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Die Musik der Sprache

2021
978-3-8233-9493-8
Gunter Narr Verlag 
Claudia Schweitzer

Die Verwandtschaft von Sprache und Musik ist tiefgreifend. Beide werden ausdrucksstark durch dieselben Parameter, die wir als prosodisch oder musikalisch bezeichnen. Diese "Musik der Sprache" wird immer dann deutlich, wenn Sprache klingt, sei es in gesprochener oder in gesungener Form. Dieser Band zeigt erstmals, wie in Frankreich seit dem 16. Jahrhundert prosodisches Wissen konstruiert wurde und welche Rolle dabei die Musik spielt. Die aufgezeigten theoretischen Grundlagen werden durch konkrete Beispiele verschiedener Jahrhunderte und Disziplinen (Linguistik, Poesie, Musik) verdeutlicht.

9783823394938/Zusatzmaterial.html
www.narr.de TBL Tübinger Beiträge zur Linguistik Die Verwandtschaft von Sprache und Musik ist tiefgreifend. Beide werden ausdrucksstark durch dieselben Parameter, die wir als prosodisch oder musikalisch bezeichnen. Diese „Musik der Sprache“ wird immer dann deutlich, wenn Sprache klingt, sei es in gesprochener oder in gesungener Form. Dieser Band zeigt erstmals, wie in Frankreich seit dem 16. Jahrhundert prosodisches Wissen konstruiert wurde und welche Rolle dabei die Musik spielt. Die aufgezeigten theoretischen Grundlagen werden durch konkrete Beispiele verschiedener Jahrhunderte und Disziplinen (Linguistik, Poesie, Musik) verdeutlicht. 580 Schweitzer Die Musik der Sprache Die Musik der Sprache Französische Prosodie im Spiegel der musikalischen Entwicklungen vom 16. bis 21. Jahrhundert Claudia Schweitzer ISBN 978-3-8233-8493-9 Die Musik der Sprache Tübinger Beiträge zur Linguistik herausgegeben von Gunter Narr 580 Claudia Schweitzer Die Musik der Sprache Französische Prosodie im Spiegel der musikalischen Entwicklungen vom 16. bis 21. Jahrhundert © 2021 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 0564-7959 ISBN 978-3-8233-8493-9 (Print) ISBN 978-3-8233-9493-8 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0343-5 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® 11 14 1 19 1.1 20 22 24 1.2 26 28 1.3 30 31 33 2 37 2.1 38 2.2 40 40 41 42 2.3 43 43 45 46 2.4 47 47 48 49 2.5 50 50 51 Inhalt Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretischer Rahmen und methodisches Vorgehen . . . . . . . . . . . . . Prosodie und Musik: eine lange gemeinsame Geschichte . . . . . . . . . . . . Prosodie und stimmlicher Ausdruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gemeinsamkeiten von Sprache und Gesang . . . . . . . . . . . . . . . Mischformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das musikalische Ausdruckspotential der Sprechstimme . . . . Kodifikation der Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Notation von Prosodie und Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verwendung einer traditionellen Partitur . . . . . . . . . . . . . . . . . Stilisierte Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprache und Musik: Ästhetische Wandel im Laufe der Jahrhunderte . . . . Der Begriff „Ästhetik“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Renaissance: Rückkehr zur Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die „vers mesurés à l’antique“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Musiktheorie und musikalische Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quantität und Akzent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der französische Barock: Eine musikalische Deklamation . . . Musik und Deklamation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachtheoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Rezitativ: Symbiose von textueller und musikalischer Deklamation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das klassische Zeitalter und die Lumières . . . . . . . . . . . . . . . . . Gemeinsamer Ursprung von Gesang und Sprache . . . . . . . . . . Kunst ist Nachahmung der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprache und Universalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Romantik: Traumwelten und wissenschaftliche Genauigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Trennung von Kunst und Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Ausdruckskraft der Melodie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 53 2.6 54 54 55 56 57 2.7 60 60 64 3 73 3.1 75 75 76 78 79 3.2 79 79 82 83 3.3 86 86 88 89 90 3.4 92 92 93 95 4 97 4.1 98 4.2 100 100 101 104 Melodie und Phrasierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wissenschaft und die „Lehre vom Schönen“ . . . . . . . . . . . . . . . Die Moderne: Wissenschaft und Emotionserforschung . . . . . . Der Parameterbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Phonostylistik und Erforschung der Gesangsstimme . . . . . . . Eine neue Texttradition: das Chanson des 20. Jahrhunderts . . Die neue Bedeutung rhythmischer Elemente . . . . . . . . . . . . . . Korpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Systematische Korpusdarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Biographische Notiz der Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorteile und Problemfelder der gemeinsamen Metasprache . . . . . . . . . . Die Bedeutung des Begriffs „quantité“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Barock und Klassik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Romantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der „Ton“ in Sprache und Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Definitionen des Petit Robert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Dictionnaires de l’Académie (1694-2021) . . . . . . . . . . . . . . . Ton und Intonation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prosodie zwischen Poesie und Prosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Natürliche Ordnung“ und Vorhersehbarkeit . . . . . . . . . . . . . . Norm und Abweichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Form und Spontaneität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prosodie und Chanson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beispiele der verwendeten Metasprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bereiche Ton, Intonation und Volumen . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bereiche Rhythmus und Metrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Begriff „accent“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rhythmus und Metrum im Wandel der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Lateinischen zum Französischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quantifizierung in französischer Poesie und Musik . . . . . . . . . Französische Quantitätstheorien bis zum 18. Jahrhundert . . . Die Behandlung der Quantität in den „vers mesurés“ und ihren Vertonungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Systematisierung bei Marin Mersenne (1636) . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt 4.3 110 110 112 4.4 115 115 117 118 5 123 5.1 124 5.2 127 127 128 131 5.3 132 132 134 138 5.4 141 141 143 146 5.5 150 6 155 6.1 156 159 160 Quantität als relative Größe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Musiktheorie als theoretischer Rahmen für eine „Maßeinheit“ der Quantität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbé D’Olivet und die französische barocke Musikpraxis . . . Der „Flow“ des Slams . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entstehung des Rhythmus im Slam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die vier Phonostile des Slams . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Analyse der Phonostile eines geslammten Gedichts von Baudelaire . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Melodie und Intonation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kurze Methodengeschichte der Melodie- und Intonationsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Analyse der Melodie zur Analyse der Intonation . . . Der melodische Akzent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rousseau und die Melodie der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Intonationsforschung bei den ersten Phonetikern des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Intonation und Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die hierarchische Struktur der Prosodie nach Philippe Martin Prosodie und Interpunktion bei Grammatikern und Musikern (17. und 18. Jahrhundert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Symmetrie und Eurythmie der Prosodie (17. und 19. Jahrhundert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Intonation und Emotion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist „Ausdruck“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Intonation als Imitation von Eindrücken und Gefühlsausbrüchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Emotion, Konvention und Vorhersehbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . Melodie, Ton, Intonation und Akzent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Akzent und Akzentuierung: eine französische Besonderheit . . . . . . . . . . Probleme der Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahrnehmung der Parameter in unterschiedlichen Kontexten Regelmäßigkeit und Stärke der wahrgenommenen Akzentuierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Inhalt 162 163 6.2 165 165 168 170 173 6.3 177 179 180 182 185 189 200 Wahrnehmung der zur Akzentuierung eingesetzten prosodischen Mittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ästhetische Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Subjektive Wahrnehmung und objektive Messung . . . . . . . . . Die prosodischen Parameter der französischen Akzentuation Auf der Suche nach den Besonderheiten des französischen Akzents . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenspiel von Akzent und Intonation . . . . . . . . . . . . . . . Mobilität und Wahrscheinlichkeit des Akzents im Französischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Akzent und Ausdruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Unterscheidung von Wortakzent und Emphatischem Akzent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Akzent und Stimme im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Akzent, Prosodie und Suprasegmentalia . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt „Die Musik ist eine Sprache, keine konventionelle oder lokale, wie das Griechische, das Lateinische, das Französische oder andere Sprachen, sondern eine, die natürlich und allgemein verständlich ist.“ „La musique est une langue, non de convention, non locale, comme le grec, le latin, le français et autres, mais une langue naturelle et de tous pays.“ Jérôme-Joseph MOMIGNY (1806: 29) 1 Zitate nach www.aphorismen.de, Zugriff 14.4.2020. 2 „On ne parle & on ne chante qu’en rendant l’air“. Dodart (1700: 248). Alle nicht weiter markierten Übersetzungen aus dem Französischen stammen von der Verfasserin. Einführung Die menschliche Stimme und ihre - wie es scheint - unendlichen Ausdrucks‐ möglichkeiten faszinieren. Eine Stimme ist in der Lage, eine Welt in uns zu berühren, die abstrakt und metaphorisch zugleich ist. „Der Klang der Stimme verrät den Zustand der Seele“, sagt der 1950 geborene österreichische Ingenieur und Maler Helmut Glassl. Für den deutschen Philosophen und Pädagogen Andreas Tenzer (*1954) sind Stimmen „hörbare Schwingungen“ und der fran‐ zösische Philosoph und Enzyklopädist Denis Diderot (1713-1784) bezeichnet bereits im 18. Jahrhundert die Stimme als „ein Musikinstrument, dessen sich alle Menschen ohne die Hilfe von Lehrern, Prinzipien oder Regeln bedienen können“. 1 Die Stimme und ihre Klänge hängen von der Sprechsituation, von der gewollten Ausdruckskraft und vom seelischen Zustand des Sprechers oder der Sprecherin ab. Heute haben Neuro- und Psycholinguistik die Möglichkeit, mit gezielten technischen Mitteln an diesen Zusammenhängen zu arbeiten. Im Vergleich zu sprachwissenschaftlichen Überlegungen, die bereits aus der Antike überliefert sind, sind diese Möglichkeiten jedoch extrem jung. Lange Zeit waren Stimme und Sprache vorwiegend über den Gehörsinn zugänglich. Le jugement de l’oreille bildete somit einen wichtigen Faktor für die Wahrnehmung und für die Analyse sprachlicher Phänomene. Anders als Überlegungen anhand schriftlicher Texte (zum Beispiel zu Syntax oder Lexik) stellen die Stimme und die von ihr übertragenen Laute oder Worte den Forscher vor das Problem, dass sein Forschungsobjekt, das heißt die Sprachlaute, vergänglich und ohne Aufnahmemöglichkeit einmalig und nicht reproduzierbar ist. Oftmals haben die französischen Forscher vergangener Jahrhunderte auf die Gesangsstimme zurückgegriffen, die im Vergleich zur Sprechstimme eine (geringfügig) größere Stabilität der Laute zu versprechen schien. Denis Dodart, seines Zeichens Arzt, konstatiert zu Beginn des 17. Jahrhunderts eine hohe Affinität von Sprech- und Gesangsstimme, da beide auf demselben physischen Mechanismus beruhen. 2 Jean-Jacques Rousseau weist ebenfalls auf die große Ähnlichkeit zwischen Sprache und Gesang hin. Er spürt zwar einen kleinen 3 „Il semble ne manquer aux Sons qui forment la parole, que la permanence, pour former un véritable Chant“, Rousseau (2020 [1768]: 183). Unterschied, der aber schwierig zu beschreiben ist. 3 Die Eigenschaft, etwas länger anzudauern, macht die gesungenen Töne in den Augen der Theoretiker jedoch zu einem geeigneten Studienobjekt (vgl. Schweitzer, 2018). Auch heute noch wird die Verwandtschaft von Sprache und Gesang als tiefgreifend angesehen. Sprache ist melodisch, rhythmisch und akzentuiert, genau wie jede musikalische Produktion. Musik und Sprache werden ausdrucks‐ stark durch dieselben Parameter: diejenigen, die wir als prosodisch bezeichnen. Sprache ist nicht nur in der Poesie, sondern in jeglicher Form von Äußerung musikalisch. Diese „Musik der Sprache“ wird deutlich, wenn Sprache klingt, und dies nicht nur in gesungener Form, sondern auch als gesprochenes Wort. Heute untersuchen Prosodisten diese „Musik der Sprache“ und sie unter‐ scheiden dabei drei Parameter: Tonhöhe (Grundfrequenz) oder Tonhöhenent‐ wicklung (Melodie), Tonlänge (Rhythmus oder Tondauer und Pausen) und Intensität (Volumen und Akzentuation). Diese Parameter haben ihren Ursprung in der Beschreibung der Singstimme, und eine gemeinsame Metasprache von Musikern und Prosodisten (Terme wie zum Beispiel „Rhythmus“, „Melodie“ oder „Akzent“ werden in beiden Disziplinen verwendet) weist noch heute auf die gemeinsamen Wurzeln dieser beiden Ausdrucksmöglichkeiten hin (vgl. Dodane et al., 2021). Es ist typisch für die vergangenen Jahrhunderte, dass die Erforschung der Stimme und der Sprachlaute nicht allein eine sprachwissenschaftliche Angelegenheit war. Das Phänomen interessierte mehrere Disziplinen, die das Thema auf unterschiedliche Weise, mit eher praktischen, eher theoretischen, eher experimentellen oder eher reflexiven Methoden bearbeiten. Aus diesem Grund scheint es für die Erforschung der Wirksamkeit und der Wirkungsweise menschlicher gesprochener Sprache unabdingbar, zwei Ansätze zu berücksich‐ tigen: einen wissenschaftlichen und einen philosophischen. Um die heute übliche Definition der Prosodie als „Gesamtheit sprachlicher Eigenschaften wie Akzent, Intonation, Quantität, Sprechpausen“ (Bußmann, 1990: 618) zu finden, waren viele Überlegungen in verschiedene Richtungen und sogar Umwege nötig. Im Laufe der Jahrhunderte sind alle genannten Parameter mehr oder weniger intensiv untersucht worden. Zunächst spielten prosodische Überlegungen in den poetischen Ausdrucksformen gewidmeten Disziplinen eine Rolle (Dodane et al., 2021). Besonders die Quantität (Vokal- oder Silbenlänge) bildete oftmals ein wichtiges Studienobjekt. Erst mit dem Erscheinen der Grammaire générale et raisonnée von Antoine Arnauld und 12 Einführung 4 Der Text unterscheidet zwischen grammaire générale (Richtung der Grammatik) und Grammaire générale (Buchtitel). 5 „La prononciation grammaticale et prosodique n’est pas moins nécessaire à l’orateur pour se rendre intelligible et pour parler avec grâce et avec noblesse. Or, elle sera telle, si l’on donne à chaque syllabe le son que l’usage lui assigne, si l’on évite de faire entendre les finales qui ne doivent pas se prononcer, si l’on ne fait pas brèves les syllabes longues, et longues les syllabes brèves, si l’on s’éloigne de tout accent vicieux et de province, si l’on se conforme à la prononciation de la bonne compagnie“, Vuillaume (1871: 265). Claude Lancelot (1660) findet das Thema auch Eingang in den Kanon der regel‐ mäßig in den Grammatiken behandelten Themen. Besonders die Überlegungen Denis Vairasse d’Allais‘ (1681) bedeuten hier einen großen Fortschritt: Der Autor berücksichtigt nicht nur die beiden mittels des Hörsinns relativ leicht zugänglichen Parameter Rhythmus und Quantität, sondern spricht in dem den Akzenten gewidmeten Kapitel auch von ton und emphase. Im 18. Jahrhundert bilden sich zwei Haupttendenzen heraus. Die eine konzentriert sich auf die Prosodie der französischen Sprache und versucht, deren Besonderheiten im Vergleich zu anderen Sprachen herauszuarbeiten. Ein Beispiel dafür ist der Traité de la prosodie françoise des Abbé D’Olivet (1736). Die zweite versucht, Parallelen zwischen den verschiedenen Sprachen und ihrem prosodischen Verhalten aufzudecken. Sie gliedert sich damit in die Richtungen der grammaire générale  4 und der grammaire comparée ein. Auch im Bereich der Rhetorik bleiben Fragen der Quantität wichtig. So spricht noch Jean-Dominique Vuillaume (1871) von der Wichtigkeit der Beachtung der richtigen Quantität für eine gute „prononciation grammaticale et prosodique“. 5 Doch erst bei den frühen Phonetikern wird die Prosodie im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu einem zentralen Forschungsthema. Mit der auf Etienne-Jules Marey (1830-1904) zurückgehenden Graphischen Methode wird um die Jahr‐ hundertwende die Analyse der verschiedenen Parameter auf experimenteller Basis möglich. Jean-Pierre Rousselot arbeitet so über Intonation, Akzentuation und Rhythmus der französischen Sprache. Hector Marichelle gelingt eine mathematische Kurvenanalyse der Formanten und die experimentelle Unter‐ scheidung von accent tonique und accent oratoire. Paul Passy stellt in einem komparatistischen Ansatz die Intonationen verschiedener Sprachen, darunter des Französischen, einander gegenüber, und Léonce Roudet beschäftigt sich mit den Zusammenhängen von Intonation, Emotion und Logik sowie deren Auswirkungen auf die Sprachakzentuation. All diese neuen Entwicklungen revolutionieren die Kenntnisse der Forscher und sind richtungsweisend für die heutigen Sprachtheorien. Gleichzeitig lassen diese Entwicklungen aber auch eine große Kontinuität mit den Arbeiten der Grammatiker vorheriger Jahrhunderte erkennen. Das alte und überlieferte 13 Einführung Wissen findet seinen logischen Platz in den neu entwickelten Theorien. Seine Spuren finden sich nicht nur bei den ersten, auf prosodische Fragen speziali‐ sierten Forschern des 20. Jahrhunderts wie Théodore Rosset, dem Gründer des Institut de phonétique in Grenoble (1904), sondern auch noch in ganz aktuellen Arbeiten. Zu nennen wären beispielsweise die Veröffentlichungen von Aniruddh D. Patel und Joseph R. Daniele (2003) zum Einfluss der jeweiligen Muttersprache auf die Formung musikalischer Themen englischer und franzö‐ sischer Komponisten, oder auch diejenigen von Emmanuel Bigand und Barbara Tillmann (2020) zur Verarbeitung von Musik und Sprache im menschlichen Gehirn. In jeder der angesprochenen Perioden können Einflüsse von Musiktheorie und -praxis sowie von ästhetischen Fragestellungen auf die Entwicklung der Richtung der Überlegungen in der Prosodieforschung festgestellt werden. Dieser Aspekt dient im vorliegenden Buch als roter Faden, um die Tradierung und Weiterentwicklung des Wissens um die französische Prosodie (in Frank‐ reich) sowie die damit verbundenen Integrations- und Transformationsprozesse im Laufe der Jahrhunderte nachzuvollziehen. Angesichts der großen Menge des verfügbaren Materials kann dabei keine Vollständigkeit angestrebt werden. Es geht vielmehr darum, die interdisziplinären Konzepte, die jahrhundertelang die französische Ideengeschichte zur Prosodie charakterisiert haben und deren Spuren sich auch heute noch in den Arbeiten zur Prosodie der französischen Schule finden, verständlich zu machen. Theoretischer Rahmen und methodisches Vorgehen Seit Beginn des 19. Jahrhunderts nehmen geschichtliche Untersuchungen einen - mehr oder minder breiten - Raum in den Sprachwissenschaften ein. Wissen um die Vergangenheit hilft, Sprachentwicklungen zu beschreiben und zu ver‐ stehen. Aber ist nicht jedes Wissen im Grunde genommen historisch? Wissen selbst kann nicht definiert werden, nur der Moment, in dem ein Autor es tradiert (Auroux, 2006). Damit besitzt jeder Wissensakt nach Sylvain Auroux (1992) so‐ wohl einen Retrospektions-, als auch einen Projektionshintergrund. Jedes neu gefundene und entwickelte Wissen organisiert den bisherigen Wissenskanon, es setzt Akzente, lässt Teilaspekte in der Vergessenheit verschwinden, idealisiert und/ oder setzt Impulse. Um die Entwicklung linguistischer Theorien und Ideen zu begreifen, die uns nicht nur das Verständnis unserer Sprachgeschichte, sondern auch unserer heutigen Denkmodelle ermöglichen, ist es daher wichtig, über lange Zeiträume zu arbeiten. 14 Einführung Im Laufe der letzten Jahrzehnte haben ideengeschichtliche Forschungen in den Sprachwissenschaften immer mehr Fuß gefasst. Sie reflektieren die Notwendigkeit der Linguisten, Objekte, Orientierungen, Grenzen und Ge‐ schichtlichkeit ihrer Disziplin zu hinterfragen. Epistemologische Forschungen geben die Möglichkeit, die Relevanz tradierter und in Vergessenheit geratener geschichtlicher Entwicklungen und historischer Konzepte für gegenwärtige Sprachtheorien zu ermessen. Die Variationsbreite der Bezeichnungen und Denkrichtungen kann nicht nur onomasiologisch und semasiologisch, sondern vor allem in ihrer Bedeutungsbreite und Tragweite über die Jahrhunderte hinweg bis heute untersucht werden. Hier sei nur kurz auf Dietrich Busse verwiesen, der in seinen Arbeiten über das Verhältnis von Sprach-, Kultur- und Kognitionswissenschaften nachdrücklich darauf hinweist, dass - in seinem Falle - „eine Diskursanalyse auch in einer linguistisch reflektierten Weise, als eine Methode und ein Forschungsziel einer kulturwissenschaftliche (bewusst‐ seinsanalytisch) orientierten - nicht nur von Historikern, sondern auch von Linguisten betriebenen - Historischen Semantik durchgeführt werden kann“ (Busse, 2008). In Deutschland gliedern sich Untersuchungen zur französischen Sprache und Sprachgeschichte konsequent und folgerichtig in die Romania-Forschung ein. Der Rahmen der romanischen Sprachen ist sicherlich geeignet, um sprach‐ familientypische Prozesse zu verstehen und zu bewerten. Dies Verfahren setzt allerdings einen gemeinsamen systematischen Rahmen für alle behandelten Sprachen voraus, der länderspezifische Eigenheiten nicht immer auffangen kann. Dieses Buch möchte dazu beitragen, heute in Frankreich betriebene epistemologische Forschungen zur französischen Prosodie für die deutsche Romania-Forschung zugänglich und nutzbar zu machen. An die Stelle der Sprachfamilie tritt dabei eine interdisziplinäre Einbettung der historischen epis‐ temologischen Fragestellung, die nicht nur die Erweiterung des Blickwinkels einer einzelnen Disziplin ermöglicht, sondern auch eine neue Ausrichtung und Gewichtung der Fakten nach dem Modell der global history (vgl. Maurel, 2013). Die Geschichtsschreibungen verschiedener Disziplinen werden zusam‐ mengeführt und für ein breiteres Verständnis nutzbar gemacht (Bertrand, 2013). Dieses Vorgehen ist im Wesen der Prosodie selbst angesiedelt: Sie ist in mehreren Disziplinen verankert und folgerichtig im Laufe der Geschichte von Forschern, Theoretikern und Praktikern verschiedener Richtungen (Lingu‐ isten, Dramatiker, Rhetoriker, Musiker, Komponisten…) behandelt worden. Eine Wiedereinbettung der Prosodietheorien in einen interdisziplinären Rahmen bedeutet einen neuen Impuls für die heutigen, auf segmentale Fragen konzen‐ trierten Sprachtheorien und kann ein tieferes Verständnis für die Beschreibung 15 Einführung der emotionellen Vorgänge, die durch prosodische Mittel ausgelöst werden, geben. Die enge Verbindung, die die Prosodie zwischen Sprache und Musik/ Gesang herstellt, wurde zu keinem Zeitpunkt im Verlauf der Geschichte grundsätzlich in Frage gestellt, hat aber im Laufe der Jahrhunderte ihre bedingungslose Auslegung verloren. Wenn Jean-Léonor Le Gallois Grimarest (1707) den Ge‐ sang noch als eine Art besonders deutlich modulierten (und daher besonders ausdrucksstarken) Sprechens beschreibt, so manifestiert sich die Sicht auf die Verbindung der beiden Ausdrucksformen der menschlichen Stimme in der Folge deutlich romantischer und imaginärer, wie es das folgende Zitat von Romain Rolland aus dem Jahre 1908 zeigt: „Si la musique nous est si chère, c’est qu’elle est la parole la plus profonde de l’âme, le cri harmonieux de sa joie et de sa douleur“ - „Dass die Musik uns so teuer ist, liegt daran, dass sie eine Sprache ist, die aus den Tiefen unserer Seele kommt, ein harmonischer Schrei ihrer Freude und ihres Schmerzes“. Was unverändert bleibt, ist das Bewusstsein, dass Gesang und Sprache nichts Anderes sind als zwei verschiedene Ausdrucksmöglichkeiten menschlicher stimmlicher Äußerung. Mit der veränderten Konzeptualisierung geht im Laufe der Jahrhunderte eine geänderte - jeweils modernisierte - Aus‐ drucksweise einher. Jede Epoche besitzt ihre eigenen Konzepte, Denkmodelle, Ausdrucksarten und Bilder, die für Leser und Leserinnen der entsprechenden Kultursphäre und -epoche sprechend sind, aber nicht unbedingt für uns heute. Die Inhalte dieser Texte müssen daher oftmals „übersetzt“ werden, um sie verständlich zu machen und mit denen anderer Jahrhunderte, Zielrichtungen und Horizonte vergleichen zu können. Hinzu kommt, dass mit Fortschreiten in der Geschichte die Forscher und Forscherinnen immer spezialisierter arbeiten. Wir verfügen heute nicht mehr über das disziplinübergreifende, oft beinahe enzyklopädische Wissen der Autoren und Forscher früherer Zeiten und müssen eine reiche Literatur und mehrere Kollegen hinzuziehen, um die Aussagen der alten Texte in ihrer vollen Bandbreite zu erfassen. Die Texte verschiedener (sprachgeschichtlicher, kultureller und soziologi‐ scher) Epochen und Disziplinen (Linguistik, Kunst, Rhetorik) müssen daher zunächst gesichtet, interpretiert und homogenisiert werden, um sie in ihrer vollen Aussagekraft auswertbar zu machen (Auroux, 1980). Parallelen, Trans‐ missionen, aber auch Vergessensprozesse werden so zu Tage gebracht. Nur ein umfangreicher Korpus kann gewährleisten, dass auch zu bestimmten Zeiten wichtige und einflussreiche, heute aber vergessene Texte berücksichtigt werden (Fournier & Raby, 2008). Eine Auflistung mit den nach Fächern geordneten Texten des für die vorliegende Studie verwendeten Korpus, ergänzt durch kurze bibliographische Erläuterungen, findet sich am Ende des 2. Kapitels. 16 Einführung In dem etablierten Arbeitskorpus müssen die wichtigen Objekte und Ideen identifiziert und „neutralisiert“ werden, da selbst die zu Beginn des 20. Jahr‐ hunderts verfassten Texte oft noch stark von der Persönlichkeit, den Erfah‐ rungen, Erwartungen und dem linguistischen und kulturellen Hintergrund des jeweiligen Forschers geprägt sind. Es gilt also, diese Eigenheiten zu be‐ rücksichtigen, zu bewahren, und doch vergleichbar zu machen. Dabei gilt das Interesse nicht nur dem Wissen selbst, sondern auch den entwickelten Arbeits- und Denkstrategien, die mit bestimmten Kenntnisständen einhergehen: Die Rekonstruktion ermöglicht die Identifikation der Theorien und die Verbindung der unterschiedlichen Forschungsobjekte, die zu verschiedenen Zeitpunkten prosodisches Wissen darstellen (Auroux, 1980). Durch dieses Verfahren wird nicht nur die innere Logik der chronologischen Abläufe und Entwicklungen verständlich, sondern die Ideen und Konzepte können auch kontextualisiert und in den verschiedenen ästhetischen Richtungen situiert werden. Erst an dieser Stelle setzt der praktische Aspekt der Forschung ein. Eine Auswahl an Texten zu Kompositionstechniken und zur Verslehre, an Gedichten, musikalischen Kompositionen und Aufnahmen übernimmt dabei die Funktion einer „praktischen Überprüfung“ der identifizierten Konzepte. Dazu wurde in zwei Umfragen die Wahrnehmung prosodischer Phänomene anhand von aktuellen Aufnahmen rezitierter Gedichte, Slam-Versionen und verschiedener aktueller Musikrichtungen (Chanson und Rap) bei Personen getestet, deren Muttersprache Französisch ist oder für die das Französische eine mehr oder weniger gut bekannte Fremdsprache darstellt. Durch den Vergleich von theo‐ retischen Konzepten und praktischer Überprüfung ergibt sich ein fruchtbarer Austausch, der zum Ziel hat, die Geschichte der Prosodie des Französischen in einer großen Bandbreite darzustellen. Ich danke allen, die mir während der Arbeit an dieser Forschung Hilfe und Anregung vermittelt haben. Besonders ein Forschungsstipendium der Stiftung Fritz Thyssen in den Jahren 2020-2021 hat es mir erlaubt, meine Zeit ganz dieser aufwändigen Studie zu widmen. Mein Dank gilt den Mitgliedern des Forschungsinstituts Praxiling in Mont‐ pellier, in dessen Rahmen die Forschung durchgeführt werden konnte. Die verschiedenen Gespräche und Diskussionen haben diese Arbeit maßgeblich gefördert. Besonders möchte ich hier Agnès Steuckardt erwähnen, die dieses Projekt unterstützt und wissenschaftlich betreut hat. In einem Buch, in dem es um klingende Worte, Töne und Laute geht, wäre es schade, völlig auf akustische Beispiele zu verzichten. Um Lesern und Leserinnen Zugang zu einem Teil des reichen praktischen Materials zu geben, das in einer 17 Einführung Buchausgabe nur bedingt Platz hat, wurden daher eine digitale Beilage mit zusätzlichen Materialien, Bilder und Verweisen auf Aufnahmen erstellt. Sie ist zugänglich unter https: / / praxiling.cnrs.fr/ livres/ Die_Musik_der_Sprache.pdf oder www.meta.narr.de/ 9783823384939/ Die_Musik_der_Sprache.pdf. Im Text verweisen die durchnummerierten Beispiele („Bsp. 1“ …) auf ein sich in dieser Beilage befindliches Ton-, Bild- oder Textdokument. 18 Einführung 1 „Du point de vue de la réception linguistique, c’est indubitablement à travers l’intonation prosodique que l’on s’aperçoit de façon immédiate de la contiguïté innée entre langage et musique“, Menezes (1993: 81). 2 Zitiert in französischer Sprache nach Abromont & Montalembert (2001: 47). Vgl. auch Kapitel 4. 1 Prosodie und Musik: eine lange gemeinsame Geschichte Die Etymologie des Wortes Prosodie weist bereits auf seine interdisziplinäre Ausrichtung hin: Im Altgriechischen bezeichnete ôdê einen Gesang mit Instru‐ mentalbegleitung (Dodane, 2003: 28), prosôidia (griechisch) bezeichnet die melo‐ dische Akzentuierung des Altgriechischen und bezieht sich damit gleichermaßen auf Sprache und auf Musik. Die Musikwissenschaft spricht vom „Hinzusingen“ (Pöhlmann, 2016) und verweist damit ebenfalls auf beide Bereiche (je nach Auslegung ist der Text der Melodie hinzugefügt, oder umgekehrt). Der Begriff Intonation, der auf das lateinische Verb intonare zurückgeht, wurde laut Mario Rossi (1999) bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts ausschließlich verwendet, um vom Anstimmen einer musikalischen Melodie zu sprechen. Aufgrund einer falsch verstandenen etymologischen Verwandschaftsbeziehung mit dem Wort tonus wurde der Begriff intonation in Frankreich mit Beginn des 19. Jahrhunderts als Synonym für musicalité und für die mélodie der Stimme gebraucht. Damit bahnte sich eine Bedeutungsverschiebung an, die dazu geführt hat, dass in der Linguistik der Begriff Intonation heute als das Zusammenwirken von Akzent (Intensität) und Tonhöhenverlauf verstanden wird. 1993 erklärte Flo Menezes die prosodische Intonation zum deutlichsten Element, an dem sich die Verwandtschaft von Sprache und Musik unverzüglich einem jeden Hörenden erschließt. 1 Jahrhundertelang waren Rhythmus und Silbenlänge Hauptthema der Poeten, und die Beschäftigung mit der antiken Poesie hat zur Herausbildung eines raffinierten metrischen Systems geführt, in dem zahlreiche Kombinationen von langen und kurzen Silben katalogisiert sind. Die ursprünglich griechischen Namen dieser Metren, wie iambe ( ᴗ - ), trochée ( - ᴗ ), spondée ( - - ), tribraque ( ᴗ ᴗ ᴗ ), anapeste ( ᴗ ᴗ - ), dactyle ( - ᴗ ᴗ ), amphibraque ( ᴗ - ᴗ ), crétique ( ᴗ - ), péon ( - ᴗ ᴗ ᴗ ), choriambe ( - ᴗ ᴗ - ) und pyrrhique ( ᴗ ᴗ ᴗ ᴗ ) 2 werden heute noch in französischen musiktheoretischen Texten zur Bestimmung der Sequenzierung musikalischer Grundrhythmen verwendet. 3 Als Beispiel seien hier nur Dyckhoff & Westerhausen (2010) und Sicard & Menin-Sicard (2021) genannt. 4 Für Grammont (1912: 108) ist die gesamte Sprachkunde eine interdisziplinäre Angelegen‐ heit und betrifft Physik, Physiologie, Psychologie, Soziologie und Geschichte: („à la fisique parce qu’il se compose de sons, à la fisiologie parce que ces sons sont obtenus au moyen de mouvements musculaires et perçus par l’oreille, à la psicologie parce que la combinaison de ces mouvements et l’interprétation de ces sons procèdent de faits psichiques, à la sociologie parce que les sons émis sont un moyen de communication entre êtres appartenant à certains groupes, à l’istoire parce que les langues dépendent d’une série illimitée de faits passés.“) Die künstlerischen Fächer Musik und Metrik dagegen sind in dieser Aufzählung nicht erwähnt. Prosodie und Musik blicken auf eine lange gemeinsame Geschichte zurück. Diese kommt heute allerdings hauptsächlich zwischen den Zeilen zum Aus‐ druck, zum Beispiel durch die Wahl musikalischer Notationen zur Verdeutli‐ chung verschiedener Intonationsmuster. 1.1 Prosodie und stimmlicher Ausdruck Wer von Prosodie spricht, denkt an Melodie, an Rhythmus, an Tempo, Intona‐ tion, Akzentuierung und/ oder an Intensität. Diese Parameter sind untrennbar von (praktisch jeder) menschlichen vokalen Äußerung. „Betrachtet man die alltägliche Konversation, ist doch die Art und Weise wie eine Person etwas sagt - die Prosodie - oft ein scheinbar besserer Spiegel ihres Inneren, ihrer Einstellungen, Absichten und Emotionen, als der eigentliche Wortlaut selbst“, so Daniela Sammler (2014). Eine Stimme, der es an Variationen eines oder mehrerer der genannten Parameter mangelt, wird als ausdruckslos empfunden. Der Diskurs wirkt statisch und der Sprecher oder die Sprecherin machen einen unbeteiligten Eindruck, denn die Prosodie übermittelt „nicht nur wesentliche sprachliche Informationen, sondern ist auch Ausdruck der emotionalen und so‐ zialen Befindlichkeit des Sprechers oder der Sprecherin“ (Sammler, 2014). Heute existiert eine reiche Literaturauswahl 3 mit Erläuterungen und Übungen um zu lernen, ausdrucksvoll (und überzeugend) zu sprechen, das heißt, seine Stimme, und damit die prosodische Gestaltung des Gesagten, zu beherrschen und so den Eindruck, den der Hörer oder die Hörerin haben wird, zu beeinflussen. Diese Bemerkungen gelten für jegliche Art stimmlicher Äußerung wie freies Sprechen, Vorlesen, Rezitieren, Deklamieren oder Singen gleichermaßen. Damit ist die Prosodie ein von Grund auf interdisziplinäres Phänomen. 4 Diese Tatsache spiegelt sich deutlich in der Definition wider, die der Trésor de la langue française in‐ formatisé (TLFI) zu diesem Terminus gibt und in der drei Disziplinen angesprochen werden: Metrik oder Poesie (verstanden als die Regeln der Verskunst, das heißt, 20 1 Prosodie und Musik: eine lange gemeinsame Geschichte 5 Prosodie: „A. − Vx. Prononciation correcte et régulière des mots selon l’accent et la quantité des syllabes […]. B. − MÉTR. Ensemble des règles de versification qui concernent la quantité des voyelles, les faits accentuels et mélodiques, surtout en grec et en latin (d’apr. Mounin 1974). […] C. - LINGUISTIQUE 1. ’Étude de phénomènes variés étrangers à la double articulation mais inséparables du discours, comme la mélodie, l’intensité, la durée, etc.‘ (Mounin 1974). […] 2. [Pour certains linguistes amér. ou de l’école angl.] Segmentation de la chaîne parlée selon des traits relevant habituellement de la phonématique mais qui affectent des unités plus étendues que le son minimal (d’apr. Mounin 1974). D. − MUS. [Dans le chant, la déclamation musicale, les récitatifs] Ensemble des règles concernant les rapports de quantité, d’intensité, d’accentuation entre la musique et les paroles. […] “, https: / / www .cnrtl.fr/ definition/ prosodie, Zugriff 4.5.2021. 6 Vgl. Schwarz-Friesel (2008: 287): „Gefühle sind kognitiv vermittelt“ und „Denken besteht zu einem großen Teil aus emotional determinierten Bewertungen“. 7 „C’est la prosodie qui organise en quelque sorte la prononciation, & lui donne le mouvement, la grace, l’expression imitative & pittoresque“, Montmignon (1785: 3). Vokallängen, Akzentuierung und Intonation), Linguistik (in der französischen Schule verstanden als Studie der prosodischen Parameter wie Melodie, Intonation und Dauer) und Musik (im Rahmen der Wort- Tonbeziehung). 5 In allen Bereichen dient die Prosodie zum Ausdruck von linguistischen wie von extralinguistischen Elementen. Zur ersten Kategorie zählen Variationen, die typisch für eine bestimmte Sprache sind (wie der Wortakzent oder die Sprachmelodie im Allgemeinen, Versmuster, oder auch musikalische Floskeln, die für einen ganz bestimmten Stil typisch sind). Die zweite Kategorie um‐ fasst all die Stimmvariationen, die zum faktischen Inhalt der Äußerung einen affektiven oder emotionalen Gehalt hinzufügen, wie zum Beispiel der Sprach‐ duktus oder das spontan - bewusst oder unbewusst 6 - gewählte Tempo eines deklamatorischen oder musikalischen Vortrags. Der französische Grammatiker Jean-Baptiste Montmignon (1785) erwähnt im 18. Jahrhundert bereits diese beiden Dimensionen, wenn er Prosodie mit der Ordnung und Struktur des Diskurses ebenso in Verbindung setzt wie mit seinem Ausdrucksgehalt. 7 Daniela Sammler (2014) weist der Prosodie sogar drei sprachliche Funktionen zu: Die erste ist linguistisch und betrifft die semantische, syntaktische und lexikalische Struktur der Aussage. Die zweite ist „selbstexpressiv“ und von den Emotionen und Einstellungen der Person sowie von der Sprechsituation bestimmt. Die dritte schließlich ist pragmatisch und an bestimmte Sprechakte in einer Kom‐ munikationssituation gebunden (Kritik, Vorschlag, …). All die Parameter, die unter dem Oberbegriff Prosodie zusammengefasst werden, machen eine Information zu dem, was wir wahrnehmen: Die Prosodie erlaubt es uns, anhand des melodischen, intonatorischen, rhythmischen und akzentuellen Verlaufs eine mit der menschlichen Stimme zum Ausdruck ge‐ brachte Nachricht zu interpretieren, und dies aus inhaltlicher wie auch aus 21 1.1 Prosodie und stimmlicher Ausdruck 8 Vgl. Lacheret et al. (2008): „L’expression des émotions induites dès les premiers mots du texte, au contenu lexical émotionnellement marqué, se propage dans la production de cette phrase dite neutre, autrement dit, la phrase en question porte les traces prosodiques de l’émotion globale véhiculée dans le texte, sans que le lecteur en soit conscient“. 9 Für eine ausführliche Darstellung, siehe Dodane et al. (2021). 10 Zu Beginn des 16. Jahrhunderts wird häufig die Bezeichnung première rhétorique für Werke verwendet, die die Prosa behandeln, während die seconde rhétorique der Verslehre (Poetik) gewidmet ist. Vgl. Siouffi & Steuckardt (2021). 11 Dieser Ansatz ändert sich grundlegend erst mit den Möglichkeiten der ersten Tonauf‐ nahmen im 19. Jahrhundert, vor allem dem Phonautographen von Scott de Martinville und dem Phonographen von Thomas Alva Edison (beide 1877), die das Aufnehmen von Stimmen, Musik und Geräuschen erlaubten, und 1898 mit der Möglichkeit, diese Aufnahmen mittels des von Emile Berliner erfundenen Grammophons abzuspielen. Vgl. auch Kapitel 5. 12 „Une langue parlée soigneusement observée et policée, destinée aux discours publics“, Blanche-Benveniste (2010: 15). 13 „D: Dictes moy doncques que est ce que Grammaires? P: C’est vng art de bien parler, qui est de bien & correctement vser du langaige, soit en prosodie ou orthographe, cest a dire en vraye prolation ou escripture“, Ramus (1572: 3). Die Buchstaben D und P bezeichnen den die Fragen stellenden Schüler und den die Erklärung gebenden Lehrer. emotionaler Sicht. 8 Damit kann die Prosodie als das musikalische Element der (gesprochenen) Sprache bezeichnet werden, als die Musikalität, die einer jeden Sprache, einem jeden Sprecher und einer jeden Sprecherin eigen ist. Gemeinsamkeiten von Sprache und Gesang Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts taucht das Wort prosodie in französischen Grammatiken nur selten auf. 9 Es sind vielmehr die Poeten und besonders die Rhe‐ toriker, 10 die sich für die ästhetische und affektvolle vokale Realisierung der Sprache interessieren. Dabei handelt es sich zunächst einmal nicht um freies Sprechen, sondern um die vorbereitete - und damit in einem gewissen Sinne wiederholbare - Realisierung vorformulierter Sätze und Texte. 11 Claire Blanche-Benveniste (2010) bezeichnet das hier gemeinte Sprechniveau als eine sorgfältig kontrollierte und zivilisierte, für das öffentliche Reden bestimmte Sprache. 12 Lange Zeit bleibt die Prosodie in Frankreich eng mit der art de (bien) parler verbunden. Pierre de Ramée, genannt Ramus, ist der erste französische Grammatiker, der 1572 in seiner Grammaire das Wort prosodie verwendet. Dies geschieht in Gegenüberstellung zur Orthographie: Die Prosodie betrifft die Kunst des Spre‐ chens und die Orthographie diejenige des Schreibens. Beide zusammen bilden die Grammatik. 13 Rhythmus und Akzent sind lange Zeit die hauptsächlichen, die Theoretiker der verschiedenen Disziplinen interessierenden Themen. Dabei ist 22 1 Prosodie und Musik: eine lange gemeinsame Geschichte 14 Vgl. Fournier (2007). Für eine ausführliche Diskussion siehe Schweitzer (2020a). 15 „Les Accens étoient fort en usage dans la Langue Grecque, d’où ils ont passé à plusieurs autres Langues. Mais les François, à proprement parler, n’en ont pris que les noms & les formes. Car pour les usages qu’ils ont dans notre écriture, ils n’ont aucun rapport avec ceux qu’ils avoient chez les Grecs“, Boulliette (1760: 158-159). 16 Hinzu kommt der regelmäßig angeprangerte regionale Akzent. der Begriff rythme, Rhythmus, zunächst einmal gleichbedeutend mit quantité, Quantität, das heißt der Silbenlänge, wohingegen der Akzent eine hauptsächlich melodische Interpretation erfährt. Grammatiker wie Rhetoriker stehen hier in der antiken Tradition: Ein mit einem accent aigu gekennzeichneter Vokallaut wird in Analogie mit der in der griechischen Sprache üblichen melodischen Aufwärtsbewegung als aigu (hoch) bezeichnet, ein Vokal mit einem accent grave markiert infolge seiner melodischen Abwärtsbewegung im Griechischen einen Vokal, dessen Klang grave (tief) ist, und der accent circonflexe entspricht melodisch einer Kombination der beiden vorhergehenden Akzente und benötigt dazu eine Silbe mit einer gewissen Grundlänge oder quantité longue. Doch gegen Ende des 17. Jahrhunderts ist eine Umdeutung des Adjektivs aigu, hoch, spürbar, und der konkrete musikalische Anklang des Begriffspaares hoch-tief wird allmählich von einem Transfer in den Bereich des Vokaltimbres überlagert. Ein Vokal mit einem accent aigu (und besonders der Vokal e) wird nunmehr auch als fermé (geschlossen) und/ oder masculin (männlich) bezeichnet und derjenige, der einen accent grave trägt, als ouvert (offen). Diese Tendenz, die sich bei den Autoren der Grammaire générale et raisonnée (Arnauld & Lancelot, 1660) anbahnt, ist bei François-Séraphin Régnier-Desmarais (1706) und Claude Buffier (1709) deutlich spürbar. 14 Abbé Boulliette erklärt schließlich 1760 unmissverständlich, dass der französische Akzent nur in Namen und Schriftbild Ähnlichkeiten mit dem griechischen aufweise, keinesfalls aber in der Ausführung. 15 Doch melodisch oder klanglich, 16 der Akzent ist in jedem Fall als ein linguistisches, sprachtypisches Element betrachtet. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts bestätigt Jean-Léonor Le Gallois Grimarest die Verbindung von sprachlichem und musikalischem Ausdruck in seinem Traité du récitatif (1707). Der Terminus récitatif ist hier nicht mit der Gesangsgattung des Rezitativs zu verwechseln: Er ist direkt von dem Verb réciter (rezitieren) abgeleitet. Laut Grimarest bilden die Konversationssprache, das laute Lesen im privaten Kreis, das Sprechen in der Öffentlichkeit (Redner, Anwalt …), die Theaterdeklamation und der Gesang eine Art von Kontinuum. Stufenweise werden die ausdrucksstarken und expressiven Elemente wie das Volumen, die Betonung oder die Akzentuierung gesteigert, so dass der Gesang als letzte Stufe alle vorherigen Sprecharten enthält, aber durch die ihm eigenen zusätzlichen 23 1.1 Prosodie und stimmlicher Ausdruck 17 „Une espece de langue, dont les hommes sont convenus, pour se communiquer avec plus de plaisir leurs pensées, & leurs sentimens“, Grimarest (1707: 195-196). 18 Vgl. Le Cerf de la Viéville (2018 [1705]: 565): „Il écoutait déclamer la Champmeslé, retenait ses tons, puis leur donnait la grâce, l’harmonie et le degré de force qu’ils doivent avoir dans la bouche d’un Chanteur, pour convenir à la Musique à laquelle il les appropriait de cette manière“. 19 „L’étude d’un compositeur est celle de la déclamation, comme le dessein d’après nature est celle d’un peintre“, Grétry (1789: 457-458). 20 „C’est un langage plus touchant, plus énergique que le langage ordinaire“, Lacépède (1785: 24). 21 „La prononciation soutenue est une espèce de chant, ou plutôt de déclamation notée. Chaque mot y est prononcé avec une sorte de modulation; les longues y sont plus marquées; les brèves y sont articulées avec un soin qui leur donne plus de corps et d’énergie“, Landais (1835: 195). Ausdrucksfähigkeiten in besonderer Weise Gefühle übermittelt und hervorruft. Vokalmusik ist damit laut Grimarest „eine Art von Sprache“. 17 Der Komponist kann als ein traducteur, ein Übersetzer angesehen werden, der Gedanken und Gefühle mittels seiner Kunst auszudrücken versteht. Dass diese Bemerkung durchaus wörtlich zu nehmen ist, zeigt der bekannte Bericht, nach dem der Komponist Jean-Baptiste Lully seine Melodien genau nach der Sprechart der berühmten Schauspielerin Marie Desmares (1642-1698), genannt La Champmeslé, formte. 18 Noch am Ende des 18. Jahrhunderts bestätigt André-Ernest-Modeste Grétry (1789) die Effizienz eines derartigen Komposi‐ tionsverfahrens: Für ihn gehört das Studium der Deklamation zum unabding‐ baren Handwerkszeug des Komponisten. 19 Knapp achtzig Jahre nach Grimarest und etwa zur selben Zeit wie Grétry bezeichnet Etienne de Lacépède (1785: 32) die Musik als „la vraie langue des passions“, die wahre Sprache der Gefühle, eine Sprache, die mehr berührt als die gesprochenen Worte, 20 und dies, da sie die klingenden und musikalischen Laute - das heißt die Vokale - in den Vordergrund stellt. Der gesangliche Anteil der Sprache ist damit der Kontinuität der Klänge gleichgesetzt. Noch der Grammatiker Napoléon Landais betont zu Beginn des 19. Jahrhunderts, dass die prononciation soutenue, der gewählte und eingeübte Vortrag, eine „Art von Gesang“ ist, in dem Stimmmodulation und Silbenlänge notiert sind. 21 Mischformen Heute erinnert an diese Gemeinsamkeit die Technik des 1897 von Engelbert Humperdinck begrifflich eingeführten und besonders seit der Wiener Schule (zum Beispiel bei Arnold Schönberg und Alban Berg) entwickelten Sprechge‐ 24 1 Prosodie und Musik: eine lange gemeinsame Geschichte 22 Dass die Technik des Sprechgesangs bereits im Mittelalter zu den Möglichkeiten künst‐ lerischen Ausdrucks zählte, belegen die folgenden Textstellen aus der Art de dictier von Eustache Deschamps (1891 [1392]: 269-272): „Et est a sçavoir que nous avons deux musiques, dont l’une est artificiele et l’autre est naturele. L’artificiele […] est appellée artificiele de son art, car par ses vi. notes, qui sont appellées ut, ré, my, fa, sol, la, l’on puet aprandre a chanter, acorder, […] le plus rude homme du monde […].“ „L’autre musique est appellée naturele pour ce qu’elle ne puet estre aprinse a nul, se son propre couraige naturelement ne s’i applique, et est une musique de bouche en preferant paroules metrifiées.“ „Et aussi ces deux musique sont si consonans l’une avecques l’autre, que chascune puet bien estre appellée musique, pour la douceur tant du chant comme des paroles qui toutes sont prononcées et pointoyées par douçour de voix et ouverture de bouche; et est de ces deux ainsis comme un mariage en conjunction de science, par les chans qui sont plus anobliz et mieulx seans par la parole et faconde des diz qu’elle ne seroit seule de soy. Et semblablement les chançons natureles sont delectables et embellies par la melodie et les teneurs, trebles et contreteneurs du chant de la musique artificiele“. sangs,  22 bei der sich Sprech- und Gesangsstimme einander annähern. Dazu werden feste Parameter wie ein exakter Rhythmus oder eine genaue Tonhöhe für die Sprechstimme fixiert, die damit Allusionen an die Gesangsstimme erhält. Für den Vortragsstil der Grande Dame des französischen Chansons, Juliette Gréco (1927-2020), sind effektvoll eingesetzte Passagen im Sprechgesang typisch (Wicke, 2016). Bei einer im März 2021 durchgeführten Umfrage zum französi‐ schen Chanson, an der sich 35 Personen mit französischer Muttersprache und 53, für die das Französische nicht ihre Muttersprache darstellt, beteiligten, bezeich‐ neten die Befragten ihre Eindrücke der Stimme französischer Chansonniers wie folgt (Tabelle 1, vgl. auch Bsp. 1): Gesangs‐ stimme Beinahe ge‐ sungen Zwischen Singen und Sprechen Eher gespro‐ chen Georges Brassens („Le bricoleur“, 1956) 23 21 33 8 Léo Ferré („Les Cor‐ beaux“, 1964) 9 17 33 24 Maxime Le Forestier („San Francisco“, 1972) 65 12 2 5 Alain Bashung („Jamais d’autres“, 2002) 1 3 62 16 Tabelle 1: Eindrücke zur verwendeten Stimmart in französischen Chansons (Umfrage März 2021) 25 1.1 Prosodie und stimmlicher Ausdruck 23 Maxime, alias Bruno Le Forestier, geb. 1949, französischer Sänger. „San Francisco“ gehört zu seinen bekanntesten Chansons. 24 Alain Claude Bashung, 1947-2009, französischer Chanson- und Rocksänger und Schau‐ spieler. In den Chansons seines Albums L’imprudence von 2002, aus dem „Jamais d’autre“ stammt, ist die Verwendung der Sprechstimme am weitesten vorangetrieben. 25 Georges Brassens, 1921-1981, französischer Chansonsänger und Poet. Er veröffent‐ lichte über 200 Chansons. 26 Léo Ferré, 1916 Monaco - 1993 Italien, französischer Chansonsänger, Pianist, Dirigent und Poet, dabei engagierter Anarchist und Liberalist. 27 Vgl. dazu Chabot-Canet (2008: 124): „Ferré, par son utilisation de la voix, pose véritab‐ lement le problème de la frontière entre voix parlée et voix chantée“. Zur Verteilung der Gesangs- und Sprechstimme siehe auch das Kapitel 2.1. bei Chabot-Canet (2008). Ein signifikanter Unterschied der Wahrnehmung bei den muttersprachlichen und nicht-muttersprachlichen Personen ist nicht festzustellen. Neben klaren Tendenzen (gut 77 % bewerten die Stimme Maxime Le Forestiers 23 als Gesang und weitere 14 % als „beinahe gesungen“, während nur eine Person für Alain Bashung 24 von Gesang und drei Personen von „beinahe gesungen“ sprechen) ist auffällig, dass oftmals eine genaue Zuordnung schwierig erscheint, und dies unabhängig von der jeweiligen Muttersprache oder der Tatsache, dass Sänger und/ oder Chanson bekannt oder unbekannt sind. Georges Brassens 25 spricht nicht, aber wie weit seine Stimme sich dem Gesang nähert, scheint nicht eindeutig zu sein: 21 Personen bezeichnen seinen Chansonvortrag als „beinahe gesungen“ und 33 als „zwischen Singen und Sprechen“. Bei Léo Ferré 26 und Alain Bashung tendieren die Befragten zu einer von der Sprechstimme zumindest deutlich geprägten Ausdrucksweise: Für Ferré wählen insgesamt 69 % die Antwort „zwischen Singen und Sprechen“ und „eher gesprochen“, 27 bei Bashung sind es sogar 92 %. Die unterschiedlichen Eindrücke erklären sich ebenso durch verschiedene persönliche Wahrnehmungen wie durch unterschiedliche Erwartungen oder sogar Definitionen für eine Gesangsstimme. Wir haben hier einen weiteren Beweis für die fließenden Grenzen zwischen den Gattungen. 1.2 Das musikalische Ausdruckspotential der Sprechstimme Für die Wahrnehmung von Sprache und Musik mobilisiert das menschliche Gehirn ähnliche Erkennungs- und Verarbeitungsprozesse. Laut Emmanuel Bigand und Barbara Tillmann (2020) wird Sprache vom Embryo im Mutterleib wie eine musikalische Tonfolge wahrgenommen, und Musikhören bereitet seine zukünftigen sprachlichen Kompetenzen vor. Diese Aussagen beziehen 26 1 Prosodie und Musik: eine lange gemeinsame Geschichte 28 Vgl. Eberlein & Fricke (1992: 1), die mit Blick auf die musikalische Kadenz die „Kombinatorik der musikalischen Elemente“ in Analogie zur Sprache als Teil der „Grammatik der Musik“ bezeichnen. Der Begriff Musikalische Grammatik geht wohl auf den Bach-Biographen Johann Nikolaus Forkel (1788) zurück und bezeichnet das normative Regelwerk für die musikalischen Kompositionen. 29 Vgl. Bigand & Tillmann (2020: 89-90): „La similitude entre musique et langage est évidente, même si leur rôle est différent. En musique, les unités sonores (notes et accords) sont utilisées avec certaines régularités et sont combinées en cellules de notes rythmées, qui forment des unités plus larges, et celles-ci s’imbriquent elles-mêmes dans des séquences plus longues, que l’on appelle des thèmes ou, par analogie, des phrases musicales. Ces thèmes sont ensuite répétés, variés ou transformés au fil du discours musical par le compositeur ou l’improvisateur. L’organisation du langage est jusqu’à ce niveau structurel très similaire: les phonèmes sont combinés en unités de plus haut niveau qui forment des mots, et ces mots sont à leur tour combinés en phrases. Les phrases sont variées au sein du discours au bon vouloir de l’écrivain ou de l’orateur. Les séquences sonores issues de ces deux activités sont des chaînes de sons rythmés que le cerveau doit appréhender et segmenter en unités discrètes. La fonction de ces unités est marquée par des changements de dynamique et de hauteur, d’intensité ou de rythme. La filiation ontogénétique entre ces activités est manifeste: le langage se présente comme une musique à l’embryon et la musique prépare les différentes aptitudes qui seront ensuite récupérées par les traitements linguistiques“. 30 Die Auswertung der sogenannten N400-Komponente der menschlichen ereigniskorre‐ lierten Potentiale ermöglicht die Untersuchung von Vorgängen der Sprachverarbeitung. Sie zeigt beispielsweise an, dass ein Wort nicht oder nur mit Schwierigkeiten einem bestimmten Kontext (hier einem Satz oder musikalischen Ausschnitt) zugeordnet werden kann. Zur Wahrnehmung und zur Verarbeitung musikalischer Prozesse im menschlichen Gehirn vgl. McAdams (2015). sich zunächst einmal auf die strukturellen Ähnlichkeiten von Sprache und Musik, 28 denen dieselben Gliederungsbeziehungsweise Sequenzierungsmuster zugrunde liegen: Minimaleinheiten kombinieren sich in sprachlichen oder musikalischen Sequenzen, die dann durch Variationen von Dynamik, Tonhöhe, Intonation und/ oder Rhythmus modelliert werden. 29 Dies Phänomen spricht zu Beginn des 19. Jahrhunderts bereits der Musiktheoretiker Jérôme Joseph de Momigny (1806) an, für den die Musik aufgrund der Tatsache, dass sie ein ihr eigenes System besitzt, eine eigene Sprache darstellt. Neuere Untersuchungen haben gezeigt, dass Musik, ebenso wie Sprache, semantische Prozesse beeinflussen und die Bedeutung eines Wortes bestimmen kann. In einer Studie mit 122 Versuchspersonen konnten Stefan Koelsch et al. (2004) zeigen, dass die Reaktionen auf in gesprochenen Sätzen oder in Verbin‐ dung mit musikalischen Auszügen präsentierte Zielwörter weder signifikante Unterschiede im Verhalten noch in den Auswertungen der N400-Komponente des ereignisbezogenen Gehirnpotentials (ERP) aufzeigen. 30 27 1.2 Das musikalische Ausdruckspotential der Sprechstimme 31 Für einen Überblick über die neueren Studien zu Sprache, Kognition und Emotion, siehe Schwarz-Friesel (2008). 32 Eine andere Möglichkeit besteht darin, emotional kodierte Ausschnitte aus reellen Sprechsituationen zu analysieren. Diese Methode kann zwar als „authentischer“ an‐ gesehen werden, bietet aber den Nachteil, dass das sprachliche Material ständigen lexikalischen Wechseln unterworfen ist (Bänzinger et al., 2002). 