im Hintergrund - dies selbst dann, wenn sie das Übersetzen auf der Bühne im performativen Akt sichtbar machen oder, wie das Theaterstück „Kafka kaikoku“, die sprachliche Transformation karnevalisieren. Sie vermögen jedoch ‚den Pro‐ zess der Übersetzung als künstlerischen Akt‘ überzeugend darzustellen und bergen ein erhebliches kulturkritisches Potential. 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Zur translationalen Schreibweise von Yoko Tawada Poetologien der Übersetzung - Übersetzung und Multilingualität innerhalb deutschsprachiger Literaturen * Der vorliegende Beitrag geht zum Teil auf Sepp (2018) zurück. Sprachreflexivität und Kulturtransfer: Übersetzung als hermeneutische Denkfigur bei Yoko Tawada und Emine Sevgi Özdamar * Arvi Sepp, Vrije Universiteit Brussel 1 Translationsfiktion und Sichtbarkeit des Übersetzens Dieser Beitrag untersucht die Sichtbarkeit der Übersetzung sowie des Überset‐ zers in der Prosa von Yoko Tawada und Emine Sevgi Özdamar. Die Texte der Autorinnen werden hinsichtlich der metaphorischen Ausgestaltung sprachli‐ cher und kultureller Dislokation analysiert. Insbesondere soll im Folgenden auf die Topoi des ‚Übersetzers‘ und der ‚Zunge‘ als ebenso wirkungsvolle wie kom‐ plexe Bilder eingegangen und dabei die Interaktion globaler und lokaler Ein‐ flussfaktoren dargestellt werden. ‚Übersetzung‘ als eine zentrale hermeneuti‐ sche Denkfigur spielt in Tawadas und Özdamars Translationsfiktionen eine zentrale Rolle, indem die Übersetzung als analytische Kategorie, theoretisches Konzept und sprachliche Praxis die Verfasstheit und Interpretationsvielfalt des literarischen Textes in den Blick rückt: „Überall dort, wo Übersetzung literarisch dargestellt wird, geht es um die zentralen Fragen (und die Bedingungen der Möglichkeit) des Lesens, des Schreibens, des Erfassens und des Verfassens von Texten.“ (Babel 2015: 29) Die Sichtbarmachung des Übersetzens und der sprach‐ lichen Befremdlichkeit im literarischen Text bringt sowohl die Agentialität des Übersetzers als auch die Hermeneutik der Übersetzung zum Ausdruck. In An‐ betracht der Dekonstruktion des Paradigmas individueller Selbstidentität sowie des Konzepts monolingualer Authentizität werden die Protagonisten in den Texten Tawadas und Özdamars als Übersetzer von Heterogenität dargestellt. Im literarischen Werk der Autorinnen, ebenso wie in dem anderer transkultureller Autoren, steht Mobilität, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne, im Mittel‐ punkt ihres Konzepts der Übersetzung. Dieser räumliche Aspekt der Überset‐ 1 Für weitere Erläuterungen im Zusammenhang mit räumlicher Dislokation und kultur‐ eller Translingualität in Tawadas Überseezungen vgl. Humblé und Sepp (2014). zung wird auch in einem berühmten Zitat von Salman Rushdie aus Imaginary Homelands hervorgehoben: The word ‚translation‘ comes, etymologically, from Latin for ‚bearing across‘. Having been borne across the world, we are translated men. […] [Migrant writers] are capable of writing from a kind of double perspective: because they, we, are at one and the same time insiders and outsiders of this society. (Rushdie 1992: 17-19) Übersetzung wird aufgefasst als eine Sequenz, die sich aus sprachlichen Prak‐ tiken und der existentiellen Situation eines Migranten im Zusammenhang mit einer Dislokation ergibt. So wurde Rushdies Definition der „translated men“ (17) mit ihrer „stereoscopic vision“ (19) zu einem ikonischen Bild für Mobilität, Fort‐ bewegung und Schnelllebigkeit in der heutigen Zeit und die damit verbundenen Folgen für die individuelle und kollektive Identität. Susan Bassnett verdeutlicht in „Constructing Cultures: The Politics of Tra‐ vellers’ Tales“ (1993) sowohl die Ähnlichkeit als auch die Doppeldeutigkeit der Begriffe Übersetzung und Mobilität, die beide innerhalb räumlicher Praktiken den Transfer von Gesinnungen und Menschen erfordern (vgl. Polezzi 2006). Reisende, ebenso wie Übersetzer, verbinden Neues mit Vertrautem. Letztendlich jedoch sind weder Reisende noch Übersetzer in der Lage, in ihren Geschichten und Übersetzungen als verlässliche Führer und Vermittler zu schreiben - oder besser gesagt zu fungieren. 2 Yoko Tawada und die Körperlichkeit des Übersetzens Yoko Tawada ist eine zweisprachige japanisch-deutsche Autorin, die 1960 in Japan geboren wurde und in Berlin lebt und arbeitet. Wichtige Werke sind Wo Europa anfängt (1991), Überseezungen (2002) und Das nackte Auge (2004). Die dominierenden Aspekte ihres Schaffens drehen sich um die philosophische De‐ konstruktion von Sprache und Identität. 1 Für ihr kreatives und kritisches lite‐ rarisches Werk erhielt sie - neben vielen anderen Auszeichnungen - im Jahre 1996 den renommierten Adelbert-von-Chamisso-Preis, der in Deutschland an ausländische Schriftsteller in Anerkennung ihres Beitrags zur deutschen Kultur verliehen wird. Tawadas Werk spiegelt sowohl unterschiedliche mögliche Be‐ ziehungen zur deutschen Kultur als auch zu den kulturellen, literarischen und historischen Kontexten Japans. Die literarische Bedeutung von Überseezungen ist nicht nur in Bezug auf einen einzelnen regionalen oder nationalen Raum der 178 Arvi Sepp Zugehörigkeit zu sehen. So kann Überseezungen auf zwei Arten verstanden werden: Als Zusammensetzung aus ‚Übersee‘ und ‚Zungen‘ bezieht sich der Be‐ griff auf das Interesse an fremden Sprachen und Orten. Das Wort ‚Zungen‘ ar‐ tikuliert zudem die physische Verbindung zwischen Sprache und Körper, zwi‐ schen Wort und Klang. Die zweite Interpretation des Begriffs basiert auf der phonetischen Nähe zu Übersetzungen. In Tawadas Prosawerk wird Sprache als ein Raum dargestellt, der Reisen und Subjektivität ermöglicht (vgl. Kraenzle 2007: 92). Reisen und das Sprechen fremder Sprachen ergänzen sich somit. Bei‐ spielsweise wird für die weibliche Protagonistin in Überseezungen das Flugzeug als heterotopischer Raum zu einer Pforte zu fremden Orten und Sprachen. Ta‐ wada schreibt: Wenn ich im Flugzeug sitze, habe ich keinen Raum für Körperbewegungen. Mein Rücken wird steif, die Füße und Waden schwellen an, das Steißbein sitzt nicht mehr richtig und die Haut trocknet aus. Nur die Zunge wird immer feuchter und elastischer. Sie bereitet sich auf die Begegnung mit einer Fremdsprache vor. (Tawada 2002: 115) Die Aneignung einer neuen Sprache wird nicht nur als eine Reise, sondern auch als eine sprachliche Metamorphose beschrieben (vgl. Kraenzle 2007: 98). Vokale und Zeichen durchdringen den Körper regelrecht und transformieren so das sprechende Subjekt: Was macht man, wenn man von fremden Stimmen umgeben ist? Einige Menschen versuchen bewußt oder unbewußt, ihre Stimme der neuen Umgebung anzupassen. Tonhöhe und Lautstärke werden korrigiert, der neue Sprachrhythmus wird nachge‐ ahmt und auf das Ein- und Ausatmen geachtet. Jeder Konsonant, jeder Vokal und vielleicht auch jedes Komma durchlaufen die Fleischzellen und verwandeln die spre‐ chende Person. (Tawada 1998: 8) Überseezungen artikuliert die radikale multikulturelle Erfahrung von Körper‐ lichkeit in einer Situation zwischen Sprachen und Kulturen. Tawada schreibt Wörtern Substanz zu und evoziert eine physische Empfindung. Zum Beispiel wird in „Eine leere Flasche“ das Wort „atákushi“, das japanische Pronomen der ersten Person Singular zur Anzeige eines privilegierten sozialen Status, synäs‐ thetisch assoziiert mit dem Duft von Zypressenholz, der für Wohlstand und Annehmlichkeit steht (vgl. Kraenzle 2007: 99). In ihrem Aufsatz „Wolkenkarte“ werden die engen Beziehungen zwischen regionalen Dialekten, Geographie und Zugehörigkeit in den Vordergrund gestellt (vgl. 101). Während eines Aufenthalts in Basel wird die Erzählerin gefragt, ob sie ein Velo (Schweizerdeutsch für ‚Fahrrad‘) habe. Dieses Wort löst eine Reihe von Reflexionen und Assoziationen in Bezug auf die Frage der Zugehörigkeit aus 179 Sprachreflexivität und Kulturtransfer: Übersetzung als hermeneutische Denkfigur 2 Auch in Gloria Anzaldúas Erzählung „How to Tame a Wild Tongue“ stellt die Zunge einen Ort der kulturellen und individuellen Freiheit und des Widerstands gegen die Assimilation dar. Während eines Zahnarztbesuchs scheint die Zunge der Protagonistin als autonomes Wesen zu funktionieren, das sich den Regeln und ständigen Forderungen des Zahnarztes, still zu sein, widersetzt: „‚We’re going to have to do something about your tongue‘, I hear the anger rising in his voice. My tongue keeps pushing out the wads of cotton, pushing back the drills, the long thin needles. ‚I’ve never seen anything as strong or as stubborn‘, he says. And I think, how do you tame a wild tongue, train it to be quiet, how do you bridle and saddle it? How do you make it lie down? “ (Anzaldúa 1987: 53). Wie in Şenocaks Buchtitel Zungenentfernung (2001) bezeichnet Anzaldúa das lateinamerikanische Volk, das mit der symbolischen Abwertung seiner Sprache und Kultur in den Vereinigten Staaten konfrontiert ist, als „deslenguadas“, „tongueless per‐ sons“ (Anzaldúa 1987: 58). Ich war erschrocken, denn „Velo“ klingt fast genauso wie ein japanisches Wort, das „Zunge“ bedeutet. Haben Sie eine Zunge? Das ist eine wichtige Frage. Haben Sie die Zunge, die man braucht, um hierher zu gehören? Nein, habe ich nicht. Denn meine Zunge kann die Wörter nicht so aussprechen wie die Zunge der Einheimischen. (Ta‐ wada 2002: 52) Sprachen können ein Gefühl der Zugehörigkeit schaffen, können aber ebenso Menschen ausgrenzen, indem sie ihnen den Zugang verwehren. Gleich zu Be‐ ginn wird in Überseezungen deutlich, dass die Geschichten von einer Erzählerin ausgehen, deren Übersetzungen keinen fixen Punkt haben: Mutter- und Fremd‐ sprache modifizieren sich ständig gegenseitig durch physische Bewegungen der Zunge, einem Organ ohne Knochen oder feste Substanz. Der scheinbar offen‐ sichtliche Unterschied zwischen Mutter- und Fremdsprache wird von Tawada konsequent in Frage gestellt. In Zungenentfernung (2001) hebt der deutsch-tür‐ kische Autor Zafer Şenocak ebenfalls die Anpassungs- und Veränderungsfähig‐ keit der Zunge hervor: „Wenn man eine fremde Sprache lernt, verkleidet man seine Zunge.“ (Şenocak 2001: 9) Sprachliche und kulturelle Identität sind dem‐ nach nicht als festumrissene Entitäten zu verstehen, sondern vielmehr als form‐ bare und bewegliche Aspekte des Einzelnen oder einer Gemeinschaft. 2 Ähnlich verhält es sich in Tawadas Erzählung „Zungentanz“. Hier reicht be‐ reits eine Bewegung der Zunge aus, um Übersetzen auszulösen, was jedoch nicht unproblematisch ist, da hiermit auch Verlust und Interferenz verbunden sind. Der Text zeigt „die körperlichen Auswirkungen auf den Übersetzer beim Über‐ setzen nach Bedeutung“ (Anderson 2010: 52). Die Zunge verlangt ständig nach neuem Raum. Das Ich wird zu einer Zunge umgeformt, zu einem Symbol der Transkulturalität: Wenn ich aufwache, ist meine Zunge immer etwas geschwollen und viel zu groß, um sich in der Mundhöhle bewegen zu können. Sie versperrt mir den Atemweg, ich spüre 180 Arvi Sepp einen Druck auf meinen Lungen. Wie lange noch dieses Ersticken? frage ich mich, und schon schrumpft sie. Meine Zunge erinnert mich dann an einen verbrauchten Schwamm, steif und trocken zieht sie sich langsam in die Speiseröhre zurück, dabei nimmt sie meinen ganzen Kopf mit. (Tawada 2002: 9) Die Zunge wird schließlich zu einer physischen Metapher für das Übersetzen von Bedeutung und diese wiederum zu einem zentralen Teil des allophonen Selbst und seiner Subjektivität. Laut Susan C. Anderson verändern Tawadas Übersetzungen vom Deutschen zurück ins Deutsche immer den Körper der Übersetzerin in irgendeiner Weise, was auf die Verschachtelung der Subjekti‐ vität im Netz der Bedeutungszuschreibung hinweist (vgl. Anderson 2010: 66). Die Erzählerin von Tawadas Geschichten in Überseezungen hat sich in Deutsch‐ land immer fremd gefühlt, da sie dort „immer als eine Fremde betrachtet [wurde], die die Sprache der Einheimischen von außen antastet“ (Tawada 2002: 109), auch wenn sie immer wieder betont, dass Sprache und Kultur übernommen und verinnerlicht werden können: „Ich war also ins Japanische hineingeboren worden, wie man in einen Sack hineingeworfen wird. Deshalb wurde diese Sprache für mich meine äußere Haut. Die deutsche Sprache jedoch wurde von mir hinuntergeschluckt, seitdem sitzt sie in meinem Bauch.“ (103) Genau dieses Dazwischen möchte Tawada in ihrem literarischen Werk be‐ wusst machen. Die Authentizität von Gefühlen und Gedanken ist nicht an eine Muttersprache gebunden. Tawada hebt nachdrücklich hervor, dass „das Gefühl oder Leben oder das Geschriebene auch in der Muttersprache etwas anderes ist. Daß dazwischen so eine Kluft ist, wo man auch hineinfallen kann. Und dieser Zwischenraum ist für mich sehr wichtig.“ (Tawada zit. in: Dittberner 1994: 197) Entsprechend zeichnet sich der Übersetzer als maßgeblicher Akteur des Inter‐ kulturellen aus. Jhumpa Lahiri, die amerikanisch-bengalische Autorin von In‐ terpreter of Maladies: Stories of Bengal, Boston and Beyond (1999), definiert das Konzept der Übersetzung ebenfalls als geeignetes Mittel, um dem Anderen und dem Fremden Sinn zu verleihen: „Almost all of my characters are translators, insofar as they must make sense of the foreign to survive.“ (Lahiri 1999: 120) Tawadas Gefühl der Zugehörigkeit kann als eine komplexe Wahrnehmung von Ort verstanden werden, die durch die Verknüpfung einer Vielzahl von Lo‐ kationen entsteht. Überseezungen überwindet das Trennende zwischen Deutsch‐ land und Japan und erweitert durch die Betonung der Mehrsprachigkeit den geographischen und sprachlichen Geltungsbereich der vierzehn Texte in drei verschiedenen Abschnitten: „Euroasiatische Zungen“, „Südafrikanische Zungen“ und „Nordamerikanische Zungen“. Auf diese Weise wird deutlich, dass Tawada den dominierenden Ost-West-Schwerpunkt um eine Nord-Süd-Achse ergänzt (vgl. Yildiz 2007: 83). Jede Titelseite der vierzehn Aufsätze zeigt schwar‐ 181 Sprachreflexivität und Kulturtransfer: Übersetzung als hermeneutische Denkfigur zweiße Papierschnipsel / fetzen jeweils in Form der im Text behandelten geo‐ graphischen Region mit darauf verstreuten maschinengeschriebenen Schrift‐ zeichen fremder Alphabete (vgl. Kraenzle 2007: 92). Die Struktur des Buches spiegelt zusammen mit den graphischen Darstellungen die dominierenden Themen von Überseezungen wider: Sprache, Übersetzung, Dislokation und das verkörperte Selbst. Die visuelle Hervorhebung der Materialität des Textes ist vor diesem Hintergrund zugleich auch eine Sichtbarmachung der transkulturellen Grundstruktur von Tawadas Schreiben. In einem längeren Text mit dem Titel „Bioskoop der Nacht“ betont Tawada die Dislokation von Sprache, nationaler Identität und Subjektivität. Sie wechselt bruchstückhaft zwischen der Beschreibung surrealer Träume und ihrem Ver‐ such zu ergründen, in welcher Sprache sie träumt, hin und her. Die Erzählerin, eine in Deutschland lebende Japanerin, ist perplex, als eine vollkommen Fremde kommentiert: „Man träumt doch in der Sprache des Landes, in dem die Seele wohnt“ (Tawada 2002: 70). Es wird davon ausgegangen, dass im Traum unbe‐ wusst die wahre Seele des Einzelnen zum Vorschein kommt, indem Sprache, Staat und Nation miteinander verknüpft werden. Die Tatsache jedoch, dass die Sprache im Traum weder Deutsch noch Japanisch ist, sondern Afrikaans, er‐ scheint besonders aufschlussreich, da die binäre Verbindung von Deutsch und Japanisch hierdurch aufgelöst wird. Die Erzählerin weigert sich, ihre Identität auf eine Lokation oder eine Sprache zu reduzieren, indem sie betont: „Ich habe viele Seelen und viele Zungen.“ (ebd.) Da das Afrikaans jedoch immer noch mit dem Apartheidregime assoziiert wird, eröffnet es keine geeignete Alternative als third space. Vielmehr erzeugt diese Sprache weitere Reflexionen bezüglich Rassismus und Kolonialismus, aber auch zu der Art und Weise wie Japan auf‐ grund seiner Unterstützung des Apartheidregimes mit Rassismus in Zusam‐ menhang gebracht wurde. Obwohl das Afrikaans mit Apartheid in Verbindung steht, bietet es gleichfalls Raum für Heterogenität, wurde doch das Niederlän‐ dische als Ursprungsprache wesentlich vom Xhosa, Englischen, Deutschen, Ma‐ laiischen und Portugiesischen beeinflusst (vgl. Yildiz 2007: 83-84). Tawada dekonstruiert sowohl die romantische Vorstellung von Einsprachig‐ keit als Grundvoraussetzung für eine harmonische nationale Identität als auch die einsprachige Identität des erzählenden Subjekts. Sie stellt sich gegen die Annahme einer ‚wahren‘ Subjektivität und engen Bindung des Einzelnen an eine bestimmte Sprache als notwendige Voraussetzung der Selbstreflexion. Auf ähnliche Weise wird die Kategorisierung von Literatur anhand nationaler Grenzen kritisiert. Die deutsch-japanischen Bezugspunkte werden eher de‐ konstruiert als hervorgehoben. 182 Arvi Sepp In ihrem Essay „Das Tor des Übersetzers oder Celan liest Japanisch“ sieht Tawada Übersetzung als hermeneutisches Mittel, das es ermöglicht, einen lite‐ rarischen Text auf unterschiedliche Weise zu betrachten und zu interpretieren. Beim Lesen der japanischen Übersetzung von Paul Celans Gedicht „Leuchten“, auf das sie der deutsche Akademiker Klaus-Rüdiger Wöhrmann aufmerksam machte, werden ihr Merkmale des Japanischen bewusst und kommt sie zu dem Schluss, dass Celans Gedichte „ins Japanische hineinblicken“ (Tawada 1996: 125). Übersetzung ist daher nicht als direkte Transposition eines Textes von einer Sprache A in eine Sprache B zu sehen, vielmehr macht Übersetzung eine höchst unterschiedliche Sprache sichtbar, die bis dahin weder in der Ausgangsnoch in der Zielsprache wahrgenommen wurde (vgl. Brandt / Schyns 2010). Diese Sichtbarkeit einer unterschiedlichen, verdeckten Sprache geht auf das spezifische Interpretations- und Wahrnehmungsmuster des Übersetzers zurück und führt seine Agentialität vor Augen. In der akteurorientierten Übersetzungs‐ wissenschaft rücken somit die kulturelle Vermittlungsfunktion und ideologische Präsenz des Übersetzers vermehrt in den Fokus: „[T]he figure of the subservient translator has been replaced with the visibly manipulative translator, a creative artist mediating between cultures and languages.“ (Bassnett 2000: 9) In dieser Vermittlerposition übernimmt der Übersetzer die gesellschaftspolitische Auf‐ gabe, in der Übersetzung „selbst ethisch sichtbar zu werden“ (Stolze 2003: 126). Die ethische Bedeutsamkeit der Spannung zwischen Sichtbarkeit und Unsicht‐ barkeit des Übersetzers bezeichnet zugleich auch eine Spannung zwischen dar‐ gestellter Identität und Nicht-Identität der Kulturen. Anselm Haverkamp be‐ hauptet vor diesem Hintergrund, Übersetzung sei „die Agentur der Differenz, welche die trügerische Identität von Kulturen sowohl schafft, als auch sie im Zwiespalt ihrer ursprünglichen Nicht-Identität erneuert und vertieft.“ (Haver‐ kamp 1997: 7) Weder Übersetzung noch das translatorische Schreiben Tawadas fungieren daher bloß als Brücke zwischen einem Hier und einem Dort, sondern als enga‐ giertes Zeichen kultureller Änderbarkeit. Die Verarbeitung sprachlicher Diffe‐ renzen in der Literatur bedeutet oft zugleich auch die Demontage einer natio‐ nalstaatlichen Sprachideologie und die Hervorhebung sprachlich-kultureller Grenzüberschreitungen im Text. In Gilles Deleuzes und Félix Guattaris Kafka. Pour une littérature mineure (1975) wird zum Beispiel darauf hingewiesen, wie Kafka, als deutschsprachiger Prager Jude, in seinen literarischen Texten fremd‐ sprachliche - tschechische, jiddische - Elemente aufnimmt. Vor dem Hinter‐ grund des Ersten Weltkriegs und des Nationalismus in Europa wird auch in der historischen Avantgarde die Verbindung von Nationalsprache und Kollektiv‐ identität radikal in Frage gestellt (vgl. Sepp 2017: 56). 183 Sprachreflexivität und Kulturtransfer: Übersetzung als hermeneutische Denkfigur Die Verbindung von Fremdheit und Eigenheit in jeder Sprache wird bis heute von vielen transkulturellen Autor*innen hervorgehoben, wie beispielsweise auch von Herta Müller. In Heimat ist das, was gesprochen wird (2001) stellt Müller dar, wie gerade die ‚eigene‘ Sprache prinzipiell von ‚fremden‘ Elementen durch‐ setzt ist: „Es tut keiner Muttersprache weh, wenn ihre Zufälligkeiten im Geschau anderer Sprachen sichtbar werden. Im Gegenteil, die eigene Sprache vor die Augen einer anderen zu halten, führt zu einem durch und durch beglaubigten Verhältnis, zu einer unangestrengten Liebe.“ (Müller 2001: 21) Myriam Suchet unterstreicht in diesem Zusammenhang, dass mehrsprachige Literatur die un‐ reflektierte Selbstverständlichkeit von Begriffen wie kulturelle ‚Authentizität‘ und zwischensprachliche ‚Äquivalenz‘ radikal unterwandert: „[T]he focus on multilingual texts […] has blown apart the traditional dichotomy of source text versus target text, as well as many other structural notions such as fidelity and equivalence.“ (Suchet 2009: 151) Die ausgeprägte Sprachreflexivität in der mehrsprachigen Literatur, die mit der einer Betonung der fundamentalen Polysemie sprachlicher Äußerungen einhergeht, hat insoweit eine ethische Dimension, als dass sie die Mehrgleisig‐ keit des Denkens und somit auch die Vielfältigkeit menschlichen Zusammen‐ lebens vor Augen führen kann (vgl. Sepp 2017: 58). In der Sprachkritik, wie man sie beispielsweise bei Autoren wie Yoko Tawada oder Philosophen wie Jacques Derrida vorfindet, wird die Vorstellung von Sprache als ‚Besitz‘ immer wieder neu ad absurdum geführt. Jenseits des ‚Einsprachigkeitsparadigmas‘ spricht Ya‐ semin Yildiz in Beyond the Mother Tongue (2012) von einer „postmonolingual condition“, in der man sich derzeit befinde. In Le monolinguisme de l’autre (1996) stellt Derrida im Begriff ‚Muttersprache‘ den Bezug zwischen Geburt und Blut auf der einen Seite und Sprache auf der anderen Seite in Frage. Wenn das Fremde jeder Sprache prinzipiell eingeschrieben ist, dann ist demzufolge jede Sprache bereits eine Übersetzung, „keine ursprünglich natürliche, sondern eine ur‐ sprünglich kultivierte, überbaute Sprache“ (Haverkamp 1997: 9). Diese Wertschätzung der sprachlichen Diversität und die Betonung der mul‐ tilingualen Poetik der transkulturellen Literatur wird von Feridun Zaimoglu indes aufs Korn genommen. In der Rezeption wird die in Kanak Sprak verwen‐ dete ungrammatische, unidiomatische ‚Zwischensprache‘ oft als ethisch-politi‐ sche Chiffre und Aufforderung zur Toleranz und Empathie aufgefasst. Das Ver‐ langen des Lesers nach exotischer ‚Authentizität‘ und ‚Wahrhaftigkeit‘ wird von Zaimoglu radikal abgelehnt, weil auf diese Weise seinen literarischen Texten die Autonomie aberkannt werde: Die ‚besseren Deutschen‘ sind von diesen Ergüssen ‚betroffen‘, weil sie vor falscher Authentizität triefen, ihnen ‚den Spiegel vorhalten‘, und feiern jeden sprachlichen 184 Arvi Sepp 3 Der deutsch-türkische Schriftsteller Aras Ören hingegen sieht die transkulturelle Lite‐ ratur als eine Art Brücke zwischen den Kulturen. Dabei betont er noch deutlicher ihre Funktion als third space, in dem die Brücke eine eigenständige Realität erhält. Dennoch ist die Brücke kein Fixpunkt, keine utopische Metapher für ein unmittelbares gegen‐ seitiges Verständnis (vgl. Ören, zit. in: Cumart 1995: 171). Schnitzer als ‚poetische Bereicherung ihrer Mutterzunge‘. Der Türke wird zum Inbe‐ griff für Gefühl, einer schlampigen Nostalgie und eines faulen ‚exotischen‘ Zaubers. (Zaimoglu 2004: 11) Vor diesem Hintergrund erteilt auch Yoko Tawada dem von Lesern und Litera‐ turkritikern vorgebrachten Wunsch nach der Bildung einer direkten multikul‐ turellen Brücke zwischen Europa und dem Fernen Osten eine Absage. Sie de‐ konstruiert stattdessen den Ausdruck „eine Brücke schlagen“, indem sie mit den hiermit assoziierten Bildern spielt und auf diese Weise die Eigenständigkeit und Literarizität ihrer deutsch-japanischen Texte unterstreicht: Der Ausdruck „eine Brücke schlagen“ erschreckt mich. Das Ufer, auf dem ich stehe, wird plötzlich zu einer Hand, die eine gegen das andere Ufer gerichtete Keule hält. Es wird dadurch zu einer Bindung gezwungen. Die Bindung erinnert mich an einen Bin‐ destrich. Deutsch-Französisch. Er ist kein Zauberstab, mit dem man das erste und das zweite Wort in ein drittes verwandeln kann. Wenn ich mit mir selbst rede, tritt ver‐ sehentlich ein Buchstabe an die Stelle eines anderen. Eine Brücke oder eine Blücke? Weil die Zunge zu weich ist, hört sich das Wort anders an, als es aussieht. Wie sieht ein Wort überhaupt aus? Es gleicht einer Lücke unter einer Brücke. Unter der Brücke schläft der Fluß in Bewegung. Dort treffe ich Menschen und frage sie: Wollen wir uns ans Ufer setzen und eine Lücke ins Wörterbuch schlagen? Wollen wir eine Lücke aufschlagen wie ein Buch? Oder wollen wir einen schwimmenden Weg bauen? (Ta‐ wada 2003: 65) 3 Aus Tawadas Sicht kann transnationale Literatur nicht auf den zeichenhaften Ausdruck einer (ethnokulturellen) Kollektivität reduziert werden, was sie durch die kritische Dekonstruktion des deutsch-japanischen Gegensatzpaares durch‐ gängig vor Augen führt. Michaela Wolf betont, dass die Übersetzung das Fehlen eines Eins-zu-Eins-Verhältnisses zwischen Ausgangs- und Zielkultur und somit auch die Einzigartigkeit und Fremdheit jeder einzelnen Sprache offensichtlich macht, die somit die Bildlichkeit der „Brücke zwischen Kulturen“ für unange‐ messen erscheinen lassen: „Die Sicht von Übersetzung als ‚Brücke zwischen Kulturen‘ gerät […] ins Wanken bzw. wird obsolet, findet doch […] der über‐ setzerische Transfer zwischen Kulturen statt, die bereits in sich kontaminiert sind.“ (Wolf 2008: 77) Aus der Bedeutung des Titels Überseezungen lässt sich 185 Sprachreflexivität und Kulturtransfer: Übersetzung als hermeneutische Denkfigur bereits ableiten, dass die Dualität von Sprache und Mobilität im gesamten Werk Tawadas spürbar ist. Auch wenn geographische Grenzen in immer zuneh‐ mendem Maße unbedeutend erscheinen mögen, so zeigt sie doch, wie kulturelle und sprachliche Grenzen intakt bleiben (vgl. Kraenzle 2007: 107). In ähnlicher Weise wird die ethnische Kategorisierung der transkulturellen Literatur in Deutschland von dem türkisch-deutschen Schriftsteller Güney Dal radikal unterwandert, indem er explizit zu erkennen gibt, er sei „keine Brücke“ zwischen der Türkei und Deutschland. Er protestiert auf diese Weise gegen eine literaturkritische sowie -wissenschaftliche Rezeption, die die Singularität und Literarizität seiner Werke außen vor lasse und statt dessen den gesellschafts‐ politischen Impuls seiner Texte hervorhebe (vgl. Broder 2000: 34). So verweigert sich dieser einer Rezeption, die die Einzigartigkeit der Literarizität seines Werks nivelliert. Yoko Tawada und Güney Dal weisen eine Hermeneutik transkultureller Li‐ teratur zurück, die sich ausschließlich an ‚Fragen der Zugehörigkeit‘ ausrichtet auf Kosten der Literarizität und Einzigartigkeit ihrer Texte. Die ethische Di‐ mension einer Hermeneutik translingualer Literatur darf in diesem Zusammen‐ hang nicht unterschätzt werden. So konstatiert Rita Wilson, dass der utopische Horizont von Texten von Autoren wie Özdamar und Tawada auf den Facetten‐ reichtum der Gesellschaft und die Fruchtbarkeit der métissage hindeuten: „The function of translingual literature is not primarily a pragmatic, but an aesthetic and an ethical one. Its aim is more symbolic than realistic: it symbolizes the variety, the contact and the crossing of cultures and languages“ (Wilson 2011: 244-245). 3 Emine Sevgi Özdamar und Migration als Übersetzung Emine Sevgi Özdamar wurde 1946 in Anatolien geboren und wuchs in Istanbul auf. Mit Anfang zwanzig arbeitete sie zwei Jahre lang am Fließband einer Fabrik in Berlin und besuchte während einer zwischenzeitlichen Rückkehr nach Is‐ tanbul die Schauspielschule. 1976 wurde sie schließlich dauerhaft in Deutsch‐ land ansässig und war für einige Zeit an der Ost-Berliner Volksbühne engagiert, bevor sie ihre Ausbildung in Düsseldorf fortsetzte. Ihre Kindheit und Jugend in der Türkei sowie ihr Leben in Deutschland als Türkin waren prägend für ihr literarisches Oeuvre, für das sie 1991 mit dem renommierten Ingeborg-Bach‐ mann-Preis und 1999 mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis ausgezeichnet wurde. In Özdamars Erzählband Mutterzunge (1990) wird ‚Übersetzen‘ zu einem ebenso kraftvollen wie komplexen Bild eines ‚Dialogs‘ zwischen türkischen und 186 Arvi Sepp 4 Die Beziehung zwischen Übersetzung und Überleben lässt sich auch in Demetria Mar‐ tínez’ Werk Mother Tongue (1994) beobachten, in dem sich die Protagonistin, die Chicana Mary, die sich von ihrer lateinamerikanischen Familienkultur entfremdet hat, in einen illegalen Einwanderer aus El Salvador, José Luis, verliebt, dank dem sie Spanisch lernt. Sie übersetzt offizielle Dokumente, um ihm zu helfen zu überleben. deutschen kulturellen Elementen. Nach Auffassung Şenocaks erschließt die der transkulturellen Literatur inhärente kommunikative Konversationsethik die Möglichkeit eines Sich-Verstehen-Könnens, die maßgeblich ist für das Konzept der Übersetzung: „Jedes Gespräch, das mehr sein möchte als ein Zusammen‐ treffen von Monologen, ist Übersetzung“ (Şenocak 2011: 17). Der Eröffnungssatz von Mutterzunge wird als eine translinguale Übersetzung verstanden, wobei das deutsche Wort „Sprache“ als Übersetzung aus dem Türkischen wiederum zur „Zunge“ wird. Sprachen und Kulturen „rotieren“ auf unterschiedliche Weise, wie Özdamar in ihrer Bewegungsmetapher darstellt, was zudem an einen be‐ stimmten geographischen Kontext gebunden ist: „Ich saß mit meiner gedrehten Zunge in dieser Stadt Berlin.“ (Özdamar 1990: 7) Die Person des Übersetzers bringt die Hybridität des übersetzenden Schreibens zum Ausdruck. In Die Brücke vom Goldenen Horn (1998) arbeitet die Protagonistin während ihres zweiten Aufenthalts in Deutschland bei Siemens und übersetzt die Arbeitsaufträge oder besser gesagt Arbeitskommandos der deutschen Vorgesetzten. 4 Während sie übersetzt, verändert sie jedoch den Be‐ fehlston der Anweisungen und formuliert neutraler: Ein deutsches Wort war mir zu hart: müssen. Deswegen übersetzte ich „Sie müssen das und das machen“ den Arbeitern mit „Ihr werdet das und das machen“. Aber wenn der Meister mich fragte: „Haben sie ihnen gesagt, dass sie den Hebel nur leicht ziehen müssen? “, antwortete ich ihm in Deutsch: „Ja, ich habe ihnen gesagt, dass sie den Hebel nur leicht ziehen müssen.“ Das Türkische konnte ich von dem Wort „muss“ trennen, die deutsche Sprache nicht. (Özdamar 1998: 113) Bei der Rückübersetzung vom Türkischen ins Deutsche gibt die Protagonistin vor, die Anweisungen des Vorarbeiters wörtlich übersetzt zu haben. Die Rück‐ übersetzung in diesem Beispiel ist als Selbstschutz zu verstehen und zugleich als subversiv, da hierdurch die ursprüngliche Aussage infrage gestellt wird. Der Satz „Das Türkische konnte ich von dem Wort ‚muss‘ trennen, die deutsche Sprache nicht“ veranschaulicht, dass durch das Hinterfragen des Originals während des Reproduktionsprozesses ein freier Raum in der Übersetzung geschaffen werden kann. Durch diesen Raum werden die Schroffheit der Arbeitssituation und die zwingende Wirkung der Sprache, die die hierarchische Kommunikation in der Fabrik bestimmt, abgemildert. Folglich wird das Verhältnis zwischen Migranten, 187 Sprachreflexivität und Kulturtransfer: Übersetzung als hermeneutische Denkfigur 5 Sheila Johnson (2001: 50) nimmt diese übersetzerische Mimikry in Özdamars Das Leben ist eine Karawanserei (1992) als „Bikulturalismus“ wahr: „Growing beyond but sustai‐ ning these Turkish roots is a strong transnational element in the turko-, germanophone, bicultural Özdamar.“ 6 An anderer Stelle, aber in ähnlicher Weise, unterstreicht Özdamar die spezifische äs‐ thetische Qualität der deutschen Sprache, die von den Gastarbeitern auf dieser Zugfahrt gesprochen wird (vgl. Özdamar, zit. in: Horrocks / Kolinsky 1996: 47). Übersetzerin und Arbeitgeber neu ausgehandelt, wobei sowohl das Türkische als auch das Deutsche als Referenzsysteme herangezogen werden. Hierdurch erhält die Übersetzung eine translinguale Qualität und damit einen neuen Raum, der die bipolare Konstellation anzufechten scheint. Man könnte argumentieren, dass die ironisierende Darstellung der deutschen Arbeitsaufträge das Ergebnis einer Strategie der translatorischen Mimikry ist, die auf der Ebene der Bild‐ sprache subversiv wirkt. Diese Strategie ist als integraler Bestandteil der nar‐ rativen Struktur des Werks Özdamars als ein Stilmerkmal zu betrachten, das die deutsche Sprache destabilisiert, indem es ihre Selbstverständlichkeit und Un‐ mittelbarkeit untergräbt. 5 In einem 1993 in Die Zeit veröffentlichten Text erzählt Özdamar von ihren Reisen von Deutschland in die Türkei, bei denen sie mit jugoslawischen Gast‐ arbeitern zusammentraf, die ihrerseits auf dem Weg von Österreich zu ihren Frauen in Jugoslawien waren. Ebenfalls saßen Griechen und Türken mit im selben Zug. Auch wenn das Deutsch, das alle sprachen, voller grammatikalischer und idiomatischer Fehler war, repräsentierte es doch die gemeinsame, authen‐ tische Sprache, die allen als lingua franca diente: Die jugoslawischen Männer sangen Sehnsuchts- und Liebeslieder über ihre Frauen, zu denen sie zurückfuhren, und übersetzten diese für uns in ihrem gebrochenen Deutsch. Wir weinten und lachten. Tagelang, so eine Fahrt. Die Toten in den Särgen, wir acht im Zugabteil, die gemeinsame Sprache Deutsch. Es entstand fast ein Orato‐ rium, und die Fehler, die wir in der deutschen Sprache machten, waren wir, wir hatten nicht mehr als unsere Fehler. (Özdamar 2001: 49) 6 Daher ist Deutsch hier als die Sprache einer authentischen transkulturellen Er‐ fahrung zu betrachten, die jenseits der Muttersprache einen eigenen Stellenwert hat. Bobbi Olson betont die Notwendigkeit einer spezifischen Leserperspektive, die beim Lesen transkultureller Literatur über das rein Grammatikalische hi‐ nausgeht: „When we adopt a multilingual orientation, we view writers as ma‐ king distinct choices based on their multilingual status, rather than making ‚mistakes‘ because of their multilingual status“ (Olson 2013: 3). In Özdamars Mutterzunge scheinen Sprachen und Kulturen nicht interkulturell zu ver‐ 188 Arvi Sepp schmelzen, sondern miteinander in Kontakt zu bleiben; das Übersetzungsver‐ fahren der Protagonistin kann daher als eine Überlagerung transkultureller Er‐ fahrungen betrachtet werden. Trotz der soziolinguistischen Marginalität des Türkischen in Deutschland ist das Verhältnis zwischen Deutsch und Türkisch in Özdamars Prosa nicht durch eine Matrix dominierender versus dominierter Sprachen gekennzeichnet. Die ständigen Hinweise auf den traumatisierenden politischen Kontext in der Türkei in den 1970er Jahren zeigen, dass der Verlust der Muttersprache nicht nur auf Migration zurückzuführen ist, sondern auch auf den Status des Türkischen als Sprache des Terrors, der Angst und des Traumas (vgl. Yildiz 2008). Sowohl die Beziehung der Protagonistin zu ihrer Mutter als auch zu ihrer Sprache ist kom‐ plex. In Das Leben ist eine Karawanserei (1992) kommt die Erzählerin nach einem langen Aufenthalt in Anatolien zurück nach Hause zu ihrer Mutter: Meine Mutter sagte: „Sprich nicht so, du musst wieder istanbultürkisch, sauberes Türkisch sprechen, verstehst du, in zwei Tagen fängt die Schule an. […] Sag annecigim! Nicht Anacugum.“ […] Die beiden Wörter fochten in der Mitte des Zimmers. (Özdamar 1992: 53) In diesem Textauszug wird Schule als Argument für das Istanbuler Türkisch verwendet. Hierdurch wird deutlich, dass Muttersprache nicht nur als ein per‐ sönliches Mittel der Authentizität zu verstehen ist. Immer sind Nation und Staat institutionell in die Einsprachigkeit einer standardisierten Sprache einge‐ schrieben. Intimität und Staat, welchen Özdamar mit Unterdrückung assoziiert, treffen ständig aufeinander und zwar auf besonders abstoßende Weise. Die für Traumata typische Lücke zwischen Erinnerung und Amnesie ist auch in Mut‐ terzunge immer wieder anzutreffen: „Diese Sätze, von der Mutter eines Aufge‐ hängten, erinnere ich mich auch nur so, als ob sie diese Wörter in Deutsch gesagt hätte.