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Wege, Lichtung, Horizont: Konstellationen des 'Essayistischen' in María Zambranos Claros del bosque und Octavio Paz' El mono gramático

2021
978-3-8233-9529-4
Gunter Narr Verlag 
Veit Lindner

Der Essay ist eine der wichtigsten literarischen Ausdrucksformen der Moderne. Doch er stellt die Literaturwissenschaft vor Herausforderungen, weil er sich eindeutigen Bestimmungen widersetzt. Die Arbeit beleuchtet das Phänomen als modernen Modus des Schreibens. Er umfasst eine Praxis, mit deren Hilfe Ich-Konstruktionen sowohl vollzogen, als auch problematisiert werden.

Veit Lindner Wege, Lichtung, Horizont: Konstellationen des ‚Essayistischen‘ in María Zambranos Claros del bosque und Octavio Paz’ El mono gramático Wege, Lichtung, Horizont: Konstellationen des ‚Essayistischen‘ in María Zambranos Claros del bosque und Octavio Paz’ El mono gramático Studia philologica Monacensia Edunt Andreas Dufter et Bernhard Teuber Volumen 19 · 2022 Comité scientifique - Advisory Board - Wissenschaftlicher Beirat Lina Bolzoni (Scuola Normale Superiore di Pisa) Anthony Cascardi (University of California at Berkeley) Pedro Cátedra (Universidad de Salamanca) Victoria Cirlot (Universitat Pompeu Fabra, Barcelona) Marie-Luce Démonet (Université François Rabelais, CESR, Tours) Carlos Garatea Grau (Pontificia Universidad Católica del Perú, Lima) Barbara Kuhn (Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt) Frank Lestringant (Université Paris-Sorbonne) María Jesús Mancho Duque (Universidad de Salamanca) Wolfgang Matzat (Eberhard-Karls-Universität Tübingen) Paulo de Sousa Aguiar de Medeiros (University of Warwick) Wolfram Nitsch (Universität zu Köln) Uli Reich (Freie Universität Berlin) Maria Selig (Universität Regensburg) Elisabeth Stark (Universität Zürich) Collegium consultorum Veit Lindner Wege, Lichtung, Horizont: Konstellationen des ‚Essayistischen‘ in María Zambranos Claros del bosque und Octavio Paz’ El mono gramático Die vorliegende Arbeit wurde im Jahr 2020 von der Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertation angenommen und erfolgreich verteidigt. © 2021 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Satz: pagina GmbH, Tübingen Druck: CPI books GmbH, Leck ISSN 2365-3094 ISBN: 978-3-8233-8529-5 (Print) ISBN: 978-3-8233-9529-4 (ePDF) ISBN: 978-3-8233-0338-1 (ePub) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® Umschlagabbildung: © Gregor Lindner Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. I. 11 II. 25 1 25 1.1 25 1.2 29 1.3 33 1.4 36 1.5 38 2 43 3 62 4 74 4.1 74 4.2 93 5 104 III. 115 1 115 1.1 117 1.2 148 1.3 155 1.4 165 Inhalt Eingang: Über Biblioklasmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Essay und das ,Essayistische‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Essay als Gattungsproblematik . . . . . . . . . . . . . . . . Das ,Essayistische‘ als Frage der Geisteshaltung . . . . . Das ,Essayistische‘ als Schreibweise? . . . . . . . . . . . . . . Eine Problematik der Formwerdung . . . . . . . . . . . . . . . Über den wissenschaftlichen Umgang mit dem ,Essayistischen‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der ,poetische Essay‘ in Spanien und Lateinamerika . . . . . . . Über Montaignes Essais - eine Apologie der Sinnesvermögen Das ,Essayistische‘ als ,Praxis‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbst und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Körperpraxis: Entkleidung und Demaskierung . . . . . . Die ‚Nähe‘ der Schrift: Der Weg als Abenteuer und Risiko. . . Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . María Zambrano: Claros del bosque . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zambrano - Heidegger - Derrida: Revisionen der Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eintritt in die Waldlichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine unmethodische Methode: Die ,dichterische Vernunft‘ als ,Lichtung‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Transgression und Entgrenzung: Die Performativität der Metapher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 169 1.6 177 2 187 2.1 191 2.2 200 2.3 211 2.4 220 2.5 237 2.6 249 2.7 259 IV. 293 305 Ähnlichkeit und Unbegrifflichkeit - die ‚redende Sprache‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das ,Essayistische‘ als Spiegelstadium: Im Pandämonium des Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica . . . . . . . . El mono gramático: Universum von Analogien, Meditation über den unmöglichen Ursprung . . . . . . . . Die Wege der poetischen Signifikation I: Die Kritik des Paradieses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Wege der poetischen Signifikation II: Die Kritik der Sprache und die Erfahrung der Wirklichkeit . . . . . Vision, Bild, Monogramm: Der Urzustand und das Paradox des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Sprache der Sprache lernen: Metapher, Analogie, Rhythmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Poesie und Prosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das ,Essayistische‘ als ,Textpraxis‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachklang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt Danksagung Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um eine überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im November 2020 an der Sprach- und Literatur‐ wissenschaftlichen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München ver‐ teidigt habe. Betreut wurde sie von Bernhard Teuber, für dessen Geduld und Einsatz während vieler Jahre ich zutiefst dankbar bin. Mit seiner reichen Erfah‐ rung, die er maßvoll einzusetzen vermochte, stand er mir zur Seite und pflegte dabei stets einen Umgang einer zu beiden Seiten hin offenen Tür: sie gewährt nicht nur freien Zugang, sondern dem Gastgeber auch die Freiheit, sie von innen zu öffnen, um den Gast wieder nach draußen zu geleiten. Bernhard Teubers große Neugier gegenüber unkonventionellen Ansätzen, die ansteckende fach‐ liche Begeisterung und sein großes Vertrauen kann ich nicht hoch genug schätzen. Sie boten mir Unterweisung ohne Zwang und verstanden dabei doch immer, die Augen für das Zwingende zu öffnen. Weitere akademische Lehrer, Förderer und Vertraute, die den Weg dieser Ar‐ beit mit dem unschätzbaren Wert ihrer Mahnungen und Ermutigungen begleitet haben, waren Martina Bengert, Vergil durch manch akademischen Kreis, Kurt Hahn, der das Korreferat übernommen hat, und Horst Weich. Allen schulde ich großen freundschaftlichen Dank. Franz Alto Bauer aus der Byzantinistik ver‐ danke ich wichtige Anregungen zur Gestaltung der Arbeit; unbedingt zu er‐ wähnen ist auch die tatkräftige Unterstützung durch Britta Brandt und Markus Wiefarn. Die Liste an Menschen, die sich in einzigartiger Weise um diese Arbeit ver‐ dient gemacht haben, ist lang; so bitte ich um Verzeihung, wenn sich nicht jeder Name auf dieser Seite finden kann. Seid versichert, dass ich dennoch niemanden vergessen habe. Ohne die große lebenslange Unterstützung, insbesondere meiner Eltern und meiner ganzen Familie, wäre das Projekt jedoch von vorn‐ herein zum Scheitern verurteilt gewesen. Und ohne Freunde, die mir auch in schwierigen Abschnitten Stab und Stütze waren, hätte sie nicht fertiggestellt werden können. Dank den alten Gefährten, den Studienbegleiterinnen und -be‐ gleitern und all denen, die in jüngerer Zeit Wegstrecken mit mir geteilt haben und mir eine Bank gewesen sind. Durch euer offenes Ohr in fachlichen, wie in privaten Belangen, habt ihr so manche Härten des Weges gemildert. Für die freundliche Zusammenarbeit danke ich schließlich auch Kathrin Heyng vom Narr Francke Attempto Verlag Tübingen. Hay escritores cuyas palabras parecen lanzarse en busca de las ideas; otros, cuyas ideas parecen esperar las palabras que las expresen. El encuentro de unas y otras, ideas y palabras, es muchas veces obra del azar. Hay escritores extaños - y no son los peores - en quienes la reflexión improvisa y la inspiración corrige. Juan de Mairena ¡Oh pluma, oh papel, oh libros, oh arte difícil! Alfonso Reyes 1 Vgl. R. de la Flor, Fernando: Biblioclasmo. Por una práctica crítica de la lecto-escritura. Junta de Castilla y León, Consejería de Educación y Cultura 1997, S. 51. I. Eingang: Über Biblioklasmus Es gibt ein Unbehagen in der Kultur, das sich weniger in Schuldgefühlen denn in einer großen Ermüdung ausdrückt: Seit den ersten Tagen des Humanismus haben wir Bücher auf Bücher gehäuft; nun irren wir durch einen Wald von Schriften, den zu überblicken, geschweige denn zu durchmessen längst nicht mehr möglich scheint. Gleich den Borgesianischen Bibliothekaren wandern wir im Labyrinth der Regale, erdrückt von der endlosen Masse an Büchern, für deren Lektüre ein Leben nicht ausreicht. Und mit jedem neuen Buch, das wir lesen, verstärkt sich der Eindruck, eigentlich überhaupt nichts gelesen zu haben. Dabei ist Lesen mühsam und zeitraubend. Warum sollten wir uns überhaupt darauf einlassen? Weder lässt sich die Bücherwelt im Ganzen durchdringen, noch können wir uns das Wissen auch nur eines einzigen Buches wahrhaft zu eigen machen. Kurz: Wir sind der Bücher und ihres Wissens überdrüssig geworden. Der spanische Literaturwissenschaftler und Essayist Fernando R. de la Flor hat nicht ohne Selbstironie ein Buch über den Niedergang der Buchkultur und den Bücherhass geschrieben. In Biblioclasmo bringt er einen der schwerwie‐ gendsten Vorwürfe gegen die Beschäftigung mit Büchern auf den Punkt: Je‐ mand, der lese und schreibe, lasse zwischen seinen Fingern eine große Zeitfülle hindurchgleiten, denn genau genommen sei die abstrahierte Zeit nicht gelebte Lebenszeit. Der Intellektuelle leide unter Entfremdung und Selbstausbeutung. 1 Mais il faut choisir, heißt es bei Sartre, vivre ou raconter. Dabei geht der biblio‐ klastische Impuls sowohl vom professionellen Lesenden als auch vom Kultur‐ fernen aus; auch ist er kein Phänomen unserer Epoche, sondern beinahe so alt wie die Verbreitung gedruckter Bücher selbst. Alfonso Reyes zitiert in einem als Monólogo del autor betitelten Schlussabschnitt seines Essays El suicida den hu‐ manistischen Gelehrten Francisco Cascales (1563-1642) mit einem verzwei‐ felten Wutausbruch gegen das Ungemach des Bücherstudiums: Oh Schriften! - schrieb er -; oh Hölle, oh Gemetzel, oh Tod der menschlichen Sinne - ob rot oder schwarz, denn gleichermaßen seid ihr alle! Wegen eures Rots seid ihr blutbefleckt, seid Mörder; und das Schwarz macht euch zu Symbolen des Trübsinns, der Trauer, der Mühe, des Elends. Wer hat mich veranlasst, mich mit euch einzulassen? Seit fünfzig Jahren folge und diene ich euch wie ein Sklave. Welchen Nutzen habe ich? 2 Reyes, Alfonso: El suicida. Obras Completas III. Mexico D. F.: Fondo de Cultura Econó‐ mica 1956, S. 291 (e. Ü.): „¡Oh letras! - escribía -; oh infierno, oh carnicería, oh muerte de los sentidos humanos - o seais rojas, o seais negras, que desta manera sois todas! Por lo rojo sois sangrientas, sois homicidas; por lo negro, soi símbolo de la tristeza, del luto, del trabajo, de la desdicha. ¿Quién me metió con vosotras? Cincuenta años ha que os sigo, que os sirvo como un esclavo. ¿Qué provecho tengo? ¿Qué bien espero? […] La elección de las letras desvanece los espíritus, ofusca la vista de los ojos, ofusca la vista de los ojos, encorva la espalda, enflaquece el estómago, compele a sufrir el frío, el calor, la sed, la hambre […] Y a los estudiosos los veréis cabizbajos, los ojos encarnizados, la frente rugosa, el cabello intonso, los carrillos chupados, las cejas encapotadas, la barba salvajina.“ 3 Barthes, Roland: Die Lust am Text. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, S. 63. Welches Gut kann ich erhoffen? […] Die Wahl der Schriften vernebelt den Geist, trübt die Sicht der Augen, verkrümmt den Rücken […] Und die Gelehrten werdet ihr nie‐ dergeschlagen sehen, mit blutunterlaufenen Augen, faltiger Stirn, ungeschnittenem Haar, eingefallenen Wangen, düsteren Brauen und wildem Bart. 2 Die topische Verdammung der ‚vanitas litterarum‛ richtet sich gegen die Ver‐ sündigung an der Natur und einen selbstmörderischen Tausch des Lebendigen gegen den Tod. Darin ist sie zunächst Polemik gegen die Proliferation der Bücher an sich. Die schiere Masse der typografischen Erzeugnisse verdeckt die von Gott im Buch der Natur dargelegten Erkenntnisse durch eine Flut fadenscheinigen und im Grunde überflüssigen Wissens. In moderner Ausprägung wird dieser Vorwurf zu dem der Langeweile schwieriger Lektüren gegenüber dem soge‐ nannten gesunden Menschenverstand mit seiner konsequenten Abwertung des Kontemplativen zugunsten des Praktischen. Zu dem Aspekt der Masse von Büchern tritt die Klage über den tautologischen Charakter ihrer Äußerungen. So bezichtigt etwa Roland Barthes nicht nur den Bücherbetrieb der ständigen Wiederholung des Immergleichen: „wiederholt werden die Inhalte, die ideologischen Schemata, die Verkleisterung der Wider‐ sprüche, aber die oberflächlichen Formen werden variiert: ständig neue Bücher, Sendungen, Filme, verschiedene Stories, aber immer derselbe Sinn.“ 3 In beson‐ derer Weise trifft das biblioklastische Ressentiment den akademischen Betrieb und seine Vertreter. Denn bei dem Versuch, der Vielzahl der Formen Herr zu werden, sie zu ordnen, zu rezipieren und zu ,verdauen‘, kommt es zu einem beträchtlichen Anwachsen der Kommentare und der Sekundärliteratur, deren Zahl die der kommentierten Werke selbst noch übersteigt. Einer der prominen‐ testen Vertreter der Gelehrtenkritik ist kein Geringerer als Michel de Montaigne, der in seinem Essay Über die Erfahrung den Schwall der Kommentare beklagt, wenngleich durchaus als heiteres Faszinosum: „Es macht einem mehr zu schaffen, die Interpretationen zu interpretieren, als die Sachen, und es gibt mehr 12 I. Eingang: Über Biblioklasmus 4 Montaigne, Michel de: Essais III, 13. Dt.: Enzensberger, Hans Magnus (Hg.): Erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett. Frankfurt a. M.: Eichborn 1998, S. 539 Frz.: Naya, Emmanuel / Reguig, Delphine / Tarrête, Alexandre (Hg.). Paris: Éditions Gal‐ limard 2009, III, S. 408: „Le principal et le plus fameux savoir de nos siècles, est-ce pas savoir entendre les savants? “ 5 R. de la Flor, S. 34. Bücher über Bücher als über irgendeinen Gegenstand sonst. Wir tun nichts an‐ deres, als uns gegenseitig zu glossieren.