33 Vgl. Le Faucheur (1676 [1657]: 88): „Ce que fait la Nature, c’est ce que la Prononciation doit imiter“. Doch nicht nur die Kognitionswissenschaften, sondern auch Psychologen und Linguisten interessieren sich vermehrt für das Studium der Kommunikation von Emotionen durch bestimmte Verhaltensmuster, Gesten, Stimm- und Sprach‐ modulationen, 31 von denen besonders die letzteren für diese Studie interessant sind. Kodifikation der Emotionen Häufig werden die durch Emotionen ausgelösten Stimm- und Sprechmodula‐ tionen anhand von Aufnahmen mit Schauspielern studiert. 32 Damit stehen Untersuchungen wie die Studie zur Prosodie de l’émotion von Tanja Bänzinger (Bänzinger et al., 2002) in direkter Weise in der alten Tradition der Rhetoriker. Schon die antiken Autoren formulieren Regeln, nach welchen die Ausdrucks‐ kraft der Stimme geformt werden kann. Laut Cicero ist eine wohlklingende Stimme das wichtigste Instrument des Redners. Die musikalische Metapher ist bereits angelegt, wenn Cicero erklärt: Jede Gemütsbewegung hat von Natur ihre eigentümlichen Mienen, Töne und Ge‐ bärden, und der ganze Körper des Menschen und alle seine Mienen und Stimmen ertönen, gleich den Saiten der Lyra, so, wie sie jedes Mal von der Gemütsstimmung berührt werden. Denn die Töne sind, wie die Saiten, gespannt, so dass sie jeder Berührung entsprechen: hohe und tiefe, schnelle und langsame, starke und schwache; zwischen allen diesen liegt in jeder Art noch ein Mittelton. Und noch mehrere Unterarten sind aus diesen entstanden: der sanfte und der rauhe Ton, der gepreßte und der gedehnte, der mit gehaltenem und der mit abgestoßenem Atem hervorgestoßene, der stumpfe und der kreischende, der durch Beugung der Stimme entweder verdünnte oder angeschwellte. (Cicero [1873]: 299) Die Stimme als Spiegel der Gemütsbewegung wird zu einem zentralen Thema in den an Schauspieler gerichteten französischen Texten der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Die Autoren sprechen ausführlich von den accents des passions, und jeder Emotion sind auf die Beobachtung realer Sprechsituationen zurückgehende, 33 bestimmte stimmliche Attribute zugeordnet. Die Stimme des 28 1 Prosodie und Musik: eine lange gemeinsame Geschichte 34 Siehe zu diesem Thema auch die umfangreiche Darstellung bei Salazar (1995). Traurigen ist sourde (dumpf, klanglos), languissante (schleppend), plaintive (klagend) und von häufigen Seufzern unterbrochen; diejenige des Zornigen ist aiguë (hoch, schrill), impétueuse (ungestüm) und violente (heftig) mit häufigen Atempausen. Freude macht die Stimme pleine (voll), gaie (munter) und coulante (fließend). Die Liste der kodifizierten Passionen kann problemlos fortgesetzt und die hier nach Le Gras (1671) und Michel Le Faucheur (1676) zitierten Attribute können mit Synonymen und ähnlichen Formulierungen anderer Autoren erweitert werden. 34 Die Analyse der vokalen Mittel, die zum ausdrucksvollen Vortrag einer bestimmten Textstelle eingesetzt werden, war früher wie heute ein Mittel, um die vokale Übermittlung von Emotionen zu stilisieren und zu kodieren. Wenn früher allein das Ohr zur Beschreibung der Stimmmodulation eingesetzt werden konnte, so existieren heute neben Aufnahme und anschließender Reproduktion zusätzliche technische Analysemittel. Die Ergebnisse der auf der Basis dieser Möglichkeiten entwickelten Methode zur Studie der emotionsmotivierten Pro‐ sodie von Bänzinger et al. (2002) können, so die Autoren, für die vokale Synthese genutzt werden können. Am Anfang steht eine akustische Analyse der segmen‐ tierten phonetischen Einheiten, gefolgt von der Berechnung der Mittelwerte der verschiedenen akustischen Parameter (die Grundfrequenzen f ° , Tondauern sowie verschiedene Verteilungs- und Proportionswerte). Zur Beschreibung der Intonation werden anschließend die Konturen der Kurven der Grundfrequenzen f ° und der Energie stilisiert. Die zur Studie der durch die Stimme ausgedrückten Emotion untersuchten Parameter entsprechen - wieder einmal - der „Musik der Sprache“, und der gewählte Ansatz erhält eine sinnvolle Begründung durch die Arbeiten im Bereich der Kognitionswissenschaft. Laut Brück et al. (2013: 265-266) scheint die Verarbeitung der emotionalen Prosodie im Gehirn einen doppelten Weg von der Signalaufnahme bis zur Verhaltenskontrolle einzuschlagen: Die explizite Sprachverarbeitung erfolgt in den frontalen Hirnregionen in drei Schritten, von denen jeder eine spezifische Aufmerksamkeitsfokussierung erfordert: 1. Die spezifischen akustischen Merkmale der emotionalen Prosodie werden herausgefiltert, 2. Die emotionalen Inhalte werden durch die Integration prosodischer Infor‐ mationen der analysierten Aussage und anderer Kommunikationskanäle sowie durch Abgleich mit Assoziationen kompatibler Gedächtnisinhalte identifiziert, 29 1.2 Das musikalische Ausdruckspotential der Sprechstimme 35 Vgl. Bigand & Tillmann (2020: 113-125). Zu durch Musik ausgelösten Emotionen siehe auch Scherer (2004). 3. Art und Ausprägung verschiedener, im analysierten Signal enthaltener Emotionen werden evaluiert. Gleichzeitig werden die impliziten Signale auf einem schnelleren Weg, der Induktion emotionaler Reaktionen, in den limbischen und paralimbischen zerebralen Strukturen verarbeitet. Eine forcierte, den expliziten Sprachinhalten gewidmete Aufmerksamkeit kann allerdings die limbischen, emotionalen Struk‐ turen hemmen „und somit zu einer Unterdrückung impliziter Verarbeitungs‐ prozesse führen“ (Brück et al., 2013: 266). In diesem Zusammenhang ist inter‐ essant, dass das limbische System, das die impliziten Signale der emotionalen Prosodie verarbeitet, in besonderer Weise durch Musik angeregt wird. Wie Emmanuel Bigand und Suzanne Filipic (2008) zeigen konnten, erfolgen die ko‐ gnitiven Reaktionen, die emotionellen Antworten auf musikalische Ereignisse entsprechen, normalerweise unverzüglich, von der ersten Hunderstelsekunde der Wahrnehmung an, und dies bei musikalisch gebildeten oder unbedarften Versuchspersonen sowie für bekannte oder unbekannte musikalische Werke gleichermaßen. 35 Die These, dass wir auf die Intonation der Sprechstimme wie auf eine fröhliche, traurige, melancholische oder anregende Melodie reagieren, und dass damit Melodien oder Intonationskurven stilisiert werden können, die automatisch und unbewusst bestimmten Emotionen zugeordnet werden, ist von Forschern wie Iván Fónagy untersucht worden. 1.3 Notation von Prosodie und Musik Stilisierte Intonationskurven wie die oben von Bänzinger et al. angesprochenen, werden heute in Form von Diagrammen dargestellt. Bei diesen Autoren sind die beiden Diagrammachsen den Parametern Tonhöhe (y-Achse) und zeitli‐ cher Verlauf (x-Achse) zugeordnet. Die einzelnen Punktwerte sind mit einer durchgängigen Linie derart verbunden, dass eine Kurve entsteht, die an eine melodische, in einer Partitur notierte melodische Linienführung erinnert (in der man sich ebenfalls die Notenköpfe durch eine Linie verbunden vorstellt), und in der die fünf Notenlinien vertikal den Tonhöhen entsprechen und horizontal den zeitlichen Verlauf wiedergeben. Dies ist nicht etwa ein ausschließlich auf moderne Gewohnheiten zurückgehender Eindruck eines Betrachters oder einer Betrachterin des 21. Jahrhunderts: Die Möglichkeiten der musikalischen Nota‐ tion faszinierten die französischen Sprachtheoretiker bereits seit Langem. Be‐ 30 1 Prosodie und Musik: eine lange gemeinsame Geschichte 36 Der G- oder Violinschlüssel zeigt die Note g 1 (heute ca. 392 Hertz) an, der F-Schlüssel die Note f (ca. 175 Hertz). Bis zum 19. Jahrhundert wird häufig auch der C-Schlüssel (c 1 = ca. 261,5 Hertz) verwendet. Diese Werte gelten allerdings nur für einen Kammerton von 440 Hertz und eine gleichstufige Stimmung. Kammertöne und Stimmung (und dadurch ebenfalls die Abstände der Töne im Rahmen der Tonleiter) haben jedoch im Verlauf der Jahrhunderte viele Wechsel erfahren, so dass je nach analysiertem Modell unterschiedliche Werte zur Grundlage genommen werden müssen. Zu den theoretischen Grundlagen vgl. Ratte (1991) und, für einen schnellen Überblick, Tremmel (2018). sonders in den Bereichen Intonation und Melodie bildete die musikalische Par‐ titur jahrhundertelang ein dankbares Medium für die Visualisierung von Höreindrücken, deren Vorteil zweifellos war, dass ein großer Teil der Bevölkerung (zumindest derjenige, der auch in der Lage war, Grammatiken und phonetische Texte zu lesen) sie beherrschte und zu entziffern verstand. Heutige Leser, Leserinnen, Forschern und Forscherinnen sind hier gegenüber den Zeitgenossen und Zeitgenossinnen der Autoren vergangener Jahrhunderte im Nachteil: Die jeweils gewählte Darstellung erschließt sich oft nur dann vollständig, wenn man die Notationsgewohnheiten der jeweiligen musikalischen Epoche und die dort vorherrschende Musikästhetik gut kennt. Verwendung einer traditionellen Partitur Zum Thema Intonation können zwei Notationsstränge unterschieden werden. Der Erste verwendet eine tatsächliche Partitur mit fünf Notenlinien, Noten mit Köpfen und Hälsen (oder notenähnlichen Figuren), sowie mit einem No‐ tenschlüssel. Letzterer ermöglicht durch die Angabe realer Bezugstöne die Bestimmung der jeweiligen Tonhöhe und der Stimmlage der sprechenden Person. 36 Rhythmische Details sind dabei, je nach Autor, mehr oder weniger relevant. Ein bekanntes Beispiel für diesen Typ bilden - für das Französische - die Transkriptionen von Iván Fónagy und Klara Magdics (1963). Tonhöhen und -dauer sind hier so in einem traditionellen Notensystem notiert, dass ein direkter melodischer Vergleich von Sprache und Vokalmusik möglich wird. Jeder Silbe entspricht eine genau festgelegte Note. Die gewählten Notenwerte (hauptsächlich Achtel und Sechzehntel) entsprechen nach dem heutigen Code einem schnellen Grundtempo. Dieses Tempo ist zu Beginn des Notenbeispiels durch eine Metronomangabe genau spezifiziert. Akzentzeichen ( > ) markieren die hervorgehobenen Silben (vgl. Bsp. 2). Die Notationsmethode von Félix Kahn übernimmt Elemente, wie sie die Komponisten zeitgenössischer Musik vorsehen, um die gewünschten Details so 31 1.3 Notation von Prosodie und Musik 37 Die üblicherweise verwendete diatonische Tonleiter besteht aus Ganz- und Halbtönen. 38 „Les notes inscrites sur la portée désignent des points de repère que l’analyse de l’enregistrement sur bande magnétique, faite à l’ouïe et à l’aide des tracés fournis par deux mélographes, a permis de dégager comme étant les plus proches de la fréquence réelle de la partie intense des voyelles de l’énoncé“, Kahn (1968). 39 Für eine Zusammenfassung, siehe Pagani-Naudet & Montagne (2021). genau wie möglich unter Beibehaltung der grundsätzlichen Elemente des tradi‐ tionellen Notensystems zu notieren (vgl. Bsp. 3). Kahn verwendet ein System mit fünf Linien, verzichtet aber auf einen Notenschlüssel. Jeder Silbe des zunächst in normaler Orthographie sowie in einer zweiten Reihe in Lautschrift notierten Textes sind ein oder, bei Bedarf, mehrere notenkopfähnliche schwarz ausgefüllte Kreise zugeordnet. Die unterschiedliche Größe dieser Kreise gibt eine minimale Längung (großer Kreis) oder Kürzung (kleiner Kreis) im Verhältnis zur mittleren Dauer eines Klanges (mittlerer Kreis, wie eine gewöhnliche Viertelnote) an. Ein + (höher) oder ein - (tiefer) Zeichen vor der Note dient zur Angabe der Tonhöhe in Vierteltongenauigkeit. 37 Die notierte Tonhöhe entspricht so genau wie möglich der reellen Frequenz des Vokals zum Zeitpunkt seiner höchsten Intensität. 38 Auch wenn die musikalischen Beispiele, die Louis Meigret in seiner Gram‐ matik von 1530 wählt (vgl. Bsp. 4), scheinbar eine analoge Lesart erlauben, so haben doch verschiedene neuere Studien gezeigt, dass sich die von ihm gewählte Notationsform nur auf der Basis der in der Renaissance üblichen Notation musikalischer Werke verstehen lässt. 39 Nur zwei Tonhöhen alternieren in jedem Beispiel. Die jeweils höhere Note wird heute unterschiedlich entweder als melodischer Akzent interpretiert (eine Lesart, die dem Notenbeispiel eine direkte visuelle Abbildungskraft zuspricht), oder aber, globaler, als Akzent, der durch verschiedene Parameter (Tonhöhe, -dauer und Intensität) realisiert werden kann. Die den späteren Taktstrichen entsprechenden Längsbalken in den Notenbeispielen Meigrets zeigen bei dem Grammatiker noch keine metrischen Betonungsmuster an, sondern teilen den unterlegten Text in gram‐ matikalische Einheiten (wie „Les Constantineopoliteins“, „en sa conservation“). Die verschiedenen gewählten Schlüssel bringen möglicherweise durch eine abweichende Grundtonhöhe einen emotionalen Hintergrund zum Ausdruck und haben damit eine semantische Funktion (Schweitzer, 2022). Wenn die kleinen (schnellen) Notenwerte bei Ivan Fónagy und Klara Magdics - und auch per Assoziation an die Viertelnote bei Félix Kahn - für heutige Leser und Leserinnen ein schnelles Tempo assoziieren, so ist dies bei dem (ein‐ zigen), von Meigret gewählten Wert, die der heutigen Halben Note ähnelnden Minima, nicht unbedingt der Fall. Die Renaissance verwendet als Basis die 32 1 Prosodie und Musik: eine lange gemeinsame Geschichte 40 Der unverändert beibehaltene Notenwert der Minima kann als Zeichen der im Vergleich mit anderen Sprachen wie dem Lateinischen relativ gleichförmigen französischen Quantität begriffen werden, ein Thema, das sowohl Grammatiker als auch Poeten und Rhetoriker der Zeit beschäftigte. Allerdings betonen alle Autoren ausnahmslos, dass die französische Sprache ebenso wie die Lateinische unterschiedliche Vokallängen aufweise, eine Eigenschaft, die die Autoren der Académie de poésie et de musique in besonderer Weise in ihren vers mesurés à l’antique zu nutzen versuchten. Zum Thema der vers mesurés à l’antique, vgl. die einschlägige Literatur wie Lote (1996), Vignes (2005) und His & Vignes (2010). 41 Eine moderne Ausgabe des Noten-Supplements mit zahlreichen Faksimile-Abbildungen liegt bei Garnier vor (Collarile & Maira, 2016). sogenannte notation blanche, das heißt weiße, nicht geschwärzte Notenköpfe (vgl. Bsp. 5). Von ca. 1485 bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts ist die Semibrevis der rhythmische Bezugswert. Wenn sie im Aussehen auch an unsere heutige Ganze Note erinnert, so entspricht das mit ihr verbundene Tempogefühl eher dem einer Viertelnote. Die Minima (die im Aussehen an die heutige Halbe Note erinnert) ist damit bereits ein schneller Notenwert (und vergleichbar mit der Achtelnote in moderner Notation). 40 Der Blick in die 42 den Amours von Pierre de Ronsard in den Ausgaben von 1552 und 1553 angefügten Vertonungen verschiedener Komponisten 41 zeigt, dass trotz der selbstverständlichen Verwen‐ dung verschiedener Notenwerte in allen Kompositionen die Minima oder Halbe Note als Basisnotenwert für das Gerüst gewählt ist. Semiminima (Viertel) entsprechen kurzen ornamentalen Melismen, und Semibrevis (Ganze Noten) Kadenzen und Zielnoten. Meigret verwendet hier denselben „Notationscode“ wie die Komponisten, die mit den Autoren der im Jahre 1570 gegründeten Académie de poésie et de musique zusammenarbeiteten (vgl. Bsp. 6). Jede musikalische Stilepoche bietet damit den Sprachtheoretikern eigene, im Großen und Ganzen vergleichbare, aber im Detail doch differenzierbare Möglichkeiten, prosodische Parameter mit den Mitteln der üblicherweise ver‐ wendeten Partitur zu visualisieren. Stilisierte Formen Eine zweite Gruppe von Abbildungen nutzt ebenfalls das musikalische System, verzichtet aber auf Notenzeichen. Dieses Verfahren haben in Frankreich die ersten Phonetiker des 19. Jahrhunderts entdeckt und genutzt, um entweder extrem genaue Angaben machen zu können (Rousselot, 1897; Roudet, 1899; vgl. Bsp. 7), oder aber, in einer freieren Auslegung (Linie anstelle von Noten‐ köpfen), um den kontinuierlichen Verlauf der Sprachmelodie zu akzentuieren (Marichelle, 1897, vgl. auch Bsp. 8). 33 1.3 Notation von Prosodie und Musik 42 „La phrase musicale monte et descend par degrés préalablement déterminés d’une ma‐ nière conventionnelle; la phrase parlée, partie d’une hauteur quelconque, parcourt d’un point à un autre une portion de l’échelle musicale, non par tons et par demi-tons, mais en suivant une progression qui paraît être le plus souvent régulièrement ascendante ou descendante“, Marichelle (1897: 118). 43 Zu weiteren Autoren, die diesen Notationstyp verwendet haben, siehe Pagani-Naudet et al. (2021). Im ersten Fall ist das traditionelle Notensystem an die Bedürfnisse der Pho‐ netiker angepasst. Bei Rousselot entspricht jede Linie des Systems (und damit auch jeder Zwischenraum) einem Halbton, und nicht etwa einer festgelegten Folge von Ganz- und Halbtönen. Diese Änderung ermöglicht sicherlich das Lesen des Schemas für musikalische Laien, sie hat aber auch in besonderer Weise Einfluss auf den entstehenden Verlauf der melodischen Linie, die nunmehr die realen akustischen Vorgänge direkt, ohne Umweg über die Musiktheorie (das heißt, zumindest die Kenntnis der diatonischen Tonleiter), abbildet. Bei Léonce Roudet wie auch bei Rousselot sind die experimental gewonnenen Tonhöhen pro Silbe oder Phonem mittels einer mehr oder weniger gerundeten Linie verbunden. Der optische Eindruck ist der einer kontinuierlichen Stimm‐ gebung, wobei die Tonhöhenentwicklung gewissermaßen stufenweise von einer Note zur nächsten erfolgt. Hector Marichelle dagegen verzichtet auf die Angabe einzelner Tonhöhen. Seine Transkription in Form von durchgängigen Kurven hat zum Ziel, auf die kontinuierlichen und glissandoartigen (gleitenden) Intonationsvariationen hinzuweisen, die laut Marichelle typisch für die Sprech‐ stimme sind, und damit ein Unterscheidungsmerkmal von Sprache und Gesang (Musik) bilden. 42 Trotz dieses nunmehr klar herausgearbeiteten Unterschieds von Sprache und Gesang bleibt Marichelle dem Notensystem treu: Es bildet weiterhin einen festen Bezugspunkt, und selbst der Notenschlüssel ist bei ihm vorhanden. 43 Der das graphische System in Ganz- und Halbtöne einteilende Notenschlüssel verschwindet in dem bekannten, von Pierre Delattre (1966) gewählten System, das trotz der Reduzierung von fünf auf vier Linien deutlich an die musikalische Partitur erinnert. Bei Delattre dienen die in dieses System gezeichneten Kurven der Schematisierung der zehn hauptsächlichen, im Französischen gebräuchli‐ chen Intonationsmuster (siehe Tabelle 2). Niveau 2 - 4+ Entscheidungsfrage Question Niveau 2 - 4 Integrierende Weiterweisung Continuation majeure Niveau 2 - 4_ Implikatur Implication 34 1 Prosodie und Musik: eine lange gemeinsame Geschichte 44 Zur Diskussion der Bedeutung und zeitnahen Weiterentwicklung von Delattres Modell, siehe Wunderli (1981). Niveau 2 - 3 Nicht-integrierende Weiterweisung Continuation mineure Niveau 4 - 4 Hohe Nichtverweisung Écho Niveau 1 - 1 Tiefe Nichtverweisung Parenthèse Niveau 2 - 1 Aussage Finalité Niveau 4 - 1 Ergänzungsfrage Interrogation Niveau 4 - 1 Befehl Commandement Niveau 4 - 1 Ausruf Exclamation Tabelle 2: Die 10 Basis-Intonationen des Französischen nach Pierre Delattre (1966). Deutsche Übersetzung nach Wunderli (1981) Ergänzungsfrage, Befehl und Ausruf durchschreiten dieselben Niveaustufen (4-1), haben aber verschieden ausgeprägte Melodieverläufe (vgl. Bsp. 9a). Die vier Linien entsprechen bei Delattre nicht mehr bestimmten Einzeltonhöhen, sondern Sprechniveaus. Sie bieten weiterhin einen Bezugspunkt und helfen beispielsweise, ähnliche Melodieformen, wie etwa die Aussage (abfallend von Niveau 2 auf Niveau 1) vom Ausruf (abfallend von Niveau 4 auf Niveau 1) zu unterscheiden (vgl. Bsp. 9b). Es handelt sich damit um eine „kombinierte Kontur-Niveau-Darstellung“ (Wunderli, 1981). Der visualisierte prosodische Parameter ist vor allem intonatorischer Natur. Die melodische Bewegung der von Delattre stilisierten Intonationsfloskeln ist auf den ersten Blick verständlich und interpretierbar. So entsprechen zum Beispiel in der Folge „Jean-Marie/ va manger? malgré tout? “ sowohl die erste als auch die zweite Einheit („Jean-Marie/ va manger? “) Aufwärtsbewegungen, während die dritte Einheit („malgré tout? “) auf einem hohen Niveau beharrt. Damit ist der melodische Verlauf annäherungsweise vorstellbar. Das genaue Studium zeigt anhand der Formen und angegebenen Sprechniveaus, dass es sich zunächst um eine continuation mineure oder nicht-integrierende Weiterweisung (2-3) handelt, die im Text durch den Slash ( / ) verdeutlicht ist. Das zweite und dritte Element sind durch eine continuation majeure oder integrierende Weiterweisung (2-4) verbunden und die Folge schließt mit einer hohen Nicht‐ verweisung (écho, 4-4). 44 Wenn die Diagramme und Schaubilder, wie sie die gängigen Programme wie Praat, Prosogramme, Winpitch oder ToBI zur Analyse von Grundfrequenz 35 1.3 Notation von Prosodie und Musik 45 Eine genauere Analyse ist in Vorbereitung (C. Schweitzer, Des différents systèmes d’utilisation de la notation musicale pour visualiser l’intonation du français: Entre tradition et modernité). und Intonation generieren, auch deutlich an Abstraktion gewonnen haben, so bleibt doch die Assoziation einer Tonfolge, wie sie in einer musikalischen Partitur dargestellt wird, lebendig. 45 Sie kommt übrigens automatisch zum Einsatz, wenn die generierten Skripte, wie von Jörg Mayer (2017) gefordert, mit dem Höreindruck verglichen werden („Stimmt der Höreindruck (steigender/ fal‐ lender/ gleichbleibender Stimmton) mit der ermittelten F0-Kontur überein? “ Mayer, 2017: 93). 36 1 Prosodie und Musik: eine lange gemeinsame Geschichte 46 „Les différents styles musicaux reposent sur des manipulations de structures musicales, parfois complexes, que le cerveau traite rapidement. Lorsque ces manipulations sont nouvelles, ce traitement sollicite des ressources supplémentaires et, lorsque la demande est fréquente, cela relance la neuroplasticité cérébrale. En parcourant la diversité des styles musicaux, et en approfondissant leurs ramifications internes, l’auditeur découvre des nouvelles pages d’expression, ce qui stimule ses réseaux neuronaux. La musique n’a pas été pensée par les compositeurs pour être un outil de stimulation cognitive, mais elle le devient naturellement“, Bigand & Tillmann (2020: 115). 2 Sprache und Musik: Ästhetische Wandel im Laufe der Jahrhunderte Wenn wir heute die Musik verschiedener Jahrhunderte hören oder praktizieren, so entdecken wir, dass jede Epoche und jeder Stil eine eigene Ausdrucksweise haben, von denen jede unser neuronales Netz auf eine andere Art angeregt. Die Musik ist von den Komponisten nicht als eine kognitive Stimulation konzipiert worden, aber sie wird ganz natürlich zu einer solchen, da sie Gefühle mobilisiert, so Emmanuel Bigand und Barbara Tillmann (2020). 46 Wir kennen Musikgattungen, in denen Rhythmus und Akzentuation wichtige Bezugspunkte bilden, zum Beispiel durch die Hierarchie der Taktzeiten in Barock und Klassik, aber auch im modernen Rap. Andere Gattungen wie das romantische Lied sind weitaus mehr von Melodie und Phrasierung bestimmt oder spielen vorrangig mit stimmlichen Klangfarben oder der Nähe und den möglichen gleitenden Übergängen zwischen Sprech- und Gesangsstimme. Dies ist beispielsweise der Fall in den französischen Chansons des 20. und 21. Jahr‐ hunderts oder im Sprechgesang. Doch selbst wenn in einer Kompositionsform bestimmte prosodische Parameter im Vordergrund stehen, bleiben die Übrigen immer präsent: Sie treten lediglich in den Hintergrund. Man kann somit von verschiedenen Modellen sprechen, nach denen die musikalischen Sprachpara‐ meter in Musik umgewandelt werden. Die Zusammenhänge dieser praktischen und bis heute zugänglichen prosodischen Spuren in musikalischen Werken zeigen sich auch in der Denkweise der Sprachforscher. Die folgende chronologische und auf den musikalischen Epochen in Frank‐ reich beruhende Darstellung der Entwicklung ästhetischen Denkens und Han‐ delns in Bezug auf die Verbindungen von Sprache und Musik soll helfen, die Ausführungen der nächsten Kapitel besser zu verstehen. Dabei werden nur die musikalischen Gattungen berücksichtigt, in denen die Wort-Ton-Beziehung im Französischen eine deutliche Rolle spielt. 47 Laut dem Eintrag „esthétique“ des Dictionnaire de l’Académie (2019) wurde der Begriff im 18. Jahrhundert vom lateinischen Begriff aesthetica, „science du beau“ und vom griechischen aistêtikos, „qui a la faculté de sentir; qui peut être perçu par les sens“, abgeleitet. 48 Noch Jean-François Thurot ([1837]: 73) lobt die immer musikalisch bestimmte Vortrags‐ weise der Antike: „Chez les anciens, tous les beaux-arts tenaient immédiatement à 2.1 Der Begriff „Ästhetik“ Ästhetik wird hier in einem weiten, auf Alexander Gottlieb Baumgarten (1714-1762) und seine Schrift Aesthetica (1750-1758) zurückgehenden Sinn ver‐ standen: 47 Die von Baumgarten begründete Wissenschaft betrifft die sinnliche Erkenntnis, die Lehre vom Schönen und die Lehre von der Kunst. Schönheit kann gefühlt, erkannt, gedacht, verstanden und erklärt werden. Angeborene Fähigkeiten können durch Schulung der Sinne und des Gedächtnisses gefördert und stimuliert werden, so dass sich bestimmte Erwartungshaltungen (und somit die Grundlage eines bestimmten stilistischen Geschmacks) entwickeln können. Damit greift Baumgarten zwei antike Traditionen auf. Die Platoniker behandeln das „Schöne“ im Kontext der Metaphysik. Die Liebe zum Lebendig- und zum Sittlich-Schönen wird zum Antrieb der Suche einer Idee des Schönen und damit der Liebe zur Weisheit. Dabei spielen sowohl die Kom‐ position des Kunstwerkes als auch seine Präsentation eine Rolle: Kunst dient einer sinnlichen Darstellung der Wahrheit. Klare Linien und Formen werden nicht nur als „immer an und für sich ihrer Natur nach schön“ betrachtet, sondern sie „führen gewisse ganz eigentümliche Lustgefühle mit sich“ (Platon, [1869]: 51). Mathematik ist ein bedeutendes Kriterium zur Bestimmung des Schönen; Symmetrie, Rhythmus, Geometrie und Proportion werden zu bestimmbaren und erlernbaren Parametern: „Maß und Ebenmaß“ ist laut Platon ([1869]: 64) „doch wohl überall das, woraus Schönheit und alles Edle entsteht“. Die Aristoteliker entwickeln den Kunstbegriff in den Disziplinen Poetik und Rhetorik, den Wissenschaften, der Komposition (oder Produktion) und des Schaffens (epistéme poietiké). Kunst hat bei Aristoteles eine besondere Verbin‐ dung mit der Natur: Sie ist die konkrete Vorlage des Schönen. Zur Nachahmung bedienen sich die verschiedenen Künste, Dichtung und Musik, „bestimmter Mittel […] und zwar verwenden sie diese Mittel teils einzeln, teils zugleich“ (Aristoteles, [2012]: 1447a). Weiterhin führt Aristoteles ([2012]: 1447b) aus: „Es gibt nun Künste, die alle die oben genannten Mittel verwenden, ich meine den Rhythmus, die Melodie und den Vers“. Prosa, Poesie, Musik und Tanz sind die von dieser Aussage betroffenen Künste, wobei die Dichtung aufgrund ihrer Nähe zum Wort und zur Idee den höchsten Rang einnimmt. 48 Rhetorik hat das 38 2 Sprache und Musik: Ästhetische Wandel im Laufe der Jahrhunderte celui de la parole: la musique apprenait à l’orateur à conduire sa voix dans un débit harmonieux et mesuré, à ne lui donner jamais que des inflexions justes et dont la durée était réglée avec la plus grande précision“. 49 Ancius Manlius Severinus Boethius, in Frankreich Boèce genannt, ca. 480-524, römi‐ scher Politiker und Philosoph. Seine Institutione musica gehört zu den ersten, am Ende des 15. Jahrhunderts in Venedig gedruckten, musiktheoretischen Schriften. Schöne zwar nicht zum eigentlichen Zweck (dieser liegt vielmehr in der Qualität eines argumentierten Vortrags auf der Grundlage seiner Überzeugungskraft), ihre Techniken können aber nach denselben Mustern bewertet werden wie die Kunstsprache. Kirchenväter wie Augustinus fragen sich einige Jahrhunderte später nach dem Recht der Sinnesfreuden an schönen Dingen. Das Schöne der Klänge, der Farben oder der Formen darf keinen eigenen Wert beanspruchen, sondern alle Schönheit muss als auf Gott hinweisend gewertet werden (Konfessionen, X, 33 und 34). Sie kann mit den Qualitäten Gleichheit, Entsprechung, Symmetrie und Harmonie beschrieben werden (Augustinus, De musica, 387-391). Musica est scientia bene modulandi, dieser auf Augustinus zurückgeführte Slogan durch‐ zieht das gesamte Mittelalter: Musik ist eine vom Verstand geführte Operation (vgl. Favier, 2017: 46). Boethius, 49 der als einer der Ersten in seinem musikalischen Lehrwerk De is‐ titutione musica (ca. 500) die Aufteilung der sieben freien Künste in Trivium und Quadrivium definierte, übernimmt die Idee, Schönheit mit mathematischer Ord‐ nung gleichzusetzen. Der gelehrte Musiker (musicus) steht in Opposition zum Dilettanten, der keine theoretischen Kenntnisse besitzt, sondern ausschließlich zu seinem Vergnügen auf seinem Musikinstrument spielt. Die Musik, die mit Arithmetik, Geometrie und Astronomie das Quadrivium der mathematisch-naturwissenschaftlichen Disziplinen bildet, wird als „höhere Rechenkunst“ angesehen (Keil, 2014: 59), da sie sich mit Proportionen beschäf‐ tigt: „Musik war gewissermaßen klingende Bruchrechnung und insofern auf ähnliche Weise höhere Arithmetik, wie die Astronomie als höhere Geometrie angesehen wurde“ (Keil, 2014: 60). Augustinus und Boethius sind die wichtigsten Theoretiker für die Über‐ mittlung antiken Musikwissens während des gesamten Mittelalters bis ins 16. Jahrhundert: Beide wurden immer wieder gelesen, kopiert und kommentiert. 39 2.1 Der Begriff „Ästhetik“ 50 Unter Messe versteht man eine Kompositionsgattung auf der Grundlage der katholi‐ schen Liturgie. Hauptbestandteile sind Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus und Agnus Dei. 51 Die Motette ist eine begleitete oder unbegleitete Vokalkomposition auf der Basis eines lateinischen oder volkssprachlichen Textes. Sie entstand im Mittelalter (12./ 13. Jahr‐ hundert). 52 Die Chanson ist eine der Hauptformen der französischen Vokalmusik des Spätmit‐ telalters und der Renaissance. Sie bildet das weltliche Gegenstück der Motette. Im Unterschied zum modernen Chanson handelt es sich um eine mehrstimmige Form. Im Text sind gemäß dem Eintrag im Duden (www.duden.de, Zugriff 21.7.2021) die beiden musikalischen Formen durch die Verwendung des weiblichen Artikels für die Chanson der Renaissance und des sächlichen Artikels für Chansons des 20. und 21. Jahrhunderts unterschieden. 53 „Mais la rime de notre poète sera volontaire, non forcée: reçue, non appelée; propre, non aliène; naturelle, non adoptive: bref, elle sera telle, que le vers tombant en icelle ne 2.2 Die Renaissance: Rückkehr zur Antike Die „vers mesurés à l’antique“ In die gegen 1420 beginnende, musikalische Epoche der Renaissance fallen nicht nur die Veröffentlichung der ersten Grammatiken für die französische Sprache, sondern auch die Dichtungen der Autoren der Pléiade und die von Jean-Antoine Baïf (1532-1589) ins Leben gerufene Académie de poésie et de musique. Baïf initiierte, vor allem in Zusammenarbeit mit dem Komponisten Claude Le Jeune (1525/ 1530-1600), einen fruchtbaren Austausch von Poeten und Musikern. Die Beziehung von Poesie und Musik erhält eine neue Bedeutung durch die Antikenbegeisterung, die diese Epoche so maßgeblich charakterisiert, dass sogar ihr Name, Renaissance, auf diese Leidenschaft zurückzuführen ist. Der Norden Frankreichs und das heutige Belgien entwickeln sich in der Renaissance zum wichtigsten europäischen Musikzentrum. Die musikalischen Hauptgattungen, Messe 50 , Motette 51 und Chanson 52 , sind vokal. Das neuer‐ wachte Bewusstsein der französischen Dichter für ihre eigene Sprache, das sich beispielsweise in der Abfassung der ersten Grammatiken zeigt, führt zu einer intensiven Beschäftigung mit dem Thema der Verbindung von Poesie und Musik. Dabei sind besonders die vers mesurés à l’antique (siehe unten) von Bedeutung. Der Terminus mesuré verweist auf Ordnung und Regelmäßigkeit. Das Maß für den französischen Vers wird die Anzahl der Silben pro Zeile, im Gegensatz zur griechischen Metrik, in der die Quantität, das heißt die Länge der Silben, die Struktur des Versmaßes bestimmt. Darüber hinaus bildet der Reim ein klangtragendes und farbiges Element und gibt dem französischen Vers, so Joachim Du Bellay (1549), auf natürliche Weise einen musikalischen Charakter. 53 40 2 Sprache und Musik: Ästhetische Wandel im Laufe der Jahrhunderte contentera moins l’oreille, qu’une bien harmonieuse musique tombante en un bon et parfait accord“, Du Bellay (1967 [1549]: 273). Vgl. auch Kapitel 4. 54 „Telz vers sont merueilleusement propres pour la musique, la lyre, & autres instrumens & pour ce quand tu les appelleras lyriques, tu ne leur feras point de tort, tantost les allongeant, tantost les accoursissant & apres vn gr-d vers, vn petit, ou deux petitz, au choix de ton oreille, gardant tousiours le plus que pouras vne bonne cadence de vers propres (comme ie t’ay dict au parauant) pour la Musique & autres instrumens“, Ronsard (1565: 11v). 55 Das zu Beginn eines Musikstückes hinter dem Notenschlüssel stehende Taktzeichen besteht aus zwei Zahlen. Die obere zeigt die Anzahl der Zählzeiten pro Takt, die untere legt fest, welcher Notenwert einer Zählzeit entspricht. Taktzeichen wie C (alla semi‐ breve) oder das Zeichen für den Allabreve-Takt sind Spuren der alten Mensuralnotation. In der Mensuralnotation wird der Zeitwert der Noten durch die Proportion bestimmt: Das Mensurzeichen zeigt an, wie eine bestimmte Zeiteinheit aufgeteilt werden soll und gegebenenfalls, falls ein neuer Abschnitt der Komposition mit einem neuen Mensurzeichen versehen ist, in welchem Verhältnis die beiden Abschnitte zueinander stehen. Der Reim bildet in der Struktur der Poesie einen Fixpunkt. „Die ‚poetische Zeit‘ des französischen Verses ist bemessen, mesuré, bis zum Auftreten des Reimes“, so Myriam Suzanne Rion (2001: 82). Die Autorin zitiert dazu einen Passus aus dem Abrégé (1565) von Pierre de Ronsard, in dem der Autor fordert, „lange und kurze Verse in verschiedenen Variationen (wie er vorschlägt: lang - kurz, lang - kurz - kurz) miteinander zu kombinieren und diesem Phänomen besonderen lyrischen Charakter zuspricht“ 54 (2001: 83). Rion unterstreicht den musikalischen Denkansatz Ronsards folgendermaßen: „Er hebt auf eine Qualität des Rhythmischen, der rhythmischen Variation ab, wie sie schon in seiner Forderung nach dem regelmäßigen Abwechseln männlicher und weiblicher Verschlüsse [i. e. Reime] durchscheint. Das prägt seine Vorstellung von musi‐ kalischer Qualität“ (idem). Musiktheorie und musikalische Praxis Die Varietas (Vielfalt oder Abwechslung) ist auch ein der Musik der Renais‐ sance zugrundeliegendes ästhetisches Prinzip. Zahlensymbolik und melodische, voneinander unabhängige Einzelstimmen, die zu weitgespannten Sätzen ver‐ schmelzen, sind typisch für die mehrstimmigen Vokalkompositionen, wie wir sie von Johannes Ockeghem (1430-1495) oder Josquin Desprez (1440-1521) kennen (vgl. Bsp. 10). Im Gegensatz zu unserem heutigen Notensystem haben die Noten in der Re‐ naissance keine absoluten Werte: Das sogenannte Mensurzeichen (vgl. Bsp. 11), das an der Stelle des heutigen Taktzeichens 55 steht, bestimmt das Verhältnis 41 2.2 Die Renaissance: Rückkehr zur Antike 56 Unter Klausel versteht man feste Schlussformeln, das heißt Tonfolgen, die in den einzelnen Stimmen das Ende eines Abschnitts markieren. 57 Herausragender Komponist dieser Gattung ist Clément Janequin (1480-1560), dessen Chansons, und besonders die Sammlung Les Chansons de la Guerre, la Chasse, le chant des oyseaux, l’alouette, le rossignol von 1537, für ihre musikalische Lautmalerei berühmt waren. Vgl. Bsp. 12. 58 Ein Beispiel findet sich in den bereits erwähnten mehrstimmigen Vertonungen Ron‐ sardscher Sonette, die der Ausgabe der Amours von 1552 beigefügt sind. Vgl. Collarile & Maira (2016). der Notenwerte untereinander. In der Komposition können die verschiedenen Abschnitte und sogar unterschiedliche Stimmen in einem einzigen Abschnitt mit unterschiedlichen Mensuren notiert sein. Einziges verbindendes Element ist in diesem Fall der Tactus, ein gemeinsamer Grundschlag. Trotz Mehrstimmigkeit ist der Höreindruck linear. Strukturbildendes Element ist neben der Klausel 56 vor allem die gemeinsame Atmung der Sänger. Eine wichtige Gattung bildet im 15. und 16. Jahrhundert die Chanson, ein mehrstimmiges, weltliches, in französischer Sprache gesungenes „Lied“. 57 Besonders in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zeichnen sich viele Chansons durch eine syllabische Textverteilung und einen durchgehend ho‐ morhythmischen Satz aus: Alle Stimmen singen zur gleichen Zeit denselben Text. Dies Verfahren ist nicht nur der Textverständlichkeit, sondern auch der neuen Verbindung von Text und Musik zuträglich. Der Theoretiker Pontus de Tyard (1555) unterstreicht ebenso wie Pierre de Ronsard das (neu-) platonische Ideal einer engen und klar geregelten Verbindung von Wort und Musik. Die Präzision der Verse Ronsards, die, wie oben geschildert, metrische Regeln und Varietas miteinander in Einklang bringen, erleichtert die Vertonung des Textes mit einer Musik, die durch die Regelmäßigkeit des Phrasenbaus und durch die Schlichtheit der Satzstruktur die als wichtig erachteten prosodischen Elemente perfekt widerspiegelt. 58 Quantität und Akzent Die gute, richtige und natürliche Ordnung der Dinge ist ein wichtiges Thema für die Autoren der Renaissance. Die Rhetorik von Louis de Lesclache (1648) beispielsweise ist laut Michel Le Guern (Lesclache, 2012 [1648]) von einer wahren Ordnungsbesessenheit durchzogen. Diese zeigt sich im dem folgenden, dem 9. Kapitel des 2. Teils entnommenen Zitat: „Alle Dinge haben ihre Ordnung. 42 2 Sprache und Musik: Ästhetische Wandel im Laufe der Jahrhunderte 59 „D’un bout à l’autre, La Rhétorique est traversée par l’obsession de l’ordre, que le chapitre IX de la seconde partie résumé ainsi: ’Les choses sont par ordre, les actions se font par ordre. Il est donc très évident que l’ordre nous donne une parfaite connaissance de toutes choses’“, Le Guern, Vorwort zur Ausgabe der Rhétorique (Lesclache, 2012 [1648]: 9). Der von Guern zitierte Abschnitt (Kapitel 9) befindet sich in der Neuausgabe auch auf Seite 157. 60 Siehe zum Beispiel Ramus (1562: 35): „Combien cę fę lui foet unę çozę naturelę, com‘ el’ etoet aus ansien‘ Gres e Latins“. Alle Handlungen werden in der richtigen Reihenfolge ausgeführt. Es ist offen‐ sichtlich, dass die Ordnung uns das perfekte Wissen aller Dinge gibt.“ 59 Die Quantität, das heißt die Länge der Silben, ist einer dieser von der Natur gegebenen, die Welt ordnenden und Zugang zur wahren Erkenntnis der Dinge ermöglichenden Faktoren. Sie stellt ein die Disziplinen verbindendes Element dar. Neben Poeten und Musikern beschäftigen sich auch die Grammatiker mit diesem Thema. Wenn der französische Vers auf der Anzahl der Silben beruht, so heißt dies nicht, dass die französische Sprache in den Augen der Theoretiker nicht über unterschiedliche Quantitäten verfüge. 60 Oft wird Silbenlänge mit Akzentuierung gleichgesetzt - eine Intuition, die zwar nicht grundsätzlich falsch, aber doch bei Weitem nicht vollständig ist (vgl. Kapitel 6). Der Akzent, den Myriam Suzanne Rion in der Poesie Ronsards durch die Häufigkeit der Reime identifiziert hat (siehe oben), entsteht in der Vokalmusik der Renaissance durch die den gleichmäßigen Melodiefluss unterbrechenden langen Noten oder durch die Verwendung bestimmter, das Phrasenende ankündigender Formeln (der Klauseln). In der Renaissance hat die Verbindung von Sprache und Musik eine theore‐ tisch-philosophische Grundlage. Sie ist von der Antikenrezeption der Autoren bestimmt und manifestiert sich vorwiegend in den Parametern Rhythmus (Quantität) und Klangqualität. Poesie, Musik und Philosophie vereinen sich in dem gemeinsamen Ziel der Erkenntnis, das heißt insbesondere der Kenntnis des Universums und der Erhebung der Seele zu einem Zustand vollkommener Ruhe (His & Vignes, 2010: 255). 2.3 Der französische Barock: Eine musikalische Deklamation Musik und Deklamation Die für die Renaissance so typische Linearität der Komposition steht im Zentrum der großen Umwälzungen, die das Barockzeitalter mit sich bringt. Die moderne 43 2.3 Der französische Barock: Eine musikalische Deklamation 61 In Florenz entstehen in den sogenannten Camerate fiorentine, privaten Akademie von Kunstliebhabern und Philosophen, am Ende des 16. Jahrhunderts die ersten monodi‐ schen Opern. Mit der Annahme, dass die antiken Tragödien nicht rezitiert, sondern in einer Art begleiteten Sprechgesangs vorgetragen worden seien, entwickelte sich ein Ideal hoher Textverständlichkeit und großer Ausdruckskraft, das nur im Sologesang verwirklicht werden konnte. Die Sänger werden dabei vom basso continuo begleitet. Die ersten Opernversuche von Jacopo Peri und Giulio Caccini wurden von Claudio Monteverdi aufgegriffen und entscheidend weiterentwickelt. Mit Orfeo entstand 1607 die erste Oper im heutigen Sinne. 62 Vgl. William Christie im Booklet zur Aufnahme von Médée von Marc-Antoine Char‐ pentier (Harmonia Mundi, 1984: 14): „La musicalité de la ligne vocale dans la musique baroque française ne réside pas dans une mélodie ravissante mais plutôt dans une succession sonore de syllabes prononcées avec élégance“. Takthierarchie mit konsequenter Betonung der ersten Zählzeit jedes Taktes (und entsprechenden Nebenbetonungen) entwickelt sich, und in der Vokalmusik ist eine Tendenz zu monodischen Kompositionen, das heißt zum Sologesang, spürbar. Im Unterschied zu Italien verläuft diese Entwicklung in Frankreich nicht über die Gattung der Oper. 61 Dieses neue Kompositionsgenre konnte hier nur schwer Fuß fassen. Der Übergang zu einer neuen Ästhetik vollzieht sich in kleinen Formen wie die der (von der Theorie der musique mesurée à l’antique beeinflussten) Chanson und des Air de Cour. Neben den mehrstim‐ migen, homorhythmischen Kompositionsformen (vgl. Bsp. 13) entsteht eine neue Gattung, die ebenfalls in Strophenform verfasst, aber für eine Solostimme mit Lautenbegleitung komponiert ist. Diese Form ermöglicht eine sorgfältige Textbehandlung und einen expressiven Gesang, kurz gesagt, eine wahrhafte Deklamation des Textes. Die Beherrschung der Deklamationskunst wird denn auch unabdingbar für jeden barocken Komponisten und Sänger. 62 Rhythmisch gesehen entspricht die lange Silbe einer langen Note. Die betonte Silbe des Taktes befindet sich zudem normalerweise auf dem ersten, betonten Taktschlag. Takthierarchie und ein neues, harmonisches Denken geben der Musik nunmehr eine zusätzliche, vertikale Ausrichtung. Darüber hinaus spie‐ geln melodische Konturen und Phrasierung des Gesangs diejenigen der Rede wider (vgl. Schweitzer, 2018: 332-334). Die Musik ist der Poesie untergeordnet, und gemäß diesem Ideal muss das Klangmaterial der gesprochenen Sprache genau in präzise musikalische Rhythmen, Intervalle, Figuren und Klangfarben umgewandelt werden. Die Musik kann somit als natürliche Nachahmung der gesprochenen Sprache verstanden werden. Durch diesen Kunstgriff erhält die Musik eine semantische Funktion. Sie kann nicht nur Geräusche der Natur (zum Beispiel Vogelgesang) oder natürliche Phänomene (wie das Hinaufsteigen einer Treppe durch eine aufsteigende Tonfolge) imitieren, sondern Musik wird zu 44 2 Sprache und Musik: Ästhetische Wandel im Laufe der Jahrhunderte 63 Vgl. Favier (2017) für eine weitergehende Analyse. Bei Bartel (1997) findet sich eine ausführliche Darstellung der wichtigsten Figuren, Quellen und Autoren. 64 Zum Beispiel bei Arnauld & Lancelot (1660), Vairasse d’Allais (1681), Régnier-Desmarets (1706) oder Buffier (1709). 65 Zum Beispiel bei Le Faucheur (1676), Lamy (1715) und Du Marsais (1730). 66 „Quelquefois [l]es idées accessoires ne sont pas attachées aux mots par un usage commun, mais elles y sont seulement jointes par celui qui s’en sert; et ce sont proprement celles qui sont excitées par le ton de la voix, par l’air du visage, par les gestes, et par les autres signes naturels qui attachent à nos paroles une infinité d’idées, qui en diversifient, changent, diminuent, augmentent la signification, en y joignant l’image des mouvements, des jugements et des opinions de celui qui parle“, Arnauld & Nicole (1662 [1992]: 87). einer eigenen Sprache, wenn sie direkt nach den Prinzipien der gesprochenen Sprache moduliert wird. Mehr noch als im deutschen Sprachraum, in dem die musikalische Rhetorik einen wichtigen Platz einnimmt, 63 wird vom französischen Komponisten ver‐ langt, mit den Regeln der musikalischen Kunst dieselben Gedanken und Gefühle wie ein Redner auszudrücken. Sprachtheoretische Grundlagen Das dazu nötige Handwerkszeug findet sich in den Grammatiken, die Silben‐ länge (Quantität) und Akzent des Französischen erklären, 64 sowie in den Texten zur Rhetorik, die Fragen der rhythmischen Gestaltung, Atmung und Stimm‐ gebung behandeln. 65 Die Autoren unterscheiden dabei noch nicht zwischen Vokal- und Silbenlänge. Gemäß der Prämisse, dass ein Konsonant allein nicht klingen - und damit keine Zeit beanspruchen - kann, resultiert die Silbenlänge automatisch aus der Vokallänge (vgl. Fournier, 2007). Ein wichtiger Moment ist die Definition des Akzents als einem zu zwei sprachlichen Disziplinen gehörenden Phänomen: Antoine Arnauld und Claude Lancelot unterscheiden in der Grammaire générale et raisonnée (1660: 17) einen dem Bereich der Grammatik angehörenden Akzent (ein fester Wortakzent, „naturel, & de grammaire“) von dem rhetorischen Akzent (ein flexibler, dem Ausdruck dienender Akzent, „de Rhetorique“, vgl. Kapitel 6). Das unterschiedliche Zusammenspiel dieser beiden Akzente charakterisiert die verschiedenen Sprachen. Zwei Jahre später formulieren Antoine Arnauld und Pierre Nicole in der Logique ou L’art de penser von 1662 die Rolle der Stimme, der Gestik und der Mimik für das Verständnis und den Ausdruck eines Satzes. 66 Damit nähern sich die beiden Disziplinen, Grammatik und Rhetorik, einander an. 45 2.3 Der französische Barock: Eine musikalische Deklamation 67 Jean-François Lalouette, 1651-1728, Schüler von Lully. 68 Pascal Collasse, 1649-1709, Kollege und Mitarbeiter Lullys. 69 „Lully la lisait, jusqu’à la savoir presque par cœur: il s’établissait à son Clavecin, chantait et rechantait les paroles, battait son Clavecin, et faisait une basse continue. Quand il avait achevé son chant, il se l’imprimait tellement dans la tête, qu’il ne s’y serait pas mépris d’une Note. Lalouette ou Collasse venaient, auxquels il le dictait. Le lendemain il ne s’en souvenait plus guère. Il faisait de même les symphonies, liées aux paroles“, Le Cerf de la Viéville (2018 [1705]: 573-574). 70 Actio oder pronuncio bezeichnen den öffentlichen Vortrag mit Einsatz stimmlicher, mimischer und gestischer Mittel. Sie bilden den fünften und letzten Teil der klassischen Rhetorik. Das Rezitativ: Symbiose von textueller und musikalischer Deklamation Das Rezitativ bildet die neue Gattung, in der die perfekte Übereinstimmung von Deklamation und Sprache am deutlichsten zu Tage tritt (vgl. Kintzler, 2006: 299). Es nimmt einen bevorzugten Platz in der Tragédie lyrique ein. Im Vergleich zur italienischen Oper ist die Tragédie lyrique deutlich mehr dem Theater und seiner lyrischen Deklamation verhaftet. Sie schöpft ihre Ausdruckskraft aus dieser literarischen Komponente. Das Erfolgsduo für diesen Kompositionstyp ist allgemein bekannt: Seit ihrem ersten gemeinsamen Werk Cadmus & Hermione (1673) sind Jean-Baptiste Lully (1632-1687) und Philippe Quinault (1635-1688) für die perfekte Harmonie von Text und Musik berühmt (Bsp. 14). Nach den Aussagen von Jean-Laurent Le Cerf de la Viéville ging Lully wie folgt vor, wenn Quinault ihm eine neue Szene vorlegte: Lully las sie, bis er sie fast auswendig kannte. Er setzte sich ans Cembalo und sang und sang den Text, wobei er sich am Cembalo begleitete. Wenn er fertig war, hatte er sich die gesamte Komposition bis zur kleinsten Note hin fest eingeprägt. Lalouette 67 oder Colasse 68 kamen und er diktierte ihnen die Musik. Am nächsten Tag erinnerte er sich kaum noch an das, was er komponiert hatte. All seine Vokalkompositionen entstanden auf diese Art. (Le Cerf de la Viéville, 1705) 69 Die Schauspielerin, die die Grundlage für die praktischen Beobachtungen Lullys lieferte, ist die bereits erwähnte Marie Desmares (1642-1698), bekannt unter dem Namen La Champmeslé (Bsp. 15). Le Cerf de la Viéville (1705) berichtet, dass Lully ihre Intonation und Akzentuierung genauestens verinnerlichte und ihre déclamation chantante, ihre singende Deklamation, wie beschrieben in Melodien verwandelte. Musikalische Praxis und theatralische Deklamation nähern sich einander an mit dem gemeinsamen Ziel einer actio oder prononcio,  70 die die Zuhörenden bewegt, indem sie Verstand und Herz gleichermaßen anspricht. 46 2 Sprache und Musik: Ästhetische Wandel im Laufe der Jahrhunderte 71 Vgl. unter anderen Kintzler (2006), Auroux (2007), Schweitzer (2018). 72 Vgl. Rousseau (1755 [1993]: 337): „Il semble que comme la parole est l’art de transmettre les idées, la mélodie soit celui de transmettre les sentiments“. 73 Damit steht Rousseau in Opposition zu Jean-Philippe Rameau, der den Ursprung der Musik im corps sonore, und damit in der Harmonie und in den Akkorden, sieht. Melodik ist für Rameau das Resultat der Existenz eines corps sonore. Das Modell Rameaus hat musiktheoretisch eine große Bedeutung, spielt aber für die sprachphilosophische Entwicklung nur eine untergeordnete Rolle. Die Rhetorik als Kunst der öffentlichen Rede wird bedeutsam als Lehre eines af‐ fektvollen Vortrags, der immer die Regeln des Schönen und der guten Eloquenz (éloquence) berücksichtigt (vgl. Schweitzer, 2020b). 2.4 Das klassische Zeitalter und die Lumières Gemeinsamer Ursprung von Gesang und Sprache Der „klassische Stil“ fällt in Frankreich mit dem Zeitalter der Aufklärung, den Lumières zusammen. Die Zusammenhänge von Musik und Sprache erhalten im Rahmen der Sprachphilosophie eine neue Dimension. Jean-Jacques Rousseau ist heute der bekannteste Vertreter der Theorie, nach der Gesang und Sprache einen gemeinsamen Ursprung in natürliche Empfindungen und spontane Gefühle ausdrückenden Lauten haben. Gesang stellt für Rousseau den Anfang aller menschlichen Äußerung dar: Die Ursprache war gesanglich durch ihre Melodiösität und ihre Akzentuierung. 71 Wie Rousseau ausführlich in seinem Essai sur l’origine des langues (1755) darlegt, haben für ihn Akzente eine klangliche wie auch eine semantische Funktion. Noch weiter abstrahiert kann Sprache als das perfekte Mittel zur Vermittlung von Gedanken und Theorien, die Melodie dagegen für das (Mit)Teilen von Gefühlen betrachtet werden. 72 Sprache (wie auch eine sprachliche Äußerung in einer bestimmten Sprache) ist damit für Rousseau umso ausdrucksvoller, je höher der Anteil ihrer musikalischen Elemente ist (vgl. Kapitel 5). Eine harmonische, und damit vertikal ausgerichtete Musik spricht den Verstand an, während in der Melodie des einstimmigen Gesangs vorwiegend Emotionen zum Ausdruck kommen. 73 Wie Rousseau, so bedauert auch Eugène-Eléonore Béthisy de Mézières die Verarmung der modernen Sprachen: Ich frage mich, ob die Menschen nicht zuerst einfach nur Laute gebildet haben, bevor ihr Gehirn begonnen hat, Worte zu formen, und welche unglücklichen Umstände dazu 47 2.4 Das klassische Zeitalter und die Lumières 74 „Je me demande si les hommes n’ont pas formé des sons avant que d’être convenu des mots, & par quelle fatalité une invention tardive seroit plus naturelle pour eux, que le cri de la nature“, Béthisy (1760: 25-26). 75 „Le Chant mélodieux et appréciable n’est qu’une imitation possible et artificielle des accens de la Voix parlante ou passionnée; on crie et l’on se plaint sans chanter: mais on imite en chantant les cris et les plaintes“, Rousseau (2020 [1768]: 184). 76 „Sur ce principe, il faut conclure que si les Arts sont imitateurs de la Nature; ce doit être une imitation sage & éclairée, qui ne la copie pas servilement; mais qui choisissant les objets & les traits, les présente avec toute la perfection dont ils sont susceptibles. En un mot, une imitation, où on voye la Nature, non telle qu’elle est en elle-même, mais telle qu’elle peut être, & qu’on peut la concevoir par l’esprit“, Batteux (1746: 24). geführt haben, dass ihnen diese weitaus spätere Erfindung nun natürlicher vorkommt als der Ruf der Natur. (Béthisy, 1760) 74 Im Vergleich mit den natürlichen, zu Beginn der Zeiten gesprochenen und gesungenen Äußerungen der Urväter werden die heutige Sprache und Musik von Rousseau und von Béthisy als eine Verarmung angesehen: Sie haben Teile ihrer ursprünglichen Ausdruckskraft verloren. Um diese wiederzugewinnen, erscheint Autoren wie Rousseau eine Rückkehr zur ursprünglichen Schlichtheit der Sprachen und des Gesangs unabdingbar. Kunst ist Nachahmung der Natur Ein melodiöser und angenehmer Gesang ist für Rousseau (1768) nichts anderes als eine Nachahmung der Akzentuation einer ausdrucksvollen oder von Ge‐ fühlen bewegten Stimme: „Man schreit und man klagt ohne zu singen, aber man singt niemals, ohne Schreie oder Klagen zu imitieren.“ 75 Die Forderung, die Natur nachzuahmen, bleibt vorherrschend in der Musik wie in den anderen Künsten, ein Paradigmenwechsel ist jedoch spürbar. Charles Batteux stellt in Les Beaux-Arts (1746) eine Theorie der Poesie vor, in der die Nachahmung der Natur das verbindende Element aller Künste darstellt. Die Nachahmung betrifft aber nicht einen realen Moment, sondern das Wesen der Dinge, das den Sinnen normalerweise auf direktem Wege unzugänglich bleibt. 76 Das Ideal Batteux ist klassisch, da die Suche nach dem Wesen der Dinge das Übersteigen des Gewöhnlichen und das Streben nach Vollkommenheit mit sich führt. Musik ist nicht mehr an die Sprache einer linguistischen Gemeinschaft gebunden, wie dies im Barock der Fall war und wie es das Beispiel der Komposi‐ tionsweise Lullys zeigt, sondern wird immer mehr zu einer universellen Sprache der Gefühle. In diesem Sinne erwähnt Christoph Willibald Gluck (1714-1787) 48 2 Sprache und Musik: Ästhetische Wandel im Laufe der Jahrhunderte 77 „J’envisage de produire une musique propre à toutes les nations, et de faire disparaître la ridicule distinction des musiques nationales“, Lettre de M. le Chevalier à l’auteur du Mercure de France, Februar 1773. Vgl. auch Bsp. 16. 78 Vgl. Arnauld & Nicole, siehe oben. 79 Die Wahl der Termini ist nicht bei allen Autoren einheitlich. Die hier gewählten Ausdrücke finden sich bei Beauzée (1767). im Jahre 1773 ausdrücklich eine den Menschen aller Nationen verständliche Musik. 77 Sprache und Universalität Auch in den Grammatiken ist das Thema der universellen Verständlichkeit ein Thema. Diese kann durch Einsatz der prosodischen Mittel erreicht werden: Es geht hier nicht um lexikalische Fragen, sondern um das Verständnis des von der Prosodie zum Inhalt und Ausdruck der Worte und Satzkonstruktionen beigetragenen Sinns. 78 In den verschiedenen Texten kristallisiert sich das Thema um die Frage des Akzents als besonders wichtig heraus. Die Autoren trennen nunmehr deutlich zwei Akzenttypen: Der erste, accent prosodique oder auch accent tonique genannt, ist melodisch, das heißt mittels Tonhöhenveränderung realisiert. Er interveniert auf Silbenniveau und entspricht dem accent de gram‐ maire von Arnauld & Lancelot (siehe oben). Der zweite, accent oratoire genannt, beeinflusst die Intonation, den Rhythmus und die Intensität ganzer Satzteile und wird von den Gefühlen der sprechenden Person bestimmt. 