“ (Özdamar 1990: 9) Diese Textpassagen sind ausdrücklich als Übersetzung gekennzeichnet: als Worte der Mutter und Worte der Erzählerin. Die wörtliche Übersetzung vom Türkischen ins Deutsche, wobei das Türkische vollständig verschwindet, im‐ pliziert eine Veränderung in Folge einer nicht-normativen Übersetzung mit neuen affektiven Konnotationen. Es entsteht so ein Puffer zwischen Deutsch als Sprache der Opposition und Türkisch als Sprache des Traumas. Die Mutter‐ sprache klingt immer mehr wie eine fremde Sprache: „Ich erinnere mich jetzt an Muttersätze, die sie in ihrer Mutterzunge gesagt hat, nur dann, wenn ich ihre Stimme mir vorstelle, die Sätze selbst kamen in meine Ohren wie eine von mir gut gelernte Fremdsprache.“ (7) 189 Sprachreflexivität und Kulturtransfer: Übersetzung als hermeneutische Denkfigur 7 Die Überlegungen zur ästhetischen Besonderheit der „kleinen Literaturen“ von Gilles Deleuze und Félix Guattari in Kafka. Pour une littérature mineure (1975) beleuchten die Problematik der Fremd- und Muttersprachen in der exophonen Literatur, zu der auch die Texte Özdamars zu rechnen sind. Das Konzept der „littérature mineure“ ist gekenn‐ zeichnet durch (1) die Deterritorialisierung der Sprache, (2) die enge Verknüpfung von Persönlichem und Politischem und (3) die kollektive, gruppenzentrierte Akzentuierung der Literatur. Deleuze und Guattari betonen die Fähigkeit dieser kleinen Literaturen, verdinglichte Kultursprachen zu verändern und zu erneuern, wie zum Beispiel Deutsch durch Deterritorialisierung und Entfremdung. In Das Leben ist eine Karawanserei wird der Leser nicht aufgefordert, sich vorzustellen, dass die Erzählung in der Türkei stattfindet, sondern er wird durch die Verwendung des Türkischen, sowohl im Original als auch in der wörtlichen Übersetzung, performativ mit dieser Tatsache konfrontiert (vgl. Wright 2010: 32). Dies verstärkt den Unterschied, den Özdamar in den Mittelpunkt stellt, indem sie ihre Erzählung in der Türkei verortet und das literarische Deutsch untergräbt bzw. deterritorialisiert (vgl. von Flotow 2000: 71). 7 Mit diesen Strategien der sprachlichen und kulturellen Entfremdung haben deutsche Schriftsteller wie Emine Sevgi Özdamar zur Transformation der deut‐ schen Literatur beigetragen und damit zur Dekonstruktion ideologischer An‐ nahmen, mit denen der literarische Kanon als elitärer Diskurs des Westens un‐ termauert wurde. Die gleiche Form übersetzten Schreibens findet sich beispielsweise auch in Osman Engins satirischem Werk Dütschlünd, Dütschlünd übür üllüs (1994), das Deutschland auf ironische Weise ‚türkisiert‘, oder in West-östliches Sofa. Neue Geschichten von Don Osman (2006), worin der „Diwan“ aus Goethes West-östlicher Diwan durch das deutsche Alltagswort bzw. Semi-Sy‐ nonym „Sofa“ ersetzt wird. Formen der Verfremdung dienen hier als Hinweise auf transkulturelle Identität. Laut Dilek Dizdar, die Mutterzunge ins Türkische übertragen und für den türkischen Literaturmarkt adaptiert hat, ist es äußerst schwierig, diese trans‐ kulturelle Entfremdung in der Übersetzung wiederzugeben. In ihrem Artikel „Die Mutterzunge drehen. Erfahrungen mit und aus einem Text“ (2008) be‐ schreibt sie ihre Bemühungen, für monokulturelle türkische Leser den Effekt der Hybridität zu reproduzieren, den Özdamar durch die phonetische Abbildung türkischer Worte im Deutschen erreicht. So entstanden Worte wie „Vaynach“ (Weihnachten), „mayster“ (Meister), „urlob“ (Urlaub), „dolmetser“ (Dolmet‐ scher), „lonştoyer“ (Lohnsteuerkarte) oder „arbaytsamt“ (Arbeitsamt). Bei idio‐ matischen Konstruktionen oder eindeutigen intertextuellen Referenzen, die ins Türkische übersetzt werden, werden Rückübersetzungen vermieden, da sie den Verfremdungseffekt zunichtemachen (vgl. Dizdar 2008: 108). Die Darstellung des hybriden Charakters von Özdamars Migrationsliteratur zur Nachempfin‐ 190 Arvi Sepp dung der deutschen Leseerfahrung war eines der Hauptziele von Dizdars Über‐ setzungsstrategie: „Ziel meiner Übersetzung war es, eine ähnlich fragmentari‐ sche, verfremdende, sich an der mündlichen Sprache orientierende Sprache für den türkischen Text zu schaffen, der wie eine Translation klingt / wirkt, die das Potential hat, die aufnehmende Sprache zu erneuern / beleben / hybridisieren.“ (102) Eine verfremdende Strategie ist in der Rückübersetzung von Mutterzunge jedoch nicht erkennbar. Dieser deutsch-türkische Text verdankt seine Einzig‐ artigkeit vor allem illusorischen und idiosynkratischen Bildern, die aus dem Türkischen abgeleitet sind. In einer Rezension von Özdamars Roman Seltsame Sterne (2003) in der nie‐ derländischen Tageszeitung NRC Handelsblad bedauert die Literaturkritikerin Anneriek de Jong die Tatsache, dass der Roman nicht die exotische Qualität der verfremdeten, bisweilen unidiomatischen Sprache hat, die nach Ansicht der Kritikerin so charakteristisch für die früheren Bücher der Autorin war: In ihren früheren Werken Das Leben ist eine Karawanserei und Die Brücke vom Gol‐ denen Horn war Özdamars Sprache exotischer und kraftvoller: Sie zu lesen war einfach überwältigend. Eine solche Leidenschaft für das Erfinden, eine solche Fülle an erstau‐ nlichen Bildern, ein solcher Zauber damals. Solch eine Spannung zwischen Traum und politischem Elend, zwischen Ost und West. Solch ein plastisches, rhythmisches, eigentümliches und wunderbares Deutsch. Im Vergleich zu diesen Werken ist Özda‐ mars neuer Roman eher schlicht und einfach. Vielleicht, weil die Schriftstellerin in den letzten Jahrzehnten in Westdeutschland gelebt hat. Eine erfolgreiche Einbürge‐ rung kann mit Verlust einhergehen. (de Jong 2003) Die Rezension veranschaulicht, in welchem Maße von transkulturellen Autoren ein Reflektieren auf ‚Fremdheit‘ erwartet wird. Dies trifft auf den niederländi‐ schen Literaturmarkt ebenso zu wie auf den deutschen. In einem ursprünglich im Tagesspiegel erschienenen Artikel über den deutsch-türkischen Autor Güney Dal, kritisiert Henryk M. Broder (vgl. 2000: 34) die Tendenz der deutschen Re‐ zeption transkultureller Literatur, kulturelle und sprachliche Grenzen zu be‐ tonen, anstatt sie neu zu bewerten und zu relativieren. Die deutsch-türkische Literatur, so Broder, repräsentiert für das deutsche Lesepublikum die kollektive Identität von Deutsch-Türken. Im Gegensatz dazu geht es Emine Sevgi Özdamar und Yoko Tawada als Übersetzerinnen des Translingualen jedoch darum, den Antagonismus zwischen ‚Ego‘ und ‚Alter‘ grundlegend zu destabilisieren. 191 Sprachreflexivität und Kulturtransfer: Übersetzung als hermeneutische Denkfigur 4 Übersetzerinnen des Translingualen Die transkulturellen literarischen Werke Emine Sevgi Özdamars und Yoko Ta‐ wadas vermitteln einen neuartigen Zugang zu Sprache und Identität, der sich in Reflexivität bzw. Skeptizismus gegenüber Sprache äußert. Die Sichtbarma‐ chung des Übersetzers - wie in Özdamars und Tawadas Translationsfiktionen - ist denn auch, so Lawrence Venuti in The Translator’s Invisibility (1995), eine Sichtbarmachung sprachlich-kultureller Differenz. Das Schreiben in einer an‐ deren Sprache lässt sich in der Tat nicht von der Suche nach Identität trennen und damit auch nicht von Fragen nach Zentrum und Peripherie im Allgemeinen. Mit ihrem fiktionalen Schreiben bieten beide Autorinnen einen Zugang zu der komplizierten Beziehung zwischen Nation, Sprache und Identität. Die Prosa Tawadas und Özdamars bringt zum Ausdruck, dass ethnische, kulturelle oder sprachliche ‚Authentizität‘ letztendlich nicht abgebildet werden kann; folglich kann Literatur nicht auf ‚eine‘ Interpretation von Identität reduziert werden. Ähnlich wie beispielsweise postkoloniale frankophone Literatur widersetzen sich die Texte Tawadas und Özdamars, so unterschiedlich sie bezüglich Inhalt, Kontext und Form auch sein mögen, herkömmlichen Ansprüchen an Literatur, indem sie „resist and ultimately exclude the monolingual and demand of their readers to be like themselves: ‚in between‘, at once capable of reading and trans‐ lating, where translation becomes an integral part of the reading experience“ (Mehrez 1992: 122). Nicht eindeutige kulturelle und sprachliche Bezugspunkte implizieren fast immer eine Dekonstruktion von Identitäten und festgeschrie‐ benen Konzepten. Die Dezentrierung des Eigenen sowie die Offenheit dem Fremden gegenüber in den Texten der beiden Autorinnen ist schließlich auch grundlegend für ein adäquates Verständnis der sprachlichen Verfremdung in der modernen Literatur schlechthin, in der gerade die Dekonstruktion von Mono‐ logie und Identitätsdenken im Mittelpunkt steht. Die Protagonistinnen Tawadas und Özdamars sind Übersetzerinnen von Heterogenität. Sie führen die Befind‐ lichkeit moderner Subjekte ins Licht, indem sie diese übersetzen, was einem geographischen und linguistischen Überschreiten von Grenzen gleichzu‐ kommen scheint und zwar zwischen lokaler und globaler Ebene. Die von Ta‐ wada und Özdamar verfassten Erzählungen eröffnen alternative, periphere Sichtweisen auf den dominanten Diskurs über nationale Kultur und Geschichte. 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So wahr dieser Satz wohl ist, so problematisch sind seine zentralen lexikalischen Bestandteile. Zwar geht dem Germanisten die Formel „deutschsprachige Literatur“ so leicht von der Hand wie kaum eine zweite, und der kanonische Kern (Gryphius - Lessing - Goethe - Heine - Kafka - Dürren‐ matt - Jelinek, um den Kanon der Neueren deutschen Literaturwissenschaft durch einigermaßen kontingente Punktierung zu umreißen) kann auch, auf den ersten Blick, als unproblematisch gelten; aber an den Rändern stellt es sich durchaus anders dar (wobei auch die Metapher des Randes, postkolonial gelesen, alles andere als unproblematisch ist): Handelt es sich etwa bei Yoko Tawadas Überseezungen um deutschsprachige Literatur? Als Antwort drängt sich wohl ein Jein auf, was in kulturwissenschaftlichen Zusammenhängen nicht die schlechteste aller Antworten ist - wobei deren Qualität wohl hauptsächlich darin besteht, dass sie mehr Fragen aufwirft als logisch deduzierbare weitere Antworten. Die Formel „Autor*innen mit Migrationshintergrund“ hingegen bezeichnet eine einzige Verlegenheit. Im Falle von Autorinnen und Autoren, deren Eltern aus der Türkei stammen (oder besser: auf dem Territorium der Türkei geboren sind), von „türkischstämmigen Autor*innen“ zu reden, stiftet den kaum abweis‐ baren Verdacht, sich aus der Verstrickung in biologistisches Denken nie voll‐ ständig befreien zu können. Sedimente von Konzepten von „Blut und Boden“ lauern allenthalben unter postkolonial-theoretischen oder politisch korrekten Formulierungen (die sich dadurch zuweilen auch als bloße rhetorische Schmuckformen erweisen). Eine weitere Schwierigkeit verbirgt sich in der Kombination aus Kollektiv‐ singular und Indikativ: „Deutschsprachige Literatur von Autor*innen mit Mi‐ grationshintergrund stellt das Konzept literarischer Einsprachigkeit vor He‐ 1 Wie leicht Formulierungen unterlaufen können, die solche Positionen nahelegen, ob‐ wohl sie gar nicht zum vorgestellten Zugang auf die Phänomene passen, zeigt folgendes Beispiel: „Autoren, die aufgrund ihrer Biografie vielfache kulturelle Perspektiven in ihr Werk einschreiben, dezentralisieren durch ihr Schaffen jene literarischen Systeme, die traditionell nach abgegrenzten Sprachräumen und rund um Zentren politischer Auto‐ rität strukturiert sind.“ (Geiser 2013: 353) Hier ist bestimmt nicht wirklich gemeint, dass jene das Genannte „aufgrund ihrer Biografie“ tun, was ja bedeutete, dass die Biographie der Grund für ihr entsprechendes Tun wäre. Wäre das gemeint, handelte es sich um kausal-deterministischen Biographismus. rausforderungen“ - von allen und immer? Weil es zum Wesen solcher Literatur gehört oder, weniger metaphysisch formuliert: weil diese Leistung zum Be‐ griffsumfang solcher Literatur gehört? Und handelt es sich eigentlich tiefen‐ grammatisch um einen deskriptiven oder einen normativen Satz? Oder be‐ schreibt er bloß den üblichen Effekt einer gewohnten Lektüre? Diese Fragen können nicht nur hier, sondern ganz generell nicht abschließend beantwortet werden. Die ihnen zugrundeliegende Skepsis aber muss sich freilich auch auf den vorliegenden Versuch zurückwenden. Es scheint aber klar zu Tage zu liegen, dass eine simple These des Typs, Li‐ teratur von Menschen mit spezifischen biographischen Merkmalen habe not‐ wendigerweise bestimmte ästhetische Eigenschaften, nicht haltbar wäre resp. ist. 1 Biographische Migrationserfahrungen sind weder notwendige noch hin‐ reichende Voraussetzungen etwa für, was immer damit gemeint sei, literarische Hybridität - jenseits der Tatsache, dass Hybridität sich kaum je vollständig ver‐ meiden lässt, also eigentlich schlechterdings alles als hinreichende Vorausset‐ zung für sie dient. Was immer aber Formeln wie „Deutschsprachige Literatur von Autor*innen mit türkischem Migrationshintergrund“ oder „Deutschsprachige Literatur von türkischstämmigen Autor*innen“ bedeuten sollen und wie (il)legitim sie auch immer sind - eine gewissermaßen empirische Gewissheit gibt es doch: Emine Sevgi Özdamar gehört von Beginn an dazu. Und schon seit Längerem (wohl etwa seit den späteren 1990er-Jahren) werden, häufig auf exemplarische Weise, am Korpus ihrer Texte Phänomene aufgezeigt, die sich unter den Begriff der Über‐ setzung ebenso gut (oder schlecht) fassen lassen wie unter den der Mehrspra‐ chigkeit - etwa das Vorkommen unübersetzter fremdsprachiger Wörter oder wörtlich übersetzter fremdsprachiger Redewendungen im ‚eigentlich‘ deutsch‐ sprachigen Text. Wenn diese Beobachtungen aber als exemplarisch verstanden werden sollen, muss danach gefragt werden, wie sich das Verhältnis von Parti‐ kularität und Exemplarität genau gestaltet. Wenn - wie es häufig geschieht - besondere Phänomene der Ästhetik Özdamars dadurch als besondere be‐ schrieben werden, dass auf das in ihnen aufscheinende Allgemeine hingewiesen 198 Volker C. Dörr 2 Während die Erzählung die Überschrift „MUTTERZUNGE“ trägt, lautet ihr Titel im Inhaltsverzeichnis, sowohl der Erstwie auch der Taschenbuchausgabe, „MUTTER ZUNGE“; Analoges gilt für „GROSSVATERZUNGE“ bzw. „GROSSVATER ZUNGE“ (Özdamar 1998 [1990]: o. P. [7]). wird, dann sollte zum einen gefragt werden, was denn das Allgemeine ist: Li‐ teratur von Autor*innen mit ähnlichem biographischen Hintergrund? Migrati‐ onsliteratur (was immer darunter verstanden wird) allgemein? Oder sogar die Literatur als solche? Und es lässt sich auch danach fragen, ob denn das Besondere als Besonderes immer wirklich zugleich den Blick auf dieses Allgemeine lenkt - oder ob nicht zuweilen das Allgemeine den Blick auf das Besondere eher ver‐ stellt. Im Falle von Emine Sevgi Özdamars Erzähltexten, von denen im Folgenden exemplarisch der Band Mutterzunge (1990) sowie besonders dessen gleichna‐ mige Eingangserzählung in den Blick genommen werden soll - mit einem Sei‐ tenblick auch auf ihren ersten Roman Das Leben ist eine Karawanserei hat zwei Türen aus einer kam ich rein aus der anderen ging ich raus (1992) -, lassen sich wohl (mindestens) folgende drei Gruppen von Phänomenen unterscheiden, bei denen es zum sinnfälligen Dialog oder zu Interferenzen zwischen den beteiligten Sprachen Türkisch, als der ‚Muttersprache‘ der Autorin, Arabisch, als der Sprache u. a. des Islam, und Deutsch, als der (überwiegenden) Sprache der Texte, kommt: Es begegnen zum einen fremdsprachige, in diesem Falle also türkische oder arabische, Wörter oder Wendungen, die unübersetzt bleiben; zum anderen erscheinen fremdsprachige Wörter oder Wendungen, die im Text (explizit) übersetzt werden; drittens schließlich gibt es fremdsprachige Wendungen, die unmarkiert wörtlich übersetzt worden sind, und hierunter können auch Kom‐ posita gefasst werden, deren Komposition aus übersetzten Bestandteilen be‐ steht. Das wohl prominenteste Beispiel für ein solches Kompositum, das durch Zu‐ sammenfügung zweier übersetzter Wörter neu entsteht, findet man bereits im Titel des Bandes wie in der eröffnenden Erzählung Mutterzunge. 2 Die Irritation, die hier durch etwas entsteht, was als Interferenz zwischen dem Deutschen und dem Türkischen erscheinen kann, ist aber bereits eingehegt, bevor sie vom Text aufgeschlüsselt wird. Denn dass ‚Zunge‘ auch ‚Sprache‘ bedeutet oder weiter‐ gehend: dass ‚Zunge‘ und ‚Sprache‘ vom selben Wort bezeichnet werden, ist zwar, auf den ersten Blick, nicht im Deutschen, wohl aber in einigen Fremd‐ sprachen, die nicht wenigen deutschen Lesern einigermaßen vertraut sind, so: im Lateinischen und daraus folgend den romanischen Sprachen ebenso wie im Englischen. Für das Deutsche konstatiert das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm: „zunge für die sprache der verschiedenen völker wider‐ 199 Über Sätze, Wörter und Bilder aus dem Türkischen strebt dem deutschen, wie den andern germ. sprachen auszer dem engl.“, um in der Folge damit eine Dichotomie zur Romania zu begründen: diese verwendung ist dem lat. oder den roman. spr. nachgeahmt und ein wort des gelehrten oder literarisch gebildeten ausdrucks […].dieser gebrauch von z[unge] […] ist sehr beliebt in der mhd. geistlichen und höfischen dichtung […] und hält sich noch lange, bes. unter dem einflusz der bibel Luthers und in der barockliteratur bis ins 18. jh. (Grimm / Grimm 1999: Bd. 32, 603) Allein wegen der aus dem Englischen und „den roman. spr.“ geläufigen Homo‐ nymie aber wird die Irritation der Überblendung des erwartbaren „-sprache“ durch das unerwartete „-zunge“ also in nicht wenigen Fällen schon aufgelöst worden sein, bevor die / der Leser*in den ersten Satz der Titelerzählung liest und schließt, dass die Homonymie im Türkischen wohl auch vorliegt: „In meiner Sprache heißt Zunge: Sprache.“ (Özdamar 1998: 9) Dass mit „meine[] Sprache“ das Türkische gemeint ist, ist zum Zeitpunkt der ersten Lektüre dieses Satzes noch eine Spekulation, die im Zweifel nur aus einem biographistischen Schluss von der Autorin auf die Erzählerinstanz abgeleitet wird; sie wird aber im wei‐ teren Verlauf der Lektüre gestützt - insofern ist dem zweiten Teil von Ottmar Ettes Beobachtung zweifellos zuzustimmen: Die Raffinesse des ersten, auch graphisch herausgehobenen Eröffnungssatzes [der Erzählung Mutterzunge] besteht darin, von Beginn an den Charakter des Schreibens als Übersetzung zu unterstreichen, wobei das Possessivpronomen den Eindruck er‐ weckt, es handle sich um eine Übersetzung aus der eigenen in eine fremde, die deut‐ sche Sprache, die ihrerseits die Muttersprache des Lesepublikums ist. (Ette 2004a: 251 f.) Daran, dass die Leistung des Satzes aber tatsächlich darin besteht, „den Cha‐ rakter des Schreibens als Übersetzung zu unterstreichen“, sind Zweifel doch möglich. Zunächst macht der Satz ja auf eine Besonderheit der (offenbar) tür‐ kischen Sprache aufmerksam. Er tut dies freilich, indem er doch einige poetische Lizenz einfordert; denn gemeint ist ja nicht, was der Wortlaut nahelegt, dass „Sprache“ die türkische Übersetzung des deutschen „Zunge“ wäre - wie in dem schulgrammatisch korrekt formulierten Satz „In meiner Sprache heißt Zunge: dil.“ Gemeint ist vielmehr, dass im Türkischen, wie im Lateinischen etc. auch, Sprache und Zunge mit demselben Wort bezeichnet werden, eben „dil“. Das ist im Deutschen aber anders, und genau darum geht es. Das heißt, genauer besehen errichtet der Satz eine recht strikte Dichotomie entlang der Frage, ob Sprache und Zunge durch dasselbe Wort bezeichnet werden oder nicht. Das Türkische wird, verstärkt noch durch die possessive Relation zum sprechenden Ich, gera‐ 200 Volker C. Dörr dezu in Opposition zum Deutschen gesetzt: „In meiner Sprache …“ evoziert als Ergänzung: „… in Deiner hingegen nicht“. Das Moment der Übersetzung kennzeichnet keine der beiden, säuberlich ei‐ nander gegenübergestellten Sprachen selbst, sondern deren Verbindung. Wenn man das nur implizit Ausgesprochene explizieren will und also nachschlägt, welches Wort denn im Türkischen sowohl „Sprache“ wie „Zunge“ bedeutet, ist die Separation vollständig vollzogen. Der Satz liefert dann eine Aussage über ein türkisches Wort, das offenkundig unverbunden neben dem Deutschen steht, weil es keine etymologische Beziehung gibt: „dil“ ist ein türkisches Wort, für das es im Deutschen wenigstens zwei ‚Entsprechungen‘ gibt, die beide mit jenem nicht verwandt sind. Angedeutet wird damit, dass Übersetzen ein komplexes Geschäft ist (z. B. lässt sich Özdamars Satz nicht ohne größeren Aufwand ins Türkische übersetzen); aus dem Satz herauszulesen, dass durch ihn der „Cha‐ rakter des Schreibens als Übersetzung“ unterstrichen werde, ist nur dann mög‐ lich, wenn man es bereits voraussetzt. Das kann man tun, denn das, worauf dann tautologisch geschlossen wird, ist ja richtig - es hat nur wenig mit Özdamars Satz zu tun. Im Rekurs auf seine in der Summe überzeugende Beschreibung der Schreibart Özdamars charakterisiert Ette das Vorgehen zunächst durchaus plausibel: Es geht nicht um ein weitgehend berührungsloses Nebeneinanderherleben oder einen Dialog von festgefügten kulturellen Standpunkten aus, sondern um eine komplexe Querung verschiedener Kulturen und damit um weit mehr als die Übersetzung des türkischen Wortes anadili in die deutsche Entsprechung ‚Muttersprache‘. Vielmehr wird das Deutsche transformiert, wird wortwörtlich um das Lexem ‚Mutterzunge‘ erweitert, eine Erweiterung, die selbstverständlich auch die Semantik von ‚Mutter‐ sprache‘ affiziert. (Ette 2004b: 235) Allerdings bleibt noch zu klären, welche „verschiedene[n] Kulturen“ in das Ver‐ hältnis einer „komplexe[n] Querung“ gesetzt werden. Bereits Kader Konuk hatte festgestellt: Mutterzunge ist - nach korrekter Anwendung der Regeln deutscher Grammatik - ein aus zwei deutschen Nomina zusammengesetztes Wort, das es als solches lexikalisch gesehen nicht gibt. Darin besteht schon einer der mehreren Brüche, die dem Wort immanent sind. Das Wort zerfällt in seine Bestandteile, wenn es im engeren Sinne als die Zunge der Mutter gelesen wird. Wird die türkische Sprache zur Analyse hinzu‐ gezogen, wird die hybride Konstruktion der Äußerung in einer weiteren Dimension deutlich: Mutterzunge geht auf das türkische anadili zurück, ein ebenfalls aus zwei Nomen durch eine Genitivkonstruktion zusammengesetztes Wort. Ana heißt Mutter, dil heißt Zunge und Sprache. Anadili heißt übersetzt Muttersprache. Mutterzunge ist 201 Über Sätze, Wörter und Bilder aus dem Türkischen damit zweideutig; es zerfällt in seine offen lesbaren deutschen Wortbedeutungen und seine verdeckten türkischen Bedeutungen. (Konuk 2001: 137) Und auch Yasemin Yildiz konstatiert: To a German-language reader encountering it for the first time, this title word is at once familiar and unfamiliar. Both parts, Mutter (mother) and Zunge (tongue), are clearly German, as is the principle of linking two nouns to create a new word. Yet this neologism departs from the idiomatic expression Muttersprache (mother tongue, lit‐ erally ‚mother language‘) and thus inscribes difference into the word. As the title story of the same name instantly signals, Özdamar’s Mutterzunge is to be read as a literal translation from another language, where, like in English, ‚tongue‘ means ‚language‘. (Yildiz 2012: 143) „Unfamiliar“ ist das Lexem „Mutterzunge“ zweifellos; ein „neologism“ und „Wort, das es […] als solches lexikalisch gesehen nicht gibt“, ist es aber durchaus nicht, und deswegen kann das Deutsche auch um jenes nicht „erweitert“ werden: Das Grimm’sche Wörterbuch belegt „Mutterzunge“ einerseits mit einer Stelle aus Sebastian Francks Sprichwörtersammlung von 1541, andererseits mit Luther (Grimm / Grimm 1999: Bd. 12, 2830; Bd. 32, 603). Tatsächlich wird also, gleichviel ob Özdamar das bewusst war oder nicht (weil es hier nur um die Interaktion zwischen Text und Leser*in geht), gar nichts übersetzt, sondern vielmehr ein in die Latenz des Lexikons abgesunkenes Lexem an die Oberfläche des Sprachge‐ brauchs zurückgeholt. Die Verwendung eines nicht mehr geläufigen Wortes in einem Text dessen innerer Fremdsprachigkeit und der ‚äußeren‘ seiner Autorin in Rechnung zu stellen, gerät unversehens und ungewollt zu einer Form des linguistischen Exotismus. Der Eingang der Erzählung Mutterzunge ist mehrfach (als) programmatisch in dem hier in Rede stehenden Zusammenhang gelesen worden. Dabei werden häufig auch die Sätze in den Blick genommen, die sich an den Eingangssatz unmittelbar anschließen: Zunge hat keine Knochen, wohin man sie dreht, dreht sie sich dorthin. Ich saß mit meiner gedrehten Zunge in dieser Stadt Berlin. Negercafé, Araber zu Gast, die Hocker sind zu hoch, Füße wackeln. Ein altes Croissant sitzt müde im Teller, ich gebe sofort Bakshish, der Kellner soll sich nicht schämen. Wenn ich nur wüsste, wann ich meine Mutterzunge verloren habe. (Özdamar 1998: 9) Dabei fällt besonders die syntaktische Merkwürdigkeit des ersten Satzes, des zweiten der Erzählung, auf; dessen „Agrammatikalität […] demonstriert das Drehen der Zunge als Übersetzung und Verdrehung der Sprache zugleich, 202 Volker C. Dörr 3 Für die Mitteilung dieser Tatsache danke ich Frau Özden Gülcicek, Heinrich-Heine-Uni‐ versität Düsseldorf. 4 Vgl. dazu auch Zierau (2010: 412). welche sich in der Echowirkung des Rahmens ‚wohin … dorthin‘ vervielfacht“ (Ette 2004a: 253). Tatsächlich besteht der Bezug zum Übersetzen im Bild der sich drehenden Zunge darin, dass es sich um eine Übersetzung handelt, und zwar um eine wört‐ liche Übersetzung eines türkischen Sprichworts: „Dilin kemiği yok, nereye çe‐ virsen oraya döner.“ 3 Das intrikate Moment der Übersetzung lässt sich zudem an der Wiederaufnahme des Satzes in der Wendung „gedrehte[] Zunge“ nach‐ weisen: Die ‚gedrehte‘ Zunge spielt auf das türkische Verb ‚çevirmek‘ an, welches ‚drehen‘, ‚wenden‘, ‚übertragen‘ und ‚übersetzen‘ bedeuten kann. Zurückübersetzt ins Türki‐ sche heißt ‚gedrehte Zunge‘ demzufolge ‚übersetzte Sprache‘. Die ‚gedrehte Zunge‘ der Erzählerin ist nicht ihre Muttersprache. (Konuk 2001: 86) 4 Zwar kann wohl die ‚Verdrehtheit‘ des Satzes „Zunge hat keine Knochen, wohin man sie dreht, dreht sie sich dorthin“ nicht als Effekt von Übersetzung ausge‐ wiesen werden, weil seine Syntax nicht diejenige des Türkischen nachbildet. Als dem Türkischen nachgebildet kann aber der, wegen der Zählbarkeit des Substantivs eigentlich ‚inkorrekte‘, Verzicht auf den bestimmten Artikel in „Zunge hat keine Knochen“ gedeutet werden: weil es im Türkischen keine Ar‐ tikel gibt. Allerdings alludiert der deutsche Satz vordringlich wohl eher das Sprichwort „Wasser hat keine Balken“ - nur: hier fehlte dann das Moment der Verdrehung ebenso wie dasjenige der Übersetzung. Cornelia Zierau formuliert im selben Zusammenhang: Der Beginn von Emine Sevgi Özdamars Erzählung Mutterzunge veranschaulicht leit‐ motivisch für ihr Werk, wie literarisches Schreiben in der Zweitsprache Deutsch aus‐ sehen kann. Die Äußerungen sind sprachlich hybrid auf der Ebene des Wortschatzes wie der Syntax. (Zierau 2010: 412) Der zweite Satz aber gilt nur (teilweise), weil er in einer Hinsicht praktisch immer gilt: In jedem hinreichend komplexen deutschen Satz wird sich geneti‐ sche Hybridität in Hinblick auf den Wortschatz finden, weil es kaum ‚autoch‐ thon‘ deutsche Wörter gibt. In dem Moment etwa, wo „Mutterzunge“ als bereits deutsches Wort erkannt ist, findet hier keine besondere sprachliche Hybridität mehr statt, und die Besonderheit der Syntax lässt sich schwerlich unter Hybri‐ dität subsumieren, wenn damit ein Effekt der Übersetzung aus dem Türkischen gemeint ist. Vielmehr lenken diese Fokussierungen in doppelter Hinsicht ab: 203 Über Sätze, Wörter und Bilder aus dem Türkischen einerseits von den tatsächlichen Eigentümlichkeiten der Özdamar’schen Schreibverfahren „in der Zweitsprache Deutsch“, andererseits von der globalen Hybridität ‚des‘ Deutschen. Die relative Allgemeinheit, in die Özdamars Ver‐ fahren hier aufgelöst wird, verstellt das globale Allgemeine des Deutschen ebenso wie das Besondere des Özdamar’schen Schreibens. Ex negativo aufgerufen wird das Moment der Übersetzung, wenn im deutsch‐ sprachigen Text fremdsprachiges Material unübersetzt bleibt. Das erste in Mut‐ terzunge unübersetzt bleibende fremdsprachige Wort erscheint im bereits zi‐ tierten Zusammenhang; es ist allerdings weder ein türkisches noch ein arabisches (wenn es auch in beiden Sprachen als Fremdwort gängig ist): das Wort „Bakshish“. Im Blick auf das Verstehen der Erzählung ist eine Übersetzung des aus dem Persischen stammenden Wortes unnötig, weil es, in der einge‐ deutschten Schreibung „Bakschisch“, ja auch im deutschen Sprachraum geläufig ist. Hier ist es die an englische Umschrift gemahnende Schreibung, die dem Wort eine Fremdheit zurückgibt, die es im Deutschen weitgehend eingebüßt hat, womit dessen etymologische Hybridität ausgestellt wird. Das im Text ebenfalls unübersetzte arabische „Inschallah“ hingegen kann deswegen unübersetzt bleiben, weil es zwar keinen Eingang ins Deutsche ge‐ funden hat, seine Bedeutung als „so Gott will“ aber zur Allgemeinbildung ge‐ rechnet werden kann. Aber selbst wenn jene dem Leser nicht bekannt ist, ent‐ steht keine signifikante Leerstelle, weil das Wort durch seine Verwendung als Redewendung in religiösen Kontexten ausgewiesen wird und insofern nur als eine die religiöse Haltung der sprechenden Figur verstärkende Markierung ver‐ standen werden muss. Das Wort wirkt wie ein Kreuz um den Hals einer Nonne im Habit. Die Erzählerin berichtet, wie ein Polizeikommissar in der Türkei sie angeherrscht habe: „[…] Allah soll euch alle verfluchen Inschallah.“ (Özdamar 1998: 13) Verdoppelt wird damit die Leistung der Anrufung Allahs als Hinweis auf die kulturelle Entfernung zwischen Deutschland und der islamisch ge‐ prägten Türkei. Eine ähnliche Rolle spielt in der im Band folgenden und inhaltlich anschließ‐ enden Erzählung Großvatzerzunge die türkische, dem Arabischen entlehnte Grußformel „Selamünaleyküm [! ]“ (15) - etwa ‚Friede sei mit Dir‘ -, mit der die Ich-Erzählerin von Ibni Abdullah begrüßt wird. Ihn, mit dem sie in der Folge eine Liebesbeziehung eingehen wird, hat sie aufgesucht, um Arabisch zu lernen: „Ich werde Arabisch lernen, das war mal unsere Schrift“ (14), bis Atatürk in seiner Westorientierung sie verboten und durch die lateinische ersetzt hat. Kaum verdeckt kritisiert Özdamar hier die „Kemalist reforms“ dafür, „all traces of the Islamic Ottoman culture“ ausgelöscht zu haben - mit dem Resultat eines „vacuum in which modern Turks struggle to define a cultural identity“ (Seyhan 1996: 204 Volker C. Dörr 422). Das Arabische aber ist, wie die Ich-Erzählerin am Ende von Mutterzunge erläutert, die „Großvaterzunge“: […] die lateinischen Buchstaben kamen, mein Großvater konnte nur arabische Schrift, ich konnte nur lateinisches Alphabet, das heißt, wenn mein Großvater und ich stumm wären und uns nur mit Schrift was erzählen könnten, könnten wir uns keine Ge‐ schichten erzählen. Vielleicht erst zu Großvater zurück, dann kann ich den Weg zu meiner Mutter und Mutterzunge finden. (Özdamar 1998: 14) Das Deutsche hingegen dient der Vermittlung zwischen der Erzählerin und Ibni Abdullah, also, zunächst, auch zwischen „Mutterzunge“ und „Großvaterzunge“, wobei das Wort „Großvaterzunge“ (das ein den Wortbildungsregeln des Deut‐ schen folgendes Kompositum ohne Fremdheitsmarkierung ist) das Entschei‐ dende eigentlich verschleiert: dass der tote Großvater ja Türkisch gesprochen hat; er hat es lediglich arabisch geschrieben. Die Ich-Erzählerin will also nicht Arabisch lernen um es zu sprechen, sondern sie will die arabische Schrift lernen, weil sie für die Anwesenheit des Toten bürgt. In der dafür notwendigen (münd‐ lichen) Kommunikation mit ihrem Lehrer muss sie sich notgedrungen des Deut‐ schen bedienen: „Es ist eine Gemeinheit, mit einer Orientalin in Deutsch zu reden, aber momentan haben wir ja nur diese Sprache.“ (Özdamar 1998: 15) Auf der Ebene der histoire ist es vielleicht nicht unbedingt plausibel, dass der nicht Türkisch sprechende Ibni Abdullah die Erzählerin mit der türkischen Ver‐ sion eines arabischen Grußes begrüßt. So aber kreuzen sich in „Selamüna‐ leyküm“ das Arabische und das Türkische, während das Deutsche als Sprache des discours (nur) der Austragungsort dieser Kreuzung ist. Überhaupt ist die Doppelerzählung Mutter-/ Großvaterzunge in viel höherem Maße eine Erzählung über das Verhältnis des Türkischen (nach Atatürk) zum Arabischen als über das Verhältnis einer der beiden Sprachen zum Deutschen. Da das türkisch-arabische „Selamünaleyküm“, ebenso wie die Erwiderung „Aleykümselam“, unübersetzt bleibt, gewinnt das Arabische (in seiner türki‐ schen Adaption) hier obendrein eine materiale Qualität: weil es solitärhaft fremd die Kontinuität des deutschen Erzähltextes irritiert. Damit weist es auf ein auf‐ fälliges gestaltendes Moment des Karawanserei-Romans voraus, das dort mit der Großmutter verbunden ist und bei dem ebenfalls das Arabische und das Türki‐ sche in Kontakt treten: Großmutter sprach diese arabischen Wörter, die wie eine Kamelkarawane hinterei‐ nander liefen, in meine Augen guckend, in ihrem Kapadokia-Dorfdialekt. Die Kamel‐ karawane sammelte sich in meinem Mund, ich sprach die Gebete mit Großmutter, so hatten wir zwei Kamelkarawanen, ihre Kamele, die größer waren als meine, nahmen 205 Über Sätze, Wörter und Bilder aus dem Türkischen meine vor ihre Beine und brachten meinen Kamelen das Laufen bei. Beim Sitzen wa‐ ckelten wir auch wie Kamele, und ich sprach: ‚Bismillâhirahmanirrahim Elhamdü lillâhirabbil âlemin. […] Amin.‘ (Özdamar 2008: 55) Die Formel „Bismillâhirahmanirrahim“ wird sodann leitmotivisch in verschie‐ densten (Alltags-)Situationen eingesetzt, und das „ohne Umweg über die Schrift‐ exegese erlernte Gebet wird für die Erzählerin bald zum zentralen Ritus der Selbstvergewisserung“ (Viehöver 2002: 352). Im weiteren Verlauf der Erzählung wird dann auch die Übersetzung nachgereicht: „Dann habe ich im Buch geguckt, was Bismillâhirahmanirrahim heißt: Im Namen Gottes, oder im Namen Allahs, der schützt und vergibt.“ (Özdamar 2008: 58) Auch hierbei verschränken sich das Türkische und Arabische in der Genera‐ tion der Großeltern, hier noch verbunden mit dem Moment des Islam, und be‐ tonen die Materialität des Zeichenmaterials, auf der Ebene der signifiants ebenso wie derjenigen der signifiés: Die Nachahmung der Gebete der Großmutter durch die Ich-Erzählerin des Romans wird durch eine Kamelkarawane repräsentiert, was nicht bloß metaphorisch gelesen werden kann: „Instead, the image retains its corporeality - camels remain camels - which dislodges the meaning of the narrator’s utterance in a nomadic, deterritorialized sense while preserving the sounds and body of the words.“ Zugleich wird, „[i]n re-creating the ritualized ways in which the Arabic prayers are learned, repeated, and transcribed into Turkish phonetics“, der Lernprozess als, zunächst, „imitative and unreflected“, dargestellt (Ghaussy 1999: 10). Erst spät erliest sich die Erzählerin die Bedeutung der Formel, deren Gebrauch da längst habituell geworden ist. Özdamars Text verfolgt hier ein „Prinzip der De- und Rekontextualisierung von Begrifflich‐ keiten, die traditionelles und kulturelles Wissen transportieren“ (Zierau 2010: 426). Insgesamt wird der islamische Glaube „represented as a process of a highly individualized education and socialization rather than as part of a religious in‐ doctrination process - which is the view most commonly held within the German rhetoric surrounding Islam“ (Ghaussy 1999: 10). Zugleich wird der Roman an das Thema der frühen Doppelerzählung zurückgebunden: ein „longing for a lost alphabet“ (Seyhan 1996: 422). Ein Beispiel für ein türkisches Wort, das unmittelbar mit seiner deutschen Übersetzung zusammengebracht wird, wird durch eine unvermittelt eingeschal‐ tete Analepse in der Erzählung Mutterzunge geliefert: Ich lief einmal in Stuttgart um dieses Gefängnis da, da war eine Wiese, nur ein Vogel flog vor den Zellen, ein Gefangener im blauen Trainingsanzug hing am Fenster‐ 206 Volker C. Dörr gitter, […] sagte laut zu jemandem: ‚Bruder Yashar, hast du es gesehen? ‘ Der andere, den ich nicht sehen konnte, sagte: ‚Ja, ich hab gesehn.