“ Dabei gebe es kein einziges Buch, weder menschlich noch göttlich, dessen Schwierigkeiten durch die Interpretation be‐ seitigt worden wäre; was Montaigne zu der Frage führt: „Geht es in der ange‐ sehensten Gelehrsamkeit heutzutage nicht hauptsächlich darum, daß man es versteht, die Gelehrten zu verstehen? “ 4 Bis heute nährt sich essayistisches Schreiben von der paradoxen wie utopi‐ schen Vorstellung, sich auf die Bücher zu stützen, um die Bücher zu mindern und das Wissen zu mehren. Dieser Art der Gelehrtenkritik wohnt ein Element intellektuellen Biblioklasmus' inne, der zum essayistischen Topos geworden ist. Er folgt einem Ideal der moralisch-ästhetischen Gestaltung des eigenen Lebens; essayistisches Schreiben ist daher immer auf das schreibende Subjekt bezogen. Es folgt einer Ästhetik der Reinheit und einem Ethos der Befreiung und der Läuterung: Ein Essayist, eine Essayistin schreibt über Bücher, nicht um sie zu interpretieren, sondern um sich von ihnen zu befreien und sich eine reinere Existenz zu verleihen. Als Mittel dazu dient ihm oder ihr die Schaffung eines Nichtbuchs; eines amorphen Texts, der sich einer abgeschlossenen Systematik entzieht. Denn auch wenn sich die intellektuelle Kritik in Qualität und Motiven wesentlich vom plumpen Ressentiment des Illiteraten gegen das ,Kulturgeschwätz‘ unter‐ scheidet - beide verbindet durchaus die Abneigung gegen eine empfundene Versteinerung im Systemhaften, das der eine als Abkehr von der Lebensfreude und elitäres Kontrollinstrument und der andere eher als bloße Wiederholung eines je schon Gewussten verurteilt. Beide richten sich argwöhnisch gegen die Implementierung einer Autorität, die sich auf das bloße Gewicht des schon Da‐ gewesenen und Gesagten stützt. Und so findet Montaignes Polemik gegen das Anhäufen von Zitaten auf Kosten einer gesunden Dosis Intuition eine unge‐ brochene Fortsetzung bis in unsere Zeit, wenn etwa de la Flor irrtümlicherweise feststellt, die Implementierung eines Diskurses, der keine Ideen mehr, sondern Zitate enthält, sei ein spezifisches Übel unserer Tage. 5 Auf diese Weise würden die Universitäten zu Verteilstationen von Sekundärliteratur und zu „fabricas 13 I. Eingang: Über Biblioklasmus 6 Ebd., S. 40. 7 Ebd., S. 327: „la perversión de la idea de conocimiento, que regula el mecanismo de la erudición.“ 8 Vgl. ebd., S. 178: „lenguaje caduco“. 9 Ebd., S. 36: „La lengua desatada, sin la apoyatura del documento textual, es tomada hoy, en esos mismos ambientes académicos, como la palabra de un loco.“ (Hervorhebung durch mich.) 10 Rorty, Richard: Ironie, Kontingenz und Solidarität. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992, S. 25. pesadas del pensamiento“ 6 - in freier Übersetzung: zu lästig langweiligen Fab‐ riken gewichtiger Gedanken. Der Vorwurf der Erstarrung richtet sich besonders gegen die Institutionalisierung des Wissens und die Heraufkunft eines Typus, der, so der Vorwurf, seine Lektüren nicht mehr kostet und schmeckt, sondern nur noch wiederkäut. De la Flor spricht von der „Perversion der Idee von Wissen, reguliert von einem Mechanismus der Gelehrsamkeit“. 7 Zu den Aspekten der schieren Masse und des Wiederholungscharakters des Systemhaften tritt aber noch ein dritter Vorwurf: nämlich der Versteinerung der Sprache selbst. Der Eindruck, wir beträten ein Zeitalter einer „verfallenen Sprache“, 8 wurde im Verlauf der vergangenen 450 Jahre gewiss immer wieder auf verschiedene Weise formuliert. Er entspricht der Beobachtung einer man‐ gelhaften Transzendenz von Sprache, die als tiefe Verlusterfahrung zum biblio‐ klastischen Repertoire gehört. Dabei wird besonders dem akademischen Diskurs angelastet, diesen Verlust zu vertiefen. Der Jargon der Wissenschaft wird zu einem Instrument des bürokratischen, ja beinahe prüden Eifers, der die pro‐ duktiven erotischen Exzesse der Sprache abtötet oder unter die Kontrolle des Vorhersehbaren und unter die Verwaltung des Dokumentierbaren zwingt. Die universitären Exklusionsmechanismen verschließen sich dabei selbst gegenüber ihren Quellen: „Die entfesselte Sprache wird heute, ohne Stütze durch das Textdokument, in ebendiesem akademischen Umfeld als das Wort eines Ver‐ rückten wahrgenommen.“ 9 Der Protest gegen die akademisch vorangetriebene Erstarrung der Sprache richtet sich dabei heute nicht nur gegen ein vorgege‐ benes Wissen durch eine autoritäre Zitierpraxis, sondern gegen jede Art (vor)programmierter Codes. Denn die Sprache, durch die wir die Welt ver‐ nehmen wollen, zeigt sich darin als ausweglose Ödnis, was uns zu Richard Rortys Beobachtung führen könnte: „Die Welt spricht überhaupt nicht. Nur wir sprechen.“ 10 Und das, so ließe sich hinzufügen, nicht besonders gut. Biblioklasmus entspringt der Erfahrung einer Stummheit der Sprache in der Moderne. Es ist die Erfahrung, dass Sprache über Wesentliches zu schweigen beginnt, sobald wir sie zur Eindeutigkeit dressieren: Je exakter die Definitionen, desto aussageloser, folgenloser bleibt sie mitunter. Die Ambivalenz der Sprache lässt uns taumeln zwischen dem Ozean der Inkommensurabilität und den 14 I. Eingang: Über Biblioklasmus 11 Blumenberg, Hans: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. 17. 12 Vgl. Montaigne III, 13, dt. S. 539. 13 Blumenberg, S. 1. Wüsten der Präzision. Und so ist die moderne Erfahrung mit der Sprache die einer Heimatlosigkeit und des Exils; dass wir nicht zurückkönnen in das Haus der Sprache, in dem wir atmen können und dessen Herr wir sein dürfen. Wozu also Bücher? In einem solchen Moment der Ratlosigkeit macht Hans Blumenberg den „Staub auf den Büchern“ sichtbar: „sie sind alt, stockfleckig, riechen modrig, sind eines vom anderen abgeschrieben, weil sie die Lust genommen haben, in anderem als in Büchern nachzusehen. Die Luft in Bibliotheken ist stickig, der Überdruß, in ihr zu atmen, ein Leben zu verbringen, ist unausbleiblich.“ 11 Der Staub auf den Büchern ist Ausdruck einer Krise, welche die Geschichte des Hu‐ manismus und des modernen Wissens begleitet. Er ist aber auch eine sehr per‐ sönliche und zugleich universelle Erfahrung derer, die sich mit Büchern be‐ schäftigen - ganz gleich, ob mit literarischen oder wissenschaftlichen: Immer wieder stehen wir vor den ausgefransten Überresten eines wirkungslos gewor‐ denen Wissens und einer kraftlos gewordenen Sprache. Dann erkennen wir in uns Montaignes Maus im Pechfass, die dem Hoffnungsschimmer einer Er‐ kenntnis nachläuft, sich dabei nur im Kreis dreht, windet und schließlich in der klebrig zähen Masse ersäuft. 12 Inmitten der Agonie durch die fortgesetzten Enttäuschungen taucht vielleicht die Frage auf, was überhaupt enttäuscht worden ist, und es setzt ein anderes Schreiben ein, das eigentlich mehr ein Innehalten ist; ein Zulassen der Stille und der Leere. Es eröffnet einen Raum, in dem Montaignes Maxime als Impuls der inneren Sammlung erscheint: „Que scay-je? “ - was weiß ich? Ebenso wie: Kann ich überhaupt zu wissen hoffen? Die Erfahrungen aus den Jahrhunderten des Umgangs mit der Erkenntniskritik haben Montaignes ambivalente Frage nach der Möglichkeit von Wissen nicht ungültig werden lassen; sie erlauben jedoch ihre nuanciertere Formulierung. Angesichts eines Gefühls der Übersättigung mit Wissen erscheinen unsere Erkenntnisse bisweilen weniger als Unmöglich‐ keit denn als ununterbrochener Strom eines ,Geplappers‘. Und nun? Aus einer tiefen Ratlosigkeit heraus stellt Blumenberg die Mon‐ taigne’sche Grundsatzfrage neu: „Was wollten wir wissen? “ 13 Im Nachklang dieser Frage entsteht ein Schreiben, das auf der Suche nach seinem Objekt ist; das nach seiner Form tastet und mehr in der intuitiven Geste des Schreibens besteht, das seine Intention vergessen hat. Der Weg zu einer möglichen Antwort auf die Frage, was wir haben wissen wollen, kann vielleicht in einer Kontemp‐ lation beschritten werden: einem genauen, langsamen Blick, der auch die win‐ 15 I. Eingang: Über Biblioklasmus 14 Vgl. Benjamin, Walter: Ursprung des deutschen Trauerspiels. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1978 [1928], S. 10. 15 Vgl. ebd., S. 15. 16 Vgl. R. de la Flor, S. 171. 17 Vgl. ebd., S. 28. 18 Baudrillard, Jean: Agonie des Realen. Berlin: Merve 1978, S. 25. zigsten Phänomene nicht übersieht und ein Hineinhorchen in sich bedeutet, in der Erwartung der Wiederkehr eines wahrhaft schöpferischen Logos. Walter Benjamin bezeichnet Kontemplation als den ausdauernden Verzicht auf den un‐ abgesetzten Lauf der Intention und als ein unablässiges Atemholen. 14 Ein kon‐ templatives Schreiben ist eine Praxis der Unterbrechungen, des Innehaltens, des Neuansetzens. Ihm geht es darum, dem Denken Lücken, Leerstellen, Räume zu eröffnen, das heißt nach Benjamin: schreiben und denken außerhalb der fal‐ schen Einheit; den strengen Deduktionszusammenhang unterbrechen und auf‐ brechen, der die Systemlogik ausmacht. 15 Denn die Retorte im Denken ist das Lückenlose. Die Kontemplation dagegen ist ein Weg, der freie, unbeschriebene Stellen eröffnet, in denen die neuen Fragen erscheinen; ein Weg des Schreibens, der zu den Lichtungen des Denkens führt. Nun täte es not zu erforschen: Was geschieht auf den Lichtungen? Welcher Horizont lässt sich von ihnen aus er‐ blicken? Wir sind der Lettern überdrüssig geworden, und dennoch versiegt nicht der Impuls des Schreibens. Diesen grundlegenden Widerspruch meint Fernando de la Flor in unserem Umgang mit typografischen Erzeugnissen zu beobachten: Wir produzieren Schriften in immer größerem Tempo ohne jeglichen Anspruch auf Dauerhaftigkeit und geben sie somit dem Vergessen anheim, noch bevor sie rezipiert werden könnten. Der überbordenden Allgegenwart der Bücher schwindet das Publikum, sodass man den Eindruck gewinne, es steige nicht die Zahl der Leser, sondern nur die Zahl derer, die gelesen sein wollen. 16 Die zeit‐ genössischen Dichter langweilen uns, aber wir retten gesellschaftlich ,die Po‐ esie‘. Eine Generation von Erzählern folgt auf die nächste, ohne eine nennens‐ werte Erinnerung zu hinterlassen; aber niemals zuvor wurde in den Universitäten so viel über Narrativik theoretisiert. 17 Im Grunde, ließe sich aus de la Flors Beobachtung schließen, lebt unsere Buchkultur in einer Ordnung des Hyperrealen, die nach Baudrillard alle Werte „einbalsamiert und friedlich ver‐ packt“. 18 Und was wir nicht mehr lesen, mumifizieren wir als Theorie für nach‐ folgende Textarchäologen. Das Buch, einst Waffe der Kritik und des Intellektu‐ ellen, wird nun gefahrlos noch in seiner Verpackungsfolie zur Schau gestellt oder im Unterricht ,behandelt‘. Es wäre, so gesehen, längst zum pittoresken Ob‐ jekt eines folkloristischen Verehrungskultes ohne Realität geworden. Das wohl‐ 16 I. Eingang: Über Biblioklasmus 19 López Aranguren, José Luis: El oficio del moralista en la sociedad actual [1959]. In: Gracia, Jordi / Ródenas, Domingo (Hg.): El ensayo español. Siglo XX. Barcelona: Editorial Crítica 2008, 628-636, S. 636. 20 Barthes: Die Lust am Text, S. 40. 21 Derrida, Jacques: Diese seltsame Institution genannt Literatur. Derek Atridge interviewt Jacques Derrida, Laguna Beach 1989. Berlin: Brinkmann & Rose 2015, 16. meinende Etikett des ,Kulturellen‘ verdammt die Bücher zu einem Dasein, wenn hübsch entstaubt, als Zimmerzier; und die Bibliophilen zu Freaks. José Luis López Aranguren hatte die Beobachtung einer Simulation kritischer Kultur einst auf folgende Parabel gebracht: Ein dicker Fisch schwimmt in einem Aquarium, umgeben von Wasserflöhen. Nachdem er alle außer einen gefressen hat, fragt der letzte verbleibende Floh, warum er nicht auch ihn gefressen habe. Darauf antwortet der Fisch: Weil ich etwas für die Kultur tun möchte … mal sehen, wie du tanzen kannst! López Aranguren schließt mit den Worten, der Intellektuelle solle es vor‐ ziehen, von der Gesellschaft verschlungen zu werden, bevor er als Tänzer tole‐ riert werde. 19 Er hatte die Parabel in Anspielung auf die Franco-Diktatur er‐ sonnen; dennoch ließe sie sich vielleicht folgendermaßen neu interpretieren: Nie zuvor wurden so viele Bücher nicht gelesen. Sollten sich die Intellektuellen also lieber kollektiv verschlingen lassen, statt nur noch für sich selbst und das Wohlgefühl simulierten gesellschaftlichen Interesses und vorgetäuschter Tole‐ ranz zu schreiben? Ist Schreiben im besten Fall Sehnsucht nach verlorener Kultur und im schlechtesten bloße Heuchelei oder Egomanie? Eine leere Geste des Schreibens ohne Objekt, ohne Ziel, das zum reinen „Plappertext“ 20 wurde? Die Dinge liegen vielleicht komplizierter. Gerade in realen oder empfun‐ denen, gesellschaftlichen oder persönlichen Krisen gibt es offenbar die Not‐ wendigkeit, das ,Schreiben an sich‘ zu bewahren. Als reine Geste des Schreibens drückt sie sich als kontemplative ,écriture‘ aus, die sich auf die Suche nach dem macht, was wir haben schreiben und was wir haben wissen wollen. Sie ist Atemholen und fortgesetzter Neubeginn und entspricht dem Impuls, zunächst die Intimität mit den Büchern wiederherzustellen und die Nähe der entfrem‐ deten Schrift wieder zu spüren. Sie weiß noch nicht, was sie schreibt, sondern ist die Iterabilität einer erneuernden Erfahrung der Literatur. Jacques Derrida sagte in einem Interview mit Derek Attridge, es sei zwar unmöglich, das Inte‐ resse über den reinen Signifikanten hinaus abzuschaffen und die Referenz auf‐ zugeben; wohl aber könne sie verkompliziert werden. „Die Dichtung und die Literatur haben gemeinsam […] dass sie die thetische Naivität einer transzen‐ denten Lektüre suspendieren. Darin besteht die philosophische Kraft der Lite‐ ratur.“ 21 Derridas ‚lectio difficilior‛ ist ein Hinauszögern der Referenz - und somit 17 I. Eingang: Über Biblioklasmus 22 Ebd., S. 5. 23 Ebd., S. 6. 24 Ebd., S. 7. die Bewahrung eines kraftvoll philosophischen Impulses. Lesen und Schreiben werden also ein Umweg, der den ausgetretenen Pfaden und den einfachen Be‐ deutungen misstraut, um abseitige, neue Orte zu erkunden. Derrida siedelt diese Praxis des Umwegs zwischen Literatur und Philosophie an und beschreibt damit ebenso seinen eigenen intellektuellen Standpunkt: „Und weil das, was mich heute immer noch interessiert, weder einfach Literatur noch Philosophie ist, amüsiert mich die Idee, dass mein jugendliches Begehren […] mich durch das Schreiben zu etwas geführt hat, was weder das eine noch das andere war. Was aber war es? “ 22 Natürlich antwortet Derrida nicht direkt auf diese Frage, spricht aber von einer tiefen Versuchung der Ganzheit, der Totalisierung und dem Wunsch eines „Alles-Versammeln-Wollens“; den inneren Polylog aufzuzeichnen und bekenntnishaft alle Stimmen zu bewahren, die das Selbst durchkreuzen - kurz: alles zu sagen. In dieser Zeit des „autobiographischen Traums“ seien es jene Fragen gewesen, die sein Interesse an den Schriften gelenkt und bestimmt hätten: „,Wer bin ich? ‘, ,Wer ist dieses Ich? ‘, ,Was passiert gerade? ‘, etc.“ 23 Der Versuch, diese existenziellen Fragen in einem allumfassenden Blick zu beant‐ worten, ist die Seinsweise eines essayistischen Geistes. Er drückt sich aus in einem kontemplativen Schreiben, das der Ganzheit einer Erfahrung Form ver‐ leihen will. Nach Derrida reichen jedoch die diskursiven Ressourcen für eine totale Archivierung nicht aus. Und so bleibe immer das Begehren nach jenem nicht Einzufangenden, dem Überschüssigen, nach dem „+n“. Darin lebt die Idee der Totalität, und sie zirkuliert, so Derrida, auf einzige Weise zwischen Literatur und Philosophie, das heißt: in der Erfahrung des Institutionen überschreitenden und Regel brechenden „Alles-sagen-Wollens“, das in einer philosophi‐ schen ,Emotion‘ gründet, „dem Gefühl der Existenz als Exzess, als ,Überflüssig‐ sein‘, in einem jenseits des Sinns, das dem Schreiben einen Ort gibt“. 