79 Die Prosodie gilt als art de regler [le] chant de la voix, die Kunst, den Gesang in der Stimme zu modulieren (D’Alembert & Diderot, 1751). Das Ideal, die Natur oder vielmehr ihr Wesen zu imitieren, beeinflusst ebenfalls die Denkweise der Grammatiker und Rhetoriker. Dies zeigt sich in dem von ihren Arbeiten anvisierten Sprachniveau. Im Gegensatz zum 17. und zum frühen 18. Jahrhundert beginnt man nun, sich für die spontane Ausdrucksweise des Volkes, das heißt, seine natürliche Redegabe zu interessieren (auch wenn die technischen Mittel noch keine in heutigem Sinne befriedigende Forschung erlauben). „Weniger zivilisierten Völkern“ wird eine natürliche Beredsamkeit zugestanden, die auch ohne Beachtung der zahlreichen Regeln der Rhetorik ausdrucksstark ist (vgl. Siouffi & Steuckardt, 2021). Pierre-Paul Dorfeuille (1799/ 1800: 9) rät dem zukünftigen Akteur „d’observer la scène du monde“. Diese Weltbühne stellt für den Lernbegierigen die beste Schule der Passionen und des menschlichen Herzens dar. Ihr Studium kann ihm helfen, zu lernen, wie er dem Publikum gefallen und, vor allem, dessen Herz zum Klingen bringen kann. 49 2.4 Das klassische Zeitalter und die Lumières 2.5 Die Romantik: Traumwelten und wissenschaftliche Genauigkeit Trennung von Kunst und Wissenschaft Mit Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelt sich eine neue Kunstästhetik. Die Schreckensherrschaft Robespierres und die Napoleonischen Kriege veran‐ lassen die Romantiker, die die gewaltigen politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen der Aufklärung anlasten, zu einer heftigen Kritik an der ver‐ nunftbetonten Welt ihrer Vorfahren. Naturbegeisterung und Faszination für das Irrationale und Fremde, aber auch Vergangene, kennzeichnen die Künstler. Die das Herz ansprechenden Künste und die die Vernunft proklamierenden Wissenschaften gehen fortan getrennte Wege. Eine der Folgen dieser Trennung ist zunächst eine ästhetische Aufwer‐ tung der Künste, die für viele Romantiker beinahe ein Religionsersatz, ein Zufluchtsort vor der ernüchternden Gegenwart, wird. Der Künstler wird zum ausführenden Organ seines Genies: Ihm obliegt es, das Schöne im Kunstwerk spürbar zu machen. Die Musik wird im Rahmen der Schönen Künste in einem Atemzug mit Poesie, bildender Kunst und Architektur behandelt: Schön im Kunstwerk ist nur, was der Künstler darin hineinlegt. Es ist das eigentliche Ergebnis seiner Anstrengung und die Bestätigung seines Erfolgs. Wann immer ein von einem beliebigen - körperlichen, seelischen oder geistigen - Eindruck zutiefst getroffener Künstler diesen Eindruck mithilfe eines beliebigen Verfahrens - Gedicht, Musik, Statue, Gemälde, Gebäude - so zum Ausdruck bringt, dass er in die Seele des Betrachters oder des Hörers dringt, ist das Kunstwerk schön, und zwar nach Maßgabe der Intelligenz, die es voraussetzt, der Tiefe des Eindrucks, den es ausdrückt, und der Ausdruckskraft, die ihm vermittelt wird. Das Zusammentreffen dieser Bedingungen bildet den vollständigen Ausdruck des Schönen. (Véron, 1878 [2010]) Die Begabung oder das „Genie“ für die musikalische Komposition definiert der Komponist Anton Reicha (1814: 1) mit vier Eigenschaften: 1. Eine große Kunstleidenschaft (das heißt, die Leidenschaft für die Musik), 2. Das Bedürfnis zu schaffen, und das Geschaffene zu präsentieren, 3. Die Begabung, Ideen zu konzipieren und auszuführen, und 4. Eine ausgeprägte Sensibilität und Urteilskraft für die (musikalische) Kunst. 50 2 Sprache und Musik: Ästhetische Wandel im Laufe der Jahrhunderte 80 „La véritable Mélodie est soumise rigoureusement aux lois du rhythme; […] par conséquent ce rhythme doit être secondé par celui de la poésie“, Reicha (1814: 3). 81 „La Mélodie est le plus positif de tous les arts, et c’est pourtant celui qu’on a regardé jusqu’à présent comme le plus vague, faute de méditations, de recherches et d’analyses“, Reicha (1814: 4). 82 Das heißt: der Sänger. 83 Gemeint sind verschiedene Tonhöhen und Intonationen. Diese Eigenschaften sind naturgegeben und können nicht durch das Studium von Lehrwerken der Poetik, Rhetorik oder Komposition ersetzt werden, die allerdings unentbehrlich sind, um das vorhandene Talent zu entwickeln. Die Ausdruckskraft der Melodie Poetik, Rhetorik und Musik werden hier in einem Atemzug genannt und Anton Reicha (1814) empfiehlt das Studium seines Werkes ausdrücklich allen lyrischen Poeten, um zu begreifen, dass der Rhythmus das die Poesie und die Musik verbindende Element bildet. Der poetische Rhythmus des Textes ist nunmehr der Melodie übergeordnet. 80 Damit rückt auch die ausdrucksstarke und empfindsame Melodiebildung ins Zentrum der Überlegungen und Reicha zeigt sich verwundert, dass diese bislang so wenig studiert worden sei. 81 Charles Darwin führt die Überlegungen Rousseaus zu einer ursprünglichen Verbindung von Sprache und Gesang weiter aus und erklärt nicht nur, dass „musikalische Laute eine der Grundlagen für die Entwicklung der Sprache abgeben“ (Darwin, 1875: 317), sondern unterstreicht auch die Nähe der melodi‐ schen Ausdruckskraft von Sprech-und Gesangsstimme: Der leidenschaftliche Redner, Barde 82 oder Musiker hat, wenn er mit seinen abwech‐ selnden Tönen und Cadenzen 83 die stärksten Gemüthserregungen in seinen Hörern erregt, wohl kaum eine Ahnung davon, dass er dieselben Mittel benutzt, durch welche in einer äußerst entfernt zurückliegenden Periode seine halbmenschlichen Vorfahren ineinander die glühenden Leidenschaften während ihrer gegenseitigen Bewerbung und Rivalität erregten. (Darwin, 1875: 318) Die Rolle der den Gesang imitierenden Sprechstimme wird hier deutlich her‐ vorgehoben: Die Musik der Sprache übermittelt einen Sinn. Melodie und Phrasierung In diesem Zusammenhang gewinnt die Einteilung und Gestaltung der Phrasen in der Musik einen wichtigen Platz. Poeten und Grammatiker beobachten für 51 2.5 Die Romantik: Traumwelten und wissenschaftliche Genauigkeit 84 „On appelle cadence parfaite le retour de la voix à son fondamental de la gamme. La cadence parfaite est la chute de la voix qui en général caractérise la fin de nos phrases. Elle est pour l’oreille et pour l’esprit un repos définitif. On appelle demi-cadences le retour de la voix à des degrés de la gamme, consonnant avec le son fondamental. Les demi-cadences terminent les parties composantes de nos phrases et sont pour l’oreille et pour l’esprit des repos relatifs“, Becq de Fouquères (1881: 11). verschiedene Satzzeichen bestimmte melodische Schlussfloskeln und Pausen‐ längen, und bei den Musikern bildet die Phrasierungskunst ein nunmehr wich‐ tiges Studienobjekt. Schauspieler, Schauspielerinnen, Sänger und Sängerinnen müssen lernen, ihre Atmung genau der Struktur der Komposition anzupassen und immer genügend Luft zur Verfügung zu haben, um die jeweilige Phrase bis zum Ende gut gestalten zu können (vgl. Bsp. 17). Louis Dubroca (1802: 321) unterscheidet generell die repos de la respiration (die Atempausen) von den repos des objets (den inhaltsbestimmten Pausen). Vor allem die zweite Kategorie kann studiert und systematisiert werden. Das Komma erlaubt nur eine fast unmerkliche Atempause und markiert einen kleinen Abschnitt im Verlauf des Satzes. Vor dem Semikolon markiert die Stimme einen leichten melodischen Abfall und die anschließende Pause muss sehr kurz sein. Melodieabfall und Pause sind ausgeprägter für den Doppelpunkt und extrem deutlich nach dem Punkt (1802: 322-325). Die musikalische Konnotation ist noch deutlicher bei Louis Becq de Fou‐ quères: Die vollkommene Kadenz entspricht einer Rückkehr der Stimme zum Grundton der Tonleiter und man findet sie im Allgemeinen am Ende eines Satzes. Für Ohr und Verstand bildet sie eine endgültige Ruhepause. Die Rückkehr der Stimme zu einem mit dem Grundton harmonischen Ton der Tonleiter wird als unvollkommene Kadenz bezeichnet. Sie steht am Ende von Satzteilen und bedeutet für Ohr und Geist eine relative Ruhepause. (Becq de Fouquères, 1881) 84 Das musikalische Vokabular ist mehr als eindeutig (und erschwert heutigen, musiktheoretisch vielleicht weniger gebildeten Lesern und Leserinnen beinahe die Lektüre): • Der Grundton der Tonleiter ist der für die Tonart namengebende Ton („C“ in „C-Dur“, usw.). • Die vollkommene Kadenz besteht in der Harmonielehre aus der Akkord‐ folge Dominante und Tonika. Die Tonika, das heißt die Grundtonart des Stückes, erscheint dabei mit dem Grundton in der Melodiestimme. 52 2 Sprache und Musik: Ästhetische Wandel im Laufe der Jahrhunderte 85 Selbstverständlich sind die Erfindung des Kymographen, des Phonautographen, des Paleophons und des Grammophons wichtige technische Voraussetzungen für diese Arbeiten. Siehe auch Brock et al. (2021). Zum Kymographen, siehe Bsp. 19. 86 Vgl. Pagani-Naudet et al. (2021) und Dodane et al. (2021). • Die unvollkommene Kadenz besteht ebenfalls aus der Akkordfolge Domi‐ nante und Tonika, allerdings endet die Melodie nicht auf dem Grundton, sondern auf einem der anderen Töne des Tonikaakkords. • Die zum Grundton harmonischen Töne entsprechen den Tönen des Grundakkords (der Tonika) des Stückes. Wenn man die musikalische Terminologie in eine leichter verständliche Sprache übersetzen möchte, so könnte die obige Passage wie folgt lauten (vgl. auch Bsp. 18): Die für das Satzende typische Tonlage erlaubt der Stimme eine vollkommene Entspan‐ nung. Der Hörer (oder die Hörerin) versteht dadurch, dass der Satz hier zu Ende ist. Die für das Ende eines Satzabschnitts typische Tonlage erlaubt der Stimme zwar keine vollkommene, aber doch eine relative Entspannung. Der Hörer (oder die Hörerin) versteht dadurch, dass der Satz hier noch nicht zu Ende ist. Wissenschaft und die „Lehre vom Schönen“ Auf Seiten der Wissenschaft nimmt die Erforschung der Töne ebenfalls eine wichtige Rolle ein. In seiner Lehre von den Tonempfindungen (1863) sucht Hermann von Helmholtz (1821-1894) eine wissenschaftliche Begründung für das Wesen des „Schönen“ in einer dem Hörer und der Hörerin unbewussten realen Vernunftmäßigkeit (das heißt konkret, die Rolle der Frequenzen und verschiedenen Obertöne). Aber besonders die ersten Phonetiker haben in der zweiten Hälfte des 19. Jahr‐ hunderts entscheidenden Einfluss auf eine neue Art, die Musik der Sprache, das heißt die Prosodie, zu untersuchen. Im Gegensatz zu Musikern, Poeten und Rhetorikern verlassen die Phonetiker die Pfade der alten Forschungsme‐ thoden, die vor allem auf Schlussfolgerungen auf der Basis von Höreindrücken bestanden. Genaue Messungen und Berechnungen kennzeichnen die neuen, von den Phonetikern entwickelten Methoden, zu denen in Frankreich Forscher wie Jean-Pierre Rousselot, Hector Marichelle und Léonce Roudet wichtige Beiträge leisteten. 85 Der von Rousselot entwickelte Versuchsaufbau erlaubt eine extrem exakte Transkription der melodischen und zeitlichen Entwicklung (Fre‐ quenz und Rhythmus) sowie der Geschwindigkeit der Kehlkopfschwingungen. 86 Roudet (1899) äußert sich außerordentlich begeistert dazu: „Genau das, und 53 2.5 Die Romantik: Traumwelten und wissenschaftliche Genauigkeit 87 „C’est justement le rôle de la science expérimentale de découvrir le détail des phéno‐ mènes que nos sens ne perçoivent qu’en bloc et dans leurs résultantes“, Roudet (1899: 334). 88 „Sachant que la musique est un langage, nous cherchons d’abord à faire ‚parler‘ la mélodie. La mélodie est point de départ. Quelle reste souveraine! “, Messiaen (1944: 6). nichts Anderes, ist die Rolle der experimentalen Wissenschaft: Sie deckt Details auf, die unsere Sinne sonst nur gebündelt und anhand der aus ihnen resultie‐ renden Ergebnisse wahrnehmen können! “ 87 2.6 Die Moderne: Wissenschaft und Emotionserforschung Der Parameterbegriff Diese technischen Möglichkeiten erfahren im 20. Jahrhundert bedeutende Weiter- und Neuentwicklung, die den Forschern das vergleichende Studium größerer Datenmengen und oraler Korpora erlaubten. Maurice Grammont, Hélène-Nathalie Coustenoble, Lilias Eveline Armstrong (alle zu Beginn des Jahrhunderts) und Pierre Delattre (Mitte des Jahrhunderts) haben verschiedene Sprachen, zum Beispiel das Französische, das Englische und das Spanische, miteinander verglichen. Dabei konnten sie zeigen, dass ein perzeptiver Unter‐ schied in der Abgrenzung der Worte im Sprachfluss liegt, wobei im Englischen und Spanischen die Aufmerksamkeit auf das Wort, und im Französischen auf die Sinneinheit (groupe de sens) gelenkt wird (vgl. Vaissière, 2006). Die von den Phonetikern des 19. Jahrhunderts definierten drei Parameter Intonation, Rhythmus und Akzentuation werden gesondert und in Kombination studiert. Der Parameterbegriff rückt auch bei den Komponisten serieller Musik in den Mittelpunkt. Die betrachteten Elemente sind nicht nur Tonhöhe und Tonlänge, sondern auch akustische Eigenschaften wie Intensität, Klangfarbe oder Stimm‐ register. Neben Pierre Boulez (1925-2016) ist besonders Olivier Messiaen eine wichtige (französische) Persönlichkeit auf diesem Gebiet. Verschiedene Reihen mit einer bestimmten Anzahl unterschiedlicher Tonhöhen, Anschlagsarten, Lautstärken, Rhythmen (usw.) werden nach vorab genau festgelegten Kom‐ positionsverfahren (Variationen und Übereinanderschichtungen) miteinander kombiniert. Das Vorgehen ist nicht nur mathematisch (wie man leicht glauben könnte), sondern hat auch eine spielerische Komponente. Die Forderung einer „sprachlichen Melodie“ ist bei Messiaen (1944) klar ausgedrückt und die Musik ist ausdrücklich als eine Sprache definiert. 88 54 2 Sprache und Musik: Ästhetische Wandel im Laufe der Jahrhunderte 89 „C’est une musique chatoyante que nous cherchons, donnant au sens auditif des plaisirs voluptueusement raffinés. En même temps, cette musique doit pouvoir exprimer des sentiments nobles“, Messiaen (1944: 6). 90 „Ce charme, à la fois voluptueux et contemplatif, réside particulièrement dans certaines impossibilités mathématiques des domaines modal et rythmique. Les modes, qui ne peuvent se transposer au-delà d’un certain nombre de transpositions parce que l’on re‐ tombe toujours dans les mêmes notes; les rythmes, qui ne peuvent se rétrograder parce que l’on retrouve alors le même ordre des valeurs: voilà deux impossibilités marquantes. […] On remarque tout de suite l’analogie de ces deux impossibilités et comment elles se complètent: les rythmes réalisant dans le sens horizontal (rétrogradation) ce que les modes réalisent dans le sens vertical (transposition)“, Messiaen (1944: 6). Messiaen formuliert ebenfalls eine Ästhetik des Schönen und Edlen und das Streben nach religiösen Gefühlen. 89 Diese durchaus traditionellen Werte werden aber bei dem Pariser Komponisten und Organisten mit neuen Mitteln angestrebt. Messiaen selbst beschreibt sie als eine Art Spannung zwischen den unendlichen Möglichkeiten serieller Berechnung und der mathematischer Begrenzung aufgrund des Materials (der Reihen) selbst. 90 Phonostylistik und Erforschung der Gesangsstimme In den 1960ger Jahren sind die technischen Möglichkeiten so weit fortge‐ schritten, dass großangelegte instrumentale Studien zur Erforschung der Zusammenhänge von perzeptiven Eindrücken und messbaren akustischen Faktoren anvisiert werden können. Damit rückt das Studium der spontanen Sprachäußerung in realen Kommunikationssituationen immer weiter in das Zentrum des Forschungsinteresses. Die Verbindungen zwischen (Norm-) Syntax und Prosodie sind bei dieser Art von Untersuchung weitaus weniger deut‐ lich und andere Funktionen der Prosodie, wie der Ausdruck von Emotionen, Selbstdarstellung und diskursbedingte Stimmmodulationen dominieren. Die Aufteilung des Akzents in de grammaire oder tonique und in d’oratoire oder d’émotion, die sich seit dem 17. Jahrhundert in den französischen Grammatiken gezeigt hatte, spiegelt sich in den Betrachtungen der verschiedenen Parameter wider, die a) zum Verständnis des Codes und der Funktion der Aussage nötig sind, und b) zusätzliche, zum Verständnis ebenfalls wichtige Informationen (wie Stimmfärbung, Intensitätsvariationen, Atmung, usw.) übermitteln. Die letzteren werden im Rahmen der von Nicolas Troubetzky ins Leben gerufenen und in Frankreich vor allem von Ivan Fónagy und Pierre Léon entwickelten Phonostylistik wichtig, die in diesem Sinne das Erbe der Rhetoriker des 16. und 17. Jahrhunderts angetreten haben. Die lange Zeit im Mittelpunkt des Forschungsinteresses stehenden Intonationsmuster (zum Beispiel Delattre, 55 2.6 Die Moderne: Wissenschaft und Emotionserforschung 1966) werden durch Studien zu den Verbindungen von Emotionen in Musik und in Sprache komplettiert (zum Beispiel Fónagy, 1983). Bei den Phonetikern wird die Gesangsstimme Objekt eigener Forschungsar‐ beiten. Dank der genauen Messmöglichkeiten kann die zeitlich unterschiedliche Organisation der Silbe in Sprache und Gesang verglichen werden (Scotto di Carlo & Autesserre, 1992). Die Unterschiede sind auf die bedeutende Verlänge‐ rung der Vokale auf Kosten der Konsonantendeutlichkeit zurückzuführen, die bei den im lyrischen Gesang (Opernschule) ausgebildeten Sängern die Regel ist. Diese Veränderung der Silbenstruktur ist auch einer der Gründe, weshalb Opernsänger und Sängerinnen oft schwer - oder gar nicht - zu verstehen sind (Scotto di Carlo, 1978). Im Unterschied zu den barocken Sängern der Lullyschen Tragédie lyrique, von denen absolute Textverständlichkeit erwartet wurde, stellt die auf die romanische Tradition zurückgehende „klassische“ Gesangstechnik die Formung der Stimme in den Vordergrund. Diese muss in erster Linie in der Lage sein, über ein großes sinfonisches Orchester hin zu tragen. Dabei wird generell die italienische Sprache mit ihrer hohen Anzahl offener Vokale bevorzugt (vgl. Schafroth, 2020). Eine neue Texttradition: das Chanson des 20. Jahrhunderts Paolo Zedda (1995) betont ausdrücklich die Eigenheiten des französischen Chansons: „Le chant français est un chant d’articulation! “ Der französische Gesang beruht auf der Artikulation, und das heißt vor allem, auf der deutlichen Aussprache der Konsonanten. Die große Ähnlichkeit der beiden vokalen Aus‐ drucksarten, Sprache und Gesang, wird dabei in anderen Bereichen als dem des Operngesangs fruchtbar eingesetzt. Besonders im Chanson après guerre ist diese Verbindung dadurch gekennzeichnet, dass die Musik im Dienste der Aussage des Textes steht. Laut Herbert Schneider (2016) zielen die Chansonsänger und Sängerinnen in der Regel auf „eine möglichst enge Zusammenführung des sprachlichen und des musikalischen Elements [ab], sodass sich eine Symbiose ergibt. Die Einheit von Text und Musik ist die beste Garantie für seinen Erfolg.“ Mit wenigen Ausnahmen verwenden die Sänger und Sängerinnen keine literarischen Gedichte, sondern bevorzugen in einem familiären Sprechstil geschriebene Texte (Rey et al., 2007: 418-419). Textverständlichkeit wird durch die Komposition selbst, aber auch durch die Stimmbehandlung garantiert. Die Übergänge vom Singen zum Sprechgesang werden nunmehr häufig als Ausdrucksmittel genutzt. Stellenweise sind diese Übergänge so fließend, dass die Unterscheidung, ob es sich um die Sprech- oder die Gesangsstimme handelt, nicht einfach ist (vgl. Kapitel 1, Tabelle 1). 56 2 Sprache und Musik: Ästhetische Wandel im Laufe der Jahrhunderte 91 Dabei sind Gedichtvertonungen ausgeschlossen. 92 Die genauen Prozentzahlen sind aus den Grafiken Chabot-Canets nicht ersichtlich. 93 Bei einer Spieldauer von 7 bis 10 Minuten ist die durchschnittliche Verteilung etwas anders, die Wichtigkeit der Sprechstimme ist aber ebenfalls deutlich erkennbar: Ca. 25 % sind gesungen, ca. 20 % mehr gesungen als gesprochen, knapp 40 % haben min‐ destens eine gesprochene Strophe, gut 10 % behandeln beiden Stimmen gleichberechtigt und ca. 5% sind ausschließlich gesprochen. 94 „Il faut improviser, il faut que ça vienne sur le clavier, il faut que les mains parlent en même temps que les yeux qui lisent la poésie“, Interview mit Léo Ferré im Rahmen der Sendung Grand Echiquier von Jacques Chancel, gesendet am 26. Juni 1975 (France Inter). Céline Chabot-Canet (2008: 129) konnte anhand einer Studie von 27 langen Chansons Léo Ferrés 91 die Bedeutung der Verwendung der Sprechstimme und der Übergangsregister zeigen: In Chansons mit einer Länge von 10 bis 15 Minuten sind im Durchschnitt nur gut 10 % 92 wirklich gesungen. Bei ca. 25 % ist hauptsächlich die Gesangsstimme verwendet, mindestens eine Strophe (oder mehr) ist allerdings gesprochen. Weitere 25 % verwenden beide Stimmen gleichberechtigt und knapp 40 % sind sogar ausschließlich gesprochen. 93 Die Arbeitsweise Léo Ferrés, wie er sie in einem Interview 1975 in der Radiosendung Grand Echiquier anreißt, erinnert übrigens stark an diejenige Lullys: „Man muss improvisieren, es muss von alleine in die Tasten kommen, die Hände müssen im selben Augenblick sprechen, da die Augen die Poesie lesen.“ 94 Der Wechsel zwischen verschiedenen Arten stimmlicher Äußerung erlaubt eine Vervielfachung klanglicher Effekte. Chabot-Canet (2008: 131) konstatiert für Léo Ferré die hauptsächliche Verwendung der Sprechstimme für polemische Themen und diejenige der Gesangsstimme für affektive, zärtliche, traurige oder melancholische Inhalte. Die Sprechstimme erlaubt in besonderer Weise eine differenzierte Aussprache der Konsonanten mittels Hervorhebung oder Nivellierung ihrer akustischen Eigenschaften (Stimmhaftigkeit, Timing der Okklusion, Affrikation oder Friktion…). Die im Gesang bevorzugte regelmäßige Melodiekurve weckt die Erinnerung an zärtlich gesprochene Worte. Hauchen, Flüstern und Schreien geben, so Chabot-Canet (2008), ein zusätzliches dynami‐ sches Register, aber sobald sich ein skandierter, an einen stark akzentuierten Gedichtvortrag erinnernder Rhythmus einstellt, ist der Übergang zu musikali‐ schen Deklamationsformen erreicht. Die neue Bedeutung rhythmischer Elemente Der Wille, dem Gesang für ein besseres Verständnis sprachliche Qualitäten zu geben, ist auch auf rhythmischer Ebene spürbar. Laut Bruno Joubrel (2002) 57 2.6 Die Moderne: Wissenschaft und Emotionserforschung 95 Vom Englischen to rap (klopfen). In Frankreich seit dem Ende der 1980er Jahre vertreten. 96 Vom Englischen to slam (schlagen). Die Gattung erscheint in Frankreich in der Mitte der 1990er Jahre. 97 „Il y a dans le rap une démarche intéressante consistant à déconstruire le langage pour le reconstruire. Le rap rejoue, semble-t-il aussi, la prévalence de la phonie sur le logos. L’écriture du texte précède la diction, mais c’est la diction qui fait advenir l’œuvre“, Tyszler (2009). bevorzugen viele Chansonsänger und Sängerinnen des 20. Jahrhunderts einen regelmäßigen und relativ gleichförmigen, der französische Sprechweise an‐ genäherten Rhythmus und verwenden dazu eine relativ kleine Spanne von Notenwerten (zum Beispiel hauptsächlich Achtel und Viertel, oder Viertel und Halbe Noten). Desgleichen kann man eine maximale Übereinstimmung von Wortakzent und metrischer Betonung der Komposition beobachten: Der letzte accent tonique einer Zeile fällt normalerweise auf eine betonte Taktzählzeit und entspricht einer langen Note. Der rhythmische Ruhepunkt in der Musik (gefolgt von Atmung und möglicherweise einer Pause) entspricht der Atmung (mit eventuell folgender Pause) des Sprechers. Mit Rap 95 und Slam 96 entstehen gegen Ende des 20. Jahrhunderts zwei ganz auf Rhythmik angelegte Formen der Stimmproduktion. Der Rap basiert auf einem fein ausgearbeiteten Wechselspiel von Perkussion und Bass, aus dem ein motorisch stimulierender Effekt entsteht. Der dazu vorgetragene Sprechgesang ist rhythmisch skandiert. Der Begriff der Skansion bezieht sich dabei auf die entsprechend den Regeln der Verslehre betonte Aussprache eines Gedichts. Laut Corinne Tyszler (2009) ist der Rap durch ein eigenartiges, vielleicht paradox erscheinendes Phänomen gekennzeichnet: Zur Konstruktion der Sprache wird diese zunächst dekonstruiert. Das Spiel mit Klängen scheint dem Wort überge‐ ordnet zu sein, und wenn auch der Schreibprozess der Diktion vorausgeht, so ist es doch genau diese, die die Textkomposition ermöglicht. 97 Die verschiedenen Arten des Slamvortrags sind aus künstlerischen Praktiken wie der Gedichtrezitation oder dem Chanson, in der Regel ohne musikalische Begleitung, entstanden. Laut Tyszler (2009) ist der Rhythmus hier ganz vom Atem - und vom Atemvolumen - des Slammers bestimmt. Das klassisch-ro‐ mantische Ideal einer wohldurchdachten und geplanten Linienführung erfährt eine spielerische Umformung: Durch unterschiedliche Atemstellen werden verschiedene Textbausteine miteinander verbunden oder voneinander getrennt. Die daraus entstehenden Effekte können das Publikum stutzen lassen und - vielleicht - zum Nachdenken bringen. All diesen Formen ist Eines gemein: „Einen Text einfach so, ohne Künstlich‐ keit und Schnörkel zu sagen, ist ein schwieriger Lernprozess. Diktion, Atem, 58 2 Sprache und Musik: Ästhetische Wandel im Laufe der Jahrhunderte 98 „Dire un texte, sans artifice ni accessoire, est un apprentissage difficile à relever. La diction, le souffle, le ton, le rythme, le placement de la voix comptent beaucoup dans le succès d’une performance“, Martinez (2007: 17). 99 „Le souffle prosodique du rap et du slam porte quelque chose de la marque d’une origine, d’une transmission. Il ne s’agit pas seulement de commémorer cette origine, mais de proposer un nouvel opérateur capable d’introduire de nouveaux mouvements: mouvement de pensée, mouvement de création permettant de déployer un véritable jeu de la langue avec ses différentes combinaisons métaphoriques“, Tyszler (2009). Ton, Rhythmus, Stimmresonanz, all dies spielt eine große Rolle für den Erfolg einer Performance“ (Martinez, 2007). 98 Rap und Slam, die auf urbane Kulturen zurückgehen, verwenden eine für die Jugendkulturen typische Ausdrucksweise (und dies, nicht nur in Bezug auf das Vokabular, sondern auch auf die Stimm‐ behandlung). Die Skansion basiert auf den gewählten klanglichen Ereignissen, dem Respekt der Zeichensetzung der geschriebenen Vorlage, der Artikulation und dem natürlichen Sprechtempo des Rappers oder Slammers. In besonderer Weise wird dies im unbegleiteten Slam deutlich, wo der Sprachfluss nicht durch ein rhythmisches Grundmuster der begleitenden Musik tradiert wird. Alle klanglichen Ereignisse haben eine perkussive, motorische Funktion. Die Technik, den Rhythmus ganz vom Text her entstehen zu lassen, wird als Flow bezeichnet. Sie gilt auch für die oben zitierte Kompositionweise Léo Ferrés. Der Flow kann neben rhythmischen Elementen auch Intonation, Akzentu‐ ierung und Stimmmodulation betreffen. Er ist dem barocken französischen Rezitativ in dem Sinne verwandt, dass ihm, im Gegensatz zu spontanen Aus‐ drucksformen, ein (mehr oder weniger) periodischer rhythmischer Aspekt eigen ist. Die von Jean-Louis Calvet 1996 angesprochene Hinwendung zum Text wie sie in Gattungen wie zum Beispiel dem Rap erkennbar ist, hat sich seitdem nicht nur bestätigt, sondern, wie es scheint, eher noch verstärkt (vgl. Barret, 2008). In den modernen Kunstformen hat sich die ästhetische Wertschätzung deut‐ lich geändert. Das „Schöne“ ist nicht mehr durch Regelmäßigkeit und Ebenmaß gekennzeichnet, sondern entspricht der Suche nach Authentizität. Das Streben der Romantiker nach dem „Wahren“ und nach der Erkenntnis ist einer Suche nach der Ursprünglichkeit des Ausdrucks gewichen, die sich laut Corinne Tyszler (2009) im „prosodischen Atem“ des Raps und des Slams manifestiert. 99 Sicher haben die verschiedenen Disziplinen heute sehr unterschiedliche Ansätze gefunden, um prosodische Fragen zu untersuchen. Die Verbindung von Musik und Sprache wird jedoch weiterhin betont und hat selbst Eingang in die Neurowissenschaften gefunden. So betonen Emmanuel Bigand und Barbara Till‐ mann (2020) nicht nur die den gleichen Bedingungen unterworfene Entwicklung sprachlicher wie musikalischer Kompetenzen, sondern auch die Analogie der Verarbeitung beider Typen vokalen Ausdrucks durch das menschliche Gehirn. 59 2.6 Die Moderne: Wissenschaft und Emotionserforschung 2.7 Korpus Die den Korpus der vorliegenden Studie bildenden Texte sind hier in einer nach Disziplinen geordneten Tabelle (Tabelle 3) vorgestellt. Die anschließende Zusammenstellung in Tabelle 4 enthält die ausgewerteten literarischen und akustischen Quellen. Es folgt in einem zweiten Unterabschnitt eine kurze, alphabetisch angeordnete biographische Notiz zu den Autoren der Texte, die den Korpus bilden. Systematische Korpusdarstellung Quellen zu Grammatik und Phonetik Quellen zu Poesie und Rhetorik, frühe Prosodiestudien und Phonostylistik Quellen zu Musik, Mu‐ siktheorie, Philosophie und Ästhetik 1530 J. Palsgrave 1549 J. Du Bellay 1550 L. Meigret L. Bourgeois 1554 M. Guilliaud 1555 P. de Tyard 1562 P. de Ramus 1565 P. de Ronsard 1572 P. de Ramus 1586 J. Bosquet 1610 P. de Deimier 1618 Ch. Maupas 1636 M. Mersenne 1637 1640 A. Oudin 1648 L. de Lesclache 1656 C. Irson 1658 A. de Cousu 60 2 Sprache und Musik: Ästhetische Wandel im Laufe der Jahrhunderte 1660 A. Arnauld & C. Lan‐ celot 1671 Le Gras B. de Bacilly 1676 M. Le Faucheur 1679 R. Bary 1680 L. Chiflet 1681 D. Vairasse d’Allais 1696 P. de La Touche 1702 Saint-Lambert 1705 J.-L. Le Cerf de La Vié‐ ville 1706 F.-S. Régnier-Desma‐ rais 1707 J. L. Grimarest 1709 C. Buffier 1710 J. Rousseau 1715 B. Lamy 1717 F. Couperin 1719 J. Hotteterre 1730 C. C. Du Marsais 1736 P. J. D’Olivet 1746 Ch. Batteux 1751 C. C. Du Marsais, J. Le Rond D’Alembert & D. Diderot, D’Alembert et al. 1753 A. Antonini 1755 J.-J. Rousseau J.-B. Du Bos J.-J. Rousseau 1760 Abbé Boulliette E. E. de Béthisy 1763 J.-F. Marmontel 1765 Ch. De Brosses 61 2.7 Korpus 1767 N. Beauzée 1768 J.-J. Rousseau 1774 Ch. Batteux 1785 J. B. Montmignon E. de Lacépède 1789 A.-E.-M. Grétry 1799 / 1800 E. Loneux P.-P. Dorfeuille 1802 L. Dubroca 1806 J.-J. Momigny 1814 A. Reicha 1835 N. Landais 1836 S. Dupuis 1837 J.-F. Thurot 1840 Ch.-P. Girault-Duvivier 1871 J.-D. Vuillaume 1878 E. Véron 1881 L. Becq de Fou‐ quières, F. de Caus‐ sade 1885 M. Lussy 1890 R. de la Grasserie 1891 J.-P. Rousselot 1897 H. Marichelle, J.-P. Rousselot 1899 L. Roudet 1902 J.-P. Rousselot & F. Lac‐ lotte 1906 P. Passy 1910 L. Roudet 1912 M. Grammont 1932 M. Grammont 62 2 Sprache und Musik: Ästhetische Wandel im Laufe der Jahrhunderte 1944 O. Messiaen 1951 M. Grammont 1963 I. Fónagy & K. Magdics 1966 P. Delattre 1968 F. Kahn P. Garde 1980 I. Fónagy 1983 I. Fónagy 1997 P. Mertens 2009 Ph. Martin P. Mertens C. Tyszler 2012 P. Mertens 2013 A. Di Cristo 2016 A. Di Cristo 2020 A.-C. Simon Tabelle 3: Systematische Präsentation des Arbeitskorpus: theoretischer Texte Literarische Quelle / Komposition Interpret 1552 P. de Ronsard, Les Amours 1553 P. Certon, J’espere & crains 1637 P. Corneille, Le Cid 1685 J.-B. Lully, Roland 1686 J.-B. Lully, Armide 1844 L. Niedermeyer, Marie Stuart 1857 C. Baudelaire, Les Fleurs du Mal 1870 A. Rimbaud, Cahier de Douai 1871 A. Rimbaud, Poésies 1956 Le bricoleur G. Brassens 1963 Un violon, un jambon S. Gainsbourg C. Nougaro 63 2.7 Korpus 100 Für die Interpreten, siehe die Fußnoten in den Kapiteln 1, 3 und 6. Cécile, ma fille 1964 Rimbaud, Ma Bohème Rimbaud, Les Corbeaux L Ferré L. Ferré 1972 San Francisco M. Le Forestier 2002 Jamais d’autres A. Bashung 2012 Rimbaud, Ma Bohème Baudelaire, Invitation au voyage A. Vertu G.-C. Thériault 2014 Baudelaire, Invitation au voyage Grand Corps Malade 2015 Baudelaire, L’homme et la mer D. Mesguich 2016 Baudelaire, L’homme et la mer Rimbaud, Les Corbeaux M. Garçon G. Desarthe 2017 Baudelaire, Invitation au voyage Rimbaud, Les Corbeaux M. Mansour Têtes raides 2018 Baudelaire, L’homme et la mer EleMC Musique 2020 Rimbaud, Ma Bohème Mathéo Tabelle 4: Korpus: Literarische und musikalische Quellen (Texte und Aufnahmen) Biographische Notiz der Autoren 100 Antonini, Annibale, 1702-1755, aus Italien stammender Grammatiker, Italienischlehrer und Übersetzer in Paris. Seine Principes de grammaire (1753) behandeln die Aussprache und Rechtschreibung des Französischen, die Wortarten, und die Verslehre. Antonini verfasste ebenfalls ein zweisprachiges Wörterbuch (Italienisch-Französisch). Arnauld, Antoine, genannt le Grand Arnauld, 1612-1694, Theologe, Logiker und Sprach‐ philosoph. Die in Zusammenarbeit mit Claude Lancelot verfasste Grammaire générale et raisonnée von 1660 gilt als Geburtsstunde der Gattung. Behandelt werden die Sprachen Französisch, Latein, Griechisch, Hebräisch, Spanisch und Italienisch sowie „nordische Sprachen“. Bacilly, Bénigne de, 1621-1690, Sänger und Verfasser eines der wichtigsten Gesangstrak‐ tate des französischen Barock, in dem in drei Teilen die Technik und ästhetischen Lehren in der Tradition seines Lehrers Pierre de Nyert dargestellt werden. Die erste Auflage stammt von 1668 und trägt de Titel Remarques curieuses sur l’art de bien 64 2 Sprache und Musik: Ästhetische Wandel im Laufe der Jahrhunderte chanter, eine dritte Auflage erschien noch einmal zu Lebzeiten des Autors im Jahre 1679. Bary, René, gest. 1680, Historiograph und Rhetoriker. Seine Méthode pour bien prononcer un discours von 1679 gilt als eines der wichtigsten für die Arbeit der Schauspieler verfassten Werke der Epoche. Batteux, Charles, 1713-1780, Kunsthistoriker und Philosoph, seit 1761 Mitglied der Académie française. Seine Veröffentlichungen spielten eine wichtige Rolle für die Konzeption des Kunstbegriffes in Frankreich und beeinflussten in besonderer Weise Friedrich-Melchior Grimm und Jean-Jacques Rousseau. Baudelaire, Charles, 1821-1867, französischer Poet, dessen Hauptwerk Les Fleurs du Mal von 1857 mehrfach zu Kompositionen inspirierte (Claude Debussy, Louis Verne, André Caplet, Léo Ferré…). Beauzée, Nicolas, 1717-1789, seit 1772 Mitglied der Académie française, Nachfolger Du Marsais‘ für die Redaktion der Artikel zur Grammatik für die Encyclopédie. Seine Grammaire générale von 1767 gilt als Höhepunkt der systematischen Darstellung des grammatikalischen Wissens des 18. Jahrhunderts. Eine zweite Auflage erschien 1819. Becq de Fouquières, Louis, 1831-1887, an antiken Themen interessierter Literaturkritiker und Poet. Béthisy de Mézières, Eugène-Eléonore, 1709-1781, Schriftsteller, Militär und Politiker. Seine Effets de l’air sur le corps humain considérés dans le son von 1760 sind in zahlreichen Exemplaren überliefert. Bosquet, Jean, ca. 1530-1595, Grammatiker aus Mons. Bei seinen Elemens von 1586 handelt es sich um ein in Frage- und Antwortform verfasstes pädagogisches Werk. Boulliette, Abbé, geb. 1720. Der ausschließlich den Lauten des Französischen gewidmete Traité des sons von 1760 wurde 1788 ein zweites Mal aufgelegt. Bourgeois, Loys, 1510-1560, Komponist und Musiktheoretiker. Sein Le droict chemin de musique von 1550 behandelt Notenkunde und Rhythmustheorie sowie den Psalmen‐ gesang in der protestantischen Tradition. Buffier, Claude, 1661-1717, in Polen geborener französischer Grammatiker. Seine Gram‐ maire françoise von 1709 hat einen pädagogischen Hintergrund und richtet sich an französische Muttersprachler ebenso wie an ausländische Sprachlerner. 1714, 1723 und 1729 erschienen Neuauflagen. Caussade, François Jean-Jacques de, 1841-1914, Bibliothekar, Literat und Redakteur. Certon, Pierre, 1510/ 1515-1572, Komponist der Renaissance, beinahe 40 Jahre als Maître des enfants an der Sainte-Chapelle von Paris tätig. Chiflet, Laurent, 1598-1658, aus einer kultivierten wohlhabenden Familie in Besançon stammender Grammatiker. Dieser Kontext erlaubte es Chiflet, ein reiches intellek‐ tuelles Netz zu pflegen. Sein Essay d’une parfaite Grammaire (1659), die mehrere Auflagen (von 1664 2 Anvers bis 1668 6 Köln, und daneben von 1669 bis 1722 unter 65 2.7 Korpus dem Titel Nouvelle et parfaite grammaire françoise in Paris) kannte, richtet sich an Personen, die die französische Sprache erlernen möchten. Corneille, Pierre, genannt le Grand oder Corneillé aîné, 1606-1684, französischer Schrift‐ steller. Sein Theaterstück Le Cid stammt von 1637 und ist hauptsächlich in Alexandrinern abgefasst. Couperin, François, genannt le Grand, 1668-1733, Komponist, Cembalist und Organist am Hofe Ludwigs XIV. Sein Traktat L’Art de toucher le clavecin von 1716 ist ein pädagogisches Werk. Eine 2. Auflage erfolgte 1717. Cousu, Antoine de, 1600-1658, Jesuit, Musiktheoretiker und Komponist. Seine Musique universelle von 1658 bietet eine umfassende Erklärung der Musiktheorie und Kontra‐ punktlehre der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. De Brosses, Charles, 1709-1777, Jurist und Gelehrter. Sein Traité de la formation mécha‐ nique des langues von 1765 gilt als erstes Modell einer universellen und nicht von religiösen Theorien bestimmten Erklärung für die Konstituierung und die Entwick‐ lung der Sprachen. Eine zweite französische Auflage erschien im Jahr IX (1801). Bereits 1777 wurde der Text unter dem Titel Über Sprache und Schrift in Leipzig veröffentlicht, 1821 erschien eine russische Übersetzung in St. Petersburg (Rassoujdenie o mekhanit‐ cheskom sostave ïazykov i fizitcheskikh natchalakh etymologhii). Deimier, Pierre de, gest. 1618, Poet aus Avignon. Die Académie de l’art poétique von 1610 ist sein Hauptwerk und behandelt die modernen poetischen Formen des angehenden 17. Jahrhunderts. De la Grasserie, Raoul, 1839-1914, laut Titelblatt seiner Phonétique générale Richter am Tribunal von Rennes, Mitglied mehrerer literaturwissenschaftlicher und linguis‐ tischer Zirkel. Delattre, Pierre, 1903-1969, französischer Phonetiker und Laienmusiker, 1924 in die USA ausgewandert. Seine Spezialität war die kontrastive Lautanalyse (Französisch, Englisch, Spanisch und Deutsch). Di Cristo, Albert, geb. 1940, emeritierter Professor für Prosodie der Université de Provence. D’Olivet, Pierre-Joseph, 1682-1768, seit 1723 Mitglied der Académie française, Verfasser des ersten, eigens der französischen Prosodie gewidmeten Traktates. Das Werk kannte zahlreiche Wiederauflagen. Dorfeuille, Pierre-Paul Godet (genannt Dorfeuille), 1745-1806, Schauspieler und Theater‐ direktor in Paris und zahlreichen anderen Städten Frankreichs und Belgiens. Verfasser von Komödien und Schriften zur Schauspielkunst. Du Bellay, Joachim, 1522-1560, französischer Poet. Gründete mit Pierre de Ronsard die Pléiade, eine Gruppe von Dichtern, für die Du Bellay sein Manifest Défense et illustration de la langue française schrieb. 66 2 Sprache und Musik: Ästhetische Wandel im Laufe der Jahrhunderte Du Bos, Jean-Baptiste, 1670-1742, katholischer Priester, Diplomat, Historiker, Schrift‐ steller und Philosoph, seit 1720 Mitglied der Académie française. Seine Réflexions critiques sur la poésie et la peinture beschäftigen sich mit Kunst-, Literatur- und Musiktheorie. Eine erste Auflage erschien 1719, die zweite erweiterte Auflage 1733. Die dritte, hier verwendete Auflage wurde 1740, 1755 und 1770 gedruckt. Dubroca, Louis, 1757 - nach 1834, Autor, Rhetoriklehrer und von 1801/ 1802-1810 Buchhändler in Paris, verwendete mehrere Pseudonyme. Eine zweite Auflage seiner Art de lire à haute voix erschien 1824 und 1825 mit einem Supplement. Du Marsais, César Chesneau, 1676-1756, Grammatiker mit fundierter oratorischer Ausbildung, Advokat am Pariser Parlament. Am Ende seines Lebens Mitarbeiter der Encyclopédie von Diderot und D’Alembert. Dupuis, Sophie, 19. Jahrhundert (genaue Lebensdaten unbekannt), Mitglied der Pariser Société grammaticale. Fónagy, Ivan, 1920-2005, ungarischer Philologe, Psychoanalytiker und Phonetiker. Seit 1967 in Paris, Forscher am CNRS. Garde, Paul, 1926-2021, Linguist mit den Schwerpunkten Slavistik und Allgemeine Linguistik. Girault-Duvivier, Charles Pierre, 1765-1832. Seine Grammaire des grammaires von 1840 ist die Frucht der Unterweisungen für seine Tochter. Der äußert erfolgreiche Text erlebte zwischen 1811 und 1886 zahlreiche Auflagen in Paris (1811 1 , 1812 2 , 1818 3 , 1822 5 , 1830 7 , 1840 9 , 1842 11 , 1853 21 , 1886 21 ) und (ohne Genehmigung) in Brüssel (1835 12 ). Grammont, Maurice, 1866-1946, Schüler Rousselots, Komparatist, Phonetiker und Dia‐ lektologe. Er gründete 1904/ 1905 das Phonetische Institut an der Universität Paul Valéry in Montpellier. Grétry, André-Ernest-Modeste, 1741-1813, belgisch-französischer Komponist, von Di‐ derot und Rousseau bewundert. Seine dreibändigen Memoires ou Essais sur la musique erschienen 1789. Grimarest, Jean-Léonor Le Gallois de, 1659-1713, Mathematiker, Sprachlehrer und Historiker. Sein Traité du récitatif von 1707 entstand im Rahmen einer Querelle über die erste, von Grimarest verfasste Biographie zu Molière. Eine zweite Auflage wurde 1740 gedruckt. Guilliaud, Maximilien, 1522-1597, Priester, Komponist, Philosoph und Musiktheoretiker. Die Rudiments de musique pratique von 1554 behandeln vor allem Melodie und Rhythmus. Hotteterre, Jacques, genannt le Romain, 1673-1763, aus einer Instrumentenbauerfamilie stammender Flötist und Komponist. Irson, Claude, geb. ca. 1620, Grammatiker und Mathematiker. Seine 1656 veröffentlichte Nouvelle Methode ist ein pädagogisches, normatives Werk und richtet sich an ein 67 2.7 Korpus mondänes muttersprachliches Publikum. Eine neue, stark veränderte Version erschien 1660 und 1662. Kahn, Félix, französischer Linguist des 20. Jahrhunderts. Lacépède, Etienne de la Ville-sur-Illon, comte de, 1756-1825, Naturalist, Militär, Politiker, Komponist und Musiktheoretiker, Verteidiger der Theorien Rousseaus. Die Poétique de la musique von 1785 umfasst vier Hauptteile zur Geschichte der Musik, zu Musiktheorie und Ästhetik, zur Kirchen- und Instrumentalmusik. Laclotte, Fauste, Phonetiker, Neffe und Mitarbeiter Jean-Pierre Rousselots. Lamy, Bernard, 1640-1715, Mathematiker, Philosoph und Physiker. Seine Rhetorik wurde vielfach aufgelegt (1675 1 , 1676 2 und 1678 3 unter dem Titel L’Art de parler, 1688 3 , 1701 4 und 1715 5 ) und erschien bereits 1753 bei Richter in einer deutschen Übersetzung mit dem Titel Die Kunst zu reden. Lancelot, Claude, ca. 1616-1695, den Janseniten von Port-Royal verbundener Gramma‐ tiker und Pädagoge, verfasste mit Antoine Arnauld die erste Grammaire générale. Landais, Napoléon, 1804-1852, Lexikograph (Dictionnaire général et grammatical des dictionnaires français, 1834) und Grammatiker, außerdem Romanschriftsteller mit dem Pseudonym Eugène de Massy. La Touche, Pierre de, gest. 1730, Grammatiker protestantischer Konfession, der nach dem Edikt von Nantes aus religiösen Gründen nach England und in die Niederlande floh. Weitere Auflagen seiner Art de bien parler von 1710, 1730, 1737 und 1747 sind erhalten. Le Cerf de la Viéville, Jean-Laurent, Sieur de Fréneuse, 1674-1707, Jurist, Poet und Ma‐ gistrat in Rouen. In seinen musiktheoretischen Schriften verteidigt er die französische Musik und besonders die Tragédie lyrique Lullys. Le Faucheur, Michel, 1585-1657, Schweizer protestantischer Prediger. Sein 1657 erstmals erschienenes und im 17. Jahrhundert häufig wieder aufgelegtes Traité de l’action de l’orateur bildet ein wichtiges Dokument für die Deklamation des 17. Jahrhunderts. Le Gras, Vorname und Lebensdaten unbekannt, im 17. Jahrhundert als Advokat im Pariser Parlament tätig. Lesclache, Louis de, 1620-1671, Literat, Philosoph und Professor für Grammatik und Philosophie. Seine Rhétorique ist als Manuskript überliefert. Loneux, Eugène, 19. Jahrhundert (genaue Lebensdaten unbekannt), Grammatiklehrer im Departement von Ourthe (heute Belgien) und Verfasser einer Grammaire générale. Lully, Jean-Baptiste (Giovanni Battista Lulli), 1632-1687, französischer Komponist, Violinist und Tänzer italienischer Abstammung. Die von ihm in Zusammenarbeit mit Philippe Quinault geschaffene Gattung der Tragédie lyrique bildet das französische Gegenstück zur italienischen Oper. Lussy, Mathis, 1828-1910, aus der Schweiz stammender und in Paris beheimateter Organist und Pianist, Verfasser mehrerer musiktheoretischer Schriften. 68 2 Sprache und Musik: Ästhetische Wandel im Laufe der Jahrhunderte Magdics, Klara, ungarische Linguistin des 20. Jahrhunderts, zahlreiche Forschungen zu Sprache und Musik. Marichelle, Hector, 1862-1929, Schüler Jules-Etienne Mareys, dem Erfinder der Gra‐ phischen Methode. Als Professor am Pariser Institut des jeunes sourdes galt sein besonderes Interesse Fragen der Gehörlosigkeit. Marmontel, Jean-François, 1723-1799, Enzyklopädist, Historiker, Schriftsteller, Poet, Dramaturg und Philosoph, seit 1783 Mitglied der Académie française, Gegner der Theorien Rousseaus. Martin, Philippe, emeritierter Phonetikprofessor der Université Paris Diderot - Paris 7. Maupas, Charles, ca. 1570 - ca. 1625, Grammatiker, Chirurg und Sprachenlehrer. Die erste Auflage seiner Grammaire et syntaxe françoise stammt aus dem Jahr 1607. Die zweite, deutlich überarbeitete Auflage wurde mehrmals neu gedruckt (1625, 1632, 1638), Übersetzungen ins Lateinische erschien 1626 in Lyon (Grammatica et Syntaxis), ins Englische 1634 in London (A French grammar and syntaxe). Meigret, Louis, ca. 1500-1556, der Reformation nahestehender Lyoner Grammatiker und Übersetzer altsprachlicher Texte. Neben seinem Tretté de la grammere franzoese von 1550 veröffentlichte er auch einen Vorschlag zu einer Rechtschreibreform des Französischen (1542, Traité touchant le commun vsage de l’escriture francoise). Mersenne, Marin, 1588-1648, Physiker, Optiker, Akustiker, Ornagologe, Mathematiker, Geometriker, Chemiker, Astronom, Grammatiker, Historiker, Philosoph, Theologe und Musiker. Seine Harmonie universelle von 1636 gilt als wichtige Enzyklopädie des Wissens des ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts. Mertens, Piet, emeritierter, auf akustische Phonetik, Phonologie und Prosodie speziali‐ sierter Linguistikprofessor der Universität Leuven (Belgien). Messiaen, Olivier, 1908-1992, Komponist, Organist, Musiktheoretiker und Ornithologe. Neben der Reihentechnik spielen Vogelstimmen in seinen Kompositionen eine wich‐ tige Rolle. Momigny, Jérôme Joseph de, 1762-1842, Komponist und Musiktheoretiker, Mitarbeiter an der Encyclopédie méthodique von Panckoucke (1818), Wichtiger Theoretiker der Phrasierungskunst und Analytiker der Werke Haydns und Mozarts. Montmignon, Jean-Baptiste, 1737-1824, Philologe und Priester, 1786 und 1787, Heraus‐ geber des Journal ecclésiastique. Sein Système de prononciation bezieht sich besonders auf das Englische und das Französische, enthält aber auch den Vorschlag eines universellen Lautalphabets. Nicole, Pierre, 1625-1695, Theologe und Philosoph und enger Mitarbeiter von Antoine Arnauld. Niedermeyer, Louis Abraham, 1802-1861, Schweizer Komponist und Musikpädagoge, nahm 1848 die französische Staatsbürgerschaft an. Marie Stuart (1844) ist die zweite seiner drei in Paris aufgeführten Opern. 69 2.7 Korpus Oudin, Antoine, 1595-1653, Grammatiker, Dolmetscher und Lexikograph. Die erste Auflage seiner Grammaire francoise, die auf der Basis des Textes von Maupas beruht, stammt von 1632, weitere Auflagen wurden 1633 2 , 1645 4 , 1648 5 , 1656 6 und 1664 7 in Paris und in Rouen gedruckt. Palsgrave, John, ca. 1485-1554, englischer Grammatiker und Lexikograph, Autor der ersten Grammatik für das Französische (Lesclarcissement de la langue Francoyse). Der auf Englisch verfasste Text erschien 1530 in London und richtet sich an ein nicht muttersprachliches Publikum. Passy, Paul, 1859-1940, Linguist und Phonologe, Gründer der Association phonétique internationale (1886). Ramus (Pierre de Ramée), 1515-1572, Humanist und Professor für Philosophie und Mathematik. Er veröffentlichte zwei grammatikalische Werke: Gramere (1562) und Grammaire (1572). Beide sind in Dialogform verfasst, die Gramere verwendet au‐ ßerdem ein eigenes Alphabet. Régnier-Desmarais, François-Séraphin, 1632-1713, Grammatiker, seit 1670 Mitglied der Académie française. Sein Traité de la grammaire françoise wurde 1705 erstmals aufgelegt. Reicha, Anton oder Antoine, 1770-1836, geboren in Prag, nach Aufenthalten in Bonn und Wien 1808 nach Paris emigriert. Seit 1818 Professor für Kontrapunkt am Pariser Conservatoire. Zu seinen Schülern zählen Franz Liszt, Hector Berlioz, Charles Gounod und César Franck. Rimbaud, Arthur, 1854-1891, französischer Poet, dessen Werke von einer großen theo‐ retischen und stilistischen Dichte gekennzeichnet sind. Ronsard, Pierre de, 1524-1585, gilt als Prince des poètes und als Poète des princes, eine der wichtigsten Figuren der poetischen Literatur der Renaissance. Roudet, Léonce, 1861-1935, Verfasser mehrerer Werke zur experimentellen Phonetik. Rousseau, Jean, geb. 1644, Gambist, nicht zu verwechseln mit Jean-Jacques Rousseau. Rousseau, Jean-Jacques, 1712-1778, Philosoph, Pädagoge, Schriftsteller, Komponist, Ver‐ fasser von (unter anderem) sprachphilosophischen und musiktheoretischer Schriften. Rousselot, Jean-Pierre (Abbé), auch Pierre-Jean, 1846-1924, begann seine phonetischen Arbeiten im Bereich der Dialektologie und arbeitete an der Entwicklung des phoneti‐ schen Instrumentariums. Seine Arbeiten hatten internationalen Einfluss ( J. Chlumsky, G. Panconcelli-Calzia, Th. Rosset, G. O. Russell, R. H. Stetson, G. Straka …). Saint-Lambert, (Michel? ) de, gest. nach 1702, französischer Cembalist, von dem zwei theoretische Werke, eines zum Cembalospiel (1702) und eines zum Generalbass (1707), überliefert sind. Simon, Anne-Catherine, Linguistin, Professorin an der Université catholique von Louvain. 70 2 Sprache und Musik: Ästhetische Wandel im Laufe der Jahrhunderte Thurot, Jean-François, 1768-1832, Hellenist, Grammatiker, Übersetzer und Philosoph, seit 1830 Mitglied der Académie des inscriptions et belles lettres, Mitgründer der Ecole polytechnique. Tyard, Pontus de, 1521-1605, Bischof von Chalon-sur-Saône, gehörte zum Umfeld der Dichter der Pléiade. Sein Solitaire second (1555) betont das neuplatonische Ideal einer engen Verbindung von Poesie und Musik (während der Solitaire primaire von 1552 eine humanistisch-philosophische Haltung zur Musik einnimmt). Tyszler, Corinne, Pädopsychiaterin in Paris, zahlreiche Veröffentlichungen zur Psycho‐ logie von Kindern und Jugendlichen. Vairasse d’Allais, Denis, ca. 1630-1682, Doktor in Jura, den Janseniten nahestehend. Seine Grammaire méthodique behandelt zwar in erster Linie das Französische, doch sind gute Englisch- und Lateinkenntnisse des Autors spürbar. Véron, Eugène, 1825-1889, Absolvent der Ecole normale, Philosoph, Rhetoriker und an kunstästhetischen Fragen interessierter Schriftsteller. Vuillaume, Jean-Dominique, ? - nach 1881, Priester und Rhetorikprofessor am Seminar von Châtel-sur-Moselle. Die erste Auflage seines Cours complet de Rhetorique erschien 1857. 71 2.7 Korpus 3 Vorteile und Problemfelder der gemeinsamen Metasprache Die in Sprachwissenschaft und Musiktheorie gemeinsam verwendete Meta‐ sprache war jahrhundertelang für beide Disziplinen von Vorteil, da sie einem breiten Publikum ein intuitives Verständnis der angesprochenen Phänomene ermöglichte. In beiden Bereichen, Sprache und Musik, wird an eine zeitliche und sequentielle Dimension verwiesen: Man schreitet von einer Note zur nächsten, so wie man von einer Silbe zur nächsten geht, und bildet damit Phrasen und Melodiekurven oder Bögen. Begriffe wie hauteur (verbunden mit den Adjektiven aigu -hoch und bas oder grave - tief), mélodie und intonation lassen selbst nicht sprachwissenschaftlich und musikalisch Gebildete sofort an die Höhe eines Tons oder Lautes denken. Die in Hertz (Hz) gemessene fréquence fondamentale oder Grundfrequenz, der heute bei den Phonetikern übliche Fachbegriff, bedarf allerdings gegebenenfalls einer Erklärung. Die Dauer oder Länge eines Klanges oder Tons in Bezug auf eine periodisch wiederkehrende, stabile Einheit, wie zum Beispiel den Puls, wird allgemein mit dem Begriff rythme (Rhythmus) in Verbindung gebracht. In der Sprachwis‐ senschaft spricht man heute von dem Alternieren betonter und unbetonter Segmente, während die Grammatiker und Rhetoriker früherer Zeiten zur Rhythmusbeschreibung hauptsächlich den heute noch im Deutschen üblichen Begriff der Quantität (quantité) verwendeten. In der Musik entspricht der rythme der zeitlichen Gliederung der Melodie durch unterschiedliche Tondauern, Ton‐ stärken und Pausen. Das Tempo spielt in beiden Disziplinen eine Rolle, da es die Geschwindigkeit beschreibt, mit der ein bestimmter Prozess vonstattengeht und damit den relativen Dauern einen genauen Wert zuordnet. Heute spricht man in der Sprachwissenschaft üblicherweise vom débit und in der Musik von tempo. Der Parameter der Intensität (intensité) bezieht sich auf Variationen der amplitude und der énergie. In einem weiteren Sinne handelt es sich um die Lautstärke eines Klanges aufgrund einer Erhöhung der zu seiner Realisierung aufgewendeten Kraft (force). In der Musik spricht man heute vom Volumen (volume), der in Dezibel (dB) gemessenen Lautstärke. Die Veränderung der Lautstärke wird (im Französischen wie im Deutschen) mit den italienischen Worten crescendo und decrescendo beziehungsweise diminuendo beschrieben. Im Bereich der Phonetik hat der Begriff intensité einen engeren Sinn und verweist auf die Verstärkung eines Sprachlauts durch artikulatorische Bewegungen. Allgemein gesehen handelt es sich jedoch immer um Mittel, mit deren Hilfe ein Sprecher, eine Sprecherin, ein Musiker oder eine Musikerin die Melodie des Satzes oder der Musik nuancieren können. Ein Akzent setzt sich nach heutigem Verständnis aus der Kombination von mehreren der oben genannten Parameter zusammen. Er dient dazu, eine Silbe, eine Artikulation oder einen Ton hervorzuheben und damit zu betonen. Der Akzent kann durch ein Muster vorgeben sein, zum Beispiel die gewählte lexikalische Einheit, der eine bestimmte Wortbetonung eigen ist (accent tonique) oder eine bestimmte musikalische Figur, die eine bestimmte Note mit den durch die musikalische Rhetorik kodifizierten Mitteln hervorhebt. Es kann sich jedoch ebenfalls um einen expressiven Akzent handeln, der beispielsweise eine besonders wichtige Textstelle oder einen musikalischen Höhepunkt betont. Durch die Verwendung einer gemeinsamen Metasprache in Linguistik und Musik wird die „Musik der Sprache“ augenfällig. Melodiösität, Intensität und Rhythmus der Sprache sprechen die Hörenden an, die sie unbewusst bei der Dekodierung der in den Worten enthaltenen Aussage berücksichtigen (vgl. Di Cristo, 2013: 2). Damit werden Sprache und Gesang in derselben Art und Weise durch den Rückgriff auf musikalische Parameter bereichert. Die verschiedenen Terme der Metasprache haben in der Regel eine lange Tradition in der Musik. Als die Grammatiker des 16. und 17. Jahrhunderts langsam begannen, prosodische Fragen in ihre Überlegungen aufzunehmen, konnten sie also auf ein Vokabular zurückgreifen, das nicht nur teilweise der Umgangssprache entlehnt war (durée, hauteur…), sondern auch, wie das Wort rythme, bereits eine festgelegte Bedeutung bei den Musiktheoretikern und Poeten haben konnte. Der Vorteil, einen bereits mit einem bestimmten Sinn verbundenen Term zu verwenden, liegt auf der Hand. Dieser so praktisch anmutende Transfer bildete allerdings, wie an anderer Stelle (Schweitzer, 2018) gezeigt werden konnte, manchmal ein Hindernis, da er die Weitsicht der Forscher trüben konnte, die oftmals erst nach jahre- oder jahrzehntelangem Suchen und der Erkenntnis, dass manche Phänomene nicht direkt von einer Disziplin in eine andere übertragen werden können, in ihren Überlegungen wirklich tiefgreifende Fortschritte erzielen konnten. Das folgende Kapitel zeigt anhand ausgewählter Beispiele a. wie Terme und Konzepte in ein- und derselben Disziplin im Laufe der Jahrhunderte in Verbindung mit neuen ästhetischen Ausrichtungen und Praktiken den neuen Bedürfnissen angepasst wurden; und b. wie sich Definitionsabweichungen eines bestimmten Terms oder Kon‐ zeptes in den beiden Disziplinen artikulieren können. 74 3 Vorteile und Problemfelder der gemeinsamen Metasprache 101 Der Begriff der quantité taucht ebenfalls in einigen Musiktraktaten auf, beispielsweise bei Guilliaud (1554). Er bezeichnet in diesem Fall die Notenlänge. 102 „Il ny a poinct de doubte que chacune syllabe ne nous soit longue ou brieue, & que nous ne la proferions sans y penser: Car vous prononces aultrement Pate, qu-t vous dictes pate de chien, & aultrement qu-d vous dictes pate de farine“, Ramus (1572: 40-41). 103 „Accĕtuër chascune sillabe à sa mesure, qu-tité, & bien-seance“, Bosquet (1586: 135). 104 Vgl. zum Beispiel Chiflet (1680: 3): „Les Consones ou Consonantes, sont les Lettres, qui ne se peuvent prononcer, & n’ont point de son sans l’aide de quelque voyelle“. 3.1 Die Bedeutung des Begriffs „quantité“ Renaissance Der Begriff der quantité, von dem ausführlicher noch im folgenden Kapitel die Rede sein wird, durchzieht jahrhundertelang das französische Schrifttum. Bereits die erste, der französischen Sprache gewidmete und in England im Jahr 1530 erschienene Grammatik von John Palsgrave versucht, Regeln zur Identifikation der kurzen und langen Silben zu geben. 101 Für Pierre de Ramus (1572) steht die Existenz einer Quantität im Französischen außer Frage und er vergleicht in dieser Hinsicht seine Muttersprache mit dem Griechischen und dem Lateinischen. 102 Lange und kurze Silben erhalten ihre Länge par nature (naturlang) oder par position (positionslang), das heißt, dass die Längung entweder worteigen oder kontextbezogen ist. Die Grammatiker versuchen, die Quantität der Worte und Silben zu definierten und die Kontexte für bestimmte typische Längungen zu be‐ stimmen. Dieselben Bestrebungen finden sich bei den Autoren der theoretischen Texte zu Poesie und Rhetorik. Jean Bosquet (1586: 135) erwähnt zum Beispiel die Wichtigkeit einer gut akzentuierten und mit der richtigen Quantität versehenen Aussprache jeder Silbe. 103 Dabei sprechen die verschiedenen Autoren zwar von der Silbenlänge, diese scheint aber ausschließlich von der Vokallänge abzuhängen. Der Konsonant con-sonne: Er ist ein Mitlaut, der nur dann klingt, wenn er in Verbindung mit einem Vokal ausgesprochen wird und der keinen Einfluss auf die Gesamtdauer auszuüben scheint. 104 Silben- und Vokallänge überschneiden sich: Wie in Kapitel 2 erwähnt, spielt ihre Unterscheidung für die Autoren offenbar nicht wirklich eine Rolle. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts hat die Silbenlänge eine besondere Wichtigkeit in den bereits erwähnten vers mesurés à l’antique (siehe Kapitel 2). Die Wiederbelebung der antiken Verstechnik bedingte die Klassifizierung der Silben in lang (longue) und kurz (brève). Um die verschiedenen Vokallängen 75 3.1 Die Bedeutung des Begriffs „quantité“ 105 Das Konzept der grammaire latine étendue geht auf Sylvain Auroux (1994) zurück. Er versteht darunter die Übertragung des metalinguistischen Handwerkszeugs auf die neu entstehenden Grammatiken anderer Sprachen. Die im Kontext der grammaire latine étendue verfassten Grammatiken weisen eine große Ähnlichkeit in Aufbau, Kategorisierung und Metasprache auf. Die mit den Besonderheiten ihrer Sprache konfrontierten Grammatiker lösten sich oft erst Jahrzehnte (oder Jahrhunderte) später von dieser Vorlage. 106 Vgl. den Titel des Kapitels „De l’Accent ov quantité“ seiner Grammatik von 1640. 107 Vgl. Antonini (1753: 117): Die Quantität entspricht „la mesure du tems, qui s’emploie à la prononciation d’une syllabe“. anzuzeigen, entwickelte Antoine Baïf sogar ein eigenes graphisches System, das nicht nur Lesern und Leserinnen, sondern auch den Komponisten eine konkrete Vorgabe für die gewünschte Silbenlänge gab (vgl. Combettes, 2020: 11). Der Universalgelehrte Marin Mersenne widmet den theoretischen Arbeiten Baïfs einige Seiten in seinem Hauptwerk Harmonie universelle (1636) und spricht dabei von den praktischen Umsetzungen des quantitierenden Prinzips der vers mesurés in musikalische Rhythmen, wie sie in den Kompositionen der Mitarbeiter Baïfs zu finden sind (vgl. Kapitel 4). Mersenne unterstreicht in diesem Zusammenhang besonders die große Wirkung des Rhythmus auf den Geist (1636: 375). Vermutlich aufgrund der Nähe zur Metrik wird der Begriff der Quantität oft in enger Verbindung mit dem des Akzents verwendet. Die lateinischen Grammatiker hatten die Akzentlehre der antiken Griechen übernommen, so dass die griechischen Konzepte und Terminologien im Rahmen der grammaire latine étendue  105 direkt in Frankreich Fuß fassen konnten. „Die Übertragung der quantifizierenden Metrik auf die französische Dichtung, die die metrischen Prinzipien der Silbenzählung und Akzentuierung miteinander verknüpfte, erwies sich jedoch als problembehaftet“, betont zu Recht Cordula Neis (2009: 1618). Quantität und Akzent verschwimmen miteinander, und werden bei Antoine Oudin (1640) gar zu Synonymen. 106 Diese extreme Position stellt zwar eine Ausnahme dar, doch wird die Quantität noch lange Zeit als ein wichtiges Merkmal der Akzentuierung betrachtet (vgl. Schweitzer & Dodane, 2020). Barock und Klassik Bei den Grammatikern der zweiten Hälfte des 17. und des 18. Jahrhunderts beruht die Definition der Quantität auf der wahrgenommenen Zeit, die zu der Aussprache eines Klanges (oder einer Silbe) benötigt oder aufgewendet wird. 107 Die langen und kurzen Silben (de nature) sind häufig in Listen zusammengefasst, wobei die Autoren in der Regel vier (Vairasse d’Allais, 1681; Montmignon, 76 3 Vorteile und Problemfelder der gemeinsamen Metasprache 108 Die französischen Quellen verwenden traditionsgemäß den Ausdruck des e muet. Dieser ist heute zu Recht als problematisch angesehen, doch auch der Begriff Schwa ist nicht immer eindeutig (vgl. die Diskussion bei Pustka, 2011: 180). Die hier gewählte (sicherlich ebenfalls problematische) Bezeichnung e caduc verweist auf den virtuellen Charakter des Lautes. 109 „La Quantité physique ou naturelle est la juste mesure de la durée de la voix dans chaque syllabe de chaque mot, que nous prononçons conformément aux lois du méchanisme de la parole & de l’usage national.“/ „La Quantité artificielle est l’appréciation conven‐ tionnelle de la durée de la voix dans chaque syllabe de chaque mot, relativement au méchanisme artificiel de la versification métrique & du rythme oratoire“, Beauzée (1767: 120 und 122). 1785) oder fünf (D’Olivet) Längengrade unterscheiden. Verschiedene Arten systematischer Erklärungen tauchen auf, scheitern jedoch regelmäßig an der zu hohen Zahl der Ausnahmen. Zu den genannten Kriterien zählen beispielsweise das Vorhandensein eines accent circonflexe im Schriftbild (lange oder sehr lange Quantität), die Klangqualität (das e caduc  108 beispielsweise ist ausnahmslos sehr kurz, Nasallaute und Diphthonge dagegen eher lang) und die phonologisch be‐ deutsame Opposition zweier Vokaltimbres. Silben, denen keine feste Quantität zugewiesen werden kann, werden als douteuses (zweifelhaft) bezeichnet. Ihre Länge hängt vom Kontext, das heißt von artikulatorischen und syntaktischen Faktoren, ab. Darüber hinaus können jeder Sprecher und jede Sprecherin die Quantität verändern, um zum Beispiel einer Silbe besonderen Nachdruck zu verleihen. Zur Unterscheidung der beiden Phänomene kann die von Nicolas Beauzée (1767) eingeführte Unterscheidung zweier Arten von Quantität dienlich sein. Beauzée bezeichnet die quantité generell als „mesure de la durée de la voix sensible qui constitue chaque syllabe de chaque mot“, die Dauer der Laute, die die Silben jedes Wortes bilden (1767: 115). Im Einzelnen entsprechen die quantité physique ou naturelle, die physische oder natürliche Quantität, der Silbenlänge gemäß den spracheigenen Regeln und die quantité artificielle oder künstliche Quantität der einer Silbe gemäß den Regeln oder Wünschen des Poeten oder Redners (Sprechers) zugedachten Länge. 109 Die Nähe von Prosodie, Quantität, Akzent und Musik ist bei Beauzée wei‐ terhin spürbar: In der Prosodie der Sprache entspricht der Akzent den verschiedenen Tönen [i. e. Tonhöhen] der Musik, und die Quantität den langen, sehr langen, kurzen und sehr 77 3.1 Die Bedeutung des Begriffs „quantité“ 110 „L’accent, dans la Prosodie, répond aux différents tons de la musique; & la quantité, qui décide les syllabes longues & plus longues, brèves & plus brèves, répond à la valeur des notes, caractérisée dans la musique par les rondes, les blanches, les noires, les croches, les doubles croches, &c.“, Beauzée (1767: 161). 111 Für Dupuis ist die Quantität „un sujet souvent imperceptible dans la prononciation […] Mais toutes [l]es différences de quantité n’ont besoin, pour être saisies, d’aucune étude ni d’aucun effort; elles se trouvent dans la qualité du son même“, Dupuis (1836, Vorwort). 112 „La Syllabe tend à conserver autant que possible la même durée, quel que soit le nombre de phonèmes qui vient s’y adjoindre“, de la Grasserie (1890: 105). kurzen Notenwerten wie den Ganzen, Halben, Vierteln, Achteln und Sechzehnteln, usw. (Beauzée, 1767) 110 Romantik Im 19. Jahrhundert beginnt das Konzept der Quantität leichte Veränderungen zu erfahren, wenn die Tradition auch weiterhin einen starken Einfluss auf die Denk- und Ausdrucksweise der Autoren ausübt. Sophie Dupuis (1836) betrachtet die Quantität zwar als selbstverständlichen Teil des Französischen, schränkt aber ein, dass die unterschiedlichen Silbenlängen oft kaum wahrgenommen werden. 111 Charles-Pierre Girault-Duvivier (1840 [1811]) betont, dass Quantität und (melodischer) Akzent voneinander zu trennen seien. Die Quantität ent‐ spricht der Dauer des Stimmklangs und kann zu phonologisch bedeutsamen Minimalpaaren führen (1840 [1811]: 78). Im Rahmen der Arbeiten der ersten Phonetiker der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kommt es erstmals zu einer deutlichen Differenzierung von Vokal- und Silbenquantität. So betont Raoul de la Grasserie (1890: 90) die Wichtigkeit, zwischen Vokal- und Phonemlänge zu unterscheiden. Er führt weiterhin aus, dass die Silben im Französischen die Tendenz zeigen, immer dieselbe Länge anzustreben. Diese kann durch das (unbewusste) Anpassen der Phoneme untereinander erreicht werden. 112 Die experimentalen Methoden erlauben nunmehr die Messung der genauen Länge jedes Phonems. In der Dissertation von Jean-Pierre Rousselot von 1891 über die phonetischen Beson‐ derheiten des Dialekts einer Familie aus der Gegend von Cellefrouin (Charente) findet sich eine Tabelle, in der Rousselot verschiedene Vokallängen in verschie‐ denen Positionen (isoliert, Wortanfang, Wortende) auflistet (vgl. Bsp. 20). Er stellt damit die Verbindung von Vokaldauer und Silbenstruktur her (vgl. Hirsch & Schweitzer, 2021). Jean-Pierre Rousselot und Fauste Laclotte (1902) beschäftigen sich mit der Wechselwirkung von Rhythmus und Akzent und können damit die jahrhunder‐ 78 3 Vorteile und Problemfelder der gemeinsamen Metasprache 113 „Dans la phrase, l’accent oratoire prévaut sur l’accent du mot et peut dépouiller celui-ci, soit de sa quantité, soit de son intensité, soit de sa hauteur musicale“, Rousselot & Laclotte (1902: 93). telange Verbindung der beiden Phänomen auf eine neue Art betrachten und erklären: Wird ein Wort einzeln, das heißt isoliert ausgesprochen, so befindet sich der Akzent im Französischen auf der letzten gesprochenen Silbe. Diese ist zugleich die Silbe, deren Länge, Intensität und Höhe am ausgeprägtesten sind. Auf Satzebene dominiert der oratorische, expressive Akzent über den Wortakzent und kann dazu führen, dass der zweite seine hervorstechende Quantität, Intensität und Höhe verliert. 113 Moderne Heute unterscheiden die Phonetiker die Quantität der Vokale (die in Sprachen wie dem Lateinischen oder dem Deutschen phonologisch distinktiv sein kann) von der Quantität der Silben, die eine rhythmische Rolle spielen kann. Die distinktive Vokalquantität des heutigen Französisch ist sehr gering, aber ver‐ schiedene Phonemkombinationen können zu perzeptiv offenen und langen, offenen und kurzen oder geschlossenen Silben führen. Diese Eigenschaften spielen manchmal in der Poesie eine Rolle. Das Wort quantité ist weiterhin in Gebrauch, häufiger jedoch wird in der Phonetik von der durée, der Dauer, gesprochen. Zudem wird in der Regel spezifiziert, ob die Quantität oder Dauer den Vokal, das Phonem, die Silbe oder eine Pause betrifft (vgl. Di Cristo, 2013:  13). 3.2 Der „Ton“ in Sprache und Musik Die Definitionen des Petit Robert Das französische Wort ton (Ton) hat eine reiche Bedeutungspalette. Der Petit Robert (Robert, 2010) unterscheidet das semantische Feld „Tonhöhe“ (mit einem eher allgemein gebräuchlichen und einem zweiten, spezialisierteren Bedeu‐ 79 3.2 Der „Ton“ in Sprache und Musik 114 Der Vergleich mit den im Duden (https: / / www.duden.de) angegebenen Bedeutungsfel‐ dern ist aufschlussreich für den Gebrauch der Worte Ton (im Deutschen) und ton (im Französischen): Der Duden nennt neben der Bedeutung des „besonders zur Herstellung von Töpferwaren verwendete[n] lockere[n], feinkörnige[n] Sediment[s]“ mehrere Verwendungsmöglichkeiten des Begriffes Ton. Die Erste ist akustisch: 1a) „Vom Gehör wahrgenommene gleichmäßige Schwingungen der Luft, die (im Unterschied zum Klang) keine Obertöne aufweisen“, 1b) „(aus einer Reihe harmonischer Töne zusammengesetzter) Klang“, 1c) „Tonaufnahme“. Die Zweite verweist auf den Bereich der Grammatik: 2a) „Rede-, Sprech-, Schreibweise, Tonfall“, 2b) „Wort, Äußerung“ (umgangssprachlich). Die Dritte und Vierte gehören in den Bereich der Poetik und Rhetorik: 3. „Betonung, Akzent“, 4. „(in der Lyrik des Mittelalters und im Meistergesang) sich gegenseitig bedingte Strophenform und Melodie; Einheit von rhythmisch-metrischer Gestalt und Melodie)“. Die fünfte und letzte Bedeutungsebene verweist auf den französischen ton im Sinne der Farbschattierung: 5. „wohl nach französisch ton < lateinisch tonus, Kurzform für Farbton“. Neben der unterschiedlichen Gruppierung und Hierarchisierung der Elemente sind zwei Tatsachen auffällig: Der Duden betont die physikalische Akzeptanz des Wortes Ton dadurch, dass ihr eine eigene (und sogar die erste) Gruppe gewidmet ist, und die beiden poetisch-rhetorischen Bedeutungen sind voneinander dadurch getrennt, dass einmal auf das akustische Phänomen verwiesen wird (3), und das zweite Mal die literaturwissenschaftliche Theorie im Vordergrund steht (4). 115 In den Ton- oder Tonakzentsprachen wie dem Mandarin-Chinesischen kann diese Tonhöhe wortbedeutungsdifferenzierend sein. Die Töne bilden hier einen eigenen phonologischen Parameter und haben eine lexikalisch distinktive Funktion (vgl. auch Pompino-Marschall, 2009: 243-245). Das Französische gehört dagegen zu den soge‐ nannten Intonationssprachen. Der ton beschreibt hier eine melodische Qualität. Er kann aufsteigend (montant) oder absteigend (descendant) sein, oder einen Bogen beschreiben (circonflexe). Der ton entspricht damit dem in englischsprachigen Arbeiten verwendeten Begriff tone (das englische tune dagegen verweist auf ein intonatorisches Phänomen). tungsfeld), die Intensität einer Farbe (übersetzbar mit „Farbschattierung“) und den Tonus (im physiologischen Sinne von Muskeltonus). 114 Zum ersten, hier interessanten semantischen Feld gehören zunächst einmal die relative Tonhöhe (hoch, tief, mittel) eines Tones zu einem bestimmten Zeitpunkt oder das timbre, also die einer Stimme oder einem Instrument eigene Farbe. Der ton kann sich auch auf eine Art zu sprechen oder zu schreiben beziehen (man verwendet einen förmlichen/ einen ärgerlichen/ einen freundli‐ chen Ton…) oder das Sprechverhalten in einem gesellschaftlichen Rahmen (man könnte im Deutschen vom Umgangston sprechen). Die spezifischeren Bedeutungen nehmen diese allgemeinen Erklärungen auf und passen sie an be‐ stimmte Disziplinen, ihre Forschungsausrichtungen und Definitionsbedürfnisse an. So bezieht sich die Tonhöhe in der Phonetik auf eine bestimmte, messbare Frequenzzahl eines Phonems, 115 die sich in der Musik durch die Zuordnung der Tonhöhe an eine bestimmte Note manifestiert. Der ton entspricht darüber hinaus dem Ganzton (mit einem Schwingungsverhältnis von 8: 9) und der 80 3 Vorteile und Problemfelder der gemeinsamen Metasprache 116 Akustisch gesehen entsteht ein Ton durch Schwingung eines elastischen Körpers. Die Zahl der pro Sekunde erfolgten periodischen Schwingungen wird in Hertz (Hz) gemessen. Das Schwingungvserhältnis entspricht dem mathematischen Verhältnis der Obertonfrequenzen zur Haupt- oder Grundtonfrequenz der zugrundeliegenden Naturtonreihe. Die Oktave c 1 - c 2 entspricht dem Verhältnis 1: 2, der Ganzton dem Verhältnis 8: 9, usw. 117 Die Modulation wird zum Beispiel als „passage d’un ton à un autre“ beschrieben (Robert, 2010, Artikel „ton“). 118 Die modalen Tonleitern (im Deutschen auch: Kirchentonarten) dorisch, phrygisch, lydisch, mixolydisch, aeolisch und ionisch werden im Mittelalter und in der Renaissance verwendet und finden sich im 20. Jahrhundert zum Beispiel im Jazz wieder. demi-ton dem Halbton (mit einem Schwingungsverhältnis von 9: 10). 116 Neben diesen akustischen Bedeutungen kann das Wort ton im Französischen in der Musik auch verwendet werden, um vom Tongeschlecht 117 (C-Dur, c-Moll…) oder vom Modus 118 (dorisch, phrygisch…) zu sprechen. Man kann darüber hinaus den ton angeben oder anstimmen und damit ebenfalls auf eine, diesmal durch den Kontext der musikalischen Komposition bestimmte, fixe Tonhöhe Bezug nehmen. All diese Bedeutungsebenen zählen im Petit Robert zu den spezifischen oder spezialisierten Semantismen. Die wichtigsten Unterschiede zwischen Phonetik, Musik und allgemeinsprachlicher Akzeptanz des Wortes ton sind in der Tabelle 5 zusammengefasst. Bedeutung in der Phonetik Bedeutung in der Musik Synonyme für die all‐ gemeinsprachliche Bedeu‐ tung • Absolute Tonhöhe (Frequenz) • Melodierichtung, die einem Phonem inner‐ halb einer Sequenz zu‐ geordnet wird • Melodischer Akzent • Absolute Tonhöhe, vor allem in Hinblick auf durch das verwendete musikalische System festgelegte Töne • Klanggeschlecht • Das Intervall Ganzton (Halbton) • Tonfall • Farbton • Ausdruck • Ein akustisches Phä‐ nomen Tabelle 5: Verwendung des Wortes „ton“ im Französischen (Phonetik, Musik und allge‐ meinsprachlicher Gebrauch), nach Robert (2010) 81 3.2 Der „Ton“ in Sprache und Musik 119 Die 9. Edition ist in Arbeit und der Buchstabe T ist zum Zeitpunkt der Verfassung dieses Textes noch nicht erschienen. Für einen genauen Textvergleich der acht ersten Editionen, siehe Bsp. 21 120 Zur Wortfamilie zählen auch entonner (anstimmen), detonner (falsch oder unsauber singen oder spielen) und monotonie (Eintönigkeit). Die ersten beiden Bedeutungen sind in den späteren Auflagen in den Artikel ton integriert. 121 Von der zweiten Auflage an sind die Einträge des Dictionnaire alphabetisch geordnet. Die Dictionnaires de l’Académie (1694-2021) Der Vergleich der verschiedenen Editionen des Dictionnaire de l’Académie française (1694 1 , 1718 2 , 1740 3 , 1762 4 , 1798 5 , 1835 6 , 1878 7 und 1935 8 ) 119 zeigt die Entwicklung des Sprachgebrauchs (auch wenn eine genaue Untersuchung der Definitionen in den einzelnen Disziplinen sicherlich weitere Feinheiten zutage bringen kann). Die erste, noch nicht alphabetisch, sondern nach etymologischen Gesichts‐ punkten aufgebaute Edition nennt eine allgemeinsprachliche und eine musika‐ lische Verwendung des Begriffes. Es handelt sich generell um eine Nuance der Tonhöhe („certain degré d’élévation ou d’abaissement de la voix, ou de quelque autre son“) und eine bestimmte Art zu sprechen („prendre de certaines manieres, und certaine conduite, un certain procédé“), die man auch wechseln („changer“) kann. In diesem Sinne wird das Wort ton lange Zeit in den Rhetoriken und in den für Schauspieler und Schauspielerinnen verfassten Texten verwendet, die (zum Beispiel) mit einem zornigen, heiteren oder melancholischen Ton sprechen (vgl. Chaouche, 2001). Musikalisch gesehen handelt es sich zunächst einmal um den Modus (die Kirchentonart) und die Stimmtonhöhe der Instrumente und in zweiter Linie um die Intervalle Ganzton (ton) und Halbton (demy-ton, ou semi-ton). 120 Die Editionen von 1718 121 und 1740 unterscheiden sich inhaltlich von der ersten Ausgabe hauptsächlich durch die Anzahl der Beispielsätze. Erst in der vierten Edition von 1762 erscheint eine neue Bedeutungsvariante: die Farbschat‐ tierung und der Farbton. Das Wort ton hat damit am Ende des 18. Jahrhunderts immer noch zwei Bedeutungsfelder: ein allgemeinsprachliches und ein nunmehr erweitertes künstlerisches (Musik und Malerei). Im 19. Jahrhundert erfolgt zunächst eine Ausweitung in den medizinischen Bereich: Von der 6. Edition (1835) ab ist die Bedeutung von Tonus („L’Etat de tension, d’élasticité ou de fermeté naturel aux différents organes du corps“) am Ende des Lexikonartikels angefügt. Darüber hinaus ist auffällig, dass der Verweis auf die akustisch messbare, exakte Frequenzzahl weiterhin (und bis zur 8 Auflage) fehlt: Wie schon in der ersten Edition ist die Tonhöhe relativ (plus haut oder plus bas, aigu oder grave) oder betrifft die Höhe einer Note (die aber, je nach Kammerton, 82 3 Vorteile und Problemfelder der gemeinsamen Metasprache 122 Der Kammerton bezeichnet in Ländern europäischer Kultur die absolute Tonhöhe für die Note a 1 . Lange Zeit waren die Stimmtonhöhen geographisch (und manchmal sogar von Ort zu Ort oder von einer Instrumentengattung zur anderen) unterschiedlich. Die frühe Pariser Stimmung von 1788 legt den Kammerton auf 409 Hz fest. Unter Napoleon III hob ihn die französische Akademie auf 435 Hz an. 1885 bestätigte die Internationale Stimmtonkonferenz in Wien den Kammerton von 435 Hz. Er wurde 1935 auf 440 Hz, gemessen bei 20°C, erhöht. Der Wunsch nach einem brillanteren Orchesterklang veranlasste viele Rundfunkorchester, den Kammerton immer weiter anzuheben. Derzeit ist eine rückläufige Tendenz feststellbar. Für weitere Informationen, siehe Haynes (2002). 123 Um von der physikalischen Tonhöhe zu sprechen, verwenden die Phonetiker der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wie Jean-Pierre Rousselot den Begriff der hauteur musicale. 124 „L’interrogation est marquée essentiellement, comme on sait, par un ton, c’est-à-dire par une augmentation de hauteur“, Grammont (1951: 177). ebenfalls relativ ist). 122 Die nunmehr etwas ausführlicheren Beispiele beziehen sich auf Instrumente und sprechen vom Kammerton („Ces instruments sont sur le ton de l’Opéra/ au ton de la chapelle“) und der Grundstimmung oder Intonation („Il faut baisser le ton de cette harpe. Son violon était monté sur ce ton-là“). Bis zur fünften Ausgabe bezieht sich die Erklärung des Wortes ton ausschließlich, ganz allgemein, auf ein hörbares Ereignis. In der sechsten Edition von 1835 erscheinen in den Artikeln, vermutlich in Folge der Forschungen von Joseph Fourier (1768-1830) auch die sons harmoniques, das heißt die Obertöne. Der Artikel „fréquence“ erhält hundert Jahre später (8. Ausgabe von 1935) einen physikalischen Unterpunkt und erklärt die Frequenz als Anzahl der periodisch wiederkehrenden, gleichmäßigen Schwingungen pro Sekunde. Doch erst die letzte, das heißt die neunte, derzeit im Entstehen begriffene Ausgabe des Dictionnaire enthält einen Artikel „Hertz“. Ton und Intonation Dennoch wird ein heutiger Phonetiker eine wesentlich engere, in seinem Sinne wissenschaftlich exaktere Interpretation des Begriffes ton verlangen, und dies besonders in der Unterscheidung zur intonation. 123 Noch 1951 definierte Maurice Grammont den ton des Fragesatzes mit einer Tonhöhenvariation. 124 Der Übergang zum Bereich der Intonation scheint jedoch fließend, denn einige Seiten später spricht der Autor von der für den Fragesatz typischen Intonation als semantisch bedeutsam um, zum Beispiel, einen Aussage- und einen Fragesatz 83 3.2 Der „Ton“ in Sprache und Musik 125 „Dans les phrases interrogatives ordinaires, l’interrogation est marquée soit par la présence de mots proprement interrogatifs, comme ’est-ce que‘, ‚pourquoi‘, ou par la position après le verbe d’un pronom sujet (‚veut-il? ‘); mais la hauteur particulière de certaines intonations ajoute à l’impression interrogative de ces phrases; ces intonations ont déjà une certaine valeur sémantique. Quand la phrase interrogative ne contient pas de terme interrogatif et que les mots qui la composent sont rangés dans l’ordre d’une phrase énonciative, c’est l’intonation seule qui lui donne le sens interrogatif. La phrase énonciative: Tu ne le savais pas, commence assez bas et monte progressivement jusqu’à la syllabe ’-vais‘, puis redescend sur la syllabe ‚pas‘, parce que cette dernière est en fin de phrase. La phrase interrogative: Tu ne le savais pas? commencera d’ordinaire environ une quarte plus haute que la phrase énonciative correspondante, et se maintiendra sensiblement sur la même note jusqu’au début de la syllabe ‚pas‘; mais cette dernière montera rapidement au cours de son émission et finira le plus souvent au moins une quinte plus haut qu’elle n’a commencé. C’est le contraste tonal de cette dernière phrase avec la première, c’est-à-dire avec la phrase ordinaire, qui lui donne sa signification spéciale, et, dans l’ensemble, c’est en particulier l’intonation du mot final ‚pas‘ qui donne une valeur sémantique“, Grammont (1951: 183). gleichen Wortlauts (wie: Tu ne le savais pas. Du wusstest es nicht. - Tu ne le savais pas? Du wusstest es nicht? ) voneinander zu unterscheiden. 125 Besonders die englische Sprache hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun‐ derts einen maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung der phonetischen Metasprache ausgeübt. Beide Begriffe, ton und intonation, werden in diesem Kontext zur Beschreibung der Tonhöhenvariation verwendet. Der ton beschreibt dabei die lexikalischen und die intonation die übergeordneten Einheiten. Damit verweist der Erstere auf das Konzept des englischen tone, der zweite auf dasjenige des englischen tune (siehe oben), das in angelsächsisch beeinflussten Forschungsrichtungen oft den Suprasegmentalia zugeordnet wird. Diese (unter anderem) in Deutschland gängige Auffassung stößt bei französischen Forschern auf keine einhellige Zustimmung. Für Albert di Cristo beispielsweise handelt es sich bei dieser Zuordnung um eine ausschließlich modernen Konzepten entsprechende und damit nicht universelle Auffassung, da die phonologischen aktuellen Theorien (die einen Bruch mit den Theorien vergan‐ gener Jahrhunderte darstellen) davon ausgehen, dass phonologische Darstellungen plurilinear sind. Die Verwendung dieses Terms (der einfach nichtlinear bedeutet, und damit unterschiedlich interpretiert werden kann) bedeutet, dass man voraussetzt, dass diese phonologischen Darstellungen aus mehreren Reihen oder Linien gebildet werden, von denen einige ausschließlich prosodische Zwecke erfüllen. Zugleich werden im Zuge einer plurilinearen Analyse die prosodischen Elemente, wie auch die Phoneme, oft als Segmente betrachtet (und eigentlich, genau genommen, als von den phonemischen Segmenten abhängige Autosegmente, eine Sichtweise, die die Notwendigkeit plurilinearer Darstellungen geradezu bedingt). Tatsächlich wird 84 3 Vorteile und Problemfelder der gemeinsamen Metasprache 126 „Outre sa naïveté, cette manière de concevoir la suprasegmentalité de la prosodie est empreinte d’une résonance moderne, dans la mesure où les théories phonologiques actuelles (en rupture avec celles du passé) stipulent que les représentations phonologiques sont plurilinéaires. L’emploi de ce terme (équivalent à celui de non linéaire, qui peut s’avérer ambigu) revient à dire que ces représentations sont formées de plusieurs rangs ou de plusieurs lignes dont certaines sont entièrement dédiées à la prosodie. Il se trouve, d’autre part, que dans l’approche plurilinéaires de la prosodie, les éléments prosodiques sont souvent regardés, à l’instar des phonèmes, comme des segments (à vrai dire, comme des autosegments, indépendants des segments phonémiques; d’où la nécessité de recourir à des représentations plurilinéaires). Il est fréquent, en effet, de parler de segment tonal à propos des tons qui entrent dans la constitution des patrons intonatifs […]. Il devient alors incohérent d’affirmer que les éléments prosodiques sont des segments - ou des autosegments - suprasegmentaux! “, Di Cristo (2013: 19). häufig von tonalem Segment in Bezug auf Töne gesprochen, die in die Konstitution der Intonationsmuster eingehen. […] Behaupten, dass die prosodischen Elemente suprasegmentale Segmente - oder Autosegmente - seien, ist also ganz einfach ein Widerspruch! (Di Cristo, 2013) 126 Albert Di Cristo hebt damit die Unvereinbarkeit zweier Ansätze hervor: Wenn ein prosodisches Element ein Segment oder ein Autosegment darstellt, kann es nicht gleichzeitig suprasegmental sein. Prosodie und Suprasegmentalia weisen Schnittpunkte auf, die Erstere ist aber nicht vollständig von der Zweiten abgedeckt. Der ton bezieht sich in der Musik wie in der Phonetik auf die Tonhöhe und/ oder die klanglichen Eigenschaften eines einzelnen akustischen Phänomens. Dies Phänomen ist in der Musik immer einfach (eine einzelne Note), in der Linguistik dagegen kann es auch komplex sein (ein Phonem, eine Silbe). Die in‐ tonation bezieht sich bei den Phonetikern immer auf eine größere, aus mehreren Elementen zusammengesetzte Einheit. In der Musik dagegen kann man von der richtigen Intonation einer einzelnen Note, eines Akkords, oder aber eines ganzen Musikstückes durch einen einzelnen Sänger oder Instrumentalisten, durch einen Chor oder ein Orchester sprechen. Um zurück auf den Begriff ton zu kommen, so hat dieser, ausgehend von einer allgemeinsprachlichen und einer künstlerischen Bedeutung, im Laufe der Jahrhunderte semantische Erweiterungen erfahren. Dabei kann man be‐ obachten, dass, je spezieller die Bedeutung auf die Arbeits- oder Denkweise einer Fachrichtung zugeschnitten ist, desto weniger Komptabilität mit anderen Disziplinen besteht. 85 3.2 Der „Ton“ in Sprache und Musik 127 „La Musique est vne imitation, ou representation, aussi bien que la Poësie, la Tragedie, ou la Peinture, comme i’ay dit ailleurs, car elle fait auec les sons, ou la voix articulee ce que le Poëte fait auec les vers, le Comedien auec les gestes, & le Peintre auec la lumiere, l’ombre, & les couleurs“, Mersenne (1636: 93). 128 „La harmonie et les Rimes sont presque d’vne mesme essence“, Tyard (1555: 129r). 129 Vgl. die auf Pythagoras zurückgehenden Theorien der musique des sphères. Das Uni‐ versum ist demnach von harmonischen und numerischen Verhältnissen bestimmt, die sich in den Distanzen zwischen den Planeten zeigen. Diese Abstände entsprechen wiederum den musikalischen Intervallen. Für eine ausführliche Abhandlung, siehe James (1995). 3.3 Prosodie zwischen Poesie und Prosa „Natürliche Ordnung“ und Vorhersehbarkeit Bei Marin Mersenne haben Musik, Poesie, Tragödie und Malerei noch ein- und denselben Zweck: die Imitation der Natur, und dies in einem philosophischen Sinne. In seiner Harmonie universelle von 1636 erläutert der Autor, dass Musik durch (Instrumental)- Töne oder Gesang auf dieselbe Art imitiert wie der Poet mit seinen Versen, der Komödiant mit seinen Gesten und der Maler mit Licht, Schatten und Farben. 127 Musik, Poesie und Philosophie helfen dem Menschen, das Universum zu verstehen (vgl. Kapitel 2). Die Disziplinen sind miteinander verbunden und für Pontus de Tyard (1555) haben Harmonie und Reim praktisch dasselbe Wesen. 128 Beide sind nach der natürlichen Ordnung der Dinge konstruiert: Die Musik beruht auf mathematischen Verhältnissen (Rhythmen und Intervallen) und die Poesie ist ein langage fabriqué, das heißt, eine bewusst rhythmisierte Sprachform. In der griechischen Mythologie ist die Poesie besonders mit zwei Figuren verbunden: den Musen (darunter Calliope, die Muse der epischen Dichtung, und Erato, die Muse der lyrischen Poesie) und Orpheus, der mit seiner Musik (das heißt mit Rhythmus und Musikalität, vgl. Bertrand, 2002) Menschen, Tiere und sogar Steine verzauberte. Poesie ist Musik. Sie ist zugleich orphisch und von Gott gegeben. Die Poesie singt, sie „chante les affections & les loüanges des Dieux & des hommes“ (Deimier, 1610: 1). In beiden Disziplinen, Musik und Poesie, spielt die Zahl, le nombre, eine Rolle, sei es in Fragen des Versmaßes, der musikalischen Rhyth‐ muslehre oder der Abbildung des Kosmos durch mathematische Anspielungen und Figuren. 129 Poesie ist ebenfalls eine bis zu einem gewissen Grade vorhersehbare Aus‐ drucksform. Ein Grammatiker des 16. oder 17. Jahrhunderts, der noch nicht auf 86 3 Vorteile und Problemfelder der gemeinsamen Metasprache 130 In den angegebenen Beispielen zeigt der accent aigu den Wortakzent an. Dieser manifestiert sich laut Palsgrave in einem Ansteigen der Tonhöhe. 131 Vgl. Chiflet (1680: Vorwort): „Comme il y a deux sortes de personnes, qui liront cette Grammaire: les uns qui sçavent desja la Langue, & n’ont besoin que de s’y perfectionner, les autres qui en veulent apprendre les Principes, tels que sont les étrangers: ie conseille à ceux, qui en sçavent desja beaucoup, de la lire soigneusement d’un bout à l’autre, & d’y remarquer seulement ce qui pourra servir à corriger leurs defauts. Mais quant aux étrangers, qui n’en sçavent que fort peu, ils feront mieux, pour la premiere fois, de n’étudier que les pieces les plus necessaires“. die modernen Möglichkeiten der Tonaufnahme und -wiedergabe zurückgreifen konnte, musste eine Sprachform suchen, die ihm für seine Überlegungen sichere und wiederholbare Daten liefern konnte. Mit all ihren festgesetzten Regeln für die gute Kombination wohlklingender Worte und mit ihren Betonungs- und Rhythmusmuster bietet die Poesie das am leichtesten fassbare Sprachniveau. Je größer die Nähe zur Literatur, umso größer schien die Vorhersehbarkeit der vokalen Realisierung. Ein auswendig rezitierter Text weicht nicht vom ur‐ sprünglichen Wortlaut ab (sofern die zitierende Person sich nicht aus Versehen irrt). Mehrere Personen, die denselben Text zitieren, werden normalerweise dieselbe Aussprache, dieselbe Betonung, dieselbe Melodie und Quantität an den Stellen verwenden, an denen die Regeln unweigerlich eine bestimmte Ausführung vorsehen. Der Vergleich erlaubt also die Bestimmung der fixen Parameter und die Analyse ihrer Effekte. Die Grammatik von Palsgrave (1530) verwendet denn auch häufig konstruierte Sätze wie „Plus que je ne dis. Dieu sçait quèlle chière il fist. Je làyme comme mon fils Adonc elle enrivgíst. Parainsi Lheretíque se conuertíst“ (1530: 55) und Gedichte (ein Quadriloge von Alain Chartier, 1530: 56-57) zur Erklärung von prosodischen Details wie Quantität und Akzent. Man kann sich vorstellen (auch wenn es an keiner Stelle erwähnt wird), dass Palsgrave diese Sätze von mehreren Muttersprachlern sagen ließ und danach den (melodischen) Wortakzent festlegte. 130 Ähnliche Ergebnisse können die Interpretationen der Schauspieler oder auswendig gelernte öffentliche Reden geben: Die zur Sprachstruktur gehö‐ renden prosodischen Parameter sind vorhersehbar, weitere Hervorhebungen wahrscheinlich, andere individuell. Die Beschreibung der in Kommunikations‐ situationen verwendeten Sprache gestaltet sich bereits schwieriger. Wenn in grammatikalischen Texten davon die Rede ist, so geschieht dies in einer norma‐ tiven Absicht und mit dem Zweck, Lesern und Leserinnen zu zeigen, welche Fehler sie verbessern können und/ oder sollten. 131 87 3.3 Prosodie zwischen Poesie und Prosa 132 Die Sequenz ist zunächst eine Textierung des Schlussmelismas des Allelujas. Im 9. Jahrhundert bildete sich eine vom Alleluja unabhängige Sequenz auf der Basis eines Prosatextes (anfangs als Tropus oder ausschmückender Kommentar des gregoriani‐ schen Gesangs, später auch als selbstständige Gattung). Norm und Abweichung Sprachnorm ist nicht nur eine „zivilisatorische Notwendigkeit“ (Haßler, 2009: 699), sondern ermöglicht auch die Wahrscheinlichkeit der Vorhersehbarkeit großer Teile der Prosodie. Dies gilt jedoch ausschließlich für die Konversations‐ sprache der „guten Gesellschaft“ oder der „plus saine partie de la Cour“ eines Vaugelas. Wirklich spontane Äußerungen mit Wortwiederholungen, Um- und Neukonstruktionen, Pausen, Selbstkorrekturen, Anhäufungen von Adverbien und Interjektionen sind ebenso wie Dialekte mit ihrer von der Normsprache abweichenden Prosodie nur schwer analysierbar. Dies bedeutet jedoch nicht etwa ein Problem für die Grammatiker: Ihr Forschungsinteresse ist ein anderes, und die Beschränkung der Mittel stellt in Hinsicht auf ihre Fragestellungen keine wirkliche Einschränkung dar. Komponisten und Komponistinnen haben ebenso wie Autoren und Auto‐ rinnen von Theaterstücken und anderen literarischen Texten jahrhundertelang dieselben Wege beschritten wie die Grammatiker. Ausdruck kann als eine kleine Abweichung von der Regel definiert werden, nicht etwa als völlige Freiheit. Wenn Pierre Corneille im 4. Auftritt des 3. Aufzug seines Cid seine beiden Helden Chimène und Don Rodrigue ausrufen lässt: „Ah! mortelles douleurs! - Ah! regrets superflus! “ („Ach, tödlicher Schmerz! - Ach, nutzloses Bedauern! “ (2007 [1637]: 150/ 151), so entsprechen diese Worte sicher in den wenigsten Fällen denen, die ein Paar spontan in einer vergleichbaren Situation wählt. Dasselbe gilt für die Musik. Kompositorisch ist von den beiden Chansons „Je suis déshérité“ („Ich bin beraubt“) und „Un gentil amoureux“ („Ein freundlicher Liebhaber“) von Claude Le Jeune sicher keines trauriger, melancholischer, verträumter, verzweifelter oder verliebter als der andere: Diese Nuancen des musikalischen Ausdrucks obliegen den Interpreten (vgl. Bsp. 22). Auch die Prosa spielt in Blick auf die Musik sehr früh eine Rolle. Im Mittelalter bereits wird die Prosa als Text einer Sequenz, 132 das heißt als Teil eines gregorianischen Gesangs, verwendet. Spätestens mit dem barocken Récit der Tragédie lyrique (siehe Kapitel 2, Barock) vereinen sich französische Prosasprache und Musik zu einer eloquenten Einheit. Im frühen 19. Jahrhundert schreibt Jérôme-Joseph de Momigny (1821), dass, abgesehen vom Rezitativ, die moderne Musik in einem völlig regelrechten Taktmaß und in Versen geschrieben 88 3 Vorteile und Problemfelder der gemeinsamen Metasprache 133 I. e.: dem Gregorianischen Gesang. 134 „La Musique moderne est non seulement mesurée, mais tout versifiée, hors dans le récitatif. La Prose musicale est réservée au Plain-chant non mesurée“, Momigny (1821: 122). 135 So weisen Reim- und Strophenformen eine Affinität auf, während die Nachahmung der spontanen Äußerung besonders im Rezitativ mit dem Primat der Sprachakzente zur Geltung kommt. 136 Eine weitere Abteilung der Archives de la Parole ist der Aufnahme von Lokaldialekten und traditioneller Musik gewidmet. Siehe https: / / gallica.bnf.fr/ html/ und/ enregistreme nts-sonores/ archives-de-la-parole-ferdinand-brunot-1911-1914? mode=desktop. sei. Er führt weiterhin aus: „Die musikalische Prosa ist dem unmesurierten Plein-chant 133 vorbehalten“. 134 Ziel dieser Ausführungen ist nicht, die verschiedenen, in unterschiedlichen Gattungen vertonten Texte im Laufe der Jahrhunderte zu analysieren. Es geht vielmehr darum zu zeigen, dass Prosa, Poesie und Musik immer wieder in regem Austausch standen. Dies war einerseits durch die Wahl der vertonten Texte und der sich daraus ergebenden musikalischen Möglichkeiten, Freiheiten und Beschränkungen möglich, 135 und andererseits durch die Übernahme von gewissen Betonungsmustern der freien Sprachform der Prosa oder von struk‐ turellen Mitteln wie die Bildung von Perioden und Phrasen. Form und Spontaneität Die besondere Übereinstimmung von klanglichem Sprachmaterial und Musik, die die barocken Komponisten herzustellen suchten, ist bereits im vorherigen Kapitel dargestellt worden. Doch auch das 19. Jahrhundert orientiert seine mu‐ sikalischen Konstruktionen - wenn auch in einem viel weiter gefassten Rahmen - an der Sprache. Takt- und Rhythmusverhältnisse sowie Phrasierung ahmen „natürliche“ Melodiebögen und Strukturen einer geplanten, vorbereiteten und ausdrucksvollen Sprechweise nach (die des oben erwähnten, auswendig ge‐ lernten Textes). Gleichzeitig bahnt sich mit den freien Versen eines Arthur Rimbaud (Illuminations, 1886) oder Gustave Kahn (Les Palais nomades, 1887) in der Poesie die Öffnung zu einer neuen Ausdrucksform an, wie sie in der Musik bis dato nur im Rezitativ bekannt war. Die neu entwickelte Aufnahmetechnik (vgl. Kapitel 1) erlaubt auch den Phonetikern das Studium spontaner Äußerungen, doch bilden für die ersten bekannten Aufnahmen vorbereitete Texte immer noch den wesentlichen Be‐ standteil des Repertoires. Dies wird sichtbar bei den von Ferdinand Brunot ab 1911 durchgeführten Aufnahmen für die Archives de la Parole, bei denen rezitierte Texte einen wichtigen Teil bilden.  136 Die Wahl von Sprechern wie 89 3.3 Prosodie zwischen Poesie und Prosa 137 „Là où les vers ont un nombre fixe de groupes rythmiques, la prose en aurait un nombre quelconque. Il n’y aurait dans cette phrase en prose ni équilibre ni symétrie. Le vers est un moule souple, mais de capacité strictement limitée. Quand la phrase de prose apporte un rythme qui coïncide avec ses exigences, il l’adopte; sinon, il lui impose le sien. C’est-à-dire qu’il peut à l’occasion faire surgir un accent là où la prose n’en admettrait pas […]. Il peut tout aussi bien supprimer un accent que la prose exige; la suppression totale n’est d’ailleurs pas nécessaire; il suffit qu’il l’affaiblisse en ne l’utilisant pas pour son rythme“, Grammont (1932: 118). 138 Serge, alias Lucien Gainsbourg, 1928-1991, französischer Sänger, Komponist, Maler, Regisseur, Schriftsteller und Schauspieler. 139 Claude Nougaro, 1929-2004, französischer Jazz- und Chansonsänger und Poet. Guillaume Apollinaire (1880-1918) als Zeugen typischer französischer Sprecher des beginnenden 20. Jahrhunderts hat sicherlich dazu beigetragen. Prosa und Poesie bilden zwei Ausdrucksformen, die auch Maurice Grammont beschäftigen. In seinem Petit Traité de Versification Française von 1932 definiert Grammont die Unterschiede beider Sprechweisen - in Versen oder in Prosa - wie folgt: Da, wo der Vers über eine genau festgelegte Anzahl rhythmischer Gruppen verfügt, ist die Anzahl dieser Gruppen in der Prosa willkürlich. Der Prosasatz ist weder ausgewogen noch symmetrisch. Der Vers ist eine elastische Form, aber seine Kapazität ist strikt begrenzt. Wenn der Rhythmus des Prosasatzes dazu passt, wird er ihn übernehmen, sonst zwingt er den Prosasatz in seinen eigenen Versrhythmus hinein. Dies bedeutet, dass manchmal ein Akzent an einer Stelle auftauchen kann, wo dies in der Prosa eigentlich nicht der Fall ist. […] Und ebenso kann auch ein in der Prosa erforderlicher Akzent im Vers entfallen. Dabei ist eine völlige Unterdrückung übrigens nicht nötig. Eine Abschwächung des Akzentes reicht aus. Dazu darf er nicht mit einem Versakzent übereinstimmen. (Grammont, 1932) 137 Prosodie und Chanson Die französischen Chansonsänger des 20. Jahrhunderts respektieren genau diese, von Grammont formulierte Prämisse. Drei willkürlich zu einer schnellen Analyse ausgewählte Beispiele, „Le bricoleur“ von Georges Brassens von 1955, „Un violon, un jambon“ von Serge Gainsbourg 138 und „Cécile, ma fille“ von Claude Nougaro, 139 beide von 1963, zeigen die poetische Textbehandlung der drei Chansonsänger (vgl. Bsp. 23). Diese entspricht durchaus den Ausführungen Grammonts. 90 3 Vorteile und Problemfelder der gemeinsamen Metasprache 140 Je nach Aufnahme sind Abweichungen möglich. In der folgenden Darstellung bezeichnen Unterstreichungen metrisch be‐ tonte oder lange Silben, unterstrichene Silben in Kursivdruck sind lang und betont. 140 1. Der Rhythmus von Prosa und musikalischer Metrik stimmt an den Schlüsselstellen überein: • Gainsbourg: Ecoute-moi, toi qui t’crois seul au monde 2. Der Versrhythmus oder, im Falle des Chansons, das metrische Muster der Komposition ist dem Textrhythmus übergestülpt: • Brassens, Le clou qu’il enfonce à la place du clou d’hier, il le rempla‐ cera demain par un clou meilleur. • Nougaro: Elle voulait un enfant, moi je n’en voulais pas. Mais il lui fut pourtant facile avec ses arguments de te faire un papa 3. Eine zusätzliche Längung erscheint, die von der musikalisch-metrischen Struktur bedingt ist: • Gainsbourg: Suspends un violon, un jambon à ta porte, et tu verras appliquer les copains (siehe besonders die Betonung auf et). • Nougaro: On est nez à nez, les yeux dans les yeux (siehe besonders die Betonung auf à). 4. Ein Prosaakzent wird durch Nicht-Übereinstimmung mit der metrischen Struktur der Musik abgeschwächt: • Brassens: Pendant les rar’s moments de pause Où il n‘ répar’ pas quelque chose, il cherch‘ le coin disponible où. ( Je nach Sprechtempo wären zum Beispiel Prosaakzente auf rare und auf disponible vor‐ stellbar). Mit diesem Verfahren werden die Möglichkeiten des Spiels zwischen der durch die Wahl der poetischen Form oder des musikalischen Metrums aufer‐ legten Begrenzung und den für die Prosa typischen Freiheiten ausgeschöpft. Alte Konzepte bleiben erhalten, haben aber neue Interpretationen erfahren. Rhythmische, von der Metrik der Musik vorgegebene Modelle, eine gewählte Gedichtform und bestimmte Akzentuierungen, die damit einhergehen, gehören für moderne Autoren und Autorinnen, Liedermacher und Liedschreiberinnen ebenso zur Tagesordnung wie die Analyse vorbereiteter und spontaner Rede 91 3.3 Prosodie zwischen Poesie und Prosa 141 Vgl. zum Beispiel den Korpus ACSYNT, der Tonaufnahmen mit 23 verschiedenen Sprechern und Sprecherinnen aus den Jahren 2001 und 2002 für die Forschung zu Prosodie und Syntax in verschiedenen französischen Sprechstilen vereinigt. Der Korpus ist frei zugänglich über den Link http: / / ircom.huma-num.fr/ site/ description_projet.ph p? projet=acsynt. 142 Es versteht sich von selbst, dass die Konzepte der erwähnten Autoren damit in keinem Falle vollständig und erschöpfend erläutert sind: Es handelt sich hier ausschließlich um einen Vergleich der verwendeten Lexik. heute einen festen Bestandteil der Arbeit der Phonetiker und Prosodisten bildet. 141 3.4 Beispiele der verwendeten Metasprache Den Abschluss dieses Kapitels bildet eine - unvollständige - Tabelle der in ver‐ schiedenen Epochen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts in Sprachwissenschaft und Musik für gleiche oder ähnliche Konzepte verwendeten metasprachlichen Begriffe. 142 Die erwähnten Autoren sollen helfen, die Belegstellen chronologisch und fachlich einzuordnen. Unter der großen Anzahl der Quellen stellen sie in jedem Fall nur mehr oder weniger zufällig ausgewählte, aber dennoch repräsentative Beispiele dar. Bei den kursiv gedruckten Quellen handelt es sich um musikalische Texte. Für die mit einem Sternchen* gekennzeichneten Autoren sind größere Textpassagen (auf Französisch) unter Bsp. 24 einsehbar. a) Bereiche Ton, Intonation und Volumen Tonhöhe eines einzelnen Elements Meigret (1550), „ton“, „ton aigu“, „ton grave“ (Tonhöhe einer Silbe, relative Tonhöhe, tonaler Akzent) Ramus (1562), „ton haut“, „ton moyen“, „ton bas“ (relative Tonhöhe einer Silbe oder eines Wortes) Guilliaud (1554), „ ton“, „demi ton“ Chiflet (1680), „ton “ (Tonhöhe einer Silbe) Cousu (1658)*, „ton“ (1. der gesungene Ton als akustisches Ereignis, 2. das Intervall, 3. die Tonart oder der Modus, 4. eine relative Tonhöhe) Rousseau (1710)*, „son“ (Einzelton), „ton“ und „semiton“ (Intervalle) Rousseau (1768)*, „ton“ (Stimmtonhöhe, Instrument zum Angeben der Stimmtonhöhe) Montémont (1845)*, „ton“ (Modifikation des Klanges in Intensität und Tonhöhe) 92 3 Vorteile und Problemfelder der gemeinsamen Metasprache Rousselot (1897)*, „ton majeur“ und „ton mineur“ (Ganz- und Halbton der Musik), „hauteur musicale“ (Tonhöhe, abhängig von der Geschwindigkeit der Schwingungs‐ bewegungen) Roudet (1899), „hauteur musicale“ (gemessene fixe Tonhöhe, abhängig von der Schwin‐ gungsanzahl) Passy (1906)*, „hauteur“ (von der Geschwindigkeit der Schallwellen abhängige Tonhöhe) Tonhöhenvariation innerhalb eines Segments Cousu (1658)*, „melodie“ (eine als angenehm empfundene Kombination von aufsteigenden oder absteigenden, gleichbleibenden oder ausgehaltenen Tönen und Intervallen) Chiflet (1680), „ton de la parole“ (Tonhöhe eines Satzes) Rousseau (1710)*, „intonation“ (Synonym für Melodie) Rousseau (1768)* „mélodie“ (angenehme Tonfolge, die gemäß den Regeln des Rhythmus und der Modulation eine Sinneinheit bildet); „intonation“ (Anstimmen) Momigny (1806)*, „mélodie“ (rhythmische und lineare Verbindung der Noten zu einer Sinneinheit) Rousselot (1897), „mélodie de la parole“ (Satzmelodie) Passy (1906), „intonation“ (Satzmelodie, wobei die der Sprache „continue“ und die des Gesangs „discontinue“ ist) Volumen Rousselot (1897), „degré de force“ (abhängig von den Bewegungen der zur Aussprache nötigen Muskeln), „intensité“ (gemessen an der „force vive“ der die Vibrationen erzeugenden Quelle) Roudet (1899), „intensité“, (Geschwindigkeit der Vibrationen) Passy (1906)*, „force“ (Die Lautstärke hängt von der Amplitude der Vibrationen und der Schallwellen ab), „intensité“ („force“, mit der der Schall das Ohr erreicht. Die „force“ ist also relativ) b) Bereiche Rhythmus und Metrik Länge (Quantität): Guilliaud (1554), „quantité“ (Notenwert, Länge der Noten) Meigret (1550), „quantité“ (Silbe) Ramus (1562), „quantité“ (Silbe) Ramus (1572), „longueur“ und „brieuete“ (Silbe) Maupas (1618), „ quantité“, (Silbe) Chiflet (1680), „longueur“ und „briefueté“ (Silbe) 93 3.4 Beispiele der verwendeten Metasprache 143 Vgl. Kapitel 2. Arnauld & Lancelot (1660), „longueur ou brieveté“ (Vokal) Bacilly (1671 [1668])* „quantité“ (Silbenlänge, die in der Komposition in einen entspre‐ chenden Notenwert umgesetzt werden muss) Vairasse d’Allais (1681), „quantité“ (Silbe) D’Olivet (1736), „quantité“ (Silbe) Antonini (1753)*, „quantité“ „durée des syllabes“ (Silbe) Beauzée (1767)*, „quantité“ (Silbe) Rousseau (1768)*, „quantité“, „durée“, (Notenlänge, in Musik und Prosodie gleichermaßen verwendet) Loneux (1799 / 1800), „bref “ und „long“ (Vokale und Silben) Montmignon (1845), „quantité prosodique“ (Silbe), „durée“ (Klang) Rousselot (1897)*, „quantité“ (Dauer eines Klanges) Roudet (1899), „durée“ Passy (1906), „durée“ (Laute) Pause Meigret (1550), „pause“ (die Satzzeichen bedingen kürzere oder längere Pausen im Wortfluss) Bourgeois (1550), „pause“ (jedem Notenwert entspricht ein Pausenwert und jeder Pausenwert hat ein eigenes Zeichen, mit dem er in der Partitur dargestellt wird) Guilliaud (1554), „ pause “ Oudin (1640), „virgule ou pause“ (die Zeichensetzung bedingt eine Pause im Wortfluss) Irson (1656), „ménager nostre haleine“ (die Satzzeichen erlauben eine ausreichende Atmung für eine angemessene Strukturierung des Diskurses) Cousu (1658), „silence“, „pause“ Rousseau (1710), „ pause“ Rousseau (1768), „pause“ (Zeit), „silence“ (Pausenzeichen in der Partitur) Momigny (1806), „quantité“ (entspricht einem „silence“) Mesure Bourgeois (1550)*. „mesure“. (die richtige Verteilung der Werte der Noten, Pausen… gemäß den Vorgaben des Mensurzeichens in Theorie oder Praxis  143 Guilliaud (1554)*, „mesure“ (theoretische oder praktische Verteilung der Noten- und Pausen‐ werte gemäß den Vorgaben des Mensurzeichens) Cousu (1658)*, „mesure“ (gleichmäßiger Schlag, der den Takt angibt) Ramus (1562) „mezure de‘ silabes“ (Silbenlänge) Rousseau (1710)*, „mesure“ (gleichmäßiger Schlag, der den Takt angibt) 94 3 Vorteile und Problemfelder der gemeinsamen Metasprache Rousseau (1768)*, „mesure“ (gleichmäßige Verteilung der Notenlängen) Momigny (1806)* „mesure“ (Dauer einer musikalisch-harmonischen Einheit) Lussy (1885), „mesure“ (periodische Rückkehr von stärkeren/ betonteren Klängen) c) Der Begriff „accent“ Accent Meigret 1550: „accent ou ton“ (Silbe oder Wort) Maupas (1618), „accent aigu“ (Timbre und Länge) Oudin (1640): „accent aigu“ (Timbre), „accent ov quantité“ (Gleichsetzung von Akzent und Längung) Arnauld & Lancelot (1660), „accent“ (Variation der Tonhöhe) Chiflet (1680), „accent“ (fremdländischer Akzent oder Dialekt), „accent aigu“ (Timbre), „accent grave“ (Timbre), „accent circonflexe“ (Länge, Timbre) Vairasse d’Allais (1681)*, „accent“ (spracheigener Wortakzent, Tonhöhenveränderung, ein hervorstechender Klang, Volumen), „ton“ (persönliche Stimmveränderung oder situationsbedingte Sprechweise), „emphase“ (ausdrucksbedingte Hervorhebung eines Lautes, einer Silbe, eines Wortes oder Satzes) D’Olivet (1736), „accent prosodique“ (melodisch), „accent oratoire“ (Melodie und Inten‐ sität, gemäß dem Inhalt des Gesprochenen), „accent musical“ (gehört in den Bereich der Musik), „accent national“ (Dialekte), „accent imprimé“ (betrifft das Timbre) Antonini (1753), „accent aigu“ (Timbre), „accent grave“ (Timbre), „accent circon‐ flexe“ (Länge) Beauzée (1767)*, „accent prosodique“ (worteigen, Tonhöhenvariation), „accent oratoire“ (Ausdruck) Rousseau (1768), „accent grammatical“ (Höhe und Dauer), „accent logique ou rationel“ (Logik), „accent pathétique ou oratoire“ (Tonfall, Tonhöhe, Tempo) Momigny (1806), „accent musical“ (Betonung der ersten Note jeder musikalischen Sinnein‐ heit) Montmignon (1845), „accent tonique“, „accent aigu“, „accent grave“, „circonflexe“ Lussy (1885), „accentuation rhythmique“ (vom Verstand gesteuert), „accent métrique“ (instinktiv), „accentuation pathétique“ (vom Gefühl bestimmt, dient dem Ausdruck) Rousselot (1897), „accents étrangers“ (Akzent eines Nichtmuttersprachlers) Roudet (1899), „accent“ (Variationen von Tonhöhe, Intensität und Dauer im Verlauf eines Satzes, Wortes, einer Silbe oder eines Klanges) Passy (1906), „accent de force“ (Silbenebene, Intensität), „accent normal“ (Akzentuation ohne besondere Emotion, tonischer Akzent, spracheigen), „emphase“ (Intensität, 95 3.4 Beispiele der verwendeten Metasprache Hervorhebung eines Wortes), „déplacement emphatique“ (emotionsbedingte Akzent‐ verlagerung) 96 3 Vorteile und Problemfelder der gemeinsamen Metasprache 4 Rhythmus und Metrum im Wandel der Zeit Ein Rhythmus wird von dem Zeitpunkt an erkenn- und definierbar, da man über eine Sequenz von mindestens zwei Elementen verfügt, die deutlich voneinander unterschieden werden können. Diese Unterscheidung basiert in der Regel auf der Wahrnehmung einer Längung, einer auffälligen Tonhöhenveränderung oder einer gesteigerten Intensität, die ein bestimmtes Element einer Serie gegenüber anderen hervorheben. Rhythmus entsteht also, wenn betonte und unbetonte Elemente (Silben in der Sprache und Noten in der Musik) abwechseln. Damit wird eine hierarchische Struktur geschaffen. Rhythmus bedingt damit das Vorhandensein dreier wahrnehmbarer Eigen‐ schaften, die sowohl der Sprache als auch der Musik eigen sind: • Den Wechsel von betonten und unbetonten Elementen, • Eine erkennbare hierarchische Struktur und • Eine gewisse Periodizität oder vorhersehbare Wiederholung. Ausgehend von einer musikwissenschaftlichen Konzeption der beiden Terme haben Barney Childs (1981), David Epstein (1995) und Albert Di Cristo (2003) vorgeschlagen, Rhythmus und Metrum wie zwei verschiedene Facetten des‐ selben prosodischen Phänomens aufzufassen (vgl. Di Cristo, 2016: 55): Der vom lateinischen mensura abgeleitete Begriff mesure wird seit dem 14. Jahrhun‐ dert in musikalischen Texten verwendet und entspricht einer geschlossenen, organisierten Zeiteinheit, deren Grenzen heutzutage von Taktstrichen visuell angezeigt werden. Innerhalb dieser begrenzten Einheiten bilden die starken und schwachen Zeiten ein gerades oder ungerades Muster, einen Rahmen, der als Support für den Rhythmus dient (vgl. Abromont & Montalembert, 2001: 542). Letzterer wird als konkrete Aktualisierung einer zugrundeliegenden (metrischen) Struktur verstanden, die von Faktoren wie Tempo, Bewegung und Klangfarben beeinflusst wird. Doch der Rhythmus kann nicht nur den gegebenen Rahmen den Vorgaben entsprechend richtig ausfüllen, sondern sich auch über diesen hinwegsetzen. Diese Regelüberschreitungen können sich beispielsweise durch schneller oder langsamer werden (die Musiker sprechen von accelerando oder ritardando) oder Akzentverlagerungen zeigen (Di Cristo, 2016: 55). In der Musik sind die Begriffe Rhythmus (rythme), Takt (mesure), Metrum (mètre) und Tempo (tempo) eng miteinander verknüpft: Rhythmus entsteht aus der Abfolge von im Hinblick auf einen regelmäßig pulsierenden Grundschlag 144 „Par ce mot, Prosodie, on entend la maniére de prononcer chaque syllabe réguliérement, c’est-à-dire, suivant ce qu’exige chaque syllabe prise à part, & considérée dans ses trois propriétez, qui sont, l’Accent, l’Aspiration, & la Quantité“, D’Olivet (1736: 5). langen und kurzen Noten, die nach vordefinierten metrischen Schemata in einen Takt eingeschrieben werden. Metrum und Rhythmus haben eine zeitliche Komponente: Ihre genaue Dauer variiert mit dem gewählten Tempo. Dieselben Beobachtungen können für sprachliche Äußerungen gemacht werden. Ein Satz - oder eine rhythmische Gruppe - entspricht einer metri‐ schen Einheit, die durch den Rhythmus der aufeinanderfolgenden längeren und kürzeren, hierarchisch geordneten Silben gebildet wird. Die Dauer dieses Ereignisses wird vom Tempo bestimmt, das jedoch, wie in der Musik, die bestehende Hierarchie in keinster Weise beeinträchtigt. Der Rhythmus ak‐ tualisiert, gemäß dem gewählten Tempo, immer dasselbe Metrum, das heißt dieselben Längen- und Betonungsverhältnisse, in einer mehr oder weniger langen Zeitspanne. Dieses Kapitel zeigt den Weg von der ursprünglichen konzeptionellen Einheit von Quantität und Metrum, wie sie die französischen Poeten und Musiker der Renaissance umzusetzen versuchten, über eine neue, sich gleichermaßen in Sprachtheorie und Musikpraxis widerspiegelnde Verfeinerung des Modells im 18. Jahrhunderts, das damit den Eigenarten der französischen Sprache angepasst werden konnte, bis hin zu zeitgenössischen poetischen Ausdrucksformen, die mit den Grenzen von Rhythmus und Metrum spielen, um daraus eine neue Ausdruckskraft zu entwickeln. 4.1 Vom Lateinischen zum Französischen Die Quantität der Silben stellt in der lateinischen (und griechischen) Prosodie einen wichtigen Aspekt dar. Im Rahmen der grammaire latine étendue (vgl. Kapitel 3) übernahmen die französischen Autoren dieses Thema, und noch im 18. Jahrhundert sind die Spuren der antiken Grammatik und ihrer Quantitäts‐ lehre in den französischen Texten erkennbar. Pierre-Joseph Thouillier D’Olivet widmet in seinem 1736 erschienenen Traité de la Prosodie françoise, dem ersten der französischen Prosodie gewidmeten eigenständigen Werk, ein Kapitel von neunundvierzig Seiten der Quantität. Diese bildet mit dem accent und der aspiration (das heißt einem harten oder weichen Stimmansatz, entsprechend dem h aspiré oder h non aspiré) die drei Parameter, die die französische Prosodie charakterisieren. 