‘ Sehen: Görmek. Ich stand auf der Wiese und lächelte. Wir waren so weit weg voneinander. Sie sahen mich wie eine große Nadel in der Natur, ich wußte nicht, was sie meinten mit Sehen, war ich das oder ein Vogel, von einem Gefängnis aus, [! ] kann man nur sehen, fassen, fühlen, fangen. Pflücken, das gibt es nicht. Görmek: Sehen. (Özdamar 1998: 11) Durch die Verkopplung des Allerweltsworts „sehen“ mit seiner türkischen Über‐ setzung „görmek“ wird eine fremdkulturelle Normalität aufgerufen, der jeder Exotismus abgeht. In der Tat ist es absolut nicht bemerkenswert, dass es im Türkischen als Bezeichnung für den Vorgang des Sehens ein einfach gebautes (weil bloß zweisilbiges), also offenbar altes Wort gibt. Zwar sieht Sehen nur so aus, als handelte es sich um ein anthropologisches Faktum; vielmehr ist auch Sehen selbstredend kulturspezifisch (was wäre das nicht? ). Aber es stellt diese Spezifität nicht aus - was völlig anders wäre, wenn etwa ein zweisilbiges Wort in der anderen Sprache durch mehrere mehrsilbige Wörter repräsentiert würde. Die Gefängnis-Szenerie wird über die narrativ funktionslose Verwendung des Wortes „görmek“ - es handelt sich ja nicht z. B. um Figurenrede - mit einem türkischen Nebenklang versehen, genauso, wie es der Name „Yashar“ mit dem Arabischen tut. Sehen ist hier gegenüber dem Pflücken defizitär, weil es für diejenigen Weltzugänge steht, auf die Insassen von Gefängnissen zurückge‐ worfen sind. Tatsächlich ist das eine zentrale Thema des Textes nicht das Leben der Protagonistin in Deutschland, sondern vielmehr die Vergangenheit der tür‐ kischen Militärdiktatur. Durch den Chiasmus „Sehen: Görmek“ - „Görmek: Sehen“ wird das Gefängnis mit der Türkei assoziiert, die durch die Nennung des Namens „Yashar“ in eine (spannungsvolle) Verbindung zum Arabischen ge‐ bracht wird. Bei dieser handelt es sich um das zweite zentrale Thema von Mut‐ terzunge (und das zentrale von Großvaterzunge). Ähnlich funktioniert der Einsatz der Wendung „Kaza gecirmek, Lebensunfälle erleben“ sowie des Passeintrags „Beruf ISCI (Arbeiter)“ in Mutterzunge (Öz‐ damar 1998: 12). Längere Passagen der Erzählung Großvaterzunge erzählen dann, wie die Ich-Erzählerin und Ibni Abdullah sich - auf Deutsch - über ara‐ bische Wörter „in der türkischen Sprache“ verständigen (39), was in veritablen Wortlisten gipfelt. Damit hat sich Entscheidendes verändert: Als ich zum ersten Mal vor Ibni Abdullahs Tür stand, hatte ich drei Wörter aus meiner Mutterzunge. Sehen, Lebensunfälle erleben, Arbeiter, ich wollte zurück zum Groß‐ vater, daß ich dann den Weg zu meiner Mutter und Mutterzunge finden könnte. Ich 207 Über Sätze, Wörter und Bilder aus dem Türkischen habe mich in meinen Großvater verliebt. Die Wörter, die [! ] ich die Liebe zu fassen gesucht habe, hatten alle ihre Kindheit. (Özdamar 1998: 45 f.) Die Kindheit der dann folgenden Wörter ist offenbar das von Atatürk zurück‐ gedrängte Arabische, das in ihnen aufgehoben ist. „In der Fremdsprache“ hin‐ gegen, dem Deutschen, das dem erzählten Sprachkontakt gegenüber indifferent bleibt (und das durch gezielten Einsatz agrammatischer Formulierungen in seiner Fremdheit ausgewiesen ist), „haben Wörter keine Kindheit“ (Özdamar 1998: 44). Die These, die Ich-Erzählerin erkenne während ihres Aufenthalts bei Ibni Abdullah, „daß Atatürks Versuch, das Türkische von fremden Einflüssen zu rei‐ nigen, um den Preis der Zerstörung eines hybriden, aber dennoch - oder gerade deshalb - funktionierenden Identitätsgefüges erkauft ist“ (Viehöver 2002: 345), verkennt aber, dass die Hybridität des „Identitätsgefüges“ ja trotz Atatürks sprachlicher Verdrängungspolitik erhalten geblieben ist - und zwar im starken, postkolonialen, ‚ursprünglichen‘ Sinne des Wortes (Bhabha 2009). Denn im sprachlichen Gedächtnis des Türkischen konstituiert sich ein Dritter Raum, in dem das an die Peripherie gedrängte Arabische das Reinheitsgebot des ins Zentrum gesetzten Türkischen subvertiert. Es bedarf, genau besehen, gar keines „narrative revis(ion)ing of the hybridity characteristic of Ottoman Turkish“ (Seyhan 2001: 121), weil die „hybridity“ auch für das moderne Türkisch charak‐ teristisch ist - wenn auch nicht im Medium der Schrift, sondern im Lexikon, wie die Wortlisten in der Erzählung Großvaterzunge mehr als deutlich machen. Auch die Beobachtung, dass sich die Erzählerin „im Zuge des Sprachlern‐ prozesses der Hybridität der eigenen Identität bewußt [wird]“ (Viehöver 2002: 345), verstellt eher, was tatsächlich passiert: dass im Lernprozess, der in eine Liebesgeschichte eingewoben ist, die Verschränkung von Atatürks Sprachpo‐ litik mit dem Familiengedächtnis ausgestellt ist: „In the final analysis, this un‐ usual love story is more than a metalinguistic commentary. lt also tells a veiled political history complicated and sometimes compromised by the universal en‐ forcement of Atatürk’s hasty Westernization reforms.“ (Seyhan 2001: 122) (Der Verdacht, hier zeige sich (erneut), dass das Konzept der Hybridität eher zur Ent‐ differenzierung verführt, als dass es zur Differenzierung einlädt, soll hier einmal im Raum stehen bleiben.) In Mutterzunge begegnet eine Formulierung, die wegen ihrer ungewöhnli‐ chen Bildlichkeit den Verdacht stiftet, es handele sich um eine wörtliche Über‐ setzung aus dem Türkischen. Der Verdacht lässt sich freilich plausibilieren: Wenn er aus dem Vorwissen resultiert, dass es solche ‚wörtlichen‘ Überset‐ zungen von Redewendungen, die aus passenden Übersetzungen der Bestandteile von Redewendungen entstehen, bei Özdamar gelegentlich gibt, ja dass es sich 208 Volker C. Dörr dabei um ein bei Özdamar geradezu geläufiges poetisches Verfahren handelt, handelt es sich um eine naheliegende heuristische Hypothese, die sich bei hin‐ reichender Kompetenz im Türkischen auch überprüfen lässt. Problematisch wäre das Moment eines massiven Orientalismus, das darin steckte, dass man eine solche Formulierung für notorisch ‚blumiges‘ orientalisches Sprechen hielte. Gegen Ende der Erzählung kommt die Sprache auf „Mahir, der in den Zei‐ tungen als Stadtbandit bekannt gemacht war“ und den „sie […] mit Kugeln ge‐ tötet“ hatten - offenbar weil es sich eben nicht um einen „Stadtbandit[en]“ han‐ delte, sondern um einen politischen Aktivisten, der gegen die türkische Militärdiktatur kämpfte. Der Bruder Mahirs sitzt in der erinnerten Szene auf einem „Polizeikorridor“ (Özdamar 1998: 14) - zu dünn bekleidet, weswegen die Erzählerin ihm ihren Pullover leiht. Die Erzählung seines Unverständnisses wird mit dem Nicht-Verstehen einer Fremdsprache parallelisiert und dann unmit‐ telbar in den Zeitpunkt des Erzählens überblendet: ‚Bruder, zieh es an.‘ Mahirs Bruder sah mich an, als ob ich eine fremde Sprache spreche. Warum steh ich im halben Berlin? Geh diesen Jungen suchen? Es ist siebzehn Jahre her, man hat ihnen die Milch, die sie aus ihren Müttern getrunken haben, aus ihrer Nase rausgeholt. (Özdamar 1998: 14) Yasemin Yildiz macht deutlich, dass die Unverstehbarkeit der fremden Sprache zwar die Migrationssituation aufruft (weil „eine fremde Sprache“ in diesem Kontext das Deutsche assoziiert), dass es aber nicht um einen „culture shock“ gehe, sondern um „the unredeemed moment in the police station hallway“: Die Formulierung „man hat ihnen die Milch, die sie aus ihren Müttern getrunken haben, aus ihrer Nase rausgeholt“ plays on colloquial Turkish expressions that mean ‚making someone regret something they did, making someone pay for their transgression.‘ The sentence thus can be un‐ derstood to mean ‚it has been seventeen years since these young men were made to suffer for their actions, that they had to pay a price for their beliefs.‘ Yet through literal translation, the text not only recalls the fate of the young men who suffered thus, but also encompasses the mothers along with their milk and the bodily experiences of mouth and nose that the Turkish idioms conjure up. In German, these elements pro‐ duce an odd, and even an unsettling, image that invokes an incongruous torture sce‐ nario. (Yildiz 2012: 159) Insgesamt zeige sich: German is the language in which a traumatic story can be told, rather than being a traumatized or traumatizing language. […] Literal translation is thus a multilingual 209 Über Sätze, Wörter und Bilder aus dem Türkischen form that can affectively recode all involved languages. The ‚mother tongue,‘ in the end, is not lost due to the confrontation with another language - that is, due to in‐ creased multilingualism. It is instead marked by the impact of the mono-lingualizing state forces that created it, in violent and creative acts, in the first place. (Yildiz 2012: 168) Dass „[d]ie entstandene Sprache der Ich-Erzählerin […] als Ergebnis eines viel‐ schichtigen Migrationsprozesses mehr [ist] als die Addition ihrer einzelnen Be‐ standteile“ (Ette 2004b: 237), kann schwerlich bestritten werden - weil es für die Sprache jeder Erzählung gilt, weil schon ‚das‘ Deutsche „Ergebnis eines viel‐ schichtigen Migrationsprozesses“ ist. Dass die Migration der Autorin „erst […] jene translatorisch-transkulturellen Bewegungen möglich [mache], die im Zentrum von Özdamars erster Buchveröffentlichung, aber auch ihres gesamten bisherigen Schaffens stehen“ (ebd.), ist hingegen kaum haltbar: denn selbstver‐ ständlich sind transkulturelle Schreibverfahren wie dasjenige Özdamars auch ohne biographischen Migrationshintergrund denk- und durchführbar, so dass dieser weder als notwendiger noch auch als hinreichender Grund angesehen werden kann. Sprachkompetenz kann ja auch anders angeeignet werden als durch Migration, wie es umgekehrt auch migrierte Autor*innen gibt, die nur in dem Sinne transkulturell schreiben, dass Schreiben immer transkulturell ist: weil es keine nicht-transkulturellen Sprachen gibt. Sprachliche Migrationsvorgänge sind von einer Migration der Spre‐ cher*innen vollständig unabhängig und vollziehen sich, seit es Sprachen gibt; dasselbe gilt für Nationalliteraturen, die per se Einwanderungsterritorien sind, wogegen selbsternannte sprachliche Reinheitsapostel wohl eher noch weniger unternehmen können als gegen die Einwanderung von ‚Fremdem‘ in die All‐ tagssprache. Genau besehen, hat Literatur wohl nie einen „festen Wohnsitz“ (Ette 2004a: 254) - allerdings neigen Nationalphilologien dazu, sie einer Melde‐ pflicht zu unterwerfen. Tatsächlich zeigt „Özdamars Figur [in der Erzählung Mutterzunge] […] die Hybridität ihrer kulturellen Identität, ihre starke Prägung durch die türkische Kultur, zu deren sprachlichen Wurzeln sie zurückfinden will“; die „völlige Durchmischung türkischer und deutscher Kulturkomponenten“ hingegen zeigt sie eher weniger (Wierschke 1997: 188 f.). Sowohl für die Erzählung Mutterzunge wie für den Roman Das Leben ist eine Karawanserei lässt sich sagen, dass der Hinweis auf die hybride Natur des Deutschen und die Unmöglichkeit, das Deut‐ sche strikt vom Türkischen abzugrenzen, womöglich nicht das Hauptinteresse des Textes ausmacht. Wenn die Texte das Türkische geradezu in Opposition zum Deutschen setzen, dann handelt es sich um einen performativen Sprechakt, der diese Opposition in der Weise, wie die Texte sie darstellen, allererst herstellt. 210 Volker C. Dörr Das ist zum einen selbstredend kontrafaktisch (weil die diskursive Behauptung faktisch strikter Unterscheidbarkeit falsch wäre); zum anderen bieten selbst‐ verständlich die Texte eine Dekonstruktion der Differenz schon an. Insofern gehen die Lektüren der Forschung, die auf die Ununterscheidbarkeit abheben, nicht an den Texten vorbei; allerdings gehen sie doch darüber hinweg - wie generell eine Dekonstruktion, die die Subversion der Rhetorik eines Textes gegen dessen Grammatik nachzeichnet, dann nicht den maximalen Gewinn er‐ zielt, wenn sie der Grammatik, also der Aussageabsicht des Textes, keine hin‐ reichende Aufmerksamkeit schenkt. Hier, wie eigentlich immer, gilt, dass Differenzen durch performative Sprech‐ akte hergestellt werden; auch dazu hat der literarische Text die Lizenz. Jene zu dekonstruieren ist wohl immer möglich: im Wissen darum, dass sie nicht sub‐ stantieller Natur sind. Es gibt aber auch Fälle, in denen das (grammatische) In‐ teresse eines Textes gegenüber einer Dekonstruktion gleiches, wenn nicht grö‐ ßeres Recht hat: wenn das Allgemeine, auf das die Dekonstruktion zielt, das Besondere des Textes gerade verfehlt. Wenn ein literarischer Text also eine Di‐ chotomie zwischen zwei Sprachen aufmacht, ist es zwar wohl immer möglich, aber womöglich nicht immer sinnvoll, zu zeigen, dass er diese Dichotomie selbst unterläuft. Wenn Özdamar das Türkische dem Deutschen performativ strikt di‐ chotomisch gegenüberstellt, ist eine Dekonstruktion der Differenz auch poli‐ tisch im Recht: weil Sprachen nicht dichotomisch getrennt sind. Um das zu wissen, bedarf es aber der Texte Özdamars nicht. Eine solche Dekonstruktion ist hier, was durchaus nicht die Regel ist, blind oder wenigstens kurzsichtig gegenüber dem Text. Wenn das entscheidende Politikum die Hybridität des Türkischen ist, wenn es darum geht, diesem gegenüber das Arabische ins Recht zu setzen, erweist sich der Hinweis auf die Hybridität des Deutschen, so politisch notwendig er sonst nach wie vor ist, als vergleichsweise apolitisch. Literaturverzeichnis Bhabha, Homi K. 2009: „The Commitment to Theory.“ In: ders. The Location of Culture. London, New York: Routledge, 28-56. Ette, Ottmar. 2004a. „Die Fremdheit (in) der Mutterzunge. Emine Sevgi Özdamar, Gabriela Mistral, Juana Borrero und die Krise der Sprache in Formen des weiblichen Schreibens zwischen Spätmoderne und Postmoderne.“ In: Reinhard Kacianka / Peter V. Zima (Hg.). Krise und Kritik der Sprache. Literatur zwischen Spätmoderne und Postmoderne. Tübingen, Basel: A. Francke, 251-268. —. 2004b. ÜberLebenswissen. Die Aufgabe der Philologie. Berlin: Kadmos. 211 Über Sätze, Wörter und Bilder aus dem Türkischen Geiser, Myriam. 2013. „Sprache ohne Ort: Emine Sevgi Özdamar, Terézia Mora, Herta Müller.“ Germanistik in der Schweiz 10, 345-354. Ghaussy, Sohelia. 1999. „Das Vaterland verlassen: Nomadic Language and ‚Feminine Writing‘ in Emine Sevgi Özdamar’s Das Leben ist eine Karawanserei.“ The German Quarterly 72 / 1, 1-16. Grimm, Jacob / Grimm, Wilhelm. 1999. Deutsches Wörterbuch. Nachdruck. München: dtv. Konuk, Kader. 2001. Identitäten im Prozeß. Literatur von Autorinnen aus und in der Türkei in deutscher, englischer und türkischer Sprache. Essen: Die Blaue Eule. Özdamar, Emine Sevgi. 1998. Mutterzunge. Erzählungen. Köln: Kiepenheuer&Witsch (zu‐ erst Berlin: Rotbuch, 1990). —. 2008. Das Leben ist eine Karawanserei hat zwei Türen aus einer kam ich rein aus der anderen ging ich raus. 1992. 7. Auflage. Köln: Kiepenheuer&Witsch. Seyhan, Azade. 1996. „Lost in Translation: Re-Membering the Mother Tongue in Emine Sevgi Özdamar’s Das Leben ist eine Karawanserei.“ The German Quarterly 69, 414-426. —. 2001. Writing Outside the Nation. Princeton: Princeton University Press. Viehöver, Vera. 2002. „Materialität und Hermeneutik der Schrift in Emine S. Özdamars Romanen Das Leben ist eine Karawanserei und Die Brücke vom Goldenen Horn.“ In: Vittoria Borsò u. a. (Hg.). Schriftgedächtnis - Schriftkulturen. Stuttgart / Weimar: Metzler, 343-367. Wierschke, Annette. 1997. „Auf den Schnittstellen kultureller Grenzen tanzend: Aysel Özakin und Emine Sevgi Özdamar.“ In: Sabine Fischer / Moray McGowan (Hg.). Denn du tanzt auf einem Seil. Positionen deutschsprachiger Migrantlnnenliteratur. Stauffen‐ burg discussion, Bd. 2. Tübingen: Stauffenburg, 179-194. Yildiz, Yasemin. 2012. Beyond the Mother Tongue. The Postmonolingual Condition. New York: Fordham University Press. Zierau, Cornelia. 2010. „‚Als ob sie mit Fremdsprache sprechenden Menschen an einem Tisch säße‘ - Mehrsprachigkeit und Sprachreflexion bei Emine Sevgi Özdamar und Yoko Tawada.“ In: Michaela Bürger-Koftis u. a. (Hg.): Polyphonie - Mehrsprachigkeit und literarische Kreativität. Wien: Praesens, 412-434. 212 Volker C. Dörr 1 In Gerling (2018) lese ich den Aufsatz „Die Aufgabe des Übersetzers“ von Walter Ben‐ jamin (1972 [1921]) in der Weise, dass ebenso wie die Übersetzung ein Fortleben des Originals bedeute, auch Texte ein Fortleben von Erfahrungen ermöglichen können: „Das Leben erhält über transformatorische, ästhetische Verfahren in Texten ein Fort‐ leben, nicht jedoch im Sinne eines ‚Nacherlebens‘ […], also eines hermeneutisch nach‐ vollziehbaren Mitvollzugs lebensweltlicher Erfahrung über Text, sondern im Benja‐ min’schen Sinne als Annäherung an das Leben unter Berücksichtigung der steten Wandelbarkeit von sowohl Leben als auch Text. Ein solches übersetzerisches Denken, das die unumgängliche Differenz zwischen ‚Leben‘/ ‚Original‘ und ‚Text‘/ ‚Übersetzung‘ ernst nimmt, wird hier als epistemologisches Paradigma gedacht“ (Gerling 2018: 52). Im Zwischenraum der Sprache: Transkulturelles Erinnern in Nachtleuchten von María Cecilia Barbetta Vera Elisabeth Gerling, Universität Düsseldorf 1 Transkulturelles Erinnern Literatur kann ein Ort der Aushandlung von Gedächtnis sein (vgl. Erll 2008): Hier werden vermeintlich intakte Versionen von Erinnerung produziert oder aber es wird kritisch die Konstruiertheit und Unzuverlässigkeit des Erinnerns ästhetisch gefasst. Denn Schreiben ahmt nicht mimetisch erlebte Ereignisse nach, sondern übersetzt diese in Sprache und bringt dabei stets neue Abwei‐ chungen hervor. 1 Dabei produziert es selbst als diskursiver Akt die Vergangen‐ heit, die es vorgibt zu beschreiben (vgl. Neumann 2008: 334). Ein Referenz‐ rahmen für die so evozierte Vergangenheit ist die Gegenwart, von der aus geschrieben wird, sodass vielschichtige Temporalitäten produziert werden: „The multi-temporal levels of the past and the present intermingle in manifold and complex ways.“ (336) Neben der Vermengung der Zeitebenen ist jedoch auch der Ort des Schreibens von Bedeutung: Von wo aus wird über geschichtliche Ereig‐ nisse berichtet? Wie schreibt sich neben der zeitlichen die räumliche Situierung des Erzählens in die Texte ein und produziert so Übersetzungsprozesse zwischen verschiedenen kulturellen Kontexten? 2 Exophonie benennt das Schreiben in einer Zweitsprache, wie es häufig durch Migration oder Exil entsteht. So schrieb der Ire Samuel Beckett auf Englisch und Französisch, der Russe Vladimir Nabokov verfasste sein berühmtestes Werk Lolita im Exil in den USA auf Englisch. Exophones Schreiben ist im 21. Jahrhundert angesichts vielfältiger Mi‐ grationsbewegungen zu einem häufiger anzutreffenden Phänomen geworden. Zum Begriff der Exophonie siehe Arndt / Naguschewski / Stockhammer 2007. 1.1 Transpositionen des Erinnerns Der argentinische Autor Alejandro Parisi verfasst beispielsweise, ausgehend von belegten Lebensgeschichten aus Polen, Romane über den Holocaust. Es geht um die Erfahrungen im Ghetto und in Konzentrationslagern, wie sie die na‐ mentlich benannten Frauen als Kinder erlebt haben: 2009 erschien El ghetto de las ocho puertas über die 1922 geborene Jüdin Mira Ostromoglinska, 2014 La niña y su doble über Nusia Stier de Gotlib und 2017 der Roman Hanka 753 über die Auschwitz-Überlebende Hanka Dziubas Grzmot. Geboren 1976 in Buenos Aires, verfügt der Autor über keinerlei eigenen biographischen Bezug zur erzählten Handlung. Er schreibt von der sogenannten Peripherie aus über Ereignisse der europäischen Vergangenheit und schafft damit eine Transposition in einen an‐ deren Kultur- und Sprachraum. Vittoria Borsò versteht denn auch gerade die außereuropäischen Literaturen als […] ausgeprägtes Laboratorium für die Untersuchung der Aneignungs- und Trans‐ formationsprozesse von europäischen Sprachen und Kulturen. Die Transposition in einen anderen Kultur- und Sprachraum verschiebt die Sprache und verändert sie durch den Kontakt mit den lokalen Ressourcen. (Borsò 2019: 28) So gehen die Geschichten auf Reisen und es tun sich Fragen auf zu multidimen‐ sionalen Verfahren der raumzeitlichen Situierung des Erzählens realer histori‐ scher Ereignisse: Wie verändert sich die Wahrnehmung von Geschichte, wenn sie nicht im Kontext des nationalen kulturellen Gedächtnisses erzählt wird? Welche neuen, übernationalen Bezüge werden durch solche kulturellen ‚Über‐ setzungsprozesse‘ erschaffen? Was bedeutet dies für das Verhältnis von Identität und kulturellem Gedächtnis? Und welche Rolle spielt dabei die verwendete Sprache? Mit María Cecilia Barbettas Roman Nachtleuchten begegnet uns eine sprach‐ lich markierte Transposition in einen anderen Kulturraum: Die in Argentinien geborene, in Berlin ansässige Autorin schreibt in ihrer Zweitsprache Deutsch über ein besonderes Kapitel der argentinischen Geschichte. Es geht um die un‐ ruhigen 1970er Jahre, die durch den Putsch im Jahre 1976 in die Militärdiktatur münden. Diese Verschiebung des Erzählorts schreibt sich in die sprachliche Äs‐ thetik dieses exophonen 2 Werks ein und eröffnet damit neue Denkräume hin‐ 214 Vera Elisabeth Gerling sichtlich der Situierung von historischer Erinnerung als kulturelle Praxis: Es wird eine Form des übersetzerischen Schreibens entworfen, die den Prozess der transkulturellen Verknüpfung sichtbar werden lässt und einen hybriden Raum des Erinnerns schafft. Damit regt der Roman durch Sichtbarmachung von Über‐ setzungsprozessen eine Reflexion über nationalkulturelle Vereinnahmungen von Zugriffen auf Geschichte an. 1.2 Erinnerung als kulturelle Praxis Seit den 1980er Jahren befassen sich die Kulturwissenschaften auf der Basis der früheren Arbeiten von Aby Warburg und Maurice Halbwachs aus den 1920er Jahren verstärkt mit dem Paradigma des Gedächtnisses als kulturelle Praxis (vgl. Radonić / Uhl 2016: 7). Zunächst galt die Beschäftigung mit der Vergangenheit als Mittel der Identitätsstiftung, das kulturelle Gedächtnis mithin als relativ ho‐ mogen und stabil. Peter Carrier und Kobi Kabalek diskutieren zu Recht die Frage, inwiefern der Begriff des „kulturellen Gedächtnisses“, wie von Jan Assmann etabliert, die Vorstellung von nationaler Gemeinschaft impliziere (vgl. Car‐ rier / Kabalek 2014: 44-50). Basierend auf der Annahme einer homogenen Kultur laufe es Gefahr, unbewusst „‚ethnified‘ notions of memory“ zu etablieren (Moses / Rothberg 2014: 32). Kritisiert werden hier also ausschließende, identi‐ tätsstiftende Deutungsmuster, um den Blick zu öffnen für die Vorstellung von einer Koexistenz verschiedener, konkurrierender oder widersprüchlicher Erin‐ nerungen, die als ambivalent und fragmentarisch gelten. Ästhetische Zugriffe auf Erinnerungen haben das Potenzial, die in der Theorie etablierten Begriffe des „kollektiven“ und „kulturellen“ Gedächtnisses bezüglich ihres zugrundeliegenden Kulturbegriffs zu hinterfragen. Die Romane Alejandro Parisis können hier als Beispiel dienen, denn der Ort des erinnernden Schreibens liegt außerhalb jenes kulturellen Kontextes, in dem es als identitätsstiftendes kulturelles Gedächtnis reklamiert wird. Durch den Blick von Argentinien aus auf die Ereignisse in Deutschland und Polen in spanischer Sprache stellen sie Beispiele dar für Formen ‚transkulturellen Erinnerns‘, das sich jenseits der he‐ gemonialen Diskurse situiert und so die Reflexion über den Ort des Erinnerns eröffnet. Das Präfix „trans“ hat daher das Potential zur Subversion im Sinne der Offenlegung einer impliziten Homogenisierungsstrategie in Analysen zum kul‐ turellen Gedächtnis (vgl. Carrier / Kabalek 2014: 50 f.), auch über eine reine Be‐ griffsdefinition hinaus: However, the significance of transcultural memory does not lie in the definitions of its terminology, but in the practical studies of memory formation between, across and even beyond the boundaries of closed groups. (Carrier / Kabalek 2014: 52) 215 Transkulturelles Erinnern in Nachtleuchten von María Cecilia Barbetta 3 Der Begriff „cultural translation“, wie er insbesondere von Susan Bassnett konzipiert wurde, markiert den Umstand, dass Übersetzen von einer Sprache in eine andere immer auch einen Wechsel des kulturellen Kontexts bedeutet, der ganz unvermeidbar zu se‐ mantischen Verschiebungen führt (vgl. Bassnett 2007). 4 Zur kritischen Betrachtung von Welschs Begriff der Transkulturalität siehe z. B. Gött‐ sche 2013: 32 ff. Parisi konzipiert ein Erinnern, das nationale Grenzen überschreitet und die Le‐ bensgeschichten der Menschen in einem argentinischen, spanischsprachigen Kontext erzählt - Kulturübersetzung 3 ist somit seinen Werken eingeschrieben. Da seine Romane bislang weder ins Polnische noch ins Deutsche übersetzt wurden, lassen sie sich dort, wo die Handlung situiert ist, gar nicht rezipieren, bzw. nur in der anderen Sprache, die sich der Vereinnahmung in den Kontext der Ereignisse entzieht und somit keine authentische Affirmation von Identi‐ tätszuschreibungen zulässt, wie sie laut Rowan diskursiv verankert sind: „People are interested in constructing authentic relationships with a particular retelling of the past, and that past assists in the construction or reaffirmation of a sense of identity“ (Rowan 2004: 263). Daher birgt für Lucy Bond die transkulturelle Dimension des Erinnerns das Potential einer anderen Ethik der Geschichtsschreibung: The ethical practice and theory of memory should point to the importance of recog‐ nizing the gaps that occur in historical knowledge, opening up connections across time and space that do not reify experience or produce events as concrete signifiers, but reveal all readings of the past as contingent, subjective, and ultimately incomplete. (Bond 2014: 76) Literarische Werke wie die von Alejandro Parisi sind Beispiele dafür, wie die implizite Vereinnahmung des kollektiven oder kulturellen Gedächtnisses für nationale Identitätsdiskurse durchkreuzt werden kann, wie neue Erzählungen stets andere, subjektive, unabgeschlossene Versionen hervorbringen können - gerade wenn die Erinnerung nationale Grenzen überschreitet. Lucy Bond und Jessica Rapson widmen sich, auf der Basis von Wolfang Welschs Begriff der Transkulturalität (1997), 4 neuen Konzepten von „transcultural memory“. Dabei unterscheiden sie zwei verschiedene Richtungen: […] we suggest that transcultural memory might best be regarded as describing two separate dynamics in contemporary commemorative practice: firstly, the travelling of memory within and between national, ethnic, and religious collectives; secondly, forms of remembrance that aim to move beyond the idea of political, ethnic, linguistic, or religious borders as containers for our understanding of the past. (Bond / Rapson 2014: 19) 216 Vera Elisabeth Gerling 5 Zwischen 1985 und 2017 wurde der Adelbert-von-Chamisso-Preis von der Robert Bosch-Stiftung verliehen. Im Jahr 2018 war Barbetta die erste Preisträgerin des neu ins Leben gerufenen Chamisso-Preis / Hellerau, der in Dresden vergeben wird. Ziel des Preises ist weiterhin die Auszeichnung solcher Gegenwartsliteratur in deutscher Sprache, die wie das Werk Chamissos von sprachlichen und kulturellen Migrations‐ phänomenen geprägt sind. Mit María Cecilia Barbettas Roman Nachtleuchten begegnet uns ein literarisches Werk, auf welches beide der hier genannten Dynamiken zutreffen: Erstens schreibt sie in Deutschland ein Buch über (fiktive und faktuale) Ereignisse in Argentinien. So wird die Erinnerung daran in diesem Falle von Südamerika nach Europa ‚übersetzt‘ und auf diese Weise im deutschsprachigen Raum zum Thema gemacht. Zweitens ist der Roman geprägt von hybridisierenden Schreibver‐ fahren, die den Text wie eine Übersetzung aus dem Spanischen bzw. aus dem argentinischen Kontext wirken lassen und darüber hinaus Unübersetzbarkeit kenntlich machen. Durch diese sprachliche Ästhetik werden Vorstellungen von kulturellen und nationalen Grenzen durchkreuzt und ein dritter Raum der Sprache erschaffen, der sich nationalen Festlegungen entzieht. 2 Faktuales und fiktionales Erzählen in Nachtleuchten In der vorliegenden Untersuchung soll es um eine spezifische argentinisch-deut‐ sche raumzeitliche Konstellation von Erinnerung und deren ästhetische Ver‐ fasstheit gehen: María Cecilia Barbetta, 1972 in Buenos Aires geboren und auf‐ gewachsen in der Vorstadt Ballester, ist seit 1996 in Berlin ansässig. Sie schreibt Romane in deutscher Sprache und erhielt 2017 den Alfred-Döblin-Preis sowie 2018 den Chamisso-Preis / Hellerau 5 und mit dem hier vorgestellten Roman stand sie 2018 auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. In Nachtleuchten (2018) schreibt sie über das Argentinien der bewegten 1970er Jahre. Das Buch vereint eine Vielzahl von fiktiven Alltagsgeschichten und Episoden im Ort Bal‐ lester im Großraum Buenos Aires, die sich im Umfeld der damaligen politischen und gesellschaftlichen Umbrüche ereignen. Dabei ist es insbesondere die Sicht‐ barmachung von kulturellen und sprachlichen Übersetzungsprozessen, durch die im Roman die identifikationsstiftende Wirkmacht von Erinnerung bewusst gemacht und zugleich subversiv unterlaufen wird. Die faktualen Ereignisse wirken zunächst marginal, doch bestimmen sie la‐ tent die Lebenssituation der Menschen und deren Verhalten und Erleben, sodass eine Atmosphäre der Verunsicherung und Angst hervorgerufen und spürbar gemacht wird. Dies entsteht gerade durch die beiläufige Vermengung des fikti‐ onalen Alltags der Figuren mit Ereignissen der Faktengeschichte. So beginnt der 217 Transkulturelles Erinnern in Nachtleuchten von María Cecilia Barbetta 6 Bei Zitaten aus dem Primärwerk Nachtleuchten werden im Folgenden nur die Seiten‐ zahlen in Klammern nachgestellt. Roman mit einer familiären Gesprächssituation, die explizit am Tag nach dem 9. März 1974 situiert ist, an dem ein Geisterfahrer die Verkehrslage in Buenos Aires gestört hat. Zugleich jedoch wird hier bereits zu Anfang genau das Jahr erwähnt, welches Dreh- und Angelpunkt des Romans ist, denn es geht um die politische Instabilität im Kontext der Rückkehr von Juan Domingo Perón als Präsident im Jahr 1973 nach achtzehn Jahren im spanischen Exil bis zu seinem baldigen Tod im Juli 1974. Es finden sich über den Roman verteilt und in nicht chronologischer Ordnung zahlreiche Verweise auf die jeweils gegenwärtigen Ereignisse oder auch Ein‐ blicke in vergangene Begebenheiten, die für die jeweilige Lebenssituation von Bedeutung sind: So ist die erste Amtszeit von Juan Domingo Perón gerade auch im Hinblick auf den Personenkult um seine erste Frau Eva Duarte („Evita“) für die Lebensgeschichte von Laura Rachello entscheidend. Sie erhielt „aus den höchsteigenen Händen der karitativen First Lady ihre erste Nähmaschine“ (Bar‐ betta 2018a: 161) 6 , sodass sie finanziell in der Lage war, ihrem Sohn die Eröffnung eines Friseursalons zu ermöglichen. Und wie zufällig findet sich in der Auto‐ werkstatt namens Autopia ein Foto von Eva Perón auf dem Balkon des Präsi‐ dentenpalastes (vgl. 172) - wie es für die Ikonographie dieser historischen Person typisch ist. Immer wieder werden Episoden zu Evita unter den Menschen erzählt, was die Mythenbildung um diese Person unterstreicht, auch über ihre Nachrichten vom Sterbebett (vgl. 234) oder zur Odyssee ihres auf Wunsch des Präsidenten einbalsamierten Leichnams, der zwischenzeitlich verschollen war: Celio spricht gar drei Seiten lang über Evita und die ewige Trauer über ihren Verlust, wie er sie in seinem eigenen, persönlichen Umfeld über das Verhalten seiner Mutter erlebt hat - ironischerweise erzählt dieser im Friseursalon „ EWIGE SCHÖNHEIT “ von der verschollenen, einbalsamierten Evita (vgl. 270-273). Und seine Mutter schreibt eine Hommage an Eva Perón, in der sie auch den Titel des berühmten Lieds aus Andrew Lloyd Webbers Evita-Musical zitiert, wodurch auch in der Figurenrede Mehrsprachigkeit inszeniert wird: „Weine nicht for him, Ave Eva, verflossene Radiomoderatorin und Filmschau‐ spielerin, don’t cry, jetzt, wo das Ende vom Lied naht […]“ (292). Das Ende der Ära Perón durch einen Militärputsch im Jahr 1955, die gewalt‐ tätigen Umstände - wie die Bombardierung des Regierungspalasts am 16. Juni 1955 (vgl. 205) - und die direkten Folgen werden mehrmals thematisiert (vgl. z. B. 34, 109, 118). Auch das Massaker an peronistischen Studenten, das 1956 in 218 Vera Elisabeth Gerling 7 Darüber schreibt Rodolfo Walsh in seinem Buch Operación Masacre (1991 [1957]). Hierzu später mehr. der Stadt José León Suárez 7 verübt wurde, wird ganz beiläufig in den Dialog eingeflochten, wie hier bei einer Fahrstunde: „Überall spielen sie verrückt, nicht nur auf der Autobahn. Habe ich gelesen. In José León Suárez. Schlimm. Vier Tote.“ (251) Drei Tage später passiert ein tödlicher Unfall, in den die Fahrschü‐ lerin verwickelt ist, die sich daraufhin schuldig fühlt. Jedoch sagt der Fahrlehrer zu ihr: „Sie haben den Polizeichef gehört. Die waren auf der Flucht. Lara. Hören Sie zu. Lara. Schauen Sie mich an. Lara! Wir waren zur falschen Zeit am falschen Ort.“ (256) Dabei wird der Grund für die Flucht der Gestorbenen nicht erwähnt; der Zusammenhang zum Staatsterrorismus ist jedoch implizit erkennbar. Für Teresa, eine der herausragendsten Protagonistinnen des Romans, ist hin‐ gegen das 2. Vatikanische Konzil (1962-1965) prägend, auch über ihr Idol Sœur María an der Nonnenschule, die sich ganz der Theologie der Befreiung ver‐ schrieben hat (vgl. 27) und sich dabei an der in Argentinien dafür zentralen Figur Carlos Mugica und dem Movimiento de Sacerdotes para el Tercer Mundo (vgl. 83 f.) orientiert. Weitere eingestreute Referenzpunkte der Nationalgeschichte sind die Ermordung des Generals Aramburu 1970 (vgl. 133), wie auch das dazu verbrei‐ tete Communiqué (vgl. 275), die Rückkehr Peróns 1973 aus dem Exil, verbunden mit erneuter Gewalt, wie dem Massaker von Ezeiza (vgl. 114 f., 206). Diskutiert wird über den Umgang Peróns mit Linksextremisten (vgl. 202) und Don Julio kommentiert die herrschende Gewalt folgendermaßen: „Und neuerdings der Terror, den eine obskure AAA verbreitet, in ihrer Hexenjagd auf den wie auch immer gearteten kommunistischen Feind. Attentate, Entführungen, Morde: Wie weit wollen wir es treiben? “ (206). Die „ AAA “ (Alianza Anticomunista Argen‐ tina) oder auch „Triple A“, eine paramilitärische Terrormiliz, die unter Perón gewaltsam gegen linksgerichtete politische Gegner vorging, wird auch als „Drahtzieher hinter der Ermordung Carlos Mugicas“ genannt (240). Schließlich wird der frühe Tod des Präsidenten als Anlass zur Trauer einge‐ bracht (vgl. 164) und die Bedeutung dieses Ereignisses durch die erneute Plat‐ zierung des exakten Todestages am 1. Juli 1974 zu Beginn des zweiten Kapitels hervorgehoben. Und 1974 ist wiederum das Geburtsjahr der Romanfigur Do‐ mingo Gianelli (vgl. 264) sowie das Jahr der Rückkehr von Evitas verschollenem Leichnam (vgl. 279). Mehrmals wird auf den unglücklichen Umstand hinge‐ wiesen, dass nach Peróns Tod seine dritte Ehefrau die Regierungsgeschäfte übernimmt, ihre Schwäche im Amt jedoch dafür mitverantwortlich gemacht wird, dass es schließlich im Jahr 1976 zum Militärputsch kommt, der dann die argentinische Militärdiktatur unter General Videla einläutet. Dazu gehört zum 219 Transkulturelles Erinnern in Nachtleuchten von María Cecilia Barbetta 8 Hier geht es um das oben bereits erwähnte Massaker an peronistischen Studenten 1956 in José León Suárez. Beispiel auch der Hinweis auf die historisch verbürgte Kampagne der María Estela Martínez de Perón, die am Wahrzeichen von Buenos Aires, dem Obelisken auf der Avenida Corrientes, das Schild anbringen ließ „ EL SILENCIO ES SALUD “: „Man würde in den Medien verkünden, der Slogan SCHWEIGEN IST GESUNDHEIT richte sich gegen den ansteigenden Autolärm in der Innenstadt. Man würde in Argentinien nicht mehr lange fackeln und in Zukunft Krachma‐ cher und Ruhestörer gleich aus dem Weg räumen.