24 Ein Schreiben, das sich auf die Suche nach den existenziellen Fragen begibt (Wer bin ich? Wer ist dieses Ich? Was passiert gerade? Etc.), muss einen dau‐ ernden Überschuss produzieren und darf sich nicht mit einmal getätigten Aus‐ sagen zufriedengeben. Darin liegt das Paradox dieses Schreibens; ein Innehalten im ständigen Überschuss. Nicht den Strom versiegen lassen: ihn hervorbringen, um darin erst die Leerstellen zu schaffen, immer wieder neu anzusetzen. Nicht vom Luftanhalten hatte Benjamin gesprochen, sondern von der Ausdauer und Beständigkeit des Atemholens. Das Schreiben muss sich also perpetuieren, den Impuls und die Rhythmik des Atems aufrechterhalten und selbst jener Exzess sein. Eine solche Schrift besitzt keinen sicheren Standpunkt, von dem aus sie 18 I. Eingang: Über Biblioklasmus 25 Barthes, Roland: Schreiben, ein intransitives Verb? In: Zanetti, Sandro (Hg.): Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte. Berlin: Suhrkamp 2012 [1966 / 1970] 240-250, S. 247. 26 Vgl. Teuber, Bernhard: Sacrificium auctoris. Die Anthropologie des Opfers un das post‐ moderne Konzept der Autorschaft. In: Detering, Heinrich (Hg.): Autorschaft. Postitionen und Revisionen. Stuttgart / Weimar: Metzler 2002, 121-141, S. 126. 27 Barthes: Schreiben, ein intransitives Verb? , S. 247. 28 White, Hayden: „Schreiben im Medium“ In: Zanetti, Sandro (Hg.): Schreiben als Kul‐ turtechnik. Grundlagentexte. Berlin: Suhrkamp 2012 [1993] 251-260, S. 259. über einen Gegenstand verfügen könnte. Jemand, der so schreibt, wirft seinen ganzen Körper in die Fluten und lässt sich von den unberechenbaren Untiefen seiner Handschrift fortreißen. In einer solchen Weise lässt sich nicht mehr über etwas schreiben und auch nicht über sich selbst; es lässt sich nur absolut schreiben und sich selbst schreiben. In einem 1966 an der Johns Hopkins Uni‐ versity gehaltenen Vortrag mit dem Titel Écrire, verbe intransitiv? versucht Ro‐ land Barthes, genau diesen Eindruck als grundlegende Kategorie modernen Schreibens zu erfassen. Dabei stellt er die Vermutung an, man habe zu einem bestimmten Zeitpunkt begonnen, das Verb schreiben statt transitiv nun intran‐ sitiv zu verwenden; der Schriftsteller war nicht mehr einer, „der etwas schreibt, sondern jemand, der schlechterdings schreibt“. 25 Der ,ecrivain‘ folgt keinem be‐ stimmten Zweck, sondern bedient sich einer „entpragmatisierten Rede“, die Barthes mit dem Terminus der Intransitivität verbindet. 26 Allerdings könne kein Schriftsteller jemals ganz davon absehen, etwas zu schreiben. Mit Derrida ließe sich intransitives Schreiben also weniger als Suspendierung denn als Verkom‐ plizierung transzendenter ,écriture‘ betrachten. Barthes sucht jedoch noch einen anderen Ausweg, den er in der grammatischen Kategorie der Diathese zu finden glaubt. Sie bezeichnet, „in welcher Weise das Subjekt des Verbs in Mitleiden‐ schaft gezogen wird“. 27 Im indoeuropäischen Sprachraum würden dabei nicht eigentlich Aktiv und Passiv gegenübergestellt, sondern Aktiv und Medium. Die beiden Kategorien unterscheiden sich dadurch, dass sich ein Vorgang im Aktiv völlig außerhalb des Subjekts vollzieht, während im Medium das Subjekt selbst von seiner Handlung in Mitleidenschaft gezogen wird. Hayden White macht darauf aufmerksam, das Medium verweise in der grie‐ chischen Grammatik nicht nur auf die innere Beteiligung eines Subjekts an einer Handlung, sondern verwische genau genommen Subjekt und Objekt. Für Bar‐ thes sei das Schreiben im Medium „schöpferisch und befreiend, weil es den Schreiber als Handelnden im Schreibprozess ansiedelt und die Bildung eines Schreib-Subjekts als das verborgene, aber eigentliche Prinzip, Ziel und Ende allen Schreibens namhaft macht“. 28 Damit ist das Schreiben im Medium, so White, vollkommenes Beispiel eines performativen Sprechakts: Ebenso wie der Versprechende nur im Akt des Versprechens, der Schwörende nur im Akt des 19 I. Eingang: Über Biblioklasmus 29 Vgl. White, S. 258 f. 30 de Montaigne, Michel: Essais. dt.: Enzensberger, Hans Magnus (Hg.): Erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett. Frankfurt a. M.: Eichborn 1998, S. 539. frz.: Naya, Emmanuel / Reguig, Delphine / Tarrête, Alexandre (Hg.). Paris: Éditions Gal‐ limard 2009. hier: Au lecteur, frz. I, S. 117. 31 Teuber: Sacrificium auctoris, S. 128. Schwörens existiert, lebt der Schreiber, im Gegensatz zum Autor, nur im und durch den Akt des Schreibens. Als performative Selbst-hervorbringung und Selbstveränderung ist der Schreibakt, um einen Ausdruck Foucaults zu gebrau‐ chen, „ethopoetisch“ wirksam. Besonders aufschlussreich für das Verständnis dieses Akts ist ein Beispiel, das White für die Kategorie des Mediums in der griechischen Grammatik einbringt. So bezeichne der Ausdruck ,logon poiein“ die Abfassung einer Rede, während die Form im Medium ,logon poieisthai‘ ,eine Rede halten‘ heiße, oder, wie Bernhard Teuber noch exakter formulieren will, ‚eine Rede halten, die ich mir zurechtgemacht habe‛. Das Medium ist also auch ein Grad an Intensität oder Verdichtung, in dem sich das Subjekt nicht nur mo‐ ralisch, sondern auch körperlich in die Handlung einbringt. 29 Schreiben im Me‐ dium ist in diesem Sinne die Suche nach einer Form, die imstande wäre, Derridas „Alles-versammeln-Wollen“ auszudrücken und das ganze Selbst, den ganzen „inneren Polylog“, in die Schrift zu werfen. Ich denke, in keinem anderen Sinn lässt Montaigne im berühmten Vorwort seiner Essais wissen: „Ainsi, lecteur, je suis moi-même la matière de mon livre.“ 30 In pragmatischer Hinsicht lässt sich der Satz auf doppelte Weise verstehen; zunächst als Absage an den nach Nutzen suchenden Leser: „Nur ich selbst bin der Gegenstand meines Buchs“; aber ebenso als nach innen gerichtete Rede: „Ich bin nichts als der Gegenstand meines Buchs.“ Wird nun also der biblioklastische Impuls unter den Vorzeichen des autobiografischen Traums zum Ausdruck eines Selbsthasses und eines Wunsches nach Selbstliquidation? Ein anderes Szenario entwirft Bernhard Teuber, der das ab‐ genutzte Wort vom „Tod des Autors“ neu im Zeichen einer Opfertheorie be‐ trachtet, die bei Barthes anklingt. Nicht im Sinne einer Auslöschung seien solche Todesnachrichten zu begreifen, sondern als „sakrale Selbstaffektion“ 31 und Selbstaufopferung. Die Instanz des Autors nehme den Tod auf sich, um das li‐ terarische Publikum zu erlösen. Im Anschluss an Freud, Caillois und Bataille betrachtet er das Opfer als gebotene Transgression in der Ausschweifung und als unproduktive Verausgabung (dépense). Letztere hatte Bataille im Potlatsch nordamerikanischer Indianerstämme beobachtet, dem rituellen Schenken teils beträchtlicher Reichtümer ohne Erwartung einer Gegengabe. Gemeinsam sei 20 I. Eingang: Über Biblioklasmus 32 Ebd., S. 129. 33 Vgl. ebd., S. 130. 34 Teuber: Sacrificium auctoris, S. 127. den beobachteten Äußerungsformen des Opfers, dass sie „nicht auf die Produk‐ tion gesellschaftlich nützlicher Güter durch Arbeit, sondern auf deren Zerstö‐ rung gerichtet sind“. 32 Dabei assoziiert schon Mauss den Potlatsch mit einem intransitiven Gestus, insofern er sich der Tauschökonomie entzieht. 33 Das heißt, es geht um den Akt selbst, nicht um den erwartbaren Nutzen. Die Transgression, Paradigma des archaischen Festes, liegt dabei in der gezielten Missachtung öko‐ nomischer Rationalität. Intellektuelles Schreiben im Medium bedeutet im Rahmen einer von Teuber umrissenen Theorie des Opfers Selbsthingabe durch Transgression und Ver‐ ausgabung. Durch den Verzicht auf konkrete Finalität, sei es didaktischer Nutzen oder ästhetische Unterhaltung, übertritt es die Gesetze des Buchs als Proto‐ emblem kultureller Ökonomie: Das Schreiben verweigert seinen Status als Mne‐ motechnik, entzieht sich eindeutiger Referenz und missachtet seine Sanktio‐ nierung als Sekundant des Wortes und des unmittelbaren Sinns, kurz: Es verneint seine Legitimationsbedürftigkeit. Als intransitiver Gestus ist es zudem feierliche Verausgabung, weil es nicht zum Ruhen kommt; weil es seine Thesen opfert und seine Sinnsetzungen immer wieder verwirft. Seine Bewegung ver‐ läuft nicht geradlinig ,auf ein Ziel zu‘, sondern perpetuiert sich als „Rückkop‐ pelungs-Schleife“ 34 im Kreis. So begeht das kontemplative Schreiben das Opfer‐ fest im Kreisgang, den Martin Heidegger als „Fest des Denkens“ bezeichnet hatte. Das Schreibopfer dient der Rettung der Bücher und des in ihnen enthaltenen Sinns. Dabei sind in christologischem Sinn Opfernder und Opfergabe eins. Der Schreibende nimmt den gesellschaftlichen Exzess, den Überschuss der Bücher in sich auf, um sie in einem Akt der Verausgabung zu opfern, das heißt: die Lektüren zu zerlesen, auseinanderzureißen, Lücken in ihre Diskurse zu schlagen, sie zu verwinden, zu verarbeiten, sich schreibend ihrer zu entledigen und von ihnen zu befreien. Letztendlich bedeutet das auch, das Buch seiner selbst zu dekomponieren. Doch nicht die Auslöschung ist dessen Ziel: Bernhard Teuber spannt einen Bogen zur negativen Theologie des Pseudo-Dionysius, nach der sich über die höchste Gottheit nur in Negationen sprechen lässt; alle Affirma‐ tionen seien dazu ungeeignet. Das verwerfende Schreiben ist eine Verausgabung in Negationen. Es führt, so die Hoffnung, zur Negation der Negation und zur Erscheinung des Überschüssigen, das sich der Affirmation entzieht. In einer Epiphanie dieses ‚plus ultra‛ - Derrida nannte es das „+n“ - ließe sich ein Ho‐ rizont der Ganzheit, des ,Alles-Versammelns‘ und des ,Alles-Sagens‘ vermuten. 21 I. Eingang: Über Biblioklasmus 35 Ebd., S. 138. 36 Derrida: Diese seltsame Institution genannt Literatur, 7. 37 Müller-Funk, Wolfgang: Experiment und Erfahrung. Studien zu Theorie und Geschichte des Essayismus. Akademie-Verlag: Berlin 1995, S. 14. Teuber erinnert in diesem Zusammenhang an die Dialektik des Juan de la Cruz „zwischen dem ,Nichts‘ (nada), dem man sich radikal verschreiben soll, und dem ,Alles‘ (todo), das man am Grunde dieses Nichts gewinnen kann“. 35 Auflö‐ sende Verausgabung der vielen Bücher und damit Auflösung des inneren Poly‐ logs; das eine Buch des Selbst zum Schweigen bringen, die große Unterbrechung, den leeren Raum schaffen, in dem die wirkliche Erfahrung der Literatur möglich wird. Denn erst ihre Übertretung, sagt Derrida im Gespräch mit Attridge, macht es möglich, das Wesen ihres Gesetzes selbst zu denken. 36 Vielleicht liegt in der Intimität einer solchen Erfahrung eine mögliche Antwort auf die Frage, was es gewesen sei, das wir hatten wissen wollen. Und so zeigt sich der wahrhafte Bücherfreund im Bekenntnis des Biblioklasmus. Nun wäre der Rahmen umrissen, die Bühne bereitet, auf der sich jenes Schreiben bewegt, das ich in dieser Studie als das essayistische betrachte. Dieses Buch, Leser, gibt dabei redlich Rechenschaft. Es entspringt vielleicht einem gewissen Unbehagen, das sich zuweilen im Umgang mit manchen literaturwissenschaft‐ lichen Ergebnissen einstellt, sowie einem unruhigen Umherirren durch einige Bibliotheken auf der Suche nach Bekenntnissen, die wir heute Essays nennen. Dabei stieß ich auf solche, die wir vielleicht nicht ohne Weiteres als solche be‐ zeichnen würden, die aber dennoch Zeugnis jenes Begehrens der Totalität zwi‐ schen Philosophie und Literatur sind. Die beiden Texte, die ich in dieser Arbeit vorstelle, María Zambranos Claros del bosque und Octavio Paz’ El mono gramá‐ tico, verstehen sich beide als das, was Wolfgang Müller Funk am Grund essay‐ istischen Schreibens erkennt: als ein „Korrektiv des wissenschaftlichen Szien‐ tismus“. 37 Beide verhandeln in einzigartiger Weise jene alte Feindschaft zwischen dem Denken und dem Dichten, in deren Zwischenraum für Derrida die Möglichkeit zu einer Erfahrung der Literatur gegeben ist. In ihnen nun meinte ich greifbarere Manifestationen eines essayistischen Geistes zu finden als in so manchem ,Essay‘. Über etwa 450 Jahre hinweg haben Menschen ein Schreiben praktiziert, mit dem sie sich und die Welt um sich herum transparent, und Welt und Wissen sprechend machen wollten. Die beiden Texte handeln vom Ringen des lesenden und schreibenden Subjekts um das Verständnis der Zei‐ chen, die es umgeben. Und es sind Bekenntnisse derer, die trotz oder gerade wegen ihres Zweifels eine Sprachlosigkeit der Welt nicht vollkommen akzep‐ tieren wollten. In diesem Sinne versuche auch ich, mich in diesem Wald sprech‐ 22 I. Eingang: Über Biblioklasmus ender Zeichen zurechtzufinden. Bücher werden herausgezogen und zurückge‐ stellt, Lektüren werden erwogen und wieder verworfen, plötzlich erscheinende, vielleicht unerlaubte Analogien werden erahnt, vertieft und wieder ausgelöscht. Doch all die erlaufenen Umwege haben, so meine tiefe Hoffnung, etwas We‐ sentliches beizutragen zu einem Verständnis des Essayistischen, welches uns die reinen Affirmationen vorenthalten. Und umso eindringlicher kann ich nun auch mit Montaigne versichern: C’est un livre de bonne foi. Für einen universelleren Zugang habe ich den Text weitestgehend in deutscher Sprache gehalten, gerade im Fall der französischen (Sekundär)literatur eine Entscheidung, die mir nicht leichtgefallen ist. Ich habe jedoch einschlägige fran‐ zösische Begrifflichkeiten im Original in Klammern hinzugefügt. Um nicht mehr Fußnoten als Text zu schaffen, sind lediglich die Montaigne-Zitate im Ganzen auf französisch bereitgestellt. Dagegen befinden sich sämtliche relevanten spa‐ nischen Zitate zum Nachlesen direkt auf der jeweiligen Seite in der Fußnote. Diese zeigt die zitierte Stelle jeweils sowohl in der deutschsprachigen (gekenn‐ zeichnet durch „dt.“) als auch in der spanischsprachigen Publikation (gekenn‐ zeichnet durch „span.“) an. In einigen Fällen habe ich selbst übersetzt, auch wenn bereits eine deutsche Textfassung verfügbar gewesen wäre. Es schien mir ge‐ boten, bestimmte Stellen in eigener Übersetzung vorzustellen, um in einem Feinbereich der Sprache die größtmögliche Achtsamkeit auf eine speziell im Sinne meiner Analysetätigkeit adäquate Übertragung zu legen. Eigene Überset‐ zungen sind als „(e. Ü.)“ in der Fußnote gekennzeichnet. Mit Jacques Lacans ‚Spiegelstadium‛ und Julia Kristevas ‚Textpraxis‛ führe ich zwei grundlegende Theorien zur Erfassung essayistischen Schreibens in die Diskussion; dabei mag es verwundern, dass beide nicht im Detail in ‚Teil II ‛ dieser Arbeit dargelegt sind: Ich hielt es für sinnvoll, diese Theoriebausteine in ‚Teil III ‛ zusammen mit der konkreten Textanalyse auseinanderzusetzen, um sie für die Primärtexte direkt präsent zu halten und so die Verständlichkeit des Textes zu erhöhen. Im Theorieteil hingegen will ich übergeordnete Zusammen‐ hänge klären, aus denen sich die Bedeutung der angesprochenen Theorien für das ‚Essayistische‛ ergibt. Es geht also um eine Betrachtung, inwiefern essayis‐ tisches Schreiben an einen Begriff der ‚Praxis‛ gebunden ist, sowie um deren allgemeine psychoanalytische Implikationen. 