144 98 4 Rhythmus und Metrum im Wandel der Zeit Auch Nicolas Beauzée behandelt in seiner Grammaire générale von 1767 in einem eigenen, neunzehn Seiten langen Kapitel die Quantité des Syllabes. Gemäß der Doktrin der grammaire générale sucht er hier die universellen, für alle Sprachen gültigen Regeln der Quantität zu bestimmen. Beauzée unterscheidet zu diesem Zweck zwei Arten von Quantität. Die Erste (quantité physique ou naturelle) ist physiologisch bedingt und entspringt mechanischen Gesetzen, die die Aussprache der möglichen Klangfolgen regeln. Die Zweite (quantité artificielle) gehört dem Bereich der Verslehre an und beruht damit nicht auf einer physiologischen Notwendigkeit, sondern auf ästhetischen Vorstellungen. Silben können also lang sein, da ihre Aussprache schneller nicht möglich oder angenehm ist und eine Nation darum die Gewohnheit (l’usage) angenommen hat, sie lang auszusprechen. Sie können aber auch lang sein, da die Verslehre in dieser Sprache es so bestimmt. Damit ist der Blickwinkel erweitert worden, aber eine dem Französischen eigene und selbstverständlich in der Sprache verankerte Quantität wird auch von Beauzée nicht im mindesten in Frage gestellt (vgl. Dodane et al., 2021). Die Differenzierung der unterschiedlichen Funktionsweisen der Quantität im Französischen und im Lateinischen wurde sicher lange Zeit auch dadurch erschwert, dass das Französische bis ins 18. Jahrhundert über zahlreiche Mini‐ malpaare von kurzen und langen Vokalen verfügte (vgl. Caron, 2014). Jedoch, so Cordula Neis, wird durch den Vergleich der quantitierenden alten Sprachen Griechisch und Latein mit akzentuierenden Sprachen wie dem Deutschen oder Englischen auf Modelle zurückgegriffen, deren Kompatibilität eigentlich nicht gegeben ist. Während in den quantitierenden alten Sprachen Griechisch und Latein die Länge der einzelnen Silben das metrisch relevante Kriterium darstellt, spielt bei akzentuierenden Sprachen die Betonung, d. h. der expiratorische Nachdruck, die entscheidende Rolle. Auch das Französische lässt sich als Sprache mit dynamischem Akzent beschreiben, der sich aus Intensität, Tonhöhenbewegung und Dauer konstituiert […]. Zwar kennt auch das Französische die Unterscheidung in lange und kurze Silben, aber sie bestimmt nicht die prosodischen Eigenschaften dieser Sprache. (Neis, 2009: 1618) Wie in der Folge ausgeführt wird, sind bei der Übernahme des lateinischen Quantitätsprinzips in den französischen, der Grammatik und der Poesie gewid‐ meten Texten die drei von Jean-Marie Fournier und Valéry Raby (2014) für verschiedene moderne Sprachen im Rahmen der grammaire latine étendue identifizierten typischen Vorgehensmuster erkennbar: 99 4.1 Vom Lateinischen zum Französischen 145 Hier sind nur die wichtigsten Grundregeln zusammengefasst. Für Ausnahmen siehe die gängigen lateinischen Grammatiken. 1. Eine direkte Anwendung oder Übernahme der lateinischen Regeln, 2. Die Identifizierung von stellenweise unterschiedlichen Funktionsweisen von lateinischer und französischer Sprache und einer daraus erwach‐ senden Anpassung der Regeln, und 3. Der bewusste Rückgriff auf das lateinische Modell als eine künstliche Wissenschafts- und Forschungssprache mit dem Ziel, der französischen Sprache durch diesen Vergleich einen gleichwertigen Status zu verleihen. 4.2 Quantifizierung in französischer Poesie und Musik Französische Quantitätstheorien bis zum 18. Jahrhundert Im Lateinischen ist die Länge eines Vokals durch seine Position in der Silbe bestimmt. 145 In der Folge zweier Vokale ist der erste normalerweise kurz. Ein Vokal ist lang, wenn er aus der Kontraktion eines Diphthongs oder zweier Vokale entstanden ist. Diphthonge sind grundsätzlich lang. Jede Silbe, die einen langen Vokalkern enthält, ist dadurch automatisch lang. Wenn sich eine Silbe aus einem Vokal und zwei darauffolgenden Konsonanten zusammensetzt, ist sie ebenfalls lang. Hinzu treten Regeln für die Elision und die Quantität der End- und der vorletzten Silben. Ähnliche Klassifizierungsversuche finden sich in den frühen französischen Texten. Laut den Autoren hängt die Quantität eines Vokals häufig von seinem Kontext und der Kombination ab, in der er auftritt (vgl. Thurot, 1881/ 1883: 581- 726). Hier seien nur einige Beispiele genannt: Eine ausführlichere Darstellung findet sich bei Schweitzer (2018: 223-225). Für Pierre de La Touche (1696) und Annibale Antonini (1753) ist ein Vokal, der von einem e féminin oder e caduc gefolgt wird, lang. Ein verdoppelter oder ein mit einem accent circonflexe versehener Vokal ist lang (Maupas, 1618; Chiflet, 1680; La Touche, 1696). Dies gilt auch, wenn der Vokal von einem nicht gesprochenen s gefolgt wird. Die Kombination „Vokal + R + Konsonant“ ist laut La Touche (1696) kurz. 100 4 Rhythmus und Metrum im Wandel der Zeit 146 „Les longues sont traînées plus tardivement, comme si la Voyelle estoit redoublée; ainsi l’on prononce l’a en page d’un livre; comme s’ils estoient écrits, Imaage [sic], Paage“, Chiflet (1680: 205-206). Die Realisierung eines langen Vokals wird bei Chiflet (1680) als langgezogen und wie verdoppelt beschrieben. Das Wort page (eine Buchseite) wird demnach so ausgesprochen, als sei es mit einem doppelten a (paage) geschrieben. 146 Die Bestimmung der langen und kurzen Vokale und Silben war nicht nur wichtig, um die Ausspracheregeln festzulegen, sondern auch um die quantitierenden Rhythmen der alten Sprachen auf die französische Poesie übertragen zu können. Die metrischen Prinzipien der Silbenzählung und der Längenakzentu‐ ierung wurden miteinander verknüpft und die Dichter mussten versuchen, ihre Verse an die alten Versfüße anzupassen. Die Behandlung der Quantität in den „vers mesurés“ und ihren Vertonungen Das 16. Jahrhundert begeistert sich für die sogenannten vers mesurés à l’antique (vgl. Kapitel 2), denen die Silbenquantität und die mehr oder weniger regelmä‐ ßige Wiederkehr langer und kurzer Silben zugrunde liegen. Damit wird dem traditionellen französischen Vers, der auf einer bestimmten Silbenzahl pro Vers, auf Zäsur und auf Reim beruht, zunächst einmal ein Modell ohne Reim, aber auf den verschiedenen Versmaßen (pieds oder mesures) basierend, gegenüber‐ gestellt. Die ersten Beispiele dazu finden sich am Ende des 15. Jahrhunderts bei Michel de Boteauville (Oraison de la Vierge Marie, en français metrifié, pour exemple comment on peut métrifier françois), der auch eine theoretische Erklärung seines Vorhabens liefert: In seiner Art de métrifier françois schlägt der Autor vor, das Französische nach dem Modell des Lateinischen in Metren zu bringen (vgl. Vignes, 2005). Ziel ist hier eindeutig ein Statusgewinn für das Französische durch den Rückgriff auf das lateinische Modell. Diese ersten, etwas zögerlich vom Publikum angenommenen Versuche nahmen einen großen Aufschwung im Rahmen des Projekts der 1570 gegrün‐ deten Académie de poésie et de musique (vgl. Kapitel 2). Am Beginn dieses Unternehmens steht ein musikalischer Gedanke: die Reform von Poesie und Musik gemäß den Vorstellungen, die man sich von der antiken Poesie machte. Als Basis sollten die vers mesurés, die metrischen Verse, dienen. In Zusammenarbeit mit dem Sänger und Lautenisten Joachim Thiebault de Courville (gestorben 1581) entwirft Jean-Antoine de Baïf ein neues Konzept, nach dem der Gesang vor allem die Textverständlichkeit bewahren und daher immer den Worten untergeordnet bleiben soll. Der Poet sorgt für den Rhythmus 101 4.2 Quantifizierung in französischer Poesie und Musik 147 Das generelle, humanistische Ziel der Académie de poésie et de musique ist durchaus mit dem der italienischen camerate am Ende des 16. Jahrhunderts, in denen gegen 1600 die ersten musikdramatischen und an alten Modellen orientierten Versuche entstanden, aus denen sich später die italienische Oper entwickelte, vergleichbar. Der französische und der italienische Ansatz unterscheiden sich jedoch grundlegend in der für die Komposition gewählten Stimmenanzahl. Die Italiener entscheiden sich für die Monodie, einen einstimmigen Gesang, der an den wichtigen Momenten des Textes durch Akkorde unterstützt wird. Die Franzosen bevorzugen einen homorhythmischen, mehrstimmigen Gesang (vgl. auch Bonnifet, 1986). 148 Eine ausführliche Diskussion findet sich im Vorwort in Bettens (2013). des Textes, die langen und kurzen Silben entsprechen dabei dem gewählten metrischen Schema. Diese Silben werden anschließend in der Partitur durch lange und kurze Notenwerte wiedergegeben. In mehrstimmigen Gesängen folgen alle Stimmen dem selben Rhythmus, so dass die Worte und Silben von allen Beteiligten zur selben Zeit ausgesprochen werden. 147 Mittels des bereits erwähnten, von Baïf eigens entworfenen orthographischen Systems kann der Poet dem Komponisten diesen Rhythmus exakt vorgeben: Baïf unterscheidet zehn Vokale, von denen drei (eu, ê long und ô) immer lang und zwei (e caduc, o bref) immer kurz sind. Die restlichen Vokale (a, e commun, i/ y, u und ou) sind je nach Kontext kurz oder lang. Um ihre Quantität zu notieren, verwendet Baïf die Buchstaben des lateinischen Alphabets für die kurzen Klänge, eine Längung wird durch verschiedene diakritische Zeichen angezeigt. Hinzu treten metrische Marker: ( - ) für eine lange und ( ᴗ ) für eine kurze Silbe. 148 Doch erst mit der Einführung des Reims in das quantitierende metrische Konzept erreichen die vers mesurés einen wirklichen Erfolg. Laut Jean Vignes (2005) erscheinen die ersten gereimten vers mesurés in den 1550er Jahren. Zu ihnen zählen auch die Amours betitelten und den drei Frauen Cassandre, Hélène und Marie gewidmeten Sonette von Pierre de Ronsard (1552/ 1553), zu denen ein musikalischer Anhang mit Vertonungen von neun ausgewählten Sonetten existiert. Zwei der Kompositionen stammen von Pierre Certon (1510/ 1515- 1572), vier von Claude Goudimel (1505/ 1520-1572), eine von Marc Antoine Muret (1526-1585) und drei von Clément Janequin (ca. 1485-1558). Bei jeder Komposition sind weitere Sonette der Sammlung angegeben, die nach demselben Satz gesungen werden können. Es handelt sich bei den Kom‐ positionen also nicht um eine semantische Interpretation des Textes, in der beispielsweise Tonhöhen und bestimmte Ereignisse oder Aktionen (wie eine hohe Melodie für die hoch am Himmel stehende Sonne oder das Heben der Hand) in Verbindung gebracht werden. Vielmehr setzt der Komponist ein metrisches Muster um, das mehreren Gedichten entspricht. Am Ende der ersten Komposition, „I’espere & crains“ von Pierre Certon, findet sich zum Beispiel der 102 4 Rhythmus und Metrum im Wandel der Zeit Hinweis, dass die Sonette „Je ne suis point Ma guerriere“, „Lors que mon oeil“, „Ange divin“, „Quand le Soleil“, „Bien ques dix ans“ und „Epouante“ demselben poetischen Schema entsprechen. Damit ist nicht das Reimschema (in diesem Fall A B B A - A A B A - C C D - E D E) gemeint, sondern das von Ronsard vorgesehene Versmaß. Sieben Sonette können folglich nach derselben Musik gesungen werden. Bei „I’espere & crains“ handelt es sich um eine typische Sonettform mit zwei Vier- und einem Dreizeiler: A B B A - A B B A - C C D - E D E f m m f - f m m f - m 2 m 2 f 2 - m 3 f 2 m 3 Jeder Vers ist ein Zehnsilber und enthält sechs Hebungen. Damit sind mehrere Formen der Dichtkunst miteinander verbunden und die Symbiose von franzö‐ sischem und lateinischem Konzept, die durch die Einbettung der von einer bestimmten Silbenanzahl und Reimform ausgehenden (französischen) Form in das quantitierende (lateinische) Versmaß entsteht, valorisiert den neuen Ansatz. Die folgende Tabelle (Tabelle 6) zeigt die Übereinstimmung von Metrum, Silben- und Reimschema des ersten Sonetts und Chansons. In der ersten Spalte ist die Reimform angegeben. In der zweiten erscheint der Text, die Silbenaufteilung der Worte ist durch Bindestriche markiert (o-res = 2 Silben). In der dritten Spalte erscheint die gewählte Folge von langen und kurzen Silben. Dabei steht L für longue oder lang, und B für bref oder kurz. Reimform Text Silbenlänge A (f) I’es-pere & crains, ie me tais & sup-pli-e B L B L B L B L B L L B (m) Or ie suis glace, & o-res vn feu chault, B B B L B L B B B L B (m) I’ad-mi-re tout, & de rien ne me chault, B B B L B L B B B L A (f) Ie me de-lace, & puis ie me re-li-e. B B B L L B B L B L L A (f) Rien ne me plaist si-non ce qui m’en-nuy-e, B L B L B L B L B L L B (m) Ie suis vail-lant, & le coeur me def-fault, B B B L B L B B B L B (m) I’ay l’es-poir bas, i’ay le cou-rai-ge hault, B B B L B L B B B L A (f) Ie doubte a-mour, & si ie le def-fi-e. B B B L L B B L B L L 103 4.2 Quantifizierung in französischer Poesie und Musik 149 Die Textwiederholung erscheint nur in der musikalischen Komposition, nicht aber in der originalen Textvorlage von Ronsard. 150 „Les syllabes qui sont longues en Latin, sont fort souuent briefues en François“, Mersenne (1636: 377). C (m 2 ) Plus ie me picque, & plus ie suis re-tif, B B B L B L B B L B C (m 2 ) I’ayme es-tre libre, & veulx es-tre cap-tif, B B B L B L B B L B D (f 2 ) Cent fois ie meurs, (cent fois ie meurs, 149 ) cent fois je prends nais-san-ce. B L B L (L L L L) B B B B B L L E (m 3 ) Un Pro-me-thée en pas-si-ons ie suis, B B B L B B B B B L D (f 2 ) Et pour ay-mer per-dant tout-te puis-san-ce, L B L L B B B B B L L E (m 3 ) Ne pou-vant rien ie fay ce que ie puis. B L L L B L B L L L Tabelle 6: Rhythmus- und Reimschema des Sonetts „I’espere & crains“ von Pierre de Ronsard und Pierre Certon Die in der Tabelle 6 angegebenen Hebungen, erkennbar durch den Kursivdruck im Text und durch den Buchstaben L in der letzten Spalte, sind der Partitur (vgl. Bsp. 25) entnommen: Es handelt sich um die langen Noten. Die Brevis oder sehr langen Noten sind nicht gesondert gekennzeichnet, da sie im lateinischen Bezugssystem keine Entsprechung finden. Die exakte Vorgehensweise der Komponisten, die einen quantitierten Text in Musik umsetzen wollten, ist in einer späteren Quelle, der Harmonie universelle von Marin Mersenne (1636), genauer beschrieben. Systematisierung bei Marin Mersenne (1636) Mersenne (1636: 381-383) stellt neun Regeln auf, die dazu dienen sollen, die Länge der Silben des Französischen zu bestimmen, denn, so der Autor, das Französische besitzt seine eigene, mit dem Lateinischen oftmals nicht identische Quantität. 150 Seine Regeln können wie folgt zusammengefasst und systematisiert werden (Tabelle 7): 104 4 Rhythmus und Metrum im Wandel der Zeit 151 Es handelt sich hier selbstverständlich um die mit den (nach der Quelle zitierten) Buchstabenkombinationen assoziierten Lauten, und nicht um eine Lautschrift. 152 Unter Distichon versteht man ein aus einem Hexameter (Sechsheber) und einem Pentameter (Fünfheber) zusammengesetztes Verspaar. 153 „Il faut donc premierement faire la voyelle a briefue au commencement, & au milieu de la diction de deux ou trois syllabes, de sorte que le dissyllabe soit vn pied iambique, propre pour la fin du pentametre; & que le trissyllabe soit vn bacchean proprè pour finir le vers hexametre“, Mersenne (1636: 383). Lange Vokal- und Silben‐ länge Kurze Vokal- und Silben‐ länge Unbestimmte Vokal- und Silbenlänge • Mit einem accent cir‐ conflexe bezeichnete Vokale • Der Diphthong au  151 • Ein offenes e in mehr‐ silbigen Worten • Ein von einem Konso‐ nanten gefolgter Diphthong • Eine Silbe, die zwei auf‐ einanderfolgende Kon‐ sonanten enthält (von denen der zweite kein Liquid, also r oder l ist) • Die Vokale a, e, i, o, u, eu, ou, wenn sie am Anfang oder in der Mitte eines Wortes vorkommen und keinen accent cir‐ conflexe tragen • Das e caduc • Ein offenes e in einem einsilbigen Wort • Ein von einem wei‐ teren Vokal oder einem Diphthong gefolgter Vokal • Ein von einem wei‐ teren Vokal oder einem Diphthong gefolgter Diphthong • Vokale, die ein Wort be‐ enden • Von einem oder mehreren Schlusskon‐ sonanten gefolgte Vo‐ kale in einer Endsilbe Tabelle 7: Bestimmung der langen und kurzen Silben laut Mersenne (1636) Laut Mersenne sind diese Regeln ausreichend, um alle Arten von französischen „vers mesuréz“ zu schreiben. Er fügt jedoch hinzu, dass der Vokal (in seinem Beispiel ein a) am Anfang und in der Mitte eines Distichon 152 kurz sein muss: „So stellt man sicher, dass der Zweisilber am Ende eines Pentameters einen jambischen Versfuß hat, und der Dreisilber den am Ende eines Hexameters nötigen Bacchius.“ 153 Der Bacchius ist in der antiken Verslehre ein dreigliedriger Versfuß, der aus einem kurzen und zwei langen Elementen besteht ( ᴗ - - ). Der Jambus ist dagegen ein zweigliedriger Versfuß mit dem metrischen Schema kurz - lang ( ᴗ - ). Damit enden beide Verse des Distichons, der Hexameter und der Pentameter, mit einer langen Silbe. 105 4.2 Quantifizierung in französischer Poesie und Musik 154 Für die gesamte Darstellung Mersennes vgl. Bsp. 26. Die verschiedenen Versfüße sind bei Mersenne in einer Tabelle (1636: 375) zusammengefasst, und ihre Rhythmen sind in Noten dargestellt. Entsprechend der im Vergleich zum 16. Jahrhundert geänderten Notationsgewohnheit ist der jambische Rhythmus nicht mehr mit der Folge Minima - Semibrevis, sondern mit einer von einer Halben Note gefolgten Viertel angegeben. Geändert hat sich nur die Notationsgewohnheit. Das Verhältnis der beiden jeweils gewählten Notenwerte bleibt dasselbe, es beträgt 1: 2. Die bei Ronsard identifizierbaren und von Mersenne verwendeten Bezeichnungen, ihre deutschen und rhythmischen Entsprechungen sind in der folgenden Tabelle (Tabelle 8) zusammengefasst. 154 Die Auflistung folgt der Reihenfolge Mersennes: Bezeichnung bei Mersenne Deutsche Entspre‐ chung Silbenlänge Silben‐ schema Pyrriche Pyrrhicchius B - B ᴗ ᴗ Iambe Jambus B - L ᴗ - Trochée Trochäus L - B ᴗ Spondée Spondeus L - L - - Bacchean Bacchius B - L - L ᴗ - - Proceleumatique Prokeleusmatikos B - B - B - B ᴗ ᴗ ᴗ ᴗ 2. Pæon Päon 2 B - L - B - B ᴗ - ᴗ ᴗ 3. Pæon Päon 3 B - B - L - B ᴗ ᴗ - ᴗ 4. Pæon Päon 4 B - B - B - L ᴗ ᴗ ᴗ - Choriambic Chorjambe L - B - B - L ᴗ ᴗ - Tautopodic Iambique Dijambus B - L - B - L ᴗ - ᴗ - 1. Epitrite Epitrit 1 B - L - L - L ᴗ - - - 2. Epitrite Epitrit 2 L - B - L - L ᴗ - - Tabelle 8: Versfüße nach Marin Mersenne (1636: 376) Mithilfe der Regeln Mersennes wird es möglich, die von Certon verwendeten Versfüße, wie in der Tabelle 9 dargestellt, zu benennen (selbst wenn laut Mersenne die Verwendung der griechischen oder lateinischen Namen nicht 106 4 Rhythmus und Metrum im Wandel der Zeit 155 „Or si les Musiciens & les Poëtes François ne veulent ou ne peuuent s’accoustumer aux noms que les Auteurs Grecs & Latins ont donné aux mouuemens ou aux pieds, & aux vers, ils les peuuent changer“, Mersenne (1636: 375). 156 Die wichtigste Ausnahme bilden die Zeilen 9 und 10, in denen der weibliche Reim erwartungsgemäß einer kurzen Quantität entspricht. Dies ist allerdings nicht der Fall in den Zeilen 1, 4, 5, 8, 11 und 13. Man kann daraus folgern, dass das metrische Schema bei Ronsard wichtiger als der Reim ist. 157 Vgl. die Forderung Lamys (1715) für die Intonationskurven des Französischen: Eine Kurve darf weder in der Mitte eines Wortes beginnen noch aufhören (vgl. Kapitel 5) und kein Wort in der Mitte teilen. wichtig ist). 155 Dabei wurde folgendermaßen vorgegangen: An das Ende eines Verses und vor der Zäsur wurde systematisch (soweit möglich 156 ) ein Jambus (oder Dijambus) oder ein Bacchius gesetzt, wie Mersenne es für einen Distichon verlangt. Des Weiteren wurde versucht, die Silben eines Wortes demselben Versfuß zuzuordnen. 157 Die sich daraus ergebende Einteilung hat allerdings bei den übrigen, in der Ausgabe der Sonette als zur gleichen Melodie passend bezeichneten Gedichten nicht zur Folge, dass sich die Worte immer vollständig in einem Versfuß befinden (vgl. Bsp. 27). Entweder ist das Kriterium nicht wichtig, oder aber die genaue Einteilung (beziehungsweise Zusammenfassung zweier einfacher Versfüße in einen komplexeren) ist von Gedicht zu Gedicht un‐ terschiedlich gehandhabt. Eine derartige Vorgehensweise ist durchaus denkbar: Man denke an die nicht immer identische Aufteilung der Silben in unterschied‐ lichen Strophen, wie sie häufig in Volks- und Kirchenliedern anzutreffen ist. In der Tabelle markiert der Schrägstrich die Zäsur und ein Bindestrich mehrere, in einem Versfuß zusammengezogenen Silben. Zeile A (f): Verse 1 und 5 I’espère & crains , / ie me tais & sup plie Rien ne me plaist / sinon ce qui m’ennuy-e , B - L B - L / B - L B - L B - L - L 2 Jamben / 2 Jamben, Bacchius, oder B - L - B - L / B - L - B - L B - L - L Dijambus / Dijambus, Bacchius Zeile A (f): Verse 4 und 8 Ie me delace , / & puis ie me relie . Ie doubte amour , / & si ie le deffie. B - B B - L / L - B B- L B - L - L Pyrrhicchius, Jambus / Trochäus, Jambus, Bacchius Zeile B (m): Verse 2 und 6 Or ie suis glace , / & o -res vn feu chault , Ie suis vaillant , / & le cœur me deffault . B - B B - L / B - L B - B B - L Pyrrhicchius, Jambus / Jambus, Pyrrhique, Jambus Zeile B (m): Verse 3 und 7 I’ad-mire tout , / & de rien ne me chault , I’ay l’es-poir bas ; / j’ai le cou-rai-ge hault , B - B - B - L / B - L B - B - B - L Päon 4 / Jambus, Päon 4* Zeile C (m 2 ): Verse 9 und 10 Plus ie me picque , / & plus ie suis re -tif, I’ayme es-tre libre , / & veulx es-tre cap -tif, B - B - B - L/ B - L B - B L - B Päon 4 / Jambus, Pyrrhiccius, Trochäus, oder B - B - B - L/ B - L - B - B L - B Päon 4 / Päon 2, Trochäus, oder B - B - B - L/ B - L B - B - L - B 107 4.2 Quantifizierung in französischer Poesie und Musik Dijambus / Dijambus, Bacchius Zeile A (f): Verse 4 und 8 Ie me delace , / & puis ie me relie . Ie doubte amour , / & si ie le deffie. B - B B - L / L - B B- L B - L - L Pyrrhicchius, Jambus / Trochäus, Jambus, Bacchius Zeile B (m): Verse 2 und 6 Or ie suis glace , / & o -res vn feu chault , Ie suis vaillant , / & le cœur me deffault . B - B B - L / B - L B - B B - L Pyrrhicchius, Jambus / Jambus, Pyrrhique, Jambus Zeile B (m): Verse 3 und 7 I’ad-mire tout , / & de rien ne me chault , I’ay l’es-poir bas ; / j’ai le cou-rai-ge hault , B - B - B - L / B - L B - B - B - L Päon 4 / Jambus, Päon 4 158 Zeile C (m 2 ): Verse 9 und 10 Plus ie me picque , / & plus ie suis re -tif, I’ayme es-tre libre , / & veulx es-tre cap -tif, B - B - B - L/ B - L B - B L - B Päon 4 / Jambus, Pyrrhiccius, Trochäus, oder B - B - B - L/ B - L - B - B L - B Päon 4 / Päon 2, Trochäus, oder B - B - B - L/ B - L B - B - L - B Päon 4 / Jambus, Päon 3 Zeile D (f 2 ): Vers 11 Cent fois ie meurs , / cent fois je prends naissan-ce . 159 B - L B - L / B - B B - B B - L- L 2 Jamben / 2 Spondeen, Bacchius, oder B - L - B - L / B - B B - B B - L- L Dijambe / 2 Spondeen, Bacchius Zeile D (f 2 ): Vers 13 Et pour ay-mer / per-dant tout-te puissan-ce, L - B L - L / B - B B - B B - L - L Trochäus, Spondeus / 2 Spondeen, Bacchius, oder L - B - L - L / B - B - B - B B - L - L Epitrit 2 / Prokeleusmaticus, Bacchius Zeile E (m 3 ): Vers 12 Un Pro-methée / en pas-si-ons ie suis , B - B - B - L / B - B - B - B B - L Päon 4 / Prokeleusmaticus, Jambus Zeile E (m 3 ): Vers 14 Ne pou-vant rien / ie fay ce que ie puis. B - L - L - L / B - L B - L L - L Epitrit 1 / 2 Jamben, Spondeus, oder B - L - L - L / B - L B - L - L - L Epitrit 1 / Jambus, Epitrit 1, oder B - L - L - L / B - L - B - L L - L Epitrit 1 / Dijambus, Spondeus 108 4 Rhythmus und Metrum im Wandel der Zeit 158 Nach Vers 7 (je le couraige hault). 159 Die Textwiederholung wurde in dieser Analyse nicht berücksichtigt. 160 Marmontel (1763: 229) nennt die folgenden acht Versfüße: tribrache ᴗ ᴗ ᴗ, chorée - ᴗ, iambe ᴗ -, dactile - ᴗ ᴗ, spondée - -, anapeste ᴗ ᴗ -, amphibrache ᴗ - ᴗ und dipyrriche ᴗ ᴗ ᴗ ᴗ). Die ersten drei haben laut seiner Erklärung drei Zeiten und die folgen fünf haben vier Zeiten. 161 Es handelt sich um: spondée (L - L), iambe (B - L), trochée (L - B), dactyle (L - B - B), anapeste (B - B - L) und tribraque (B - B - B). Die mesure des französischen Verses entspricht der Silbenanzahl (Caussade, 1881: 67 und 70). 162 „L’IAMBE. - Nous avons déjà dit un mot de l’iambe; c’est un poème dans lequel un vers de douze syllabes alterne continuellement avec un de huit; ses rimes sont croisées, en sorte qu’il est composé en réalité de strophes de quatre vers. Son étendue n’est pas limitée […]. L’iambe n’est devenu un genre que depuis André Chénier et Auguste Barbier“, Grammont (1932: 101). L - B - L - L / B - B - B - B B - L - L Epitrit 2 / Prokeleusmaticus, Bacchius Zeile E (m 3 ): Vers 12 Un Pro-methée / en pas-si-ons ie suis , B - B - B - L / B - B - B - B B - L Päon 4 / Prokeleusmaticus, Jambus Zeile E (m 3 ): Vers 14 Ne pou-vant rien / ie fay ce que ie puis. B - L - L - L / B - L B - L L - L Epitrit 1 / 2 Jamben, Spondeus, oder B - L - L - L / B - L B - L - L - L Epitrit 1 / Jambus, Epitrit 1, oder B - L - L - L / B - L - B - L L - L Epitrit 1 / Dijambus, Spondeus Tabelle 9: In „I’espere & crains“ (Pierre de Ronsard und Pierre Certon) verwendetes Versschema Die Vielzahl der von Mersenne benannten einfachen und komplexen Versfüße verweist deutlich auf die antike Tradition. Im 18. Jahrhundert merkt Jean-Fran‐ çois Marmontel (1763) nur noch kurz an, dass diese Differenzierung nunmehr überflüssig sei. Die Anzahl der Versfüße reduziert sich bei ihm auf acht. 160 Am Ende des 19. Jahrhunderts nennt Caussade (1881) nur noch sechs (lateinische) gebräuchliche Versfüße. 161 Bei Grammont (1932) wird der iambe schlicht als eine Gedichtform beschrieben. 162 109 4.2 Quantifizierung in französischer Poesie und Musik 163 „Les syllabes breves n’ont qu’un tems ou demi-note de musique. […] Les syllabes longues ont deux temps, ou une note entiere de musique“, Vairasse d’Allais (1681: 36). 164 Zur Zeit Vairasse d’Allais wären Viertel und Halbe Noten als Vergleichspunkte logischer gewesen. Die Verwendung von Halben und Ganzen hat einen archaisierenden Aspekt, der als Hinweis auf eine gewisse Traditionsverbundenheit interpretiert werden kann. 4.3 Quantität als relative Größe Musiktheorie als theoretischer Rahmen für eine „Maßeinheit“ der Quantität Die ersten Versuche der mensurierten Poesie in Frankreich zeigen eine deutliche Abhängigkeit von den antiken Vorbildern. Aus der Verbindung der französischen Silben- und Reimform mit dem antiken Versmaß entsteht eine der Musik theoretisch nahestehende Gattung, da die langen und kurzen Silben, wie die langen und kurzen Noten, durch das mathematische Verhältnis 2: 1 ausgedrückt werden können. Eine derartige Erklärung für das „Maß“ der Silben findet sich noch in der 1681 veröffentlichten Grammaire méthodique von Denis Vairasse D’Allais. Der Autor erklärt hier: „Die kurzen Silben entsprechen einer Zeit oder, in der Musik, einer Halben Note“, und „die langen Silben entsprechen zwei Zeiten, oder, in der Musik, einer Ganzen Note“. 163 Die von Vairasse d’Allais angeführten Beispiele können damit wie in den beiden folgenden Tabellen 10 und 11 gezeigt, transkribiert werden: Beispielworte bei Vairasse d’Allais Von Vairasse d’Allais ange‐ gebene Notenwerte 164 Entsprechende Silbenlänge (Transkription) Der Silbenlänge entsprechendes Versmaß a-mi 2 Halbe Noten ᴗ ᴗ Pyrrhiccius o-be-ir e-qui-té 3 Halbe Noten ᴗ ᴗ ᴗ Tribracchus Tabelle 10: Beispiele mit ausschließlich kurzen Silben Beispielworte bei Vairasse d’Allais Von Vairasse d’Allais ange‐ gebene Notenwerte Entsprechende Silbenlänge (Transkription) Der Silbenlänge entsprechendes Versmaß aut-tant im-pôt guer-rier 1 Halbe und 1 Ganze Note ᴗ - Trochäus Tabelle 11: Beispiele mit einer kurzen und einer darauf folgenden langen Silbe 110 4 Rhythmus und Metrum im Wandel der Zeit Diese wenigen, vom Autor für das Französische anscheinend als typisch be‐ trachteten Grundrhythmen werden durch die Silben mit freier Länge (syllabes indifférentes oder, bei anderen Autoren, wie zum Beispiel D’Olivet, syllabes dou‐ teuses) erweitert und angereichert. Sie sind, so Vairasse d’Allais, normalerweise kurz, können aber je nach Kontext und nach Ausdrucksbedürfnis lang werden (siehe Tabelle 12). Ein jambischer Rhythmus entsteht: Beispielworte bei Vairasse d’Allais Von Vairasse d’Allais ange‐ gebene Notenwerte Entsprechende Silbenlänge (Transkription) Der Silbenlänge entsprechendes Versmaß bat-tre re-gle tit-re pro-pre lu-trin sou-ple oeu-vre 1 Ganze und 1 Halbe Note - ᴗ Jambus Tabelle 12: Beispiele mit einer langen und einer darauffolgenden kurzen Silbe Hinzu kommen die sehr kurzen und die sehr langen Silben. Für die Ersteren (das e caduc und die Enklitika, wie die Pronomen in allez-y oder puis-je) gibt Vairasse d’Allais keinen musikalischen Vergleich an. Die Zweiten entsprechen einer punktierten Ganzen und damit drei Zeiteinheiten (vgl. Tabelle 13). Da die antike Verslehre keine überlangen Silben vorsieht, bleiben die Versfüße dieselben. Beispielworte bei Vairasse d’Allais Von Vairasse d’Allais ange‐ gebene Notenwerte Entsprechende Silbenlänge (Transkription) Der Silbenlänge entsprechendes Versmaß am-ple an-tre con-tre neu-tre crou-te flû-te 1 Punktierte Ganze und 1 Halbe Note ᴗ - Jambus re-gî-tre 1 Halbe, 1 Punktierte Ganze und 1 Halbe Note ᴗ - ᴗ Amphybracchus Tabelle 13: Beispiele mit „sehr langen“ Silben 111 4.3 Quantität als relative Größe 165 „Nous voyons évidemment que nos ancêtres ont cru avoir des principes fixes sur la Prosodie: & c’est à nous, par conséquent, à examiner ce qui nous en reste“, D’Olivet (1736: 17-18). 166 „Une plus exacte connoissance de notre Prosodie mettroit, ce me semble, les Poètes & les Musiciens hors d’état de faire des fautes, qui ne leur fussent communes“, D’Olivet (1736: 115). 167 „On assigne un temps à la brève, & deux temps à la longue“, D’Olivet (1736: 49). Somit umfasst das System von Vairasse d’Allais drei fixe Werte im Verhältnis 1 (kurz) zu 2 (lang) zu 3 (sehr lang). Der Rahmen der antiken Verslehre ist definitiv gesprengt. Abbé D’Olivet und die französische barocke Musikpraxis Die Überlegungen der Grammatiker erfahren eine Erweiterung bei Pierre-Jo‐ seph Thoullier D’Olivet. Im Vorwort seines 1736 veröffentlichten Werkes zur Prosodie des Französischen beweist D’Olivet seine Sensibilität für Fragen der Diachronie und geht ausgiebig auf die Geschichte der vers mesurés in Frankreich ein. Dieser Exkurs bildet den Einstieg in die Darstellung der Unterschiede der lateinischen und der französischen Quantität. Er erklärt, dass das Lateinische feste Regeln kenne, die für das Französische fehlen, auch wenn seine Vorgänger glaubten, derartige Regeln gefunden zu haben. 165 Diese Bemerkung bezieht sich unter anderem auf die Tatsache, dass, wie der Autor erklärt, die französischen Quantitätsregeln vor allem von der lateinischen Metrik abgeleitet worden waren. D’Olivet dagegen möchte die conversation des honnêtes gens beschreiben (1736: 98), die Konversationssprache der guten Gesellschaft, in der der Reim keine, und die Quantität eine weniger ausgeprägte Rolle spielen als in der Poesie. Wenn D’Olivet also die Quantität im Rahmen der Prosasprache beschreiben will, muss er einen neuen theoretischen Ansatz finden. Wieder einmal wird die Musik zum Bezugspunkt - diesmal allerdings die Musikpraxis. Der Autor bekräftigt für Musiker wie für Poeten die Wichtigkeit der Kenntnisse der dem Französischen eigenen Prosodie 166 und gibt zunächst traditionsgemäß der kurzen Silbe „eine Zeit“ (un temps) und der langen zwei (deux temps). 167 Die „Zeit“ an sich ist eine relative Maßeinheit, die mit der musikalischen Zählzeit verglichen werden kann. In der Musik bildet die Viertelnote den Bezugspunkt. Sie entspricht in dem gängigen System des 18. Jahrhunderts einer Zählzeit und die Halbe Note, die genau doppelt so lang ist, entspricht also zwei Zählzeiten. Dieses Verhältnis bleibt immer gleich und mit wechselndem Tempo ändert sich zwar die absolute 112 4 Rhythmus und Metrum im Wandel der Zeit 168 „On mesure les syllabes, non pas rélativement à la lenteur, ou à la vitesse accidentelle de la prononciation; mais rélativement aux proportions immuables, qui les rendent, ou longues, ou brèves“, D’Olivet (1736: 53). 169 „Il y a selon moy dans notre façon d’ecrire la musique, des deffauts qui se raportent à la manière d’ècrire notre langue. C’est que nous ècrivons diffèremment de ce que nous èxècutons; ce qui fait que les ètrangers joüent notre musique moins bien que nous ne fesons la leur. Au contraire les Italiens ècrivent leur musique dans les vrayes valeurs qu’ils L’ont pensèe. Par exemple. Nous pointons plusieurs croches de suite par Dauer der Töne, nicht aber die mathematische Proportion ihrer Längen. Die‐ selbe Beobachtung macht D’Olivet für die Quantität der Sprache. Er präzisiert, dass die exakte Dauer einer Silbe vom Sprechtempo abhängt, das Verhältnis von kurzen und langen Silben aber immer, unabhängig vom Tempo, gleich bleibt. 168 Ebenso wie die Halbe Note, die immer genau doppelt so lang wie die Viertelnote ist, hat auch die lange Silbe immer die doppelte Länge einer kurzen Silbe. Damit ist die Dauer der Silbe wie in der Musik fixiert: Sie orientiert sich an einer stabilen Bezugsgröße. Doch wie Denis Vairasse d’Allais fügt auch D’Olivet (1736: 50) zu der gegebenen Proportion 1: 2 nun noch weitere hinzu: die longues plus longues, die etwas länger als zwei Zählzeiten sind, und die brèves plus brèves, die ein wenig länger als eine Zählzeit sind, ohne dass in den beiden Fällen eine genaue mathematische Proportion (wie 1: 1,5, beziehungsweise 2: 2,5) bestimmbar wäre. Die Werte sind einfach nur „ein bisschen länger“. Die Angaben sind damit ebenso vage wie diejenige für das e caduc, das für D’Olivet ein wenig kürzer als eine Zählzeit ist. Die von Vairasse d’Allais erwähnte Proportion 1: 3 kennt der Autor des 18. Jahrhunderts dagegen nicht. Das System D’Olivets enthält also konkret quantifizierbare Silben, die den Werten 1 und 2 entsprechen und solche, für die nur eine Tendenz (länger als / kürzer als) angegeben werden kann. Nun findet sich im Bereich der Musikpraxis des französischen Barock ein ähnliches, sehr wichtiges Phänomen: die inégalité. François Couperin erklärt (und kritisiert) diese Praktik wie folgt: Meiner Ansicht nach liegen in unserer Musikniederschrift Fehler, die in unserer Sprachniederschrift begründet sind. Wir notieren nämlich abweichend von unserer wirklichen Ausführung; daher spielen die Ausländer unsere Musik weniger gut als ihre eigene, umgekehrt schreiben die Italiener ihre Musik in den richtigen Werten, so wie sie diese gedacht haben. Zum Beispiel spielen wir mehrere Stufen stufenmäßig verlaufende Achtel, als seien sie punktiert, und doch zeichnen wir sie als gleichwertige auf. Die Gewohnheit hat uns bezwungen und wir bleiben dabei. (Couperin, 1961 [1717]: 23) 169 113 4.3 Quantität als relative Größe degrés-conjoints; Et cependant nous les marquons ègales; notre usage nous a asservis; Et nous continüons“, Couperin (1961 [1717]: 23). 170 „On doit remarquer que les Tu, Ru, se reglent par le nombre des Croches. Quand le nombre est impair on prononce Tu Ru, tout de suite […]. Quand il est pair on prononce Tu, sur les deux premières Croches, ensuite Ru alternativement“, Hotteterre (1719: 22). 171 „On a coûtume d’en faire une longue & une bréve successivement, parce que cette inégalité leur donne plus de grace“, Saint-Lambert (1702: 60). Flötisten verwenden für die von Couperin als Beispiel genannten stufenweise aufeinanderfolgenden Achtelnoten unterschiedliche Artikulationssilben. Laut Jacques Hotteterre (1719) wird eine ungerade Anzahl von Achtelnoten mit Tu - Ru (usw.) artikuliert, eine gerade Anzahl dagegen beginnt mit einem doppelten Tu (Tu - Tu - Ru - Tu - Ru - usw.). 170 Die unterschiedliche Qualität der beiden Artikulationskonsonanten t und r gibt dem Ton eine andere Form: Eine leichte inégalité entsteht. Die durch die inegalen Noten entstehende Wirkung beschreibt in plastischer Weise Jürgen Trinkewitz (2009). Er bezieht sich dabei auf die im Jahr 1979 von David Fuller mit Hilfe eines Computers erstellte Rekonstruktion einer Tonaufnahme von 1778. Es handelt sich um eine Romance betitelte Komposition des Organisten und Cembalisten Claude Balbastre (1724-1799), die für eine Orgelwalze vorgesehen ist. Neben der konventionellen Notenfassung ist auch die zur Herstellung der Walze benötigte Zylinder-Umschrift mit der Stiftkarte des Walzenzylinders erhalten. Trinkewitz kommentiert: Diese Schallplattenaufnahme klingt unvergleichlich lebendiger, als es die Schulwerke der damaligen Zeit vermitteln können. […] Bei der Herstellung von Walzenzylindern muss aus fertigungstechnischen Gründen eine Festlegung der inegalen Verhältnisse getroffen werden. In den entsprechenden Schriften finden sich dann ziemlich kom‐ plizierte Zahlenverhältnisse wie 2: 1, 3: 1, 3: 2, 5: 3, 7: 5 und sogar 9: 7. Alles Nivellierende und Stereotype wird vermieden. (Trinkewitz, 2009: 149) Geschriebener und erklingender Rhythmus sind damit nur ungefähr identisch. Die Abweichungen sind jedoch sehr fein und nur ein geschultes Ohr wird sie bewusst wahrnehmen. Die Notation enthält das rhythmische Grundgerüst, das alle Musizierenden bei jeder Ausführung der Komposition neu beleben. Die kleinen rhythmischen Freiheiten beeinträchtigen dabei in keinster Weise den metrischen Rahmen, sie geben vielmehr der melodischen Linie eine grö‐ ßere Flexibilität, Geschmeidigkeit und Lebendigkeit. In diesem Sinne erklärt Saint-Lambert (1702) den Zweck der inégalité mit einer größeren Anmut der Musik. 171 Unter Heranziehung der eingangs geschilderten Unterscheidung der Begriffe Rhythmus und Metrum bei Albert Di Cristo, kann man sagen, dass die 114 4 Rhythmus und Metrum im Wandel der Zeit 172 Für eine genauere Analyse, siehe Schweitzer (im Druck). 173 „L’harmonie du style dans notre langue ne dépend donc pas, comme dans les langues anciennes, du mélange des sons aigus & des sons graves, mais bien du mélange des sons plus lents ou plus rapides, liés & soutenus par des articulations faciles & distinctes, qui marquent le nombre sans dureté“, Marmontel (1763: 228). Freiheiten der inégalité ein Teil der rhythmischen Aktualisierung des Metrums sind. Der Bezug zur inégalité wird zwar nicht ausdrücklich bei D’Olivet erwähnt, seine Erklärung weist aber deutliche Ähnlichkeiten mit den Beschreibungen dieser gängigen musikalischen Praxis auf. 172 Der Vielfalt der französischen Silbenlängen wird somit bei D’Olivet eine neue Komponente hinzugefügt und man könnte seine Theorie in diesem Sinne folgendermaßen zusammenfassen: Die langen und kurzen lateinischen Quantitäten mit ihrem klassischen Verhältnis von 2: 1 bilden auch das Grundgerüst der französischen Quantität. Hinzu kommen aber im Französischen zahlreiche Nuancen von mehr oder weniger kurzen oder langen Silben, die die Sprache lebendig machen, ganz so wie es in der Musik für die verschiedenen Notenwerte und vor allem die Praxis der inégalité der Fall ist. Daran erinnert noch knapp dreißig Jahre nach D’Olivet der französische Theoretiker Jean-François Marmontel (1763), wenn er den sprachlichen und stilistischen Reichtum für das Französische in seiner klanglichen und rhythmischen Abwechslung, für die alten Sprachen dagegen in einer deutlichen Sprachmelodie sieht. 173 Die antike Matrix wurde hier analysiert, die Unterschiede mit dem Französischen sind herausgearbeitet und die Beschreibung entsprechend angepasst. 4.4 Der „Flow“ des Slams Die Entstehung des Rhythmus im Slam Im Slam haben persönliche Stimmeigenschaften des Interpreten oder der Inter‐ pretin im Vergleich zu Vortragsarten, in denen derselbe Text gelesen oder rezi‐ tiert wird, eine geringere Wichtigkeit. Dies ist zumindest die Meinung von zwei Dritteln der Teilnehmer und Teilnehmerinnen an einer der Prosodie poetischer Ausdrucksformen gewidmeten Umfrage (vgl. Bsp. 28), von der im letzten Kapitel noch ausführlich die Rede sein wird. Eine der teilnehmenden Personen sieht eine Nähe zur Psychoanalyse und erwähnt die nicht-direktiven Ansätze, in denen der Therapeut oder die Therapeutin die Stimme in den Hintergrund stellt, sozusagen neutralisiert, um so einen anderen Zugang zur Bedeutung des Sinnes (langage) 115 4.4 Der „Flow“ des Slams 174 Siehe https: / / www.youtube.com/ watch? v=nlzuXM98B3g (Zugriff 18.6.2021). Grand Corps Malade rezitiert (slammt) hier bekannte französische Gedichte. Es handelt sich nach deutsch-amerikanischer Kategorisierung um einen dem Slam Poetry angehö‐ renden Vortrag. Vgl. Hedayati-Aliabati (2016). 175 Ein Teilnehmer/ eine Teilnehmerin kommentiert dazu: „insiste beaucoup sur la rime et donne beaucoup de rythme“. hinter den von dem Patienten oder der Patientin verwendeten Worten, zu er‐ halten. Eine andere teilnehmende Person notiert, dass der Slammer - es handelt sich um Fabien Marsaud, bekannt unter dem Namen Grand Corps Malade, seinen Text nicht wirklich verstehe und kein Kommunikationsbedürfnis ausstrahle. Es handelt sich bei dem Text wohlgemerkt nicht um eine Eigenkomposition, sondern um das Gedicht „Inviation au voyage“ von Charles Baudelaire. 174 Dies erklärt auch das Bedauern anderer Teilnehmer und Teilnehmerinnen, dass in der Slam-Interpretation die klassischen Regeln des Versmaßes nicht genügend berücksichtigt und das Tempo zu schnell seien. Die Stimme des Slammers wird zudem im Vergleich mit zwei anderen, gelesenen/ rezitierten Interpretationen als eher unbeweglich empfunden (vgl. Bsp. 29), wohingegend Rhythmus und Reim in den Vordergrund treten. 175 Tatsächlich stehen im Slam weder die Stimme, noch die Textform im Vor‐ dergrund, sondern ausschließlich die Musikalität der Worte, das heißt die Materialität der Sprache, die Farben der Reime oder andere klangliche Elemente wie Alliterationen, Assonanzen oder Paronomasie. Damit ist eine Verbindung zur klassischen Poesie gegeben, die aber bewusst durch die Suche nach neuen Regeln nivelliert wird. Im Gegensatz zum Rap werden die Worte im Slam nicht einem fest vorgegebenen Beat hinzugefügt, sondern der Slammer sucht einen harmonischen Rhythmus, der aus dem Text selbst, den Klängen der Worte, ihrer Abfolge, dem ihnen eigenen Rhythmus, ihrer Intonation usw. entsteht (vgl. Vorger & Abry, 2011). Der Schweizer (frankophone) Slammer Narcisse bekräftigt in einer von Camille Vorger und Dominique Abry (2011) zitierten Umfrage die Wichtigkeit der Suche nach den musikalischen Effekten, die im Text selbst enthalten sind und fügt hinzu, dass die Musik sich für ihn vor allem in ihrer zeitlichen Organisation manifestiert, und dass er persönlich hauptsächlich mit den rhythmischen Aspekten der Klänge und Worte spiele. Das von mehreren Befragten als sehr (oder gar zu) schnell empfundene Tempo (siehe oben) dient im Slam als eine Art Motor für den Rhythmus: Der Wortstrom ist außerordentlich dicht und gedrängt. Susanne Uhmann (1992) unterscheidet für den Begriff Dichte eine Tempoeinheit (gemessen als - ohne Pause - gesprochene Silbenzahl pro Sekunde) und den aus der Anzahl der pro 116 4 Rhythmus und Metrum im Wandel der Zeit 176 „Le style vocal est omniprésent. Le phonème, unité abstraite, ne peut apparaître dans le discours sous sa forme pure. Il doit être réalisé, actualisé à l’aide des organes de la parole, la glotte, le pharynx, la langue, les lèvres. Or, il est impossible de faire fonctionner ces organes sans qu’ils puissent s’exprimer à leur tour, en ajoutant au message linguistique des informations d’une nature différente“, Fónagy (1983: 23). 177 Für eine Zusammenfassung der verschiedenen Ansätze, siehe Léon (1993: 13-27). Sekunde betonten Silben resultierenden Rhythmus. Beide Interpretationen des Begriffes spielen im Slam eine Rolle. Aus der Verbindung der klanglichen Eigenschaften (den Reimen) des Textes und der prosodischen Parameter (der Skansion oder rhythmischen Akzentuie‐ rung der Silbe) entsteht der typische flow des Slams (vgl. Kapitel 2). Hierzu unterscheidet Anne-Catherine Simon (2020) vier verschiedene Phonostile: einen gesprochenen (style parlé), einen akzentuierten (style accentué), einen poeti‐ schen (style poétique) und einen ausgearbeiteten Stil (style élaboré). Die vier Phonostile des Slams Die Disziplin der Phonostilistik wurde 1938 von Nikolaï Sergueïevitch Trou‐ betzkoy (1890-1938) ins Leben gerufen (vgl. Kapitel 2). Sie beschäftigt sich hauptsächlich mit den Wirkungen der phonischen Variation auf Hörer und Hörerinnen sowie den daraus resultierenden Reaktionen. In Frankreich wurde sie besonders von Ivan Fónagy aufgegriffen, der in seinem 1983 erschienenen Buch La vive voix erklärt: Phonostile findet man überall. Eine abstrakte Einheit wie das Phonem kann in der Sprache nicht in reiner Form erscheinen. Es muss mit Hilfe der Sprachorgane, der Glottis, des Rachens, der Zunge und der Lippen realisiert und damit aktualisiert werden. Es ist jedoch unmöglich, mit diesen Organen zu produzieren, ohne dass sie die Möglichkeit hätten, ihrerseits etwas auszudrücken, indem sie der linguistischen Botschaft Informationen anderer Art hinzufügen. (Fónagy, 1983) 176 Der Phonostil ist also eine charakteristische Art des Ausdrucks. Fónagy be‐ greift jede Äußerung als aus zwei Komponenten bestehend: Einer primären, faktischen Information wird ein (Phono-) Stil hinzugefügt, der mittels paralinguistischer Mittel die Information formt und ihr den eigentlichen Sinn gibt, den die sprechende Person auszudrücken wünscht. Die phonostilistische Botschaft enthält also konzeptualisierte, unbewusste oder nur halb-bewusste Inhalte (nach Léon, 1993: 23). 177 Laut Simon entstehen die im Slam zum Einsatz kommenden Phonostile aus der unterschiedlichen Kombination und Hervorhebung der klanglichen und proso‐ 117 4.4 Der „Flow“ des Slams 178 Französische Fassung nach Baudelaire (2004 [1857]: 61-62), deutsche Übersetzung von Stefan George, in Baudelaire (1901: 72-74). dischen Parameter Reim und Skansion, wie es die folgende Tabelle (Tabelle 14) zeigt. Sie ist dem genannten Text von Anne-Catherine Simon entnommen (und wurde anschließend übersetzt). scandé skandiert + scandé + skandiert rimé gereimt Style parlé Gesprochener Stil Style accentué Akzentuierter Stil + rimé + gereimt Style poétique Poetischer Stil Style élaboré Ausgearbeiteter Stil Tabelle 14: Die 4 Phonostile des Slams (laut Simon, 2020) Die Slammer alternieren in der Regel in jedem Slam die verschiedenen Stile und sorgen damit für Abwechslung und unterschiedliche Ereignisdichten. Ins‐ gesamt dominiert allerdings häufig der stark auf Reim und Skansion beruhende gehobene oder ausgearbeitete Stil. Analyse der Phonostile eines geslammten Gedichts von Baudelaire Die folgende Analyse der geslammten Interpretation des Gedichtes „L’Invitation au Voyage“ von Charles Baudelaire durch Grand Corps Malade wurde manuell (akustisch) erstellt. Sie berücksichtigt ausschließlich rhythmische Aspekte. In der Darstellung unterstrichene Worte enthalten deutlich verlängerte Silben, Pausen wurden durch einen Slash hinter dem entsprechenden Wort vermerkt. L’Invitation au Voyage Charles Baudelaire Einladung zur Reise Charles Baudelaire  178 Mon enfant, ma sœur, / Songe à la douceur D’aller là-bas vivre ensemble! / Aimer à loisir, Aimer et mourir Au pays qui te ressemble! / Les soleils mouillés De ces ciels brouillés Pour mon esprit ont les charmes Si mystérieux / Meine schwester mein kind! Denk dir wie lind Wär es dorthin zu entweichen! Liebend nur sehn · Liebend vergehn In ländern die dir gleichen! Der sonnen feucht Verhülltes geleucht Die mir so rätselhaft scheinen Wie selber du bist 118 4 Rhythmus und Metrum im Wandel der Zeit De tes traîtres yeux, Brillant à travers leurs larmes. / Là, / tout n’est qu’ordre et beauté, / Luxe / , calme et volupté./ Wie dein auge voll list Das glitzert mitten im weinen. Dort wo alles friedlich lacht - Lust und heiterkeit und pracht. Des meubles luisants, Polis par les ans, Décoreraient notre chambre; / Les plus rares fleurs Mêlant leurs odeurs Aux vagues senteurs de l’ambre, / Les riches plafonds, Les miroirs profonds, La splendeur orientale, / Tout y parlerait À l’âme en secret Sa douce langue natale. / Là, / tout n’est qu’ordre et beauté, / Luxe / , calme et volupté./ Die möbel geziert Durch die jahre poliert Ständen in deinem zimmer Und blumen zart Von seltenster art In ambraduft und flimmer. Die decken weit Die spiegel breit In Ostens prunkgemache Sie redeten dir Geheimnisvoll hier Die süsse heimatsprache. Dort wo alles friedlich lacht - Lust und heiterkeit und pracht. Vois sur ces canaux Dormir ces vaisseaux Dont l’humeur est vagabonde; / C’est pour assouvir Ton moindre désir Qu’ils viennent du bout du monde. / - Les soleils couchants Revêtent les champs, Les canaux, la ville entière, D’hyacinthe et d’or; / Le monde s’endort / Dans une chaude lumière. / Sieh im kanal Der schiffe zahl Mit schweifenden gelüsten! Sie kämen dir her Aufs kleinste begehr Von noch so entlegenen küsten. Der sonne glut Ersterbend ruht Auf fluss und stadt und die ganze Welt sich umspinnt Mit gold und jazint Entschlummernd in tief-warmem glanze. Là, tout n’est qu’ordre et beauté, Luxe, calme / et volupté. Dort wo alles friedlich lacht - Lust und heiterkeit und pracht. Der gesprochene Stil insistiert wenig auf Reim und Akzentuation. Er ist in der Interpretation des Slammers beispielsweise in der dritten Strophe erkennbar. Die drei Verse „Revêtent les champs, Les canaux, la ville entière, D’hyacinthe et d’or“ folgen ohne Pause und ohne deutliche Markierung des Reimes aufeinander und selbst das accelerando (das die mit der Ruhe und dem Schlaf, vom denen im folgenden Vers die Rede ist, assoziierte Verlangsamung vorbereitet) erinnert an die gesprochene Sprache. Der poetische Stil (+ Reim, - Akzentuierung) existiert, ist aber für diesen Analyseschritt nicht von Belang, da er impliziert, dass der Reim auf eine 119 4.4 Der „Flow“ des Slams 179 Vgl. die Intonation des Slammers am Ende der Zeilen „Les plus rares fleurs/ Mêlant leurs odeurs“. andere Art als durch einen rhythmischen Akzent (zum Beispiel die Intonation 179 ) hervorgehoben wird. Der akzentuierte Stil (- Reim, + Akzent) ist da erkennbar, wo die Betonungs‐ dichte auffallend groß ist. Für den rhythmischen Akzent ist dies beispielsweise in der ersten Strophe in den Zeilen „Aimer à loisir, Aimer et mourir“ der Fall. Die Häufung der langen Silben hat hier einen stark rhythmisierenden Effekt. Dieselbe Bemerkung kann für „Les soleils couchants“ der dritten Zeile gemacht werden. Der Kontrast mit den vorhergehenden und folgenden wenig rhythmisierten Verszeilen verstärkt noch den Effekt. Der ausgearbeitete Stil (+ Reim, + Akzent) spielt mit den unterschiedlichen Möglichkeiten von Reim und Skansion und deren Wechsel. Bei dem Gedicht‐ vortrag von Grand Corps Malade steht dieser Stil eindeutig im Vordergrund. In der ersten Strophe beispielsweise schaffen die Pausen eine klare Struktur von 3 Zeilen + 3 Zeilen + 6 Zeilen, die den Inhalt und die Syntax des Textes genau respektiert. Die beiden zusätzlichen Pausen haben eine rhetorische Funktion. Diejenige am Ende des ersten Verses (nach „sœur“) ist relativ kurz, man spürt das „Weitergehen“: Diese Pause entspricht einem der Anrede folgenden kurzen Innehalten. Die Pause nach „mystérieux“ (Zeile 10) unterstreicht die Bedeutung des gerade ausgesprochenen Adjektivs und damit seinen Semantismus. Diese Effekte werden durch einen weiteren Kunstgriff verstärkt: Mit zwei Ausnahmen („douceur“, Zeile 2 und „charmes“, Zeile 9) sind alle reimtragenden Silben lang. Die beiden Ausnahmen stehen neben den beiden rhétorischen Pausen. Somit entstehen, wie in Tabelle 15 gezeigt, drei Blöcke: Block 1 Mon enfant, ma sœur, / Akzent, rhetorische Pause Songe à la douceur - D’aller là-bas vivre ensemble! / Akzent und Pause mit abschließender Wirkung Block 2 Aimer à loisir, Akzent Aimer et mourir Akzent (und rhythmische Verdichtung durch zusätzliche Betonung des ersten Wortes der Zeile Au pays qui te ressemble! / Akzent und Pause mit abschließender Wirkung 120 4 Rhythmus und Metrum im Wandel der Zeit Block 3 Les soleils mouillés Akzent De ces ciels brouillés Akzent Pour mon esprit ont les charmes - (und somit Überspringen des möglichen Schlusses eines dreizeiligen Blocks) Si mystérieux / Akzent, rhetorische Pause De tes traîtres yeux, Akzent Brillant à travers leurs larmes. / Akzent und Pause mit abschließender Wirkung. Tabelle 15: Struktur des Gedichts „Invitation au voyage“ von Charles Baudelaire in der Interpretation von Grand Corps Malade Momente, die die Aufmerksamkeit der Zuhörenden fesseln können, werden im ersten und im dritten Block durch die rhetorischen Pausen geschaffen. Sie werden zusätzlich durch die vorhergehenden (Block 1) oder folgenden (Block 3) Akzentauslassungen verstärkt. Im zweiten Block entsteht durch die Rhythmisierung der kurzen Wortgruppen eine deutlich spürbare Skansion, die allerdings nicht genau dem Typ von Gedichtrezitation entspricht, wie er in der klassischen Tradition gelehrt wird. Rhythmusgebend sind vielmehr die Sonoritäten der inhaltlich als wichtig erachteten Worte loisir, aimer und mourir. Aus dem Wechsel der verschiedenen Stile entsteht eine rhythmische Dy‐ namik, wie sie zum Beispiel in der zweiten Strophe, in „Les miroirs profonds, La splendeur orientale Tout y parlerait À l’âme en secret Sa douce langue natale“, hörbar wird: Eine längere Passage in gesprochenem Stil, unterbrochen von einer kurzen Pause nach „orientale“, wird hier von einer deutlich gedehnten letzten Verszeile, und damit im akzentuierten Stil, beschlossen. Besonders auffällig ist in diesem Kontext die Behandlung des Refrains. Die Verteilung der rhythmischen Akzente ist in allen drei Strophen gleich. Die Pausen dagegen sind nur in den ersten beiden Versionen (Strophen 1 und 2) identisch. Strophen 1 und 2: Là, / tout n’est qu’ordre et beauté, / Luxe / , calme et volupté. Strophe 3: Là, tout n’est qu’ordre et beauté, Luxe, calme / et volupté. 121 4.4 Der „Flow“ des Slams Die Reduzierung der Pausen in der dritten Strophe hat eine straffende Wirkung, sie kündigt das Ende des Gedichts an. Die außerordentlich lange Pause nach „calme“ hat hier eine semantische Funktion. Sie akzentuiert den vom Interpreten herausgearbeiteten Moment. Diese wenigen Bemerkungen stellen keinesfalls eine vollständige Analyse der stimmlichen Interpretation des Gedichtes dar. Sie dienen lediglich dazu, die genannten theoretischen Aspekte zu verdeutlichen. Anne-Catherine Simon konnte in ihren Arbeiten von 2020 zeigen, dass sich der Rhythmus im Slam aus zwei untrennbar miteinander verbundenen Quellen speist. Es handelt sich zunächst um die verbalen Elemente, das heißt das Spiel mit den Sonoritäten. Hinzu treten die paraverbalen Elemente: das Spiel mit Tempo, Akzentuation und Redefluss (Dichte). Ausgehend von der metrischen Struktur des Textes kreiert der Slammer mittels prosodischer Variationen eine ausdrucksvolle und lebendige Sprache. Diese weicht allerdings so stark von den bekannten Regeln der klassischen Gedichtrezitation ab, dass die oben zitierten Kommentare einiger Umfrageteilnehmer und Teilnehmerinnen verständlich werden. Nicht mehr der Text und sein Inhalt allein bestimmen den Vortrag, sondern besonders auch das vokale und prosodische Material, das der Text dem Slammer bietet. Das berühmte Zitat Léopold Sédar Senghors (1906-2001), „le poème n’est accompli que s’il se fait chant, parole et musique en même temps“, das Gedicht ist nur vollendet, wenn es zugleich Lied, Wort und Musik ist, ist im Slam von ebensolcher Wichtigkeit, wie es auch die Grundlage der Arbeiten der Académie de poésie et de musique im 16. Jahrhundert bildete. 122 4 Rhythmus und Metrum im Wandel der Zeit 180 „Lorsque nous parlons, lorsque nous lisons, même en lecture silencieuse, nous perce‐ vons une sorte de hauteur musicale, rythmée et aux notes fluctuantes, attachées à chaque syllabe, à chaque énoncé, à chaque phrase. C’est ce qui constitue l’intonation de la phrase […] et qui est plus généralement attachée à l’apparition des syllabes successives. Chacune de ces syllabes semble porter une ou plusieurs notes musicales, de hauteur stable comme celle produite par un instrument de musique, ou parfois changeante, comme un glissando généré par le passage rapide sur la gamme d’un clavier de piano ou le glissement des doigts sur une corde de harpe ou de guitare“, Martin (2009: 13-14). 