“ (324) Die Wortwahl „Schweigen“ deckt die Doppeldeutigkeit dieses Slogans auf, kann doch „silencio“ sowohl Stille als auch Schweigen bedeuten. Da die im Roman verwendete Über‐ setzung diese Polysemie vereindeutigt, wird hier die stets inhärente Differenz zwischen den Sprachen implizit thematisiert. Diese Verweise auf historische Fakten werden immer auch genutzt, um spo‐ radisch Wissen über die geschichtlichen Ereignisse einfließen zu lassen. Beson‐ ders deutlich wird dies, wenn die Hintergründe zum Militärputsch im Jahr 1955 beschrieben werden (vgl. 34-35) oder ein in Argentinien wohlbekannter Autor erläuternd präsentiert wird: „Der investigative Journalist Rodolfo Walsh hatte 1957 einen dokumentarischen Roman über das Massaker 8 veröffentlicht“ (35) - in Argentinien gehört Walsh zum kollektiven Gedächtnis, er wurde unter der Militärdiktatur 1977 ermordet, als sein hier angesprochenes Buch Operación masacre ihn in Argentinien längst berühmt gemacht hatte. Damit wird die raumzeitliche Situierung des Erzählens offenkundig, denn hier werden einem deutschsprachigen Publikum in der Art einer erläuternden Übersetzung Hin‐ tergrundinformationen nahegebracht, die hier eher nicht Teil des kollektiven Wissens sind. Unabhängig von der Frage, wie bekannt Walsh im zielkulturellen Kontext tatsächlich ist, macht das Merkmal des Erläuterns erkennbar, dass wir es hier mit einer Kulturübersetzung zu tun haben. Durch die stete Erinnerung an die politischen und gesellschaftlichen Kontexte wird aber nicht nur ein Einblick vermittelt in diese konfliktreiche Umbruch‐ phase voller Hoffnungen und Verzweiflung, welche dann in eine Diktatur münden wird, die durch 9.000 bis 30.000 „Verschwundene“ traurige Berühmtheit erlangen sollte. Im Vordergrund steht vielmehr das Alltagsleben der zahlreichen Protagonisten, ihr Erleben dieser Zeit und die Frage, wie die kollektive Unruhe und Angst auf das Leben der Menschen einwirkt. Implizit deutlich wird dies in Situationen, die gar nicht direkt mit Politik in Verbindung gebracht werden, so z. B. wenn Berta Sanfratello den Jungen Quique zu schützen versucht: Sie „[…] schnappte sich Quique im Vorbeigehen, um ihn in den Garten hinter der Werk‐ 220 Vera Elisabeth Gerling statt zu lotsen, dorthin, sagte sie, wo die Gewalt in diesem Land keine greifbare Wirklichkeit war.“ (223) Etwas deutlicher wird die Vorausdeutung auf die kom‐ mende Diktatur in den Aussagen von Patricio Viamonte Rey, der Saberio ge‐ genüber äußert: Ich kenne euch. Ich habe euch im Visier. Ich weiß, wie ihr denkt. Ich werde mit Leuten deines Schlages fertig, wahrscheinlich noch nicht im Rahmen dieser Regierung, aber bald, bald kriegen wir euch alle, denn Typen wie du […] bringen wir mit der ganzen Härte des Gesetzes und - sollte das etwa nicht ausreichen - eiserner Hand dazu, zu singen, und nachdem sie gesungen haben, zum Schweigen. (301) Der Roman Nachtleuchten bettet seine fiktiven Alltagsgeschichten im histori‐ schen Kontext ein und präsentiert so wie in einem Kaleidoskop eine Vielzahl fragmentarischer Einblicke in die argentinische Gesellschaft. So meint Barbetta selbst: „Es ging mir nie um die großen Helden oder die großen Verbrecher der argentinischen Geschichte, sondern um die Atmosphäre dieser Jahre“ (Barbetta 2018b). Diese Atmosphäre lässt der Roman uns beim Lesen nachspüren, und die erzählten Alltagsgeschichten stehen auch sinnbildlich für die Situation im Land, die geprägt ist von der Konfrontation extremistischer politischer Richtungen, von sozialen Differenzen, von Aberglauben und Haltlosigkeit, aber auch vom Schweigen über die politischen Veränderungen, auch wenn manche der Ro‐ manfiguren ihr Wissen darum zumindest andeuten: „Die Fakten, die in diesem Land geschaffen werden, schieben die Grenzen des Vorstellbaren immer ein Stück weiter hinaus“ (Barbetta 2018a: 269). Die narrative Verfasstheit des Romans konfrontiert uns also damit, dass Er‐ innerung stets als fragmentarisch, kontingent und subjektiv geprägt zu hinter‐ fragen ist und bestätigt so die oben erwähnte Idee der Koexistenz verschiedener, auch widersprüchlicher Versionen von Erinnerung. Im Roman wird ein Blick von Deutschland auf Argentinien inszeniert: Dieser Wechsel des kulturellen Kontextes wird durch die geschilderten, in den Text eingewobenen Erläute‐ rungen deutlich. Darüber hinaus jedoch ist die Sprache dieses Romans durch Eigenschaften geprägt, die den Fokus auch ästhetisch auf diese transnationale Situierung des Erzählens lenken: In den Text sind übersetzerische Verfahren eingeschrieben, die einen hybriden Raum des Erinnerns erschaffen. Auf diese Weise wird die raumzeitliche Verschiebung des Erzählens stets im Bewusstsein gehalten, bis hin zur Bildung von Paradoxien, die die Vorstellung eines natio‐ nalkulturellen Zugriffs auf Vergangenheit ad absurdum führen. Dies ermöglicht neue, dezentralisierte Annäherungen an historische Begebenheiten, durch die etablierte Vorstellungen von kultureller Homogenität und nationalkultureller Erinnerungstradition irritiert und entgrenzt werden. Der Roman schafft in 221 Transkulturelles Erinnern in Nachtleuchten von María Cecilia Barbetta seiner ästhetischen Verfasstheit einen dritten Raum der Sprache und der Erin‐ nerung, der durch übersetzerische Schreibverfahren hervorgebracht wird. Es entsteht eine plurale Konnektivität, die sich der geschlossenen Vorstellung von Zugehörigkeiten entzieht. So meint auch Barbetta selbst, sie könne in ihrem Schreiben „zwei Dinge zusammenführen, die vielleicht auf einer Landkarte nicht zusammenpassen würden, aber in der Literatur passen sie schon.“ (Barbetta 2018b) Sprachlich spielt der Roman somit also an zwei Orten: in Argentinien und Deutschland, und diese Hybridität der Situierung bringt der Text durch eine übersetzerisch geprägte Schreibstrategie hervor, wie sie im Folgenden näher erläutert werden soll. 3 Sprachästhetische Verfahren der Hybridisierung in Nachtleuchten Im Roman wird an verschiedenen Stellen ein experimenteller Umgang mit der Sprache, auch mit der Materialität der Schrift, inszeniert durch graphische Be‐ sonderheiten. So werden in einem kurzen Kapitel wechselnde Buchstaben durch ein Oval ersetzt (vgl. Barbetta 2018a: 214 f.), in einem Kapitel, das wie ein Tage‐ buch konzipiert und in der ersten Person verfasst ist, finden sich als intertex‐ tuelle Referenz zum Genre Comic die Wörter „Crash“ und „Tatütataaa“ deutlich größer gesetzt und in Fettdruck (vgl. 255), das Kapitel 33 in Teil 2 kündigt einen Text vom Autor Álvaro Fatini an, besteht aber zunächst nur aus den Buch‐ staben XXXX (vgl. 338-340), später finden sich graphische Spielereien mit dem Wort „Abrakadabra“, wobei im zweiten Beispiel nur die Buchstaben „ AAA “ übrigbleiben als versteckte Referenz zur oben bereits erwähnten paramilitäri‐ schen Einheit Triple A (vgl. 428, 429). Wie auch die Einteilung der ersten drei Teile in jeweils 33 Kapitel (u. a. eine Referenz auf das Todesalter von sowohl Jesus als auch Evita, wie es im Roman auch explizit genannt wird (vgl. 272), stellt dies ein Verfahren dar, das den Blick auf die Konstruiertheit der Schriftsprache lenkt und so bereits eine Sensibilisierung dafür ermöglicht, den Text nicht allein als transparenten Blick auf die erzählten Ereignisse zu verstehen. Insbesondere verweist der Roman über das ästhetische Verfahren inszenierter Übersetzungsstrategien stets erneut darauf, dass wir es hier mit einem kulturellen Transfer zu tun haben. Verschiedene Übersetzungsprozesse sind unüber‐ sehbar in den Text eingeschrieben: zum einen werden wir durch die Beibehal‐ tung von Kulturrealia mit fremden Elementen konfrontiert, zum anderen nimmt das Übersetzen selbst einen besonderen Platz in der Erzählung ein und schließ‐ lich inszeniert der Text Unübersetzbarkeiten. Durch diese diversen Verfahren wird ein Bewusstsein dafür geschaffen, dass es sich um einen Kontextwechsel 222 Vera Elisabeth Gerling 9 In einem per E-Mail geführten Interview äußert sich die Autorin María Cecilia Barbetta am 15. 09. 2020 folgendermaßen: „Durch den Filter der Fremdsprache ändert sich der Blick auf Argentinien. Zwar spielt die Handlung von Nachtleuchten dort, aber durch die Wahl der deutschen Sprache als Bedeutungsträger entsteht ein phantasmagorischer Ort, ein dritter Raum, bei dem unterschiedliche Bilder und Vorstellungen sich perma‐ nent überlappen und bisweilen miteinander verschmelzen. Dort, an der Schnittstelle, sehe ich eigentlich alle meine Bücher verortet. Die ‚argentinische‘ Geschichte wird beatmet durch die Erfahrung in der Fremde, durch die Erfahrung der Freiheit, die es auszuhalten gilt, wie es in Nachtleuchten heißt, und die in meinen Augen der deutschen Sprache innewohnt.“ und somit eine Form von „cultural translation“ (vgl. Bassnett 2007) handelt: Das Buch wirkt wie übersetzt, das heißt, die sprachliche Ästhetik zeichnet nach und macht sichtbar, dass hier ein kultureller Transfer stattgefunden hat. So schreibt zum Beispiel erläuterndes Übersetzen immer wieder den Ort des Schreibens und das implizite Zielpublikum in den Text ein: Das Buch richtet sich an eine deutschsprachige Leserschaft, die Inhalte stammen aus einem anderen kulturellen Kontext. 9 3.1 Inszenierte Fremdheit Wir stoßen im Text auf zahlreiche fremdsprachliche Begriffe aus dem latein‐ amerikanischen oder argentinischen Kontext, die unkommentiert im Text ver‐ bleiben, deren Fremdheit durch die Kursivschrift aber zudem noch betont wird: „Aus der unmittelbaren Umgebung ertönten die Cumbias der Wawancós, die sich mit den Chamamés von Tarragó Ros und den Tangos von Carlos Gardel verwoben, zu denen sich die Boleros eines Tony Tormenta gesellten“ (Barbetta 2018a: 52); „unter blühenden Lapachos“ (77); „die Nachbarn hielten eine Siesta, während in den Patios und Gärten die Zikaden sangen.“ (78); „Misa Criolla“ (83). Insbesondere Namen von Süßigkeiten finden sich teils ohne weitere Erläute‐ rung: „Caramelo media hora“, „Topolín“, „Chicle Bazooka“, „Caramelos Georgalo“, „Galletitas Manón“ u. a. (98 f.); „Alfajor Guaymallén“ (133). Auch Ob‐ jekte aus der Natur werden bisweilen als markiertes Fremdheitselement einge‐ bracht, wie z. B. der Baum „Palo Santo“ (124) oder das Gemüse „Zapallito cri‐ ollo“ (230). Im Falle des „Ceibo“, einer in Südamerika sehr verbreiteten Baumart, die insbesondere in Argentinien und Chile beheimatet ist und deren deutsche Entsprechung „Hahnenkammbaum“ oder „Korallenbaum“ lautet, erfolgt immer in Kursivschrift. Dabei werden dann auch Komposita gebildet, wobei der deutschsprachige Teil nicht kursiv gesetzt ist. So entsteht eine typographisch gestaltete Hybridität: „Ceibobaum“ (128), „Ceiboblüte“ (204). Solche Verfahren der Sprachmischung sind aus Werken bekannt, die Formen des transkulturellen Schreibens verwenden. So analysiert László Szabó die Hy- 223 Transkulturelles Erinnern in Nachtleuchten von María Cecilia Barbetta bridisierung des Romans Atemschaukel von Herta Müller als Vermischung des Deutschen mit dem Russischen im Sinne eines transkulturellen Erinnerns (vgl. Szabó 2017: 345), Ottmar Ette stellt die „getürkte“ Sprache in Emine Sevgi Öz‐ damars Werk (vgl. Ette 2004: 241) oder das Fremdwerden in der Sprache von José Francisco Agüera Oliver (vgl. 247) vor. Im Roman von Barbetta ist dies eines von verschiedenen Verfahren, die zu einer Verschiebung von Denkmustern führen können. Es wird hier kein exotisierender Blick auf Argentinien insze‐ niert, sondern vielmehr eine transkulturell geprägte Sprache entworfen. 3.2 Erläuterte Fremdheit Wenn beim Übersetzen kulturspezifische Elemente auftauchen, für die es kein Äquivalent in der Zielsprache gibt, das Wissen darum jedoch für den Text von Bedeutung ist, so kann das erläuternde Übersetzen zum Einsatz kommen. Dabei werden z. B. Kulturrealia im ausgangssprachlichen Wortlaut belassen, aber wei‐ terführende Informationen in den Text eingeflochten. Vermittels der Erläute‐ rungen wird der Umstand des Kulturtransfers im Bewusstsein gehalten. Ein mögliches Verfahren, durch das z. B. Kulturrealia eingeführt werden, ist die nachgestellte Erläuterung. Beispiele für eine solche Übersetzungsstrategie finden sich zahlreiche im Roman: „Dort im Schatten des Palo borracho, eines prächtigen Florettseidenbaums, saß Sœur Asunción und hütete sich vor Son‐ nenbrand“ (Barbetta 2018a: 55); „die Santísima Virgen del Monte, […] die Heilige Jungfrau auf dem Berge, oder auch [.] die wunderschöne Virgen del Cerro, Unsere liebe Frau am Hügel“ (13), „Conventillo, einer dieser Gemeinschaftsbehau‐ sungen“ (160); „semana trágica […] in der sogenannten tragischen Woche“ (232). Als die Bezeichnung „Evita“ eingeführt wird, erfolgt ebenfalls eine nachgestellte Erläuterung: „[…] thronte Santa Evita, ein koloriertes Bild von Eva Duarte de Perón“ (108). Es finden sich auch indirekt eingeschobene Erläuterungen wie: „Mugica war die Stimme des Movimiento de Sacerdotes para el Tercer Mundo. Bereits vor dem Zusammenschluss der Drittweltpriester […]“ (83). In einer längeren Passage werden elf verschiedene Fleischprodukte beim „Asado“, einer traditionellen argentinischen Mahlzeit mit Gegrilltem, vorge‐ stellt. Indem so die Vielfalt der dargebotenen Speisen aufzeigt wird, entsteht durch die detaillierten Erläuterungen ein exotisierend-touristischer Blick, der dadurch die kulturelle Prägung der Sprache und die Fragwürdigkeit der Vor‐ stellung von übersetzerischer Äquivalenz (vgl. Espagne 2013: 7) vor Augen führt: „Der zweite Gang bestand aus Morcilla, Blutwurst, und Choripán, Chorizo auf Brot, mit einer selbstgemachten, göttlichen Chimichurri, einer scharfen Sauce, bei der getrocknete Chiliflocken, gehackte Petersilie, Thymian, Oregano, Lor‐ beer, Zwiebeln, Knoblauch, Salz und Pfeffer mit Öl und Essig vermischt wurden.“ 224 Vera Elisabeth Gerling (Barbetta 2018a: 126) Am Ende finden sich nur noch schlichte Wortgleichungen: „Chinchulines, Dünndarm, Tripa gorda, Dickdarm, Riñoncitos, Nieren, und Mol‐ leja, Kalbsbries“ (ebd.). 3.3 Inszenierte Übersetzbarkeit Während an der unter 3.1 erwähnten Stelle die Bezeichnungen für Süßigkeiten nicht erklärt werden, findet sich im folgenden Beispiel eine in den Dialog ein‐ gepflegte Übersetzung, durch die besonders hervorgehoben wird, wie sich kul‐ turelles Wissen in die Alltagssprache einschreibt, so auch die Einsicht in die Scheinheiligkeit der katholischen Kirche: Abgesehen von den obligaten Medialunas, Bombas de crema, Cañoncitos con dulce de leche, Vigilantes, Sacramentos und Bolas de Fraile, zu denen manche lieber Suspiros de monja sagen. […] Das Übliche also: Halbmonde, Sahnebomben, kleine Kanonen mit Milchkaramellfül‐ lung, Ordnungshüter, Sakramente und prall gefüllte Mönchseier, bekannt auch als Nonnenseufzer. (241) Ein paar Zeilen später findet sich eine weitere Erläuterung: „Die Mönchseier oder Nonnenseufzer, die argentinische Variante der Pfannkuchen, gab es mit Quitten oder Creme.“ (241) Im Roman werden die Erläuterungen bisweilen auch vorangestellt, wie beim folgenden Bibelzitat: „[…], dass es höchste Zeit sei, die Waffen niederzulegen und zu den Pflügen zu greifen. Como dice la Biblia, hay que dejar las armas para empuñar los arados.“ (108) Im Falle von „Der Topf wurde aufgedeckt. Se destapó la olla“ (427) wird das Übersetzen insofern problematisiert, als dass hier die wortwörtliche Bedeutung, nicht aber die sprichwörtliche (im Sinne von „Das Geheimnis wurde gelüftet“) gewählt wird, sodass auch die potentielle Unzu‐ länglichkeit von Übersetzungsprozessen erkennbar wird. Während sich Liedtexte in spanischer Sprache mehrfach im Buch finden, zeigt eine einzelne Passage, wie deren Inhalte auch vorab erläutert werden können: Beim Lied „Anahí“ wird zuvor in den Dialog die Erläuterung der Legende ein‐ gebaut, um die es dort geht (vgl. 122 ff.). An anderer Stelle wird ein Bolero ohne spanisches Original in Übersetzung aufgenommen (vgl. 253). Ein anders Lied wird sogleich zweisprachig präsentiert, mit einer kleinen gedruckten Version zwischen den Zeilen (vgl. 286), sodass wir es hier mit einer sichtbar präsentierten Interlinearübersetzung zu tun haben. Diese Übersetzungsästhetik begegnet bereits auf der ersten Seite des Romans, auf der die Polysemie des Wortes „ojo“ in die Erzählung eingebunden wird: 225 Transkulturelles Erinnern in Nachtleuchten von María Cecilia Barbetta 10 Nach Large et al. besteht die Bedeutung von Unübersetzbarkeit in der Anerkennung von Fremdheit: „acknowledging a foreign word as untranslatable is at the same time to Teresa antwortete mit Nein und Ja, während sie den Gimmick vom Cover ihres Ma‐ gazins Anteojito zu lösen versuchte. „Aber nicht doch“, platzte sie heraus. Sie war weiß Gott unvorsichtig gewesen, das Papier war eingerissen, die Hälfte der Buchstaben auf der glänzenden Titelseite waren von der Bildfläche verschwunden, so dass es von nun an nur noch Ojito heißen würde: Achtung, Unfug, dachte Teresa verärgert. Als nützte es etwas, im Nachhinein mit einer Warnung behelligt zu werden. Ojito bedeutete auch Äuglein, doch die halfen nicht immer weiter. (11) Schon die Benennung als „Magazin“ stellt eine Erläuterung des Titels Anteojto dar, die Erklärungen zum Wort „ojito“ entsprechen ebenfalls Verfahren des er‐ läuternden Übersetzens und machen gleich auf der ersten Seite des Romans deutlich, dass es sich um einen anderen kulturellen Kontext mit einer anderen Sprache handelt. Hier erkennen wir bereits eine Paradoxie: Die Romanfigur sinniert über die Polysemie des Wortes „ojo“, die ja aber erst in der Begegnung mit den deutschen Entsprechungen zur Geltung kommt - Übersetzungsprozesse werden bereits auf der ersten Seite des Romans in die Handlung eingebunden. Bei der Passage zum Asado wird das erläuternde Übersetzen parodistisch auf die Spitze getrieben. Paradox zur Kohärenz des Erzählten gerät das Erläutern wiederum dann, wenn es sich auf einer graphisch abgesetzten, offiziellen Ein‐ ladung findet: „[…] geben sich die Ehre, […] zur Buenos Aires-Premiere von Fiesta en el Hielo - Fest auf dem Eis 1974 einzuladen“ (48), da die Übersetzung die Authentizität des Dokuments durchkreuzt. 3.4 Inszenierte Unübersetzbarkeit Barbettas Schreiben gilt als blumig, was auch an der Vielzahl der verwendeten idiomatischen Ausdrücke und Redensarten liegen mag. Wenn sich diese häufen, wird dadurch aber wiederum die Funktionsweise von Sprache selbst in den Mit‐ telpunkt gerückt, wobei die übertriebene Kumulation von idiomatischen Wen‐ dungen bereits in den Bereich des Unübersetzbaren fallen mag: „weil sie nämlich keinen Mann an der Angel gehabt hatten […] andere Kandidaten […], die sie in die Wüste hätten schicken können“ (20); „die für ihn die Hand ins Feuer legten und dabei Kopf und Kragen riskierten“ (35). Ein weiteres Verfahren in diesem Roman ist das Einbringen von Ausdrücken oder Formulierungen, die deutlich Unübersetzbarkeit inszenieren und damit aufzeigen, dass zwischen verschiedenen Sprachen und Kulturen keine Äquiva‐ lenz möglich ist, sondern stets unhintergehbare Differenzen bestehen bleiben 10 : In Nachtleuchten wird dies z. B. durch einen spielerischen Umgang mit Begriffen 226 Vera Elisabeth Gerling acknowledge the irreducibility of cultural difference, granting a peculiar, unassimilable otherness to the culture that the foreign language represents.“ (Large et al. 2019: 2) 11 Barbetta nennt diese Polysemien nach Alfred Jarry „Ideenpolyeder“, was die Wörter eher als haptische Objekte wahrnehmbar mache (Barbetta 2010). 12 Diese Idee der raumzeitlichen Paradoxie ist uns in anderer Weise aus dem Essay „Pierre Menard, autor del Quijote“ von Jorge Luis Borges bekannt: Hier schreibt Pierre Menard im 20. Jahrhundert Passagen des Don Quijote in Frankreich auf Spanisch in wortwört‐ licher Übereinstimmung neu. Das Paradoxon liegt hier in dem Umstand, dass exakt die gleichen Zeilen im französischen Kontext des 20. Jahrhunderts eine ganz andere Wir‐ kung entfalten als vierhundert Jahre zuvor im Ursprungskontext (vgl. Borges 1992: 35-45). der deutschen Sprache vor Augen geführt, für die es gerade im Spanischen keine direkte Entsprechung geben kann. Hier findet sich zum Beispiel das Aufteilen von Komposita: „die erdrückende Ungewissheit im Herzen und den Alb in den Träumen“ (13). Häufig treffen wir auf Formulierungen, in denen idiomatische Ausdrücke verschliffener Metaphern in ihrer wortwörtlichen Bedeutung auf‐ genommen werden: „Als die offizielle Kontaktfrau sich […] mit der Hand über die Augen fuhr, wies Silvia Lozano ihr Augenwischerei und offensichtliche Ver‐ schleierung nach“ (143); „[…] um die noch warme Leiche an Ort und Stelle zu begraben. Man ließ Gras darüber wachsen, die Zeit verging und der Holzpflock florierte.“ (63); „zu den […] auf das tote Gleis geschobenen; höchste Eisenbahn für die gesamte Christenheit“ (26). Paradox wird dieses Verfahren dann, wenn über einen möglichen doppelten Sinn in einem deutschen Wortkompositum nachgedacht wird, obwohl die er‐ zählte Geschichte sich im argentinischen Kontext abspielt, diese Reflexion also dort so gar nicht möglich wäre: „Ihr hatte sich urplötzlich der tiefere Sinn des Wortes Leidensgenossinnen erschlossen, und sie schreckte vor dieser Er‐ kenntnis zurück: Die Märtyrerinnen, die ihnen Vorbild sein sollten, ließen das Leiden nicht bloß über sich ergehen, die genossen es auf ihre Art.“ (75) 11 Ein anderes Beispiel für eine solche transkulturelle Paradoxie besteht im Sprach‐ spiel, das aus der Wahrnehmung des Schilds „Ausfahrt freihalten“ erwächst. Teresa verliest sich und sie meint dort „Freiheit aushalten“ zu lesen - wiederum ein Wortspiel, für das es im räumlichen Kontext des Romans keine direkte Ent‐ sprechung geben kann, da nicht einmal ein äquivalentes Schild im argentini‐ schen, spanischsprachigen Kontext existiert. 12 In einer oben bereits zitierten Textstelle begegnet uns zudem der Begriff „Gimmick“, der aus dem anglophonen Raum stammt, aber insbesondere im deutschsprachigen Kontext für genau die Generation von Barbetta (geboren um das Jahr 1970) Teil des kollektiven Gedächtnisses ist: Im Jahr 1975 erschienen 227 Transkulturelles Erinnern in Nachtleuchten von María Cecilia Barbetta 13 Im per E-Mail geführten Interview äußert sich die Autorin María Cecilia Barbetta am 15. 09. 2020 folgendermaßen: Um auf diese Bezeichnung zu kommen, fragte sie „deut‐ sche Freunde, ob auch sie so was Ähnliches hatten wie wir bei den Kinderzeitschriften Billiken oder Anteojito. Wir sagten dazu ‚regalo sorpresa‘ oder ‚yapa‘. Ebensowenig kannte ich bis dahin die Yps-Hefte, die meine Freunde in dem Zusammenhang er‐ wähnten.“ 14 Von Herman Melvilles Erzählung existieren zahlreiche Übersetzungen; etabliert hat sich diese Version des Satzes. 15 Rainer Moritz spricht von „überschäumendem Einfallsreichtum“: „In der lateinameri‐ kanischen Tradition stehend, agiert sie mit Wortspielen, setzt auf grafische Elemente (die manchmal nicht mehr sind als Spielereien) und macht aus dem Ballester-Viertel erstmals Yps-Comichefte für Kinder, denen jeweils ein „Gimmick“ 13 beigelegt war. Somit wird hier eine deutsche Kulturrrealie in den argentinischen Kontext verlegt, sodass ein raumzeitliches Paradoxon entsteht. 3.5 Transkulturelle Intertextualität Der Roman ist gespickt mit intertextuellen Andeutungen. Dabei finden wir auch den versteckten Hinweis auf Intertexte in Übersetzung, wiewohl sie unauffällig im Text platziert sind. Im Fahrstundenprotokoll von Lara Kiri, der unglückse‐ ligen Fahrschülerin, antwortet der verunsicherte Saberio auf ihre drängenden Bitten: „Ich möchte lieber nicht“ (255), ein versteckter Intertext zu dem be‐ rühmten Zitat „I would prefer not to“ aus Herman Melvilles Bartleby, der Schreiber. 14 Wenn wir hingegen lesen: „[…] wurden zu Pfaden, die sich ver‐ zweigten“ (35), so verbirgt sich dahinter ein intertextuelles Spiel mit dem Werk des wohl berühmtesten argentinischen Schriftstellers Jorge Luis Borges. Eine seiner bekanntesten Erzählungen trägt den Titel „El jardín de los senderos que se bifurcan“, der in der deutschen Übersetzung tatsächlich lautet: „Der Garten der Pfade, die sich verzweigen“ (Borges 1992: 77). Diese versteckten intertextu‐ ellen Anspielungen weisen ebenfalls darauf hin, dass Kulturen nicht in sich ge‐ schlossene Entitäten sind, sondern stets in Bewegung und in gegenseitigem Austausch, denn: „[I]ntertextuality provides a way of bringing texts of different cultures - or, to be more precise, of different literary cultures - into interaction and of establishing new, hitherto unexplored connections between them.“ (Neu‐ mann 2020: 139) 4 Erinnern im Zwischenraum der Sprache Schon der überbordende Stil, in dem der Roman Alltagssituationen in der Klein‐ stadt Ballester darstellt - von manchen Rezensionen gelobt, von anderen kriti‐ siert, von wieder anderen als typisch lateinamerikanisch exotisiert 15 - lenkt das 228 Vera Elisabeth Gerling eine Bühne mit aberwitzigen, liebenswerten Darstellern.“ (Moritz 2018) Volker Breide‐ cker schreibt von einem „mit allen Wassern der Kunst gewaschenen, fein durchwirkten, in seinem Figuren-, Stimmen- und Formenreichtum kein Register auslassenden Roman“ (Breidecker 2018). Dirk Fuhrig schreibt: „Das Buch gleicht einem breitflächigen Ge‐ mälde, das ständig weitergemalt wird. Man mag bedauern, dass die politisch-gesell‐ schaftliche Ebene darin so sehr als Nebensache behandelt wird.“ (Fuhrig 2018) 16 Im per E-Mail geführten Interview äußert sich die Autorin María Cecilia Barbetta am 15. 09. 2020 folgendermaßen: „Der Roman lebt zum großen Teil von der deutschen Sprache. Für mich ist das Schreiben in der Fremdsprache mit einer Entdeckungsreise vergleichbar, bei der die Zweitsprache das Vehikel ist, das Medium, das mir ermöglicht, mich Argentinien aus einer neuen Perspektive wieder anzunähern. Eine Fremdsprache eröffnet unbekannte Sichtweisen, gerade weil der Umgang damit keine Selbstverständ‐ lichkeit ist. Die Fremdsprache bleibt immer fremd, und das ist wunderbar produktiv. Die Fremdsprache bietet eine konstante Reibungsfläche, sie ist eine Einladung zum Experimentieren, zum wiederholten Anschauen dessen, was wir für bekannt halten (in meinem Fall: Argentinien). Die Art und Weise, wie ich Sprache wahrnehme (ihren Klang, das Vorhandensein mehrerer Bedeutungsebenen bei einem Wort) kann sogar auf die Romanhandlung Einfluss nehmen.“ Augenmerk auf eines der wichtigsten Themen dieses Werks: die Rolle der Sprache. 16 Neben diversen Sprachexperimenten werden unterschiedliche Phänomene von Sprach- und Kulturübersetzung ästhetisch in den Text eingewoben und auf diese Art sichtbar gemacht, wie die Analyse gezeigt hat: Teils werden spanisch‐ sprachige Begriffe ohne weitere Erläuterung übernommen oder es werden Wörter bzw. Kulturspezifika erklärt. Der Text inszeniert ein übersetzerisches Schreiben, das den Prozess des Kulturtransfers offenbar werden lässt, obwohl es sich nicht im eigentlichen Sinne um eine Übersetzung handelt. Weiterhin finden sich deutsche Kulturrealia, die die Authentizität des in Argentinien si‐ tuierten Geschehens in Frage stellen. Dabei operiert der Text mit dem Paradigma der Unübersetzbarkeit in der Verwendung des Deutschen - dies gerade bei Sprachspielen. Für das Schild „Ausfahrt freihalten“ etwa gibt es keine direkte Entsprechung im Spanischen und weniger noch für die Assoziation „Freiheit aushalten“, die im argentinischen, spanischsprachigen Kontext der Roman‐ handlung gar nicht möglich wäre. Insbesondere solche Paradoxien führen zu produktiven Kommunikationsstörungen, die neue Erfahrungsprozesse hervor‐ bringen können, wie Vittoria Borsò mit Bezug auf Jacques Rancières Konzept der „Aufteilung des Sinnlichen“ erläutert: „Kommunikationsstörung gehört aber gerade zu den Leistungen von Literatur und ist Teil des potenziellen Lektüreereignisses, weil sie den Leser für Erfahrungsprozesse öffnet, die die Politik und das Regime des Sinnlichen ändern können“ (Borsò 2019: 33). Barbettas Schreiben ist durch die Visibilität von Übersetzungsprozessen ge‐ kennzeichnet von solchen produktiven Kommunikationsstörungen, bisweilen 229 Transkulturelles Erinnern in Nachtleuchten von María Cecilia Barbetta 17 Laut der Autorin María Cecilia Barbetta ist in Argentinien eine Übersetzung des Romans Nachtleuchten in Arbeit, an der sie selbst bei der Lösung vieler ‚Unübersetzbarkeiten‘ mitgearbeitet hat. 18 Der Übersetzer Erwin Landrichter entscheidet sich bei der Übersetzung von „écart“ für eine Doppellösung: Abstand / Abweichung. Teils verwendet er beide Termini, teils ent‐ scheidet er sich für jeweils einen, wie er in einer Fußnote erläutert (vgl. Jullien 2017: 37). Diese Verfahren selbst stellt eine Abweichung dar. Jullien verwendet bewusst nicht den Begriff der „Differenz“ nach Jacques Derrida. auch mit selbstironisch-komischer Wirkung, wenn z. B. einigen Romanfiguren etwas plötzlich „spanisch“ vorkommt (Barbetta 2018a: 63). Das Motiv der Un‐ übersetzbarkeit, wie es in den Roman mit eingeschrieben ist, verweist auf die generelle Unzulänglichkeit von Verstehensprozessen, wie wir mit Barbara Cassin sagen können: „La ‚méthode‘ pour faire face à la non-compréhension est de ne pas harmoniser, surtout pas trop ni trop vite, mais […] de demeurer aussi longtemps que possible dans cet in-between, entre deux ou plus de deux“ (Cassin 2016: 79). Der Roman hält in seiner Sprachästhetik stets diese Unabschließbar‐ keit von Übersetzungs- und Verstehensprozessen im Bewusstsein. 17 4.1 Plurale Identitäten Die angenommene Kohärenz von kultureller Zugehörigkeit wird in Nacht‐ leuchten kontinuierlich hinterfragt. Denn durch diese Ästhetik der Sichtbarma‐ chung von Übersetzungsprozessen entzieht sich der Roman einer Instrumenta‐ lisierung für Vorstellungen von Identität, nationaler Kultur und harmonischer, interkultureller Verstehensprozesse. Somit entwirft Barbetta ein autonomes, sich nationalen Zuweisungen entziehendes Schreiben. Es wäre mithin eine Form der Ästhetik, die eine Instrumentalisierung für nationale Ideologien verunmög‐ licht, indem es der transkulturellen Poetizität eine herausragende Bedeutung zuschreibt. Dieses Schreiben durchkreuzt etablierte Vorstellungen von kultureller Zugehörigkeit und stellt die angenommene Gültigkeit von Sprach- und Kulturgrenzen in Frage, indem es „Außer-Ordentliches“, jenseits der Norm Ste‐ hendes, als irritierenden Stachel im Text platziert (Waldenfels 1990: 36). Bar‐ bettas übersetzerisches Schreiben vermag es, die Konfigurationen von natio‐ naler Identität als diskursive Zuschreibung (vgl. Borsò 2012: 430) zu entblößen. Denn sie schreibt hier an gegen das Paradigma des Monolingualismus, das als unhinterfragte kulturelle Ordnung für die Abschließbarkeit von Kultur, Sprache und nationaler Zugehörigkeit steht (vgl. hierzu Yildiz 2012). Die im Roman be‐ obachteten Phänomene von Mehrsprachigkeit und Übersetzungsprozessen sind mit Vorstellungen von nationalkultureller Identität nicht vereinbar. François Jullien bezeichnet in seinem Buch Es gibt keine kulturelle Identität die Abweichung von der Norm, die er im Französischen „écart“ 18 nennt, als pro‐ 230 Vera Elisabeth Gerling duktives Moment: „Insofern ist sie fruchtbar: Sie führt nicht durch Klassifizie‐ rung zu Erkenntnissen; indem sie Dinge in Spannung versetzt, regt sie vielmehr zur Reflexion an“. Abweichungen bilden nach Jullien ein erfinderisches Zwi‐ schen ( Jullien 2017: 43), durch das identifizierende Perspektiven aufgedeckt und bewusst gemacht werden können. Der eigentliche „Ursprung“ des Kulturellen liegt für Jullien in der Transformation, denn „schließlich zeichnet sich das Kul‐ turelle ja gerade dadurch aus, dass es mutiert und sich verwandelt“ (47). Insofern bildet die sprachliche Ästhetik im Roman eine Hybridisierung auch im Sinne von Guattari als Idee eines fluiden, multidimensionalen, polyphonen Subjekts, „whose complexity is infinitely multipliable, its virtual compositions created at infinite speeds“ (Guattari 1992: 77). Auch auf Inhaltsebene des Romans findet sich das Wandelbare der Kultur in den Biographien der Figuren wieder und dies äußert sich schon allein in den Namen: Elvio Gianelli, Mirtha Legrand, Marina Santiago, Julio El Haddad sind Beispiele für Romanfiguren, die stellvertretend stehen für ein Land, dessen Be‐ völkerung vielfältige Migrationshintergründe aufweist, die in Ballester wie in einem Mikrokosmos zusammenlaufen. Sie verweisen sowohl auf spanische Ko‐ lonialisierung als auch auf Einwanderung aus verschiedenen Ländern, insbe‐ sondere aus Italien. Identitäten werden also sowohl über die Biographien der Romanfiguren als auch über die sprachliche Ästhetik als plural vermittelt. 4.2 Plurales Fortleben von Geschichte Die vorliegende Untersuchung sieht in Barbettas Roman Nachtleuchten eine Form des transkulturellen Schreibens und verbindet dabei die sprachliche Ana‐ lyse der übersetzerischen Ästhetik mit der Frage nach dem transnationalen Er‐ innern. Denn ebenso wie die Sprache hier das Vertrauen in eine verlässliche Verortung der Identität und des Erzählens unterläuft, produziert der Roman durch multiple temporale, sprachliche und kulturelle Verflechtungen einen po‐ lyzentrischen, ambivalenten Erinnerungsraum und dekonstruiert die Voran‐ nahme von Authentizität der Erinnerung durch eine in der Sprachästhetik ein‐ gelassene transkulturelle, nationale Grenzen überschreitende Perspektive. Durch diese Hybridisierung von Zeiten, Orten und Sprachen wird die hegemo‐ niale Deutungsmacht in Frage gestellt, wie es bereits von postkolonialen Denk‐ modellen bekannt ist: Hybrid agencies find their voice in a dialectic that does not seek cultural supremacy or sovereignty. They develop the partial culture from which they emerge to construct visions of community, and versions of historic memory, that give narrative form to the minority positions they occupy; the outside of the inside: the part in the whole […]. (Bhabha 1996: 58) 231 Transkulturelles Erinnern in Nachtleuchten von María Cecilia Barbetta 19 Dieses Zitat findet sich auch als Werbetext auf dem rückseitigen Umschlag des Buchs. Dort endet es jedoch beim Wort „Weltliteratur“. Der Roman lässt auf diese Weise eine „multidirectional memory“ (vgl. Rothberg 2009) entstehen, bei der auch die dichotome Vorstellung von Zentrum und Pe‐ ripherie unterlaufen wird, denn Barbetta schreibt als Argentinierin in Deutsch‐ land und in deutscher (Zweit-) Sprache über die argentinische Geschichte - ein Verfahren, das uns bei literarischer transkultureller Erinnerung häufig begegnet, wie Birgit Neumann hervorhebt: „Transcultural memories frequently emerge from the movements of migrants, who import memories of their homeland into new cultural contexts.“ (Neumann 2020: 143 f.) Dabei schafft der Roman in seiner spezifischen Form des exophonen Schreibens eine ästhetische Konfiguration von transkulturellem Kontakt und Begegnung und sensibilisiert so für das je schon Übersetztsein von Sprache, Schreiben und Erinnerung. Dies impliziert einen selbstreflexiven Umgang mit Geschichte, der das Bewusstsein schärft für „the particularity and partiality of any act of memory, as well as […] the broader (social, political, economic) factors that mediate its articulation“ (Bond 2014: 76). Der Standpunkt des Erzählens ist hier ein gebrochener, der zwischen den Welten steht und sich nicht einvernehmen lässt für eine kohärente große, nati‐ onale Erzählung. Vielmehr wird hier im Sinne von Walter Benjamin ein „Fort‐ leben“ der Geschichte inszeniert, das Wandel und Veränderung einschließt. Durch die visiblen Prozesse von Übersetzung, dieser „Agentur der Differenz“ (Weidner 2011: 175), ist dieser Wandel in den Text unübersehbar eingeschrieben. 