23 I. Eingang: Über Biblioklasmus 1 Vgl. Müller-Funk: Experiment und Erfahrung, S. 10. Müller-Funk spricht von einem nicht immer zu Unrecht erhobenen Verdacht der Oberflächlichkeit, Leichtfertigkeit, Frivolität und moralischer Laxheit. Mit Schelling und dem Idealismus habe dieses Ressentiment seinen Höhepunkt erlebt. 2 Adorno, Th. W.: „Der Essay als Form“. In: Ludwig Rohner (Hg.): Deutsche Essays. Prosa aus zwei Jahrhunderten in 6 Bänden. Band I: Essays avant la lettre. München: dtv 1972 [1958], 61-83, S. 62. II. Theorie 1 Der Essay und das ,Essayistische‘ 1.1 Der Essay als Gattungsproblematik Ob als populärwissenschaftlich marginalisiert, als Philosophie für Faule belä‐ chelt oder als (pseudo-) intellektuelles Machwerk angefeindet: Der Essay er‐ scheint als niedere Form im literarischen Gattungsgefüge oder als behelfsmä‐ ßige Theorie und wird noch immer gern als mehr oder weniger gefährliche Subversion des wissenschaftlichen Geistes angesehen. Dabei nimmt er durch seine Lust an allem, was der Systemhaftigkeit zuwiderläuft, einen schwierigen Stand zwischen - oder jenseits von - Literatur und Wissenschaft ein. Der Essay ist das Nichtidentifizierbare, ,Unreine‘ und irgendwie Störende im hübsch ge‐ ordneten philologischen Vorratsschrank; das Glas mit dem immer falschen Eti‐ kett. Von der Geringschätzung, die dieser Form des Schreibens besonders hier‐ zulande lange entgegenschlug, 1 zeugt nicht zuletzt Th. W. Adornos hartes Urteil über die Verächter des Essays, denen er Obrigkeitshörigkeit vorwirft, welche sich der teutonische Geist aufgrund der lediglich „lauen Aufklärung seit Leib‐ nitzschnen Tagen“ bewahrt habe: „In Deutschland reizt der Essay zur Abwehr, weil er an die Freiheit des Geistes mahnt.“ 2 Gerade im akademischen Betrieb ist, folgt man Adorno, der Vorwurf des essayistischen Ausdrucks ein schwerer. Argwöhnisch wacht die gestrenge Wissenschaft über ihre Hoheitsgebiete, um mögliche Übertretungen, erfolgen sie nun von innen oder von außen, miss‐ günstig als ,Literatur‘ zu denunzieren. Der Vorbehalt gegen ihn ist nicht zuletzt dem laxen Umgang mit dem Begriff des Essays geschuldet, der ein allzu weit gefasstes Verständnis von der Zeitungskolumne über den Schulaufsatz bis hin zum naturwissenschaftlichen Traktat alle möglichen Textformen duldet, die 3 Zu denken sei an Zweigs biografische Porträts in Die Baumeister der Welt, Ortegas Papeles sobre Velázquez y Goya, und Ramóns essayistische Biografien, wie etwa über El Greco. 4 Marichal, Juan: Teoría e historia del ensayismo hispánico. Madrid: Alianza 1984, S. 15. 5 Vgl. Loveluck, Juan: Esquividad y concreción del ensayo. In: Lévy, I. J. / Loveluck, J. (Hg.): Simposio: El ensayo Hispánico. Actas. University of South Carolina 1984, 29-43, S. 30: „Es el ensayo, pues, algo así como el duende travieso de la literatura, medio mago y medio fantasma, que juega a las escondidas y a la trasparencia, que salta donde menos se espera - disfrazado en la novela, por ejemplo - y desaparece, sin dejar una huella en nicht eindeutig genug entweder als literarische Prosa oder als Forschungslek‐ türe zu identifizieren sind. Essays können kurz sein oder lang, sie können von allem handeln, das kul‐ turelle Zusammenhänge erschließt. Allein der Streit um eine gültige Thematik kann befremdliche Züge annehmen, wenn etwa Adorno urteilt, ein guter Essay handle nicht von Personen, während zum Beispiel Stefan Zweig oder in Spanien José Ortega y Gasset oder Ramón Gómez de la Serna 3 dieses Diktum längst ein‐ drücklich entkräftet hatten. Einige Essays sind in ihrem Anspruch des Zugriffs auf Welt umfassender, andere kommen als flüchtige Detailbeobachtung daher, wieder andere rücken eine intime Selbststudie in den Vordergrund, die den Charakter eines Bekenntnisses hat. Essays sind politisch, philosophisch, anth‐ ropologisch, soziologisch, philologisch etc. oder alles zusammen, denn sie in‐ tegrieren meist mehrere Teilbereiche des Wissens sowie unterschiedliche Stile, Ausdrucks- und Erkenntnismittel. Die Schwierigkeiten einer Definition liegen an der Auswahl geeigneter Kriterien für die Klassifikation eines Texts als Essay: thematische oder formale Aspekte, Grad gesellschaftlicher Relevanz, stilistische Besonderheiten, Wirkungsdispositionen. Gehen wir von einem Modell aus, das mehrere Kriterien berücksichtigt, stellt sich das Problem ihres lediglich gradu‐ ellen Vorhandenseins. So ist etwa die Spanne zwischen tentativer und explika‐ torischer Darstellungsart sehr weit. Manche Essays gleichen aleatorischen Ein‐ fällen, andere deuten ganz bewusst auf einen hohen Grad von Elaboration hin. Wo liegt die Grenze, ab wann ist ein Essay kein Essay mehr? Die maximale Freiheit der Autoren beim Verfassen von Essays scheint diese an ihre persönlichen Vorstellungen und an die Umstände ihrer Epoche anzu‐ passen, sodass sie als Ausdruck individueller Sensibilität gelten. Juan Marichal spricht daher von einer „Biegsamkeit“ oder Anpassungsfähigkeit einer Form, die man schon „chamäleonisch“ 4 nennen könne. Und Juan Loveluck prägt das schöne Wort vom Essay als dem „frechen Gnom der Literatur“, der sich mal hier, mal dort versteckt und immer neue Volten der Ablenkung schlägt, wenn jemand seiner habhaft werden möchte. 5 Versuche zur Bestimmung gibt es zahlreiche, die zwar gewisse Charakterzüge richtig erfassen, dabei jedoch oft im Allge‐ 26 II. Theorie el aire - o en la página -, cuando más se le requiere y más se le interroga por sus rasgos esenciales. Toda vez que vamos en busca de su definición salimos trasquilados …“ 6 Vgl. Haas, Gerhard: Studien zur Form des Essays und zu seinen Vorformen im Roman. Tübingen: Max Niemeyer 1966. S. 17 f. 7 De Obaldia, Claire: The essayistic spirit. Literature, Modern Criticism, and the Essay. Ox‐ ford: Clarendon Press 1995, S. 2. 8 Vgl. Ebd., S. 2 f. 9 Nübel, Birgit: Essayismus als hybride Form in literatur- und kulturwissenschaftlicher Per‐ spektive. In: del Valle Lattanzio, Camilo / Müller-Funk, Wolfgang (Hg.): Zwischen dem Schreiben und der Kritik: Octavio Paz, die Moderne und der Essay. Praesens Verlag: Wien 2018, 55-73, S. 55. meinen verharren. So erklärt etwa Gerhard Haas, der Essay sei unsystematisch, ohne Ableitung von Prinzipien, daher ziele er nicht auf Vollendung, oder blei‐ bende Resultate. Die logische Gedankenbewegung sei durch intuitive Einfälle unterbrochen, so entstehe der Essay aus dem Zusammenarbeiten von Instinkt und Intelligenz. 6 In einer Untersuchung neueren Datums geht zum Beispiel Claire de Obaldia auf die Gattungsproblematik ein und nimmt folgende Bestim‐ mung vor: an essentially ambulatory and fragmentary prose form. Its direction and pace, the tracks it chooses to follow, can be changed at will; […] the essay develops around a number of topics which offer themselves along the way. And this sauntering from one topic to the next toghether with the way in which each topic is informally 'tried out' suggests a […] randomness which seems to elude the unifying conception […] of a recognizable generic identity. 7 Doch auch damit kommt keine stabile Definition zustande. Obaldia selbst führt weiter aus, die schiere Unendlichkeit der möglichen Themen für den Essay mache eine Klassifikation fast unmöglich, und dies umso mehr, als die Bezeich‐ nung ,Essay‘ selbst den Erwartungshorizont des Lesers zerstreue. Denn einer‐ seits stelle sie eine Autorität und Authentizität eines Menschen in Aussicht, der in seinem eigenen Namen spricht, andererseits aber scheine dieser gleichzeitig alle Verantwortung für das Gesagte abzuwälzen mit dem Hinweis darauf, es sei eben nur ein beiläufiger Versuch. 8 Ohne im Rahmen dieser Arbeit auf die ein‐ zelnen definitorischen Anstrengungen eingehen zu können, halte ich Birgit Nü‐ bels Einschätzung für richtig, der Essay habe sich bislang „sowohl in literarhis‐ torischer wie in systematischer Hinsicht jeder noch so umfangreichen deskriptiven Anstrengung sowie allen definitorischen Zugriffen entzogen“. 9 So erschöpften sich Forschungsarbeiten zum Thema in einer „additiven Aufzäh‐ lung von Merkmalen, wobei die zahlreichen Klassifikationsvorschläge durch phänomenologische Beschreibungen und Paraphrasierungen der vielzitierten 27 1 Der Essay und das ,Essayistische‘ 10 Nübel, S. 55. 11 Ebd., S. 55. 12 de Obaldia, S. 2. 13 Vgl. Weissenberger, Klaus: Der Essay. In: Weissenberger, Klaus (Hg.): Prosakunst ohne Erzählen. Die Gattungen der nicht-fiktionalen Kunstprosa. Tübingen: Max Niemeyer 1985, 105-124. 14 Haas, S. 7. 15 Vgl. Haas, S. 8. 16 Vgl. de Obaldia, S. 4. 17 Haas, S. 10. Metaessays von Georg Lukács, Max Bense, Theodor W. Adorno und einschlä‐ giger Passagen aus Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften (1930 / 32) ergänzt werden“. 10 Sowohl die metaphorischen Umschreibungsver‐ suche, als auch die formalistischen Abstraktionen zeigten die Schwierigkeit, wissenschaftlich mehr als die Minimalformel „Essay = ein nicht-fiktionales [sic] Prosastück mittlerer Länge“ 11 zu erzielen. Auch Claire de Obaldia bemerkt, es gebe ohnehin nur eine einzige Tatsache, die allgemein am Essay akzeptiert werde, und diese laute: „indeterminacy is germane to its essence.“ 12 Bei näherer Hinsicht besteht jedoch weder Einigkeit über die Universalität der Unbestimmt‐ heit, noch über den nichtfiktionalen Status. Und selbst wenn wir etwa etwa mit Klaus Weissenberger den Essay grob als „nicht-fiktionale Kunstprosa [sic]“ 13 betrachteten, so ergäbe sich immer noch die Schwierigkeit einer Abgrenzung zu zahlreichen Nachbarformen, wie dem Brief, dem Aphorismus, oder der Au‐ tobiografie. Der Sinn einer klassifikatorischen Herangehensweise erscheint immer zweifelhafter. So stellt etwa Gerhard Haas gleich zu Beginn seiner Studien zur Form des Essays die entscheidende Frage: „[G]ibt es denn die Gestalt des Essays überhaupt? “ 14 Und wie soll es möglich sein, eine Form zu bestimmen, die sich gerade durch die Freiheit der Form auszeichnet und nicht nur darstellerische Qualität, Sachnähe, Rundung, Rhythmik, Geistesoffenheit, Fragegier und lyri‐ sche Präzision, sondern auch Magie und Transzendenz in sich vereinigen soll? 15 Durch die fehlende Zuordnung zu einer eindeutig identifizierbaren Gattung gerät der Essay jedoch in die Gefahr, als „sub-literarisch“ marginalisiert zu werden. 16 Als Hybrid oder Mischform schlechthin verführt er außerdem zu einer exzessiven Verwendung des Begriffs. Und so bedauert etwa auch Gerhard Haas, der Essay werde auf diese Weise nichts als ein „bequemer Sammelbegriff “. 17 Genauso entzündet sich daran jedoch auch ein Bedürfnis nach genauerer Einordnung und einem Ausweg aus der Beliebigkeit. Schon seit Beginn des 20. Jh. existiert ein Bewusstsein dafür, dass es auf irgendeine Art und Weise ,rich‐ tige‘ und ,falsche‘ Essays geben müsse. So besteht z. B. Georg Lukács in seinem Brief an Leo Popper darauf, sich nur auf die „wahrhaftigen Essays“ beziehen zu 28 II. Theorie 18 Lukács, Georg: Über Wesen und Form des Essays. In: Ludwig Rohner (Hg.): Deutsche Essays. Prosa aus zwei Jahrhunderten in 6 Bänden. Band I: Essays avant la lettre. Mün‐ chen: dtv 1972 [1910], 27-47, S. 29. 19 de Obaldia, S. 3. 20 Ebd., S. 25. 21 Gerhard Haas hatte den Begriff des Essayistischen bereits 1966 in seinen Studien zur Form des Essays und zu seinen Vorformen im Roman verwendet. 22 Die Bezeichnung der in dieser Studie zur Diskussion gestellten Texte von Zambrano und Paz als ,poetische Essays‘ mag dieser Programmatik scheinbar widersprechen. Die Annahme eines ,Essayistischen‘ anstelle einer taxonomischen Untersuchung schließt aber die Tatsache nicht aus, dass Textgruppen sich aufgrund von Ähnlichkeiten mitei‐ nander assoziieren lassen. In diesem Fall sind die Nähe von diskursiven und poetischen Elementen, sowie eine gemeinsame Metathematik ausschlaggebend für eine gemein‐ same Betrachtung. Zudem erscheint mir die poetische Essayistik nicht als Spezialfall, wollen und nicht auf „jene nützlichen, aber unberechtigterweise Essays ge‐ nannten Schriften, die uns nie mehr geben als Belehrung und Data und ,Zu‐ sammenhänge‘“. 18 Der „wahrhaftige Essay“ zeichnet sich für Lukács dadurch aus, dass er nicht an Wert verliert, wenn sein historischer Augenblick vergangen ist. Entscheidend für den „wahrhaftigen Essay“ sind aber weniger äußere Kate‐ gorien, als vielmehr eine innere Einstellung des Autors: Nur durch seine Ernst‐ haftigkeit rette er sich aus dem Wertlosen. Tatsächlich ist die Ernsthaftigkeit einer Wahrheitssuche im Gestus aufrichtiger Rede zentral für eine Charakteri‐ sierung essayistischen Schreibens; als Kriterium für eine Gattungsbestimmung ist sie freilich nicht geeignet. Der grundlegende Ansatz, das Textphä‐ nomen ,Essay‘ auf dynamischere Art zu erfassen, erscheint zielführender, als einem kaum in den definitorischen Griff zu bekommenden und extrem hetero‐ genen Textkorpus eine bestimmte Gattungszugehörigkeit abringen zu wollen. 1.2 Das ,Essayistische‘ als Frage der Geisteshaltung Claire de Obaldia führt dies zu der Frage, „whether the essay can be regarded as a genre at all, or whether it might not represent the very denial of genre“. 19 Sie stellt den Essay als ein Schreiben dar, das den Gattungen in gewisser Weise vorausgeht; , als „writing before the genre, before genericness“. 20 In Anlehnung an Genette unterscheidet sie zwischen mode und genre: Während sie die ge‐ schlossene Form eines „argumentativen“ Essaytyps als literarische Gattung für grundsätzlich klassifizierbar hält, assoziiert sie die offene Form des von Mon‐ taigne begründeten meditativen und spekulativen Essays mit einem „Modus“ des Schreibens, den sie „das Essayistische“ nennt. 21 Auch ich möchte dies meinen Überlegungen zugrunde legen: Das ,Essayistische‘ soll also ,den Essay‘ er‐ setzen. 22 Das ,Essayistische‘ ist nach Obaldia die Ausdrucksweise eines „essay‐ 29 1 Der Essay und das ,Essayistische‘ sondern als Vertiefung oder Intensivierung der Problematik des Essayistischen. 23 De Obaldia, S. 22: „the essay is from the start nothing other than the embodiment or extrapolation of the essayistic.“ 24 Müller-Funk, Wolfgang: Experiment und Erfahrung., S. 9. 25 Müller-Funk, Wolfgang: „Como si fuese un mito. Octavio Paz' Erzählung der Mo‐ derne“. In: Del Valle Lattanzio, Camilo / Müller-Funk, Wolfgang (Hg.): Zwischen dem Schreiben und der Kritik: Octavio Paz, die Moderne und der Essay. Praesens Verlag: Wien 2018, 15-36, S. 22. Dem Stichwort der Apodiktik schließe ich mich nicht an. 26 Paz: AL: El arco y la lira. México, D. F.: Fondo de Cultura Económica 2a ed. 1967, 5a reimp. 1983 [1956], S. 13: „La poesía es conocimiento, salvación, poder, abandono. […] istischen Geistes,“, eines „essayistic spirit,“, und ,der Essay‘ nichts als eine Extrapolation des ,Essayistischen.‘. 