5 Melodie und Intonation Melodie (mélodie) und Intonation (intonation) sind zwei Parameter, die die Tonhöhe beschreiben (vgl. Kapitel 3). Die Melodie entspricht einer Folge un‐ terschiedlicher, aufeinanderfolgender Tonhöhen (hauteurs) in einer Serie von Silben oder Noten. Die Tonhöhenentwicklung nimmt dabei eine Kurve (courbe mélodique) mit einer entweder aufsteigenden (montant) oder absteigenden (descendant) Richtung an. Diese Richtung beschreibt die variation mélodique, den melodischen Verlauf der Linie (vgl. Mertens, 2019). Wenn man heute von Intonation oder auch von Intonationskurven spricht, so ist damit die melodische Entwicklung gemeint, zu der allerdings weitere prosodische Elemente hinzukommen. Philippe Martin erklärt die intonation wie folgt: Beim Sprechen, beim Lesen, und selbst beim stummen Lesen nehmen wir eine Art rhythmisierter Tonhöhe mit schwankenden Tönen wahr, die an jeder Silbe, an jeder Äußerung, an jedem Satz verankert ist. Es handelt sich um die Intonation des Satzes […], die ganz allgemein an das Aufeinanderfolgen mehrerer Silben gebunden ist. Jede dieser Silben scheint eine oder mehrere Musiknoten zu tragen, deren Tonhöhe entweder stabil ist, wie die, die von einem Musikinstrument erzeugt wird, oder auch beweglich, wie ein Glissando, das durch schnelles Rutschen über mehrere nebeneinanderliegende Tasten auf der Klaviertastatur oder durch das Gleiten der Finger auf einer Harfe oder Gitarrensaite erzeugt wird. (Martin, 2009) 180 Die Untersuchung der Intonation ist also, wenn die Begriffe mélodie und intonation in dem oben erklärten Sinne verwendet werden, komplexer als diejenige der Melodie. Während die Melodie vorwiegend den Tonhöhenverlauf der Silben und Worte in einer Aussage berührt, betrachtet die Intonation die gesamte Stimmführung. Das Französische gehört, wie auch die anderen romanischen und die germani‐ schen Sprachen, zu den Intonationssprachen (vgl. Kapitel 3). Die Tonbewegung hat hier - in Kombination mit den Akzentverhältnissen - drei Aufgaben. Die erste ist grammatisch und betrifft die syntaktische Organisation der Aussage. Die zweite ist pragmatisch und vermittelt Informationen zur Abfolge (Weiter‐ führung oder Abschluss) der einzelnen Satzteile oder Redeabschnitte. Es kann sich auch um die Regelung der Übergänge zwischen den Interventionen ver‐ schiedener Dialogteilnehmer und Teilnehmerinnen handeln. Die dritte Aufgabe schließlich ist emphatisch und gibt Aufschluss über die Gefühle und Absichten der sprechenden Person. Dieses Kapitel beginnt mit einem epistemologischen Überblick zur Metho‐ dengeschichte der Melodie- und Intonationsforschung. Anschließend wird die chronologische Darstellungsform jedoch zugunsten einer systematischen Präsentation aufgegeben, die zunächst die strukturgebende Rolle von Melodie und Intonation, und danach ihre expressive Ausdruckskraft behandelt. 5.1 Kurze Methodengeschichte der Melodie- und Intonationsforschung Versetzen wir uns zunächst in die Lage der alten Theoretiker. Bis zum 19. Jahr‐ hundert galt die Melodie als auf der Grundlage der akustischen Wahrnehmung beschreibbar. Die mittels des Hörsinnes wahrgenommenen melodischen Rich‐ tungen (eine aufsteigende, absteigende, oder gegebenenfalls gleichbleibende Tonhöhe) konnten mithilfe der Musiktheorie beschrieben und sogar, wie in Ka‐ pitel 1 kurz angerissen, notiert werden. Ungefähre Tonhöhen der Sprechstimme konnten im Prinzip mit einem Instrument überprüft werden. Diese Möglichkeit scheint jedoch weder Grammatiker noch Rhetoriker besonders interessiert zu haben, und die Bemerkungen zu Tonhöhe und Melodieverlauf der Sprache bleiben normalerweise relativ. So finden sich beispielsweise bei René Bary (1679) und Charles De Brosses (1765) Hinweise zur angehobenen (haute) Tonhöhe der Stimme bei erstaunten oder überraschten Ausrufen. Eine abstraktere Erklärung gibt Charles Batteux (1774): Für ihn hängt die Melodie einer Aussage von der Zusammensetzung all seiner Bestandteile, der Laute in Silben, der Silben in 124 5 Melodie und Intonation 181 „La mélodie dans le discours dépend de la maniere dont les sons simples ou composés sont assortis & liés entre eux pour former les syllabes, dont les syllabes le sont entre elles pour former un mot, les mots entre eux pour former un membre de période, enfin, les périodes elles-mêmes pour former ce qu’on appelle le discours“, Batteux (1774 [1763]: 94). 182 „Tout en constatant l’aptitude de l’oreille à reconnaître les plus légères différences de hauteur, il faut avouer son incapacité à mesurer ces différences, non seulement quand elles sont réelles, mais encore quand elles sont imaginaires“, Rousselot (1897: 1009). 183 Für eine ausführliche Beschreibung von Phonograph und Phonautograph siehe Teston (2008). Worte, der Worte in Gruppen und der Wortgruppen oder Perioden in eine zusammenhängende Rede, ab. 181 Noch Jean-Pierre Rousselot insistiert am Ende des 19. Jahrhunderts in seinen Principes de phonétique expérimentale (1897) auf der Tatsache, dass das menschliche Ohr trotz seiner bemerkenswerten Fähigkeit, die kleinsten Höhenunterschiede wahrzunehmen, doch nicht in der Lage ist, diese genau zu messen. 182 Die von den ersten Phonetikern entwickelten Instrumente sollten diesem Manko abhelfen. Sie dienen zur Messung der Bewegungen der Sprech‐ organe sowie zur Beschreibung und zur Berechnung der mittels Phonograph (oder Phonautograph) und Grammophon erstellten Kurven (vgl. Kapitel 1). 183 Mit Hilfe verschiedener Messgeräte wie Laryngoskopen oder Laryngographen konnten die Schwingungen direkt auf Kehlkopfniveau gemessen werden. Ein Beispiel eines solchen Apparates ist der bei Rousselot (1897: 98) beschriebene Explorateur des mouvements verticaux du Larynx, mit dem die Auf- und Ab‐ wärtsbewegungen des Kehlkopfes beim Sprechakt restituiert werden können (vgl. Bsp. 30). Der von dem deutschen Arzt und Physiologen Carl Friedrich Wilhelm Ludwig (1816-1895) erfundene Kymograph dient zur Aufzeichnung von Bewegungs-, beziehungsweise Schwingungsvorgängen über eine gewisse Zeitspanne. Damit werden die physiologischen Bewegungen sichtbar (vgl. auch Kapitel 5). Zur Bestimmung von Intonationskurven ist es nunmehr möglich, die Grundfrequenzen der Vokale zu messen und anschließend die Zeitverläufe der verschiedenen, aufgezeichneten Grundfrequenzen zu ermitteln. So konnten die melodischen Kurven für verschiedene Satztypen (Aussage-, Frage- und Ausrufesatz) miteinander verglichen werden. Rousselot gibt in seinen Principes (1897: 244-260) eine detaillierte Zusammen‐ fassung des bisherigen Kenntnisstandes. Das von ihm verwendete Vokabular ist eindeutig der musikalischen Metasprache entnommen. So wird die mittlere Sprechtonhöhe verschiedener Männerstimmen mit den entsprechenden Ge‐ sangsstimmen (basse, baryton, ténor) in Verbindung gebracht. Eine Bassstimme mit dem bei Rousselot angegebenen Stimmumfang von Fis (fa#1) bis fis 1 (fa#3) 125 5.1 Kurze Methodengeschichte der Melodie- und Intonationsforschung 184 Bei diesen Angaben bezieht sich Rousselot auf die Arbeiten des Physiologen Marcel Lermoyez (1858-1929). für das Brustregister hat zum Beispiel als intonation normale die Tonhöhe der Note e (mi2). 184 Die von Rousselot erwähnte intonation normale entspricht der Grundtonhöhe, die heute als Grundfrequenz (f ° ) der Stimme bezeichnet, und für eine Männerstimme mit etwa 110 Hertz, für eine Frauenstimme mit etwa 220 Hertz und für eine Kinderstimme mit 300 bis 400 Hertz angegeben wird. Die bei Rousselot genannte Tonhöhe e (mi2) entspricht 164,81 Hertz bei einer Stimmtonhöhe von 440 Hertz. Auch wenn der von den Autoren angenommene Stimmton deutlich tiefer liegt (Rousselot gibt auf Seite 1011 seiner Principes die Tonhöhe des fa#2 mit 180 Hertz an, was einer Frequenzzahl von knapp 429 Hertz für die Note a 1 entspricht), so ist die angenommene Grundfrequenz doch deutlich höher als die heute als Durchschnitt angegebene Sprechtonhöhe der Männerstimme. Seit den 1940er Jahren können mit dem Spektrographen durch manuelle Re‐ konstruktion Bilder der akustischen Formen eines mit einer Kamera aufgezeich‐ neten Signals erstellt werden. Eine dreidimensionale Darstellung der Sprache durch die Aufschlüsselung in die Parameter Intensität, Frequenz und Dauer wird möglich. Fehler und Ungenauigkeiten traten mit diesen experimentelle und manuelle vereinenden Methoden logischerweise häufig auf. Die ersten Apparate, die eine direkte Messung der Stimmbandfrequenz erlauben, stammen erst aus den 1960er Jahren. Bis dahin war die visuelle Unterstützung zur Messung der Tonhöhe und zum Kalkül der Frequenz f ° unumgänglich. Im Unterschied zur Zeit Rousselots ist heute die physische Präsenz der spre‐ chenden Person bei der Auswertung nicht mehr nötig. Zahlreiche Programme wie Praat, WinPitch oder Prosogramme bieten die Möglichkeit, Tonaufnahmen mit großer Feinheit und Genauigkeit zu analysieren. Die Problematik für die For‐ scher hat sich grundlegend gewandelt: Wenn vor der Erfindung der Aufnahme- und Analyseinstrumente die Ergebnisse vor allem Annäherungen darstellten, so sind die heutigen Resultate so exakt, dass die von den Programmen dargestellten Intonationskurven ohne Glätten deutlich mehr Details zeigen, als das mensch‐ liche Ohr als pertinent wahrnimmt. Bei der Glättung wird normalerweise die Tatsache berücksichtigt, dass besonders die melodischen Bewegungen oder Konturen als funktionell relevant wahrgenommen werden, die in Richtung melodischer Zielpunkte streben. 126 5 Melodie und Intonation 185 Der accent circonflexe bedingt aufgrund der doppelten Melodiebewegung immer eine Längung. 186 „Il marquoit les différentes inflexions qu’il falloit donner à la voix; & lorsqu’il falloit élever le ton ou le baisser sur une Syllabe“, Boulliette (1760: 159). Auch Thurot ([1837]: 48) führt dieses Thema noch aus. Sein 1837 posthum veröffentlichter Text stammt vom Ende des 18. Jahrhunderts. Im 19. Jahrhundert ist die Erwähnung eines melodischen Akzents ausschließlich retrospektiv und idealisierend auf die antike Literatur bezogen. Vgl Caussade (1881: 68): „La poésie grecque empruntait une puissance musicale, dont nous ne pouvons guère nous faire une idée, à chaque l’usage de l’accent tonique qui élevait la notation de quelques syllabes, sans en augmenter ni diminuer la durée“. 5.2 Von der Analyse der Melodie zur Analyse der Intonation Der melodische Akzent Im Vergleich zu Sprachen wie dem Italienischen hat das Französische eine relativ gleichförmige Intonation und die melodischen Bewegungen sind wenig ausgeprägt. Die frühen Grammatiker sprachen denn auch weniger von der Satzmelodie, denn von einem aus der antiken Grammatik im Rahmen der grammaire latine étendue übernommenen Phänomen: der Tonhöhenbewegung der Stimme auf einer Silbe. Im Griechischen wurde diese melodische Bewegung mit typographischen Akzenten markiert und die Namen der heute noch im Französischen gebräuchlichen Akzente erinnern an diese Praxis. Der accent aigu entsprach bei den Griechen einer aufsteigenden Tonbewegung, der accent grave einer absteigenden, und der accent circonflexe  185 einer erst auf- und dann absteigenden Melodierichtung. Wenn im Verlauf des 16. Jahrhunderts auch das Bewusstsein für das Fehlen dieser Eigenschaft im Französischen wächst, so bleibt das Thema doch lange Zeit ein fester Bestandteil der Grammatiken (vgl. Kapitel 1). Noch 1760 erwähnt Boulliette die prosodischen Akzente der Griechen und Lateiner, die die verschiedenen melodischen Veränderungen der Stimme auf einer Silbe angaben. 186 Das Altgriechische bleibt lange Zeit die wichtigste Referenz, aber auch Ideal der französischen Autoren. Die Sprache der Griechen war in ihren Augen (oder besser, nach ihrer Vorstellung) melodisch, singend und poetisch. Die französischen Autoren des 18. Jahrhunderts wie Etienne Bonnot de Condillac und Jean-Jacques Rousseau werden nicht müde, diese Eigenschaften zu loben. Jean-Baptiste Du Bos (1755) erläutert sogar, dass bei den antiken Autoren das 127 5.2 Von der Analyse der Melodie zur Analyse der Intonation 187 „Le mot de chant signifiait en grec comme en latin non seulement le chant musical, mais aussi toutes sortes de déclamations, même la simple récitation“, Du Bos (2015 [1755]: 588). 188 „Il semble que comme la parole est l’art de transmettre les idées, la mélodie soit celui de transmettre les sentiments“, Rousseau (1755 [1995]: 337). 189 „De tout ce que nous venons de dire, il résulte, que la Poësie ne subsiste que par l’imitation. Il en est de même de la Peinture, de la Danse, de la Musique: rien n’est réel dans leurs Ouvrages: tout y est imaginé, feint, copié, artificiel“, Batteux (1746: 22). Vgl. auch Kapitel 2. 190 „C’est la Versification, la Musique et la Danse, qui sont la plus grande perfection possible des Paroles, des Tons de la voix, et des Gestes. D’où je conclus […] Que l’objet principal de la Musique & de la Danse doit être l’imitation des sentimens ou des passions: au lieu que celui de la Poësie est principalement l’imitation des actions“, Batteux (1746: 257-258). Verb singen normalerweise als Synonym für deklamieren, und manchmal sogar für sprechen verwendet wurde. 187 Die Argumentation der Autoren ist einfach: Da die Sprache der Griechen melodisch war, war sie musikalisch, und damit sensibel und eindrücklich. In seiner Schrift L’Origine de la mélodie von 1755 bekräftigt Rousseau diese Verwandtschaft von Sprache und Musik, von denen die erste bevorzugt Ideen, und die zweite Gefühle zu übermitteln versteht. 188 Rousseau und die Melodie der Sprache Die abendländische Tradition der Künste hatte seit der Renaissance die Ähn‐ lichkeit von Malerei und Dichtung, und noch weitergehend die Ähnlichkeit aller Künste auf der Grundlage des ut pictura poiesis aus Horaz’ Ars poetica aus dem Jahre 361 propagiert. In Frankreich des 18. Jahrhunderts nimmt Charles Batteux das Thema mit seiner Schrift Les Beaux-arts réduits à un même principe (1746) auf: Alle Schönen Künste beruhen auf dem gemeinsamen Prinzip der Imitation. Jede Kunst imitiert dabei auf ihre eigene Art und Weise: die Malerei durch Farben, die Bildhauerei durch Formen und die Dichtung durch Klänge. Batteux bekräftigt, dass in allen Künsten, Poesie, Malerei, Tanz und Musik, alles „erdacht, vorgetäuscht, kopiert, künstlich“ ist. 189 Poesie (Verslehre), Musik und Tanz nehmen jedoch eine Sonderrolle ein, da sie mit Sprache, Stimmintonation und Gesten die größtmögliche Perfektion der Imitation erreichen. Weiter führt der Autor aus, dass das hauptsächliche Ziel der musikalischen Künste, Musik und Tanz, die Imitation von Gefühlen oder Leidenschaften sein müsse, während die Poesie hauptsächlich Handlungen nachahmt. 190 Der enge Sprachbezug ermöglicht laut Batteux die Imitation und gleichzeitige Konkretisierung der Emotionen, und dieser Bezug ist es, der der Musik einen Sinn verleiht. 128 5 Melodie und Intonation 191 „L’art du Musicien consiste à substituer à l’image insensible de l’objet celle des mouvemens que sa présence excite dans le cœur du Contemplateur. Non-seulement il agitera la Mer, animera la flamme d’un incendie, fera couler les ruisseaux, tomber la pluie et grossir les torrens; mais il peindra l’horreur d’un désert affreux, rembrunira les murs d’une prison souterraine, calmera la tempête, rendra l’air tranquille et serein, et répandra de l’Orchestre une fraîcheur nouvelle sur les boccages. Il ne représentera pas directement ces choses; mais il excitera dans l’ame les mêmes mouvemens qu’on éprouve en les voyant“, Rousseau (2020 [1768]: 353). Jean-Jacques Rousseau greift zunächst in seiner 1755 erschienenen Lettre sur la musique françoise den alten Topos von Horaz auf. Doch die in den folgenden Jahren konstruiert Rousseau, der 1749 durch den Preis der Akademie von Dijon unerwarteterweise zu Ruhm gekommen war und kurze Zeit später im Rahmen der Querelle des Bouffons von 1752, dem sogenannten Buffonistenstreit über den Vorrang der italienischen oder der französischen Oper, von sich reden gemacht hatte, eine Theorie, die über ein bloßes Nachahmungsverhältnis zwischen Sprache und Musik weit hinausgeht. Im Artikel Imitation seines Dictionnaire de musique von 1768 geht er ausführlich auf das Wesen (und den Wert) der musikalischen Imitation ein. Sicher kann ein Musiker keine konkreten Objekte in direkter Weise darstellen, er kann aber in der Seele die gleichen Gefühle erregen, die ein Betrachter eben dieser Objekte fühlt. Damit wird die Musik, wie es das folgende Zitat zeigt, zur Sprache der Gefühle (vgl. auch Kapitel 2): Die Kunst des Musikers besteht nun darin, das gefühllose Bild des Objekts durch das der Bewegungen zu ersetzen, die sein Anblick im Herzen des Betrachters erregt. Der Musiker wird nicht nur das Meer aufwühlen, eine Flamme anfachen, die Bäche fließen, den Regen fallen und die Ströme anschwellen lassen; er wird auch den Schrecken einer grauenhaften Wüste malen, die Wände eines unterirdischen Gefängnisses verdunkeln, den Sturm beruhigen, die Luft ruhig und heiter erscheinen und das Orchester eine neue Frische über die Haine verbreiten lassen. Diese Dinge kann er zwar nicht direkt darstellen, aber er wird in der Seele dieselben Gemütsbewegungen erregen, die man empfindet, wenn man sie wirklich sieht. (Rousseau, 1768) 191 Noch deutlicher sind die Theorien Rousseaus zur engen Beziehung von Sprache und Musik in den Veröffentlichungen, in denen er eine geschichtsphilosophi‐ sche Konstruktion über den Ursprung der Sprache entwickelt. Diese stammen bereits aus den 1750er Jahren. In seinem gegen 1755 entworfenen, aber erst posthum veröffentlichten Essai sur l’origine des langues gibt er Sprache und Musik einen gemeinsamen Ursprung. Dabei darf jedoch diese ursprüngliche Musik nicht mit dem Kunstgesang der Epoche Rousseaus verwechselt werden, der die natürlichen Stimmmodulationen durch ein System von Intervallen und Harmonien ersetzt. Musik und Sprache waren seit ihrem Ursprung einem 129 5.2 Von der Analyse der Melodie zur Analyse der Intonation 192 Für Rousseau muss der Gesang die Sprache nachahmen. Diese Ästhetik ist der Grund seiner Kritik an der modernen Musik: Eine Melodie, die nicht mehr am gesprochenen Wort orientiert ist, stellt eine Degenerierung der ursprünglichen und auf natürliche Weise ausdrucksvollen Musik dar. Der Streit über die französische Oper zwischen Rousseaus und Jean-Philippe Rameau hat seinen Grund in der Melodie und Harmonie eingeräumten Stellung. Rameau argumentiert auf der Grundlage einer physikalischen (akustischen) Theorie. Für ihn entsteht die Melodie aus den corps sonores, und damit aus der Harmonie. Für Rousseau dagegen ist die Harmonie nichts anderes als ein vom Menschen erdachtes, willkürliches System. Das Verhältnis von Melodie und Harmonie entspricht demjenigen von Rede und Schrift: Die jeweils ersten Vergleichsobjekte sind natürlich, die zweiten dagegen künstlich. 193 „Une langue qui n’a que des articulations et des voix n’a donc que la moitié de sa richesse; elle rend des idées, il est vrai, mais pour rendre des sentiments, des images, il lui faut encore un rythme et des sons, c’est-à-dire une mélodie: voilà ce qu’avait la langue grecque, et ce qui manque à la nôtre“, Rousseau (1993 [1755]: 103). 194 Vgl. den Artikel mélodie des Dictionnaire de musique: „L’idée du Rhythme entre nécessairement dans celle de la Mélodie: un Chant n’est un Chant qu’autant qu’il est mesuré“, Rousseau (2020 [1768]: 378). 195 „Elle n’imite pas seulement, elle parle; et son langage inarticulé, mais vif, ardent, passionné a cent fois plus d’énergie que la parole même. Voilà d’où naît la force des imitations musicales; voilà d’où naît l’empire du chant sur les cœurs sensibles“, Rousseau (1995 [1755]: 109). Degenerationsprozess unterworfen (vgl. Kapitel 2) und die heutige Sprache (i. e. diejenige zur Zeit Rousseaus) ist eine Sprache der Vernunft, deren äußeres Zeichen die rationell entwickelte Schrift darstellt. Eine natürliche Sprachmelodie entsteht für Rousseau ganz einfach aus dem Tonfall der Worte, der den verschiedenen Tönen einen Ausdrucksgehalt gibt, ohne dass dieser rationalisiert und damit beherrscht sei: 192 Eine Sprache, die nur Konsonanten und Vokale besitzt, ist um die Hälfte ihres Reich‐ tums reduziert. Sie vermittelt zwar Ideen, aber um Gefühle und Bilder wiederzugeben, braucht sie auch einen Rhythmus und Klänge, das heißt, eine Melodie. Genau dies sind die Eigenschaften, die die griechische Sprache besaß, die der unseren aber abgehen. (Rousseau, 1755) 193 Die Melodie ist damit für Rousseau eine Form, in der der rhythmisierte Tonhöhenverlauf 194 dem faktuellen Inhalt einer Aussage (der „Idee“) seine Emotionalität, und damit eine zusätzliche Bedeutungsdimension gibt. Sie ahmt nicht nur nach, sondern sie spricht, selbst wenn ihre Laute unartikuliert sind, denn diese Laute sind lebendig und emotional, und dadurch viel eindrücklicher als die eigentliche Sprache. 195 Die Melodie steht am Anfang allen menschlichen Äußerungsbedürfnis, denn, wie Rousseau zu Beginn des zweiten Kapitels seines Essai sur l’origine des 130 5 Melodie und Intonation 196 „On ne commença pas par raisonner, mais par sentir“, Rousseau (1993 [1755]: 61). langues feststellt, das Fühlen ging dem Denken voraus. 196 Das menschliche Aus‐ drucksbedürfnis betraf zunächst einmal seine Leidenschaften, die vollständig durch die melodischen Akzente der einstmals melodischen, das heißt praktisch gesungenen Sprache ausgedrückt werden konnten. Die erste Sprache glich dem (ursprünglichen) Gesang und richtete sich direkt an das Herz, an die Seele. Von den drei eingangs erwähnten Aufgaben der Intonation ist hier ausschließlich die dritte, die emphatische, berücksichtigt. Intonationsforschung bei den ersten Phonetikern des 19. Jahrhunderts Erst die Phonetiker des 19. Jahrhunderts scheinen sich genauer für die Er‐ forschung intonatorischer Phänomene zu interessieren. Ausgehend von der Frage, wie bestimmte Satzmodalitäten, syntaktische Konstruktionen und In‐ tonationstypen miteinander verbunden sind (siehe oben), analysiert beispiels‐ weise Hector Marichelle (1897) visuell die verschiedenen Tonspuren von Frage- und Aussagesätzen und konstatiert, dass der Unterschied nicht nur direkt ins Auge springt, sondern glücklicherweise auch mit den zur Verfügung stehenden Instrumenten gemessen werden kann. Dieser erste Intonationstyp, der der pragmatischen Aufgabe der Intonation entspricht, wird von Léonce Roudet als intonation logique, als logische Intonation bezeichnet. Laut Roudet (1910: 215) hängt die Tonhöhenveränderungen der Stimme von der Vorstellung ab, die die sprechende Person von der zu vermittelnden Information hat. Daher ist zum Beispiel die Absenkung der Tonhöhe am Ende eines Teilsatzes niemals identisch mit der am Satzende (die auf einen tieferen Ton abfällt). In derselben Weise kann man feststellen, dass es zwei verschiedene Typen von Fragesätzen gibt: Fragen, auf die man mit ja oder nein antworten kann, und solche, die eine längere Antwort verlangen, da sie eine „Lücke“ im Bewusstsein oder Kenntnisstand des Gesprächspartners oder der Gesprächspartnerin ausfüllen müssen. Roudet erläutert, dass beim ersten Typ die Stimme normalerweise am Ende der Frage ansteigt, beim zweiten Typ dagegen das Fragewort selbst am höchsten intoniert ist. Der Ausrufesatz, der eine Überraschung oder einen Wunsch ausdrückt, zeigt einen deutlichen Anstieg oder Abfall auf der letzten Silbe des Satzes, das heißt derjenigen, die den accent tonique trägt (vgl. Dodane et al., 2021). Eine Erweiterung der intonation logique stellt die intonation émotionnelle dar. Im Unterschied zu Rousseau, der für den Ausdruck von Emotionen vor allem das Vorhandensein einer Melodie als unabdingbar betrachtet, fügt Roudet zu 131 5.2 Von der Analyse der Melodie zur Analyse der Intonation den bereits von Rousseau benannten Parametern Tonhöhe und Rhythmus noch Nuancierungen des Stimmtimbres und der Intensität hinzu. Wie die Autoren der vergangenen Jahrhunderte (siehe oben), weist auch Roudet der Freude einen hohen Grundton und eine große Variationsspanne der verschiedenen Tonhöhen zu. Traurigkeit dagegen drückt sich durch einen tieferen Grundton und eine weniger ausgeprägte Variationsspanne aus. Roudet vermerkt aber auch, dass von einem bestimmtem Intensitätsgrad an alle Emotionen eine identische (oder zumindest sehr ähnliche) Intonation aufweisen und dass zudem die emotionelle Intonation in jedem Falle individuell ist. Heute existiert eine große Anzahl von verschiedenen Methoden und Kon‐ zepten der Intonationsforschung, von denen die wichtigsten bei Philippe Martin (2009) zusammengefasst sind. Die beiden von Léonce Roudet identifizierten Typen - die logische (oder pragmatische) und die emotional begründete (oder emphatische) Intonation - können nicht nur bis heute weiterverfolgt werden, sondern sie lassen sich im Rückblick auch in den Überlegungen der vorange‐ henden Jahrhunderte finden. Die syntaktische Aufgabe der Intonation findet sich ebenfalls in den Texten früherer Jahrhunderte, jedoch eher in solchen, die sich für Fragen der Rhetorik interessieren. Sie spiegelt sich zudem in den musikalischen Kompositionen in der Melodiebehandlung wider. Der logischen Intonation Roudets wird somit ein zweiter, struktureller Aspekt hinzugefügt. 5.3 Intonation und Struktur Die hierarchische Struktur der Prosodie nach Philippe Martin In Frankreich verfolgt besonders Philippe Martin das Studium der prosodischen Hierarchien. 1975 erschien zu diesem Thema ein erster, Analyse phonologique de la phrase française betitelter Aufsatz. Seit 2001 erweitert Martin sein Konzept der prosodisch hierarchischen Struktur von der Syntax auf die Makrosyntax. Die prosodische Hierarchie bestimmt laut Martin die Verbindungen der verschiedenen strukturellen Einheiten, und dies im Anschluss an die Struktu‐ rierung der eigentlichen Produktion der Äußerung. Martin assoziiert nicht mehr, wie bis dahin traditionsgemäß in Frankreich üblich, prosodische Gruppen mit Sinneinheiten, sondern mit dem, was der Autor unter mot prosodique, einem 132 5 Melodie und Intonation 197 Die Definition des Begriffs mot prosodique ist nicht bei allen Autoren identisch. Zum Verständnis der folgenden Erklärung muss die beschriebene Definition von Martin zugrunde gelegt werden. prosodisches Wort versteht: 197 minimale prosodische Einheiten, die vor allem an ihren melodischen Konturen und den Pausen erkennbar sind. Die prosodische Struktur kann laut Martin von der syntaktischen Struktur unabhängig sein, sie ist aber notwendigerweise mit ihr und mit anderen Ebenen der Informationsstruktur verbunden. An einem einfachen Beispiel verdeutlicht der Autor vier verschiedene mögliche Abhängigskeitsmuster zweier Einheiten (Lexeme, Nominalgruppen, Verbalgruppen, usw.) wie in Tabelle 16 gezeigt: A - > B une charmante (A) soirée (B) A steht an erster Stelle, hängt aber von dem ihm folgenden B ab, denn die No‐ minalgruppe une soirée funktioniert auch ohne das Adjektiv charmante. A < - B Pierre (A) déjeune (B) B steht an zweiter Stelle und hängt von dem vorausgehenden Element A ab. Der Eigenname Pierre kann alleine stehen, das konjugierte Verb déjeune dagegen nicht. A - B Hier (A), Marie (B) A und B sind voneinander unabhängig. Jedes der beiden Elemente kann alleine stehen. A < - > B il (A) partait (B) A und B hängen gegenseitig voneinander ab. Sie sind „solidarisch“ (solidaire) und können nicht einzeln stehen. Tabelle 16: Die vier möglichen Abhängigkeitsmuster zweier Satzelemente (Martin, 2009:  95) In einer sprachlichen Äußerung sind alle prosodischen Einheiten in dieser Art auf einer ersten Ebene miteinander verbunden. Die prosodische Struktur ist damit hierarchisch organisiert. Sie ist aber ebenfalls planar, das heißt horizontal ausgerichtet: Abhängigkeitsverhältnisse bestehen, wie in der obigen Tabelle gezeigt, nach links und nach rechts, nicht aber über Kreuz. Dies gilt für die erste wie auch für alle höher angesiedelten Ebenen, in der die Elemente hierarchisch zu immer größer werdenden Gruppen verbunden werden. Die Gruppen, die ein mot prosodique bilden, sind normalerweise durch eine gemein‐ same intonatorische Kontur miteinander verbunden. Auf jeder Ebene werden die verschiedenen Gruppen zu neuen, größeren intonatorischen Einheiten 133 5.3 Intonation und Struktur 198 Vgl. dazu auch die in Kapitel 2 erwähnte Analyse Dubrocas (1802). zusammengefasst. Diese Gruppierungen bestimmen die endgültige prosodische Struktur der Aussage. Einen wichtigen Aspekt bildet, besonders auf der ersten Ebene, das Prinzip der Eurythmie. Unter vielen möglichen prosodischen Strukturen für die Äuße‐ rung ein- und derselben Idee wählen ein Sprecher oder eine Sprecherin in der Regel diejenige, die eine eurythmische Struktur aufweist. Darunter versteht Martin diejenige Struktur, die die Anzahl der Silben in den prosodischen Gruppen weitestgehend ausgleicht. Es erscheint logisch, dass die Interpunktion die prosodische Struktur niemals verletzen darf. Martin bestimmt die Länge eines prosodischen Wortes als den Abstand zwischen zwei Satzzeichen, das heißt, eine aus drei bis vier Akzent‐ gruppen gebildete Einheit. Eine Akzentgruppe entspricht dabei einer Gruppe von unter einer Intonationskurve zusammengefassten Wörtern oder Silben mit einem einzigen Gruppenakzent. Laut Martin (2009: 185) können für die gängigen Interpunktionszeichen vier hierarchische Ebenen bestimmt werden: • Niveau 1: Punkt (point) und Fragezeichen (point d’interrogation), • Niveau 2: Semikolon (point virgule), • Niveau 3: Doppelpunkt (deux points) und Klammern (parenthèses), • Niveau 4: Komma (virgule). Die Satzzeichen der ersten beiden Niveaus bestimmen die intonatorische Schlusskontur des Aussage- und Fragesatzes. Das dritte Niveau entspricht der prosodischen Struktur einer continuation majeure, das heißt einem deut‐ lichen Anstieg der Tonhöhe und einer erhöhten Vokalquantität. Das vierte Niveau dagegen entspricht einer continuation mineure, das heißt einem weniger bedeutenden Tonhöhenanstieg oder Abfall ohne Veränderung der Quantität der letzten Vokale. Es handelt sich hier nach der Terminologie Roudets um Phänomene der intonation logique. Prosodie und Interpunktion bei Grammatikern und Musikern (17. und 18. Jahrhundert) Die vier von Philippe Martin analysierten Niveaus sind bereits bei den Au‐ toren des klassischen Zeitalters beschrieben. Die schriftliche Interpunktion entspricht physisch dem Bedarf, beim Sprechen zu atmen, und rationell dem Wunsch, die Gedanken auf strukturierte Art und Weise zu übermitteln und damit verständlich zu machen. 198 Die Erklärungen der verschiedenen Autoren 134 5 Melodie und Intonation 199 Da Beauzée die Satzzeichen in umgekehrter Reihenfolge erklärt, wurde „plus grand“ logischerweise mit „kürzer“ übersetzt. 200 „La Ponctuation est l’art d’indiquer dans l’écriture, par des signes reçus, la proportion des pauses que l’on doit faire en parlant. Les signes reçus par cela, sont la virgule ( , ) qui marque la moindre de toutes les pauses, une pause presque insensible; un Point & une Virgule ( ; ) par où l’on désigne une pause un peu plus grande; les deux Points (: ) qui annoncent un repos encore un peu plus considérable; le Point, soit absolu ( . ) soit interrogatif (? ) soit exclamatif (! ) qui caracterise une pause plus complette“, Beauzée (1767: 577). Es folgen in dieser Liste noch die Zeichen „Alinea“ (Zeilenwechsel), „points suspensifs“ (Auslassungszeichen) und „Guillements“ (Anführungszeichen). 201 „Dans la ponctuation on observe quelques figures, à savoir le point d’interrogation (? ) celui d’admiration ou d’exclamation (! ) & des points de reticence (…) qui marquent dans ces occasions la difference du Ton: mais on n’a point encore poussé cette matiere aussi loin qu’elle le merite“, Vairasse d’Allais (1681: 51). beziehen sich selten auf Melodiekurven, und viel häufiger auf die Pausen, die das Interpunktionszeichen beim Sprechen verdeutlichen. Die Länge dieser Pausen entspricht genau den vier von Martin genannten Niveaus, außer dass die zweite und dritte Ebene vertauscht sind. Die nachstehende Zusammenstellung folgt der Beschreibung von Nicolas Beauzée (1767), bei dem die Zeichensetzung am Ende der Kapitel zur Syntax behandelt wird. Die von ihm vorgeschlagene Verbindung von Syntax und Pausen stellt ein typisches Beispiel für die im klassischen Zeitalter in den Texten zu Grammatik und Rhetorik gegebenen Erklärungen dar: • Niveau 1: Punkt (point absolu), Fragezeichen (point interrogatif) und Ausrufungszeichen (point exclamatif) - „die vollständigste aller Pausen“, • Niveau 2: Doppelpunkt (deux points) - „kündigt eine etwas kürzere Pause an“, 199 • Niveau 3: Semikolon (point & virgule) - „eine noch etwas kürzere Pause“, • Niveau 4: Komma (virgule) - „die kürzeste aller Pausen, eine fast unmerk‐ liche Pause“. 200 Wenn Melodiekurven erwähnt sind, so werden sie lange Zeit als Abweichungen von der Standardmelodie (das heißt, derjenigen des Aussagesatzes) beschrieben. So lesen wir bereits bei Denis Vairasse d’Allais (1681), der im folgenden Zitat Frage- und Ausrufezeichen sowie die Auslassungszeichen bespricht: Wie kennen Interpunktionszeichen wie das Fragezeichen (? ), das Bewunderungs- oder Ausrufezeichen (! ) und Auslassungspunkte (…). Sie alle markieren einen Unterschied im Tonfall. Leider ist diese Angelegenheit noch nicht so weit erforscht, wie sie es verdient hätte. (Vairasse d’Allais, 1681) 201 Ob Jean Lénor Le Gallois de Grimarest dies Bedauern über die noch nicht ausreichend erforschte Materie gelesen hat, ist eher zweifelhaft. Sicher ist 135 5.3 Intonation und Struktur 202 „Un compositeur doit connoître parfaitement les effets de la ponctuation, pour ne point confondre un sens avec l’autre“, Grimarest (1707: 207). jedoch, dass er in seinem 1707 erschienen Traité du récitatif die ponctuation, das heißt die Interpunktion, gemeinsam mit der Lehre der Akzente und Quantitäten als Basis der Rezitation bezeichnet. Man kann also sagen, dass für Grimarest die Rezitation auf drei prosodischen Parametern beruht: der Intonation, der Akzentuierung und der Quantität. Der Terminus récitatif im Titel des zitierten Werkes bezieht sich bei Grimarest nicht auf die musikalische Gattung gleichen Namens, sondern auf das Vortragen eines Textes in gelesener, frei gesprochener, deklamierter oder gesungener Form. In einem eigens der Interpunktion gewidmeten Kapitel beschreibt Grimarest die (weiterführende oder abschließende) Funktion jedes Satzzeichens (Punkt, Doppelpunkt, Semikolon, Komma, Ausrufezeichen, Fragezeichen und Auslas‐ sungspunkte) und geht auf die angemessene Pausenlänge ein, die bei einer vokalen Darbietung an die Stelle des gedruckten oder geschriebenen Zeichens tritt. Auf die mit den Satzzeichen typischerweise verknüpfte Melodie kommt Grimarest erst sehr viel später zu sprechen. Dies geschieht im Kapitel über den Gesang, einer Sprache, die laut Grimarest dazu dient, Gedanken und Gefühle mitzuteilen (vgl. Kapitel 1). Bei Grimarest entsprechen die verschiedenen Ausdrucksarten einem Konti‐ nuum: Vom lauten Lesen bis zum Gesang wird bei jeder Ausdrucksart durch das Hinzufügen bestimmter Elemente wie einer deutlicheren Aussprache, Gestik und Mimik oder die für die Gesangsstimme typischen Vibrationen die Aus‐ druckskraft gesteigert. In diesem Sinne beinhaltet der Gesang als letzte Stufe alle vorhergehenden Ausdrucksarten und verstärkt diese noch zusätzlich durch die ihm eigene Stimmmodulation. Grimarest weist darauf hin, dass eine gute Kenntnis der Zeichensetzung für den Komponisten außerordentlich wichtig ist, um jede Aussage und jedes Gefühl richtig und sinngemäß wiederzugeben. 202 Dies kann nur erreicht werden, wenn die Vertonung die Deklamation in exakter Weise widerspiegelt. Das Beispiel, das Grimarest dazu anführt, war offenbar so berühmt, dass es mehrfach in der Literatur des 18. Jahrhunderts zitiert wurde. Es handelt sich um eine parenthèse, einen Einschub, der laut den modernen Prosodisten normalerweise mit einem kontrastierenden, höheren oder tieferen Ton im Vergleich zum eigentlichen Hauptsatz gesprochen wird. Der Einschub, von dem hier die Rede ist, stammt aus einem Rezitativ der zweiten Szene des ersten Aktes der Oper Armide von Jean-Baptiste Lully (1686). Hier heißt es Le vainqueur de Renaud, si quelqu’un 136 5 Melodie und Intonation 203 „Ce ‚si quelqu’un‘, de la manière qu’il est chanté, découvre le fond du cœur d’Armide. Ce demi soupir, ce ton bas et lent, me fait voir qu’elle doute qu’on puisse vaincre Renaud, qu’elle craint qu’on ne le puisse pas, ou peut-être qu’elle le souhaite“, Le Cerf de La Viéville (2018 [1705]: 559). 204 „La parenthèse, si quelqu’un le peut être, est si bien disposée, que l’on pouroit chanter, le vainqueur de Renaud sera digne de moi; sans altérer le sentiment ny la modulation. C’est en cela suivre le précepte que j’ai donné pour les parenthèses, que l’on doit détacher par un ton différent de ce qui précede, & de ce qui suit“, Grimarest (1707: 208-209). 205 „Il y a dans l’opéra Armide une parenthèse célèbre, en ce que le musicien l’a observé ainsi dans le chant“, D’Alembert et al. (1751a). le peut être, sera digne de moi (Derjenige, der Renaud bezwingt, wenn denn irgendjemand dies vermag, wird meiner würdig sein). Der von den beiden Kommata eingefasste Einschub wurde mehrfach kom‐ mentiert. Die Zitate sind in chronologischer Reihenfolge angeführt: Die Art, dieses Wenn denn irgendjemand dies vermag zu singen, lässt tief ins Herz von Armide blicken. Dieser halbe Seufzer, dieser tiefe und langgezogene Ton zeigt mir, dass sie daran zweifelt, dass Renaud besiegt werden kann, dass sie fürchtet, dass es nicht möglich sei, oder vielleicht auch, dass sie es so wünscht. ( Jean-Louis Le Cerf de la Viéville, 1705) 203 Der Einschub Wenn denn irgendjemand dies vermag ist so gut arrangiert, dass wir Derjenige, der Renaud bezwingt, wird meiner würdig sein singen könnten, ohne das Gefühl oder die Satzmodulation zu verändern. Dies entspricht exakt der Vorschrift, die ich für die Einschübe gegeben habe: Sie müssen sich im Ton von dem was vorhergeht und von dem was folgt unterscheiden. ( Jean Léonor Le Gallois de Grimarest, 1707) 204 In der Oper Armide gibt es einen Einschub, der berühmt ist, da der Musiker ihn mit außergewöhnlicher Perfektion vertont hat. (D’Alembert et al., 1751a) 205 Besonders die ersten beiden Zitate sind von Interesse, da sie die beim Zuhörer (Le Cerf de la Viéville) geweckten Gefühle und die dazu verwendeten Mittel (Grimarest) beschreiben. Der Blick in die Partitur bestätigt auf den ersten Blick die Beschreibung. Die Melodie zeigt im ersten Teil des Satzes (le vainqueur de Renaud) eine aufsteigende Linie von c 2 bis g 2 , an die der zweite Teil des Hauptsatzes (sera digne de moi) mit einer absteigenden Linie von f 2 zurück zu c 2 nahtlos anknüpft. Wenn man sich die Mühe macht, den Einschub visuell (vgl. Bsp. 31) oder auch akustisch herauszuschneiden, spürt man sofort, dass die gesungene Melodie logisch und in sich geschlossen bleibt. Der Einschub si quelqu’un le peut être hebt sich deutlich von der Hauptkurve ab: Die Tonhöhe fällt plötzlich ab und beschreibt eine neue Intonationskurve auf einer tieferen Ebene (diese tiefere Melodie beginnt bei c 2 und endet bei a 1 ). Damit entspricht 137 5.3 Intonation und Struktur 206 „La symétrie d’un bâtiment ne peut être remarquée lorsque l’on n’en découvre qu’une petite partie: les habiles architectes réunissent pour ce sujet leur ouvrage, de manière qu’il puisse être considéré d’une seule vue“, Lamy (1998 [1715]: 284). 207 „Les oreilles jugent de la longueur d’une phrase par l’élèvement (sic) de la voix: un grand élèvement (sic) de voix leur fait attendre plusieurs paroles; si ces paroles attendues ne die Behandlung des Einschubs bei Lully genau den Analysen von Pierre Delattre (1966) und Piet Mertens (2012), die übereinstimmend feststellen, dass für die Realisierung von Einschüben und Zusätzen in der Regel eine kontrastierende, höhere oder tiefere Tonhöhe gewählt wird. Die in Kapitel 2 (Abschnitt Barock) vorgestellte Symbiose von Musik und Sprache bei Lully findet hier ein eindrück‐ liches Beispiel. Symmetrie und Eurythmie der Prosodie (17. und 19. Jahrhundert) Bereits im 17. Jahrhundert sprechen die Autoren von einer wünschenswerten Symmetrie der verschiedenen Teile einer Rede, der Länge und der Perioden eines Satzes. Der Hauptsatz in dem oben genannten Beispiel von Lully ist völlig symmetrisch sowohl im Hinblick auf die Silbenanzahl als auch auf die Melodieführung: Vor dem Einschub finden sich sechs Silben zu einer melodisch aufsteigenden, und nach dem Einschub sechs Silben zu einer melodisch abstei‐ genden Linie vereint. Die Symmetrie betrifft die Organisation der verschiedenen Teile einer Rede, ganz so, wie man es am Beispiel der Architektur sehen kann. Dieser Gedanke ist in der Art de parler von Bernard Lamy (1715) weiter ausgeführt: Die Symmetrie eines Gebäudes wird nicht an einem kleinen Teil, sondern durch den Gesamteindruck deutlich. Die Kunst der Architekten besteht also in der Komposition eines harmonischen Ganzen. 206 Töne und Tonfolgen bilden nach demselben Prinzip eine harmonische Komposition. Einige Seiten später kommt Lamy ebenfalls auf die Satzmelodie zu sprechen, die idealerweise dem Beispiel der Griechen, und damit einer vollkommenen Symmetrie folgt. Die folgende Passage bezieht sich zunächst auf die lateinische Sprache (in der Form, wie sie in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts praktiziert und vor allem rezitiert wurde): Das Ohr entwickelt nach der Anhebung der Stimme zu Beginn des Satzes eine Erwartungshaltung für die Satzlänge. Ein starkes Anheben der Stimme kündigt viele Wörter an. Wenn die erwarteten Worte nicht folgen, verletzt dieses Ausbleiben die Erwartungshaltung nicht nur desjenigen, der die Worte hört, sondern sogar desjenigen, der sie ausspricht. (Lamy, 1715) 207 138 5 Melodie und Intonation suivent pas, ce manquement qui les trompe leur fait de la peine, aussi bien qu’à celui qui parle“, Lamy (1998 [1715]: 277). 208 „Nous n’élevons la voix qu’au commencement du sens, et nous ne la rabaissons qu’à la fin. C’est pourquoi si une mesure dans notre poésie commençait au milieu d’un mot; et finissait au milieu d’un autre mot, la voix ne pourrait distinguer par aucune inflexion cette mesure, comme elle le fait en latin. Afin donc de mettre de la distinction entre les mesures, et que les oreilles aperçoivent cette distinction entre les mesures, et que les oreilles aperçoivent cette distinction par une élévation de voix au commencement, et par un rabaissement à la fin, chaque mesure doit contenir un sens parfait: ce qui fait qu’une mesure doit être grande, et que chacun de nos vers n’est composé que de deux mesures, qui le partagent en deux parties égales, dont la première est appelée hémistiche“, Lamy (1998 [1715]: 318). Nota bene: Für Lamy heißt nur die erste Vershälfte Hemistichie. Das Zitat zeigt, dass Lamy für das Lateinische davon ausgeht, dass die Stimme auf einem tiefen, oder zumindest mittleren Ton beginnt. Der Grad der Anhebung der Stimme zu Beginn des Satzes muss ästhetischen Ansprüchen genügen: Er kündigt bereits die Länge des Satzes an und beeinflusst und lenkt damit von Anfang an die Aufmerksamkeit des Hörers in eine bestimmte Richtung. Für den französischen Vers erklärt Lamy, dass die Stimme am Ende gesenkt wird. Eine Intonationskurve muss exakt einer Sinneinheit entsprechen und darf kein Wort in der Mitte teilen. Nur so können die Ohren die Melodiebögen deutlich wahrnehmen. Das Resultat ist eine enge Verbindung zwischen Melodie, Struktur und Bedeutung des Satzes. Diese Beziehung hat Folgen für die Kom‐ position des Verses: Jeder Versfuß hat seine eigene Intonationskurve und muss daher auch eine vollständige Bedeutung haben. Aus diesem Grund müssen die französischen Versfüße lang sein und jeder Vers aus zwei Hemistichien genannten Teilen bestehen. 208 Die symmetrische Entsprechung der beiden Teile oder Hemistichien wird durch eine gleiche Anzahl von Vokalen in jedem Teil sichergestellt. Diese Ausgewogenheit ist obligatorisch und der Platz der césure (Zäsur) zwischen den beiden Hemistichien damit eindeutig festgelegt. Das klangliche Ergebnis dieser Symmetrie ist eine völlig gleichmäßige, ausge‐ wogene, aus der Regelmäßigkeit der Verseinheiten gewonnene Vortragsweise. Am Beginn jeder neuen Einheit steigt die Stimme, am Ende sinkt sie ab. Da jeder Vers aus zwei Hemistichien zusammengesetzt ist, enthält er zwei Melodie‐ bögen. Vier Einheiten oder Hemistichien formen laut Lamy einen vollständigen Sinn. Eine Sinneinheit besteht also aus vier regelmäßigen Melodiebögen. Die Intonation spiegelt die gleichmäßige Struktur der poetischen Sprache wider. Man könnte auch von einer neutralen Basis sprechen, einer Art Gerüst, in dem die Intonation eines jeden Abschnitts vorhersehbar erscheint (und in der jede Abweichung dann umso deutlicher hervorsticht und damit einen Effekt provoziert, siehe unten). 139 5.3 Intonation und Struktur 209 „Une bonne Mélodie exige […], qu’elle soit divisée en membres égaux et semblables; que ces membres fassent des repos plus ou moins forts, lesquels repos se trouvent à des distances égales, c’est-à-dire symétriquement placés“, Reicha (1814: 10). 210 Vgl. Delattre (1966), Mertens (2012). 211 „Ce complément devient nécessaire quand il se trouve une trop grande pause entre deux membres (et même souvent à la fin de la période). Mais il faut le choisir de telle manière que le sentiment puisse le séparer des membres. Delà vient qu’on le fait très-rarement dans la partie qui conduit la Mélodie, mais dans une autre partie qui lui sert d’accompagnement; très-souvent on le laisse faire par la basse ou même par des parties intermédiaires“, Reicha (1814: 22). Die inneren, die Klänge untereinander verknüpfenden Strukturen spielen auch in den Kompositionstraktaten des 19. Jahrhunderts eine Rolle. Für Anton Reicha (1814) zeichnet sich eine gute Komposition durch den Respekt derselben Regeln aus, die auch für die Sprache eines guten Redners gelten. Gemeint sind der Rhythmus (das heißt die periodische Einteilung der Phrase und die Takthierarchie), die Schlussformeln und Ruhepunkte, die Verkettung der Ideen zu einem harmonischen Ganzen sowie die Verbindung der einzelnen Perioden untereinander. Diese Perioden bestehen wie in der Sprache entweder aus mehreren kleinen oder aber aus nur zwei, dafür aber längeren Elementen (1814: 17). Eine gute Melodie muss aus gleichlangen und gleichartigen Gliedern bestehen, und diese Glieder müssen durch mehr oder weniger lange Ruhepausen in gleichmäßigen Abständen voneinander getrennt sein, so dass eine deutliche Symmetrie entsteht. 209 Diese Erklärung erinnert an das von Philippe Martin erwähnte Eurythmie-Prinzip der Sprache (siehe oben). Reicha beschreibt keinen Einschub, aber einen Zusatz in Form eines Anhangs, der nach heutigen Sprachtheorien in der Rede ebenfalls einem deutlich abge‐ setzten, höheren oder tieferen Ton entspricht. 210 Bei Reicha handelt es sich um einen musikalischen Zusatz, einen complément de la mesure, der dann notwendig wird, wenn die Hauptmelodie in einer Stimme vor dem eigentlich logischen Moment beendet ist. Diese Tatsache bedingt das Auffüllen des Taktes, damit die neue Periode beginnen kann, wie es die symmetrische Ordnung der Komposition erfordert. Häufig geschieht dieses Auffüllen nicht in der Hauptstimme selbst, sondern in einer anderen Stimme (oft im Bass) oder durch ein anderes Instrument. Dadurch wird gewährleistet, dass die einzelnen Elemente voneinander unterschieden werden können, ganz wie dies auch durch den melodischen Kontrast für den Einschub der Fall ist. 211 Als Beispiel zitiert Reicha die Melodie des Duettes Là ci darem la mano - „Reich mir die Hand, mein Leben“ von Don Giovanni und Zerlina aus Mozarts Oper Don Giovanni (vgl. Bsp. 32). Der erste Thementeil beginnt auf der ersten Zählzeit des ersten Taktes und müsste logischerweise auf der letzten Zählzeit 140 5 Melodie und Intonation 212 „1. La Prononciation doit estre douce & naturelle, sans affectation de trop de mignardise, & sans sentir le grossier & le villageois, qui sont les deux extrémitez vicieuses qu’elle doit éviter. 2. Elle doit aussi estre égale en son accent, sans élever ny rabaisser le ton, sur les syllabes des dernieres paroles, & sans faire toûjours retourner la même cadance, comme si l’on chantoit à demy: qui est un accent niais de certaines nations. Le ton de la parole ne se varie, que selon la diversité des passions que la voix exprime; & sur la fin des Interrogations“, Chiflet (1680: 203). des vierten Taktes enden. Da er bereits auf der ersten Zählzeit des vierten Taktes mit einer kurzen Note endet, muss der Rest des Taktes vom Orchester ausgefüllt werden. In der von Reicha notierten Fassung äußert sich dies durch klein gestochene Noten, bevor die zweite Hälfte des Themas im fünften Takt wieder in normalem Druck erneut beginnt. Musikalische Melodie und sprachliche Intonation gehorchen logischen oder, wie Ivan Fónagy (1971) es ausdrückt, konventionellen Prinzipien. Diese sind umso deutlicher spürbar, wenn die vorherrschenden Prinzipien auf Symmetrie und Eurythmie beruhen. Wenn das Thema auch nicht allzu oft bei den früheren Autoren angesprochen ist, so zeigen doch die verschiedenen, aus mehreren Jahrhunderten überlieferten Stellungnahmen ein gewisses Bewusstsein, und vor allem große Einigkeit. Allerdings stammen die älteren Beschreibungen alle aus dem Bereich der Kunst (Poesie und Musik) und spiegeln so nicht nur physiologische und sprachtypische Überlegungen, sondern vor allem auch die ästhetischen Grundsätze einer Epoche wider. 5.4 Intonation und Emotion Was ist „Ausdruck“? In den Grammatiken ist ausdrucksvolles Sprechen zunächst weniger ein Thema als die gute, klare, gleichermaßen natürliche und kultivierte Aussprache. Chiflet (1680) ist einer der wenigen Autoren, der dabei auf die Satzmelodie eingeht. Er fordert, den Ton [i. e. die Tonhöhe, vgl. Kapitel 3] auf den Endsilben nicht zu deutlich anzuheben oder abzusenken und insgesamt durch die Beibehaltung einer relativ konstanten Tonhöhe den Eindruck zu vermeiden, beinahe zu singen. Diese Regel kennt nur zwei Ausnahmen: die Intonation am Ende einer Frage und den Ausdruck von Gefühlen. 212 Das erste Kriterium hängt von der Syntax und von der Modalität des Satzes ab, das zweite dagegen vom Gemütszustand der sprechenden Person. 141 5.4 Intonation und Emotion Auch für die Autoren des expression betitelten Artikels der Encyclopédie (D’Alembert et al., 1751) ist Ausdruck ganz allgemein gesehen eine gedankliche Vorstellung und damit rationell. Diese Vorstellung kann mit Hilfe einer einfa‐ chen Lautgebung („le ton de la voix, comme quand on gémit“), von Gesten („le geste, comme quand on fait signe à quelqu’un d’avancer ou de se retirer“) oder von gesprochener und geschriebener Sprache („la parole, soit prononcée, soit écrite“) realisiert werden. Der Ausdruck entspricht immer dem zu realisierenden Gedanken: Er ist einfach, lebhaft, hart, kühn, reich oder erhaben, ganz wie die ursprünglich zugrundeliegende Idee. Damit ist der Ausdruck ein Abbild der Gedanken und ermöglicht es, diese anderen Menschen mitzuteilen. Erst in dem dem musikalischen Ausdruck gewidmeten Abschnitt des Enzy‐ klopädie-Artikels kommen die Autoren auch auf Gefühle und Empfindungen zu sprechen. Die These, dass Sprache Gedanken und Musik Gefühle mit besonderer Leichtigkeit ausdrückt, spiegelt sich in dieser systematischen Aufteilung des Artikels mit großer Deutlichkeit wider. In der Musik ist Ausdruck der einem Gefühl, einer Situation oder Thema angemessene Ton und umfasst die Intona‐ tion ebenso wie das Sprechtempo, die Lautstärke und die Stimmmodulation. Die Parameter werden in gewisser Weise vorhersehbar, wenn man die Situation und den Gefühlszustand einer Person kennt. Die Erklärung der Enzyklopädisten erscheint damit wie eine ausführlichere Darstellung des zweiten, von Chiflet angeführten Phänomens. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts widmet Napoléon Landais (1835: 197-198) ei‐ nige Seiten seiner Grammaire der in Konversation und Deklamation verlangten Aussprache, in denen er das erste, von Chiflet angesprochene Phänomen aufnimmt und erweitert. Landais geht auf einige Satztypen ein, denen ebenfalls vorhersehbare Intonationen zugrunde gelegt werden können und die dadurch eine Modalität ausdrücken oder die Bedeutung einer bestimmten stilistischen Figur unterstreichen: Die Intonation des Fragesatzes ist normalerweise hoch (élevée). Die Figur der antithese muss intonatorisch der These genau entgegen‐ gesetzt vorgetragen werden. Ist die Stimme in der These hoch, so ist sie in der Antithese tief (und umgekehrt). Bei einer Wiederholung wird das entspre‐ chende Wort jedes Mal mit einer stärkeren Intonation vorgebracht, wobei die Modulation diesmal nicht nur die Tonhöhe, sondern auch eine Dehnung der letzten Silbe umfasst. Bei einer gradation, einer Steigerung, steigt die Stimme stufenweise an. All diese Intonationsmuster sind wenig überraschend für Hörer und Hörerinnen. Ein besonderer Ausdruck entsteht überall da, wo von den gängigen, konven‐ tionellen und vorhersehbaren Schemata abgewichen wird oder wo die Plötz‐ lichkeit des Wechsels der Tonhöhe Erstaunen hervorruft. Dies ist zum Beispiel 142 5 Melodie und Intonation 213 Ein bekanntes Beispiel für eine Apostrophe (un apostroph) ist der Ausruf „Ô malheureux mortels! Ô terre déplorable“ aus dem Poème sur le désastre de Lisbonne von Voltaire. 214 Vgl. Lamy (1715 [1998]: 233): „L’apostrophe se fait lorsqu’un homme étant extraordinai‐ rement ému, se tourne de tous côtés; il s’adresse au Ciel, à la terre, aux rochers, aux forêts, aux choses insensibles, aussi bien qu’à celles qui sont sensibles“. 215 Vgl. auch die Beschreibung bei Charles Batteux aus dem vorhergehenden Jahrhundert, die derjenigen von Landais außerordentlich ähnelt: „L’apostrophe se fait lorsqu’on adresse la parole à d’autres qu’aux auditeurs. Je prends le premier exemple qui se trouve sous ma main: Puissances ennemies de la France, vous vivez, &c. On sent que le premier membre de la période doit être prononcé avec une intonation plus elevée que ce qui précéde; parce que la parole de l’auditeur se porte au-delà de son auditoire. Mais s’il y a quelque inflexion marquée dans le cours de la prononciation, c’est sur la premiere de vivez qu’il faudra la placer“, Batteux (1774 [1763]: 425). 216 „Elle est une espèce de chant, parce qu’elle admet des intonations plus élevées ou plus basses, plus fortes ou plus faibles; des tenues sur les longues; des accélérations ou des ralentissements selon, les figures qu’on emploie; enfin, des inflexions destinées à préparer la chute ou les différents repos“, Landais (1835: 196). 217 „Toutes nos conversations même sont autant de déclamations différentes; et la musique n’est autre chose qu’une déclamation bien marquée“, Landais (1835: 198). in der Apostrophe 213 der Fall, einer rhetorischen Figur, die eine überraschende Hinwendung des von einem Gefühl bewegten Redners zu seinem Publikum oder auch einer nicht anwesenden Person bedeutet. 214 Oft ist der Ausruf im Schriftbild an dem abschließenden Ausrufezeichen erkennbar. Landais beschreibt, dass die Intonation hier rasch und unerwartet ansteigt und damit „une espèce de transport“, eine Art lebhafter Gefühlsbewegung zeigt, um dann rasch wieder zu einer Art Ruhepunkt abzusinken (Landais, 1835: 198). 215 Die Erklärungen betreffen zunächst einmal die Deklamation, sind aber auch, in deutlich abge‐ schwächtem Maße, in der Konversation anzutreffen. Im Unterschied zur Kon‐ versationssprache, die wenig Intonationsunterschiede kennt, ist diejenige der Deklamation „une espece de chant“, eine Art Gesang mit deutlich ausgeprägten Melodie-, Silbenlängen- und Tempounterschieden. 