5 Nachtleuchten als Literatur der Welten Der Roman Nachtleuchten ist in Deutschland im großen Publikumsverlag S. Fi‐ scher erschienen und wurde in den Feuilletons mehrerer überregionaler Zei‐ tungen besprochen. So stellt der Roman ein Beispiel dafür dar, dass transkultu‐ relles Erinnern nicht dem akademischen Umfeld vorbehalten ist, wie auch Wolfgang Hochbruck und Judith Schlehe schreiben: „The production of histories of the self and the negotiation of alterity takes place in many forms and formats - not just in academic historiography“ (Hochbruck / Schlehe 2010: 7). Volker Brei‐ decker deklariert den Roman in der Süddeutschen Zeitung als neue Form von Weltliteratur: „[M]it ihrem grandiosen Epos schreibt María Cecilia Barbetta Weltliteratur, die alle Unterscheidungen und Hierarchien von Zentrum und Pe‐ ripherie hinter sich gelassen hat“ 19 (Breidecker 2018). Wir haben es hier tatsächlich nicht mit einer Form der Weltliteratur zu tun, die sich einer globalen Vereinheitlichung verschreibt, wie es Franco Moretti als 232 Vera Elisabeth Gerling 20 Vgl. hierzu auch Bachmann-Medick: „[…] the decentralized literatures of the world are an important medium of difference. They go beyond the scope of traditional views of a pre-defined (Western) common language of a universal culture and literature. They require permanent mutual processes of translation by way of negotiation of cultural differences, as they are carried out in and are provoked by the literatures themselves.“ (Bachmann-Medick 1996) 21 Der von Vittoria Borsò geprägte Begriff der ‚Literatur der Welten‘ ist als Alternative zum Konzept der ‚Weltliteratur‘ gemeint: „‚Literatur der Welten‘ macht auf den episte‐ mologischen Standort des Schreibens und auf die Diversität der Orte aufmerksam, während das Konzept von Weltliteratur eine kultur- und zeitübergreifende Qualität bezeichnet.“ (Borsò 2019: 36) 22 Zur kulturellen Unübersetzbarkeit in kolonialen Kontexten schreibt Bhabha: „The mig‐ rant culture of the ‚in-between‘, the minority position, dramatizes the activity of cul‐ ture’s untranslatability; and in so doing, it moves the question of culture’s appropriation Phänomen des homogenisierenden „world literary system“ kritisiert: „[I]t shows a growing, and at times stunning amount of sameness; its main mechanism of change is convergence“ (Moretti 2013: 135). Der Roman Nachtleuchten wäre vielmehr als Beispiel anzusehen für die von Rebecca Walkowitz (2015) als born translated definierten Poetiken, in die das Übersetztsein eingeschrieben ist und die so homogene Vorstellungen von Sprache und Kultur durchkreuzen und diese zugleich als etablierte Diskurse problematisieren. Der Text wird zu einem hybriden Ort, an dem unaufhörlich transkulturelle Verschiebungsprozesse sichtbar sind und der damit auch kulturübergreifend anschlussfähig ist. 20 So lässt sich der Roman, in dem vordergründig eine Stimmung von Ungewissheit und Angst produziert wird, die in latentem Bezug zu den konkreten historischen, scheinbar nebensächlichen Fakten steht, in Dialog setzen zu anderen Epochen der Weltgeschichte, zu anderen je spezifischen Konstellationen, zu denen eine Konnektivität auch in der atmosphärischen Konstellation möglich ist: sei es zur Zeit der Weimarer Republik, die im Jahr 1933 in die Diktatur unter Adolf Hitler mündete, oder auch, gerade bezogen auf den dritten Teil des Romans, auf sich verbreitende Verschwörungstheorien, wie sie ganz aktuell zu erleben sind. Formen des übersetzerischen Schreibens, wie wir sie im Roman Nachtleuchten vorgefunden haben, zeigen die Notwendigkeit auf für „alternative geographies of Translation Studies where translation is no longer an instrument to overcome national borders but a way to analyse the multiplicity of writing, languages and cultures in one nation.“ (Federici / Leonardi 2015: 141) Es wird ein plurales Wissen generiert und die zeit- und raumübergreifende Potentialität einer ‚Lite‐ ratur der Welten‘ (vgl. Borsò 2019) 21 entworfen. Denn der Roman lässt sowohl inhaltlich als auch in seiner ästhetischen Verfasstheit ein transkulturelles Er‐ zählen im „in between“ (vgl. Bhabha 1996) entstehen, indem Phänomene der Migration, des Wandels, des Übersetzens sichtbar gemacht werden. 22 Solche 233 Transkulturelles Erinnern in Nachtleuchten von María Cecilia Barbetta beyond the assimilationist’s dream, or the racist’s nightmare, of a ‚full transmissal of subject-matter‘, and towards an encounter with the ambivalent process of splitting and hybridity that marks the identification with culture’s difference.“ (Bhabha 1994: 1 f.) Formen transkultureller Poetizität stellen auch an Theorie und Praxis des Über‐ setzens neue, interdisziplinäre Herausforderungen: Today the presence of cross-cultural texts, linguistic creolization and multilingual situations has highlighted the importance of transnational writing, emphasising the necessity to redefine theoretical approaches and practices of translation. (Federici/ Leonardi 2015: 139) Im hier vorgestellten Roman bewirkt die offenbare übersetzerische Ästhetik, dass sich die Erzählung einer Vereinnahmung für homogenisierende, national‐ kulturelle Vorstellungen von Geschichte und Erinnerung entzieht. So ermög‐ licht er andere, dezentralisierte Annäherungen an historische Begebenheiten und schafft durch seine multilinguale Verfasstheit einen dritten, von steter Wandelbarkeit charakterisierten Raum der Sprache und der Erinnerung. Literaturverzeichnis Arndt, Susan / Dirk Naguschewski / Robert Stockhammer (Hg.). 2007. Exophonie. An‐ ders-Sprachigkeit (in) der Literatur. Berlin: Kulturverlag Kadmos. Bachmann-Medick, Doris. 1996. „Cultural Misunderstanding in Translation: Multicul‐ tural Coexistence and Multicultural Conceptions of World Literature.“ In: EESSE (Er‐ furt Electronic Studies in English) 7, o.S. Online verfügbar unter: http: / / webdoc.sub.gw dg.de/ edoc/ ia/ eese/ rahmen22.html [01. 09. 2020]. 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Wörterbuchgeschichten, Wörterbuchgedichte Über literarisch-graphische Inszenierungen sprachlicher Übergänge und Zwischenräume und ihre Poetiken Monika Schmitz-Emans, Universität Bochum 1 Einleitung Von Räumen, Ereignissen, Schreibweisen oder Texten ‚zwischen den Sprachen‘ zu sprechen, kann mehrerlei bedeuten. So wie der Ausdruck ‚Übersetzung‘ mit seiner Suggestion einer Hinüber-Bewegung vor allem dann reflektiert werden muss, wenn seine wörtliche Bedeutung argumentativ fruchtbar gemacht werden soll, so bedarf auch das gleichfalls raumbezogene Sprachbild eines ‚Dazwischen‘ der genaueren Bestimmung. Das Interesse an ‚Zwischensprachlichem‘ ver‐ bindet sich in neuerer Zeit vor allem oft mit kritischen Distanzierungen vom Paradigma der Monolingualität als einem historischen, potenziell ideologieaf‐ finen Konstrukt, welches in Zeiten der Globalisierung seine Plausibilität als Be‐ schreibungsmodell weitgehend verloren hat (vgl. Yildiz 2012). Viele neuere li‐ terarische Texte sind dem Konzept eines verbalen Dazwischen-Seins oder -Agierens verpflichtet - zwar nicht erst in neuerer Zeit, rezent aber verstärkt. 1 Variantenreich wird erkundet, wie sich ‚zwischen den Sprachen‘ schreiben lässt, mittels welcher Verfahren sich Differenzen und Zwischenräume darstellen, überbrücken, vielleicht auch einebnen, in jedem Fall aber gestalterisch um‐ spielen lassen - und im Sinne welcher Modelle von Mehr-, Misch- und Zwi‐ schensprachigkeit. Eine wichtige Strategie literarischer Markierung von Sprachzwischenräumen ist dabei der Rekurs auf Übersetzungsvorgänge respektive auf die Formen ihrer Resultate. Literarische Texte, die ostentativ als, respektive: wie Übersetzungen, Übersetzungsversuche oder Zeugnisse übersetzerischer Bemühungen gestaltet werden, Texte, die ‚Übersetzung‘ durch ihre Form sinnfällig inszenieren, setzen die Differenzen zwischen den jeweils involvierten Sprachen voraus, um sie po‐ etisch zu nutzen. Das gilt auch dann, wenn sie de facto gar nicht aus Überset‐ zungsprozessen im konventionellen Sinn hervorgegangen sind, sondern dies poetisch simulieren. Dabei kann es darum gehen, die gerade beim Übersetzen erfahrenen Polyvalenzen von Vokabeln und Ausdrucksweisen herauszustellen, oder darum, durch Pseudoübersetzungen Verfremdungseffekte zu erzeugen - oder auch um die Darstellung produktiver Irritationen seitens der Autoren selbst. Das Schreiben von Texten, die sich als ‚Übersetzungstexte‘ und Produkte des Umgangs mit einer Differenz zwischen den Sprachen präsentieren, vollzieht sich insgesamt im Zeichen unterschiedlicher Poetiken. Ihre Sichtbarkeit ist für solche Texte oft von konstitutiver Bedeutung, schon weil sie es möglich macht, Vorstellungsbilder eines ‚Dazwischen‘ sinnfällig zu konkretisieren, sei es nun (um nur zwei Optionen zu nennen) im Sinn einer Betonung von Differenzen und Distanzen in graphisch visualisierten ‚Zwi‐ schen‘-Räumen des Verschiedenartigen, sei es auch im Sinn eines augenfällig inszenierten Übergangs, einer sichtbar vollzogenen Über-Setzung von hier nach dort. Im breiten Feld einer Literatur, die maßgeblich auf ihre Sichtbarkeit setzt, um Differentes sinnfällig zu machen, Zwischenräume und Übergänge zu mo‐ dellieren, kommt nun neben der wortsprachlichen Gestaltungsebene (auf der sich als different geltende Sprachen kontrastiv nutzen lassen) noch eine weitere Gestaltungsebene ins Spiel, nämlich die der Graphie. Gestalterische Optionen ergeben sich vor allem aus dem Umgang mit unterschiedlichen Schriftsystemen und ihren Zeichenbeständen. Die Welt der Schriftsysteme unterliegt anderen Ausdifferenzierungen als die der Sprachräume. So eng in den verschiedenen Sprach- und Kulturräumen die Beziehungen zwischen den Wortsprachen und den zu ihrer Verschriftlichung gebräuchlichen Codes auch sind, so wenig sind die Gelände der verschiedenen Sprachen und Sprachfamilien doch kongruent mit denen der gebräuchlichen Schriften. Die lateinische Schrift ist trotz ihres europäischen Ursprungs inzwi‐ schen nahezu global geläufig, wenn auch keineswegs überall dominant. Sie ver‐ bindet zumindest auf der Ebene schriftlicher Kodierung die Kulturen mehrerer Kontinente, auch wenn diese sprachlich stark ausdifferenziert sind. In einigen asiatischen Ländern verschiedener Sprachzugehörigkeit spielt demgegenüber die chinesische Schrift eine Art Brückenrolle, aber auf andere Weise als die la‐ teinische Schrift im Westen. Die Erfahrung und (literarische) Reinszenierung von Differenzen gewinnt durch die Diversität der Schriftcodes eine eigene Di‐ mension, die sich auf die der Unvertrautheit mit fremden Wortsprachen nicht völlig reduzieren lässt. Fremdsprachliche Texte in einer bekannten Schrift lassen wenigstens eine Art Oberflächenlektüre zu, wie wenig diese auch an die inten‐ 240 Monika Schmitz-Emans 2 Im Zeichen künstlerischer Auseinandersetzung mit der Differenz zwischen chine‐ sisch-ideographischer Schrift und lateinischer Buchstabenschrift steht die von Xu Bing erfundene und performativ genutzte „Square Word Calligraphy“ (vgl. u. a. Xu 2004). dierte Aussage der schriftlichen Botschaft heranführen mag. Fremdschriftliche Texte weisen den Lesewilligen meist nachdrücklicher ab - und lösen, wie kom‐ pensatorisch, dabei doch auch wieder eine Art Entzifferungsreflex aus, der vor allem bei der visuellen Gestalt der Zeichen anzusetzen pflegt. Wo man nichts als die äußere Form von Schriftzeichen zu erfassen vermag, erfolgt, anders ge‐ sagt, oft eine Art Interpretation dieser äußeren Form: Was ist da zu sehen? Und was wird da womöglich abgebildet? Eine solche Reaktion auf Unlesbares mag spontanen Reaktionen entsprechen, ist aber nicht immer naiv, sie kann unter anderem in den Dienst literarischer Auseinandersetzung mit Fremdschriftlich‐ keit treten. Was könnte man in den fremden Zeichen sehen, so lautet die Frage dann. Fremdschriftliche Zeichen, Zeichenketten und Arrangements können auch in literarischen Texten eine noch stärkere Fremdheitsanmutung haben als fremdsprachliche Vokabeln in vertrauten Codes; dabei dürfte aus eben diesem Fremdheitseffekt gerade auch ihr Reiz herrühren, der sie manchmal regelrecht zu Impulsgebern literarischer Schreibversuche werden lässt. Sei es auf der Basis vertrauter Schriftzeichen, sei es unter Einbeziehung fremder Schriftcodes, sei es auch unter Verunklärung der Fremdheit oder Ver‐ trautheit von Schriftzeichen - in künstlerischen und literarischen Explorationen von Zwischen-Räumen spielt die graphische Erscheinung der Wörter eine er‐ hebliche Rolle, wenn es gilt, Differenzen und Überbrückungen, Übersetzungen sichtbar zu inszenieren. 2 Dies zeigt sich besonders deutlich an Texten, die durch ihre visuelle Gestalt an Strategien, Mittel und Effekte des Übersetzens erinnern: an Vokabelhefte, an Wörterbücher, an Übungstexte und Diktate. Dazu im Folgenden einige Beispiele: Die ersten beiden ( Jandl, Pastior) sind arrangiert auf dem Boden der lateinischen Graphie, verfremdet allerdings durch Brüche mit orthographischen Konventionen. Die folgenden beiden (Tawada, Cotten) stehen im Zeichen der Mischung von Schriftsystemen, nämlich jeweils der westlichen und der in Japan gebräuchlichen Schriftzeichen, wobei bereits die Kopplung von Elementen beider Systeme verfremdend wirkt und es zudem inhaltlich um Auseinandersetzung mit Differenzen ‚zwischen‘ den Schriftkul‐ turen geht. Die letzten beiden (Cha, Wolf) dokumentieren die poetische Ausei‐ nandersetzung mit einer besonderen Erfahrung eines sprachlichen Dazwi‐ schen-Seins. 241 Wörterbuchgeschichten, Wörterbuchgedichte 2 „über Sprachgrenzen hinweg“: Ernst Jandls Poetik des Hinübersetzens chanson l’amour die tür the chair der bauch the chair die tür l’amour der bauch der bauch die tür the chair l’amour l’amour die tür the chair le tür d’amour der chair the bauch le chair der tür die bauch th’amour le bauch th’amour die chair der tür l’amour die tür the chair 242 Monika Schmitz-Emans am’lour tie dür che chair ber dauch tie dair che lair am thür ber’dour che dauch am’thour ber dür tie lair l’amour die tür the chair Ernst Jandls Gedicht „chanson“ ( Jandl 1985a: 17-18, 1985b: 88) inszeniert sichtbar eine Grenzüberschreitung seiner Ausgangsvokabeln aus dem Deut‐ schen, dem Englischen und dem Französischen, die sich dabei verändern - bis sich keine klaren Zuordnungen der Wörter zu bestimmten Sprachen mehr treffen lassen. „chanson“ ist ein für Jandl programmatischer Text, wie man ihn auch beschreiben möchte: als Dokument einer Sprachverfremdung, die ihren Ausgangspunkt, deutlich sichtbar, bei der Alltagssprache nimmt, der für Jandl maßgeblichen Basis poetischer Operationen, als Demonstration von Verfrem‐ dung, als Befreiung, als Versetzung von Wörtern in tänzerische Bewegungen, als Musikalisierung der Rede. In seiner Frankfurter Poetikvorlesung von 1984 / 85 hat Jandl diesen Text in einer Weise kommentiert, die das Sprachliche (die Wörter, die Silben) selbst als Akteure interpretiert: als eine Grenzüber‐ schreitung zwischen sprachlichen Territorien, eine Bewegung zwischen den Sprachen. Der Form nach, so Jandl, erinnere der Text an Einträge in Vokabel‐ hefte, bei denen allerdings die Vokabeln differenter Sprachen säuberlich sortiert zu sein pflegten. Es hängt auch ein Erinnern an Schule daran, eine wohl nicht mehr ganz zeitgemäße Art des Vokabellernens, ein Heftchen mit linierten, in der Mitte durch einen senk‐ rechten Strich in zwei Hälften geteilten Seiten; darin waren in zwei Kolonnen die zu lernenden Wörter einzutragen, links das Wort aus der Fremdsprache, rechts seine deutsche Entsprechung, l’amour - die Liebe; la porte - die Tür; the chair - der Stuhl; the belly - der Bauch. Und nun, unversehens, geraten die beiden Kolonnen in Bewe‐ 243 Wörterbuchgeschichten, Wörterbuchgedichte gung, verschieben sich gegeneinander, und sind nicht mehr zu stabilisieren: l’amour - die tür; the chair - der bauch; the chair - die tür; l’amour - der bauch. Das ist die erste Phase. In der zweiten, die nichts mehr mit Vokabellernen zu tun hat, befreien sich die Artikel von ihren Substantiven, oder die Substantive von ihren Artikeln, es ist nicht zu entscheiden, und setzen sich gleichzeitig über Sprachgrenzen hinweg […]. ( Jandl 1985a: 18) Die zentrale Suggestion in Jandls Rekurs auf die frei zitierte Vokabelheft-Form liegt darin, dass das, was ordentlich, schulmäßig, getrennt sein sollte, sich hier selbst befreit. Dabei treten in mehr als einem Sinn getrennte Sprachwelten zu‐ einander in neue Beziehungen. „Kolonnen“ ( Jandls Ausdruck erinnert an Säulen, Marschkolonnen, Wörterkolonnen) geraten in Bewegung, verändern ihre Po‐ sitionen zueinander und damit sich selbst. Befreiung von ‚bestimmten‘ Artikeln, Befreiung von Substantiven, denen die Artikel ‚dienen‘ - wie auch immer man den Text betrachtet, er signalisiert die Freude am Aufbruch und an einer Dy‐ namik, die zu Neuem führt - über die Grenze hinweg, verbindend zwischen zunächst geschiedenen Territorien. Neue Wörter, neue Sprachweisen zu gene‐ rieren, ist für Jandl ein zentrales poetisches Unternehmen. Ein ähnlicher, ebenfalls in der Poetikvorlesung präsentierter und beschrie‐ bener Text ist sein Gedicht „talk“, das, wie Jandl erläutert, zum einen auf der wiederholten Verwendung einer im Wörterbuch auffindbaren Vokabel (einer englischen Vokabel mit Verwandten im Deutschen), zum anderen aus einer „freien“ Silbe („bäbb“) beruht, sodass also wiederum die Grenzen „zwischen“ Wörterbüchern und die „des“ Wörterbuchs überhaupt überschritten werden ( Jandl 1985a: 54-55). Das Spiel mit Sprachdifferenzen ist, wie genau auch immer es sich gestaltet, für Jandl ein Akt der Befreiung von Sprachen und Sprechern - nicht nur vom ‚Vokabellernen‘ als basaler Form verbaler Beeinflussung. Vor allem das Englische spielt in seiner Biographie wie in seiner Poetik die Rolle einer Sprache der Befreiung: als Sprache der amerikanischen Befreier zu Kriegs‐ ende, als Sprache des Jazz, als Sprache einer frei-rhythmischen Wortmusik (mit der dann eine weitere Grenze, die zwischen zwei Künsten, überschritten wird). Deutsch-englische Grenzüberschreitungen in Gedichten, Selbstübersetzungen ins Englische und eigenwillige Klang-Übersetzungen zwischen Deutsch und Englisch finden sich in Jandls poetischem Oeuvre in allerlei Varianten. So hyb‐ ridisiert sich in „calypso“ ( Jandl 1985b: 96) ein schlichtes Deutsch mit englischen Elementen zu einem wiederum aufbruchsfreudig klingenden Pidgin. Gerade die visuelle Gestalt dieser und anderer Gedichte macht ein dialektisches Geschehen sinnfällig, bei dem trennende Differenzen in Erinnerung gerufen und zugleich überwunden werden; im Text erscheinen sie in mehr als einem Sinn aufgehoben. All dies geschieht jeweils in lateinischer Schrift, allerdings unter Verfremdung 244 Monika Schmitz-Emans geläufiger Schriftbilder. Ein neues Sehen der Sprache verbindet sich mit einer neuen Sensibilität für deren Gestaltbarkeit wie auch für die latenten Bedeu‐ tungsdimensionen von Hybridbildungen. Wie eine auf den ersten Blick misslungene Übersetzungsübung liest sich Jandls „oberflächenübersetzung“ (321). Hier werden Wordsworths Verszeilen in eine annähernd homophone deutsche Version ‚übersetzt‘. Die erste Strophe be‐ steht aus einem wörtlichen englischen Zitat des Lyrikers, die zweite wirkt, als habe jemand versucht, den englischen Text dadurch zu verstehen, dass er ihn als deutschen Text interpretierte und nochmals auf Deutsch wiedergab: oberflächenübersetzung my heart leaps up when i behold a rainbow in the sky so was it when my life began so is it now i am a man so be it when i shall grow old or let me die! the child is father of the man and i could wish my days to be bound each to each by natural piety (william wordsworth) mai hart lieb zapfen eibe hold er renn bohr in sees kai so was sieht wenn mai läuft begehen so es sieht nahe emma mähen so biet wenn ärschel grollt ohr leck mit ei! seht steil dies fader rosse mähen in teig kurt wisch mai desto bier baum deutsche deutsch bajonett schur alp eiertier Ist die hier demonstrativ inszenierte Ignoranz gegenüber der Differenz zweier Sprachen nun das Ende aller Übersetzungskultur oder der Vorstoß zu einem ganz neuen Übersetzen? Wiederum erscheint der Regelverstoß als Weg nicht allein zu neuen Sprechweisen, sondern auch zu neuen Perspektiven auf Sprache und Sprachen. Das englische Zitat so zu lesen, als sei es deutsch, bedeutet zum einen, der Passage Wordsworths einen neuen Sinn zuzuschreiben, zum anderen, mit den Mitteln des deutschen Vokabulars einen neuartigen deutschen Text zu schaffen. Insofern gewinnen das Englische und das Deutsche, sobald das, was zwischen ihnen zu stehen scheint, übergangen wird. 245 Wörterbuchgeschichten, Wörterbuchgedichte 3 Vgl. Schuldt (2001): „Jede der fünf Stimmen von ‚Am Quell der Donau‘ bildet eine Ebene für sich: eine je andere Sprache mit ihrer eigenen Körnung und ihrem Rhythmus, mit einem anderen Wortschatz und einem spezifischen Horizont von Themen, Obsessionen und Hoffnungen. […] Wer nur seine Muttersprache kennt, hat auch von dieser keine umfassende Vorstellung. Am Quell der Donau ist eine Achterbahn, auf der das Deutsche durch das Englische fährt.“ Jahrzehnte nach der Entstehung von Jandls „oberflächenübersetzung“ haben Herbert Schuldt und Robert Kelly das Jandlsche Prinzip für ein größer dimen‐ sioniertes Projekt (Schuldt / Kelly / Hölderlin 2001) übernommen, das Friedrich Hölderlins Gedicht „Am Quell der Donau“ (Hölderlin 1951: 126-129) zum Aus‐ gangspunkt nahm und von hier aus eine mehrstufige Textverwandlung vollzog: von Hölderlins Text in das Englisch einer „oberflächenübersetzung“ („Unquell the dawn now“), von dort wieder ins Deutsche, aber im Sinn einer ‚korrekten‘ Übersetzung („Ent-ersticke das Morgengrauen jetzt“), weiter in Form neuerli‐ cher Oberflächenübersetzung („Ain’t’er Shtick the Morgue and Growing‘ Shadow“) und wieder zurück ins Deutsche („Ist nicht ihr Dreh das Leichen‐ schauhaus und ’s Schatten-Pflanzen? “) - und all dies im Durchgang durch sämt‐ liche Zeilen von Hölderlins fragmentarischem Text (vgl. Schmitz-Emans 2002). „Unquell the dawn now“, entstand zunächst im dialogischen Wechselspiel zwi‐ schen dem anglophonen Kelly und dem deutschsprachigen Schuldt, wurde da‐ nach sowohl akustisch (als polyphones Hörspiel) wie auch visuell (als poly‐ chrom gedrucktes Buch mit fünf Farben für die fünf Textebenen) inszeniert. In der Beschreibung des Projekts betonen die Künstler zum einen die dekomposi‐ torische, zum anderen die kompositorisch-kreative Dimension des Geschehens ‚zwischen‘ den Sprachen. 3 3 „‚Zwischen‘ den Sprachen […] kann man nicht sein“: Oskar Pastiors Poetik einer sich selbst übersetzenden Sprache Eine berühmte Kalendergeschichte Johann Peter Hebels, in der es um einen Fall produktiven Missverstehens geht (ein einfacher Mann, dem die Differenzen der Sprachen gar nicht bewusst sind, interpretiert einen ihm unverständlichen nie‐ derländischen Satz im Horizont seines deutschen Sprachverstehens und ge‐ winnt ihm dadurch eine ‚Information‘ ab, die ihm tiefere Einsichten erschließt), trägt im Titel schon den Hinweis auf das äußerlich-oberflächliche Nichtver‐ stehen, das dann durch den Gang der Erzählung aber einen anderen Sinn, eine neue moralische Bedeutung bekommt: „Kannitverstan“. Dieses Titelwort ist bei Oskar Pastior zu einer der zahlreichen Ausgangszeilen geworden, von denen her Pastior seine Anagrammgedichte entwickelt hat. Die anagrammatischen 246 Monika Schmitz-Emans Bildungen erinnern vielfach an geläufige Silben, Wörter und Komposita ver‐ schiedener Sprachräume: Kannitverstan sanktavinkern nervanstinkat transnektivan nitanervankst vaternsinnakt venntrakistan katsenturvann kvarantinnset tannesinvarkt virkantenstam kniistarventan kantatensvirn starvnetkanin kannistervant versnaktnitan kastrinnavent […] [insgesamt 11 Strophen] (Pastior, Kannitverstan) Oskar Pastior gehört zu den konsequentesten Sprachverfremdern der jüngeren deutschen Literatur. Seine Gedichte und sonstigen Experimentaltexte (Gat‐ tungszuordnungen sind oft problematisch) beziehen dabei in das als sprachli‐ ches Substrat fungierende Deutsche oftmals Sprachpartikel, Vokabeln oder auch nur Vokabelreminiszenzen verschiedener anderer Sprachen ein; andere Texte sind in einem poetischen Idiom verfasst, das sich gar keiner bestimmten Sprache mehr zuordnen lässt. Zur Charakteristik solcher Texte hat Pastior unter anderem eine Sprache imaginiert und als seinen sprachlichen Bezugsraum ausgewiesen: das Krimgotische, eine Erfindung, in der zugleich aber der durchaus ernstge‐ meinte Befund zum Ausdruck kommt, dass man sich als Sprecher normalerweise ständig zwischen diversen Sprachen bewegt, dass eben diese „Sprachen“ und die Idee der „Einsprachigkeit“ selbst also letztlich die (heuristischen) Fiktionen sind - eine Position, die von Vertretern neuerer Sprachtheorie geteilt wird: Warum nicht einmal […] - die Schiene der Einsprachigkeit durchbrechen? Warum eigentlich nicht bedenkenlos und ohne Rücksicht auf die Philologen diese eingefah‐ rene und, weil man doch mehr im Kopf hat, immer auch zensierende literarische Ge‐ 247 Wörterbuchgeschichten, Wörterbuchgedichte 4 Der griechische Name Konstantinopel erinnert an eine Brückenstadt zwischen westli‐ cher und östlicher Welt; „kontaminieren“ bedeutet: etwas durch Kontakt verändern. wohnheit lyrisch beiseiteschieben und alle biographisch angeschwemmten Brocken und Kenntnisse anderer Sprachen, und seien es auch nur Spurenelemente, einmal quasi gleichzeitig herauslassen? Konkret […]: die siebenbürgisch-sächsische Mundart der Großeltern; das leicht archaische Neuhochdeutsch der Eltern; das Rumänisch der Straße und der Behörden; ein bissel Ungarisch; primitives Lagerrussisch; Reste von Schullatein, Pharmagriechisch, Uni-Mittel- und Althochdeutsch, angelesenes Franzö‐ sisch, Englisch… alles vor einem mittleren indoeuropäischen Ohr… und, alles in allem, ein mich mitausmachendes Randphänomen. (Pastior 2006: 66-67; ähnlich in Pastior 1987: 34-35) Pastior geht es mit der Konstruktion des „Krimgotischen“, die er selbst im „krimgotischen“ Stil spielerisch beschreibt, um mehr als um den sprachreflexiven Befund, dass Differenzierungen zwischen Sprachen (wie er sie in seinen Bemerkungen selbst ja ebenfalls vornimmt) mit Blick auf die aktuelle Praxis verbaler Kommunikation künstliche Trennungen sind. Seine Texte stehen nicht allein im Zeichen der Überspielung von konventionell gesetzten Differenzen zwischen den Territorien von „Einsprachigkeit“, sondern es geht dabei auch um neue Ausdrucksweisen. Ein Wort wie „Kontaminoplum“ (Pastior 1978: 15) aus dem Komplex ‚krimgotischer‘ Texte ist programmatisches Beispiel für die si‐ multane Hybridisierung von Wortelementen und Sinnschichten. 4 Wo Sprachen so verschmolzen und durchmischt erscheinen, dass es gar keine Zwischenräume mehr gibt, da ist auch die einzelne Vokabel nicht mehr als ein‐ sprachig zu betrachten, sondern als verbales Kompositionselement, das die (künstlich konstruierten) Differenzen zwischen den Idiomen in sich selbst auf‐ gehoben hat. Entsprechend sind diese Vokabeln nicht mehr in eine andere Sprache zu übersetzen, sie können sich nur noch selbst übersetzen. Poetisches Modell hierfür ist das Anagrammgedicht: die konsequente Umstellung (Meta‐ these) der Buchstaben als demonstrative, sichtbar inszenierte Metamorphose des Ausgangssubstrats in und durch sich selbst. So entsteht mit jedem Ana‐ grammgedicht ein neues Stück ‚Wörterbuch‘ aus nur einer Spalte (und Analoges gilt auch für die Texte, deren Ausgangssubstrat mehrere Wörter sind (oder zu sein scheinen). „Kannitverstan“ ist, anders gesagt, ein der Pastiorschen Poetik und Sprachbehandlung entsprechendes Übersetzungsgedicht - und zugleich ein Nicht-Übersetzungsgedicht: modellhafte Darstellung der permanenten internen Dynamik sprachlicher Bestände jenseits monolingualer und grenzziehender Modelle, Darstellung dessen, was sich innerhalb der Wörter und ‚zwischen‘ ihren Buchstaben tut. Ludwig Harig, der Pastiors poetisches Verfahren u. a. in 248 Monika Schmitz-Emans 5 Vgl. Harig (1985: 91) über Pastiors Umgang mit Wörtern: „Oskar Pastior macht die scheinbar festgelegten Bedeutungen zweiwertig, doppeldeutig, vielschichtig, indem er die Wörter gewaltsam aufbricht, die Bruchstücke neu zusammenfügt und so neue Wörter schafft, die an alte Bedeutungen erinnern und zugleich neue Bedeutungen evo‐ zieren. Man meint, er folge einer Idee Queneaus, der einmal gesagt hat, der Poet zerstöre in seinem Suchen die Dinge, indem er die Wörter zerstört, mit denen die Dinge be‐ nennbar waren, und dann, wenn er von seinem Unterfangen zu ihnen wieder zurück‐ kehren will, findet er nicht mehr die gleichen Dinge vor.“ 6 Als deutscher Übersetzer Tawadas wirkt dabei Peter Pörtner. Erinnerung an den kombinatorischen Poeten Raymond Queneau interpretiert hat, betont dabei, dass solche Operationen nicht nur für die Einstellung der Sprachbenutzer zur Sprache folgenreich sind, sondern auch für die zu den Dingen (vgl. Harig 1985: 91). 5 4 Erkundungszüge „zwischen zwei Schriftsystemen“ (Tawada) Anders als Jandl und Pastior, deren gedruckte Texte weitgehend auf der Grund‐ lage des lateinischen Alphabets entstehen, operiert Yoko Tawada mit zwei Schriftsystemen, dem westlichen und dem japanischen, wobei sie selbst nicht übergeht, dass die in Japan gebräuchliche Schrift sich aus Zeichenbeständen verschiedener Provenienz zusammensetzt, unter denen chinesische Zeichen eine besonders wichtige Rolle spielen. Tawadas literarisches Œuvre gliedert sich in ein Korpus aus japanischen und eines aus deutschen Texten (zu denen einige Texte in anderen westlichen Sprachen kommen); diese Korpora sind distinkt, wenn auch untereinander vernetzt. Dass sie in differenten Schriftsystemen ver‐ fasst sind, ist angesichts der thematischen Signifikanz von Schrift, Buchstaben und Schriftsystemen bei Tawada besonders folgenreich: Geschichten, Gedichte, Reflexionen und Kommentare über das Aussehen von Schriftzeichen funktio‐ nieren ja in den Bezugshorizonten westlicher und asiatischer Graphe ver‐ schieden. Trotz der durch die differenten Teilkorpora implizit bestätigten Dif‐ ferenz zwischen zwei Welten der Graphie inszeniert Tawada doch auch Grenzüberschreitungen verschiedener Art. So publiziert sie gelegentlich parallel je eine deutsche und eine japanische Textversion desselben Textes. 6 Oder sie kombiniert in Büchern japanische und deutsche Texte. Insbesondere aber kom‐ biniert sie innerhalb eines und desselben Textes gern Elemente beider Schrift‐ systeme; die deutschen Romane und Erzählungen enthalten vielfach Zeichen der chinesischen Schrift, wie sie (auch) in Japan gebräuchlich sind. Eine andere, mit solcher Mischgraphie wiederholt verbundene Vermischung der Schriftsys‐ teme prägt die inhaltliche Ebene mehrerer typischer Tawada-Texte: Ihre Erzäh‐ lerinnen sind sensibel für die Formen und Gestaltungsmodi von Schrift, nehmen 249 Wörterbuchgeschichten, Wörterbuchgedichte 7 Wie Jandl, dem sie auch einzelne poetische Hommagen gewidmet hat, inszeniert Ta‐ wada lustvolle und entdeckungsfreudige Grenzüberschreitungen; dabei bleibt Diffe‐ rentes zwar in seiner Differenz signifikant (etwa die japanische und die deutsche Sprache oder die lateinische und die japanische Schrift), aber die Wahrnehmung der jeweils einen Sprache oder Schrift durch die von der jeweils anderen Sprache oder Schrift vermittelten Sehweise führt zu neuen Entdeckungen. In Tawadas deutschen Texten werden insbesondere deutsche, aber auch englische, französische und aus dem Afrikaans stammende Vokabeln aus ‚fremder‘ Perspektive betrachtet und lateinische Schriftzeichen aus der Perspektive der Fremden. So erscheinen westliche Wörter und Schriftzeichen in neuem Licht. 8 Theoretisch reflektiert Tawada über die Differenzen zwischen verschiedenen Überset‐ zungskonzepten und -praktiken. „Wenn ich einen Text sinngemäß übersetzen will, ent‐ ferne ich mich zunächst von den Buchstabenkörpern. Ich lese deutsche Sätze laut vor, übersetze den gesprochenen Inhalt in Denkbilder und versuche dann, diese Bilder auf japanisch zu beschreiben. Das ist eine Kommunikative Übersetzung, aber keine litera‐ diese wie gegenständlich wahr, setzen sich insbesondere mit fremdschriftlichen Buchstaben irritiert, aber auch kreativ auseinander - und in diesem Zusam‐ menspiel zwischen Irritation und Kreativität konturiert sich ein poetologisches Modell, das für Tawadas Œuvre prägend ist. 7 Es gilt, die Fremdheitsanmutung anderskultureller graphischer Zeichen auf sich wirken zu lassen, sie zugleich aber auch zum Ausgangspunkt eines Spiels der Imaginationen und literarischen Einfälle zu nehmen. Gerade die Sensibilität dafür, wie Schriftzeichen aussehen - und wie fremdartig fremde Schriftzeichen aussehen -, eröffnet neue Perspek‐ tiven auf die Dinge selbst, ja die Schriftzeichen selbst können sogar als Dinge erfahren werden. Einen Eindruck davon vermitteln den westlichen Lesern Ta‐ wadas deutsche Texte mit fremdgraphischen Kompositionselementen, so etwa der Roman Schwager in Bordeaux (Tawada 2011). Wörterbücher und andere Übersetzungshilfen werden bei Tawada oft the‐ matisiert, wobei sich allerdings Befremdlichkeitseffekte keineswegs immer auf‐ lösen, sondern manches Mal verstärken oder multiplizieren. Die (japanische) Erzählerin in Schwager in Bordeaux scheint an einem persönlichen Wörterbuch, einer privat notierten Vokabelliste entlangzuschreiben, die aus chinesischen Ideogrammen besteht. Den Erzählabschnitten sind Ideogramme sichtbar voran‐ gestellt; zu dem dann auf Deutsch Mitgeteilten stehen sie in unterschiedlichen Beziehungen, die man hypothetisch erschließen muss. Zu diesen die Prosaseiten strukturierenden Ideogrammen, kommen andere, größere: die Bestandteile ganzseitiger Bildkompositionen in bunten Farben. Wiederum lassen sich hypo‐ thetische Beziehungen zum Text konstruieren; dies setzt eine aktive Lesebewe‐ gung zwischen den Sprachen voraus. Im ganzen Buch findet eine zwei Schrift‐ welten ineinander über-setzende Bewegung statt, die lesend nachvollzogen werden muss. 8 250 Monika Schmitz-Emans rische. Eine literarische Übersetzung muss obsessiv der Wörtlichkeit nachgehen, bis die Sprache der Übersetzung die konventionelle Ästhetik sprengt. Eine literarische Über‐ setzung muss von der Unübersetzbarkeit ausgehen und mit ihr umgehen, statt sie zu beseitigen.“ (Tawada 1998: 35) 9 Vgl. Tawada (1998: 35-36): „Für mich besteht der Reiz einer Übersetzung darin, daß sie den Leser die Existenz einer ganz anderen Sprache spüren läßt. Die Sprache der Über‐ setzung tastet die Oberfläche des Textes vorsichtig ab, ohne sich von seinem Kern ab‐ hängig zu machen.-Es gibt sogar Texte, die wie Übersetzungen wirken, obwohl sie keine sind.“ 10 Vgl. Tawada (1998: 41-42): „Mit dem [Computer-]Programm könne man sich grund‐ sätzlich ohne Probleme zwischen zwei Schriftsystemen bewegen, nur manchmal gerate man plötzlich ins Japanische. Das Phänomen bezeichne man als Buchstabengespenster.“ In solchen Texten Tawadas, die der visuellen Form nach an zweispaltige Übersetzungshilfen, Wörterbücher oder Vokabelhefte oder durch ihre mise en page an Übersetzungstexte erinnern, wird dieses Über-Setzen besonders sinn‐ fällig inszeniert; Übersetzung wird zu einem poetologischen Modell. 