23 Obaldia legt das ,Essayistische‘ so an, dass es alle literarischen Genres durchdringen, oder an ihnen teilhaben kann. So sieht sie beispielsweise im Roman die vielleicht essayistischste aller literarischen Gattungen; reflexiv, kritisch, unbestimmt und ohne feste Form. Wenn sich nicht beantworten lässt, was der Essay ist, dann immerhin, was das ,Essayistische‘ als Haltung ausmacht. Unter dieser Herangehensweise entstehen dann jene „addi‐ tiven Aufzählungen von Merkmalen“, die Birgit Nübel als unbefriedigend kriti‐ siert. Dabei ist diese Reihung in keiner Weise falsch. Im Gegenteil halte ich sie sogar für eine intuitive Erfassung dieses Textphänomens für unersetzlich. Sie sind nur eben selbst von dem affiziert, was Wolfgang Müller-Funk sehr treffend als den „essayistischen Impuls“ 24 bezeichnet. Denn in stilistischer Hinsicht scheint hier tatsächlich eine Impulsivität als asyndotische Struktur ein Weg zu einem assoziativen Verstehen zu sein. So eröffnet Müller-Funk eine breite Per‐ spektive, wenn er Momente beschreibt, die zum „Gestus des Essayistischen“ gehören: „subjektive Erfahrung, lebensweltlicher Bezug, die Affinität zum Ex‐ perimentellen, Induktion, kreisende Bewegung um ein Thema, das eben nicht mehr ein fixierter Gegenstand ist, Mehrdeutigkeit, Apodiktik und hypotheti‐ scher Konjunktiv, literarisches Schreiben, Prinzip Umweg, lebendige Metapher, Grenzüberschreitung, Analogie, Sinn für Ironie und Paradoxie, Gedanken‐ sprung, Intertextualität und Dialog.“ 25 Der Versuch einer wissenschaftlichen Be‐ schreibung eines essayistischen ,Charakters‘, so scheint es, entkommt einer es‐ sayistischen Darstellung nicht. Das Bedürfnis umfassender Darstellung bringt die Sätze ins Wanken und löst den inneren Impuls eines Gedankenstroms aus, dessen Bruchstücke das ,Ganze‘ transzendieren sollen. Und so ist Müller-Funks Operation durchaus mit Octavio Paz’ berühmter Charakterisierung der Dich‐ tung aus El arco y la lira vergleichbar: „Die Poesie ist Wissen, Erlösung, Macht, Hingabe. […] Einladung zur Reise ins Geburtsland. Inspiration, Respiration, muskuläres Exerzitium. Gebet an die Leere, Dialog mit der Abwesen‐ heit: […].“ 26 30 II. Theorie Invitación al viaje; regreso a la tierra natal. Inspiratión, respiración, ejercicio muscular. Plegaria al vacío, diálogo con la ausencia: […].“ 27 Lyotard, Jean-François: Postmoderne für Kinder. Briefe aus den Jahren 1982-1985. Wien: Passagen 1987, S. 30. 28 Vgl. Lyotard: Postmoderne für Kinder, S. 35. 29 Ebd., S. 20. 30 Lukács, S. 45. 31 Ebd. 32 Haas, S. 53. 33 de Obaldia, S. 16. 34 Ebd., S. 5. Der Versuch einer metaphysischen Wesensbestimmung des ,Essayistischen‘ als Geisteshaltung löst die Bestimmung einer Reihe von Merkmalen aus, die sich in ihrer Mehrheit um das Schlagwort des Postmodernen gruppieren. Tatsächlich hatte Lyotard, als er den Begriff der Postmoderne prägte, ähnliche Assoziati‐ onen. „Mir scheint“, schreibt er in Postmoderne für Kinder (Le postmoderne expliqué aux enfants), „daß der Essay (Montaigne) postmodern ist und das Frag‐ ment (das Athenäum) modern.“ 27 Obwohl Lyotard selbst seine Vermutung nicht weiter ausführt, lässt sie wertvolle Rückschlüsse zu. Das ,Essayistische‘ reiht sich nicht ein in die großen Welterklärungssysteme. Nach Lyotards viel zi‐ tiertem Zusammenbruch der Metaerzählungen bildet fortan die ,kleine Erzäh‐ lung‘ einen Legitimationsmodus eines postmodernen Wissens. 28 Essayistisches Schreiben als fragmentartige oder nicht erschöpfende ,kleine Erzählung,‘, die eng mit einer perspektivischen sozialen Konstruktion von Realität in unserer Kultur zusammenhängt 29 und die ihre Legitimation in sich selbst sucht, ist schon sehr nah an dem, was Lyotard unter dem Schlagwort der Postmoderne vorge‐ stellt hatte. Dabei wird mit der Erwähnung des Postmodernen hier vor allem ein Aspekt des ,Essayistischen‘ eingeholt, den schon Georg Lukács beobachtet, wenn er schreibt: „Tatsächlich werden im Essayisten seine Maße des Richtens erschaffen, doch ist er es nicht, der sie zum Leben und zur Tat erweckt: es ist der große Wertbestimmer der Ästhetik, der immer Kommende, der noch nie Angelangte.“ 30 ,Der Essay‘ predigt immer das Kommende, doch mit dessen tat‐ sächlicher Ankunft wäre er überflüssig geworden. Er ist daher, wie Lukács sich ausdrückt, „der reine Typus des Vorläufers“. 31 Auch Gerhard Haas betont diesen Aspekt übereinstimmend. So sei jede Form des Essays „Vorform“ in dem Sinn, dass ein formales Ruhen im Vollendeten niemals erreichbar sein kann. 32 Claire de Obaldia bemüht in diesem Zusammenhang den Begriff der „not yet litera‐ ture“ 33 , den sie von Alistair Fowlers Konzept der „literature in potentia“ 34 her‐ leitet. Obaldia bezieht sich in erster Linie auf die Tatsache, dass das ,Essayisti‐ sche‘ gewissermaßen einen Bodensatz ideeller und stilistischer Art bildet, von 31 1 Der Essay und das ,Essayistische‘ 35 Haas, S. 19. 36 Vgl. ebd., S. 43. 37 de Obaldia, S. 12. 38 Ebd., S. 10. 39 Vgl. Lyotard: Postmoderne für Kinder, S. 29. 40 McHale, Brian: Constructing postmodernism. London: Routledge 1992, S. 164. dem ausgehend sich literarische Werke entwickeln. In jenem ,not-yet‘, das den essayistischen Ausdruck charakterisiert, schwingen die Aspekte der Möglich‐ keit als Mutmaßung und Potenz mit: Einerseits stellt ein / e Essayist / in eigene Aussagen immer unter einen Vorbehalt, tätigt sie also nicht apodiktisch, sondern belässt sie im Bereich eines lediglich möglicherweise Richtigen. Andererseits geht es auch darum, die Aussage durch die Fülle weiterer denkbarer Möglich‐ keiten zu erweitern. Gerhard Haas prägt für das ,Essayistische‘ daher den Begriff der „Möglichkeitsaussage“, die er als „Kern alles essayistischen Denkens und Produzierens“ bezeichnet. 35 Montaigne und seine Nachfolger seien Autoren des Wiedergelesenwerdens, weil bei ihnen im Hintergrund des Gesagten das Un‐ gesagte oder halb Gesagte mitschwinge, das weitere Möglichkeiten offenhalte. Insofern ist das ,Essayistische‘ eine Operation, die Sensibilitäten für dieses Nicht- oder Halbgesagte entwickelt - eine Empfindsamkeit, die sich mit einem zentralen Paradigma des Poststrukturalismus deckt. Die essayistische „Mög‐ lichkeitsaussage“ vereint, genau genommen, diese beiden eben geschilderten und einander widersprechenden Aspekte: einerseits die radikale Skepsis, die sich zuweilen dem Vorwurf eines „Erkenntnisnihilismus“ 36 aussetzt, und ande‐ rerseits das Streben nach einer „intensiveren Wahrheit“: Obaldia spricht ange‐ sichts der Abkehr von rein mimetischen Verfahren und der Hinwendung zur Imagination von einer Wahrnehmung des „Potenzials“ der Realität und einer „more intense perception of truth“. 37 Diese Formulierung leitet sie von William Hazlitt ab, nach dessen Wort ein Essayist die „Essenz“ seines Gegenstandes zum Leben erwecken müsse, „in a way that yields a more intense sense of truth than would a simple description“. 38 Dieser Widerspruch lässt sich nicht auflösen und bildet meiner Ansicht nach jene Aporie, die für die paradoxe Grundstruktur des Essayistischen, sowie für die Oszillationen des Geistes zwischen Tragik und Ironie ausschlaggebend ist. Nun ließe sich die Formulierung von Aporien als postmoderner Modus beschreiben, genauso wäre es jedoch möglich, im Streben nach intensiveren metaphysischen Wahrheiten jene „Nostalgie“ zu erkennen, mit der Lyotard die Moderne kennzeichnet. 39 Der Begriff der Postmoderne ist so unklar und vielfältig, dass man eher spielerischen Umgang damit pflegen sollte. Brian McHale bringt dies auf die anschauliche Formulierung: „The literary historian as a performance-artist, rather than as policeman.“ 40 Da sich freilich 32 II. Theorie 41 Derrida: Diese seltsame Institution genannt Literatur, 40. 42 Vgl. Hempfer, Klaus W.: Gattungstheorie. Information und Synthese. München: Fink 1973, S. 141. nur schwer mit einem solchen Begriff arbeiten lässt, will ich ihn hier auch nicht extensiv bemühen. Als Geisteshaltung scheint das ,Essayistische‘ jedoch mit der Vorstellung einer Postmoderne zumindest eng verwandt: Es entspricht einer Sensibilität für das Differente, Abwesende, Vergessene oder gesellschaftlich Verdrängte, das strategisch durch einen Modus der Möglichkeitsaussagen ein‐ geholt werden soll. Damit werden Formen der Legitimierung des Wissens er‐ kundet und angewandt, die jenseits metaphysischer und wissenschaftlicher Systeme liegen. 1.3 Das ,Essayistische‘ als Schreibweise? Betrachten wir das ,Essayistische‘ ausschließlich als Geisteshaltung, die einzig‐ artige, nicht formalisierbare Formen hervorbringt, stehen wir allerdings vor einem logischen Problem. Denn damit wäre nicht zu erklären, warum im Laufe der Zeit Texte so unterschiedlicher Art immer wieder unter dem Titel ,Essays‘ vereint worden sind. Die absolute Singularität, sagt Derrida gegenüber Dereck Attridge, wäre ohnehin unlesbar. „Um lesbar zu werden, muss sie sich mitteilen, partizipieren und eine Zugehörigkeit entwickeln. […] Jedes œuvre ist singulär in dem Sinne, dass es auf singuläre Weise sowohl von seiner Singularität als auch von seiner Verallgemeinerbarkeit spricht. Von Iterabilität und dem Gesetz der Iterabilität.“ 41 Das Problem, das Derrida hier unter dem Begriff der Iterabilität fasst, entspricht auch einer Grundproblematik der Gattungstheorie, wie Klaus Hempfer sie skizziert und die in einer Notwendigkeit der Wahl zwischen über‐ zeitlicher und rein historischer Bestimmbarkeit des Gattungshaften besteht. 42 Anders ausgedrückt: Weder das Gesetz noch das Phänomen allein können Auf‐ schluss geben, sondern die Bestimmung ihres dynamischen Verhältnisses. Hempfer versucht daher eine Synthese zwischen beiden durch seinen Begriff der „Schreibweisen“. Gattungen sind demnach historische Aktualisierungs‐ formen, die auf bestimmten Strukturgesetzen beruhen. Diese Gesetze bilden „generische Invarianten“, die laut Hempfer auf „Schreibweisen“ zurückgehen. Die Anzahl der verschiedenen „Schreibweisen“ ist apriori nicht ermittelbar; Hempfer nennt aber „das Narrative“ oder „das Satirische“ als Beispiele. Darunter könnte nun also auch ,das Essayistische‘ fallen. Nach Hempfer können sich un‐ terschiedliche „Schreibweisen“ überlagern und zusammen eine Gattung integ‐ rieren. Einzelne „Schreibweisen“ würden nicht über ihre Konstituenten selbst definiert, sondern strukturalistisch, durch eine Untersuchung ihrer Relationen 33 1 Der Essay und das ,Essayistische‘ 43 Vgl. ebd., S. 242. 44 Vgl. ebd., S. 224. 45 Ebd., S. 141. 46 Ebd., S. 225. 47 Vgl. ebd., S. 148 f. 48 Zymner, Rüdiger: Gattungstheorie. Probleme und Positionen der Literaturwissenschaft. Paderborn: mentis 2003, S. 102. zueinander. 43 Den invarianten Tiefenstrukturen stellt Hempfer nun Transfor‐ mationsmöglichkeiten gegenüber, innerhalb derer sich die Strukturen ausdrü‐ cken können. Sein Ansatz besteht in einer Entkopplung von invarianter Tiefe und wandelbarer Oberfläche, die im Grunde den Ebenen von ,langue‘ und ,pa‐ role‘ entsprechen und getrennt voneinander untersucht werden können. 44 Damit werden Formen als wandelbar beschreibbar, ohne ihre konkreten Aktu‐ alisierungen jeweils als kontingenten Einzelfall akzeptieren zu müssen. Zu‐ sammen mit einer Bestimmung des pragmalinguistischen Kontexts lassen sie sich vielmehr als „im Rahmen der Gesetze einer Struktur mögliche Realisati‐ onen“ begreifen. 45 Hempfers Verdienst besteht gewiss in der Beobachtung und der präzisen Formulierung, dass „die intuitiv schon immer erkannten Ähnlich‐ keiten zwischen an der Oberfläche heterogenen Texten nicht durch die ,klassi‐ sche‘ Abstraktion und Klassifikation isolierter Einzelelemente bestimmt werden können, sondern nur durch die Erstellung abstrakter Bezugssysteme zwischen diesen Elementen, deren historisch variable Konkretisationen dann über jeweils spezifische Transformationsregeln erfaßbar sind“. 46 Wie Hempfer selbst ein‐ räumt, könnten allerdings noch keine allgemeinen Prozeduren angegeben werden, wie diese Tiefenstrukturen zu ermitteln seien. Man könne weder Zahl noch Art, noch bekannte Kategorien formulieren. Es könne nicht einmal jede Textgruppe auf Tiefenstrukturen zurückgeführt werden. 47 Hempfer schlägt daher eine typologische Untersuchung vor, in der Textkorpora empirisch hin‐ sichtlich ihrer transzendierenden Strukturierungsverfahren befragt werden. Al‐ lerdings ist bereits die Bildung dieser Korpora extrem problematisch. Sie kann nicht gänzlich auf induktive Verfahren verzichten und Hempfer zufolge keine Objektivität im Sinne eindeutiger Zuordnungen gewährleisten. Rüdiger Zynmer übernimmt Hempfers Ansatz typologisch zu erfassender „Schreibweisen“. Typologisierende Literaturwissenschaftler, schreibt Zymner, fassen „nicht die ,Welt der Literatur‘ und ihre allgemeinen Gruppen ins Auge, sondern zunächst einmal das besondere Einzelwerk, um von hier aus ,das Ganze‘ der Literatur zu erfassen.“ 48 Nach Zymner könnten sich „Schreibweisen“ zu manchen Zeiten zu Gattungen stabilisieren, die ganz deren ästhetischem Prinzip oder Verfahren folgen. Als Kriterium zur Unterscheidung von „Schreibweisen“ 34 II. Theorie 49 Vgl. ebd., S. 187. 50 Vgl. Adorno, S. 77. 51 Vgl. Zymner, S. 103. 52 Haas, S. 4. 53 Hempfer, S. 224. dient Zymner dabei der Begriff der „Wirkungsdisposition“. So seien sie weder auf den Stil, noch auf inhaltliche Vorgaben zu begrenzen, sondern verbänden unterschiedlichste literarische Mittel mit einer Funktion oder Wirkung, wie etwa, einen Leser in Staunen zu versetzen oder zum Lachen zu bringen, oder jemanden herabzusetzen. 49 Auch im Falle des ,Essayistischen‘ wäre meiner An‐ sicht nach ein Set aus Wirkungsdispositionen durchaus vorstellbar, auf die ich an dieser Stelle aber nicht genauer eingehen werde. Angedeutet sei lediglich eine im Sinne Lyotards ,paralogistische‘ Funktion, die den Text legitimiert, in‐ sofern er neue Ideen hervorbringen kann, oder Adornos bekannte Charakteri‐ sierung ,des Essays‘ als die Form der Kritik par excellence. 50 Eine Typologie ist jedoch ein problematisches Unterfangen: denn sie sähe vor, die am konkreten Textbeispiel zusammengetragenen Merkmale als „Schreib‐ weise“ zu objektivieren. Eine spezifische „Schreibweise“ ließe sich nach Zymner durch Überspitzung und Isolierung bestimmter Merkmale bilden. 51 Genau diese Art der Objektivierung ist es jedoch, die für das ,Essayistische‘ immer heikel erscheint. Die Idee eines ,Essayistischen‘ allgemein als historische Invariante zu beschreiben, mag sinnvoll sein; doch lässt es sich nicht ganz mit Hempfers „Schreibweisen“ erfassen. Denn obgleich Hempfer sie über eine spezifische Re‐ lation ihrer Elemente und damit dynamisch konzipiert, erscheinen sie in letzter Konsequenz eindeutig festlegbar. Gerhard Haas, der den Begriff des Essayisti‐ schen in die Diskussion einführt, folgt ebenfalls einem entsprechenden Ansatz. Für ihn steht fest: „[G]ibt es eine solche unverwechselbare Struktur des Essay‐ istischen nicht, so ist es fragwürdig, mit dem Begriff des Essay wissenschaftlich zu arbeiten.