216 Damit beschreibt Landais im Prinzip dasselbe Kontinuum wie Grimarest einhundert Jahre vor ihm. 217 Intonation als Imitation von Eindrücken und Gefühlsausbrüchen In dem bereits erwähnten Kapitel zum Gesang in Jean-Léonor Le Gallois de Grimarests Traité du récitatif von 1707 findet sich denn auch bereits ein Beispiel für die von Napoléon Landais einhundert Jahre später beschriebene Intonation der Ausrufesätze. Grimarest zitiert hier einen Ausschnitt aus einer Arie der zweiten Szene des vierten Aktes von Roland, einer 1685 erstmals aufgeführten Tragédie lyrique Jean-Baptiste Lullys. Grimarest kommentiert diese Passage als besonders gelungen, da Lully Ton und Quantität ausgezeichnet in Musik umzu‐ 143 5.4 Intonation und Emotion setzen verstanden hat. Der ton kann in diesem Zusammenhang als Melodie, aber auch als relative Tonhöhe oder Tonhöhenvariation verstanden werden, mit der im Übrigen eine natürliche Änderung des Stimmtimbres einhergehen kann. Die melodischen Entwicklungen der genannten Arie sind in der Tabelle 17 schematisiert. In der rechten Spalte zeigt die obere Linie den melodischen Verlauf an. Der Buchstabe H signalisiert einen hohen Ausruf. In der zweiten Linie sind die Eckpunkte der melodischen Entwicklung angegeben. In der rechten Spalte findet sich eine kurze, unter der Tabelle ausführlicher dargestellte Interpretation der syntaktischen und emotionalen Intonation. H ↓ Hoher Einstieg und sofortiger Melodieabfall. Anschließend tieferer Melodiebogen mit Pause an der Zäsur (nach longtemps). c 1 g as f c Ah! J’attendrai longtemps, la nuit est loin encore ↑ H Überraschend hoher Neueinstieg mit anschließender tieferer, diesmal deutlicher ausgearbeiteter Melodiekurve. g g d 1 h Quoy! le soleil veut-il luire toujours? Zwei Melodiekurven mit Spitzentönen auf den Worten jaloux und prolonge. d 1 es 1 a a d 1 g fis Jaloux de mon bonheur Il prolonge son cours Neuer Melodiebogen mit melodischem Höhepunkt auf dem Wort beauté. a e 1 g Pour retarder la beauté que j’adore. ↑ H Plötzlicher melodischer Anstieg und sofortiger Abfall mit anschließender tiefer angesiedelter Melodiekurve. e 1 g d 1 c 1 O nuit! favorisez mes desirs amoureux. Tabelle 17: Intonationskurven des Beginns der Arie „Ah! J’attendrai longtemps“ aus Lullys Roland (1685), Akt 4, Szene 2 Die erste Zeile, die gleichzeitig dem Einstieg des vokalen Parts der Arie entspricht, beginnt auf einer hohen Note für den emphatischen Ausruf Ah! Der sofortige Tonhöhenabfall um eine Quarte (von c 1 nach g) unterstreicht den exklamatorischen Effekt der vorangehenden Interjektion. Die Melodie bleibt anschließend in dieser neuen Lage. Häufige Tonrepetitionen auf tiefen Noten symbolisieren die Tiefe der Nacht (nuit). Die lange Note auf der letzten Silbe von 144 5 Melodie und Intonation longtemps (lange Zeit) kann semantisch interpretiert werden. Eine kurze Pause verdeutlicht anschließend das Komma. Zum Versende hin fällt die Melodie ab und zeigt damit das Ende einer vollständigen Sinneinheit an. Die zweite Zeile beginnt für die Apostrophe Quoy! wiederum mit einem hohen und damit überraschenden Einstieg (die Note g ist eine Quinte höher als die Schlussnote c der vorhergehenden Zeile). Die Beibehaltung derselben Note schafft eine Verbindung der Apostrophe mit dem folgenden Satzteil le soleil veut-il luire encore? Die Melodie steigt nun langsam bis zur Note h an und erinnert dabei an die hoch am Himmel stehende Sonne (soleil). Sie entspricht der eines Fragesatzes. In der dritten Zeile entstehen zwei Melodiekurven, die die beiden Satzteile (jaloux de mon bonheur/ il prolonge son cours) leicht voneinander absetzen. Der Anschluss wird wiederum durch eine Tonwiederholung gewährleistet: Die Schlussnote der ersten Kurve ist mit der Anfangsnote der zweiten identisch. Dabei ist in jedem Abschnitt das jeweils wichtige Wort (jaloux - eifersüchtig und prolonge - verlängert) melodisch durch einen kleinen Höhepunkt in Szene gesetzt. Der Text der vierten Verszeile gehört noch zu dem in der vergangenen Zeile angefangenen Satz. Eine neue melodische Kurve entsteht, in welcher der melodische Höhepunkt auf dem Wort beauté (Schönheit) liegt. Ein leichter Melodieabfall zum Schluss der Zeile verdeutlicht diesmal das Satzende. Der Ausruf O nuit! der letzten Zeile beginnt noch einmal mit einer plötzlichen hohen, herausstechenden Note (e 1 ), die Melodie fällt aber sofort zum zweiten Wort des Ausrufs, nuit, ab. Die nunmehr erreichte Note g ist dieselbe, mit der die vorhergehende Zeile abgeschlossen wurde. Dem Ausruf O nuit geht also ein Sextsprung in aufsteigender Richtung (g - e 1 ) voraus, und er ist von demselben Sextsprung, diesmal in fallender Richtung (e 1 - g), gefolgt: Die von Landais erwähnte plötzliche Gefühlsaufwallung (siehe oben) wird damit fühlbar. Die wieder erreichte tiefere Lage verdeutlicht wie zu Beginn die Tiefe der Nacht und leitet einen letzten Melodiebogen ein, der melodisch das Possessivpronomen mes (meine Liebeswünsche) in den Vordergrund stellt. Die zum Schluss leicht abfallende Melodie entspricht der Schlussformel eines mit einem Punkt abgeschlossenen Aussagesatzes. In der Arie Lullys hat die Intonation eine sowohl syntaktische als auch empha‐ tische Aufgabe. Die Struktur des Textes spiegelt sich in der Intonation der großen Einheiten wider. Auf einem kleineren Niveau verdeutlichen Tonhöhe, melodische Entwicklung und Stimmregister die Ausrufe. Plötzliche Tonhöhen‐ veränderungen erzeugen bei Hörern und Hörerinnen die Emotion, die der Komponist seiner Figur in der gewollten Situation zuschreibt. In dem gesamten 145 5.4 Intonation und Emotion Textausschnitt malt die Intonation eine bestimmte Atmosphäre und akzentuiert die semantisch wichtigen Worte für das emotionale Erleben der Szene. Dies erinnert an die Beschreibung der musikalischen Imitation bei Rousseau (siehe oben). Emotion, Konvention und Vorhersehbarkeit Sprachlicher oder gesungener Ausdruck hat also zwei Erscheinungsformen. Einmal entspricht er der zu großen Teilen kodifizierten und damit vorherseh‐ baren, inhaltlich richtigen und ästhetisch als schön empfundenen Wiedergabe, die ein Abbild der Gedanken und Gefühle der sprechenden Person gibt. Zum anderen entspricht er dem besonderen Ausdruck, der in einer bestimmten Situation angemessen erscheint oder der mit einer Gefühlsbewegung der sprechenden Person einhergeht. Damit können zwar nicht alle von einem Ausdrucksbedürfnis hervorgerufenen Intonationen vorhergesehen, wohl aber erklärt werden. Es gibt Konventionen, die diese Intonationen regeln, und diese Konventionen scheinen den Autoren vergangener Jahrhunderte sowohl naturgegeben (da sie in natürlicher Weise und ohne Überlegung immer wieder verwendet werden) als auch von ästhetischen Vorstellungen oder sprachlichen Eigenheiten bestimmt (wie die oben zitierten Unterschiede, die Lamy für die lateinische und französische Intonation beschreibt). Um einen Hörer oder eine Hörerin zu fesseln, ist es jedoch ratsam, von Zeit zu Zeit überraschende Momente unter die regulären und erwarteten Ausdrucksformen zu mischen. Dies muss natürlich mit Bedacht geschehen. Das Gefühl dafür kann nur der bon goût, der gute Geschmack geben, der in allen Disziplinen zitiert und als Urteilskriterium herangezogen wird. Der Begriff beinhaltet ein hohes Ideal an ästhetischen Kenntnissen und verlangt für die praktische Umsetzung elaborierte Fähigkeiten, selbst wenn jeder Mensch einen instinct naturel, einen natürlichen Instinkt besitzt, der ihm sagt, welcher ton in einer bestimmten Situation angemessen ist (Vuillaume, 1871: 265). Ein theoretischer Erklärungsversuch für das Funktionieren dieser jegliche Willkürlichkeit ausschließenden Ausdrucksfertigkeiten nach dem bon goût findet sich im künstlerischen Bereich bei Mathis Lussy. Laut Lussy (1885: 5-6) entsteht musikalischer Ausdruck ganz allgemein durch melodische, metrische oder rhythmische Überraschungen. Die Überraschung gehorcht dabei immer ganz bestimmten musikalischen Gesetzen und der Autor betont: „Die Interpre‐ 146 5 Melodie und Intonation 218 „La liberté d’interprétation a d’ailleurs ses limites comme toutes les libertés, limites imposées par les lois de l’expression“, Lussy (1885: 4). 219 Das Adjektiv tonal bezieht sich auf die Grundtonart der Komposition. 220 Zur Erinnerung: In der Musik bezieht sich das Adjektiv metrisch auf die Lehre von Takt und Taktbetonung. 221 Den zeitlichen Ablauf des musikalischen Flusses betreffendes Adjektiv. 222 „Nous sommes convaincu que dans la peinture, la sculpture, l’expression résulte aussi de faits exceptionnels qui brisent la régularité des lignes, la symétrie du dessin, etc… Est-ce qu’on ne dit pas tous les jours des figures aux traits par trop réguliers qu’elles sont froides, qu’elles manquent d’expression? Dans un autre ordre d’idées: En quoi consistent les sublimes beautés de Shakespeare? “, Lussy (1885: 8, Anmerkung 1). tationsfreiheit hat wie alle Freiheiten ihre Grenzen. Diese Grenzen werden durch die den Ausdruck regelnden Gesetze bestimmt.“ 218 Bereits die geringste Unregelmäßigkeit oder unvorhergesehene Wendung im tonalen, 219 metrischen 220 oder rhythmischen 221 Ablauf einer Komposition verursacht bei sensiblen Menschen ein Gefühl. Lussy erklärt, dass dieses Gefühl dadurch hervorgerufen wird, dass die natürliche Erwartung nicht erfüllt wird. Damit gehorcht der Ausdruck in der Musik genau denselben Regeln wie in den anderen Künsten. In Malerei und Bildhauerei zum Beispiel dient eine kleine Asymmetrie oder eine winzige Unregelmäßigkeit der Linien dazu, den Figuren Leben einzuhauchen. Dies ist laut Lussy ebenso der Fall in den Werken Shake‐ speares (also literarischen Werken, die auf sprachlichem Ausdruck beruhen). 222 Im einer musikalischen Melodie sind für Lussy (1885: 103) besonders chro‐ matische Töne und tonartfremde Noten Ausdrucksträger, und dies besonders, • wenn sie lang sind, • wenn sie lang und nur einen Halbton höher oder tiefer als die vorherge‐ hende Note sind, oder • wenn sie am Ende eines rhythmischen Elementes stehen. In all diesen Fällen wünscht Lussy einen Akzent, das heißt eine Tonproduktion mit einer gesteigerten Energie oder Intensität. Die melodische Form einer Phrase, die Struktur ihrer Melodie und ihr Rhythmus geben also auch Auskunft über ihre Akzentuation. Lussy gibt mehrere Beispiele für betonte chromatische Noten, die alle Opern romantischer, hauptsächlich französischer Komponisten entnommen sind. Es handelt sich um Ausschnitte aus der Komischen Oper La Dame blanche (1825) von François-Adrien Boëldieu, der Oper Guillaume Tell (1829) des seit 1825 in Paris ansässigen Italieners Gioacchino Rossini, der Oper L’Africaine (1865) von Giacomo Meyerbeer und der Komischen Oper Fra Diavolo (1830) von Daniel-François-Esprit Auber. Hinzu treten eine nicht näher bezeichnete Me‐ 147 5.4 Intonation und Emotion lodie des italienischen Komponisten Vincenzo Bellini (1801-1835) und ein ausnahmsweise mit unterlegtem Text („Adieu donc beau pays, mes amours“), der Oper Marie Stuart (1844) von Louis Niedermeyer entnommenes Beispiel. Dies letztgenannte Exempel findet sich in einem 1845 bei Legouix in Paris veröffentlichten Klavierauszug auf der Seite 101, die Tonart ist hier allerdings entgegen der bei Lussy abgedruckten Fassung nicht D-Dur, sondern Des-Dur (vgl. Bsp. 33). Die chromatische Note befindet sich auf der zweiten Silbe des Wortes amours, es handelt sich (in der Version in Des-Dur) um die Note e 1 . Die folgende Abbildung (Abbildung 1) zeigt in der ersten Linie die melodische Entwicklung zu dem darunter geschriebenen Text. Bei Lussy findet sich ein Betonungszeichen auf dem Pronomen mes, der Klavierauszug setzt ein weiteres auf das Adjektiv beau. Die zweite Silbe des Wortes amours trägt hier ein decrescendo-Zeichen. Abbildung 1: Melodische Entwicklung bei L. Niedermeyer (Fassung in Des-Dur) Niedermeyer gibt dem Wort pays zwei Silben. Die Tonwiederholung auf den beiden Silben desselben Wortes ist in der obigen Abbildung durch einen Bindestrich (g 1 -g 1 ) angezeigt. Auf dem Wort amours entsteht durch die Note e 1 eine chromatisch aufsteigende Folge (es 1 -e 1 -f 1 ). Die chromatische Note e 1 ist zwar harmoniefremd, doch taucht sie nicht plötzlich auf, sondern sie ist in die melodische Linie eingebettet. Ihre Position auf der ersten Taktzeit verleiht ihr jedoch eine metrische Betonung. Diese wird harmonisch durch eine Vorhaltswirkung verstärkt: Die zweite Hälfte des vorausgehenden Taktes ist mit dem Dominantakkord (As-Dur) harmonisiert, dem erst auf der letzten Melodienote des Wortes amours die Tonika (Des-Dur) folgt. Der zur Tonika oder Grundtonart der Komposition gehörende Basston ist allerdings bereits auf der ersten Taktzeit, und damit zu Beginn der zweiten Silbe des Wortes amours, erreicht. Der darauf aufgebaute doppelt verminderte Akkord (des/ e/ g/ b) erzeugt eine harmonische Spannung, die die chromatische Note e über die ganze erste Hälfte des Taktes hinweg trägt. Damit entspricht sie den drei von Lussy aufgeführten Charakteristika Länge, Halbtonschritt und Ende einer rhythmischen Gruppe. 148 5 Melodie und Intonation 223 Die Modulation bezeichnet den nach den Regeln der Kompositionslehre vorbereiteten Übergang von einer Tonart in eine andere. 224 Verminderte und übermäßige Intervalle bilden Dissonanzen. Das übermäßige Intervall ist einen Halbton größer als ein reines oder großes Intervall und das verminderte Intervall einen Halbton kleiner als das reine oder kleine Intervall. So bilden die Noten f-ges eine kleine, und f-g eine große Sekunde. Die übermäßige Sekunde ist f-gis, die verminderte f-geses. Das Intervall c-g bildet eine reine, c-ges eine verminderte und c-gis eine übermäßige Quinte. Lussy wünscht ebenfalls einen Akzent auf Noten, die eine Modulation 223 einleiten oder die melodisch gesehen ein übermäßiges oder vermindertes Intervall 224 bilden. All diese unvorhergesehenen Noten lösen Erstaunen aus und wecken so Aufmerksamkeit. Die von Lussy gewählten Beispiele stammen diesmal aus dem gängigen Klavierrepertoire der Zeit wie dem fünften Noc‐ turne von John Field und dem Adagio der Sonate pathétique von Ludwig van Beethoven. Die Regeln der Melodieführung verlangen eine Akzentuierung: Sprachwissenschaftlich gesehen ist hier der Bereich der Intonation erreicht. Die scheinbare Schematisierung oder Beschränkung künstlerischen Ausdrucks durch die Konventionen der klassischen Musik findet ihre Entsprechung in der Ausdrucksweise der Sprache. So erwähnt im 20. Jahrhundert Ivan Fónagy (1983: 122), dass der Vergleich der Melodiekurven von aufgebrachten, im Rahmen eines Streits geäußerten Sätzen mit solchen, die zärtliche und affektive Emotionen oder eine ängstliche Grundhaltung zum Ausdruck bringen, folgende Unterschiede aufweisen: Die im Streitfall geäußerten Sätze zeigen in der Analyse zackige und damit schnell wechselnde und überraschende Formen mit großen Intervallsprüngen nach brüsken Einschnitten. Diese erscheinen aber innerhalb des Satzes in regelmäßigen Abständen und darüber hinaus ist die Grundfrequenz der Spitzentöne jedes Mal praktisch identisch. Dieser Art zu sprechen, die Zorn, Ärger oder Wut ausdrückt, steht eine gänzliche andere Sprechweise für den Ausdruck von Zärtlichkeit gegenüber: Hier zeigt die Analyse abgerundete, zart wellenförmige Intonationskurven. Angst drückt sich in den vier von Fónagy verglichenen Sprachen Französisch, Englisch, Deutsch und Ungarisch durch kurze Melodieabschnitte mit einem geringen Ambitus aus. Fónagy kommentiert seine Beobachtungen wie folgt: Die emotionale Intonation sollte als eine Transformationsregel interpretiert werden, das heißt eine durch die grammatischen Regeln bestimmte Verzerrung des neutralen Satzes. Die Transformationsregeln sind höchstwahrscheinlich sprachenunabhängig. Oft ist die Transformation so deutlich, dass der emotionale Inhalt auch denjenigen zugänglich ist, die die jeweilige Sprache nicht verstehen. Diese paralinguistischen 149 5.4 Intonation und Emotion 225 Das Zitat stammt aus dem letzten Jahrhundert. Wir können ohne Probleme das 20. durch das 21. Jahrhundert ersetzen. 226 „L’intonation émotive doit être interprétée comme une règle de transformation, une distorsion qu’on fait subir à la phrase neutre, déterminée par les règles de la grammaire. Ces règles de transformation sont probablement indépendantes de telle ou telle langue. La transformation est souvent assez importante pour que le message émotif soit accessible même à ceux qui ne comprennent pas la langue en question. Ces tendances para-linguistiques apparaissent même en dehors de la communication verbale, dans la musique européenne vocale, à partir du XVI e jusqu’au XX e siècle“, Fónagy (1983: 128). Merkmale treten selbst außerhalb der verbalen Kommunikation, in der europäischen Vokalmusik des 16. bis 20. Jahrhunderts, 225 auf. (Fónagy, 1983) 226 Damit nimmt Ivan Fónagy nicht nur die Beschreibung Lussys aus dem 19. Jahr‐ hundert auf, der (den besonders eindrücklichen, momentanen) Ausdruck als eine das Herz berührende Abweichung von der Hörerwartung definiert. Er knüpft auch an die klassisch-romantische Idee an, nach der die Musik eine besondere Art von Sprache sei, „eine Art Sprache, die fast vollständig aus herzzerreißenden Schreien besteht“ (eine „espèce de langue composée presque en entier des cris des passions déchirantes“, Lacépède, 1785: 7). Es handelt sich um eine universelle Sprache der Gefühle, ganz so wie es die Autoren seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts immer wieder propagieren. Der Bogen zu Jean-Jacques Rousseau (siehe oben) ist damit gespannt. 5.5 Melodie, Ton, Intonation und Akzent Die Möglichkeiten melodischen Ausdrucks waren natürlich seit Langem be‐ kannt. Die Beschreibungen, die die Rhetoriker für die typische, an bestimmte Satzmodalitäten oder Emotionen gebundene Tonhöhe der Sprechstimme geben, zeigt eine gute Beobachtungsgabe, die, wie stellvertretend für Lully und Nie‐ dermeyer gezeigt, einen direkten Niederschlag in den musikalischen Komposi‐ tionen findet. Einzig die Rhetoriker scheinen aber den Bedarf verspürt zu haben, die, wie es scheint, allgemein bekannten Beobachtungen in ihren Schriften zu behandeln. Die Beherrschung von (Sprech-) Ton und Melodie gehörte seit jeher zum Handwerkszeug der Redner und Schauspieler, und die französischen Beschreibungen können sich auf antike Vorbilder wie Quintilien und Cicero stützen (vgl. Kapitel 1). Dabei handelt es sich grundsätzlich um eine allgemein‐ sprachliche Interpretation der Begriffe mélodie oder ton (vgl. Kapitel 3). Dies ist nicht der Fall für die Musiker. Mit jeder neuen musikgeschichtlichen Epoche wechseln die Kompositionsprämissen (vgl. Kapitel 2). Während die 150 5 Melodie und Intonation theoretischen Texte der Renaissance fast ausschließlich rhythmische Fragen ansprechen und der Barock eine vollständige Übernahme aller zugänglichen prosodischen Parameter umzusetzen sucht, erhält die Melodie bei Rousseau einen neuen Stellenwert. Bei den Romantikern wird die Melodie (mit der Harmonie) einer der Inbegriffe für den Ausdruck von Gefühlen und man studiert ihre Periodizität und Phrasierung ebenso wie ihren Aufbau in einzelnen Tonschritten. Die Begriffe ton und intonation bleiben der (Exaktheit der) phy‐ sikalischen Tonhöhe vorbehalten, während der Begriff mélodie sicherlich die Tonhöhenentwicklung in einem zeitlich definierten Rahmen umfasst, aber auch Akzentuationsfragen einschließen kann (zum Beispiel theoretisch im Rahmen der Takthierarchie oder praktisch in der musikalischen Aufführungspraxis). Dies zeigt deutlich Mathis Lussys Versuch, dem musikalischen Ausdruck eine theoretisch-praktische Grundlage zu geben. Es handelt sich hier um die syntak‐ tische Aufgabe der Intonation. Bei den Grammatikern finden sich vereinzelte Bemerkungen, die vor allem Vergleiche von Sprache und Musik sowie die Verbindungen mit der Syntax betreffen. Weitergehende Untersuchung bedingen ein Ablösen von der lange Zeit omnipräsenten grammaire latine étendue. Autoren, die sensibel für Fragen der Sprachmelodie und die Bedeutung intonatorischer Akzente sind, situieren sich in der Regel eher auf Seiten der sich am Ende des 17. Jahrhunderts herausbildenden grammaire générale. Unter ihnen ist Denis Vairasse d’Allais wahrscheinlich der an intonatorischen Fragen interessierteste Autor. Allgemein bleibt die Verwendung der Begriffe intonation, ton und mélodie von der Um‐ gangssprache, beziehungsweise ihrer Verwendung in den Texten, die sich an Redner und Schauspieler wenden, bestimmt. Erst im 19. Jahrhundert und mit Beginn der Experimentellen Phonetik und Autoren wie Jean-Pierre Rousselot oder Hector Marichelle ändert sich die Herangehensweise. Die von Charles Marey (1830-1904) zunächst für die Studie physiologischer Bewegungsabläufe und von Blut- und Lungendruck entwickelte grafische Methode wird nunmehr auch für die Erforschung der die Stimmlaute erzeugenden Organe eingesetzt (vgl. Teston, 2010). An Gesicht und Hals positionierte Messfühler nehmen die an jedem Sprachorgan (für das System) fühlbaren Schwebungen auf. Der Laryngograph dient der Erforschung der Rolle des Kehlkopfes bei der Vokalbildung. Der Labiograph misst mittels zweier an Unter- und Oberlippe befestigter Stäbe die Lippenbewegung und zwei in die Nase eingeführte birnenförmige Messfühler (eine Art Nasenkatheder) ermöglichen durch das Studium der Druckschwankungen der durch die Nasen‐ löcher entweichenden Luft und der Bewegungen des weichen Gaumens. 151 5.5 Melodie, Ton, Intonation und Akzent 227 „La mélodie de la parole a des coupes assez longues, indépendants de la durée et de l’intensité; elle affecte soit la phrase, soit le mot“, Rousselot (1897: 1010). Gemeinsam mit seinem Schüler, dem Arzt Charles-Léopold Rosapelly und dem Altsprachler Louis Havet, die beide bereits mit Charles Marey gearbeitet hatten, entwickelt Jean-Pierre Rousselot auf der Basis dieser Instrumente einen noch genauer arbeitenden Apparat zur Aufzeichnung der Sprache. Zur Ge‐ währleistung einer größeren Regelmäßigkeit ist die mit dem rußgeschwärzten Papier umwickelte Walze nunmehr mit einem Elektromotor angetrieben. Die gleichzeitige Messung der Geschwindigkeit der Walze über die Vibrationen einer Stimmgabel soll erlauben, das Experiment jedes Mal mit der gleichen Aus‐ gangsgeschwindigkeit durchführen zu können. Den drei bereits beschriebenen Messfühlern werden ein weiterer für die Bestimmung der Position der Zunge, sowie ein Pneumograph zur Untersuchung der Atmung, ein Spirometer zur Messung des Volumens der ausgeatmeten Luft und ein künstlicher Gaumen hinzugefügt. Die gemessenen Schwingungen werden mit Hilfe eines pneumati‐ schen Systems an eine Nadel oder Schreibspitze übertragen, durch die sie auf das Papier der Walze des Kymographen eingeschrieben werden. Durch Koppelung mit einem Phonographen ist es möglich, die entstehenden Grafiken nicht nur zu analysieren, sondern auch das sie verursachende Tonsignal gleichzeitig an‐ zuhören (vgl. Bsp. 34 und 35). Zur Berechnung der auf der Walze erscheinenden Kurven wird die Fourier-Gleichung verwendet. Das genaue Vorgehen beschreibt Rousselot (1897: 1175-1190) in Einzelschritten und mit Beispielen. Auf den dank dieses Versuchsaufbaus generierten Grafiken ist ein Element besonders schnell und leicht zugänglich: Die entstehenden Kurven bilden den zeitlichen Verlauf der Schallwellen ab und zeigen damit eine Art von Melodiekurve (vgl. Kapitel 1). Die Tatsache, dass der Kymograph in Deutschland auch als Wellenschreiber bezeichnet wurde, bildet einen direkten Verweis auf diese Tatsache. Wenn mit den gängigen Methoden bis dato die Analyse ganzer Melodieabschnitte nur auf der Basis relativer Angaben (höher/ tiefer als…, eine aufsteigende oder absteigende Richtung zum Ende hin…) möglich war, können mit den von den neuen Instrumenten generierten Kurven nunmehr größere intonatorische Abschnitte mit großer Exaktheit studiert werden. So kann Rousselot beispielsweise zeigen, dass sich die Sprachmelodie im Unterschied zu Tondauer oder Intensität in größeren Einheiten, auf Wort- oder auf Satzebene, manifestiert. 227 Die einzelnen Parameter der Prosodie wie die absolute Tonhöhe, Tondauer, zeitliche Entwicklung, Intensität oder Klangfarben können seit der Erfindung des Messinstrumentariums der ersten Phonetiker unabhängig voneinander 152 5 Melodie und Intonation studiert und die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Akzent, Intonation und Rhythmus nach und nach bewusst gemacht werden. 153 5.5 Melodie, Ton, Intonation und Akzent 228 Vgl. dazu die angelsächsische Tradition, in der seit Bolinger (1958) unter stress und pitch unterschieden wird. Stress meint dabei einen dynamischen Vorgang, bei dem für die Hervorhebung Dauer, Tonhöhe und, im Französischen in einem geringeren Maß als zum Beispiel im Deutschen, die Intensität eine Rolle spielen. Dagegen bezeichnet der Begriff pitch eine Betonung, die allein durch die Tonhöhe erzielt wird (Pustka, 2011: 131). 229 Darüber hinaus wird der Begriff Akzent seit jeher auch als ein dialektaler oder fremdländischer Einschlag verstanden, der sowohl Sprachmelodie und Quantität als auch artikulatorische Feinheiten bei der Aussprache bestimmter Sprachlaute betreffen kann. Die Überlegungen zu diesem Thema sind hier jedoch nur am Rande von Interessse. 6 Akzent und Akzentuierung: eine französische Besonderheit Die beiden vorhergehenden Kapitel, in denen von Quantität, Melodie und Intonation die Rede war, haben an mehreren Stellen die Nähe des Akzents zu anderen prosodischen Parametern gezeigt. In der Tat: Der Akzent ist ein komplexes Phänomen, dessen Komponenten (Tonhöhe, Dauer, Intensität) schwer zu trennen sind. Im prosodischen Sinne ist der Akzent eine Betonung oder Akzentuierung und steht damit in direkter Verbindung mit der Intona‐ tion. 228 Da die französische Sprachmelodie jedoch weniger ausgeprägt ist als beispielsweise die des Italienischen oder des Deutschen, werden andere Phänomene wie die Veränderungen der Quantität häufig deutlicher wahrge‐ nommen. Die empfundene Nähe von Akzent und Quantität, wie sie sich in den Texten und Kompositionen vergangener Jahrhunderte manifestiert, hat dies Phänomen bereits verdeutlicht (siehe Kapitel 4, vgl. auch Neis, 2009: 1639). Im Laufe der Jahrhunderte mussten nicht nur die verschiedenen Kompo‐ nenten definiert und unterschieden, sondern vor allem die Besonderheiten der französischen Akzentuierung im Vergleich zu anderen Sprachen analysiert werden. 229 Die damit verbundenen Probleme, die ihren Ursprung in der per‐ sönlichen Wahrnehmung und der Subjektivität der Interpretationen haben, werden in den ersten beiden Teilen dieses Kapitels noch einmal aufgegriffen und zunächst mit den Ergebnissen einer perzeptiven Umfrage, und dann anhand der zu den Eigenarten des französischen Akzents seit dem Ende des 19. Jahrhun‐ derts von den Theoretikern geführten Überlegungen nachvollzogen. Ein letzter Abschnitt dieses Kapitels betrachtet den Akzent als ausdrucksgebendes Mittel und schlägt dabei noch einmal den Bogen über die Jahrhunderte hinweg. Von 230 Davon sechs Personen zwischen 20 und 29 Jahren, vier Personen zwischen 30 und 39 Jahren, jeweils fünf Personen zwischen 40 und 49 und zwischen 50 und 51 Jahren, und sechs Personen zwischen 60 und 64 Jahren. 231 Vgl. auch Kapitel 4. 232 Für Texte und Weblinks, siehe Bsp. 36. jeher jedoch waren Komponisten daran interessiert, musikalische Tonhöhen-, Längen- oder Intensitätsakzente in Übereinstimmung mit der gesprochenen Sprache zu bringen. Dabei ist ihr Vorgehen in der Regel intuitiv, spiegelt aber deutlich ihr sprachliches Empfinden wider. 6.1 Probleme der Wahrnehmung Diese Übereinstimmung und die damit verbundene Wahrnehmung der verschie‐ denen Parameter durch ein frankophones Publikum werden an den Ergebnissen einer Internetumfrage zur Prosodie in poetischen (stimmlichen) Ausdrucks‐ formen deutlich. An der Umfrage nahmen 26 Personen im Alter von 20 bis 64 Jahren teil, 230 von denen für 17 das Französische die Muttersprache darstellt und die restlichen in einem frankophonen Umfeld leben und im Alltag häufig Französisch sprechen. Die Befragten äußerten ihre Meinung zu jeweils drei Aufnahmen von vier verschiedenen Gedichten zweier französischer Poeten des 19. Jahrhunderts: „L’homme et la mer“ (Strophe 1) und „Invitation au voyage“ 231 (Strophen 1 und 2) aus Les Fleurs du Mal (1857) von Charles Baudelaire, sowie jeweils die erste Strophe von „Ma Bohème“ (Cahier de Douai, 1870) und „Les Corbeaux“ (Poésies, 1871) von Arthur Rimbaud. 232 In den Aufnahmen wird das entsprechende Gedicht in verschiedenen stimmli‐ chen Versionen dargeboten, wie es die folgende Tabelle (Tabelle 18) veranschau‐ licht: 156 6 Akzent und Akzentuierung: eine französische Besonderheit Baudelaire: „L’homme et la mer“ Baudelaire: „Invitation au voyage“ Rimbaud: „Ma Bohème“ Rimbaud: „Les Corbeaux“ Rezitation 2 1 1 1 Rezitation mit musikalischer Begleitung 1 1 Chanson 1 1 Rap 1 1 Slam 1 Tabelle 18: Interpretationsform der von den Umfrageteilnehmern und Teilnehmerinnen kommentierten Versionen der Gedichte Baudelaires und Rimbauds (Umfrage März 2021) Die Aufnahmen entstanden, abgesehen von den Chansons Léo Ferrés (beide 1964), in den Jahren 2012 bis 2020. Es handelt sich im Einzelnen um folgende Interpreten: 1. Rezitation: Daniel Mesguich und Michel Garçon („L’homme et la mer“), Auguste Vertu („Ma Bohème“), Gilles-Claude Thériault („Invitation au voyage“) und Gérard Desarthe („Les Corbeaux“), 2. Rezitation mit instrumentalem Hintergrund: Michel Mansour („Invitation au voyage“) und Têtes raides („Les Corbeaux“), 3. Chanson: Léo Ferré („Ma Bohème“ und „Les Corbeaux“), 4. Rap: EleMC Musique („L’homme et la mer“) und Mathéo („Ma Bohème“) und 5. Slam: Grand Corps Malade („Invitation au voyage“). Bei den Interpreten aus dem Bereich der Rezitation können vor allem zu denjenigen Informationen gegeben werden, die eine künstlerische Karriere verfolgen (und damit in gewisser Weise der klassischen Technik zumindest durch die schauspielerische Ausbildung verbunden sind). Es handelt sich hier um Gérard Desarthe und um Daniel Mesguich. Der Erste wurde 1945 geboren und ist als Theaterschauspieler und Regisseur tätig. Der Zweite, 1952 in Algerien geboren, ist Schauspieler, Theaterregisseur und Schriftsteller und besonders auf das Rezitieren dramatischer literarischer Werke spezialisiert. Bei Gilles Claude Thériault handelt es sich um einen kanadischen Journalisten und promovierten Kommunikationswissenschaftler, der ebenfalls für seine Lesungen romantischer Literatur bekannt ist. Über Michel Garçon findet man im Internet die Angabe, 157 6.1 Probleme der Wahrnehmung dass es sich um einen Pariser Phonetiklehrer handelt. Wie Auguste Vertu (Pseud‐ onym? ) und Michael Mansour veröffentlicht er regelmäßig Gedichtlesungen. In den verschiedenen Rezitationen werden unterschiedliche Stimmfacetten in den Vordergrund gestellt. Auguste Vertu bevorzugt ein schnelles Tempo, gepaart mit häufigen Stimmvariationen und dynamischen Differenzierungen. Daniel Mesguich und Gilles-Claude Thériault setzen auf eine Dramatisierung des Vortrags durch eine farbenreiche stimmliche Arbeit und eine differenzierte Behandlung der Pausen. Für den Ersteren ist zudem der Einsatz einer bewusst eingesetzten, und für den Zweiten eher das Aussparen einer deutlich spürbaren Intonation kennzeichnend. Auch Michel Garçon verzichtet weitgehend auf intonatorische Mittel, und konzentriert sich auf den Sprachfluss, aus dem eine Art rhythmischer Anschub erwächst. Bei der Gattung „Rezitation mit musikalischer Begleitung“ handelt es sich um einen Gedichtvortrag, der mit Musik hinterlegt ist. Dabei geht aus der Beschreibung der Aufnahme in der Regel nicht hervor, ob die Rezitation zum musikalischen Hintergrund erfolgt, oder ob die Musik im Nachhinein unterlegt wurde. Im Falle von Michel Mansour handelt es sich um eine Gitarrenbegleitung, bei Têtes raides, einer 1984 gegründeten französischen Rockgruppe, um eine reicher instrumentierte, aber deutlich rhythmisch ausgelegte Begleitung. Im Slam stehen, wie in Kapitel 4 gezeigt, Sprachfluss und Reimbehandlung im Vordergrund. Von dem 1977 geborenen französischen Slammer, Poeten, Komponisten und Interpreten Fabien Marsaud, alias Grand Corps Malade, war bereits die Rede: Er gehört einer anderen Generation an als die oben genannten Schauspieler. Die beiden Rap-Versionen der französischen Gruppe EleMC Musique (die vor allem Rap-Versionen französischer Poeten des 19. Jahrhunderts auf youtube veröffentlicht hat) und Mathéo (ein Oberstufenschüler, der laut der Videobe‐ schreibung den Rap als Vorbereitung für seine Abiturprüfung komponierte) sind unterschiedlich ausgelegt. Erstere stellen nicht nur die rhythmische Basis, sondern auch eine Streichermelodie in den Vordergrund, die durch melodische und harmonisch gefühlte Wendungen zur Akzentuierung beiträgt. Mathéo dagegen verwendet vor allem den flow seiner Stimme. Die Perkussion ist präsent und ab und an von einer vor allem akkordischen Begleitung unterstützt. Die Chansons Léo Ferrés (1916-1993) wurden gewählt, da die Vertonung romantischer Gedichte einen bedeutenden Platz im musikalischen Schaffen dieses Sängers einnimmt. Von seinen insgesamt 392 Chansons basieren 120 auf 158 6 Akzent und Akzentuierung: eine französische Besonderheit 233 Darunter 1 Gedicht von Ruteboeuf (13. Jahrhundert), 2 Gedichte von François Villon (15. Jahrhundert), 1 Gedicht von Pierre de Ronsard (16. Jahrhundert), 38 Gedichte von Charles Baudelaire, 1 Gedicht von Jules Laforgue, 14 Gedichte von Arthur Rimbaud und 16 von Paul Verlaine (alle 19. Jahrhundert), und 8 Gedichte von Guillaume Apollinaire, 10 von Louis Aragon, 5 von René Baer, 19 von Jean-Roger Caussimon, 1 von Pierre McOrlan, 2 von Cesare Pavese und 2 von Pierre Seghers (20. Jahrhundert). Angaben nach Chabot-Canet (2008: 38). 234 „Ferré, tout en semblant rester dans un cadre assez traditionnel et employer les procédés courants de la prosodie classique, tire la mélodie vers la déclamation,“ Chanot-Canet (2008: 36). literarischen Vorlagen aus verschiedenen Jahrhunderten. 233 Die Interpretationen Ferrés eignen sich besonders für den Vergleich mit den auf den Ausdrucks‐ möglichkeiten der Sprechstimme basierenden Gedichtinterpretationen, da, wie Céline Chanot-Canet (2008) bemerkt, der Sänger nicht nur vollkommen im Rahmen der klassischen Prosodie bleibt, sondern seine Melodien auch eine direkte Verbindung mit der Deklamation zeigen. 234 Wahrnehmung der Parameter in unterschiedlichen Kontexten Die Wahrnehmung der Akzente ist für die verschiedenen Arten des Stimm‐ einsatzes deutlich unterschiedlich. Für die drei Interpretationen von „Ma Bo‐ hème“ (Rezitation von Auguste Vertu, Chanson von Léo Ferré und Rap von Mathéo) zum Beispiel manifestiert sich die Akzentuation bestimmter Silben nach Meinung der Befragten in Rezitation und Chanson vor allem durch Tonhöhenunterschiede, gefolgt von Länge (Quantität) und Volumen und/ oder Intensität. Für den Rap wird der Begriff der Energie bevorzugt, gefolgt von Tonlänge und - mit deutlichem Abstand -Tonhöhe. Häufiger wird dabei von einer aufsteigenden (28 Stimmen) als von einer absteigenden (18 Stimmen) Melodiebewegung gesprochen. Die Wahrnehmung der Tonhöhenveränderung ist für die Rezitation ausgeglichen (13 Personen sprechen von einer Aufwärts- und 12 von einer Abwärtsbewegung), für das Chanson dagegen tendieren die Befragten eindeutig zu einer aufsteigenden (14 zu 4 Stimmen) und für den Rapper eher zu einer absteigenden (3 zu 1 Stimme) Melodierichtung. Das Ergebnis für das Chanson ist somit in Übereinstimmung mit der traditionellen musikalischen Praxis, Akzente häufig durch eine hohe Note auszudrücken (vgl. Kapitel 5). Die Bevorzugung des Terminus Energie (énergie) anstelle von Kraft (force) für den Rap lässt vermuten, dass das Empfinden der befragten Personen von unterschiedlichen Parametern beeinflusst wurde. Ein Umfrageteilnehmer beschreibt eine monotone, das heißt gleichförmige Silbengestaltung, die aber 159 6.1 Probleme der Wahrnehmung 235 Wenige (im Verschwinden begriffenene) Ausnahmen betreffen, soweit es sich nicht um regionale Dialekte handelt, Wortpaare wie pâte und patte oder notre und nôtre. 236 Vgl. die von Céline Chabot-Canet (2008: 29-30) erwähnten drei Regeln für die Über‐ einstimmung von Rhythmus und Prosodie in dem französischen Chanson des 20. und 21. Jahrhunderts (Chabot-Canet beruft sich hier Joubrel, 2002): 1. „Il existe une correspondance maximale entre les appuis rythmiques de la composition et l’accent tonique de la langue, qui tombe sur la dernière voyelle non muette d’un mot ou d’un groupe de mots.“ 2. „Le dernier son du vers se trouve sur le premier temps de la mesure et correspond à une valeur longue qui interrompt le débit du discours comme dans la langue parlée (dernier son prononcé = premier temps = repos rythmique).“ 3. „L’énonciation du vers est régulière et utilise un rythme simple: noires (un temps = un son), croches (deux sons pour un temps), ou alternance brève longue dans les mesures à trois temps (blanche = deux temps et noire = un temps).“ durch gewisse Abweichungen vom typischen (und damit erwarteten) Akzent- und Rhythmusschema ein Relief erhält (vgl. Bsp. 37). Die Wahrnehmung der Quantität ist für französische Ohren in dem Sinne nicht immer leicht (vgl. Wottawa, 2020), als das Phänomen der Längung im heu‐ tigen Sprachgebrauch praktisch keine phonologische Rolle mehr spielt. 235 Das Empfinden von Quantität scheint aber mit einem vorgegebenen rhythmischen Rahmen zu steigen: 17 Personen bezeichnen die Länge der Töne im Chanson als entscheidend für die Akzentuation, immerhin 11 in der Rezitation eines Gedichtes mit Betonung des Versmaßes und 9 im Rap. Ein Teilnehmer merkt an, dass die Wahrnehmung der Unterschiede seiner Meinung nach weniger in der Quantität selbst, als in der Behandlung der auf den Reim folgenden Pausen liegt. Die prozentuale Verteilung der Wahrnehmung von Quantität und Energie für die Akzentuation in den drei Interpretationen von „Ma Bohème“ (Rezitation, Chanson und Rap) zeigt deutliche Unterschiede: Während die beiden Parameter für die Rezitation beinahe ausgeglichen erscheinen, steht für das Chanson die Längung im Vordergrund und für den Rap die Energie (vgl. Bsp. 38). Regelmäßigkeit und Stärke der wahrgenommenen Akzentuierung Ein anderes, durch den musikalischen Hintergrund gesteigert wahrgenom‐ menes Phänomen ist die Regelmäßigkeit der Akzentuierung des Vortrags. Dabei spielen sicherlich nicht nur die mehr oder minder regelmäßige Abfolge der Silben, sondern auch Pausen und metrische Grundmuster, 236 die sich in einem musikalisch und rhythmisch begleiteten Rahmen deutlicher bemerkbar machen, eine Rolle. 17 Personen bezeichnen die Akzentuierung des Chansons als regel‐ mäßig, 11 Personen die des Raps und nur 4 die der Rezitation. Als unregelmäßig 160 6 Akzent und Akzentuierung: eine französische Besonderheit 237 Für eine deutlichere Gegenüberstellung, vgl. Bsp. 39. bezeichnen lediglich 6 Personen die Akzentuierung des Chansons, aber 15 beziehungsweise 16 diejenige des Rap und der Rezitation. Die unterschiedlichen Summen der Gesamtergebnisse sind darauf zurückzuführen, dass mehrere Antworten angekreuzt werden konnten. Befragt zu den Gesamteindrücken aller gehörten Ausschnitte gaben die Befragten eine mit dieser punktuellen Abfrage zu einem einzigen Gedicht („La Bohème“) in den großen Linien übereinstimmende Einschätzung (Tabelle 19): 237 Regelmäßig Unregelmäßig Rezitation 11 11 Rezitation mit instrumentaler Begleitung 18 5 Chanson 18 7 Rap 14 10 Slam 15 6 Tabelle 19: Wahrnehmung der Regelmäßigkeit der Akzentuation in den kommentierten Versionen der Gedichte Baudelaires und Rimbauds (Umfrage März 2021) Die instrumental begleiteten Formen mit melodischem Hintergrund (Chanson und Rezitation mit instrumentaler Begleitung) sowie der mit den musikalischen Elementen der Sprache spielende Slam werden als regelmäßig akzentuiert emp‐ funden, die Rezitation eher als unregelmäßig. Die Antworten sind besonders im Hinblick auf den Rap interessant: Die stark rhythmisch fokussierte Begleitung, die die Vermutung einer großen Regelmäßigkeit der Akzentuierung nahelegt, scheint den Rappern im Gegenteil ein feines Spiel mit der Akzentsetzung (mit oder entgegen der metrischen, von der Begleitung markierten Betonung) zu erlauben, die dazu führt, dass die Einschätzung relativ ausgeglichen ist. Im Rap (21 Stimmen) und im Slam (11 Stimmen) steht jedoch die Stärke der Akzentuierung deutlich im Vordergrund - vermutlich, da im ersten Fall der Wille, in Übereinstimmung mit oder gegen den perkussiven Hintergrund zu akzentuieren, für die befragten Personen spürbar ist, und im zweiten Fall, da die Akzentstärke mitverantwortlich für die rhythmische Dynamik des Vortrags ist. 161 6.1 Probleme der Wahrnehmung 238 Für die genauen Werte, vgl. Bsp. 40. Wahrnehmung der zur Akzentuierung eingesetzten prosodischen Mittel Als ausschlaggebend für die Wahrnehmung der Akzentuierung nennen die Teilnehmer und Teilnehmerinnen die in der folgenden Tabelle (Tabelle 20) zusammengefassten, von den Interpreten eingesetzte Mittel. Die Zahlen ent‐ sprechen dieses Mal keinen absoluten Ziffern, sondern Rangordnungen. 238 Gleiche Zahlen entsprechen daher einer gleichen Anzahl an Ja-Stimmen in der Befragung. Mehrfachnennungen waren möglich. Melodie Instrumental‐ begleitung Aussprache und Textbe‐ handlung Rhythmisie‐ rende Textbe‐ handlung Rezitation 3 5 1 2 Rezitation mit in‐ strumentaler Be‐ gleitung 2 2 4 2 Chanson 1 1 5 2 Rap 4 4 3 1 Slam 5 (4) 3 1 Tabelle 20: In den kommentierten Versionen der vier Gedichte Baudelaires und Rimbauds zur Akzentuation eingesetzte prosodische Mittel (Umfrage März 2021) Die Wahrnehmung melodischer und harmonischer, durch die Begleitung vor‐ gegebener Elemente spielt in den musikalischen Formen Chanson und instru‐ mentalbegleitete Rezitation eine klare Rolle. Dagegen steht die Textbehandlung (Aussprache und Rhythmisierung) bei der Rezitation und im Slam, zwei Formen, die sich vorwiegend (oder sogar ausschließlich) auf das Textmaterial und die Stimme des Vortragenden stützen, im Vordergrund. Dabei mutet die Tatsache, dass immerhin vier Personen der - nicht vorhandenen - Instrumentalbegleitung im Slam eine Rolle für die Akzentuierung zusprechen, etwas seltsam an. Vermutlich beziehen sie sich dabei auf die im Video sichtbare Gestik und Mimik des Slammers. Eine Teilnehmerin äußert sogar die Vermutung, dass ihre Einschätzungen des Slams von der Mimik des Interpreten beeinflusst seien. Dieselbe Aufteilung in begleitete und unbegleitete Formen zeigt sich, aller‐ dings weniger deutlich ausgeprägt, wenn die Umfrageteilnehmer und Teilneh‐ 162 6 Akzent und Akzentuierung: eine französische Besonderheit 239 Für Einzelergebnisse vgl. Bsp. 40. 240 Die Befragten waren gebeten, den Text beim Hören der Aufnahmen mitzulesen. merinnen auf die Frage antworten, ob die Akzentuierung ihrer Meinung nach vom Inhalt des Texts bestimmt ist. Für die Rezitation sind 17 Personen dieser Meinung, 11 für den Slam, jeweils 10 für Rap und instrumentalbegleitete Rezitation und 9 für das Chanson. Dagegen steht bei der Beeinflussung der Akzentuierung durch Gefühle das Chanson an erster Stelle (13 Stimmen), gefolgt von Rezitation (8 Stimmen), instrumentalbegleiteter Rezitation (7 Stimmen), Slam (6 Stimmen) und Rap (4 Stimmen). Ästhetische Kriterien Interessant ist in diesem Zusammenhang die in derselben Tabelle des Fra‐ gebogenformulars von den Teilnehmern und Teilnehmerinnen angekreuzte Einschätzung der Feinheit (délicatesse) und der Stärke der Akzentuierung in den verschiedenen Interpretationsformen: Die Betonungen in Rezitation und instrumentalbegleiteter Rezitation werden als delikat bezeichnet, diejenigen in Rap und Slam dagegen als stark ausgeprägt. Die Befragten sehen hier eine nicht miteinander vereinbare Opposition: Eine delikate Akzentuierung ist mit einer starken Akzentmarkierung, und sei dies auch nur punktuell der Fall, nicht vereinbar. Im Kontext der Einschätzung des für die Akzentwahrnehmung auslösenden Moments wird deutlich, dass Feinheit oder Delikatesse für den musikalischen Vortrag vor allem mit einem ausgewogenen Maß der beiden Bereiche Inhalt und Gefühl in Verbindung gebracht werden (beide Male eine mittlere Einschätzung, Platz 3 von 5), bei der Rezitation ohne Begleitung dagegen beide Bereiche von großer Wichtigkeit sind. Hier stehen der Inhalt, und damit der kognitive Aspekt, auf Platz 1 und das Gefühl auf Platz 2 der Einschätzungen. 239 Ob diese Ergebnisse auf die lange Tradition des bon goût als arbitre, also eine ästhetische richtende Instanz zurückzuführen ist? Dieses Argument könnte in jedem Falle auch für die Einschätzung einer als „natürlich“ empfundenen Sprache in poetischen Darbietungen vorgebracht werden. Für die beiden Rezitationen (Daniel Mesguich und Michel Garçon) und den Rap (EleMC Musique) zu Baudelaires „L’homme et la mer“ ergibt die Kreuzung der Einzelergebnisse zu den Fragen der Wahrnehmung des Reims am Versende, zum Respekt der Zeichensetzung in der Darbietung des Gedichts 240 und zum Empfinden von Rhythmus und Akzentuation folgende Kombinationen (Tabelle 21, vgl. auch Bsp. 42): 163 6.1 Probleme der Wahrnehmung 241 Ein Teilnehmer vermerkt ausdrücklich, dass die stereotype Längung am Zeilenende bei Daniel Mesguich auf ihn nicht sehr natürlich, sondern eher theatralisch oder gar schülerhaft wirkt. 242 Dazu zählen beispielsweise auch die Erwartungen der Behandlung von liaison oder hiatus, die teilweise als nicht übereinstimmend mit den klassischen Regeln kritisiert werden (auch wenn die Frage gar nicht gestellt worden war). Natürlicher Fluss Übertriebene Darstellung Behandlung des Reims Variabel bis wenig ausge‐ prägt Grundsätzlich deutlich mar‐ kiert Behandlung der Zei‐ chensetzung Variabel bis gute Überein‐ stimmung von Zeichenset‐ zung und Pause Keine Entsprechung oder Übereinstimmung von Zei‐ chensetzung und Pause Tabelle 21: Kriterien der Wahrnehmung einer natürlichen oder übertriebenen Gedicht‐ interpretation Als natürlich wird in erster Linie die Rezitation von Michel Garçon empfunden, gefolgt von der Rezitation Daniel Mesguichs und dem Rap von EleMC Mu‐ sique. Die aus der Tabelle ablesbaren Unterschiede betreffen in erster Linie die Variabilität der Parameter: Die Flexibilität sowohl des Reims als auch der Zeichensetzung wird für ein natürliches Empfinden als ausschlaggebend erachtet. Dabei ist die Beachtung der Pause an der Stelle eines Satzzeichens ein wichtigeres Kriterium als die Hervorhebung des Reims durch stimmliche Mittel. Diese letzte Bemerkung zeigt deutlich, dass die befragten Personen von einer für einen Gedichtvortrag als natürlich empfundenen Fassung ausgehen, und damit eine kulturelle Vorstellung und vermutlich das in der Schule vermittelte Wissen bei ihren Einschätzungen eine Rolle spielen. 241 Der Rap wird häufig als zu monoton charakterisiert, obgleich er laut den Antworten gleichzeitig die größte Flexibilität in Reim- und Pausenbehandlung aufweist. Diese nicht ganz leicht miteinander zu vereinbarenden Ansichten zeigen das Problem der Akzentanalyse mittels des Hörsinns. Vorgegebene Parameter und Erwartungshaltungen 242 können die Wahrnehmung unserer Zeitgenossen und Zeitgenossinnen ebenso verzerren wie diejenige der Men‐ schen vergangener Jahrhunderte und damit die Bestimmung der relevanten Kriterien erschweren. 164 6 Akzent und Akzentuierung: eine französische Besonderheit 243 „Toute articulation comporte un certain degré de durée, d’intensité et de hauteur musicale […]. La syllabe qui se distingue des autres par plus de durée, d’intensité, d’acuité ou par toutes ces qualités à la fois est dite accentuée“, Rousselot & Laclotte (1902: 86). 6.2 Subjektive Wahrnehmung und objektive Messung Erst mit Hilfe der neuen Messinstrumente der experimentalen Phonetik (vgl. Kapitel 5) wurde es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts möglich, die verschiedenen, für die Akzentuation relevanten Parameter zu visualisieren und damit voneinander getrennt zu analysieren. Mit dieser technischen Vorausset‐ zung wird eine Beschreibung der Besonderheit des französischen Akzentsys‐ tems denkbar und Überlegungen zu Desakzentuierung, emphatisch bedingten Akzentverschiebungen, der Rolle eines Sekundärakzents, Atem- und Intensi‐ tätsgruppen halten ihren Einzug in die Texte der Phonetiker. Die Forscher verschiedener Länder stehen nunmehr in engem Austausch und die Instrumen‐ tierung erlaubt mit der Reproduzierbarkeit der von den Kollegen beschriebenen Phänomene eine kollektive Weiterentwicklung von Forschungsmethoden und -ergebnissen. Die prosodischen Parameter der französischen Akzentuation In Frankreich definiert Jean-Pierre Rousselot in seinen teils in Zusammenarbeit mit seinem Neffen Fauste Laclotte durchgeführten phonetischen Studien die drei noch heute gültigen Parameter der Akzentuation (im Sinne einer Betonung). Jede artikulierte Silbe kann durch drei Eigenschaften charakterisiert werden: ihre Dauer (durée), ihre Intensität (intensité) und ihre Tonhöhe, das heißt die Grundfrequenz (hauteur musicale). Wird ein französisches Wort isoliert, ohne Kontext, ausgesprochen, so liegt der Akzent auf der letzten gesprochenen Silbe, die, wie Rousselot & Laclotte feststellen, im Vergleich zu den vorhergehenden Silben länger, intensiver und höher ist. 243 Ein emphatischer Akzent in einem Satz übertüncht allerdings den Wortakzent, der dadurch seine besondere Ausprä‐ gung an Länge, Intensität oder Tonhöhe verlieren kann (Rousselot & Laclotte, 1902: 93). Die Analyse der drei prosodischen Parameter, Quantität, Intensität und Tonhöhe, basiert bei Rousselot & Laclotte nicht mehr auf wahrgenommenen Eindrücken, sondern auf Messungen mittels der neu entwickelten Instrumente, von denen bereits mehrfach die Rede war. Bei Rousselot & Laclotte (1902: 96-99) findet sich die Analyse eines Vortrags des Gedichtes „Mort de Roland“ (ein Auszug aus dem Heldengedicht Chanson de Roland aus dem 11. Jahrhundert) durch einen männlichen ungenannten Sprecher. Der Text ist in Lautschrift 165 6.2 Subjektive Wahrnehmung und objektive Messung 244 Laut Rousselot & Laclotte (1902: 96) klingt eine Frauenstimme eine Oktave höher. wiedergegeben. Darüber findet sich die Angabe der hauteur musicale für jedes Phonem (Vokale und Konsonanten) in Doppelschwingungen pro Zehntelse‐ kunde. Die Zahl 6 (sechs Doppelschwingungen pro Zehntelsekunde) entspricht der Note si1 (H), die Zahl 6,5 der Note ut2 (c), und so weiter. 244 Unter dem Text ist in einer ersten Linie die Phonemdauer in Hundertstelsekunden angegeben und in einer zweiten Linie die Intensität der Vokale mittels eines Mittelwertes aus Schwingungsamplitude und Dauer (vgl. Bsp. 43). Die Quantität hat eine akustische und eine artikulatorische Komponente, die Rousselot genauestens zu unterscheiden sucht. Die akustische Quantität entspricht allein dem realisierten Sprachlaut, die artikulatorische Quantität berücksichtigt dagegen die Dauer der von den artikulatorischen, zur Aussprache des Lautes nötigen Bewegungen (Rousselot, 1897: 990-991). Zur Messung der Quantität wird die Dauer des aufgenommenen Lautes und/ oder der artikulato‐ rischen Bewegungen auf der Spur abgelesen: Je nach Aufnahmegeschwindigkeit legt die Walze eine gewisse Strecke pro Sekunde zurück, die in Zentimetern gemessen wird. Für eine genauere Auswertung zeichnet man gleichzeitig die Vibrationen einer Stimmgabel auf. So kann die Schwingungsanzahl für jeden Abschnitt separat abgelesen werden (Rousselot, 1897: 153). Die Tonhöhe hat ebenfalls zwei Komponenten. Physikalisch gesehen hängt sie von der Anzahl der Schwingungen der Stimmbänder im Verlauf einer bestimmten Zeitspanne ab. Diese physikalische Tonhöhe, die hauteur physique, kann mit Hilfe der mittels des Kymographen sichtbar gemachten Kurve be‐ stimmt werden. Die psychologische Tonhöhe (hauteur psychologique) entspricht der vom Ohr tatsächlich wahrgenommenen Höhe oder Tiefe eines Klangs. Diese ist nicht nur von den reellen Frequenzzahlen, sondern auch vom physiologi‐ schen Zustand des Ohres, seiner Schulung sowie der Position der Person und ihrer Entfernung von der Schallquelle abhängig (Rousselot, 1897: 1002-1009). Zur Messung der physikalischen Tonhöhe benötigt man Kurven für die durch Mund und Nase ausgeatmete Luft oder für die Bewegungen der an der Phonation beteiligten Organe (siehe oben). Die absolute Tonhöhe erhält man durch die genaue Messung jeder unter einem Mikroskop sichtbaren Periode, wobei man durch einfaches Zählen der Schwingungen für einen bestimmten Zeitabschnitt den Mittelwert erhält. Die psychologische Tonhöhe stellt im Gegensatz dazu ein personentypisches, persönliches Merkmal dar und Rousselot (1897) fasst die Ergebnisse seiner Experimente nach Darlegung seiner verschiedenen Über‐ legungen wie folgt zusammen: 166 6 Akzent und Akzentuierung: eine französische Besonderheit 245 „L’oreille reconnaît le mieux les différences de hauteur dans les gammes qui lui sont les plus habituelles; et une différence de 4 v. d. paraît le maximum qu’elle puisse sentir entre deux sons successifs, séparés par un espace d’environ 8 secondes“, Rousselot (1897: 1008). Am besten erkennt das Ohr Tonhöhenunterschiede in den Bereichen, die ihm am vertrautesten sind. Ein Frequenzunterschied von 4 Doppelschwingungen scheint die maximale Anzahl zu sein, die das Ohr zwischen zwei Tönen wahrnehmen kann, wenn diese in einem zeitlichen Abstand von etwa 8 Sekunden aufeinander folgen. (Rousselot, 1897) 245 Um die in Kapitel 1 erwähnten musikalischen Transkriptionen zu erstellen, werden die in das Papier der Walze des Kymographen eingravierten Spuren der Sprachaufnahme wie folgt ausgewertet: Mit einem Stift wird vorsichtig ein Gitter erstellt, mit dessen Hilfe die Einzelfrequenzen abgelesen werden können. In einer separaten Tabelle wird anschließend für jeden Ton der Tonleiter die Anzahl der sichtbaren und messbaren Perioden bestimmt. Die Einzelpunkte werden in das Notensystem notiert und anschließend mit einer Linie verbunden, so dass eine sichtbare Melodiekurve entsteht. Die Intensität entspricht dem - relativ komplexen - Eindruck einer mehr oder weniger großen Anstrengung auf Seiten der sprechenden Person, oder aber der Wahrnehmung einer gesteigerten, zur Aussprache benötigten Kraft auf Seiten des Hörers oder der Hörerin (Rousselot, 1897: 1014). In zahlreichen Experimenten versucht Rousselot, die Zusammenhänge der verschiedenen Ein‐ zelphänomene zu ergründen. Er stellt zum Beispiel fest, dass offene Vokale eine größere Tragweite haben als geschlossene (1897: 1042) und ordnet die Vokale auf einer Intensitätsskala von è bis u an. Unterhalb einer gewissen Frequenz ist die Stimme jedoch auch bei einer noch so großen Intensität nicht mehr vom menschlichen Ohr wahrnehmbar. Je größer die Entfernung von der Schallquelle, umso geringer wird zudem die messbare Amplitude der Schwingungen der Vokale (Rousselot, 1897: 1044). Die Tonhöhe oder hauteur musicale wird dabei immer mit Begriffen der musikalischen Metasprache, den Noten (mi3, ut2, usw.) angegeben. Andere Versuche zeigen die Rolle des Vokals für das Verständnis des in derselben Silbe befindlichen Konsonanten. Laut Rousselot variiert die Intensität in Analogie mit der artikulatorischen Quantität, denn die Anzahl der Silben beeinflusst den im Einzelnen benötigten artikulatorischen Aufwand innerhalb einer Gruppe und bestimmt damit das Empfinden der Intensität. Wenn dieses Phänomen auch insgesamt gesehen im Französischen weniger ausgeprägt ist als zum Beispiel im Deutschen, so ist doch die Verknüpfung der verschiedenen 167 6.2 Subjektive Wahrnehmung und objektive Messung 246 Vgl. Beauzée (1767: 163): „On pourroit […] dire, par exemple, qu’il y a deux sortes d’accents prosodiques, savoir l’accent tonique et l’accent oratoire, distingués entre eux de manière, que l’accent tonique des mêmes mots demeure invariable au milieu de toutes les variétés de l’accent oratoire, parce que dans le même mot chaque syllabe conserve la même relation méchanique avec les autres syllabes, au lieu que le même mot dans différentes phrases ne conserve pas la même relation analytique avec les autres mots de ces phrases“. 247 „L’accent oratoire, cette fleur du langage, exprime les idées générales, communes à l’espèce tout entière; il laisse deviner les pensées délicates aux contours imprécis; il traduit enfin par des procédés invariables, dans quelque langue que ce soit, les fines nuances du sentiment, dont le mot simplement articulé ne représente que les formes vulgaires“, Marichelle (1897: 110-111). akzentbildenden Parameter augenfällig. In Rousselots Principes de phonétique expérimentale (1897) stehen zur Bestimmung und zum Vergleich der Intensitäten zahlreiche Tabellen zur Verfügung. Die Unterscheidung von Wortakzent und emphatischem Akzent wird bei Hector Marichelle (1897) eingehend behandelt. In der Tradition der grammaire générale  246 bezeichnet Marichelle den tonischen Akzent (accent tonique) als konventionell und damit an eine bestimmte Sprache gebunden. Er manifestiert sich durch ein Ansteigen der Tonhöhe und durch eine erhöhte Intensität und geht auf die Gewohnheiten einer linguistischen Gemeinschaft zurück. Der emphatische, oratorische oder pathetische Akzent (accent oratoire ou accent pathétique) dagegen entspricht einem natürlichen Ausdruck von Gefühlen oder Gedanken. Aus diesem Grund ist er selbst ohne Kenntnisse in der verwendeten Sprache verständlich. Er ist deutlicher, stärker ausgeprägt und dabei von einer ungleich höheren Flexibilität als der tonische Akzent, und Marichelle erklärt mit poetischen Worten: Der oratorische Akzent ist die Blume der Sprache, die die universellen und der ganzen Menschheit gemeinen Ideen ausdrückt. Er lässt uns zarte Gedanken mit nur vage angedeuteten Konturen erahnen. Er übersetzt mittels universeller Prozesse die feinen Nuancen des Gefühls, von denen das artikulierte Wort selbst nur eine plumpe und ordinäre Form bildet, in jede beliebige Sprache. (Marichelle, 1897) 247 Damit bilden Wortakzent und oratorischer Akzent für Marichelle zwei feste, für Ausdruck und Verständnis wichtige Bestandteile der gesprochenen Sprache. Auf der Suche nach den Besonderheiten des französischen Akzents Bis heute sind die technischen Mittel ständig verfeinert worden. Auf eine Beschreibung der aktuell verwendeten Instrumente wird hier verzichtet, da 168 6 Akzent und Akzentuierung: eine französische Besonderheit 248 „Nous croyons avoir des accents dans notre langue et nous n’en avons point: nos prétendus accents ne sont que des voyelles ou des signes de quantité; ils ne marquent aucune variété de sons“, Rousseau (1993 [1755]: 76-77). 