9 Die Dif‐ ferenz zwischen den Schrift- und Sprachwelten wird bei Tawada oft durch ori‐ ginelle Interpretationseinfälle der Erzählerinnen oder der lyrischen Textstimmen überbrückt. Dabei scheint das Widerständige fremder Zeichen jene kreativen Interpretationsreflexe zu aktivieren, die solche Zeichen gern als ‚Bilder‘ deuten (ob es dabei nun um mit japanischen Augen gesehene lateinische Buchstaben oder um mit westlichen Augen gesehene chinesische Ideogramme geht). Gelegentlich wendet sich das Interesse neben der Überbrückung der Dif‐ ferenzen auch dem zu, was da zwischen den Schrifträumen liegen könnte. Dass es um ein unauslotbares ‚Dazwischen‘ gehen könnte, signalisiert der Text „E-mail für japanische Gespenster“ (in: Tawada 1998) mit seinen Anspielungen auf körperlose Geister und phantomatische Instanzen 10 : Den bei Tawada so oft animistisch interpretierten Buchstaben und Ideogrammen scheint eine Ge‐ spensterwelt meist unsichtbarer Gegenstücke zu entsprechen, die in den Spalten des Sichtbaren ihre Aktivitäten entfalten. Dieses Modell phantomatischer Zwi‐ schenräume und zwischenraumbewohnender Phantome erschließt unter an‐ derem eine spezifische Deutungsperspektive auf ein auf den ersten Blick harm‐ loses, für den deutschen Leser nicht nur buchstäblich, sondern auch konzeptuell verständliches Gedicht Tawadas, dem die Form des zweisprachigen, vokabel‐ weise übersetzenden Wörterbuchs zugrunde liegt, und das „Ein chinesisches Wörterbuch“ (Tawada 2002: 31) heißt: 251 Wörterbuchgeschichten, Wörterbuchgedichte Ein chinesisches Wörterbuch Pandabär: große Bärkatze Seehund: Seeleopard Meerschweinchen: Schweinmaus Delphin: Meerschwein Tintenfisch: Tintenfisch Computer: elektrisches Gehirn Kino: Institut für elektrische Schatten schwindelerregend: in den Augen blühen unzählige Blumen in voller Pracht Ohnmacht: Abenddämmerung der Vergangenheit Der Gedichttext ist zwar insgesamt deutsch (wobei er unkonventionelle Wen‐ dungen enthält), aber sowohl der Titel als auch die Gegenüberstellung jeweils zweier Ausdrücke in jeder Zeile lassen Übersetzungsversuche assoziieren: Wäh‐ rend die jeweils linke Eintragung im Deutschen geläufige Ausdrücke bietet (da‐ runter auch Lehnwörter), bietet die rechte Eintragung den wörtlichen (wörtlich ins Deutsche übersetzten) Sinn der jeweils entsprechenden chinesischen Zei‐ chen, wie sie in chinesischen Wörterbüchern stehen - also Übersetzungen von Ideogrammen. Phantomartig sind diese Ideogramme also mit im Spiel - herum‐ geisternd im Zwischen-Raum zwischen linker und rechter Liste, da, wo die Doppelpunkte sind. Das, was ‚zwischen‘ dem anfänglich Lesbaren und dem nach einem poetisch inszenierten Übergang ‚Lesbaren‘ steht - hier: die chinesischen Ideo‐ gramm-Geister -, ist manchmal unsichtbar, oft fremd, aber ein maßgeblicher Katalysator sprachlicher Verwandlungen. 5 Aus fremdschriftlichen Textwelten „herausgekritzelt“ (Cotten) Ann Cottens Texte bilden in mancher Hinsicht ein Pendant zu denen Tawadas. Während sich Tawada als japanische Muttersprachlerin mehrere europäische Sprachen angeeignet und das Deutsche zu einer ihrer Schreibsprachen gemacht hat, ist die gebürtige Amerikanerin eine deutsche Schriftstellerin, die Japanisch‐ studien betrieben hat, welche sich in ihren Arbeiten teilweise sichtbar nieder‐ schlagen. Nimmt der Gedichtband Fremdwörterbuchsonette (Cotten 2007) noch auf Fremdwörter innerhalb der westlichen (deutschen) Sprachwelt Bezug, so verfährt Cotten in ihrem Buch Jikiketsugaki (Cotten 2017) anders: Es enthält zwar weitgehend deutsche Texte, diese aber sind teilweise von Ideogrammen durchsetzt, die teils gedruckt, teils nach offenbar manuellen graphischen Zei‐ 252 Monika Schmitz-Emans chen reproduziert sind. Ähnlich wie bei Tawada werden Bedeutungen und Aus‐ sehen der fremdsprachigen Zeichen zu Impulsgebern des Schreibens: Sie lösen Ideen und Vorstellungsbilder aus, wecken Assoziationen und Erinnerungen. Mehrere Beiträge in Jikiketsugaki verdeutlichen den stimulierenden Effekt der Ideogramme sinnfällig. Am Seitenrand ist jeweils eine senkrecht angeordnete Gruppe von Ideogrammen abgebildet; daneben stehen Cottens Texte, die sich auf die Zeichen beziehen, ähnlich wie bei einer kommentierenden Übersetzung, aber ohne die Suggestion, die Zeichen verbindlich zu erklären. Zudem geraten die Ideogramme materialiter in den deutschen Text hinein (wo sie als Druck‐ zeichen nochmals auftauchen, was eine weitere Spannung zwischen manuellen und gedruckten Versionen erzeugt). Cotten verfasst ihre Texte über fremdschriftliche Zeichen aus einer anderen Haltung als Tawada, die beide Sprachen und Schriftsysteme flüssig beherrscht. Bei Cotten dominiert der Gestus der Lernerin, die die fremden Zeichen zu lesen und zu schreiben übt, selbst noch fremd in deren Welt. Dem manchmal etwas ungelenk wirkenden Duktus der manuell geschriebenen Ideogramme ist inso‐ fern anzusehen, was der absichtsvoll tastende Gestus der Texte dann oft bestä‐ tigt. Dass es gerade in den Zwischenräumen der Zeichen Neues zu entdecken gälte, ist aber eine auch bei Cotten leitende Idee. Zu einer Kombination aus drei Ideogrammen wird einmal eine dazu passende szenische Skizze geboten, näm‐ lich die Erzählung einer Erzählung, hypothetisch formuliert. Unmittelbar nach Abdruck der Ideogramme heißt es: diese Zeichen habe ich herausgekritzelt aus dem Internet. Offenes Tor, rot: Im Roman ‚Dunkelheit im Sommer‘ von Takeshi Kaiko erklärt eine Figur, dies sei ein Topos im Chinesischen. Ein Chinese verstände, dass man im Vorbeigehen an einem offenen Tor etwas Rotes mit dem Blick erhaschte. (Cotten 2017: 108) Stehen Cottens am Seitenrand abgebildete Ideogramme in der Regel ohne wei‐ tere textgraphische Vermittlung neben den Texten, die sie stimulieren, woraus sich ein nicht nur visueller Spannungsbezug ergibt, so trifft man doch auf inte‐ ressante Ausnahmen in Gestalt von Selbstannotationen, die wie Vermittlungswie Übersetzungsversuche wirken. Noch ein Geschenk. Dunkelheit? Nein, [chines. Zeichen] Regen. Durch den Regen fliegt sehr schnell der [chinesisches Zeichen] kleine Vogel mit dem kurzen Schwanz. Er wird nicht nass, er ist ganz Glanz. Er trieft nicht, es perlt von ihm ab. 253 Wörterbuchgeschichten, Wörterbuchgedichte 11 Cha, 1951 in Korea geboren, übersiedelte mit 11 Jahren in die USA, besuchte eine ka‐ tholische französische Schule, wie sie zuvor schon in Korea eine katholische (Mis‐ sions-)Schule besucht hatte. Die künstlerische Avantgarde, in deren Umfeld sie ihre Studien betrieb, war ebenfalls stark französisch geprägt und Cha studierte vorüberge‐ hend in Paris. Sie arbeitete als Künstlerin, Schriftstellerin, Filmemacherin. 1979 und 1980 kehrte sie wegen eines Filmprojekts („White Dust from Mongolia“) vorübergehend nach Korea zurück, zusammen mit ihrem Bruder James; der Film blieb unrealisiert. Verfolgen! Wie das Wasser von der Pfütze aufspringt, als ich mit dem Syphon, dem Spiegel draufhaue ohne Sinn! Da war aber was drin. Geordnet war der kleine Vogel, jetzt fliegt er umher wie zerstreute Federn, flog auf, nicht zu [chines. Zeichen] fangen, entflatterte. (Cotten 2017: 69) Am Gedichtende verweist eine Fußnotenziffer auf die folgende Annotation, mit der es um das Zeichen für „fangen“ geht - und die gleichzeitig wie der Versuch wirkt, die Bedeutung des Ideogramms einzufangen; der Annotationstext voll‐ zieht seinen eigenen Versuch einer ‚Übersetzung‘ - und wird dadurch zum Be‐ standteil des poetologischen Gedichts: reizukuri, Pinyin lì = fangen; rei(-zukuri) Sklave (-zur-Rechten)? Die Etymologie dieses Zeichens ist wie so oft umstritten; eine Theorie erklärt das Zeichen als Hand, die ein Tier hält, dessen Schwanz darunter baumelt. Da ich beim unteren Teil zuerst das identisch geschriebene Wasser zu erkennen dachte, erscheint mir dieses reizukuri als Beispiel für das Zusammenfließen im gröberen Symbolischen, Abstrakten, und letzt‐ lich für so unmöglich tiefschürfende Theorien von Mapping, Sprache und Orientie‐ rung bei Lakoff & Johnson oder, mit mehr Herz und Sinn für menschheitliche Poesie, bei Ernst Fuhrmann. Ein baumelnder Schwanz, eines Marders etwa, ist liquide wie Wasser und ständig in wellenartiger Bewegung. Eine traditionelle Pedanterie wäre es, immer darauf aus zu sein, Präzedenz herzustellen: ist Wasser eines (sic) von vielen flüssig baumelnden Gegenständen, oder wird es irgendwie als elementar klassifiziert und danach erst zur Beschreibung anderer, ähnlicher Sachen metaphorisch herange‐ zogen? Woher das Hierarchiebedürfnis? (Cotten 2017: 69) 6 Dictée: Theresa Hak Kyung Cha 1982, zeitnah zum tragisch frühen Tod der Autorin, erschien mit dem Band Dictée (Cha 2001) das erste Buch von Theresa Hak Kyung Cha. 11 Die Hauptsprache des Buches ist Englisch; es enthält daneben auch zahlreiche französische Texte, Übersetzungen paralleler englischer Passagen. Weitere englische Passagen 254 Monika Schmitz-Emans 12 Hangul ist, so Uljana Wolfs Erläuterung, eine „1444 für das einfache Bürgertum und für Frauen geschaffene Schrift. Hangul wurde erst 1919, im Zuge der antikolonialen Pro‐ testbewegung in Korea, zur offiziellen Schriftsprache. Unter der japanischen Besatzung bis 1945 waren koreanische Sprache und Schrift in verschiedenen Abstufungen unter‐ drückt oder verboten. Die Sprache der koreanischen Literatur, die offizielle Schrift‐ sprache der Autoren, waren viele Jahrhunderte die klassischen chinesischen Zeichen.“ (Wolf 2016: 20) Cha gehört zur „Hangul-Generation“, der ersten Generation, die auf Koreanisch unterrichtet wurde und Hangul in der Schule lernte (vgl. Wolf 2016: 20). 13 Auch andere ‚fremdschriftliche‘ Seiten finden sich nur ausnahmsweise: Eine haupt‐ sächlich aus chinesischen Zeichen gebildete graphische Darstellung zweier menschli‐ cher Körper samt erklärenden Texten zu Beginn der Sektion „Urania / Astronomy“ (Cha 2001: 63) sowie eine Seite mit zehn chinesischen Begriffen zu Beginn der Sektion „Terp‐ sichore / Choral Dance“ (Cha 2001: 154), als deren Pendants sich eine Seite mit zehn lateinisch geschriebenen chinesischen kosmologischen Stichwörtern weiter hinten im Buch betrachten lässt (vgl. Cha 2001: 173). werden als Übersetzungsvorlagen ins Französische präsentiert (mit der Anwei‐ sung: „Translate into French“ (Cha 2001: 14)). Eine zu Beginn des Buchs photographisch dargestellte Aufschrift auf dunklem Grund bildet unter den Texten des Buchs eine Ausnahme. Sie ist in Hangul, der koreanischen Schrift, verfasst, die zusammen mit der koreanischen Sprache und Kultur von den japanischen Besatzern unterdrückt, ja als Kommunikationsin‐ strument verboten wurde; erst seit dem mittleren 20. Jahrhundert ist sie die of‐ fizielle koreanische Schrift. 12 Die abgebildeten Zeilen in Hangul stammen nicht von Cha, sondern datieren zurück in die japanische Besatzungszeit, als in Koh‐ leminen arbeitende Kinder sie verfassten. Außer den wenigen (bei Cha unüber‐ setzt bleibenden) koreanischen Wörtern auf dem Photo enthält Dictée keine ko‐ reanischen Zeichen. 13 Das Koreanische ist abwesend in dem Buch, das durch seinen Titel bereits andeutet, was sich in seinen Texten dann nachdrücklich konkretisiert: Hier schreibt jemand (man könnte sagen: ein Rollen-Ich der Au‐ torin), dem man nicht nur einzelne Äußerungen, sondern seine Sprache ‚diktiert‘ hat - genauer gesagt: seine Sprachen, das Französische (das Cha seit ihrer Kin‐ derzeit als Schülerin einer frankophonen Missionsschule in Korea sprach und das für sie stark mit der religiösen Unterweisung konnotiert ist, die in Dictée auch als Gegenstand eines ‚Diktats‘ rekapituliert wird) und das Englische, die Sprache des Landes, in dem sie seit Beginn der 1960er Jahre lebt. Dictée ist nicht nur der Name eines Buchs, sondern auch ein Beiname für dessen Autorin: für eine, der man diktiert hat, ja, die selbst ‚diktiert‘ wird. Die koreanische Inschrift in Hangul hebt sich ab von den ‚diktierten‘ Sprachen und Schriften (zu denen auch das Chinesische gehört); sie wird nur gezeigt, nicht übersetzt. Die Autorin hat uns die nötige Lesekompetenz voraus, verweigert aber deren Einsatz. 255 Wörterbuchgeschichten, Wörterbuchgedichte Dafür lesen wir - Diktate: Auf einer der ersten Seiten (S. 1, unpag.) findet sich ein erster zweisprachiger Textbaustein, der inhaltlich und strukturell als ‚Diktat‘ gestaltet ist - und zugleich als Übersetzungsübung. Ein erster französischer Ab‐ schnitt findet im folgenden englischen Abschnitt seine präzise Entsprechung. Ungewöhnlich ist der Text in seiner französischen wie in seiner englischen Fas‐ sung deshalb, weil er neben einer Art von kurzem episodischen Bericht auch Wörter enthält, welche die Interpunktionszeichen nennen, wie bei einem Diktat. Das dieses Diktat einleitende „Aller à la ligne“, ins Englische übersetzt mit „Open Paragraph“, entspricht der Anweisung, einen neuen Textabsatz zu beginnen, wie sie bei mündlichem Vortrag von zu übersetzenden Texten (also bei Diktaten) üblich sind. (Wörtlich bedeutet es: ‚Zur Linie gehen‘ oder ‚Der Linie gemäß gehen‘ und lässt andere Formen ‚diktatorischer‘ Behandlung, zumindest aber eine starke Lenkung der Bewegungen des Adressaten assoziieren.) Dieser ‚Über‐ setzungstext‘ Chas verweist auf jemanden, der zwischen den beiden Sprachen situiert und dabei fremdbestimmt ist, der das Switchen zwischen zwei fremden Sprachen nicht lustvoll und voll Entdeckerfreude erlebt wie die Figuren Ta‐ wadas, sondern als Bestandteil der Erziehung zur Einfügung in fremde Sprach‐ kulturen. Der diktierte Text als solcher spricht von jemandem, der nach einem ‚ersten Tag‘ (in einem fremden Land? ) befragt wird, wie es war (im Französischen ist hier von einem „point d’interrogation“, im Englischen von einem „interrogation mark“ statt von einem „question mark“, also von einem ‚Befragungszeichen‘, die Rede; hierauf erfolgt eine unbestimmte Antwort, und dies zudem stockend und wie unter Vorbehalt: Open paragraph It was the first day period She had come from a far period tonight at dinner comma the families would ask comma open quotation marks How was the first day interrogation mark close quotation marks at least to say the least of it possible comma the answer would be open quotation marks there is but one thing period There is someone period From a far period close quotation marks (Cha 2001: [1]; unterstrichen: diktierter Text; ohne Unterstreichung: Diktieranwei‐ sungen) Im Folgenden ist die Rede von einer „ DISEUSE “, einer Sprecherin, von der es u. a. heißt: „She mimics the speaking. That might resemble speech.“ - und diese Figur kann sowohl als Übersetzerin interpretiert werden, die fremde Rede nach‐ ahmt, wie auch als jemand, dessen Rede in anderem Sinn ‚imitierte‘, fremde Rede ist. Kursiv und eingerückt, wie ein Zitat, enthält die Beschreibung der ‚Diseuse‘ auch einen Text, der (auf entsprechend gebrochene Weise) über ihr Inneres zu sprechen scheint - über einen Ort, wo ‚es‘ murmelt: 256 Monika Schmitz-Emans It murmurs inside. It murmurs. Inside is the pain of speech the pain to say. Larger still. Greater than is the pain not to say. To not say. Says nothing against the pain to speal. It festers inside. The wound, liquid, dust. Must break. Must void. (Cha 2001: 3) Das ‚Zwischen-den-Sprachen-Sein‘, wie es in Dictée thematisiert und inszeniert wird, ergibt sich aus der Geschichte Koreas und seiner Kultur, insbesondere im durch Okkupation und Gewalt geprägten 20. Jahrhundert. Von den japanischen Besatzern unterworfen, Gefangene im eigenen Land oder aber Exilierte, der ei‐ genen Sprache und Schrift teils beraubt, teils entfremdet, wird die koreanische Welt in Dictée vor allem durch die Figur der Mutter Chas repräsentiert, die als junge Frau im mandschurischen Exil lebte und die die Erzählerin so anspricht: you speak the tongue the mandatory language like the others. It is not your own. Even if it is not you know you must. You are Bi-lingual. You are Tri-lingual. The tongue that is forbidden is your own mother tongue. You speak in the dark. In the secret. The one that is yours. Your own. (Cha 2001: 45) Gewispert, im Dunkel, scheint in den Zwischenräumen fremder Sprachräume (des Japanischen, des Chinesischen, des mandschurischen Dialekts, aber auch des Englischen und Französischen) eine eigene Sprache fortzubestehen. Im Text von Dictée wird sie allerdings nicht vernehmbar, nicht lesbar, allenfalls in der punktuellen Transkription eines einzigen koreanischen Worts „ MAH - UHM “ (übersetzt als „spirit-heart“). Chas Buch akzentuiert das Bild des Zwischenraums zwischen den sichtbaren, den vernehmbaren Sprachen auf eigene Weise und setzt sie zu mehr als einer Exilerfahrung, zu mehr als einer Form erlittener Gewalt in Beziehung. Bei ihr wird die Erfahrung fremder Sprachen nicht primär zum kreativ genutzten Im‐ puls, Neues zu sehen und zu sagen, sondern vor allem zur Erinnerung an den Verlust einer eigenen Sprache. Cha hält die Lücke offen, besetzt sie vielleicht deshalb nicht mit koreanischen Texten (die sie ja schreiben könnte), um über die Erinnerung an die der koreanischen Kultur, Sprache und Schrift angetanen Gewalt hinaus auf Allgemeineres zu verweisen: auf die Erfahrungen all derer, die aufgezwungene Sprachen als fremdes ‚Diktat‘ erfahren. Mehrsprachigkeit und Sprachenmischung sind keine Auswege aus der Sprachnot, sie können al‐ lenfalls Strategien sein, via negationis, durch Lückenbildung, durch Zwischen‐ räume, auf diese hinzuweisen. Insgesamt bekommt die Formel ‚zwischen den Sprachen‘ in Dictée einen dop‐ pelten, zwischen zwei gegenläufigen Deutungsoptionen oszillierenden Sinn; sie gerät also gleichsam selbst ‚zwischen‘ die Diskurse. Zum einen weist sie durchaus auf Prozesse der Überwindung monolingualer Positionen hin, ent‐ sprechend einer Poetik der Sprachenmischung und des Sprachenwechsels. Die 257 Wörterbuchgeschichten, Wörterbuchgedichte 14 Uljana Wolfs Porträt Chas ist eine überarbeitete und erweiterte Version eines Vortrags im Lyrik Kabinett vom 11. 11. 2015. Er enthält Originalzitate aus Dictée sowie zitierte Texte aus einem Sammelband (vgl. Cha 2009). Deutsche Übersetzungen dieser Texte von Uljana Wolf. US -Immigrantin aus Korea repräsentiert selbst ja auch die Literatur einer glo‐ balisierten Welt. In den USA ausgebildet, eignet sie sich zwei historisch wirk‐ mächtige westliche Kultursprachen an, ist in Theorien und Praktiken postmo‐ derner Kunst und Literatur zuhause und kehrt gelegentlich nach Korea zurück, um dessen Geschichte filmisch zu verarbeiten - eine diskursiv versierte Wan‐ derin zwischen den Welten. Andererseits ist Cha selbst von der in vielem ge‐ waltsamen Geschichte ihres Landes, seiner Sprache und Schrift gezeichnet. Dictée selbst inszeniert das, was zwischen den erlernten Sprachen liegt, eine zeitweise verlorene Sprache. Die Hangulinschrift in Dictée markiert eine Wunde, das Verhallen von Stimmen, die nicht sprechen durften, den Verlust eines Stücks sprachgebundener Identität. 7 Uljana Wolf: „Ich kann sie nicht lesen, aber ich erfahre ihre Bedeutung…“ Uljana Wolf schreibt und lebt nach eigenem Bekunden und der Einschätzung ihrer Interpreten ‚zwischen den Sprachen‘ und bezieht daraus ihre kreativen Impulse. Das ‚Zwischen-den-Sprachen-Sein‘ verbindet sie (ebenso wie Yoko Ta‐ wada und Ann Cotten) mit Theresa Hak Kyung Cha, doch die Wertigkeit dieses ‚Dazwischen‘ ist eine andere, da das Dazwischen bei ihr eher einem Motor kre‐ ativen Schreibens als der Erfahrung von Verlusten, Defiziten, Brüchen gleich‐ kommt. Wolf hat Cha 2016 einen als Heft publizierten Vortrag gewidmet (Wolf 2016), in dem sie insbesondere Dictée dem Publikum näherzubringen sucht 14 : durch Informationen über Biographie und Werk, durch Zitate und Bilder aus dem Buch von 1982 und aus einer mittlerweile weiteren posthumen Buchpub‐ likation - sowie durch eigene Übersetzungen zu Texten Chas. Wolfs Heft über Cha zeigt als Bildreproduktion auch den koreanischen Text aus Dictée in Hang‐ ulschrift - und bietet zudem eine deutsche Übersetzung dazu, wobei die Zei‐ chenanordnung im deutschen Text die der Hangulgraphie nachahmt: Man sieht schrägsenkrechte Textzeilen aus Buchstaben, die Wörter ergeben, wobei die Textzeilen von rechts nach links zu lesen sind. Dabei wird, anders als bei Cha, erläutert, was es mit diesem Text auf sich hat: 258 Monika Schmitz-Emans 15 Bei Wolf in diagonalen, nicht geradlinigen Zeilen gesetzt. 16 Deutsche Übersetzungen eines Textes aus Cha (2009) von Uljana Wolf. Das Original des Textes in Cha (2009: 159), füllt eine Druckseite, ist länger (Wolf übersetzt nur den An‐ fang), ist weitgehend auf Englisch. Nur wer Deutsch versteht, wird in dem französischen „comme comme“ auch Deutsches anklingen hören. Der von Wolf übersetzte Anfang lautet im Original: „comment de dire how to say de dire comment dire how should one say how say how said comment on pourrait dire how could one say this c’est ça this this is the way this is the way how said the way done how be said how done comment c’est dite comme comme how like like how Das Bild, erfahre ich, zeigt die Wand in einer Kohlegrube, einem schwarzen Schacht, während der japanischen Besatzung, in dem Koreaner, auch Kinder, zur Zwangsarbeit gezwungen wurden. Die Schriftzeichen sagen, von rechts oben nach links unten: MUTTER ICH VERMISSE DICH ICH BIN HUNGRIG ICH MÖCHTE HEIM 15 Ein furchtbarer, einsamer, ein unerhörter Ruf: in der Muttersprache, an die Mutter, aus einem Kohleschacht, an ein Heim, das es so nicht mehr gibt, nie mehr gegeben haben wird. (Wolf 2016: 24-25) Zwar, so Wolf, könne sie die abgebildete Schrift nicht lesen, aber sie habe sich von anderen helfen lassen: Übersetzung, so signalisiert dies, ist möglich. Implizit wird damit eine der beiden Deutungsoptionen favorisiert, die das Bild des ‚Zwi‐ schen-den-Sprachen-Seins‘ hat: die Verheißung, das, was in einer Sprache ge‐ sagt wird, auch in einer anderen sagen zu können - und sei es denn im Zeichen der Verwandlungen und Verschiebungen. Ich kann sie nicht lesen, aber ich erfahre ihre Bedeutung von anderen Lesern, Kom‐ mentatoren, die des Koreanischen mächtig sind. Denn das ist die zweite Eigenschaft von Chas Werk, seiner Wirkung auf den Leser: Beginn einer Gemeinschaft aus Lesern, entfernten Verwandten, Schaffung winziger Zellen, revolutionärer Kollektive. (Wolf 2016: 24) Wolfs Übersetzungen zu Chas Gedichten reinszenieren die diesen eingeschrie‐ benen Differenzen - und überbrücken doch zugleich auch deren Differenz zur deutschen Sprache. comment de dire 16 259 Wörterbuchgeschichten, Wörterbuchgedichte like that is to say - c’est à dire this it’s here […]“. (Wolf 2016: 23-24) how to say wie sagen de dire comment dire wie soll man sagen wie sagen wie gesagt comment on pourrait dire how could one say das c’est ça das this is the way this is the way wie gesagt the way done wie gesagt how done comment c’est dite comme comme how like like how wie that’s to sa - c’est à dire das it’s here (Wolf 2016: 23-24) In einem gewissen Kontrast zur ludistischen Dimension des Textes, der mit Sprachklängen spielt (Klingt nicht „comme comme“ wie „komm komm“? ), steht die von den Wörtern eher umkreiste als ausformulierte Problematik: die des Worte-Findens. Der Text liest sich auch in der deutschen Übersetzung noch wie eine Serie von Variationen über die Frage, wie sich überhaupt etwas sagen, wie sich sprechen lässt - ein Gedicht, das vom Übersetzen spricht und doch offen lässt, wohin dieses überhaupt führt. Ist Jandls ebenfalls dreisprachiges „chanson“ ein Gedicht über die Lust tänzerischer Grenzüberschreitung, so wirkt „comment de dire“ - bei Cha wie in Wolfs Übersetzung - wie eine Inszenierung von Lücken im Raum zwischen den Sprachen, die man lernen kann und sprechen darf. Um welche Differenzen es zwischen Dictée einerseits, den selbstbewusst und ausdrucksfreudig zwischen Sprachen und Schriftsystemen über-setzenden Oeuvres neuerer Provenienz andererseits geht, verdeutlicht vielleicht ein Blick auf das Motiv der „Mutter“, metonymisch eng mit dem Thema „Sprache“ ver‐ knüpft. Tawadas Aufsatz „Schreiben im Netz der Sprachen“ (in: Tawada 2016) thematisiert prägnant die durch die Begegnung mit einer fremden Sprache ver‐ schobene Wahrnehmung der Welt und spielt dabei auf eine für die Autorin cha‐ rakteristische Weise mit den kreativen Impulsen, die sich aus solchen Verschie‐ bungen ergeben, auch mit der aus der (allmählich habitualisierten) Sprachenvergleich resultierenden Distanz zur Muttersprache. Sie sehe, so Ta‐ wada, „eine Chance in dieser zerstörten Beziehung zur Muttersprache und zur Sprache überhaupt“: 260 Monika Schmitz-Emans Man wird ein Wort-Fetischist. Jeden Teil oder sogar jeden Buchstaben kann man an‐ fassen und ändern […]. Man bleibt überall stehen und macht Nahaufnahmen der De‐ tails. Die Vergrößerung der Einzelteile ist verwirrend, weil sie vollkommen neue Bilder von einem vertrauten Objekt zeigt. Genau wie man durch ein Mikroskop die eigene Mutter nicht wiedererkennen kann, kann man die eigene Muttersprache bei einer Nahaufnahme nicht wiedererkennen. Aber in der Kunst geht es nicht darum, die Mutter so darzustellen, dass man sie wiedererkennt. (Tawada 2016: 32) Die Autorin von Dictée verzichtet, mit einer gegenüber dem mikroskopischen Blick auf die eigene Muttersprache radikalerem Gestus, demonstrativ ganz auf deren Gebrauch. Aber zu Beginn ihres Buchs Dictée, das nachdrücklich der Suche nach der Geschichte der Mutter gewidmet ist, erinnern (für die westlichen Rezipienten unlesbar) ja die wenigen Zeilen in Hangul daran, dass die Distanz zur Muttersprache unter manchen politischen und biographischen Bedin‐ gungen auch als Verlust erlebt werden kann. Diese Zeilen lesen, die mit der Hangul-Zeichenfolge für „Mutter“ beginnen und mit dem in Hangul geschrie‐ benen Wunsch nach Heimkehr enden, ist in der deutschen Übersetzung samt lateinischen Transliteration bei Uljana Wolf wie ein Stück visueller Poesie. In Dictée wirken sie demgegenüber (trotz des medialen Distanzeffekts durch die Photographie und deren Reproduktion im Buch) eher wie die Spur eines Ver‐ lusts. Dictée selbst handelt von der Sehnsucht, die eigene Mutter wiederzuer‐ kennen, allerdings auch von deren Uneinlösbarkeit; dieser Mutter gelten ein‐ dringliche Texte, und Bilder der Mutter werden gezeigt - stumm wie das Bild der koreanischen Textzeilen, aber auf eine sichtbare und dadurch bedeutsame Weise stumm. Literaturverzeichnis Cha, Theresa Hak Kyung. 2001. Dictée. Berkeley u. a.: University of California Press. —. 2009. Exilée and Temps Morts. Selected Works. Berkeley u. a.: University of California Press. Cotten, Ann. 2007. Fremdwörterbuchsonette. Frankfurt am Main: Suhrkamp. —. 2017. Jikiketsugaki. Tsurezuregusa. Ostheim / Rhön: Peter Engstler. Forster, Leonard. 1970. The Poet’s Tongues. Multilingualism in Literature. London: Cam‐ bridge University Press. Harig, Ludwig. 1985. Das Rauschen des sechsten Sinnes. Reden zur Rettung des Lebens und der Literatur. München / Wien: Hanser. Hölderlin, Friedrich. 1951. Werke. Große Stuttgarter Ausgabe. Bd. 2,1: Gedichte nach 1800. Erster Teil: Texte. Stuttgart: Cotta. 261 Wörterbuchgeschichten, Wörterbuchgedichte Jandl, Ernst. 1985a. Das Öffnen und Schließen des Mundes. Frankfurter Poetik-Vorle‐ sungen. Darmstadt / Neuwied: Luchterhand. —. 1985b. Gesammelte Werke. Bd. 1. Darmstadt / Neuwied: Luchterhand. Pastior, Oskar. 1978. Der krimgotische Fächer. Lied und Balladen. Erlangen: Renner. —. 1987. Jalousien aufgemacht. Ein Lesebuch. München / Wien: Hanser. —. 2006. Das Unding an sich. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Schmitz-Emans, Monika. 2002. „Nach-Klänge und Ent-Faltungen. Hölderlins ‚Am Quell der Donau‘ und seine ‚Schallgeschwister‘.“ In: Manfred Schmeling / Monika Schmitz-Emans (Hg.). Multilinguale Literatur im 20. Jahrhundert. Würzburg: Königs‐ hausen und Neumann, 69-95. Schuldt, Herbert/ Robert Kelly / Friedrich Hölderlin. 2001. Am Quell der Donau - Unquell the Dawn Now. Göttingen: Steidl. Tawada, Yoko. 1998. Verwandlungen. Tübingen: Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke. —. 2002. Überseezungen. Tübingen: Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke. —. 2011. Schwager in Bordeaux. 2. Aufl. Tübingen: Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke. —. 2016. akzentfrei. Tübingen: Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke. Wolf, Uljana. 2016. Wandernde Errands. Theresa Hak Kyung Chas translinguale Sen‐ dungen. Heidelberg: Wunderhorn. Xu, Bing. 2004. Sprachräume. Xu Bing in Berlin. Museum für Ostasiatische Kunst. 27. Mai - 1. August 2004. Berlin: American Academy. Yildiz, Yasemin. 2012. Beyond the Mother Tongue. The Postmonolingual Condition. New York: Fordham University Press. 262 Monika Schmitz-Emans Denkräume: Die Sichtbarkeit der Übersetzer: innen Sichtbarkeit in und von Übersetzungen - „Übersetzung ist die radikalste Veränderung und Zerstörung eines Textes“ Gespräch zwischen dem Schriftsteller, Übersetzer und Literaturkritiker Jan Wilm und Birgit Neumann Dr. Jan Wilm studierte Anglistik und Amerikanistik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, wo er mit einer Arbeit über den Nobelpreisträger J. M. Coetzee und dessen Slow Philosophy (2016) promovierte. Er ist Schriftsteller, Übersetzer und Literaturkritiker u. a. für die Neue Zürcher Zeitung, die Frank‐ furter Allgemeine Zeitung, die Los Angeles Review of Books und das Times Literary Supplement. Zuletzt erschien von ihm der Roman Winterjahrbuch (2019). BN : Jan Wilm, Sie sind Übersetzer, u. a. von der viel beachteten und ausgezeich‐ neten amerikanischen Schriftstellerin und Kritikerin Maggie Nelson. Ihre deut‐ schen Übersetzungen von The Red Parts (2007; dt. Die roten Stellen), The Argo‐ nauts (2015; dt. Die Argonauten, 2017) und Bluets (2009; dt. Bluets, 2018) sind beim renommierten Hanser Berlin Verlag erschienen. Hanser, einer der wenigen noch konzernunabhängigen Verlage in Deutschland, hat sich mit den Publikationen etlicher bedeutender Autor*innen, gerade auch aus dem Ausland, einen Namen gemacht. Mit der Übersetzung von Autor*innen weltliterarischen Ranges setzt der Verlag auch auf die Vermittlung zwischen unterschiedlichen literarischen Kulturen - und sein symbolisches Kapital gründet nicht zuletzt auf dieser Ver‐ mittlungsfunktion. Für die Besonderheiten von Übersetzungen erscheint der Verlag allerdings erstaunlich wenig sensibilisiert. Auf den Verlagsseiten werden Nelson und ihr Werk detailreich präsentiert. Sie als Übersetzer hingegen bleiben unerwähnt. Hat die von Lawrence Venuti vor gut 25 Jahren geprägte Formel der Unsichtbarkeit der Übersetzung auch heute noch Gültigkeit? JW : Sie sprechen von der Online-Präsentation des Tochterverlags Hanser Berlin, wo die Übersetzer*innen in der Tat lediglich namentlich genannt werden. Ihre Namen werden auf der Webseite gar in einer solch kleinen Schriftgröße ver‐ merkt, dass es anmutet, man wollte verstecken, dass es sich um einen über‐ setzten Text handelt, was ja vielleicht auch der Fall ist. Durchs Unsichtbarma‐ chen der Übersetzer*innen ergeben sich für Verlage tatsächlich kapitalistische Vorteile, da die Werbekampagne ausschließlich auf die schreibende Person kon‐ zentriert werden kann. Es ist in vielen Fällen gar nicht gewünscht, dass man als Übersetzer*in selbst als Fürsprecher*in eines übersetzten Werkes auftritt. Die Übersetzer*innen sollen lieber im Hintergrund, im Dunklen bleiben. Allerdings beleuchtet dies mittlerweile sehr überholte Verlagspraktiken (was nicht heißt, dass sie nicht noch vorherrschen), und es drängt sich bisweilen der Eindruck auf, mancher Verlag hat den diskursiven Wandel des literarischen Feldes nicht mitbekommen und handelt noch wie in uralten Zeiten, in denen Über‐ setzer*innen nicht mal im Buch genannt wurden. Heute findet diese Nichtnen‐ nung metaphorischer, symbolischer statt. Die Invisibilisierung der Über‐ setzer*innen geschieht heute paradoxerweise aber auf sichtbarere Weise. Früher wurden Übersetzer*innen einfach nicht genannt, wenngleich manche besser bezahlt wurden. Heute werden sie genannt, aber an den sonstigen Diskursen über das übersetzte Werk nicht beteiligt, dass es wirkt, als wollte man ihre Un‐ sichtbarkeit zeigen. Die erfolgreicheren und progressiveren Verlage verfahren mit ihren Über‐ setzer*innen natürlich ganz anders und erkennen den - um im kapitalistischen Jargon zu bleiben - Mehrwert eines Diskurses über das übersetzte Werk, der auch von den Übersetzer*innen befeuert wird, sei es durch Interviews oder Es‐ says im Printfeuilleton oder in Blogs und sozialen Medien online. Es ist ver‐ wunderlich, dass manche Verlagsmenschen etwas länger brauchen, um dies zu verstehen, doch ist dies aus verschiedenen Gründen der Fall. Übersetzer*innen sind zwar auch am ökonomischen Erfolg eines Buches interessiert, so wie Lektor*innen und Verleger*innen, doch die Übersetzerin ist zuallerst die erste und vielleicht die genaueste Leserin des Buches. Diese Sonderstellung sollte man sich zu Nutze machen und sie sollte eine interessierte Leserschaft interessieren. Es verwundert darüber hinaus, dass Venuti auch nach Jahren noch mit seiner Feststellung rechtbehält, dass die Künstlichkeit, die jeder übersetzte Text dar‐ stellt, aus Sicht des literarischen Felds meistens in den Hintergrund treten soll. Venuti bringt den Begriff der fluency, der Flüssigkeit, ins Spiel; im deutschspra‐ chigen Feuilleton wird die Übersetzung meist mit dem Gemeinplatz kongenial abgeparkt und abgehakt, und es wird kein Wort verloren über die Artifizialität einer Übersetzung als verfremdendes, magisches Filtermedium zwischen Leser*in und Originaltext. In ihrer schönen Studie zum Übersetzen This Little Art (2017) beschreibt die Roland Barthes-Übersetzerin Kate Briggs zum Beispiel sehr klug die Fremdheit und die Unheimlichkeit beim Lesen von übersetzter Literatur: Ich lese einen Text in Übersetzung, vielleicht ohne Kenntnis der Ori‐ ginalsprache, und habe dennoch den Eindruck, die Autorin oder den Autor zu 266 „Übersetzung ist die radikalste Veränderung und Zerstörung eines Textes“ lesen, gerade so wie Rilkes Malte meint, nicht nur einen Text, sondern einen Dichter lesen zu können. Als Übersetzer*in mag man sich dennoch wohlfühlen, unsichtbar zu sein, denn die Unsichtbarkeit bringt ihre eigenen Vorteile mit - allerdings möchte ich eine Unsichtbarkeit aus ethischer Sicht ins Feld führen: Eine Art Diener*in für den Originaltext zu sein, eine Art Sekretär*in zu spielen, das ist eine wunderbare Sache; doch vergessen wir nicht die Dynamiken der Abhängigkeit eines Subjekts (oder in diesem Fall: eines Textes) von seiner Dienerin, von seinem Sekretär. Die Übersetzer*innen dürfen sich für die Unsichtbarkeit entscheiden; Verlage, die ihre Übersetzer*innen unsichtbar machen, sollten die gesamte feurige Inbrunst von Irritation und Indignation ernten, die Unterdrückungssysteme verdient haben. Aus ethischer Sicht und als subjektive Entscheidung der Übersetzer*in ist die Unsichtbarkeit eine akzeptable und mitunter produktive Position; aus verlagspolitischer und ökonomischer Sicht ist sie eine Unverschämtheit. BN : Auch in Rezensionen finden Übersetzer*innen und ihre kreativen Eigen‐ leistungen nur selten Erwähnung; wenn Übersetzungen überhaupt zum Thema werden, dann zumeist im Kontext von sprachlicher Transparenz, Flüssigkeit und Leserfreundlichkeit - Kriterien, die in den Translation Studies zumeist den ‚ein‐ bürgernden‘, glättenden und domestizierenden Strategien zugeschlagen werden. Ihnen wird nachgesagt, zur weiteren Invisibilisierung translatorischer Praktiken beizutragen. Welche relevanten Fragen könnten und sollten in Re‐ zensionen gestellt werden, um für die Besonderheiten von Übersetzungen zu sensibilisieren und deren Eigenleistung Rechnung zu tragen? JW : Ungerecht vergröbert gesagt: Dem Feuilleton fehlt heute in erster Linie ein kritisches Lexikon, das Übersetzungen zu umschreiben und analysieren weiß. Doch noch einen Schritt zurückgetreten: Dem Feuilleton in seiner heutigen Ausformung fehlt meist sogar ein kritisches Lexikon, um Literatur im Allge‐ meinen zu umschreiben und zu analysieren, so dass die Untergrabung der Über‐ setzung - nichts anderes ist die Nicht-Erwähnung oder Nicht-Beachtung der übersetzerischen Tätigkeit - alles andere als verwunderlich ist. Die Kritik im Feuilleton ist tot, weil das Feuilleton tot ist; je früher dies anerkannt und ak‐ zeptiert wird, desto früher können sich Kritik und Feuilleton erneuern. Desto früher kann das Feuilleton auch akzeptieren und anerkennen, dass sich Über‐ setzungspraktiken in den letzten dreißig Jahren enorm verändert und der Status von Übersetzer*innen im literarischen Feld enorm gewandelt haben. Eine Re‐ zension, die heute zum Beispiel die Übersetzerin eines Textes nicht erwähnt, genügt nicht einmal den Minimalanforderungen einer Kritik. 