“ 52 Dabei ist es doch gerade die Verwechselbarkeit mit anderen Strukturen, die das Phänomen wissenschaftlich so interessant macht. „Schreib‐ weisen“, so Hempfer, können durch die Beschreibung der Relationen ihrer Ele‐ mente „definiert“ werden. Für historische Gattungen seien „Transformations‐ regeln“ aufzustellen. Die dafür verwendeten Kriterien seien einer „Systematisierung“ zu unterwerfen. 53 Definition, Regelhaftigkeit, Systematisierung, Kategorisierung und Sub-Sub‐ kategorisierung - es stellt sich die Frage, ob das ,Essayistische‘ ausgerechnet mit einem terminologischen und methodischen Repertoire erfasst werden sollte, dem es sich am meisten widersetzt. Obwohl Hempfer seine Untersuchungen nicht auf ein ,Essayistisches‘ ausgerichtet hatte, müssen ihn selbst dennoch 35 1 Der Essay und das ,Essayistische‘ 54 Ebd., S. 227. 55 Ebd. 56 Vgl. de Obaldia, S. 1. 57 Vgl. Hempfer, S. 228. Zweifel über sein Vorhaben beschlichen haben; das zeigt sich, wenn er etwa erklärt, zumindest für den diachronen Zusammenhang der Texte seien „keine strikten, deterministischen Gesetze zu formulieren, aus denen der Wandel de‐ duktiv-nomologisch zu erklären wäre“. 54 Die bisherigen Versuche stellten spe‐ kulative Pseudoerklärungen dar. Als Ergebnis seiner Untersuchungen präsen‐ tiert Hempfer eine Beobachtung, die im Ansatz auch für eine Beschreibung des ,Essayistischen‘ durchaus praktikabel wäre: Aufgrund der empirischen Ge‐ gebenheiten erscheine „als allgemeines Entwicklungsprinzip nur die Dialektik von Genese und Struktur angebbar, die einen nicht deterministischen, teleolo‐ giefreien Prozeß der Destrukturation existenter Strukturierungen und der Re‐ strukturierung neuer Ganzheiten konstituiert […].“ 55 Dabei ist es aber gerade jener Zwischenraum, der zumindest im Fall eines ,Essayistischen‘ zu untersu‐ chen wäre und den Hempfer lediglich mit der Ellipse einer ,Dialektik‘ umschifft. Dynamisch ist an seinem Konzept nur noch der ursprüngliche Einfall. Die „Schreibweise“ verliert sich in einem ,regressus ad infinitum‘, bei dem sich das Dynamische jeweils in die nächst tiefer liegende Schicht oder in die stärkere Mikroskopstufe verschiebt. Eine solche Dynamik ist nichts als ein Lückenbüßer für (noch) Unerklärliches. Es ginge darum, die Bewegung als Bewegung zu denken, und nicht als eine Reihe statischer Momentaufnahmen. 1.4 Eine Problematik der Formwerdung Sowenig aussichtsreich ein rein definitorischer Zugriff auf ,den Essay‘ ist, so fragwürdig erscheint auch die wissenschaftliche Beurteilung einer ,inneren Ein‐ stellung‘ und ,Essenz‘ eines Autors, 56 die ,den Essay‘ in eine Reihe bloßer Akzi‐ denzien verstreut. Das ,Essayistische‘ als historische Invariante mit einer großen Möglichkeit historischer Konkretisierungen zu betrachten erscheint metho‐ disch plausibel, auch wenn es sich nicht als „Schreibweise“ im Sinne Hempfers definieren lässt: Ein Essay wird wohl ohnehin niemals alle isolierten Merkmale des ,Essayistischen‘ auf sich vereinigen. Dazu können keine adäquaten Kriterien zur objektiven Bestimmung von Textkorpora genannt werden. Hempfer will seine Untersuchungen im Sinne einer Formulierung Petöfis verstanden wissen, der in einer lakonischen Bemerkung nicht mehr von der Theorie erwartet, als dass es ihr allmählich gelänge, die „relevanten Fragen“ zu stellen. 57 Ich würde dagegen Richard Rorty folgen, der vorschlägt, mit alten Dingen aufzuhören und 36 II. Theorie 58 Rorty, S. 31. 59 Vgl. Marichal, S. 14 f. 60 Vgl. Zima; Peter: Essay / Essayismus. Zum theoretischen Potenzial des Essays: Von Mon‐ taigne bis zur Postmoderne. Würzburg: Königshausen & Neumann 2012, S. 23-34. 61 Hutcheon, Linda: A poetics of postmodernism. History, theory, fiction. New York / London: Routledge 1988, S. 49. lieber „etwas anderes“ zu tun und die traditionellen Fragen durch „möglicher‐ weise interessantere Fragen zu ersetzen“. 58 Daher schlage ich vor, den Blick so‐ wohl weg vom Essay als Gattung, als auch von der reinen Geisteshaltung, und ebenso von der „Schreibweise“ zu richten - denn all dies folgt einem Denken des fertigen und abgrenzbaren ,Produkts‘. Bereits Juan Marichal hatte sich bei der Betrachtung von Essays für eine dynamischere Herangehensweise ausge‐ sprochen. Seiner Auffassung nach habe man es mit einer „literarischen Opera‐ tion“ zu tun. Es gehe mehr um ein ,Wie‘ als um eine bezeichnende Haltung. 59 Zentral erscheint auch für mich die Frage nach jenem Raum zwischen ,Essay‘ als Geisteshaltung und / oder Schreibweise auf der einen Seite und ,Essay‘ als Form, auf der anderen; zwischen ,mode‘ und ,genre‘. Wie aktualisiert sich jener „essayistische Geist“? Peter Zima schlägt folgende Aspekte vor, die wieder im Anschluss an einen Postmoderne-Begriff lesbar wären: Konstruktivismus und Perspektivismus, die auf ein Kontingenzbewusst‐ sein antworten; dazu gehören Dialogizität, die Ambivalenz der Erscheinungen, Selbstreflexion und Selbstironie sowie die Annahme der Freiheit des Subjekts in einem nachmodernen kritisch-utopischen Komplex. 60 Ausgehend von Kris‐ tevas Intertextualitätsbegriff, nach dem er ,den Essay‘ als alle Diskurse auf‐ nehmenden und umgestaltenden Intertext fasst, skizziert Zima eine dialogische Theorie, in der sich eine ideologiefreie Kritik entfalten kann. Zima geht es al‐ lerdings weniger um eine Theorie des ,Essayismus‘, sondern vielmehr darum, ein „theoretisches Potenzial ,des Essays‘“ herauszuarbeiten und für eine dialo‐ gische Theorie nutzbar zu machen. Für ein Erfassen des ,Essayistischen‘ in seiner Dynamik zwischen Genese und Struktur und als Prozess von De- und Restruk‐ turierung, möchte ich daher einem anderen Ansatz folgen: Mit einem Wort, das Linda Hutcheon für postmoderne Texte prägt, ließe sich dieser Zwischenraum weder als Prozess, noch als Produkt, sondern als „process of making the pro‐ duct“  61 charakterisieren. Denn der Prozess des Schreibens erscheint im ,Essay‐ istischen‘ nicht rein intransitiv, nicht teleologiefrei aufs Geratewohl, oder im Sinne eines postmodernen Verständnisses rein spielerisch. Er bezieht immer ein Objekt ein, das zu wissen gewesen wäre und in dem auch das Schreiben seine Erfüllung in der Form gefunden hätte. 37 1 Der Essay und das ,Essayistische‘ Das ,Essayistische‘ ist ,embodyment‘, ,Verkörperung‘, eine Problematik des Schreibens als Formwerdung, die sich in einer Problematik der Selbstwerdung des schreibenden Subjekts spiegelt. Typologisch lässt sich (wenn auch nicht er‐ schöpfend) feststellen, dass sich diese Problematik in einer Reihe isomorpher Denkfiguren niederschlägt, die zwischen Konstruktion und Dekonstruktion changieren. Dazu gehören eine labile Metaphysik und eine ebenso labile Sub‐ jektkonstruktion. Diese Figuren konstituieren keine „Schreibweise“, sondern sind eingebunden in das Wirken einer ,Praxis‘, die jenen Zwischenraum von ,process‘ und ,product‘ als Aporie ausformuliert. Ich möchte daher das ,Es‐ sayistische‘ in seiner Dimension als ,Praxis‘ näher betrachten und diese als Suche nach einer ,möglichen‘ Form (sei es ein Wissen, das Subjekt, der gestaltete Text, oder die Wahrheit selbst) beschreiben, deren aporetische Struktur in den Metaphern von Weg und Lichtung evoziert wird. Die problematische ,Praxis‘ einer Formwerdung ist im Falle des ,Essayistischen‘, wie oben bereits erwähnt, verbunden mit einer ,Selbstwerdung‘ des schreibenden Subjekts. Zur Beschrei‐ bung dieser Bewegung schlage ich zwei mögliche Wege vor: Zunächst möchte ich versuchen, sie psychoanalytisch nach Lacan als ein Schreiben im ,Spiegel‐ stadium‘ zu erfassen, das vor allem den Aspekt der ,Selbstwerdung‘ innerhalb eines dynamischen Wechselverhältnisses von Symbolischem und Imaginärem berührt. Zur Erweiterung der Diskussionsgrundlage will ich in dem Octavio Paz gewidmeten Analyseteil anschließend Julia Kristevas Begriff der „Textpraxis“ für das ,Essayistische‘ erproben und deren Operationen auf einer textuellen Tiefenebene sichtbar - oder hörbar - machen. 1.5 Über den wissenschaftlichen Umgang mit dem ,Essayistischen‘ Im Hinblick auf die Problematik des wissenschaftlichen Umgangs mit dem ,Es‐ sayistischen‘ sind die Erfahrungen mit einem ,Performance-Begriff ‘ wie dem der Postmoderne wertvoll: Das ,Essayistische‘, hatte Obaldia geschrieben, sei ein „writing before the genre, before genericness“. Dies entspricht einer der prägenden Erfahrungen aus dem Feld der Postmoderne: Sie berührt nicht nur eine Gattungsproblematik, sondern hat auch Konsequenzen, wenn es um die generelle Möglichkeit eines literaturwissenschaftlichen Zugriffs auf das ,Essay‐ istische‘ geht. In dem Sinn, in dem Lytotard die Postmoderne als der Mo‐ derne ,vorausgehend‘ lokalisiert, bilden Regeln und Kategorien keine präskrip‐ tiven Werte für die Konstruktion von Essays; diese sind vielmehr Objekt ihrer andauernden Suche. Die Metapher des Schreibens als (Um)Weg entfaltet ihre Wirksamkeit im Kontext des postmodernen Verständnisses der ,Suche‘. Ihre Be‐ 38 II. Theorie 62 Das englische ,quest‘ scheint mir den Charakter dieser Suche gut auszudrücken, da es mit der Untersuchung, der Wanderung, aber auch dem Abenteuer und nicht zuletzt mit einer Haltung der Aufrichtigkeit konnotiert ist. 63 Lyotard: Postmoderne für Kinder, S. 30. 64 Ebd., S. 30. 65 Derrida: Diese seltsame Institution genannt Literatur, S. 22. 66 Müller-Funk: Experiment und Erfahrung, S. 15. deutung liegt in einem ,quest for knowledge‘ 62 selbst. Postmoderne Schriftsteller arbeiteten, so Lyotard, „um die Regel dessen zu erstellen, was gemacht worden sein wird“. 63 Daher hätten diese Texte den Charakter eines Ereignisses; das heißt, für den Autor kommen die Regeln immer zu spät, beginnt ihr Werk immer zu früh. Es könne daher auch nicht nach fester Maßgabe beurteilt werden. 64 Dieser Umstand macht eine ausschließlich literaturwissenschaftliche Herangehens‐ weise umso schwieriger, und die Frage, ob sie überhaupt möglich ist, muss für mich in letzter Konsequenz zwingend offenbleiben. Die Diskussion darüber ist kein ketzerisches Störfeuer unakademischer Geister, sondern integraler Be‐ standteil einer ernsthaften wissenschaftlichen Beschäftigung mit Essays. Ge‐ rade in diesem Punkt kann und darf wissenschaftliche Erkenntnis nicht im Ver‐ such bestehen, einen ,Schlussstrich‘ zu ziehen. Das heißt, wenn Literaturwissenschaft das Phänomen ,Essay‘ wirklich beschreiben will, kann sie dies nur mittels einer kritischen Beschäftigung mit ihrem eigenen Diskurs tun. Das ,Essayistische‘ ist in seiner Regellosigkeit vor allem textliches Ereignis: In dem Augenblick, in dem feste Beurteilungskriterien für die Texte angesetzt werden, ist das Ereignis schon vorüber. Studien, die ausschließlich versuchen, metasprachlich über einen Untersuchungsgegenstand zu verfügen, die eine solche Sprache ständig unterläuft, aber auch den Dialog mit ihr sucht, gehen am vielleicht ,wesentlichsten Punkt‘ des ,Essayistischen‘ schlicht und einfach vorbei. Mit den Worten Derridas: „Die Analyse von Mehrdeutigkeit, Heteroge‐ nität oder Instabilität entzieht sich per definitionem jeder endgültigen Schluss‐ folgerung und jeder erschöpfenden Formalisierung.“ 65 Das ,Essayistische‘ muss in seiner ,Bewegung‘ betrachtet werden, und dies lässt sich nicht nur anhand dynamischer Beschreibungsmittel bewerkstelligen, sondern es muss auch selbst in gewissem Umfang performativ sein, das heißt, es muss die Bewegung seines Gegenstands in seine eigene Methodik mit aufnehmen, sie in gewissem Maße spiegeln. Wolfgang Müller-Funk schreibt gar: „Es würde dem Thema wider‐ sprechen, wollte man es global ,bewältigen‘: eine Theorie des Essayismus will essayistisch vorgetragen sein, zwischen Erzählung und Abstraktion hin- und herpendelnd, ohne Anspruch auf Vollständigkeit - Umkreisung, Abwägung, Versuch, Mosaik, Fragment.“ 66 Dem schließe ich mich zumindest teilweise an. 39 1 Der Essay und das ,Essayistische‘ 67 Dies trifft besonders auf Octavio Paz zu, dessen Großteil der als ,Essays‘ versammelten Schriften einen gänzlich anderen Charakter besitzen. 68 Benjamin, S. 16. Eine Theorie des ,Essayistischen‘ darf freilich kein Essay sein, muss aber auf gewisse Elemente des Essayistischen zurückgreifen und sie in den wissenschaft‐ lichen Diskurs integrieren. Für eine theoretische Annäherung an das ,Essayis‐ tische‘ halte ich daher vor allem Theorien für hilfreich, die sich im Umfeld des Poststrukturalismus oder, weiter gefasst, der ,Tel-Quel-Gruppe‘ bewegen. Sie besitzen häufig selbst jenen Ereignischarakter und reflektieren ihr ,Ereignis‘ metadiskursiv mit. Dabei entwerfen sie ein großes Repertoire von Beschrei‐ bungsmitteln für Texte, die in ähnlicher Weise performativ funktionieren: Es‐ says. Die Bildung eines Textkorpus stellte ein spezifisches Problem für meine Ar‐ beit dar, und die Frage, ob und auf welche Weise sich bestimmte Texte im Licht eines ,Essayistischen‘ als performativer ,Praxis‘ betrachten lassen, wirft im Grunde erneut die Frage nach Subordination und genereller Kategorisierung auf. Gerade die hatte man jedoch vermeiden wollen. Es mag vielleicht verwun‐ dern, dass die Wahl mit María Zambranos Claros del bosque und Octavio Paz’ El mono gramático ausgerechnet auf Texte gefallen ist, deren Bezeichnung als ,Es‐ says‘ nicht vollkommen unstrittig sein mag - oder wenigstens unerwartet. Sie entbehren vielleicht eines Exemplarischen im Hinblick auf den Untersuchungs‐ gegenstand; zumindest wenn wir darunter das Vorhandensein einer möglichst breiten Schnittmenge an Textmerkmalen verstehen, die sich insgesamt für das ,Essayistische‘ ermitteln ließen. Darüber hinaus nehmen sie innerhalb des Œuvre der beiden Autoren eine gesonderte Stellung ein. 67 Doch essayistische Texte verweigern ohnehin jeden Charakter des Exemplarischen. Vielmehr, denke ich, sind sie innerhalb von Strukturen zu betrachten, die Walter Benjamin als „Konstellationen“ beschreibt: „Die Ideen verhalten sich zu den Dingen wie die Sternbilder zu den Sternen. Das besagt zunächst: sie sind weder deren Be‐ griffe noch deren Gesetze. Sie dienen nicht der Erkenntnis der Phänomene und in keiner Weise können diese Phänomene Kriterien für den Bestand der Ideen sein. Vielmehr erschöpft sich die Bedeutung der Phänomene für die Ideen in ihren begrifflichen Elementen.“ 68 Übertragen auf den Kontext dieser Studie, heißt das: Es kann nicht darum gehen das ,Essayistische‘ zu bestimmen, um davon ausgehend abzuleiten, nach welchen Gesetzen essayistische Texte funk‐ tionieren. Auch können die Einzeltexte als Phänomene nicht Zeugnis für die Existenz des ,Essayistischen‘ ablegen. Die Phänomene, schreibt Benjamin, be‐ stimmten durch ihr Dasein, ihre Gemeinsamkeiten und Differenzen die Begriffe, mit denen sie erfasst werden können. In diesen Begriffen besteht ihre Bedeutung 40 II. Theorie 69 Vgl. Benjamin, S. 17. 70 Ebd. 71 Vgl. Nübel, S. 62. 