249 Von dieser Bemerkung sind das in Belgien und Québec gesprochene Französisch auszunehmen, da in diesen Varianten des Französischen Längenoppositionen existieren (Pustka, 2011: 131). diese als bekannt vorausgesetzt werden. Während bei den Phonetikern des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts ein musikalischer Ansatz immer noch deutlich präsent ist, wie die Verwendung von Stimmgabeln, der musikalischen Notation, der Bezeichnung hauteur musicale oder der Referenz an die Tonhöhe der Noten der Tonleiter zeigt, hat im Verlauf des letzten Jahrhunderts dieser Bezug anderen Arbeiten Platz gemacht, die zum Beispiel die Deutlichkeit und die Funktion des französischen Akzents im Vergleich mit dem Akzentsystem anderer Sprachen betreffen. Die Kritik, das Französische kenne im Grunde keinen (melodischen) Ak‐ zent (und sei deshalb auch keine musikalische und zum Gesang geeignete Sprache), wurde bereits im 18. Jahrhundert von Jean-Jacques Rousseau (1755) vorgebracht. 248 Doch während Rousseau damit vorwiegend auf einen Mangel an Musikalität und daher an emphatischem und spontanen Ausdruck anspielt, nimmt der Zweifel an der grundsätzlichen Existenz eines französischen Akzents im 20. Jahrhundert eine neue Dimension an. Bereits Louis Hjelmslev (1899-1965), Mitglied und Hauptautor der Kopen‐ hagener Linguistischen Schule, vertrat 1936 die Meinung, das Französische besitze ganz einfach gar keinen Akzent. Diese radikale Position beruht auf dem Argument, dass die französische Sprache keine akzentbedingte lexikalische Unterscheidung kennt. 249 Für Hjelmslev ist das Französische damit keine Ak‐ zentsprache, sondern eine langue à modulation, eine Sprache mit formelhaften Melodievariationen. Andere, weniger extrem eingestellte Autoren sprechen für das Französische von einem geringer ausgeprägten Unterschied von hervorgehobenen und un‐ akzentuierten Silben als dies in anderen Sprachen der Fall ist. Das Bewusstsein eines Akzents ist für französische Muttersprachler in der Tat oft nicht sehr ausgeprägt, eine Position, die Paul Garde in seinem Buch L’Accent von 1968 wie folgt zusammenfasst: Der Franzose, der spontan kein Bewusstsein für das Vorhandensein eines Akzents in seiner eigenen Sprache hat, entdeckt diesen in der Regel beim Erlernen einer Fremdsprache. […] In vielen anderen Sprachen bildet der Akzent ein bewusstes Phänomen in der Praxis der Muttersprachler. Ein Italiener ist sich des Unterschieds zwischen den Worten ’ancora ‚Anker‘ und anc’ora ’(immer) noch’ in seiner Sprache 169 6.2 Subjektive Wahrnehmung und objektive Messung 250 „Le Français, qui spontanément n’a pas conscience de l’existence d’un accent dans sa propre langue, le découvre généralement lors de l’apprentissage d’une langue étrangère. […] Pour les usagers de certaines autres langues, l’accent est un phénomène conscient dans la pratique de la langue maternelle. Un Italien a conscience de la différence qui sépare dans sa langue les mots ’ancora ‚ancre‘ et anc’ora ‚encore‘, et qui tient précisément à la différence de place du renforcement de hauteur et d’intensité, c’est-à-dire de l’accent“, Garde (1968: 13). 251 „De fait, on peut se demander si une mise en relief qui se fait dans le cadre d’une unité qui n’est pas grammaticalement définissable mérite encore le nom d’accent. Nous pensons que oui, puisqu’il subsiste la possibilité de définir grammaticalement l’unité accentuelle virtuelle“, Garde (1968: 85). aufgrund der unterschiedlich platzierten Tonhöhen- und Intensitätsverstärkung, das heißt, des Akzents, vollkommen bewußt. (Garde, 1968) 250 Garde, der das Akzentverhalten verschiedener Sprachen vergleicht, stellt fest, dass dieses Phänomen im Französischen keine grammatikalisch pertinente Einheit betrifft, sondern dass die akzentuierten Einheiten im Gegenteil je nach inhaltlichem Zusammenhang und nach Satzkonstruktion variieren können. Er spricht von unités accentuelles virtuelles (1968: 84), virtuellen Akzenteinheiten, und stellt die Frage, ob in einem solchen Fall überhaupt noch von Akzent gesprochen werden kann. Damit bezieht sich Garde auch auf die oben zitierten Argumente gegen die Existenz eines Akzents im Französischen. Er distanziert sich jedoch von der Position Hjelslevs und begründet dies mit dem Argument, dass die virtuellen Akzenteinheiten zwar keiner fixen grammatischen Einheit entsprechen, wohl aber immer im Rahmen der Grammatik einer Sprache definiert werden können. 251 Aus diesen Überlegungen hat sich ein Ansatz entwickelt, der mehr die Funktion der Akzenteinheit als ihre fixe Form betrachtet. Ausgehend von der Eigenart des Französischen, den Akzent an das Ende einer Gruppe zu platzieren (selbst wenn einzelne Wortakzente zugunsten eines Gruppenakzents aufgegeben werden) und von der Erkenntnis, dass eine Akzentgruppe immer eine bestimmte melodische Schlussfloskel aufweist, haben sich die Bereiche Intonation und Akzent weitgehend einander angenähert. Zusammenspiel von Akzent und Intonation Diese Nähe zeigt beispielsweise das von Piet Mertens seit den 1990er Jahren entwickelte Konzept zur Verbindung von Akzent und Intonation. Im Unter‐ schied zu den meisten anderen romanischen Sprachen ist laut Mertens im Französischen der Haupt- oder Primärakzent nicht wortgebunden, sondern hängt von der Gruppe ab, in der er erscheint. Damit kann ein Primärakzent mit 170 6 Akzent und Akzentuierung: eine französische Besonderheit 252 Die bei Mertens in der ersten Spalte enthaltenen Graphiken wurden durch Erklärungen ersetzt. einem lexikalischen Akzent zusammenfallen oder auch nicht. Die akzentuierte Silbe ist stärker, länger und intensiver als die unakzentuierte und häufig deutlich höher oder tiefer. Mertens (1997) unterscheidet drei verschiedene Silbenbetonungsmuster: Eine Silbe trägt entweder einen Schluss- (accent final) oder einen Anfangsakzent (accent initial), oder sie ist unakzentuiert (syllabe non accentuée). Eine schwere Silbe (syllabe lourde) ist akzentuiert und häufig lang oder von einer Pause (die ebenfalls einen Eindruck von Länge erzeugen kann) gefolgt. Eine leichte Silbe (syllabe légère) ist unakzentuiert, kurz, und steht niemals allein, das heißt, sie bildet niemals alleine ein Wort. Eine Akzentgruppe (groupe accentuel) beinhaltet immer genau eine Silbe mit einem Schlussakzent. Die Intonationsgruppe (groupe intonatoire) ist nicht unbedingt mit einer Akzentgruppe identisch. Für Mertens handelt es sich hier um eine oder mehrere Silben, deren letzte voll klingend ist, also kein stummes e (e caduc) enthält. Die Intonationsgruppe muss eine Silbe mit einem Schlussakzent beinhalten, die Kombination mehrerer Schlussakzente und Anfangsakzente in einer einzigen Intonationsgruppe ist aber durchaus möglich. Dies ist zum Beispiel der Fall für eine Nominalgruppe wie une musique charmante, in der sowohl das adjectif épithète als auch das Substantiv über einen eigenen Schlussakzent verfügen. Durch das Zusammenfassen mehrerer Akzentgruppen in einer einzigen Into‐ nationsgruppe entsteht eine Hierarchie. Dies gilt auch für die Verbindung mehrerer Intonationsgruppen, die in einem bestimmten Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen. Zum Verständnis dieses Verhältnisses ist die Studie der Intonation hilfreich: Jede Silbe trägt laut Mertens einen der vier Töne „sehr hoch“ (sur-aigu, H + ), „hoch“ (haut, H), „tief “ (bas, B) oder „sehr tief “ (infra-bas, B - ). Die Tonhöhe ist dabei ein relativer Wert. Zunächst einmal hängt sie von der natürlichen Tonhöhe der Stimme der sprechenden Person ab. Außerdem enthält jeder Ton fünf Unterteilungen, die Mertens als demi-tons, als Halbtöne bezeichnet. Das musikalische Vokabular ist hier mit einer gewissen Freiheit verwendet, eigentlich müsste eher von „Fünfteltönen“ die Rede sein. Den Ton einer Intonationsgruppe erkennt man am Ton ihrer akzentuierten Silbe. Die sich aus den unterschiedlichen Kombinationsmustern der verschie‐ denen Töne ergebenden Bedeutungen für die Verbindung der Intonations‐ gruppen hat Mertens 2008 (2009) in einer Tabelle zusammengefasst, die hier in leicht veränderter Form 252 übersetzt wiedergegeben wird (Tabelle 22): 171 6.2 Subjektive Wahrnehmung und objektive Messung Form Allgemeine Se‐ mantik Auswirkungen im Kontext • Die vorletzte Silbe ist „sehr tief “, die letzte noch ein wenig tiefer B- Schlusswirkung Bestätigend, ener‐ gisch • Die vorletzte Silbe ist „hoch“, die letzte noch ein wenig höher, ohne sehr hoch zu sein H / H Starke Hauptfort‐ setzung • Die letzten beiden Silben sind „hoch“ H H Hauptfortsetzung • Die letzten beiden Silben sind „sehr tief “ und können von einer leichten melodischen Be‐ wegung eingeführt werden / B B, B B, \ B B Nebenfortsetzung • Melodische Aufwärtsbewe‐ gung zur vorletzten, „hohen“ Silbe, Abfall zur letzten „tiefen“ oder „sehr tiefen“ Silbe H B, H B- Aufmerksamkeits- und Informations‐ fokus Wichtige oder neue Information, persönliche Invol‐ vierung der spre‐ chenden Person • Vorletzte Silbe „tief “, Aufstieg zur letzten Silbe („hoch“) B H Hauptfortsetzung Einladung zu einer Reaktion • Ton „sehr hoch“ H + H + Persönliche Invol‐ vierung der spre‐ chenden Person Überzeugung, wich‐ tige Information • Hoher Anfangston einer Ak‐ zentgruppe Anfangs‐ akzent Beginn einer Infor‐ mationseinheit Hervorhebung dieser Informati‐ onseinheit • Melodischer Anstieg kurz vor der Schlussbetonung („hoch“) und sofortiger Abfall für den „sehr tiefen“ Akzent …h B - B - Offensichtlichkeit für die sprechende Person Energisch • Melodischer Anstieg kurz vor der Schlussbetonung („hoch“) und leichter Abfall für den Ak‐ zent (ebenfalls „hoch“) …h \ H H Offensichtlichkeit für die zuhörenden Personen Erwähnung eines Konzepts Anhang Hintergrundinfor‐ mation Zusätzliche Infor‐ mation Tabelle 22: Die Konturen der Intonationsgruppen und ihre Bedeutung in abendländi‐ schen Zivilisationen (nach Mertens, 2009) 172 6 Akzent und Akzentuierung: eine französische Besonderheit 253 Als oxyton bezeichnet man Wörter, die auf der letzten Silbe betont sind. Bei Mertens handelt es sich nicht wie bei Delattre um melodische Formen sondern um Tonhöhenunterschiede, die sich aus dem Vergleich der unakzen‐ tuierten und akzentuierten Silben ergeben. Großbuchstaben bezeichnen den Ton akzentuierter und Kleinbuchstaben denjenigen nicht akzentuierter Silben. Kleinere melodische Bewegungen sind durch Schrägstriche gekennzeichnet: / symbolisiert eine leichte Aufwärts-, und \ eine leichte Abwärtsbewegung. Der Ton „sehr hoch“ (H + ) ist in jedem Falle ein Zeichen der persönlichen Involvierung der sprechenden Person. Ist in einer Folge zweier Intonationsgruppen der Ton (das heißt, der Ton des Gruppenakzents) der zweiten Gruppe höher als der der ersten, so stehen die beiden in einem hierarchischen Verhältnis und die zweite Gruppe ist wichtiger als die erste. In allen anderen Fällen sind die beiden aufeinanderfolgenden Intonationsgruppen gleichgestellt. Akzent und Intonation stehen in einer engen, untrennbaren Verbindung miteinander. Der Ton charakterisiert in dem Modell von Mertens die verschiedenen Intonationsgruppen und etabliert unter ihnen eine hierarchische Ordnung. Die Intonation spiegelt dabei nicht wie bei Martin die Syntax wider (vergl. Kapitel 5), sondern unterstreicht durch ihre Verbindung mit der Akzentuation den Sinn einzelner Passagen oder die allgemeine Semantik der Aussage. Mobilität und Wahrscheinlichkeit des Akzents im Französischen Ein anderes Konzept bietet die accentuation probabilitaire, die Wahrschein‐ lichkeit eines möglichen Akzents. Besonders Ivan Fónagy hat von 1980 an diesem Ansatz gearbeitet und damit eine neue Sicht auf die in der Regel als strikt okzytonisch 253 beschriebene Akzentuierung der französischen Sprache erlaubt. Das Konzept Fónagys betont die relative Beweglichkeit des französischen Akzents, die für ihn dessen wichtigste Eigenart darstellt (Fónagy, 1980). Der Begriff Mobilität hat dabei für Fónagy einen besonderen Sinn. In vielen Sprachen, wie dem von Fónagy als Beispiel zitierten Italie‐ nischen, aber auch im Französischen, kann eine Akzentverschiebung eine Sinnveränderung auslösen, da sie dem Hörer oder der Hörerin eine anders geartete syntaktische Struktur suggeriert. Der französische Akzent kann aber ebenso an verschiedenen Stellen eines Satzes auftreten, ohne dass sich die Bedeutung fundamental ändert, und ohne dass diese Verschiebung von Muttersprachlern und Muttersprachlerinnen als auffallend bezeichnet würde. Fónagy zitiert als Beispiel einen 1954 in Budapest mit fünf Personen 173 6.2 Subjektive Wahrnehmung und objektive Messung französischer Muttersprache durchgeführten Test. Sie sollten bestimmen, ob in den folgenden Sätzen ein unterschiedlicher Akzent erkennbar sei: … il est plus pur que l’autre und il est plus pur que l’autre Une nouvelle période… und Une nouvelle période la vie mondaine … und la vie mondaine … Ces eaux monotones und Ces eaux monotones Die fünf befragten Personen verneinten diese Frage übereinstimmend. Beide Versionen kamen ihnen natürlich vor, die leichte Betonungsverschiebung und damit verbundene emphatische Akzentuierung wird nicht als entscheidend realisiert, sondern unbewusst und automatisch als Informationsgehalt der Aussage aufgenommen. Dieses Ergebnis erinnert an die Antworten der eingangs in diesem Kapitel zitierten Umfrage, in der die Meinungen, ob die Akzentuation der verschiedenen Sprecher und Sänger text- oder gefühlsbestimmt sei, doch recht heterogen sind. Die Aufmerksamkeit der Personen, die im Fall der Umfrage auf die Frage des akzentauslösenden Motivs gelenkt war, tendieren zwar bei den gesprochenen Formen eher zu einer kognitiven, textbestimmten Ursache und für die deutlicher musikalisch-melodischen Formen für eine emotionale Ursache, doch scheinen, wie oben erwähnt, diese Angaben auch auf ästhetischen Grundsätzen und manchmal sogar Klischees zu beruhen. Eine derartige Überlegung findet sich auch in der Schlussfolgerung Fónagys, dass die Tatsache, ob ein Wort mit einem okzytonischen Akzent realisiert wird oder nicht, letztendlich von seiner Stellung innerhalb des Syntagmas, von seinem semantischen Wert oder Gewicht für den Inhalt und von den Umständen und der Gattung der Äußerung abhängt (Fónagy, 1980). Die Realisierung eines Akzentes auf einer bestimmten Silbe ist damit in Hinblick auf all diese einfluss‐ ausübenden Faktoren mehr oder wenig wahrscheinlich für eine bestimmte Silbe innerhalb einer Wortgruppe oder eines Satzes. In demselben Maße kann ein Akzent als für den Ausdruck bestimmter (faktueller oder emotionaler) Inhalte für als mehr oder weniger wahrscheinlich angesehen werden, ganz wie dies 174 6 Akzent und Akzentuierung: eine französische Besonderheit offenbar bei den französischen Umfrageteilnehmern und Teilnehmerinnen der Fall war. Von den Prosodisten werden in den letzten Jahrzehnten verschiedene Typen von Akzentgruppen genannt, wobei Nomenklatur und Bedeutung häufig in Konkurrenz stehen. Das prosodische Wort (mot prosodique) entspricht bei Philippe Martin einer Minimaleinheit mit einem Schlussakzent. Piet Mertens spricht für dieselbe Gruppierung von syntagme accentuel. In den Arbeiten zum Englischen dagegen wird dieser Begriff sehr flexibel verwendet und kann sogar einer Einheit entsprechen, die kleiner als das Wort ist (vgl. Di Cristo, 2016: 38). Als Fuß (pied) wird eine akzentuierte Silbe mit einer (begrenzt möglichen) Anzahl sie umgebender unakzentuierter Silben bezeichnet. Das heißt, dass hier die akzentuierte Silbe sowohl am Anfang und in der Mitte, als auch am Schluss der Gruppe stehen kann. Albert Di Cristo (2016) schlägt vor, für das Französische die von Paul Garde vorgeschlagene Unterscheidung in unité accentuelle (Akzenteinheit) und groupe accentuel (Akzentgruppe) beizubehalten. Die erste entspricht für ihn dem pied und die zweite dem mot prosodique. Verschiede Gruppierungsmuster ergeben sich, wenn, wie bei Di Cristo (2016:  41) vorgeschlagen, die vorgeschlagenen Ansätze als drei hierarchische Akzentniveaus angesehen werden: • Niveau 1: der Fuß (pied), • Niveau 2: das prosodische Wort (mot prosodique) oder Akzentsyntagma (syntagme accentuel), • Niveau 3: das Intonationssyntagma (syntagme intonatif). Ohne auf alle Feinheiten der von Di Cristo dargelegten Überlegungen einzu‐ gehen, scheint es von Nutzen, seine Tabelle zu zitieren, aus der die laut den neueren Forschungen für verschiedene Akzenttypen und Positionen einge‐ setzten Mittel hervorgehen. Die Tabelle 23 nennt die französischen Originalbe‐ griffe mit deutscher Übersetzung: 175 6.2 Subjektive Wahrnehmung und objektive Messung MELODICITE / Melodik ↓ ACCENTUATION IN‐ ITIALE / Anfangsakzent ACCENTUATION FINALE / Schluss‐ akzent Non-em‐ phatique Nicht em‐ phatisch Empha‐ tique Empha‐ tisch Pied / Fuß Syntagme accentuel / Akzentsyn‐ tagma Syntagme intonatif / Intonations‐ syntagma Ton haut / Hoher Ton + - + + - Ton extra-Haut / Sehr hoher Ton - + - - - Ton bas / Tiefer Ton - - - + - Contour / Kontur - - - - + ALLONGEMENT / Verlängerung ↓ Attaque / In An‐ fangsposition + + - - - Rime / In Schluss‐ position - - - + + INTENSITÉ / Inten‐ sität - + - - - AUTRES / Andere Micro pause / Mikro‐ pause Coup de glotte / Glottis‐ schlag Tabelle 23: Synthese der im Französischen für die Realisierung von Anfangs- und Schlussakzent eingesetzten Parameter, nach Albert Di Cristo (2016: 48) Die Auswahl der in diesem Kapitel vorgestellten Konzepte spiegelt selbstver‐ ständlich nur einen geringen Teil der zum französischen Akzentsystem vorlie‐ genden Arbeiten wider. Auswahlkriterium war ein spürbarer Bezug entweder zu der (mit modernen Methoden fortgeführten) Tradition der Grammatiker alter Zeiten (Rousseau - Hjelmlev - Garde - Fónagy) oder aber zur Verwendung 176 6 Akzent und Akzentuierung: eine französische Besonderheit 254 „Mais l’accent qu’ils appellent naturel & de Grammaire, est toûjours sur la penultiéme, ou sur la derniere syllabe des mots. Ceux qui sont sur les précedentes, sont appellez accens de Rhetorique, & n’empeschent pas que l’autre ne soit toûjours sur l’vne des deux dernieres“, Arnauld & Lancelot (16660: 17). einer musikalisch oder poetisch geprägten Metasprache (Rousselot - Marichelle - Mertens - Di Cristo). 6.3 Akzent und Ausdruck Aus den vorhergegangenen Beschreibungen wurde deutlich, dass eine beson‐ dere Schwierigkeit der Erklärung des französischen Akzentsystems in seiner Flexibilität begründet liegt. Hinzu kommt die relativ schwache Ausprägung der prosodischen Parameter in der nicht-emphatischen Realisierung des Akzents. Für die Grammatiker des 16. und 17. Jahrhunderts stellte sich zudem erst einmal das grundsätzliche Problem, die Abweichungen des Französischen vom Lateinischen und Griechischen mit ihrem melodischen Akzent zu verstehen. Lange Zeit mischen sich in den französischen Grammatiken in von der Tradition geprägte Beschreibungen für die Realisierung des im Schriftbild mit einem accent aigu, accent grave oder accent circonflexe bezeichneten Vokals Bemer‐ kungen, die einen emotional begründeten Akzent betreffen. In der Beschreibung des Hebräischen, wie sie sich in der Grammaire générale et raisonnée (Arnauld & Lancelot, 1660) findet, sind Wort- und emphatischer Akzent erwähnt und offenbar kumulativ: Der Wortakzent befindet sich auf der vorletzten oder letzten, und der rhetorische Akzent auf einer vor dem Wortakzent befindlichen Silbe. 254 Der melodische Akzent existiert laut den Autoren der Grammaire générale et raisonnée, aber er wird unabhängig von der Beschreibung dieser beiden Akzenttypen präsentiert. Letztlich bleibt offen, ob eine Verknüpfung von Ort und Mittel der Akzentuierung zu erstellen ist oder nicht. Erst im 18. Jahrhundert finden sich detailliertere Beschreibungen, und beson‐ ders die Klassifizierung von Pierre-Joseph Thoullier D’Olivets (1736) wurde lange Zeit in den französischen Texten tradiert. D’Olivet unterscheidet fünf Akzenttypen, die in Tabelle 24 zusammengefasst sind: 177 6.3 Akzent und Ausdruck 255 Die Quantität ist in D’Olivets Aufstellung nicht erwähnt. Da jedoch im Unterschied zu accent aigu und accent grave der accent circonflexe nur auf einer langen Silbe realisiert werden kann, spielt die Quantität eine Rolle, ohne eigens erwähnt zu werden. 256 Idem. Die Quantität ist nicht eigens erwähnt, kann aber als Parameter aus den Beschreibungen der Einzelfälle geschlussfolgert werden. Akzenttyp Auswirkung Disziplin und Trag‐ weite Prosodische Parameter Auf die Schrift Auf den Klang Accent pro‐ sodique x x Alle Sprachen, in denen typographi‐ sche Akzente ver‐ wendet werden Tonhöhenvariation gemäß dem Schriftbild (accent aigu / grave / cir‐ conflexe), Quantität 255 Accent ora‐ toire x Alle Sprachen Melodie, Intensität und Quantität 256 Accent mu‐ sical x Gesang Melodie Accent na‐ tional x Personen, die einen Dialekt oder in einer Fremd‐ sprache sprechen Vokaltimbre, Quantität, Melodie Accent im‐ primé x Schriftbild, spra‐ chenabhängig Zeigt im Schriftbild den accent prosodique an (Melodie und Quantität) Tabelle 24: Die fünf verschiedenen Akzenttypen nach D’Olivet (1736) Die in der Tabelle verwendeten französischen Bezeichnungen für die Akzente entsprechen den von D’Olivet verwendeten. Es handelt sich dabei jedoch keinesfalls um eine einheitliche zeittypische Metasprache. Nicolas Beauzée, der D’Olivet ausgiebig in seiner Grammaire générale von 1767 zitiert, hat wohl die aus der Vielzahl der Bezeichnungen entspringende Gefahr einer Verwirrung der verschiedenen Erklärungen gespürt. Er versucht, ganz wie es dem Anspruch einer grammaire générale entspricht, die verschiedenen Traditionen zusammen‐ zufassen. Für das Französische reduziert er die Anzahl der Akzente auf zwei: den accent prosodique und den accent oratoire. Der erste interveniert auf Silbenniveau und ist sprachenabhängig. Der zweite dagegen ist universell und verändert die Substanz der gesamten Aussage, da er von ihrem Sinn und emotionalem Gehalt bestimmt wird (vgl. Schweitzer & Dodane, 2020). 178 6 Akzent und Akzentuierung: eine französische Besonderheit 257 „Nous avons pourtant aussi élevement & abaissement de la voix dans notre manière de parler, & cela indépendamment des autres mots de la phrase; ensorte que les syllabes de nos mots sont élevées & baissées selon l’accent prosodique ou tonique, indépendamment de l’accent parthétique, c’est-à-dire, du ton que la passion & le sentiment font donner à toute la phrase. […] Cet accent prosodique, qui ne consiste que dans l’élevement ou l’abaissement de la voix en certaines syllabes, doit être bien distingué du ton pathétique ou ton de sentiment“, Du Marsais (1751). 258 Die in Kapitel 5 erwähnte, von Léonce Roudet beschriebene intonation émotionnelle zeigt die Nähe von Intonation und Emotion ebenfalls mit großer Deutlichkeit. 259 „La voix humaine est si flexible, qu’elle prend naturellement, & sans effort, toutes les formes propres à caractériser la pensée, ou le sentiment“, D’Olivet (1736: 26). Die Unterscheidung von Wortakzent und Emphatischem Akzent Diese Unterscheidung war jedoch nur auf der Grundlage eines vorhergehenden Schrittes möglich, der sich seit Langem in den Grammatiken anbahnt, aber erst bei César Chesneau Du Marsais in seinem dem accent gewidmeten Artikel der Encyclopédie (1751) klar definiert wird. Der Autor gibt hier dem sprachen‐ typischen Akzent den Namen accent prosodique ou tonique und erklärt, dass er aus einer melodischen Variation auf der entsprechenden Silbe besteht. 257 Von ihm ist der accent pathétique zu unterscheiden, der laut der Beschreibung Du Marsais eher dem ton, das heißt dem von einer Leidenschaft oder einem Gefühl geprägten Tonfall entspricht und sich in größeren Einheiten wie ganzen Sätzen bemerkbar macht. 258 Wenn die Parameter, durch die sich ein Akzent manifestiert, auch variabel und komplex sind, so beruht dieser doch immer auf einer Modulation der menschlichen Stimme, die zu einer unendlichen Anzahl von - wie es scheint - außerordentlich feinen Modulationen fähig ist. Bei jeder stimmlich gesunden Person, mit oder ohne professionelle vokale Ausbildung, passt sich die Stimme automatisch und perfekt an jede Nuance der von ihm empfundenen Emotionen an. Bereits D’Olivet (1736) stellt zu Recht fest, dass die menschliche Stimme so biegsam ist, dass sie sich von selbst und ohne jegliche Anstrengung ent‐ sprechend den Gedanken und Gefühlen moduliert, die der Sprecher oder die Sprecherin auszudrücken versuchen. 259 Diese Biegsamkeit der Sprechstimme erinnert an die typischen Eigenschaften einer Gesangsstimme: In beiden Ausdrucksformen, Sprache und Gesang, bildet die Modulation der Stimme, der Akzent, eine grundlegende und natürliche Form des Ausdrucks. Darum bezeichnen Autoren wie Jean-Jacques Rousseau den Ak‐ zent als die älteste und engste Verbindung zwischen der (menschlichen) Sprache und der Musik. Der Akzent repräsentiert die Facette der Stimme, die dem Aus‐ druck dient oder, anders gesagt, er ist das Zeichen einer emotionalen Beteiligung der sprechenden Person am Sprechakt selbst. Diese Feststellung trifft das Wesen 179 6.3 Akzent und Ausdruck 260 „Lorsque l’accent est poussé fort loin dans le mouvement d’une passion véhémente de douleur ou de joie, il devient assez sonore pour se convertir presque tout-à-fait en chant“, De Brosses (1765: 164). selbst des oratorischen Akzents und der intuitiv oder absichtlich generierten Stimmmodulationen, die ein Zeichen der Subjektivität der sprechenden Person sind. Laut Charles De Brosses (1765), einem Zeitgenossen Rousseaus, kann der oratorische Akzent so stark sein, dass sich die Sprechstimme beinahe in die Singstimme verwandelt. 260 Im barocken Rezitativ, in Arien und in Chansons, die häufig wechselnde Leidenschaften ausdrücken, sind durch die Häufung der Akzente Sprache und Gesang derart nahe, dass sie teils kaum noch voneinander unterschieden werden können. Auch Ivan Fónagy (1983) spricht von der Musikalität der Gefühle ausdrü‐ ckenden Sprache. Für ihn stellt eine emotionale, melodische Veränderung eines Satzes, das heißt, eine Änderung des ton oder die Hinzufügung von melodischen Akzentuierungen, eine Transformation dar. Sie wird von den grammatischen Regeln der verwendeten Sprache bestimmt, und ist dennoch so universell, dass sie in die europäische Kunstmusik übertragen werden konnte, und dies nicht nur in Vokalkompositionen, sondern auch in nicht textgebundene Instrumentalmusik. Fónagy (1983: 128) vergleicht dazu die Stimmmodulation der Sprechstimme eines ungarischen ängstlichen Kindes mit einer Passage aus Wolfgang Amadeus Mozarts Zauberflöte, in der Papageno seine Angst äußert („O wär‘ ich eine Maus, wie wollt’ ich mich verstecken! “) und stellt fest, dass in beiden Fällen der Stimmambitus und die melodischen, von der Stimme be‐ schriebenen Intervalle beträchtlich diminuieren. Gleichzeitig verschnellert sich das Sprechbeziehungsweise Singtempo. Dasselbe kompositorische Vorgehen erwähnt Fónagy für zwei Stellen aus Pelléas et Mélisande von Claude Debussy (vgl. Bsp. 44) und greift dabei auf ein französisches Beispiel zurück. Es handelt sich um die Sätze „J’entends parler derrière cette porte“ (4. Akt, 1. Szene) und „Parle plus bas: Que font-ils? “ (3. Akt, 4. Szene). Akzent und Stimme im 20. Jahrhundert Für Fónagy (1983: 129) suggerieren Melodie und Intonation eine körperliche Haltung. Angst löst zunächst den Reflex aus, sich zusammenzukauern und sich zu verstecken: Die Tonbewegungen ziehen sich zusammen und werden immer enger. Gleichzeitig löst Angst einen Fluchtreflex aus: Das Tempo verschnellert sich. Diese auf der Konzeption der sprachlichen und musikalischen Ästhetik der klassischen europäischen Kunstästhetik beruhende Einschätzung (vgl. Ka‐ 180 6 Akzent und Akzentuierung: eine französische Besonderheit 261 Ausnahmen bilden selbstverständlich die kleinen Anfangs- und Schlussformeln, aber auch, bei sehr langen rezitierten Passagen, eine leichte Änderung in der Zeilenmitte, vgl. auch Bsp. 46. 262 Vgl. Tabelle 1, Kapitel 1. pitel 2) findet ihre Bestätigung in der Tradition des recto tono. Entsprechend der linguistischen Bedeutung einer Reihe von mehreren, mit exakt derselben Tonhöhe ausgesprochenen Silben, versteht man unter diesem Begriff in der Musik eine Melodie auf einem einzigen Ton. Bereits in der mittelalterlichen Psalmodie und in Kirchengesängen spielt der recto tono eine große Rolle: Er erlaubt die Rezitation von Zeilen beliebiger Länge und Silbenanzahl auf ein- und derselben melodischen Linie nach dem Muster: eventuelle Eingangsformel, recto tono (je nach Silbenanzahl) und Schlussformel (vgl. Bsp. 45). Im Chanson des 20. und 21. Jahrhunderts wird der recto tono meist auf Tönen einer mittleren, der Sprechstimme nahen Tonlage verwendet. Dabei muss die Folge nicht statisch sein, wie es in der Psalmodie mit ganz wenigen Ausnahmen 261 der Fall ist, sondern die Melodie kann die Intonation der Sprech‐ stimme imitieren, das heißt, kleine Abweichungen nach oben und nach unten markieren. Häufige Tonwiederholungen und die Beschränkung auf einen äu‐ ßerst geringen Ambitus sind allerdings quasi obligatorisch. In dem von den Umfrageteilnehmern beurteilten Chanson „Les Corbeaux“ verwendet Léo Ferré diese Technik gleich zu Beginn. Der erste eindeutig auf einer anderen Tonhöhe gesungene Ton befindet sich am Ende der vierten Gedichtzeile (auf défleurie). Die Bezeichnung der verwendeten Stimme als „zwischen Singen und Sprechen“ (33 Mal) und „eher gesprochen“ (24 Mal) vor „beinahe gesungen“ (17 Mal) und „gesungen“ (9 Mal) 262 findet hier eine logische Erklärung: Die Technik des recto tono beruht bei Ferré auf den für die Sprechstimme typischen leichten Tonhöhenbewegungen, sie erinnert an die Gleichförmigkeit und Ritualität der Rezitation religiöser Texte und sie integriert eindeutig gesungene, und damit durch den Klang einer emotionell konnotierten Stimme hervorgerufene Gefühle. Die große Nähe zur Sprechstimme erlaubt dabei eine lebendige Phra‐ sierung und eine rhetorische Deklamation des Gesangs. Die Vorliebe der modernen Chansonsänger und Sängerinnen für die Interak‐ tion von Gesangs- und Sprechstimme hängt sicher mit der Nähe des Chansons zur gesprochenen Erzählung zusammen. Nicht nur der in der Regel einfache und vom Sprechduktus bestimmte Rhythmus, sondern auch die Nivellierung der melodischen Komponente tragen dazu bei, die wenigen intonatorischen Akzente zu verstärken. Ein anscheinend gesungenes Wort kann ebenso von Eigenschaften der Sprechstimme kontaminiert sein, wie eine scheinbar gespro‐ chene Passage von gesungenen Tönen unterbrochen werden kann. Die seit 181 6.3 Akzent und Ausdruck 263 „Les analogies évidentes entre les formes mélodiques de la parole émotive et celles qu’on retrouve dans la musique européenne montrent la profondeur de la régression. L’intonation nous conduit, semble-t-il, vers l’époque précédant la séparation de la musique et de la parole“, Fónagy (1983: 149). 264 Hier nur zwei Beispiele: Monika Sokol (2011: 73) erläutert: „Als prosodische Elemente oder Suprasegmentalia werden die lautlichen Gegebenheiten bezeichnet, die sich über den Einzellaut (Phonem, Allophon) und die Silbenstruktur hinaus artikuliert finden. Hierzu gehören die Resultate unterschiedlicher Intonationsstrategien wie Akzent (Betonung), Tonhöhe (Melodie), Längung und Intensität (Lautstärke).“ Aus dem Jahre 2011 stammt die Erklärung von Elissa Pustka, dass die Prosodie als „Sammelbegriff für suprasegmentale lautliche Phänomene, die akustisch der Tonhöhe, der Lautstärke und der Dauer entsprechen“ definiert werden kann (2011: 130). dem 19. Jahrhundert als künstlerische Ausdrucksformen definierte Technik des recto tono sowie die in Deutschland häufiger anzutreffende Bezeichnung Sprechgesang verweisen in diesem Sinne auf die antike Zeit, in der der Vortrag von Poesie und Gesang einander noch extrem nahestanden (vgl. Kapitel 1). An dieser Stelle scheint es sinnvoll, noch einmal Ivan Fónagy zu zitieren, für den die Prosodie ein Überbleibsel einer archaischen Phase der Sprachentwick‐ lung bildet. Er betont, dass die Prosodie eines der am tiefsten angesiedelten, die menschliche stimmliche Äußerung ausmachenden Elemente bildet, und dies selbst im Fall schwerwiegender, von Krankheiten oder psychischen Schäden hervorgerufenen Sprachregressionen: Die offensichtlichen Analogien zwischen den melodischen Formen der emotionalen Sprache und denen in der europäischen Musik zeigen die Tiefe der Regression. Die Intonation scheint uns zurück in die Zeit vor der Trennung von Musik und Sprache zu führen. (Fónagy, 1983) 263 Akzent, Prosodie und Suprasegmentalia Für Fónagy (1983: 148) steht damit fest, dass sich die prosodischen Elemente der Sprache, und in besonderer Weise die Intonation, von den segmentalen Elementen wie den Phonemen unterscheiden, in denen die gestische Substanz der Laute neutralisiert und durch den arbiträren Charakter des linguistischen Zeichens ersetzt wird. Doch ist die Prosodie damit gleich ein suprasegmentales Phänomen? Ausgehend von der amerikanischen, und zunehmend auch in der deutschen Literatur, 264 ist diese Zuschreibung mittlerweile eine lange Gewohnheit. Als Suprasegmentalia werden in der Regel die sprachlichen Merkmale bezeichnet, die sich auf Einheiten beziehen, die größer als ein Laut oder ein Phonem sind. Der Begriff will deutlich machen, dass die mit ihm verbundenen Phänomene 182 6 Akzent und Akzentuierung: eine französische Besonderheit nur auf der Basis der Segmentalia, der Phoneme, realisiert werden können und damit immer den Laut in seinem Kontext betreffen. Dieselbe Interpretation hat das Wort Prosodie in der britischen, auf John Rupert Firth (1890-1960) zurückgehenden Londoner Schule. In Frankreich bezeichnet das Wort prosodie heute eine Unterdisziplin der Phonetik und der Phonologie, in der die prosodischen Merkmale einer Sprache studiert werden. Dazu zählen hauptsächlich Akzent, Tonhöhe und Tonhöhen‐ entwicklung, Intonation und Satzmelodie, Rhythmus und Quantität, Pausen, Tempo und der (zum Beispiel durch Pausen und Akzenthäufigkeit beeinflusste) Sprachfluss. Die prosodie findet damit Entsprechungen und Überschneidungen in und mit den englischen Begriffen prosodics, suprasegmental phonetic oder prosodic phonology. David Crystal (1991) beispielsweise definiert die Supraseg‐ mentalia als eine Kombination von Prosodie und paralinguistischen Elementen. Es ist deutlich, dass der Begriff der Suprasegmentalia vor allem auf der laut‐ übergreifenden Dimension der prosodischen Merkmale insistiert. Sie zeigen sich auf akustischer Ebene in Form von messbaren Werten wie der Grundfrequenz oder der Intensität und auf temporeller Ebene durch diejenigen der Dauer von Sprachsegmenten und Pausen. Dies erinnert zunächst an die Arbeiten der ersten Phonetiker und die hier ansatzweise beschriebenen Versuche von Jean-Pierre Rousselot, Fauste Laclottes, Hector Marichelle und Léonce Roudet. Die Prosodie nimmt dagegen eine weitere Dimension in Augenschein: Die segmentale Ebene der Sprachlaute oder Silben kann synchron mit oder unabhängig von der suprasegmentalen Ebene gestaltet sein. Dies zeigt in besonderer Weise das Beispiel des Akzents. Der bewegliche, flexible Akzent kann im Französischen auf mehr als eine einzige Silbe eines bestimmten Wortes fallen. Sein Auftreten richtet sich nach kontextuellen Kriterien, deren Wahrscheinlichkeit zwar in etwa kalkulierbar, aber nie endgültig vorhersehbar ist, und dessen Verschiebung oder Ausbleiben bei einer Person französischer Muttersprache oft keinerlei Erstaunen auslöst. Der emphatische Akzent kann mit dem im Zusammenhang einer Akzentgruppe flexiblen Wortakzent zusammenfallen und diesen damit verstärken; er kann aber auch dafür sorgen, dass der eigentliche Wortakzent praktisch unfühlbar wird. Damit zeigen sich Auswirkungen der Akzentuierung sowohl auf der seg‐ mentalen wie auch auf der suprasegmentalen Ebene. Diese Aussage scheint die, sicherlich noch recht vage formulierten, Beobachtungen der alten Grammatiker zu stützen, die etwa die Kumulativität verschiedener Akzenttypen in einem einzigen Satz beschreiben (siehe Arnauld und Lancelot, 1660). Die Zweifel Albert di Cristos an der Stichhaltigkeit des Ansatzes, die Prosodie ausschließlich als ein suprasegmentales Phänomen zu betrachten, wurde bereits 183 6.3 Akzent und Ausdruck in Kapitel 3 zitiert. Indem Di Cristo auf das Paradox aufmerksam macht, prosodische Elemente wie die Töne gleichermaßen als Segmente und als Teil der Suprasegmentalia zu bezeichnen, spricht er ein ähnliches Phänomen wie das hier für den Akzent beschriebene an. Es scheint, dass zumindest für das Französische die komplette Gleichsetzung von Suprasegmentalia und Prosodie nicht völlig befriedigend ist. 184 6 Akzent und Akzentuierung: eine französische Besonderheit Zum Schluss Die vorliegende Untersuchung hatte zum Ziel darzustellen, wie in Frankreich seit dem 16. Jahrhundert das Wissen um die Prosodie der eigenen Sprache konstruiert wurde und welche Rolle dabei andere Disziplinen, insbesondere die Musik, gespielt haben und spielen. Es hat sich gezeigt, dass Musiktheorie und musikalische Praxis (und dabei besonders der Gesang als stimmliches Ausdrucksmittel) seit dem Beginn der französischen Grammatikschreibung im 16. Jahrhundert in stetiger Wechselwirkung mit dem Sprachdenken standen, und dies auf verschiedene Weise. Die europäische Kunstmusik zeigt seit Jahrhunderten eine Konventionalisie‐ rung bestimmter aus der Sprache abgeleiteten Melodieverläufe, Tempo- und Tonhöhenvorstellungen (vgl. Kapitel 2 und 6). Besonders Tonhöhe, Melodieform und Tempo werden mit verschiedenen Emotionen und Affekten in Verbindung gebracht, kodifiziert und bewusst von den Komponisten eingesetzt (vgl. zum Beispiel Kapitel 5). Dieselbe Vorgehensweise findet sich ansatzweise in den Dix Intonations de base du français von Pierre Delattre (Kapitel 1), in denen verschiedene Melodieformen gewissen Intentionen der sprechenden Person zu‐ geordnet sind. Dieser Ansatz wird noch weitaus deutlicher in den Überlegungen Pierre Léons zur Phonostylistik (Kapitel 2) und in denen Ivan Fónagys zum Lautsymbolismus (Kapitel 2 und 6). Bereits früh fanden auch stimmliche Tonhöhen und Farben, wie sie die Rhetorik lehrt, ihre Entsprechung nicht nur in den Kompositionen der verschie‐ denen Epochen und Stilrichtungen (Kapitel 2), sondern auch in der Darstellung verschiedener Sprechakte in den Grammatiken (Kapitel 1, 3 und 5) und, ab dem 20. Jahrhundert, in der Erklärung paralinguistischer Elemente wie bei Ivan Fónagy (Kapitel 5 und 6). Die rhythmischen Charakteristika der Musik dienten lange Zeit als Muster zur Wahrnehmung, Analyse und Klassifizierung von Vokalquantitäten, wobei die Verslehre der verschiedenen Silbenquantitäten und Metren eine entschei‐ dende Rolle spielt (Kapitel 2 und 4). Wenn all diese Themenbereiche und verschiedenen Elemente über die Jahrhun‐ derte hin sichtbar sind, so wechselt doch ihre Gewichtung. Die frühen Texte des 16. Jahrhunderts, die in den grammatikalischen und poetischen Disziplinen stark von den antiken Modellen beeinflusst sind, interessieren sich besonders für rhythmische Fragen, für Quantität und Metren. Einen Höhepunkt der Symbiose aller Disziplinen bilden in diesem Sinne die Arbeiten der Académie de poésie et de musique, die zwar keine konkrete Fortsetzung in den kommenden Jahrhunderten erfahren, aber den zukünftigen Theoretiker und Praktiker eine konkrete Lösungsmöglichkeit für die Übereinstimmung von Silbenlängen und musikalischen Rhythmen geben. Damit kann auch die Frage der Übereinstimmung von französischen Silben‐ längen mit dem lateinischen quantitativen Vorbild und der musikalischen Umsetzung dieser Silbenlängen gestellt werden. Die kommende Epoche, die in der Disziplin der Grammatik von zahlreichen Neuansätzen, und besonders der Geburt der grammaire générale gekennzeichnet ist, findet darauf durch die Verbindung des quantitativen Systems mit dem der Takthierarchie auch musikalisch neue Antworten. Zeitgleich mit dem Streit zwischen Jean-Philippe Rameau und Jean-Jacques Rousseau, der die Aufmerksamkeit auf die melodische Komponente der Musik legt, zeichnet sich in der Mitte des 18. Jahrhunderts auch in den grammatikali‐ schen Texten eine verstärkte Tendenz zu Überlegungen zu Perioden, typischen Melodieverläufen und Phrasenlängen ab. Damit wird das Interesse verstärkt auf die melodische und phraseologische Entwicklung gelenkt. Doch erst die romantische Schule des 19. Jahrhunderts rückt den bislang besonders in den Rhetoriken betrachteten emphatischen Akzent in den Mittel‐ punkt der Überlegungen. In den Texten der verschiedenen Disziplinen zeigen sich Konzeptualisierungsversuche, aber auch Freiheitsbestrebungen mit einem wachsenden Interesse für Spontaneität und Individualisierung des Ausdrucks. Diese vielfältigen Tendenzen münden gegen Ende des Jahrhunderts mit der Experimentalphonetik in eine wahre Leidenschaft für Messungen, Vorherseh‐ barkeit und die genaue Analyse jedes einzelnen Phänomens. Dabei ist auffällig, dass selbst in den experimentellen Ansätzen und Erklärungsmustern der musi‐ kalische Bezug nie verloren geht. Die gemeinsame, jahrhundertelang gepflegte Metasprache, aber auch die breite und meist interdisziplinäre (hier nur sehr am Rande dargestellte) Bildung der Autoren dieser Zeit trägt dazu sicher das Ihre bei. Wenn heute eine genauere Fachsprache und eine mehr technisch ausgelegte Forschungsbasis an der Tagesordnung sind, ist, wie an verschiedenen Beispielen gezeigt werden konnte, die französische Tradition eines musikalischen Bezugs in der Prosodieforschung immer noch lebendig. Während jedoch in Frankreich regelmäßig Publikationen zur französischen Prosodie erscheinen, ist dies Thema im deutschen Forschungsleben in dieser Art kaum vertreten. Prosodische Fragen werden hier hauptsächlich im Rahmen der Suprasegmentalia erforscht. Die verschiedenen Sichtweisen der Konzepte Prosodie, Suprasegmentalia, aber auch Akzent spiegeln sich international in einer großen Fülle an Publikationen wider, 186 Zum Schluss 265 „Dans la mesure […] où le cerveau occidental a baigné dans cette culture musicale depuis la naissance, nous avons naturellement intégré ces règles - sous un format implicite chez les non-musiciens et également sous un format explicite chez ceux qui ont fait des études musicales avancées. Tout un chacun est cognitivement équipé pour suivre les discours musicaux présents dans la plupart des compositions et pour apprécier de façon sensible les suspens et jeux avec les attentes qu’ils contiennent“, Bigand & Tillmann (2020: 141). die die Schwierigkeit, eine universelle, allgemein gültige und vor allem als befriedigend angesehene Definition der metasprachlichen Begriffe zeigt. Diese Vielfalt der Sichtweisen ist sicherlich ein Zeichen eines der Charakte‐ ristika, das die Prosodie nie verlassen hat: ihre Interdisziplinarität. Heute treten zu den seit Jahrhunderten an prosodischen Fragen interessierten Disziplinen wie Grammatik, Phonetik, Rhetorik, Poetik und Musik weitere hinzu, die zahlreiche und oft komplexe Kooperationen mit Forschern aus den Bereichen der Psychologie, Orthophonie und der Neurologie (um nur einige Disziplinen zu nennen) erlauben. Wie auch früher, so hat heute jede Richtung ihre eigenen Traditionen, Fragestellungen, Methoden und Forschungsbedürfnisse. Die Kompatibilität der zahlreichen Ansätze scheint am ehesten in auf technische, instrumental ausgelegten Messungen und Forschungen gegeben zu sein, während die mehr künstlerisch oder philosophisch ausgelegten Disziplinen nur schwer mit den auf Technik und numerische Datenbehandlung spezialisierten Wissenschaften zusammenarbeiten. Dabei scheint aber auch klar, dass die Messbarkeit der prosodischen Phänomene Grenzen hat. In diesem Zusammenhang erweisen sich die musikalischen Assoziationen und Rückbezüge oft als vorteilhaft, da sie der analytischen Facette diejenige der spontanen, musikalisch gefärbten Perzeption hinzufügt, die seit Jahrhunderten von den Forschern der verschiedenen Diszi‐ plinen als natürlich angesehen wurde. Emmanuel Bigand und Barbara Tillmann (2020) weisen darauf hin, dass ein Jeder und eine Jede von uns der musikalischen Rede der meisten Kompositionen ohne Anstrengung folgen kann, da wir von klein auf in die europäische Kultur eingetaucht sind. Wir haben damit diese Sprache völlig integriert. 265 Aber Musik ist nicht nur eine Sprache, sondern, wie Dorothea Sammler (2014) treffend schreibt, die Musik der Sprache ist „eine reiche Informationsquelle, die ‚zwischen den Zeilen‘ die Kommunikation maßgeblich beeinflusst“. Damit sind beide Disziplinen, die linguistische und die musikalische, unweigerlich und un‐ auflöslich miteinander verbunden. „Singen ist wie sich selbst befreien. Was nicht in Worte gefasst, aber dennoch nicht verschwiegen werden kann, das drückt 187 Zum Schluss 266 „Chanter, cela ressemble à se délivrer. Ce qu’on ne peut dire et ce qu’on ne peut taire, la musique l’exprime“, Hugo (1864: 120). die Musik aus“, sagt Victor Hugo (1864). 266 In der verbalen Kommunikation ist genau dies die Aufgabe der Musik der Sprache. 188 Zum Schluss Bibliographie Académie française (1694 1 ) (1718 2 ) (1740 3 ) (1762 4 ) (1798 5 ) (1835 6 ) (1878 7 ) (1935 8 ) (2019 9 ): Dictionnaire de l’Académie française. https: / / www.dictionnaire-academie.fr/ . Abromont, Claude & Montalembert, Eugène de (2001): Guide de la théorie de la musique. Paris: Fayard et al. Antonini, Annibale (1753): Principes de la Grammaire françoise. Paris: Duchesne. Aristoteles (2012): Poetik. Übers. Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Reclam. Arnauld, Antoine & Lancelot, Claude (1660): Grammaire générale et raisonnée. Paris: Le Petit. Arnauld, Antoine & Nicole, Pierre (1992 [1662]): La Logique ou l’art de penser. Paris: Gallimard. Auroux, Sylvain (1980): „Le rôle des reconstitutions dans l’histoire des sciences“. Linx HS 1, 160-168. 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Buffier, Claude 23, 45, 65 Caussade, François de 65, 109, 127 Certon, Pierre 65, 102, 104, 106, 109 Chabot-Canet, Céline 26, 57, 159f. Chiflet, R. P. Laurent 65, 75, 87, 92f., 95, 100f., 141f. Cicero, Marcus Tullio 28, 150 Corneille, Pierre 66, 88 Couperin, François 66, 113f. Cousu, Antoine de 66, 92ff. D’Alembert, Jean Le Rond 49, 67, 137, 142 D’Olivet, Pierre Joseph 13, 66, 77, 94f., 98, 111ff., 115, 177ff. De Brosses, Charles 66, 124, 180 Deimier, Pierre de 66, 86 De la Grasserie, Raoul 66, 78 Delattre, Pierre 34f., 54f., 66, 138, 140, 173, 185 Desarthe, Gérard 157 Di Cristo, Albert 66, 74, 79, 84f., 97, 114, 175ff., 183f. Dorfeuille, Pierre-Paul Gobet, dit 49, 66 Du Bellay, Joachim 40f., 66 Du Bos, Abbé 67, 127f. Dubroca, Louis 52, 67 Du Marsais, César Chesneau 45, 65, 67, 179 Dupuis, Sophie 67, 78 EleMC Musique 157f., 163f. Ferré, Léo 26, 57, 59, 65, 157ff., 181 Fónagy, Ivan 30ff., 55f., 67, 117, 141, 149f., 173f., 176, 180, 182, 185 Gainsbourg, Serge 90f. Garçon, Michel 157f., 163f. Garde, Paul 67, 169f., 175f. Girault-Duvivier, Charles-Pierre 67, 78 Grammont, Maurice 20, 54, 67, 83f., 90, 109 Grand Corps Malade 116, 118, 120f., 157f. Grétry, André-Ernest-Modeste 24, 67 Grimarest, Jean-Léonor Le Gallois 16, 23f., 67, 135ff., 143 Guilliaud, Maximilian 67, 75, 92ff. Hotteterre, Jacques 67, 114 Irson, Claude 67, 94 Janequin, Clément 42, 102 Kahn, Félix 31f., 68 Lacépède, Etienne de 24, 68, 150 Laclotte, Fauste 68, 78f., 165f. Lamy, Bernard 45, 68, 138f., 143, 146 Lancelot, Claude 13, 23, 45, 49, 64, 68, 94f., 177, 183 Landais, Napoléon 24, 68, 142f., 145 La Touche, Pierre de 68, 100 Le Cerf de La Viéville, Jean-Louis 24, 46, 68, 137 Le Faucheur, Michel 28f., 45, 68 Le Forestier, Maxime 26 Le Gras 29, 68 Le Jeune, Claude 40, 88 Lesclache, Louis de 42f., 68 Loneux, Eugène 68, 94 Lully, Jean-Baptiste 24, 46, 48, 68, 136, 138, 143ff., 150 Lussy, Mathis 68, 95, 146-151 Magdics, Klara 31f., 69 Mansour, Michel 157f. Marichelle, Hector 13, 33f., 53, 69, 131, 151, 168, 177, 183 Marmontel, Jean-François 69, 109, 115 Martin, Philippe 69, 123, 132-135, 140, 173, 175 Mathéo, (Rapper) 157ff. Maupas, Charles 69f., 93, 95, 100 Meigret, Louis 32f., 69, 92-95 Mersenne, Marin 69, 76, 86, 104-107, 109 Mertens, Piet 69, 123, 138, 140, 170-173, 175, 177 Mesguich, Daniel 157f., 163f. Messiaen, Olivier 54f., 69 Momigny, Jérôme-Joseph de 27, 69, 88f., 93ff. Montmignon, Jean-Baptiste 21, 69, 76, 94f. Niedermeyer, Louis 69, 148, 150 Nougaro, Claude 90f. Oudin, Antoine 70, 76, 94f. Palsgrave, John 70, 75, 87 Passy, Paul Edouard 13, 70, 93ff. Platon 38 Ramus, Pierre de 22, 43, 70, 75, 92ff. Régnier-Desmarais, François-Séraphin 23, 45, 70 Reicha, Antoine 50f., 70, 140f. Rimbaud, Arthur 70, 156f., 159, 161f. Rion, Myriam Suzanne 41, 43 Ronsard, Pierre de 33, 41ff., 66, 70, 102ff., 106f., 109, 159 Roudet, Léonce 13, 33f., 53f., 70, 93ff., 131f., 134, 179, 183 Rousseau, Jean 70, 92ff. Rousseau, Jean-Jacques 11f., 47f., 51, 65, 67-70, 92-95, 127-132, 146, 150f., 169, 176, 179f., 186 Rousselot, Jean-Pierre 13, 33f., 53, 67f., 70, 78f., 83, 93ff., 125f., 151f., 165-168, 177, 183 Saint-Lambert 70, 114 Sammler, Daniela 20f., 187 Simon, Anne-Catherine 70, 117f., 122 Têtes raides 157f. Thériault, Gilles-Claude 157f. Thurot, Jean-François 38, 71, 127 Tillmann, Barbara 14, 26f., 30, 37, 59, 187 Tyard, Pontus de 42, 71, 86 Tyszler, Corinne 58f., 71 Vairasse d’Allais, Denis 13, 45, 71, 76, 94f., 110-113, 135, 151 Vairasse d‘Allais, Denis 111, 113, 135 Véron, Eugène 50, 71 Vertu, Auguste 157ff. Vuillaume, Jean-Dominique 13, 71, 146 201 Register TÜBINGER BEITRÄGE ZUR LINGUISTIK (TBL) Bisher sind erschienen: Frühere Bände finden Sie unter: https: / / www.narr.de/ linguistik-kat/ linguistikreihen-kat? ___store=narr_starter_de 548 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Zur Lexikographie der romanischen Sprachen Romanistisches Kolloquium XXVIII 2014, 276 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6912-7 549 Christian Discher Sprachkontakt, Migration und Variation: Die frankophone Integration von Rumänen in Paris nach 1989 2015, 272 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-6915-8 550 Cornelia Lorenz Zugezogene im Fokus Sprachkontakterscheinungen im Regiolekt 2014, 277 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-6918-9 551 Qiang Zhu Die Anmoderation wissenschaftlicher Konferenzvorträge Ein Vergleich des Chinesischen mit dem Deutschen 2015, 220 Seiten €[D] 49,99 ISBN 978-3-8233-6973-8 552 Birgit Umbreit Zur Direktionalität der lexikalischen Motivation Motiviertheit und Gerichtetheit von französischen und italienischen Wortpaaren auf der Basis von Sprecherbefragungen 2015, 370 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6971-4 553 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Christina Ossenkop, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Sprachvergleich und Übersetzung Die romanischen Sprachen im Kontrast zum Deutschen | XXIX. Romanistisches Kolloquium 2017, 436 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-6982-0 554 Tanja Anstatt, Anja Gattnar, Christina Clasmeier (Hrsg.) Slavic Languages in Psycholinguistics Chances and Challenges for Empirical and Experimental Research 2016, 315 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6969-1 555 Gaios Tsutsunashvili Adjektivischer Bedeutungswandel: Deutsch - Georgisch Eine gebrauchstheoretische Untersuchung mit strukturalistischen Ansätzen 2015, 212 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6994-3 556 Barbara Lux Kurzwortbildung im Deutschen und Schwedischen Eine kontrastive Untersuchung phonologischer und grammatischer Aspekte 2016, 377 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-6999-8 557 Benjamin Stoltenburg Zeitlichkeit als Ordnungsprinzip der gesprochenen Sprache 2016, 363 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8056-6 558 Lingyan Qian Sprachenlernen im Tandem Eine empirische Untersuchung über den Lernprozess im chinesisch-deutschen Tandem 2016, 366 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8057-3 559 Tingxiao Lei Definitheit im Deutschen und im Chinesischen 2017, 228 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-8092-4 560 Fabienne Scheer Deutsch in Luxemburg Positionen, Funktionen und Bewertungen der deutschen Sprache 2017, 416 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8097-9 561 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Claudia Polzin- Haumann, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Sprachkritik und Sprachberatung in der Romania Romanistisches Kolloquium XXX 2017, 427 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-8104-4 562 Martina Zimmermann Distinktion durch Sprache? Eine kritisch soziolinguistische Ethnographie der studentischen Mobilität im marktwirtschaftlichen Hochschulsystem der mehrsprachigen Schweiz 2017, 304 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8144-0 563 Philip Hausenblas Spannung und Textverstehen Die kognitionslinguistische Perspektive auf ein textsemantisches Phänomen 2018, 256 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-8155-6 564 Barbara Schäfer-Prieß, Roger Schöntag (Hrsg.) Seitenblicke auf die französische Sprachgeschichte Akten der Tagung Französische Sprachgeschichte an der Ludwig-Maximilians- Universität München (13. - 16. Oktober 2016) 2018, 558 Seiten €[D] 128,- ISBN 978-3-8233-8118-1 565 Vincent Balnat L’appellativisation du prénom Étude contrastive allemand-français 2018, 298 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8185-3 566 Silvia Natale Informationsorganisation und makrostrukturelle Planung in Erzählungen Italienisch und Französisch im Vergleich unter Berücksichtigung bilingualer SprecherInnen 2018, 212 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8209-6 567 Ilona Schulze Bilder - Schilder - Sprache Empirische Studien zur Text-Bild-Semiotik im öffentlichen Raum 2019, 227 Seiten €[D] 59,- ISBN 978-3-8233-8298-0 568 Julia Moira Radtke Sich einen Namen machen Onymische Formen im Szenegraffiti 2020, 407 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-8330-7 571 Melanie Kunkel Kundenbeschwerden im Web 2.0 Eine korpusbasierte Untersuchung zur Pragmatik von Beschwerden im Deutschen und Italienischen 2020, 304 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8364-2 573 Mario Franco Barros Neue Medien und Text: Privatbrief und private E-Mail im Vergleich 2020, ca. 750 Seiten €[D] 119,90 ISBN 978-3-8233-8377-2 574 Sofiana Lindemann Special Indefinites in Sentence and Discourse 2020, 250 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8381-9 575 Junjie Meng Aufgaben in Übersetzungslehrbüchern Eine qualitative und quantitative Untersuchung ausgewählter deutschchinesischer Übersetzungslehrbücher 2020, 206 Seiten €[D] 48,- ISBN 978-3-8233-8382-6 576 Anne-Laure Daux-Combaudon, Anne Larrory- Wunder Kurze Formen in der Sprache / Formes brèves de la langue Syntaktische, semantische und textuelle Aspekte / aspects syntaxiques, sémantiques et textuels 2020, 392 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8386-4 577 Bettina Eiber Wikipedia und der Wandel der Enzyklopädiesprache Ein französisch-italienischer Vergleich 2020, 473 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-8407-6 578 Lidia Becker, Julia Kuhn. Christina Ossenkop, Anja Overbeck, Claudia Polzin-Haumann, Elton Prifti (Hrsg.) Fachbewusstsein der Romanistik Romanistisches Kolloquium XXXII 2020, 327 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-8418-2 579 Lidia Becker, Julia Kuhn. Christina Ossenkop, Anja Overbeck, Claudia Polzin-Haumann, Elton Prifti (Hrsg.) Romanistik und Wirtschaft Romanistisches Kolloquium XXXIII 2020, 274 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-8420-5 580 Claudia Schweitzer Die Musik der Sprache Französische Prosodie im Spiegel der musikalischen Entwicklungen vom 16. bis 21. Jahrhundert 2021, 201 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-8493-9 www.narr.de TBL Tübinger Beiträge zur Linguistik Die Verwandtschaft von Sprache und Musik ist tiefgreifend. Beide werden ausdrucksstark durch dieselben Parameter, die wir als prosodisch oder musikalisch bezeichnen. Diese „Musik der Sprache“ wird immer dann deutlich, wenn Sprache klingt, sei es in gesprochener oder in gesungener Form. Dieser Band zeigt erstmals, wie in Frankreich seit dem 16. Jahrhundert prosodisches Wissen konstruiert wurde und welche Rolle dabei die Musik spielt. Die aufgezeigten theoretischen Grundlagen werden durch konkrete Beispiele verschiedener Jahrhunderte und Disziplinen (Linguistik, Poesie, Musik) verdeutlicht. 580 Schweitzer Die Musik der Sprache Die Musik der Sprache Französische Prosodie im Spiegel der musikalischen Entwicklungen vom 16. bis 21. Jahrhundert Claudia Schweitzer ISBN 978-3-8233-8493-9