267 „Übersetzung ist die radikalste Veränderung und Zerstörung eines Textes“ Die Redaktionen sind ausgejätet, viele Feuilletons durchlaufen noch immer einen Durchlöcherungsprozess der intellektuellen Entplombung, vor allem durch die nahezu kafkaesk anmutende extrakurrikulare Erwartungshaltung an Journalist*innen. Den Kritiker*innen fehlt es in erster Linie an Zeit, an Zeit zum Lesen und an Zeit zum Denken. Es ist nicht außergewöhnlich, dass Journa‐ list*innen englischsprachige Bücher, die sie besprechen, ausschließlich im Ori‐ ginal lesen und keine Zeit investieren, um außer fürs Zitieren in die Übersetzung zu schauen. Hinzu kommt, dass Rezensionen im Printmedium Zeitung seit langer Zeit als zu textlastig empfunden werden (selbst wenn die Rezensionen online stehen), und so schmilzt die Sprachmasse von Kritiken mehr und mehr - während auch die Feuilletons selbst verkleinert werden, zum Beispiel, um mehr Platz für Life‐ style zu machen. Es bleibt häufig einfach kein Platz im Text, um auf die Eigen‐ heiten einer Übersetzung einzugehen, um nicht nur den sprachlichen Wandel, sondern auch die kulturelle und symbolische Übersetzungsarbeit zu beachten, geschweige denn zu untersuchen. Zeit ist also Raum. Weil Zeit aber auch Geld ist: Die Redakteur*innen, besonders die freischaff‐ enden, werden mittlerweile so schlecht bezahlt, dass ihre Arbeit nicht nur öko‐ nomisch, sondern auch symbolisch in jeder Hinsicht entwertet wird. Freischaf‐ fende Kritiker*innen können nicht mehr ausschließlich von ihrer Schreibarbeit leben, wodurch die schriftlich verfassten Kritiken immer schlechter, immer wertloser werden. Der Schreibmuskel wird nicht trainiert, der Lesemuskel atro‐ phiert, die interpretativen Drüsen sterben ab. So befinden wir uns derzeit in einer Situation, in der die Feuilletons zwar noch existieren, aber mehr einem Leichenschauhaus ähneln als einem Ort des vitalen Austauschs, in dem das Denken trainiert werden kann. Im deutschsprachigen Raum wurzelt dies meines Erachtens auch in einer noch immer spitzfingrigen Umgangsweise mit Gegen‐ wartsliteratur. Der übersetzte Klassiker darf als übersetztes Werk betrachtet werden, der zeitgenössische Debütroman einer schottischen Lyrikerin wird je‐ doch meist nicht als übersetztes Werk wahrgenommen oder wertgeschätzt. Um adäquat mit der Arbeit des Übersetzens auch im Feuilleton-Kontext um‐ gehen zu können, wäre es notwendig, im deutschsprachigen Raum ein Book Review zu etablieren, einen Denkraum, in dem unter akzeptabler Bezahlung Lese-, Denk- und Arbeitszeit investiert werden könnte, um analytische, gründ‐ liche, vergleichende Lektüren eines Werkes zu produzieren. Besonders im eng‐ lischsprachigen Raum bieten Publikationen wie die New York Review of Books, die London Review of Books, das Times Literary Supplement, n+1, aber auch die größtenteils online publizierte Los Angeles Review of Books oder das Magazin Music & Literature durchaus Raum für Lektüren von übersetzter Literatur, die 268 „Übersetzung ist die radikalste Veränderung und Zerstörung eines Textes“ der Arbeit der Autor*innen wie der Übersetzer*innen auf intellektuell an‐ spruchsvolle Weise Rechnung tragen - auch wenn die Bezahlung der letzten beiden Publikationsorgane aufgrund von Unterfinanzierung ebenfalls allenfalls als symbolisch angesehen werden darf. Nur einmal auf Deutschland fokussiert: Dass etwas Ähnliches in Deutschland nicht existiert, ist im Großen und Ganzen beschämend, besonders wenn man sich vor Augen führt, dass der deutsche Buchmarkt Jahr für Jahr enorme Massen an übersetzter Literatur produziert und publiziert und einige Übersetzer*innen wie Susanne Lange oder Ulrich Blumenbach bisweilen ein faszinierenderes, er‐ finderischeres Deutsch schreiben als originär deutschsprachige Autor*innen. BN : In den Translation Studies herrscht mittlerweile weitgehend Einigkeit da‐ rüber, dass Übersetzungen kreative und transformative Prozesse sind - und eben keine glatte Übertragung eines mobilen Guts von einem Ufer zum anderen. Einst gültige Ideale von Äquivalenz und Treue sind Konzepten von Alterität, Diffe‐ renzverhandlung und ‚Äquivalenz ohne Identität‘ (Paul Ricœur) gewichen. Ei‐ nige Kritiker*innen betrachten Übersetzungen sogar als eine Form des creative rewriting, des kreativen Neu- und Umschreibens. Welche Freiheiten bieten Übersetzungen, um allzu eingeschliffene sprachliche Muster und deren episte‐ mische Einschreibungen an ihre Grenzen stoßen und sichtbar werden zu lassen? JW : Philosophisch betrachtet ist die Übersetzung unter anderem ein Medium der ästhetischen Erneuerung der Zielsprache, da permanent die Möglichkeit besteht, die Zielsprache durch die Fremdheit und Andersartigkeit der Aus‐ gangssprache zu befeuern, zu bereichern und zu beleben. Die wenigsten Über‐ setzer*innen machen sich dieses Potenzial bewusst und zu Nutzen. Doch auch hier sind nicht immer die Übersetzer*innen die Hemmschuhe, sondern die ver‐ krusteten Verlagspraktiken und fossilisierte (angenommene) Erwartungshal‐ tungen des Literaturmarktes. Übersetzer*innen sind Schreibende mit mehrspra‐ chigen Zungen, und dort wo die Fremdheit der Übersetzung zu Tage tritt, beginnt der übersetzte Text zu leben. Übersetzer*innen sollten sich immer die Freiheit nehmen können, im Rahmen des Originals, die Zielsprache zu dehnen oder zu brechen. Weil es vermeintlich selbstverständlich ist, lohnt es einmal wieder gesagt zu werden: Eine Übersetzung ist die radikalste Veränderung und Zerstörung eines Textes, die sprachlich möglich ist. Jede Übersetzung ist eine Dekonstruktion. Man sollte sich nicht scheuen, diese Dekonstruktion zur Schau zu stellen und daraus ein Spiel zu machen. Sprache lebt nur dann, wenn ihre kristallinen Strukturen immer wieder abgeschliffen und durchbohrt werden. BN : Sie übersetzen gerade den theoretisch radikalen, politisch irritierenden und sprachlich extrem vielschichtigen Text Afropessimism (2020) von Frank B. Wild‐ 269 „Übersetzung ist die radikalste Veränderung und Zerstörung eines Textes“ erson III . Die Sprache des Textes ist gleichermaßen politisch wie affektiv auf‐ geladen, fast so, als wolle sie sich für alle die Erniedrigungen, die African Ame‐ ricans seit jeher erdulden mussten, rächen. Dabei ist sie zugleich fest eingebunden in afro-amerikanische Kulturen und entfaltet einen erheblichen Teil ihrer Bedeutungsdimensionen in entsprechenden lokal situierten Kon‐ texten. Der Text, der auf verschiedenen Ebenen festgezurrte Grenzen über‐ schreitet, ist durchzogen von untranslatables, unübersetzbaren Begriffen. Be‐ griffe wie „Negro“, „Blackness“, „Slaveness“ sowie Sprachvariationen, die dem Black American English zuzurechnen sind, reisen nur mit erheblichen Verlusten in andere, sprachliche und kulturelle Kontexte. Wie gehen Sie mit solchen un‐ translatables um; welche Chance zur sprachlichen Erneuerung bieten sie? JW : Da ich in mehreren Sprachen lebe, bin ich immer sehr für Kreuzbestäu‐ bungen zwischen verschiedenen Lexika und Registern. Als historisch gewach‐ sene Konstrukte sind Sprachen nach meiner Auffassung das Gegenteil von ir‐ gendwelcher Reinheit. Ein Blick ins kluge etymologische Wörterbuch eröffnet die Schatztruhe der sprachlichen Migrationen, der kulturellen Mischungen. Auch aus diesem Grund votiere ich immer für Lehnwörter wie die von Ihnen angesprochenen Begriffe, die entweder gut eingeführt sind oder endlich einge‐ führt werden sollten. Ich beobachte einen seltsamen Konservatismus in Verlagshäusern, gelegent‐ lich selbst in den progressivsten, und dieser Konservatismus äußert sich mit‐ unter in Reinheitsfantasien, in der Illusion von Purismus. Eine Lektorin schrieb mir einmal als Kommentar neben einen von mir übersetzten Satz: Unsicher, wie wir das formulieren sollen, dass es nach echter Sprache klingt. Was echte Sprache ist, weiß ich bis heute noch nicht, aber in dieser gedanklich und stilistisch ver‐ armten Äußerung wird die (illusionäre) Fetischisierung eines Reinheitsideals deutlich, und dass sich die Lektorin - hierarchisch niedriger angesiedelt als die Autorin, aber höher angesiedelt als der Übersetzer - als Fackelträgerin der echten Sprache sieht. Als Übersetzer*in muss man jedoch manchmal das Löschwasser sein, das diese Fackel im Dienste des Textes und der Sprache erstickt. Oder un‐ reiner gesagt: Übersetzend muss man die Pisse am Morgen nach dem Camping‐ urlaub sein, mit der man die schwelende Glut jenes Ortes löscht, den man hinter sich lässt. Aber meinen Sie nicht, es sollte schon jedes Wort übersetzt werden? , schrieb mir dieselbe Lektorin, als ich den Begriff flirten verwendete - nicht gerade das fremdeste Wörtchen in German, n’est-ce-pas? Noch einmal, gerade aus diesen Gründen sollte man Lehnwörter immer wieder erproben und verteidigen. Man‐ chen Übersetzer*innen wird vorgeworfen, sie läsen nur noch in der Ausgangs‐ sprache und verlören den Kontakt zur Zielsprache - was ich nicht auf diese 270 „Übersetzung ist die radikalste Veränderung und Zerstörung eines Textes“ apodiktische Weise ausschließlich als Negativum betrachten würde, aber das steht auf einem anderen Blatt -; doch man sollte einigen Lektor*innen an‐ kreiden, sie lesen überhaupt nicht in den Ausgangssprachen, mit denen sie ar‐ beiten. Aufgrund der institutionellen Gegebenheiten der Verlagswelt ist dies häufig gar nicht möglich; problematisch ist es dennoch. Was ich zuvor über die Feuilletons sagte, gilt in ähnlicher Hinsicht für die Verlagsarbeit. Die erwähnte Lektorin sah ihren Selbstzweck in der gehetzten Mühle des Verlages darin erschöpft, nach „Fehlern“ in der Übersetzung zu su‐ chen und manchmal lediglich drei Fragezeichen in einen Randkommentar zu setzen, anstatt konstruktiv in und mit der Sprache des Textes und der Überset‐ zung zu denken. Obschon (frei nach Andreas Reckwitz) das Kreativitätsdispo‐ sitiv heutzutage die Musik macht, wird nach meiner Erfahrung die Kreativität und der Eigensinn der Übersetzer*innen abgedämpft oder einfach herauslekto‐ riert, so dass viele Übersetzungen großartiger Sprachkunstwerke in der neuen Sprache etwas von der Langeweile und der Zähigkeit von vertrocknetem Käse besitzen. Doch vielleicht liegt es auch an mir. Vielleicht liegt es an meiner störrischen Insistenz, Fremdheit und Durchmischung zu zelebrieren und Glättung und Flüs‐ sigkeit zu schmähen. Vielleich lese ich ja auch zu viel nicht-Deutschsprachiges und meinem Deutsch fehlt es an lexikalischer wie semantischer Erfin‐ dungs-Opulenz, und meine grantelbärtige Irritation über gängige Verlagsprak‐ tiken ist nichts als ein Symptom meiner Erfolglosigkeit. Könnte doch sein. Man wird abwarten müssen. Jedenfalls: Je weniger unübersetzbare Partikel, je weniger Lehnwörter, je we‐ niger Neologismen meine übersetzten Arbeiten aufweisen, desto mehr wird da‐ rauf hindeuten, dass ich für Kreativität, Erneuerung und Dekonstruktion durch die Übersetzung zwar gekämpft, jedoch gegen die Verlage und ihre Apparat‐ schiks verloren habe. Die Verlage - meine Windmühlen. Doch wie dem alten Mann aus La Mancha macht mir der Kampf natürlich enormen Spaß. BN : Übersetzer*innen genießen im Großen und Ganzen keinen guten Ruf; sie stehen seit jeher im Verdacht zu verfälschen, zu betrügen und zu manipulieren. Übersetzungen wiederum gelten allenfalls als sekundäre, derivative Praxis, als Supplement im Sinne Jacques Derridas, die dem sog. Original weit unterlegen ist. Venuti spricht Übersetzungen gar eine gewaltsame Dimension zu, da sie oftmals darauf angelegt seien, Fremdes zu glätten und eigenen Sinnsystemen unterzuordnen. Der Komparatist und Historiker Naoki Sakai wiederum stellt das konnektive, entgrenzende Potential von Übersetzungen in Frage und be‐ hauptet stattdessen, dass sie aus historischer Perspektive oftmals allererst dazu beigetragen hätten, eben jene Grenzen von Sprachen zu ziehen. Umso mehr 271 „Übersetzung ist die radikalste Veränderung und Zerstörung eines Textes“ stellen sich in den Translation Studies Fragen nicht nur nach Übersetzungspo‐ etiken und -politiken, sondern auch nach der Ethik der Übersetzung. Haben Sie eine Ethik der Übersetzung (und welche Rolle spielen Vorgaben und Erwar‐ tungen von Verlagen in deren Umsetzung)? JW : Die Ethik der Übersetzung lautet: Ich arbeite nicht für Verlage, sondern für Texte, für die Schreibenden, die ihre Lebenszeit, ihren Schmerz, ihre Erfahrung, ihre Liebe, ihr Leben zu Sprache werden ließen. Ich habe Übersetzungsaufträge verloren, weil ich für den Text gehandelt habe, anstatt für die Empfindlichkeiten von Verlagsleuten, und das trage ich wie ein Ehrenabzeichen am zerschlissenen Revers meines Mantels der literarischen Wertschätzung. Meine eigenen Befind‐ lichkeiten - sowie meine ökonomische Absicherung, meine Lebenszeit etc. - zählen nichts. Es zählt nur der Text, der Ausgangstext wie der Zieltext, der meine Übersetzung darstellt; und die Sprache, die Originalsprache wie die Neusprache, die meine Übersetzung darstellt. Die Ethik der Übersetzung ist die möglichst genaue Lektüre und die möglichst kreative Bearbeitung in die Zielsprache hi‐ nein. Zwischen diesen zwei Rahmen entsteht Literatur. 272 „Übersetzung ist die radikalste Veränderung und Zerstörung eines Textes“ Von der „dienend-schöpferischen Arbeit“ der Übersetzung: Gespräch zwischen der Übersetzerin Reinhild Böhnke und Birgit Neumann Frau Dr. Reinhild Böhnke ist promovierte Germanistin und literarische Über‐ setzerin; sie hat eine ganze Reihe renommierter englischsprachiger Autor: innen übersetzt, allen voran die Werke von D. H. Lawrence, Mark Twain, Margaret Atwood, Brian Friel, Chimamanda Ngozi Adichie, Nuruddin Farah sowie J. M. Coetzee. Für ihre Übersetzungstätigkeit wurde sie vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Bundesverdienstkreuz. BN : Jüngst haben Sie die ‚Jesu-Trilogie‘ des Literaturnobelpreisträgers J. M. Coetzee übersetzt, die auch in Deutschland viel Aufmerksamkeit erhalten hat. Auf den Seiten des angesehenen Fischer-Verlags sowie in Rezensionen wird Ihre übersetzerische Leistung zumeist nur am Rande gewürdigt. Was ist dran an der von Lawrence Venuti vor gut 25 Jahren geprägten Formel der Unsichtbarkeit der Übersetzer: in und stören Sie sich an ihr? RB : Wenn man sich dem Übersetzen von Literatur widmet, weiß man, dass diese dienend-schöpferische Arbeit zumeist nicht im Spotlight der Öffentlichkeit steht. Selbst Leser*innen, die sich dafür interessieren, haben häufig nur kli‐ scheehafte Vorstellungen, wie man an immer wieder gestellten Fragen merkt. Dass die Literaturkritiker*innen den / die Übersetzer*in meist nur am Rande er‐ wähnen, nicht selten mit vorgeprägten Floskeln, dafür habe ich ein gewisses Verständnis. Um eine übersetzerische Leistung richtig einschätzen zu können, müsste man erst einmal das Original lesen - wofür es die Beherrschung der jeweiligen Sprache und die nötige Zeit braucht. Als ärgerlich empfinde ich das Herumkritteln an einzelnen aus dem Kontext gerissenen Wörtern und Sätzen. Einige Grundregeln haben sich aber weitgehend durchgesetzt: In seriösen Verlagen wird der / die Übersetzer*in auf der Titelseite genannt, manchmal auch im hinteren Klappentext zusammen mit dem / der Autor*in vorgestellt. Für mich ist in erster Linie wichtig, wie der Verlag mit mir umgeht, ob ich dort fair und anerkennend behandelt werde. Besonders erfreulich ist es, wenn der / die Autor*in sich für die Übersetzung interessiert, für Fragen und Diskussionen offen ist. Und wenn in Rezensionen zur deutschen Übersetzung von Coetzees Romanen sein präziser, ganz eigener Stil hervorgehoben wird, so fasse ich das als ein Lob auf, auch wenn ich nicht ausdrücklich erwähnt werde. BN : Sie haben u. a. eine Neuübersetzung von Coetzees Roman Waiting for the Barbarians (1980) vorgelegt. Bei Neuübersetzungen geht es nicht zuletzt darum, sprachliche, im Ausgangstext angelegte Bedeutungsdimensionen neu zu er‐ schließen und gemäß zeitgenössischer Sprach- und Denkmuster zu aktuali‐ sieren. Dies erfordert offensichtlich ein umsichtiges Austarieren zwischen den Ansprüchen des Originals und leserseitigen Rezeptionserwartungen. Worin be‐ stehen die besonderen Herausforderungen von Neuübersetzungen und wie viele Freiräume bieten sie mit Blick auf eine gegenwartsorientierte Re-Interpretation der dem Ausgangstext eingeschriebenen Bedeutungsschichten? RB : Coetzees Roman Waiting for the Barbarians habe ich neu übersetzt, weil Coetzee mit der ersten deutschen Übersetzung nicht zufrieden war und diese Neuübersetzung wollte, wie auch der Verlag. Ich habe mich dafür entschieden, die Erstübersetzung nicht zu lesen, weil ich Bedenken hatte, eventuell gewisse Formulierungen aufzunehmen und nicht mehr frei zu sein beim Übersetzen. Ich kann also zur Qualität dieser Übersetzung nichts sagen. Warten auf die Barbaren (2002) spielt an einem Ort, der konkret geschildert wird und doch nicht zu lokalisieren ist, und in einer fiktiven, schillernden Zeit. Natürlich ist der Roman auch eine Auseinandersetzung mit der Apartheid in Südafrika, darüber hinaus eine Parabel auf Unrechtsregime allgemein. Das war bei der Übersetzung zu beachten. Die Hauptfigur - „the magistrate“ - hat eine Funktion quasi als Bürgermeister und Richter. Die Übersetzung „Friedens‐ richter“ war für mich zu sehr mit den USA oder Frankreich verbunden. Ich wählte die Bezeichnung „Magistrat“, was früher in Deutschland auch eine Po‐ sition und ein Titel war, und es heute noch in der Schweiz ist. Die Wörter „musket - Muskete“, „plumed cavalry helmet - Kavalleriehelm mit Federbusch“, „leather cap - lederne Sturmhaube“ und „lacquered armour - lackierte Lamel‐ lenrüstung“ weisen in eine Vergangenheit, doch die Übersetzung von „Third Bureau of the Civil Guard - Abteilung III der Staatspolizei“, „Imperial Com‐ mand - Reichsheereskommando“, „under the emergency powers - im Zusam‐ menhang mit den Notstandsgesetzen“ lassen das Geschehen nah an unsere Zeit rücken. Eine ganz andere Herausforderung stellte für mich die Neuübersetzung von Mark Twains Roman Pudd’nhead Wilson (1894) dar, den ich 1986 für den DDR -Verlag Das Neue Berlin unter dem Titel Wilson, der Spinner übersetzte und den der Manesse Verlag 2010 in einer von mir überarbeiteten Fassung der Über‐ setzung unter dem Titel Knallkopf Wilson neu herausbrachte. In diesem Spät‐ 274 Von der „dienend-schöpferischen Arbeit“ der Übersetzung werk liefert Mark Twain ein komplexes, ironisches und beunruhigendes Bild von der menschlichen Natur unter den Bedingungen der Sklaverei, kritischer noch als in Huckleberry Finn (1884). Er berichtet von hochmütigen Pflanzern und dummen Bürgern, von misshandelten Schwarzen, von Heuchelei und Ge‐ meinheit, Grausamkeit und Feigheit. Die Fabel: Ein der Hautfarbe nach weißes Baby, das aber nach dem Gesetz der Südstaaten durch seine Mutter, eine hell‐ häutige Sklavin, als schwarz gilt, wird mit dem weißen Babysohn des Sklaven‐ halters vertauscht. Der Herr wird Sklave und umgekehrt, und die Verwechslung wird erst spät aufgeklärt. In der ziemlich verwickelten Geschichte spielt nun die Sprache eine ganz besondere Rolle - sie markiert Menschen als Schwarze und Sklaven. Der als schwarzer Sklave aufgewachsene Weiße hat so später keine Chance, in die Gesellschaft der Weißen aufgenommen zu werden. Und die frei‐ gelassene Sklavin Roxy ist trotz ihrer hellen Haut eindeutig an ihrer Sprache als Schwarze (bei Mark Twain „nigger“) zu erkennen. Die Sprache der Schwarzen in dem Roman musste sich also in der Übersetzung deutlich von der der Weißen unterscheiden. Ich habe mich mit früheren Übersetzungen von Pudd’nhead Wilson (1894) und mit Martin Beheim-Schwarzbachs Übersetzung (1937) von Gone with the Wind (1936) auseinandergesetzt. In Vom Winde verweht (1937) sprechen die Schwarzen eine Sprache, die sie - gemäß der Botschaft des Romans - wie einfältige Kinder erscheinen lässt, die man streng erziehen und überwachen muss. Mark Twains für seine Zeit humanistisches Bild der Schwarzen verlangt eine andere Sprache - eine Umgangssprache, die mangelnde Bildung ausdrückt, doch keinesfalls Dummheit, Einfalt oder Gemeinheit. Besonders wichtig war das bei der Sprache von Roxy, vielleicht die plastischste Frauenfigur in Mark Twains Werk, und da‐ rüber hinaus eine der realistischsten schwarzen Frauenfiguren in der Literatur des 19. Jahrhunderts. BN : Die ‚Jesu-Trilogie‘ spielt schon auf der Ebene des Textes mit verschiedenen Formen der Übersetzung. Es sind, um den viel zitierten Begriff von Rebecca Walkowitz (2015) zu nutzen, Romane, die „born translated“ sind, also in der Übersetzung geboren. Übersetzung ist für Coetzee keine sekundäre, nach der Textproduktion einsetzende Aktivität. Vielmehr ist Übersetzung eine kreative Praxis, die der Poetik eingelassen ist und damit strikte Oppositionen zwischen Original und Übersetzung unterläuft. Coetzee schafft eine Sprache, die in der Übersetzung entsteht und die sich demnach auch immer wieder für die Spuren und Einflüsse anderer Sprachen öffnet. In der ‚Jesu-Trilogie‘ spielt Coetzee vor allem mit den Verstrickungen zwischen dem Englischen und dem Spanischen: Angeblich sprechen die Protagonist: innen Spanisch; tatsächlich sind die Dialoge (im englischen Ausgangstext) auf Englisch verfasst. Auch Elemente der deut‐ 275 Von der „dienend-schöpferischen Arbeit“ der Übersetzung schen Sprache finden Eingang in den englischen Text, v. a. in Form eines ver‐ fremdeten Zitats aus Johann Wolfgang von Goethes Erlkönig. Welche Schwie‐ rigkeiten und gegebenenfalls auch Freiräume bieten solche multi- und translingualen Konstellationen? RB : Durch Verlautbarungen Coetzees bei Interviews ist bekannt geworden, dass er ein zunehmend kritisches Verhältnis zur kulturpolitischen Rolle der engli‐ schen Sprache hat. Parallel dazu verlegt er die Handlung der ‚Jesus-Romane‘ in eine spanisch-sprachige fiktive Welt. Wie konsequent er in diesen Romanen in der Übersetzung alle Bezüge zum englischen Sprachkreis gelöscht sehen möchte, habe ich erfahren, als er mich anwies, in der Kindheit Jesu (2013) die Namen von Fußballvereinen nicht „Docklands“ und „North Hills“ - wie im Ori‐ ginal - zu nennen. Ich entschied mich dann für „Hafen Novilla“ und „Sportverein Nord“. Ein ähnliches Problem bereiteten in Der Tod Jesu (2020) die Pferdenamen „Ivory“ und „Shadow“, die ich nicht deutsch „Elfenbein“ und „Schatten“ nennen wollte, was mir als Pferdenamen ungewöhnlich erschien. Statt der englischen Namen einigten wir uns auf die spanischen Namen „Marfill“ und „Sombra“, mit der deutschen Entsprechung in Klammern beim ersten Auftauchen, da die Be‐ deutung der Namen nicht unwichtig ist. Auch den Namen der fiktiven Musik‐ gruppe „The Gypsy Brothers“ sollte ich eindeutschen als „Die Zigeunerbrüder“, wie Coetzee vorschlug. Ich machte daraus „Die fidelen Brüder“, da ich das Wort „Zigeuner“ nicht verwenden wollte. Nach der Lektüre meiner (noch nicht pub‐ lizierten) Übersetzung von The Death of Jesus (2019) schrieb mir Coetzee: The convention on which the book rests is that all verbal intercourse in the town of Estrella takes place in Spanish, and that in the book The Death of Jesus on which the present book Der Tod Jesu is based all the dialogue has been translated from the original Spanish into English. In fact the convention goes further: in Estrella no language other than Spanish is understood. The only instance of non-Spanish speech in the book occurs on these pages: the incorrectly recalled poem by Rückert. The unique problem faced by the German translator is to signal that no one, neither the boy nor the two adults, understands a word of the poem. The best suggestion I can offer is to add a sentence at page 14 line 5 (German text): ‚I have no idea what it means. It is in a strange [fremd] language. What does Señor Arroyo say? ‘ 276 Von der „dienend-schöpferischen Arbeit“ der Übersetzung Zitat aus meiner Übersetzung: In diesem Wetter, in diesem Braus, nie hätt’ ich gesendet das Kind hinaus - Ja, in diesem Wetter, in diesem Braus, durf ’st du nicht senden das Kind hinaus! … Ich habe keine Ahnung, was das bedeutet. Es ist in einer fremden Sprache. Was hat denn Señor Arroyo dazu gesagt? Eine ähnliche Stelle mit einem entstellten deutschen Text findet sich in The Childhood of Jesus (Kapitel 9). Zitat aus meiner Übersetzung: Mit seiner klaren jungen Stimme stimmt er einen Sprechgesang an: Wer reitet so spät durch Dampf und Wind? Er ist der Vater mit seinem Kind; Er halt den Knaben in dem Arm, Er füttert ihn Zucker, er küsst ihm warm. ‚Das ist alles. Es ist Englisch …‘ - sagt David. Diese Stelle hat beim Sprecher des Hörbuchs, Christian Brückner, erhebliche Irritationen ausgelöst. Sowohl der Verlagslektor als auch ich wurden kontaktiert und es erging eine Rückfrage an Coetzee - der die Stelle genau so verwirrend wollte. Für die deutsche Übersetzung war ja die Frage, ob die im englischen Text eingefügten deutschen Zeilen in eine andere Sprache transportiert werden sollten, wobei der Bezug zu Goethes Erlkönig vermutlich verloren gegangen wäre. So blieb der Übersetzerin nur eine Anmerkung als Fußnote: „Im Original deutsch“. Vermutlich wird durch beide deutsche Zitate (in entstellter Form) an‐ gedeutet, dass das unbekannte, vergessene Land, aus dem Simón und David kommen, Deutschland sein könnte. BN : In den Translation Studies wird explizit verfremdenden Übersetzungsstra‐ tegien großes ethisches und sogar sozio-politisches Potential zugesprochen. Grundprämisse ist, dass nur verfremdende Übersetzungen, die die eingeschlif‐ fenen Strukturen der Zielsprache verändern bzw. ‚ver-andern‘, den irreduziblen Besonderheiten der Ausgangssprache gerecht werden können. Gleichzeitig ist klar, dass Verlage und der Buchmarkt nach zumeist glättenden, ‚domestizier‐ enden‘ und leserfreundlichen Übersetzungen verlangen. Wie gehen Sie mit den unterschiedlichen Ansprüchen - Verfremdung einerseits, Glättung anderer‐ seits - um? Welche kreativen Freiräume bieten Ihnen Übersetzungen, um die 277 Von der „dienend-schöpferischen Arbeit“ der Übersetzung deutsche Sprache kreativ zu erneuern und sie gegebenenfalls mit ‚dem Stachel der Fremdheit‘ zu versehen? RB : Der Stil des Autors, Besonderheiten, die auch spröde oder ungewöhnlich sein können, sich nicht mühelos erschließen, sollten m. E. erhalten bleiben und nicht geglättet werden. Bei einigen afrikanischen Autor*innen, die auf Englisch schreiben, sind mir u. a. die manchmal blumigen und für europäische Ohren ‚schrägen‘ Metaphern aufgefallen. Da muss man abwägen, was typisch für den (oft vom Mündlichen geprägten) Sprachgebrauch von Afrikaner*innen und des‐ halb in seiner Fremdheit zu erhalten ist, und was möglicherweise den / die deut‐ sche / n Leser*in so irritieren könnte, dass es dem Anliegen des Werkes zuwi‐ derläuft. Ein ganz anderes Beispiel: Der Roman eines amerikanischen Autors, den ich übersetzt habe, zeichnete sich durch seine Syntax aus - sehr lange Sätze, die die Verfassung des auktorialen Erzählers widerspiegelten: er war in mehrerer Hin‐ sicht verunsichert, außerdem durch sein großes Wissen geneigt, überall Hin‐ weise und Parallelen zu sehen, sich ständig zu hinterfragen. Daher war es mir wichtig, die Syntax des Autors soweit wie möglich zu erhalten, worauf ich den Verlag auch hinwies. Das Lektorat meinte dann, solche langen, verschachtelten Sätze seien im Deutschen, anders als im Englischen, unüblich (was ich be‐ streite! ), und zerstückelte sie teilweise. Für mich war weder genügend Zeit noch Kraft vorhanden, um das grundsätzlich wieder rückzuändern. Schade! J. M. Coetzee hat mir einmal gesagt, dass er dankbar dafür ist, dass ich seine Syntax weitgehend bewahrt habe. Das war in seinem Fall auch gut möglich, da er einen sehr präzisen, zunehmend ‚kargen‘ Stil pflegt. Eine der Hauptschwie‐ rigkeiten beim Übersetzen seiner Prosa liegt dagegen in den zahlreichen ver‐ deckten oder offenen Anspielungen bzw. Zitaten, gespeist von seinem im‐ mensen Wissen nicht nur über die englischsprachige Literatur und über philosophische Theorien von der Antike bis zur Gegenwart. Gern habe ich mich auf die Suche nach solchen Anspielungen / Zitaten gemacht und wurde manchmal auch vom Autor darauf hingewiesen. Wenn es sich um den englisch‐ sprachigen Leser*innen vermutlich bekannte Dinge aus seinem Kulturkreis handelte, die den meisten deutschen Leser*innen jedoch vermutlich nicht ver‐ traut waren, habe ich gelegentlich einige Anmerkungen angefügt - z. B. in Youth (2002) (Die jungen Jahre [2002]) - oder kurze Hinweise in den Text eingefügt, wo es sich anbot. Als Beispiel für einen genutzten kreativen Freiraum möchte ich eine Stelle aus dem dritten Band von Coetzees Autobiographie Sommer des Lebens (2010) (Summertime [2009]) anführen. Dort ringt eine der Erzählerinnen, Adriana, als gebürtige Brasilianerin hin und wieder mit der englischen Sprache und hinter‐ 278 Von der „dienend-schöpferischen Arbeit“ der Übersetzung fragt gewisse Bedeutungen. Ich fühlte mich dadurch ermutigt, eine Wortschöp‐ fung einzubringen. Adriana nennt John an einer wichtigen Stelle „disembodied“. Meine Übersetzung lautet: „Kennen Sie das Wort entkörpert? Dieser Mann war entkörpert. Er war von seinem Körper getrennt.“ 279 Von der „dienend-schöpferischen Arbeit“ der Übersetzung Im Klaren fischen? Sichtbare und unsichtbare Wellenpakete beim Übersetzen Susanne Lange Parabeln sind ein beliebter Anfang, das wusste auch David Foster Wallace, als er 2005 eine bekannte Rede vor Uni-Absolventen folgendermaßen begann: Schwimmen zwei junge Fische des Weges und treffen zufällig einen älteren Fisch, der in die Gegenrichtung unterwegs ist. Er nickt ihnen zu und sagt: ‚Morgen Jungs. Wie ist das Wasser? ‘ Die zwei jungen Fische schwimmen eine Weile weiter, und schließlich wirft der eine dem anderen einen Blick zu und fragt: ‚Was zum Teufel ist Wasser? ‘ (Wallace 2012: 9) Diese Geschichte veranschaulicht nicht nur die Realitäten, in denen wir treiben, ohne sie zu erkennen, sondern sie lässt sich ebenso auf die Übersetzung und ihre Unsichtbarkeit - oder Sichtbarkeit anwenden. Je nach den Anforderungen des Originals muss sich die Übersetzung im Ozean der Sprache verschiedene Fortbewegungsarten suchen. Sie kann sich den Strömungen hingeben, sich von den minimalsten Änderungen des Wellen‐ rhythmus leiten lassen, eine Art sprachliche Mimikry, die das Element, in dem sie schwimmt, scheinbar vergessen lässt - wenn auch nur scheinbar, denn pa‐ radoxerweise erfordert diese Art der Übersetzung oft eine besonders intensive Formung des Sprachmaterials, die quer zum Standardsprachlichen schwimmt (da sie sich fremden Wellenbewegungen anpasst). Aber manchmal kommt es auch darauf an, das Sprachmaterial an die Oberfläche zu holen und mit be‐ herzten Flossenschlägen den Blick auf das Element zu werfen, in dem man sich bewegt: in so aufgewühltem Wasser, dass kein Fisch mehr behaupten könnte, er wisse nicht, was das sei. Wenn einem beim Lesen des Originals die Wörter‐ gischt um die Nase sprüht, sollte auch die Übersetzung nicht die Illusion ver‐ mitteln, man könnte beim Lesen trockenen Fußes ans andere Ufer gelangen. Diese beiden Extreme spiegeln nicht etwa das alte Dilemma Friedrich Schleier‐ machers wider, ob man in der Übersetzung eher den Schriftsteller oder den Leser in Ruhe lässt, sondern die sprachliche Knetmasse, mit der man es zu tun hat. In beiden Fällen geht es aber darum, sich der gewaltigen Bandbreite der Sprache auch wirklich zu bedienen, das Deutsche mit allen möglichen Verrenkungen seiner flexiblen Syntax und mit allen Exzentrizitäten derer, die in deutscher Sprache geschrieben haben, auch für die Übersetzung fruchtbar zu machen. Dabei muss eine Übersetzung nicht an sich als fremd erscheinen, sondern viel‐ mehr der Tatsache Rechnung tragen, dass - wie Gilles Deleuze in Kritik und Klinik (2000 [1993]) anhand eines vorangestellten Proust-Zitats aus Gegen Sainte-Beuve (1997) veranschaulicht - die guten Bücher in einer Art Fremd‐ sprache geschrieben sind (vgl. Deleuze 2000: 10, 16). Eben die Fremdsprache, in der nur dieses eine Buch schreibt, muss in der Übersetzung übertragen werden. Wenn sich die Übersetzung als etwas generell Fremdes in den Vordergrund spielt, könnte sie das spezifisch Fremde dieser individuellen Fremdsprache über‐ decken. Es sollte vielmehr ein stilistisches Ganzes entstehen, das mit all seinen sprachlichen Eigenheiten in sich konsistent ist - so konsistent, dass man beim Lesen vielleicht gar nicht sofort merkt, durch was für ein eigenes sprachliches Gewässer man da fern vom Standardsprachlichen schwimmt. Wenn das Original allerdings immer wieder sprachliche Riffe einbaut, muss man auch beim Lesen der Übersetzung mit ihnen konfrontiert werden. Die Frage der Fische, was denn bloß „Wasser“ sei, kann beim Übersetzen al‐ lerdings niemals aufkommen, denn selbst wenn das Original nicht einmal durch das kleinste sprachliche Plätschern versucht, den Blick auf sein Material zu lenken, ist es doch das Element selbst, mit dem die Übersetzung arbeitet, es sind diese zu verschiebenden „Massen von Farbe und Licht“ (Schlegel 1967: 281), wie sie Friedrich Schlegel in der Sprache von Cervantes erkennt (d. h. in der spezi‐ fischen Fremdsprache „Cervantes“). Dabei wird auch das Selbstverständlichste, jeder Wassertropfen, unter die Lupe genommen und erst einmal als ein Fremdes angesehen, das sich womöglich in ein Vertrautes verwandeln lässt - oder auch nicht. Es ist dieses grundsätzliche Zweifeln am Wesen der Worte, das den Akt des Übersetzens ausmacht. Arno Schmidt hat die Parabel über die Fische in Zettels Traum bereits vorweggenommen. Dort fällt auf einem Spaziergang, bei dem Übersetzungsfragen bei Edgar Allan Poe besprochen werden, die scheinbar harmlose Fangfrage: „<Was Worte sind, wißt ihr -? >“ Die beiden Gesprächs‐ partner nicken rasch, worauf der Erzähler sich im Stillen sagt: „(Glückliches Völkchen; mir wars nich ganz klar).“ (Schmidt 2004: 24 f.) Schmidts Erzähler weiß, dass er im Wasser schwimmt, und stellt sich dennoch permanent die Frage, was das Wasser genau ist. Eben dies ist die spezifische Perspektive, die die Übersetzung einnimmt. 