72 Ebd. S. 61. (Hervorhebung durch die Autorin). für die Idee. Umgekehrt erscheint die Idee bei Benjamin als Interpretation der Phänomene und ihrer Elemente, die erst durch ebendie Idee - wie die Sterne in den Sternbildern - ihre Zusammengehörigkeit erhalten. Essays und das ,Essay‐ istische‘ können also nur gemeinsam untersucht werden. Letzteres kann nur in Konstellationen aus Einzeltexten erscheinen, und die Frage wäre also, wie sich ein Sternbild seine Sterne ,aussucht‘. Ein einzelner Stern kann dabei kaum als exemplarisch oder besonders typisch für das Sternbild gelten. Die Idee, sagt Benjamin, ist zwar das Allgemeine, aber nicht das Durchschnittliche. Ein Stern erhält seine Bedeutung für das Sternbild vielmehr aufgrund seiner einzigartigen Lage als Extrempunkt innerhalb der Konstellation. Das heißt, auf den Kontext übertragen: Wenn Einzeltexte ihre Bedeutung für das Essayistische aufgrund der Begriffe besitzen, die sich aus ihnen bilden lassen, so müssen es Texte sein, in denen diese Begriffe in aller Deutlichkeit und in extremer Weise zum Vor‐ schein kommen. 69 Eine Analyse die sich im Rahmen einer Konstellation bewegt, muss versuchen, Elemente der Einzeltexte begrifflich herauszulösen und in einen Zusammenhang zu bringen: „Als Gestaltung des Zusammenhangs, in dem das Einmalig-Extreme mit seinesgleichen steht, ist die Idee umschrieben.“ 70 Mit Claros del bosque und El mono gramático stützt sich meine Auswahl auf eine gewissermaßen reduktionistische Bestimmung des ,Essayistischen‘, die außer ihrer Eleganz noch einen weiteren Vorteil besitzt; sie markiert auch einen Extrempunkt des ,Essayistischen‘: Birgit Nübel beschreibt ein ,Essayistisches‘ nach Lukács, Bloch und Benjamin als intellektuelles Gedicht, Denkbild oder Gedankenerzählung, die ihren Charakter durch die Kombination von poetischen (bildhaft-narrativen) und argumentativen (diskursiv-reflexiven) Mustern erhält. Deren Verbindung beruhe jedoch nicht auf Kausalität und logischer Deduktion, sondern erfolge auf assoziative, sprunghafte Weise. 71 Extrem ist die Textauswahl in mehrfacher Hinsicht: Erstens, weil hier María Zambrano und Octavio Paz die Polarität des Poetischen und des Argumentativen thematisch verarbeiten; zwei‐ tens, weil die fraglichen Texte auch auf einer operationalen Ebene diese The‐ matik performativ verarbeiten; und drittens, weil sie dies auf extreme Weise tun. Beide Texte reflektieren die Spannung poetischer und diskursiver Elemente in äußerster Intensität. Zwischen diesen beiden entsteht damit ein erweiterter Raum, in dem (wie in Platons Großbuchstaben) hervortritt, was sich in seinem Inneren abspielt. Denn das ,Essayistische‘ als „(Such-)Bewegung zwischen ver‐ schiedenen Punkten“ 72 bleibt im Ungefähren, solange der Zwischenraum ledig‐ 41 1 Der Essay und das ,Essayistische‘ 73 Benjamin, S. 17. 74 Die Frage nach einem Ewigkeitswert der Ideen ist seit Platon Gegenstand der umfang‐ reichsten philosophischen Betrachtungen und kann daher im Rahmen dieser Arbeit nicht diskutiert werden. lich als ,sprunghafte Assoziation‘ gekennzeichnet ist. Wenn es darum gehen soll, analytisch an den Operationsmodus der ,essayistischen Praxis‘ heranzu‐ kommen, dürfen solche Zwischenräume nicht einfach als Leerstelle ,übersprungen‘ werden. Wie genau werden durch den Sprung zwischen Poetischem und Argumentativem assoziative Querverbindungen gebildet, und welche Rolle spielt diese Bewegung innerhalb der problematischen Suche nach Sinn und Be‐ deutung, Ganzheit und Totalität? Diese Fragen halte ich für die drängendsten für die wissenschaftliche Arbeit am essayistischen Schreiben. Einer Untersuchung innerhalb einer Konstellation ist jedoch nicht damit Ge‐ nüge getan, Begriffe zu isolieren. Nach Benjamin ist die Idee nur als „Gestaltung des Zusammenhanges umschrieben“.  73 Die Elemente der beiden Texte von Zam‐ brano und Paz sollen daher in solch einen gestalterischen Zusammenhang mit begleitenden Theoriebeiträgen gebracht werden. Lektüren von Jacques Lacan und Julia Kristeva, Jacques Derrida, Helène Cixous, J.-F. Lyotard, Michel Fou‐ cault, aber auch Martin Heidegger und weitere Texte von Zambrano und Paz sind Teil der Konstellation, mit der das ,Essayistische‘ zu umschreiben ist. Was sie verbindet, erscheint dabei immer wieder bildlich über die Metaphern des Wegs, der Lichtung und des Horizonts, die die Begriffe aufnehmen und stützen. Die ,Konstellation‘ ist nicht als wissenschaftlich exakter Begriff belastbar, sondern selbst nur bildlich zu verstehen. Der Versuch einer Identifizierung ist, wie bei allen metaphorischen Darstellungen, hochproblematisch. Daher wird eine Identifizierung des Sternbilds in diesem Fall mit einer Idee des ,Essayisti‐ schen‘ früher oder später unweigerlich zu Widersprüchen führen. So lässt sich beispielsweise die Frage einer Varianz von Ideen allenfalls durch die Vorstellung einer Konstellation aus Konstellationen klären. Ebenso ließe sich aber das ,Es‐ sayistische‘ mit Derrida als die Idee des totalen Bekenntnisses und des „Alles-versammeln-Wollens‘ bestimmen, die in unterschiedlichen, wandelbaren essayistischen Konstellationen erscheint. Eine weitere Möglichkeit wäre - und sie scheint mir im Kontext dieser Arbeit nicht die schlechteste -, das ,Essayis‐ tische‘ als Praxis zu sehen, die an der Konstellationenbildung selbst teilhat; eine Kraft, welche die Sternbilder durch die Verbindung von Elementen erkennt - oder überhaupt erst gedanklich erzeugt und sich damit ebenso die Idee seiner selbst erschafft. 74 All diese Vorstellungen besitzen Gültigkeit; die Konstellation bleibt als Metapher nur einem approximativ-intuitiven Verstehen zugänglich. Darin liegen zugleich ihre Schwäche und ihre Kraft. 42 II. Theorie 75 Vgl. de Obaldia, S. 3. 76 Vgl. Haas, S. 18. 2 Der ,poetische Essay‘ in Spanien und Lateinamerika Claros del bosque und El mono gramático sind essayistische Texte, die in beson‐ derem Maß ihren ,poetischen Charakter‘ akzentuieren. Daher lässt sich im wei‐ testen Sinn von einer ,poetischen Essayistik‘ sprechen - insofern dieser Begriff zur Vermeidung erneuter Kategorisierungsversuche nur als Arbeitsbegriff in gedachten Klammern geführt werden soll. Sie sind jedoch als Gruppe von Texten mit ähnlichen ästhetisch-thematischen Sensibilitäten als Extrempunkt des ,Es‐ sayistischen‘ zu beobachten, von dem oben die Rede war. Auf den folgenden Seiten will ich versuchen, dieses Textphänomen näher zu betrachten und es innerhalb einer grob umrissenen Geschichte essayistischen Schreibens in Spa‐ nien und Lateinamerika einzuordnen. Nach Claire de Obaldia vereint das ,Essayistische‘ alle aristotelischen Kate‐ gorien in sich: das Lyrische, das Dramatische und das Epische. Während Obaldia den epischen Anteil des ,Essayistischen‘ mit einer Funktion des in der ,Exempla‘-Literatur begründeten ,Storytelling‘ assoziiert, sieht sie das Dra‐ matische in einer Imitation von Dialog durch das Einnehmen verschiedener Blickwinkel umgesetzt. Das dichterische Element des ,Essayistischen‘ zeigt sich ihrer Ansicht nach an einer bilderreichen, ,poetischen‘ Sprachführung sowie in der assoziativen Struktur, die den spontanen Prozess der Gedankenfindung spiegelt. Der Fokus liegt für sie aber nicht allein auf der poetischen Sprache, sondern auch auf einem gewissen Grundton des Diskurses: So sei ein Essay in dem Sinn poetisch, in dem ein Autor den Eindruck erwecke, mehr zu sich selbst als zu anderen zu sprechen. Diese Haltung begründe die Form einer Medita‐ tion. 75 Die beiden in dieser Arbeit vorgestellten Texte von Zambrano und Paz akzentuieren die lyrische Seite zunächst in einer Weise, die Obaldia hervorhebt: Es handelt sich um ,meditative‘ Textstücke, die eine große Nähe zur Dichtung pflegen und durchdrungen und strukturiert sind von einer reichen Metaphorik. Beide Texte suggerieren aber auch ein ,Bei-sich-selbst-Sprechen‘. Diese Inner‐ lichkeit ist entscheidend für die Sprechsituation eines ,poetischen Essaystils‘, denn sie ist vor allem Ausdruck einer besonderen sprachlichen Intimität und Nähe, auf die ich später noch ausführlicher zurückkommen möchte. Auf die generell große Bedeutung der Lyrik für essayistische Texte haben Autoren wie Gerhard Haas bereits aufmerksam gemacht. 76 Gleichzeitig aber ist diese Art der Essaykunst Reflexion ihres historischen Moments ab etwa der Mitte des 20. Jh., in dem sich ästhetische, philosophische und poetologische 43 2 Der ,poetische Essay‘ in Spanien und Lateinamerika 77 Earle Peter G. / Mead, Robert G. Jr.: Historia del ensayo Hispanoamericano. México, D. F.: Ediciones de Andrea 1973, S. 11. Themensetzungen mit entsprechenden Textverfahren verbinden, die sie ganz in sich aufnehmen, widerspiegeln und kommentieren. Zu Beginn des 20. Jh. hatten die ,Generación del 98‘ in Spanien und die Ge‐ neration der zwischen 1890 und 1934 geborenen Autoren in Lateinamerika es‐ sayistisches Schreiben im Sinne einer narrativen Ausgestaltung, des ,Storytel‐ ling‘ nach Obaldia, literarisiert und es in einer Rückbesinnung auf seine spekulativ tastende Haltung wieder an die von Montaigne begründete Form angelehnt. Auch die Entstehung einer lyrischen oder poetischen Essayistik mit María Zambrano, Octavio Paz ebenso wie Gabriela Mistral und José Lezama Lima bewegt sich im Rahmen dieser Neuentdeckung oder ,Literarisierung‘, in‐ sofern das Poetische Anteil am Literarischen hat. Die Rückbesinnung auf Mon‐ taigne liegt hier in einer besonders deutlichen Auflösung der Grenze von logi‐ schem Denken und Kunst als reiner Intuition, die Peter Earle und Robert Mead für zeitgenössisches essayistisches Schreiben geltend machen. Gerade die Syn‐ these von ,Kunst‘ und ,Leben‘ eröffne den Weg zurück zu einer Konzeption ,des Essays‘, in dem die Erfahrung des schreibenden Subjekts wieder im Mittelpunkt steht und das gerade aus dem Zusammenspiel dieser beiden Elemente seine ge‐ stalterische Kraft beziehe. Earle und Mead bringen dies auf die schöne Formel, ,der Essay‘ sei eine logische Struktur, in der aber die Logik zu singen beginne - „El ensayo […] es una estructura lógica, pero donde la lógica se pone a cantar.“ 77 Während sich eine Verknüpfung mit der Erzählung und der Fiktion noch innerhalb eines Felds des Diskursiven bewegt, rührt eine ,poetische Es‐ sayistik‘ an einen besonders tiefen Punkt des ,Essayistischen‘. Denn sie ver‐ knüpft durch die Akzentuierung des Lyrisch-Poetischen zwei radikal unter‐ schiedliche Formen sprachlicher Aussage. Damit erst zeigt sich das ,Essayistische‘ als wahrer Transgressionsmodus. Die Radikalität, welche die poetischen Essays in der zweiten Hälfte des 20. Jh. entfalten, liegt dabei zusätz‐ lich noch auf einer Invertierung der Elemente, welche die diskursumwälzende Kraft des ,Essayistischen‘ zusätzlich betonen: Denn während die Dichtung bei Montaigne eher noch als erneuernder Impuls für die logischen Strukturen des Denkens hervortritt, wird sie nun extensiv und greift auf das Ganze des Text‐ körpers über. Aus der ,estructura lógica que se pone a cantar’ wird eher eine ,est‐ ructura lírica que se pone a filosofar‘. Für die Erneuerung lateinamerikanischer Essayistik beobachtet Jaime Alaz‐ raki drei Stoßrichtungen im 20. Jh. und macht die jeweiligen Entwicklungen anhand dreier Autoren fest: Jorge Luis Borges, Julio Cortázar und Octavio Paz: 44 II. Theorie 78 Vgl. Alazraki, Jaime: Tres formas del ensayo contemporáneo: Borges, Paz, Cortázar. In: Lévy, I. J. / Loveluck, J. (Hg.): Simposio: El ensayo Hispánico. Actas. University of South Carolina 1984, 113-125. S. 119. 79 Vgl. ebd., S. 118 f. 80 Vgl. ebd., S. 117: „cruzar sus propios límites hasta tocar territorios ignorados en la ge‐ ografía del género.“ Borges, der sein Material nach Maßgaben der kurzen Erzählung, des ,cuento‘, strukturiert und ihm dadurch eine relativ feste Form verleiht; Cortázar, der sein essayistisches Werk, paradigmatisch in Rayuela, als ,novela‘ organisiert. Damit komme Cortázar Musils Vorstellung des Essayismus, als Form, die das Innen‐ leben einer Person in ihrem Denken ausdrücke, am nächsten. 78 Er habe die es‐ sayistische Prosa dabei zusätzlich im Sinne eines mündlichen Stils verändert. Octavio Paz wiederum habe, und dies ganz besonders in El mono gramático, ein Projekt der Versöhnung zwischen Essay und Poesie verfolgt und einen Essay mit poetischen Funktionen oder ein Gedicht mit essayistischen Funktionen ge‐ schaffen. 79 Diese Einordnung literarhistorischer Entwicklungen ist übersichtlich und durchaus plausibel; allerdings spricht auch Alazraki von Essay als fester Gat‐ tung. Borges, Paz und Cortázar zwängen ,den Essay‘, über seine eigenen Be‐ schränkungen hinauszutreten. 80 Wenn wir das ,Essayistische‘ aber als ohnehin transgressiv wirksame Praxis begreifen, ist Alazrakis Argumentation wenig zielführend, da nicht eindeutig ermittelt werden kann, worin jene generischen Beschränkungen (límites) bestünden. Es ist wenig überraschend, dass Alazraki in der Exposition seines Artikels Francis Bacon anführt, während er Michel de Montaigne nicht mit einem Wort erwähnt. Die Anerkennung einer entscheid‐ enden Rolle der drei genannten Autoren als große Erneuerer des essayistischen Schreibens innerhalb einer grob gefassten ,Literarisierung‘ ist durchaus richtig. Doch eine ‚poetische Essayistik‛ als bloße Stilfrage klären zu wollen, als poeti‐ sche Ausgestaltung eines essayistischen Texts, trifft nicht, was diese spezielle Essaykunst ausmacht. Ein Essay ist nicht einfach als formales Gattungsexperi‐ ment zu definieren; insofern kann eine ,poetische Essayistik‘ kein Sonderfall des ,Essayistischen‘ sein; vielmehr hat sie Anteil an ihm. Sie ist Ausdruck be‐ stimmter Sensibilitäten, die das ,Essayistische‘ in einer besonderen Radikalität und Deutlichkeit hervortreten lassen. Man müsste die Frage nach den verschie‐ denen Ausprägungen des ,Essayistischen‘ anders stellen und sie als unterschied‐ liche Akzentuierung von Fragestellungen begreifen, die sich gleichzeitig als epochenspezifisch und geschichtsinvariant, als individuell und universell er‐ weisen. Bei einer Betrachtung ,poetischer Essayistik‘ müssen wir also nicht nur stilistisch formale Besonderheiten in Augenschein nehmen, sondern vor allem 45 2 Der ,poetische Essay‘ in Spanien und Lateinamerika 81 Vgl. Sanjuan, Pilar A.: El ensayo hispánico. Madrid: Gredos 1954, S. 12 f. 82 Marichal, S. 14: „uno de los principales ejes de la historia literaria e ideológica de nu‐ estros países.“ 83 Vgl. Loveluck, Juan: Esquividad y concreción del ensayo. In: Lévy, I. J. / Loveluck, J. (Hg.): Simposio: El ensayo Hispánico. Actas. University of South Carolina 1984, 29-43. S. 30. versuchen, ihre tieferen Sensibilitäten zu ergründen. Aus welchen historischen Entwicklungen geht sie hervor? Auf welche Fragen versucht sie zu antworten? Die moderne Essayistik geht von Michel de Montaignes 1580 erstmals ver‐ öffentlichten Essais aus. Doch wie in ganz Europa, so gab es auch in Spanien bereits vor Montaigne eine Kunst des Aufsatzschreibens, geprägt vor allem durch den moralisch-religiösen Antimachiavellismus des Fray Antonio de Gue‐ vara oder durch die Abhandlungen über Gerechtigkeit von Luis Vives. Auch die starke Tradition der Mystiker um Fray Luis de León, San Juan de la Cruz, Santa Teresa und Fray Luis de Granada können als Vorläufer der modernen spanischen Essaykunst betrachtet werden. 