282 Susanne Lange Nun gibt es Texte, die sich sprachlich gesehen in explizit stürmischer See bewegen. Bei denen nicht die Syntax, ob bewusst oder unbewusst, beim Lesen leitet, sondern schon die einzelnen Wörter sogleich zur Schau stellen wollen, wie sie gemacht sind. Paradebeispiel dafür wäre James Joyces Finnegan’s Wake (1939), das sich aus der Masse verschiedenster Sprachen formt. Bei solchen Ori‐ ginalen muss auch die Übersetzung mit neuem, fremdem Material arbeiten. Spätestens, wenn beim Eingeben des Originalwortes im Internet die Warnung (in der jeweiligen Sprache) auftaucht „dieses Wort gilt nicht beim Scrabble“, kann man sicher sein, dass man auch beim Übersetzen gegen alle Spielregeln verstoßen muss. Wenn sich z. B. die junge mexikanische Autorin Aura Xilonen ein ganz eigenes Idiom für ihren Protagonisten erfindet, einen jungen illegalen Einwanderer in den USA , dann muss sich auch das Deutsche neu erfinden: Da gibt es „kosmatomische Knüppel“, jemand ist „gravitaben genervt“ oder hat einen „Steilklippenpuls“, und es wird um die Wette geschimpft: „zippliger Schlotzer“, „fokkin Meridianer“, „filzige Zündelzecke“ (vgl. Xilonen 2019). Hier macht das Wasser also gleich auf sich aufmerksam, sodass die Lesenden sofort auf das Material gestoßen werden, aus dem die Übersetzung gemacht ist. Bei Wortschöpfungen sollte man jedoch bei neuen Kombinationen oder Amalgamen aus verschiedenen Sprachen auch immer den eigenen Sprachschatz „aus‐ schöpfen“ und dafür durchaus bis zurück zu Luther gehen. Die Barockschrift‐ steller z. B., die in ihren Sprachgesellschaften eine deutsche Literatursprache erst zu bilden versuchten, bieten gerade bei ihren Wortkreationen wie „Hirn‐ schleifer“ oder „Trauertopf “, Lautmalereien wie „flipsern“ oder „flinken“, oder Konstruktionen wie „sich eräugende Fehler“ vielleicht kein Material zum di‐ rekten Übernehmen, aber sehr wohl eine ungeheure Bandbreite von Möglich‐ keiten der Wort-, Klang- und Satzbildung. Es lohnt sich, in diese fast schon exo‐ tisch anmutende Sprachvergangenheit zu tauchen, wenn man der Übersetzung kreative Mittel an die Hand geben will. Die sprachlichen Eigenheiten manifestieren sich aber oft nicht anhand auf‐ fälliger Fremdkörper, sondern setzen tiefer an, bei den Grundstrukturen. Will man die Wellenbewegungen des Originals wiedergeben, ist es oft die Syntax, mit der man sich auseinandersetzen muss. Von Martin Luther über Heinrich von Kleist bis W. G. Sebald haben sich die Schreibenden gerade die Flexibilität des deutschen Satzbaus zunutze gemacht. Doch leider werden von einer Überset‐ zung eher Standardkonstruktionen erwartet. Gerade an diesem Punkt gilt es, sich auf die Dynamik der eigenen Sprache zu berufen. Schon Luther hat in seiner Bibelübersetzung vorgemacht, wie man durch die Satzdramatik wirkungsvoll, dem Original entsprechend, Akzente setzen kann. So etwa in 1 Mose 2,10, wenn er schreibt: „ VND es gieng aus von Eden ein Strom zu wessern den Garten“. Die 283 Im Klaren fischen? geläufige Syntax - „und es ging ein Strom von Eden aus, den Garten zu wäs‐ sern“ - hätte hier die Wirkung abgeschwächt, denn bei Luther fällt durch die ungewöhnlichere Verteilung der Schlüsselwörter der Akzent auf fast jedes ent‐ scheidende Wort im Satz: aus-Eden-Strom-wässern-Garten. Ganz abgesehen davon, dass er ihm einen lyrischen Rhythmus verleiht (und so auch der im Hebräischen präsenten Verschmelzung von Vers und Prosa in der Bibel gerecht wird). Der Rhythmus ist hier der unmerkliche Wellenschlag, der das Wesen des Textes ausmacht. Nicht ein Sichtbar-, sondern ein Hörbarmachen. Die Höhe‐ punkte des Satzes rhythmisch durch die Syntax hervorzukehren, mag die Über‐ setzung vielleicht fremd anmuten lassen, doch sind es Ausdrucksmittel, die der deutschen Sprache von jeher mitgegeben sind und somit auch beim Übersetzen zur Verfügung stehen. Es geht hier also nicht um eine Verfremdung um der Verfremdung willen, sondern um ein Ausloten der sprachlichen Möglichkeiten, die beim Übersetzen oft zu kurz kommen, darum, sich das Fremde in der eigenen Sprache zunutze zu machen. Eine ausgefallene Syntax kann ebenso erforderlich sein, wenn man bei einem Original (das syntaktisch gar nicht auffällig sein muss) den Prozess nachvoll‐ ziehen will, in dem Informationen offenbart werden. Dies ist etwa bei Joseph Conrad der Fall, denn beim Lesen kann man hier Wort für Wort, d. h. Schritt für Schritt, zusammen mit dem Autor entdecken, was sich vor den Augen des Er‐ zählers abspielt und in welcher Reihenfolge der Blick es aufnimmt. In Heart of Darkness (1899) beschreibt Conrad z. B. wie der Erzähler Marlow ins Büro des Kolonialbeamten tritt, wo er den Auftrag für seine Reise ins Herz der Finsternis bekommen wird. Die Entmenschlichung, die das Thema von Heart of Darkness ist, wird bereits an dieser Stelle allein durch die Sprache erlebbar: A door opened, a white-haired secretarial head, but wearing a compassionate expres‐ sion, appeared, and a skinny forefinger beckoned me into the sanctuary. Its light was dim, and a heavy writing-desk squatted in the middle. From behind that structure came out an impression of pale plumpness in a frock-coat. The great man himself. (Conrad 1985: 36) Conrad reiht fragmentarische Wahrnehmungen aneinander, die sich anfangs zu keinem Ganzen fügen und den Erzähler peu à peu den Schrecken des Unbe‐ kannten schon im Büro erleben lassen. Beim Übersetzen darf man folglich keine Information früher als der Autor preisgeben, muss sich wie der Erzähler blind vorantasten und diese Einzelwahrnehmungen erst im Akt des Lesens zu einem Ganzen werden lassen: Eine Tür tut sich wie von allein auf, ein Sekretärsschädel erscheint, als wäre es ein Totenkopf, die Miene dazu wie eine Maske, ein dürrer Finger lockt herein, als gehörte er zu keinem lebenden Wesen, im Halbdunkel 284 Susanne Lange des Büros erscheint ein riesiger Schreibtisch, der zu einem lauernden Untier wird, der Direktor dahinter dagegen zu einem Ding, einem unheimlichen Etwas im Gehrock. Die Übersetzung sollte dabei die fragmentarische Wahrnehmung Tür-Haar-Schädel-Miene-Finger wahren, die Dinge zu Akteuren machen, die Menschen zu Dingen. Die lauernde Angst vor dem Unbekannten muss auch sprachlich spürbar werden (denn das unterscheidet den Stilisten Conrad von einem Abenteuerschriftsteller von Seeromanen). Man muss also versuchen, die Elemente genau in die Reihenfolge zu bringen, in der sie der Erzähler wahr‐ nimmt: Eine Tür tat sich auf, ein weißhaariger Sekretärsschädel, jedoch ausgestattet mit mit‐ leidiger Miene, erschien, und ein knochiger Zeigefinger lockte mich ins Allerheiligste. Dort war das Licht trübe, und ein wuchtiger Schreibtisch lauerte in der Mitte. Hinter diesem Aufbau erschien eine blasse Masse im Gehrock. Der große Mann persönlich. Sobald man den Schädel durch den „weißhaarigen Kopf eines Sekretärs“ ersetzt, ist die Wahrnehmungskette schon gestört, denn bei Conrad ist nur der Kopf sichtbar, zu dem sich dann ein Finger gesellt. Nichts ist hier einem menschlichen Subjekt zugeordnet. Auf einer Webseite, die die Lektüre von Literatur einfacher gestalten will, gibt es eine „Übersetzung“ dieser Passage: A door opened and a secretary poked her white but friendly head out and called me in with a wave of a skinny finger. The light was low and a heavy writing desk squatted in the middle of the room. Behind it was a pale blob in a dress coat. It was the great man himself. (Sparknotes) Hier rutscht der Kopf, den der Erzähler doch als Erstes sieht (und dem hier auch noch ein Geschlecht verliehen wird), weit nach hinten, ebenso der Finger. Allein durch die Umstellung ist das Unheimliche bei Conrad, das sich durch die nur schrittweise Offenbarung des Erblickten im Akt des Erblickens aufbaut, wie weggewischt. Eine Wirkung, die Conrad allein durch die Satzdramatik erzielt. Ihrer Reihenfolge muss die Übersetzung folgen, will sie ein klares Bild von der Fremdsprache „Conrad“ wiedergeben. Dass die Übersetzung dem Original auch folgen muss, wenn es grammatika‐ lisch nicht korrekte Sätze bildet, zeigt ein Beispiel aus dem Don Quijote (1605). Obwohl dieses Stilmittel auch in der deutschsprachigen Literatur präsent ist, wird es in Übersetzungen leider meist zugunsten der Korrektheit aufgelöst. Wenn sich bei Cervantes jedoch der Protagonist mit alltäglichen Ereignissen konfrontiert sieht, die er in sein Ritteruniversum integrieren will, redet er sich allmählich in Begeisterung, tastet sich erst voran, bis er sich schließlich seiner Interpretation der Wirklichkeit sicher ist. Dies macht Cervantes am Satzbau 285 Im Klaren fischen? erkenntlich, der immer wieder neu ansetzt und dann mit einem glatten Satz‐ bruch endet: el buen caballero andante, aunque vea diez gigantes que con las cabezas no sólo tocan, sino pasan las nubes, y que a cada uno le sirven de piernas dos grandísimas torres, y que los brazos semejan árboles de gruesos y poderosos navíos, y cada ojo como una gran rueda de molino y más ardiendo que un horno de vidrio, no le han de espantar en manera alguna (Cervantes Teil II, Kap. 6) Diese allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden, um mit Kleist zu sprechen, sollte auch in der Übersetzung erkennbar sein. Ludwig Braunfels überträgt 1883 folgendermaßen: Und ferner mußt du noch wissen, daß den echten rechten fahrenden Ritter, so er auch ein Dutzend Riesen ersähe, die mit ihren Häuptern die Wolken nicht nur berühren, sondern überragen, und deren jeder ungeheure Türme als Beine hat und deren Arme Mastbäumen von großen gewaltigen Schiffen gleichsehen, und jedes Auge wie ein Mühlrad und glühender als ein Glasofen, dennoch dies alles unter keinen Umständen in Schrecken setzen darf. (Braunfels 2003 [1883]: 586) Hier ist der Satz von Anfang an grammatikalisch ganz vom Verb am Ende her gedacht. Don Quijote weiß hier schon, wie er enden wird. Nirgendwo wird neu angesetzt, sondern alles ordentlich in Nebensätzen hintereinandergeschaltet. Den Gedankengang des Ritters könnte man so deutlich machen: Ein guter fahrender Ritter, mag er auch zehn Riesen vor sich sehen, deren Köpfe die Wolken nicht nur streifen, sondern überragen, und jeder hat Beine wie gewaltige Türme und Arme wie die Mastbäume schwerer, mächtiger Schiffe, und jedes Auge ist groß wie ein Mühlrad und glühender als ein Schmelzofen, so dürfen sie ihn nicht im Geringsten erschrecken (Cervantes 2008: 57). Zuerst referiert er noch philosophisch über den Ritter, doch gleich sieht er die Riesen buchstäblich vor sich, und das Ende des Satzes passt grammatikalisch nicht mehr zum Anfang, da erst der Ritter und am Ende die Riesen das Subjekt sind. So bekommt man einen Eindruck davon, in welchem Wasser Don Quijote sich bewegt. Dabei geht es nicht um eine explizite Verfremdung der eigenen Sprache, son‐ dern um ein Bewusstmachen der Flexibilität des Deutschen und dem Ausloten (und Überschreiten) der Grenzen von Syntax und Grammatik. Die Sprache des Originals spornt mit ihren eigenen Charakteristika dazu an, bis an diese Grenzen zu gehen und die sprachlichen Ausdrucksformen womöglich neu zu kombi‐ nieren. Übersetzungen haben hier die Möglichkeit, Sprachmaterial wiederzu‐ 286 Susanne Lange beleben, ein umgekipptes Gewässer wieder mit Sauerstoff zu versorgen. So ma‐ chen auch Neuübersetzungen das Überleben der Klassiker erst möglich: Sie flößen ihnen frischen Sauerstoff ein und loten aus, was für sprachliche Eigen‐ heiten ihr Wesen ausmachen. Und diese Sauerstoffzufuhr geben sie wiederum an die deutschsprachige Literatur zurück. Wenn sich die deutsche Sprache durch fremdsprachige Originale herausfordern lassen will, also durch Wendungen und Formen, die ihr nicht in die Wiege gelegt sind, kann sie die ihr fremden Struk‐ turen aufnehmen, indem sie janusköpfig einen Blick zurück und einen nach vorn wirft: in die eigene fremde Vergangenheit und in eine neu zu erfindende Zu‐ kunft. Literaturverzeichnis Cervantes, Miguel de. 2003 [1883]. Don Quijote. Übers. Ludwig Braunfels. Düsseldorf: Albatros / Patmos. —. 2008. Der geistvolle Hidalgo Don Quijote von der Mancha. Übers. Susanne Lange. Mün‐ chen: Hanser, Bd. 2. Cervantes, Miguel de / Francisco Rico (Hg.). 2004. Don Quijote de la Mancha. Barcelona: Galaxia Gutenberg. Conrad, Joseph. 1985 [1899]. Heart of Darkness. Harmondsworth: Penguin. Deleuze, Gilles. 2000. Kritik und Klinik. Übers. Joseph Vogl. Frankfurt am Main: Suhr‐ kamp. Schlegel, Friedrich. 1967. Charakteristiken und Kritiken I (1796-1801). Hg. Hans Eichner. München / Paderborn / Wien: Brill. Schmidt, Arno. 2004. Zettels Traum. Frankfurt am Main: S. Fischer. Sparknotes. „No Fear Translation.“ Online verfügbar unter: https: / / www.sparknotes.com / nofear/ lit/ heart-of-darkness/ part-1/ page_6/ [01. 02. 2021] Wallace, David Foster. 2012. Das hier ist Wasser. Anstiftung zum Denken. Übers. Ulrich Blumenbach. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Xilonen, Aura. 2019. Gringo Champ. Übers. Susanne Lange. München: Hanser. 287 Im Klaren fischen? „Wir müssen uns auch sichtbar machen“ - Die subversive Lust am Regelverstoß Miriam Mandelkow im Gespräch mit Birgit Neumann Miriam Mandelkow studierte Anglistik und Amerikanistik in Hamburg und den USA . Sie hat eine ganze Reihe renommierter englischsprachiger Autor: innen in die deutsche Sprache übersetzt, allen voran James Baldwin, Samuel Selvon, Ri‐ chard Price, Ta-Nehisi Coates, David Vann und Eimear McBride. Jüngst wurde sie für ihre Neuübersetzung von James Baldwins Go Tell It on the Mountain (1953) mit dem Helmut-M.-Braem-Übersetzerpreis ausgezeichnet. BN : Sie sind Übersetzerin zahlreicher bedeutender Autor: innen, deren Werke auch in Deutschland - nicht zuletzt dank Ihrer Kreativität - viel Beachtung gefunden haben. Zuletzt wurden Sie für Ihre Neuübersetzung von James Bald‐ wins Debütroman Go Tell It on the Mountain (1953; dt. Von dieser Welt; erschienen bei dtv) mit dem Helmut-M.-Braem-Übersetzerpreis ausgezeichnet. Auf den In‐ ternet-Seiten von dtv findet sich neben dem Autorenporträt von Baldwin auch ein Porträt von Ihnen als Übersetzerin. Solche Übersetzer: innenporträts sind leider immer noch recht selten. Das Nebeneinander würdigt die Bedeutung von Übersetzungen für das, was Walter Benjamin einmal als das ‚Überleben‘ des Originals bezeichnete. Dieser Sichtbarmachung Ihrer übersetzerischen Leistung steht deren eigentümliche Verschleierung in etlichen Rezensionen gegenüber, die Übersetzungen so besprechen, als handele es sich um das Original. Für die besonderen Herausforderungen von Übersetzungen scheinen die meisten Lite‐ raturkritiker: innen nur wenig sensibilisiert. Es fehlt ein kritisches Vokabular. Hat die von Lawrence Venuti vor gut 25 Jahren geprägte Formel der Unsicht‐ barkeit der Übersetzer: in auch heute noch Gültigkeit? MM : Ja und nein, jeweils mit Nachdruck. Zum Ja: In den letzten 25 Jahren hat sich eine Menge getan, aber natürlich ist es das eine, die Übersetzerin auf der Internetseite des Verlags vorzustellen, Homestorys zu verfassen, Interviews zu führen und Einblicke in die Übersetzerwerkstatt zu gewähren, und etwas ganz anderes, die Übersetzung als grundsätzlich sichtbar zu begreifen - weshalb sich die meisten Verlage auch so schwer damit tun, den Namen aufs Cover zu dru‐ cken; hier geht es ja nicht um die Co-Autorin, sondern um das Werk, das so offensichtlich ein anderes ist als im Original. Warum gilt vielen die von Venuti beklagte Forderung nach einer flüssigen Übersetzung noch immer als Ideal, warum gelten Rezensionsfloskeln wie kongenial, makellos oder anschmiegsam noch immer als Lob? Es fehlt ja nicht nur an kritischem Vokabular, um Über‐ setzungen einzuordnen und zu beurteilen, es fehlt auch die Lust an Übersetzung. Hin und wieder beschleicht mich beim Lesen von Rezensionen der Verdacht, dass den Übersetzerïnnen eigentlich die Übersetztheit des Werkes vorgeworfen wird, wobei das Aufatmen über stolperfreie Übertragungen nicht minder ag‐ gressiv ist als das suggestive Vorführen echter oder vermeintlicher Fehler. Putzig finde ich in dem Zusammenhang das beliebte Fazit am Ende von Besprechungen übersetzter (meist englischsprachiger) Literatur: „Lesen Sie das Original“, nicht zuletzt, weil die Lektüre eines für uns fremdsprachigen Buches natürlich auch immer schon eine Übersetzung ist (na gut, jede Lektüre ist eine Übersetzung, eine eigene Interpretation). Das heißt doch: „Lesen Sie nicht das Buch, das ich gerade besprochen habe“, und ist somit eine Spielart der Unterschlagung des Übersetzernamens. Aber - und damit zum Nein: Wir lesen ja durchaus auch fundiertes Lob und begründete Kritik, die Übersetzungen an ihren eigenen Vorgaben und Entschei‐ dungen messen. Auch hier fehlt oft noch ein kritisches Vokabular, uns allen übrigens, aber Übersetzung als Bereicherung zu betrachten, als ein Drittes, das über den „Zugang zum Eigentlichen“ hinausgeht, als eigenes Genre und nicht als Transportmittel, das es wohl oder übel in Kauf zu nehmen gilt, diese Haltung gibt es schon. Auch in den Lektoraten. Natürlich erlebe ich, dass Eigenarten des Originals der „besseren Lesbarkeit“ zuliebe weggebügelt werden, gern mit dem Hinweis, was im biegsamen, erfindungsfreudigen englischen Sprachraum funk‐ tioniere, gehe im Deutschen nun mal gar nicht, aber ich kenne auch Wertschät‐ zung von Widerständigkeit und Experimentierfreude und finde es außerdem wichtig, mich mit Lektorïnnen zu verbünden, schon weil ich als junge Lektorin so viel von Übersetzerïnnen gelernt habe. Wir müssen uns auch sichtbar machen. BN : Sie haben eine wunderbare Übersetzung von Sam Selvons Migrationsroman The Lonely Londoners (1956) vorgelegt, der im englischsprachigen Raum schon seit Jahren als Klassiker gilt. Der Roman macht ausgiebig Gebrauch von anglo-karibischen Kreolsprachen, die Selvon ästhetisch verdichtet, um unter‐ schiedliche Identifikations- und Rezeptionsmöglichkeiten zu bieten. Der Roman galt lange Zeit als unübersetzbar; die spezifischen historischen und kulturellen Konnotationen von Kreol - eine Kontaktsprache, die auch an die Gewalt des europäischen Kolonialismus und Sklavenhandels erinnert - lassen sich kaum in die deutsche Sprache übersetzen. Wie haben Sie eine Sprache gefunden bzw. erfunden - und welches Neuerungspotential bietet die Übersetzung von Kreol für die deutsche Sprache? 290 Die subversive Lust am Regelverstoß MM : Der Roman ist noch immer unübersetzbar. Und übersetzt. Und das hof‐ fentlich nicht zum letzten Mal. Ich habe meine deutsche Fassung immer als ein Angebot betrachtet, und es wäre fantastisch, mit weiteren Annäherungen an diesen Text in Kommunikation zu treten. Selvons Roman The Lonely Londoners, der ja nicht nur Dialoge koloriert, son‐ dern durchgängig mit den Stimmen karibischer Einwanderer erzählt, gehört insofern zu den Extremfällen von Übersetzung, als er zur Sichtbarkeit zwingt. Selvon hat mit als Erster das kreolisierte Englisch zur Literatursprache erhoben, ein unerhört politischer Akt, ein Akt der Selbstermächtigung, der sich einerseits als kreativer Angriff auf eine Herrschaftssprache beschreiben lässt - witzig, selbstironisch, schwelgerisch, verzweifelt - und andererseits als konkreter, nämlich im karibischen Englisch verankerter Gegenentwurf zum dominanten Idiom der weißen Briten; und da Deutsch kein Englisch kann, lässt sich nur Ersteres sprachlich vermitteln, während der spezifische historische und kulturelle Kontext vom Inhalt transportiert werden muss. Köstlich absurd eigentlich. Ich habe mich von Selvons subversiver Lust am Regelverstoß anstecken lassen, um so nah wie möglich an die Stimmen seines Erzählers und seiner Fi‐ guren heranzukommen, fühlte mich also durch ihn ermächtigt, am Deutschen zu sägen, wobei meiner Suche nach einer Entsprechung von Selvons Kreol das unter uns Übersetzerïnnen verbreitete Bemühen (fast kann man von Konsens sprechen) zugrunde lag, eine konkrete Verortung im deutschen Sprachraum zu vermeiden. Es gibt einige dokumentierte deutschbasierte Kontaktsprachen, das Pidgin Küchendeutsch in Namibia oder das Kreol Unserdeutsch in Papua-Neu‐ guinea, beides Produkte der deutschen Kolonialherrschaft, außerdem Einwan‐ derersprachen wie das Pennsylvania Dutch der Amish in den USA oder das Texas-Deutsch, das einem Denglisch sehr nah kommt, aber strukturell, auch rhythmisch entspricht das Selvon-Englisch mit seinen unflektierten Verben, den fehlenden Artikeln und Präpositionen eher Kiezdeutsch. Nur sollten die ein‐ samen Londoner ja nicht nach Berlin umziehen. Ich habe zwar vielfach auf Prä‐ positionen verzichtet und durchgängig im Präsens erzählt, aber statt zum Bei‐ spiel auf den Einheitsnominativ bzw. -akkusativ zu setzen („Ich rede mit mein / en Freund“, „Ich geh zu meine Mutter“), Sätze so konstruiert, dass sie weder Genitiv noch Dativ brauchen (statt „Von meinem Lohn bleibt kein Cent übrig“, „Mein Lohn, da bleibt kein Cent übrig“), auf Konjunktive verzichtet und elliptische Parataxen Nebensatzverschachtelungen mit korrekten Konjunkti‐ onen vorgezogen. Damit sind wir allerdings im Grunde wieder bei allgemeinen Fragen der Mündlichkeitsgestaltung: Gegenüber den einfacheren grammati‐ schen Strukturen des Englischen klingt das Deutsche meist entweder zu elabo‐ riert oder falsch - und wir haben es hier ja mit Varietäten zu tun, deren Merkmale 291 Die subversive Lust am Regelverstoß eine eigene Grammatik und eigenes Vokabular sind und nicht Fehler -, au‐ ßerdem hat die englischsprachige Literatur eine lange Tradition der Verschrift‐ lichung und Stilisierung von Slang und Dialekt, der „Mündlichkeit fürs Auge“ sozusagen, die eben kein bloß transkribierter O-Ton ist. Es ging nicht darum, einen Verlust zu inszenieren, sondern die Lust am ge‐ meinsamen Code. Bei Selvon bereichern die karibischen Londoner ihre Sprache durch Abweichungen vom Standard, die oft logischer und griffiger sind als die konventionalisierten, idiomatisierten Wendungen. Also vertreiben sie beim ge‐ mütlichen Beisammensein nicht sich die Zeit, sondern die Zeit, wenn sie etwas aufregt, haben sie so viel Miesmut, dass sie sich gar nicht wieder auffangen können und die Lage konkret spitz wird, sie füllen Formulare für den Wohlstaat, halten anderen Fragen hin und werden bei Rangel ganz grimm. Damit nehmen sie etablierte Kommunikationsmuster aufs Korn, hauen dem dominanten Diskurs auf den Deckel und testen Grenzen aus, ohne allerdings den Referenzrahmen des Deutschen zu verlassen. Selvon hat sein Kunst-Kreol so modifiziert und dem Standardenglisch angenähert, dass auch europäische Leserïnnen seinen Roman verstehen können, aber die Mischung aus „Trinba‐ gonian English“ und anderen karibischen Kreol-Varianten verortet die Hand‐ lung emotional auch in der Herkunft seiner Figuren. Die deutsche Übersetzung, so sichtbar sie sich präsentiert in ihrer lustvollen Grenzverletzung, macht also auch etwas unsichtbar. Welche verfremdenden oder „ver-andernden“ Überset‐ zungsansätze sind noch vorstellbar, die diese in so vielfacher Hinsicht politische Frage nach Sichtbarkeit neu stellen? Die deutsche Literatursprache verändert sich, die postmigrantische Literatur ist dabei, unser überkommenes Selbstver‐ ständnis aufzubrechen und damit auch unser Verständnis von Sichtbarkeit, denn was wir „sichtbar“ nennen, ist immer die Abweichung von der Norm. Vielleicht macht die nächste Übersetzung die Abweichung zur Norm? BN : Gerade haben Sie verschiedene Romane des afro-amerikanischen Autors James Baldwin neuübersetzt. Baldwins Texte zeichnen sich durch einen ganz bestimmten Rhythmus und ein hohes Maß von Musikalität aus, in der auch die Besonderheiten des afro-amerikanischen Jazz anklingen. Wie gehen sie mit sol‐ chen nicht-diskursiven und vielleicht auch nicht-diskursivierbaren Elementen in der Übersetzung um? MM : Natürlich begleiten mich Fragen nach Übersetzbarkeit auch bei jeder neuen Baldwin-Übersetzung. Nicht so sehr, was Musikalität und Rhythmus angeht - hier bieten die Neuübersetzungen die Chance, diese nicht-diskursiven Elemente als konstitutiv und sinnstiftend zu begreifen und zu gestalten -, sondern in Bezug auf das Black English, das eine ganz andere Form der Sichtbarmachung 292 Die subversive Lust am Regelverstoß erfordert als bei Selvon, keine überspitzte, freche, selbstironische, sondern eine, die sich nicht durch ihr Verhältnis zum Mehrheitsdiskurs definiert, die in Bald‐ wins Romanwelt die Norm ist. Einer Romanwelt allerdings, der das Anderssein schmerzhaft eingeschrieben ist. „Der Übersetzer hat zum Glück gar nicht erst versucht, den Slang ins Deutsche zu übertragen.“ Der Satz ist mir so oder so ähnlich schon öfter in Rezensionen begegnet, und bemerkenswert finde ich daran einerseits das Ansinnen, beim Übersetzen Versuche besser zu unterlassen (um Scheitern zu vermeiden? ), und andererseits die Annahme, die Motive des Übersetzers zu kennen. Aber wenn zum Beispiel Bernhard Robben bei seiner Übersetzung von Ta-Nehisi Coates’ Der Wassertänzer (2020) auf eine Übertragung des African American Vernacular English ins Deutsche weitgehend verzichtet, hat er es nicht einfach sein lassen, sondern eine bewusste Entscheidung getroffen - und in einer Nachbemerkung schlüssig begründet -, die wahrscheinlich viel Zeit in Anspruch genommen hat. Und die, vor allem darum geht es mir, nicht weniger sichtbar und gewagt ist als andere Versuche der Annäherung, etwa das Einflechten von Wendungen oder Sätzen im Original, wie es in ganz unterschiedlicher Form Uda Strätling in Chinua Achebes Einer von uns (2016) und Hans-Ulrich Möhring in Zora Neale Hurstons Vor ihren Augen sahen sie Gott (2011) gemacht haben, oder die Über‐ tragung von einer Sprachvarietät in eine andere, wie Esther Kinsky es in Lewis Grassic Gibbons Lied vom Abendrot (2018) mit dem Plattdeutschen für das Doric Scots gemacht hat. Diese Entscheidungen haben für mich wenig mit der Diskussion um ver‐ fremdende vs. domestizierende Übersetzung zu tun, auch nicht mit Fragen der Leserfreundlichkeit und schon gar nicht mit moralischen Kategorien wie Demut oder Geltungsbedürfnis. Wir entscheiden und wir gestalten, um so nah wie möglich an das Original heranzukommen; wie Entscheidungen unsichtbar sein sollen, verstehe ich nicht, auch nicht, weshalb sich irgendjemand wünschen könnte, dass man etwas Gestaltetes nicht sieht. Literaturverzeichnis Achebe, Chinua. 2016. Einer von uns. Übers. Uda Strätling. Frankfurt am Main: Fischer. Coates, Ta-Nehisi. 2020. Der Wassertänzer. Übers. Bernhard Robben. München: Blessing. Grassic Gibbon, Lewis. 2018. Lied vom Abendrot. Übers. Esther Kinsky. Berlin: Guggolz. Hurston, Zora Neale. 2011. Vor ihren Augen sahen sie Gott. Übers. Hans-Ulrich Möhring. Gräfelfing: edition fünf. Selvon, Samuel. 2017. Die Taugenichtse. Übers. Miriam Mandelkow. München: dtv. 293 Die subversive Lust am Regelverstoß Autorinnen und Autoren Reinhild Böhnke studierte an der Karl-Marx-Universität Leipzig Germanistik und Anglistik. Seit 1972 übersetzt sie Romane, Erzählungen, Dramen und Essays aus dem Englischen. Sie ist Mitbegründerin des „Sächsischen Vereins zur För‐ derung literarischer Übersetzung - Die Fähre e.V.“. Als Anerkennung für ihr Gesamtschaffen erhielt sie 1998 das Jahresstipendium des Freistaates Sachsen und 1915 das Barthold-Heinrich-Brockes-Stipendium des Deutschen Überset‐ zerfonds. 2004 wurde ihr das Bundesverdienstkreuz verliehen. Rike Bolte lehrt Literaturwissenschaft an der Universidad del Norte in Bar‐ ranquilla, Kolumbien. Sie hat dort an der Entwicklung des Masterstudiengangs ‚Literatura y Creación Literaria‘ mitgewirkt und ist an der Einrichtung eines Doktorstudiengangs zum Anthropozän beteiligt. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Erinnerungsforschung, Poetologie, Ökokritik/ Geopoetik und Überset‐ zungspoetiken. Selbst Übersetzerin aus dem Spanischen, Französischen und Ka‐ talanischen befasst sie sich in der letzten Zeit verstärkt mit Übersetzungsfragen im Bereich ‚indigener Literaturen‘ sowie mit ‚dekolonialen Ästhetiken‘ Latein‐ amerikas und Québecs. Im Jahr 2020 erhielt sie den Internationalen Literatur‐ preis des Hauses der Kulturen der Welt für Übersetzung. Seit 15 Jahren ist sie Ko-Leiterin des Poesiefestivals Latinale in Berlin. Albrecht Buschmann ist Professor für spanische und französische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Rostock. Neben der akademischen Laufbahn war er zeitweise auch literarischer Übersetzer aus dem Spanischen (u. a. von Manuel Vázquez Montalbán und Max Aub); Übersetzerpreis der Spa‐ nischen Botschaft (2003). Seine Forschungsschwerpunkte in diesem Bereich sind das Zusammenspiel von Übersetzungstheorie und übersetzerischer Praxis (hierzu als Herausgeber: Gutes Übersetzen. Neue Perspektiven für Theorie und Praxis des Literaturübersetzens, Berlin, de Gruyter 2015), die kulturwissenschaft‐ liche Bedeutung des Übersetzens, insbesondere die Sichtbarkeit des Übersetzers in Kulturtransferprozessen. Volker C. Dörr ist Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Zuvor ist er Professor für Neuere deut‐ sche Literaturgeschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Er‐ langen-Nürnberg gewesen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Literatur und Ästhetik um 1800, der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur sowie des Zusammenhangs von Literatur und Transkulturalität. Vera Elisabeth Gerling lehrt Literatur- und Kultur- und Übersetzungswissen‐ schaft mit Blick auf Spanien, Lateinamerika und Frankreich an der Hein‐ rich-Heine-Universität Düsseldorf. Ihre Forschungsinteressen umfassen Themen des literarischen Kulturaustauschs durch vielfältige Übersetzungspro‐ zesse sowie transkulturelle und transmediale Poetiken. Sie ist Initiatorin und Mitherausgeberin der mehrsprachigen, literarischen Reihe Düsseldorf übersetzt und der online Zeitschrift ReLü - Rezensionszeitschrift zur Literaturüberset‐ zung. Zusammen mit Liliana Ruth Feierstein hat sie Traducción y Poder. Sobre marginados, infieles, hermeneutas y exiliados (2008) herausgegeben, gemeinsam mit Belén Santana López den Band Literaturübersetzen als Reflexion und Praxis (2018). Philipp Heidepeter ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Lehrstuhl für Romanische Sprach- und Kulturwissenschaft an der Universität Passau. Dort wirkt er neben seiner sprachwissenschaftlichen Forschung und Lehre mit einem Lehrauftrag im Bereich der Musikpädagogik auch als Chorleiter und ist als Vertreter des Wissenschaftlichen Mittelbaus in der akademischen Selbstverwaltung aktiv. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Translationswissenschaft, der Lexikographie, der Genderlinguistik sowie der Tabulinguistik. Christine Ivanovic hat als Professorin an Universitäten in Japan (Tokyo, Fu‐ kuoka), den USA (u. a. Iowa, Cincinnati, Brown), Deutschland (Erlangen, Frank‐ furt) und Österreich (Wien, Graz) gelehrt und ist derzeit als Dozentin für Ver‐ gleichende Literaturwissenschaft und Japanologie an der Universität Wien tätig. Sie forscht auf den Gebieten translationale, transeuropäische und digitale Kom‐ paratistik. Klaus Kaindl ist Professor für Übersetzungswissenschaft an der Universität Wien. Seine Forschungs- und Publikationsschwerpunkte liegen im Bereich der Übersetzungstheorie, der literarischen und multimodalen Übersetzung sowie den Translator Studies. Er ist Mitherausgeber der Reihe Translationswissenschaft im Narr-Verlag. Zu den jüngsten Publikationen zählen Literary Translator Stu‐ dies (2021, Amsterdam: John Benjamins, gem. mit Waltraud Kolb und Daniela Schlager); Queering Translation - Translating the Queer: Theory, Practice, Acti‐ vism (2018, London: Routledge, gem. mit Brian Baer); Dolmetscherinnen und Dolmetscher im Netz der Macht. Autobiographisch konstruierte Lebenswege in au‐ 296 Autorinnen und Autoren toritären Regimen (2017, Berlin: Frank & Timme, gem. mit Dörte Andres und Ingrid Kurz). Helena Küster hat an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Literatur‐ übersetzen mit den Ausgangssprachen Englisch und Spanisch studiert. Seit 2017 arbeitet sie am Institut für Anglistik und Amerikanistik der HHU als wissen‐ schaftliche Mitarbeiterin und Koordinatorin für den Masterstudiengang Litera‐ turübersetzen. Derzeit arbeitet sie an ihrer Promotion über die Übersetzung von mehrsprachiger Weltliteratur ins Deutsche. Susanne Lange lebt als Übersetzerin spanischsprachiger Literatur bei Barce‐ lona und in Berlin. Sie hat über lateinamerikanische und deutsche Gegenwart‐ sautoren promoviert, gibt Fortbildungsseminare für literarische Übersetzung und wurde u. a. mit dem Johann-Heinrich-Voss-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ausgezeichnet. 2010 vertrat sie die August-Wil‐ helm-von-Schlegel-Gastprofessur für Poetik der Übersetzung an der FU Berlin. Sie übersetzte u. a. Fernando del Paso, Federico García Lorca, Juan Rulfo, Luis Cernuda, Javier Marías und Miguel de Cervantes. Sie ist Mitherausgeberin einer vierbändigen Anthologie spanischsprachiger Lyrik (2022). Miriam Mandelkow übersetzt seit gut 20 Jahren Literatur aus englischen Sprachen, darunter Werke von Samuel Selvon, Eimear McBride, Richard Price und Ta-Nehisi Coates. Für ihre Neuübersetzungen der Werke von James Baldwin erhielt sie 2020 den Helmut-M.-Braem-Übersetzerpreis. Birgit Neumann ist Professorin für Anglophone Literaturen und Literatur‐ übersetzen an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Zuvor war sie Pro‐ fessorin an der Universität Passau; sie hatte Gastprofessuren an den Universi‐ täten Wisconsin-Madison und Cornell (USA) sowie an der Universität Leuven (Belgien). Sie ist Mitglied der Academia Europaea, des Editorial Committee for the Comparative History of Literatures in European Languages (CHLEL) sowie des FWO Review College (Belgien). Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der anglophonen Weltliteraturen, postkolonialen Literaturen, Inter‐ medialität sowie Übersetzung und Kulturaustausch. Eva Ulrike Pirker studierte in Tübingen und San Diego Englische und Ame‐ rikanische Literaturwissenschaft und Philosophie und promovierte an der Uni‐ versität Freiburg im Fach Englische Philologie. Aktuell forscht und lehrt sie am Institut für Anglistik und Amerikanistik der Heinrich-Heine-Universität Düs‐ seldorf im Feld der Anglophonen Literaturen und Kulturen sowie der Transla‐ tion Studies. Sie ist Autorin und Herausgeberin zahlreicher Veröffentlichungen zu literatur- und kulturwissenschaftlichen Themen. 297 Autorinnen und Autoren Ursula Reutner ist Inhaberin des Lehrstuhls für Romanische Sprach- und Kul‐ turwissenschaft an der Universität Passau. Nach ihrem Studium an der Univer‐ sität Bamberg und der Université Paris IV-Sorbonne wurde sie an der Universität Augsburg mit einer Arbeit über Sprache und Identität promoviert und hierfür mit dem Elise Richter-Preis des Deutschen Romanistenverbandes und dem Prix Germaine de Staël des Frankoromanistenverbandes ausgezeichnet. Sie habili‐ tierte sich mit einer Schrift zu Sprache und Tabu, erhielt Rufe an die Universitäten Heidelberg und Paderborn und einen Ehrendoktor der Universidad del Salvador in Buenos Aires. Studien-, Lehr- und Forschungsaufenthalte führten sie an zahl‐ reiche Universitäten in Europa, Amerika und Afrika. Ihre Forschungsschwer‐ punkte gelten der Translationswissenschaft, der Wissenschaftssprache und Sprache im digitalen Raum sowie mehrsprachigen Gesellschaften und Sprach‐ tabus. Monika Schmitz-Emans ist Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Zuvor war sie Profes‐ sorin an der Fernuniversität Hagen. Sie hatte Gastprofessuren an den Univer‐ sitäten von Notre Dame (Indiana) und Wisconsin-Madison sowie Gastdozen‐ turen in Japan und Korea. Sie ist Mitglied der Academia Europaea und der nordrhein-westfälischen Akademie der Wissenschaften. Ihre Arbeitsgebiete sind die Literaturen der westlichen Sprachräume in vergleichender Perspektive, Fragen der Poetik, insbesondere der Autorenpoetik, Studien zu Literatur und Bildmedien sowie zur Buchmaterialität. Arvi Sepp ist Professor für Kulturwissenschaft und Literaturübersetzen an der Freien Universität Brüssel (VUB) und Research Fellow am Institut für Jüdische Studien (IJS) der Universität Antwerpen. Zuvor war er Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Antwerpen. Er hatte u. a. Gastprofessuren an der Universidade Federal do Ceará (Brasilien) sowie an der Université de Picardie Jules Verne (Frankreich). Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf Übersetzung und Kulturtransfer, deutsch-jüdischer Literatur, mehrsprachiger Literatur, Migration und Exil in der deutschsprachigen Literatur. Für seine wis‐ senschaftliche Arbeit erhielt er u. a. den Tauber Institute Award (Brandeis Uni‐ versity, USA), den Jacques-Rosenberg-Preis der Auschwitz-Stiftung (Brüssel), den Preis für Wissenschaftskommunikation der Königlichen Flämischen Aka‐ demie für Wissenschaften und Künste (Brüssel) und den Theodor-Frings-Preis der Sächsischen Akademie der Wissenschaften (Leipzig). Jan Wilm ist Schriftsteller und Übersetzer. Er studierte Anglistik und Ameri‐ kanistik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, wo er mit einer Arbeit über J. M. Coetzee promoviert wurde. Als Literaturwissenschaftler war er tätig 298 Autorinnen und Autoren an der Technischen Universität Darmstadt, der Goethe-Universität Frankfurt am Main sowie dem Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI). Er übersetzte unter anderem Werke von Maggie Nelson, Frank B. Wilderson III und Arundhati Roy. Von Wilm erschien das Sachbuch The Slow Philosophy of J. M. Coetzee (Bloomsbury, 2016) sowie der Roman Winterjahrbuch (Schöffling, 2019). 299 Autorinnen und Autoren ISBN 978-3-8233-8465-6 TRANSFER Kulturen, Sprachen, Literaturen in / der Übersetzung #25 Vor gut 25 Jahren beklagte Lawrence Venuti die Unsichtbarkeit der Übersetzenden, und Beispiele für solche Unsichtbarkeiten gibt es in der Tat zuhauf. Es gibt aber auch eine andere Geschichte der Übersetzung, eine Geschichte der Sichtbarkeit und Agentialität - und diese Geschichte, eingeschlossen ihrer verschiedenen Theorien und Praktiken, stellt dieser Sammelband mit Blick auf die Zielsprache Deutsch ins Zentrum. Das Interesse gilt dabei dem verändernden Potential der Übersetzung, die sowohl zwischen als auch innerhalb von Sprachen stattfinden kann. Der Band versammelt Beiträge von Wissenschaftler: innen und Übersetzer: innen. www.narr.de Birgit Neumann (Hrsg.) #25 Die Sichtbarkeit der Übersetzung #25 Birgit Neumann (Hrsg.) Die Sichtbarkeit der Übersetzung Zielsprache Deutsch