81 Juan Marichal spricht sogar von einem Ruf Spaniens als Mutterland der Essayistik, der in den Ursprüngen spanischer Kultur verankert sei. So erinnert Marichal etwa an das berühmte Wort Graciáns vom ,discurrir a lo libre‘ als genuin spanischer Eigenschaft und bezeichnet es als eine der Hauptachsen der Literatur- und Ideengeschichte spanischsprachiger Länder. 82 Der Begriff ,essay‘, oder ,essai‘, den Montaigne als Bezeichnung für seine be‐ sondere Form des Aufsatzes einführte, stammt von der lateinischen Vo‐ kabel ,exagium‘ (Versuch, Probe). Das daraus abgeleitete französische Verb ,es‐ sayer‘ bedeutet so viel wie ,untersuchen, abwägen‘ und impliziert die Haltung einer perspektivisch differenzierten Betrachtung eines Gegenstands. Die älteste bekannte Erwähnung des Wortes ,exagium‘ im literarischen Zusammenhang findet sich dabei nicht etwa im frühneuzeitlichen Périgord, sondern viel früher, im spanischen Mittelalter bei Gonzalo de Berceo, und zwar in der Bedeutung, die noch heute auf den Essay zutrifft, als Versuch und Abwägen, gerichtet an einen Leser oder eine Lesergruppe. 83 So gab es in Spanien vor, aber auch nach Montaigne eine eigenständige und äußerst einflussreiche Tradition von ,Ideen‐ literatur‘, die im allerweitesten Sinn auch ein ,essayistisches Schreiben‘ umfasst. Erwähnt seien zum Beispiel politische Denker des 17. Jh. wie Diego de Saavedra y Fajardo, jesuitische ,tratadistas‘ wie Baltasar Gracián, der Kreis von Aufklärern um Benito Jerónimo Feijoo, José Cadalso und Gaspar Melchor de Jovellanos sowie später im 19. Jh. die Generation der liberalen ,costumbristas‘, allen voran José de Larra und deren konservative Antagonisten Jaime Balmes und Juan Do‐ 46 II. Theorie 84 Vgl. Sanjuan, S. 14-34. 85 Vgl. ebd., S. 41. 86 Vgl. Marichal, S. 63. 87 Vgl. Mignolo, Walter: Discurso ensayístico y tipología textual. In: Lévy, I. J. / Loveluck, J. (Hg.): Simposio: El ensayo Hispánico. Actas. University of South Carolina 1984, 45-61. S. 54. 88 Vgl. ebd., S. 14. 89 Ebd., S. 110. noso Cortés; 84 nicht zu vergessen auch die ,krausistas‘ um Julián Sanz del Río und Francisco Giner de los Ríos. 85 Obwohl Spanien also auf ein sehr reiches Erbe expositorischer Texte blicken kann, setzt sich der Begriff ,Ensayo‘ als Äquivalent zu Montaignes ,Essay‘ erst spät, im 19. Jh. durch. Zwar hatte Diego de Cisneros das erste Buch der Essais bereits während der Jahre 1634-1936 übersetzt, und der Erste, der Montaigne voll Bewunderung zitierte, war kein Geringerer als Francisco de Quevedo. Diese erste Übersetzung ins Spanische war allerdings nicht unter dem Titel Ensayos, sondern als Experiencias y varios discursos de Miguel Señor de Montaña er‐ schienen. 86 Im ausgehenden 18. und Anfang des 19. Jh. wird der Ausdruck ,ensayo‘ zu‐ nehmend in historiografischem Kontext verwendet, wie z. B. im Fall des etwas sperrigen Titels Ensayo histórico-crítico sobre la antigua legislación y principales cuerpos legales de los reinos de Aragón y Castilla (1808) von Francisco Martinez Marina. 87 Die erstmalige Verwendung des Begriffs ,ensayo‘, der sich nicht als historisch-wissenschaftliche Studie versteht, sondern im Kontext der Literatur verwendet wird, datiert auf das Jahr 1818 und findet sich in einer Anthologie von Ángel Anaya: An essay on Spanish literature. Gegen Mitte des 19. Jh. noch steht der ,ensayo‘ nicht als literarische Textgattung für sich, sondern immer mit einem erklärenden Zusatz, wie die Ensayos literarios y críticos von Alberto Lista (1844) oder die Ensayos religiosos, políticos y literarios von Josep María Quadrado aus dem Jahr 1853. Erst mit den 1892 erschienenen Ensayos y revistas von Leo‐ poldo Alas (Clarín) wurde der Zusatz ,literarisch‘ nicht mehr eigens für den Essay genannt. 88 Diese begriffliche Verzögerung ist kein spanischer Sonderfall, sondern eine Erscheinung, die ganz Kontinentaleuropa betrifft, denn die Breitenwirkung des Essays geht von Francis Bacon aus, was nicht zuletzt daran liegt, dass Mon‐ taignes Essais nach dessen Tod auf den vatikanischen Index der verbotenen Bü‐ cher gesetzt wurden und außerdem die strengere Form Bacons in der französi‐ schen Klassik mehr Anklang fand. La Rochefoucauld und Pascal fanden ein größeres Publikum als Montaigne. 89 So erschienen moralisch-didaktische Schriften aus Spanien in England unter dem Titel ,Essays‘, und in Spanien selbst 47 2 Der ,poetische Essay‘ in Spanien und Lateinamerika 90 Vgl. Sanjuan, S. 24. 91 Vgl. Obaldia, S. 3. 92 Vgl. Gracia, Jordi / Ródenas, Domingo: Prólogo. In: Gracia, Jordi / Ródenas, Domingo (Hg.): El ensayo español. Siglo XX. Barcelona: Editorial Crítica 2008, 9-174. S. 12. 93 Vgl. Graci / Ródenas, S. 13. „no tiene, a la verdad, ni pureza, ni corrección, ni precisión, ni gran dignidad [aunque] viveza, valentía, energía y sencillez.“ 94 Sanjauan, S. 49: „a specific and definite form“. 95 Marichal, S. 127. triumphierte die Form des ,ensayo general‘, vor allem im 18. Jh. Diese Essayform ohne lyrisch-poetische Ambitionen zeichnet sich besonders durch eine an der Didaktik ausgerichteten Gelehrsamkeit 90 aus und läuft damit Montaignes In‐ tention prinzipiell zuwider. Nicht belehren, sondern erzählen will Montaigne. 91 Diesem Zweck ordnet er seine Gelehrsamkeit unter. Trotz weit zurückreichender Tradition einer ,Ideenliteratur‘ existiert der ,en‐ sayo‘, so wie er von Montaigne angelegt war, bis ins 19. Jh. nicht. Von einer Kontinuität seit Quevedo könne nicht die Rede sein, so Jordi Gracia und Do‐ mingo Ródenas im Vorwort zu ihrer breit angelegten Anthologie El ensayo es‐ pañol. Auf ihr zu bestehen und sie zu verteidigen hieße, eine Tradition zu er‐ finden. 92 Gerade im Kreis der Aufklärer, unter denen man mit Autoren wie Feijoo bereits essayistisches Schreiben vermuten möchte, war die Skepsis gegenüber Montaigne groß. Das Urteil, das Antonio de Campany über die Essias spricht, spiegelt wohl eine damals gängige Einschätzung wider: Sie besäßen weder Rein‐ heit noch Richtigkeit, noch Genauigkeit, noch große Würde, wenn auch Leb‐ haftigkeit, Mut, Energie und Schlichtheit. 93 Erst mit der ,Generación del 98‘ und besonders Azorín, Pío Baroja und Miguel de Unamuno findet ,der Essay‘ zu einer von Montaigne inspirierten Ausprägung zurück. Nach Meinung Pilar Sanjuans entsteht der Essay in dieser Zeit als konkrete und klare, endgültige Form. 94 Diese Formulierung halte ich für wenig glücklich. Denn das ,Essayistische‘ stellt die Attribute des ,Spezifischen‘, der ,Klarheit‘ und der ,Endgültigkeit‘ radikal in‐ frage. Dennoch entspricht die Zuwendung zum Essay während des 19. Jh. si‐ cherlich einer Wieder- oder Neuentdeckung der Subjektivität. Die seit der Ro‐ mantik zunehmend veränderte Position des Individuums gegenüber der Gesellschaft ist auch in der Person des Essayisten erkennbar. Juan Marichal spricht in diesem Zusammenhang von einer Aufgabe der reinen Beobachterpo‐ sition, welche die Intellektuellen oftmals zu Fremden im eigenen Land, zu „extranjeros en su patria“ 95 gemacht habe. Dies habe sich im 19. Jh. geändert. Seit Larra erkenne sich der Intellektuelle als integraler Bestandteil der Gesellschaft, und die Debatten kreisten um die Frage, ob und in welcher Weise es möglich sei, sich von den kollektiven Fehlern des Umfelds zu befreien und eine eigene Individualität zu entfalten. Beantwortet Larra die Frage negativ und ergibt sich 48 II. Theorie 96 Vgl. ebd., S. 131. 97 Vgl. ebd., S. 133 f. 98 Weissenberger, S. 117. 99 Vgl. Marichal, S. 150. „Frente a la retórica anónima de la oratoria y el amable imperso‐ nalismo de muchos escritores, los hombres del 98 predicaban el evangelio literario del individualismo.“ 100 Gracia / Ródenas, S. 13. in stiller Resignation der Verwicklung in kulturelle Unzulänglichkeiten, so be‐ tonen die ,krausistas‘ um Sanz del Río die nützlichen Seiten des Kollektivs: Das von Larra aufgeworfene Dilemma zwischen dem ,Ich‘ und den Sitten, Person und Gesellschaft, müsse nicht in die Zerstörung des Individuums münden. 96 Mit Unamuno beginnt nun für den Essay die Wiederentdeckung des Individuums und seiner Subjektivität innerhalb des Kollektivs. Wie Juan Marichal schreibt, ist Unamuno ,krausista‘ hinsichtlich der Position, dass sich Individualität nur durch ein bedingungsloses Bekenntnis zur Gesellschaft entfaltet. Anders als für Sanz del Río hingegen impliziere für ihn die Zugehörigkeit zum Kollektiv nicht deren weitgehende Akzeptanz. Um zu sich selbst zu finden, kämpfe Unamuno gegen bestimmte Formen der eigenen Kultur an, was für ihn gerade als spani‐ scher Intellektueller ein Umstand von besonders dramatischer Tragweite sei. 97 Unamuno ist die prägende Figur, die den Essay in seiner „spekulativen Dimen‐ sion“ 98 mit seiner für diese Form so charakteristischen Subjektivität wiederbe‐ lebt. Damit eröffnet er seiner Generation neue Wege des Ausdrucks. 99 Für Unamuno und die 98er wird ,der Essay‘ zu einem wesentlichen Ausdrucksmittel und zum Paradigma einer „escritura en libertad“ 100 , die sich ihrer Herkunft mit Mon‐ taigne sehr bewusst ist. Vielleicht ist es kein Zufall, dass das Jahr 1898 neben dem politischen Ereignis auch noch ein wichtiges literarisches zeitigt: die erste vollständige Montaigne-Übersetzung ins Spanische in Paris durch Garnier. Unter der nachfolgenden Generation von Intellektuellen ist José Ortega y Gasset die einflussreichste Figur. Die 1923 durch ihn gegründete Revista de Oc‐ cidente wird nicht nur zum Medium der Verbreitung neuer Ideen, sondern auch für die essayistische Art ihrer Darstellung, nicht nur in Kunst und Literatur, sondern auch in Wirtschaft, Wissenschaft, Soziologie und Architektur. Die Re‐ vista ist Zugpferd für einen ,Essayismus‘, verstanden als Lebensform, die alle Bereiche des sozialen Lebens durchdringt. Allerdings besitzen viele dieser Texte einen deutlichen Bildungsauftrag und sind didaktisch ausgerichtet. Damit er‐ halten sie eine feste und durchdachte Form, in der ihr gedanklicher Inhalt schon vorstrukturiert erscheint. Viele dieser Essays besitzen Traktatcharakter. Auch Ortega selbst besitzt eine ausgeprägte didaktische Sensibilität, der sein großer stilistischer Gestaltungswille untergeordnet ist. Seine zwischen Gelehrsamkeit 49 2 Der ,poetische Essay‘ in Spanien und Lateinamerika 101 Vgl. ebd., S. 58 f. 102 Caballero Rodríguez, Beatriz: María Zambrano. A life of poetic reason and political com‐ mitment. University of Wales Press 2017, S. 28. und populärem Ausdruck, lateinischen Zitaten, Neologismen und Metaphern mäandernde Eloquenz soll sein Denken vor allem ,verführerisch‘ gestalten und dadurch die Verbreitung seiner Ideen fördern. Diese stilistischen Besonder‐ heiten sind prägend für seine Generation, und so bleibt auch für seine Schülerin María Zambrano die enge Verbindung von Denken und Ausdruck eminent wichtig. 101 Die Bindung des ideellen Gehalts an den Ausdruck ist vielleicht eine der grundlegendsten Beobachtungen bei der Charakterisierung essayistischer Schreibweisen im kontinentalen ,Montaigne-Stil‘. Unter diese Universalia zählt aber auch eine Verknüpfung unterschiedlicher Diskursarten sowie, ganz allge‐ mein, die Herstellung neuer, zunächst ,unwahrscheinlicher‘ Verbindungslinien innerhalb des Denkens. In diesem Sinn ist auch Ortegas Philosophie selbst von einem ,essayistischen Geist‘ durchdrungen. Sein Projekt besteht in einer Ver‐ söhnung von Rationalismus und Vitalismus in einer radikal historisch ge‐ dachten Realität durch die Theoretisierung einer ,razón vital‘. Für Zambrano könnte sie ein Anstoß oder Stichwortgeber gewesen sein, ihrerseits nun Ge‐ danken zu einer ,razón poética‘ zu entwickeln. Zambrano emanzipiert sich aber dabei nicht nur von Ortegas Philosophie, sondern auch von dessen Stil. Während Ortegas Denken und Schreiben stets einem ,traditionellen‘ philosophischen Diskurs verpflichtet bleibt, geht seine Schülerin einen neuen Weg: Statt Ge‐ danken rein diskursiv zu verhandeln und ihnen lediglich durch ,Zugabe‘ poeti‐ scher Elemente einen in weitestem Sinn ,literarischen Charakter‘ zu verleihen, setzt die Sprache den Gedanken in ihrem Ausdruck selbst um. Dieser hohe Grad dessen, was ich später als ,Performativität des Essayistischen‘ bezeichne, ist in Montaignes Essaystil angelegt, kommt aber durch die Lyrisierung noch eine andere Dimension. Die Bindung der Idee an den Ausdruck wird vielschichtiger - sie ,verdichtet‘ sich. Die essayistische ,Melange‘ von Gedanken und Diskurs‐ arten, thematisiert sich nun selbst im Ausdruck - als Heterogenität und Diffe‐ renzhaftigkeit der Sprache. Anders ausgedrückt: Es geht nicht um Essays über ein Thema, sondern um die Sprache selbst als Essay. Zambranos verdichteter Essaystil entspricht gewissen Sensibilitäten der Epoche für derartige Projekte; die Lyrisierung von ,Ideenliteratur‘ erscheint auch auf der iberischen Halbinsel gewiss nicht ohne Vorläufer. Herausheben möchte ich in diesem Zusammenhang lediglich den katalanischen Philosophen und Essayisten Eugenio d’Ors. Zambrano hatte Ors in den Jahren 1922 / 23 auf dem vorläufigen Höhepunkt von dessen Popularität persönlich auf Vorträgen in Segovia gehört. 102 Möglicherweise hatte sie sich bei dieser Gelegenheit auch 50 II. Theorie 103 Gracia / Ródenas, S. 69. 104 Vgl. ebd., S. 69. 105 Vgl. d’Ors, Eurgenio: Oceanografía del tedio. In: d'Ors, Eugenio: Historias lúcidas. Madrid: Fundación Banco Santander 2011 [1916], 143-292. S. 147: „Doctor ha dicho: -No prescribo el campo. No prescribo el reposo. Autor, Autor, hombre del fervor inextinguible, ¡demasiado sé cómo ibas tú a entenderlos, el campo, el reposo! Prescribo, única medida para la salvación, el tedio. El tedio al pie de la letra. Sin atenuaciones, sin matiz: el tedio. No excursión; chaise-longue. No conversación; silencio. No lectura; letargo … En lo posible ¡ni un movimiento, ni un pensamiento! “ eindringlicher mit Ors’ philosophischem Projekt auseinandergesetzt. Wie Ors einige Jahre später, 1927, seinem Vertrauten Valery Larbaud mitteilte, hatte er nichts Geringeres im Sinn als eine Kepler’sche Reform des Denkens, indem er den Bereich der Ratio mit einem Mystizismus à la Bergson vereinen wollte. Diese intellektuelle Wende verlangte dabei seiner Ansicht nach auch einen verän‐ derten Stil, den er selbst als Sprache zwischen Prosa und Dichtung beschreibt, als „una especie de lenguaje intermedio entre prosa y verso“. 103 Ors wollte sein Vorhaben nicht dem Projekt einer damals in Mode geratenen ,prosa lírica‘ an‐ schließen, sondern ausdrücklich das Feld der Prosa nicht verlassen. Jedoch sollte die Prosa dem Gesetz der Dichtung folgen („la ley nativa del verso“). 104 Ob nun María Zambranos Projekt einer ,dichterischen Vernunft‘ auf Ors zurückgeht oder vollkommen unabhängig davon entsteht, ist unklar; jedenfalls findet die philosophische Zusammenführung von Ratio und intuitiveren Strukturen des Geistes, die auch mit stilistischer Entsprechung materialisiert werden, einen Pi‐ onier in Ors. Dieser entwickelt allerdings in späteren Jahren politisch einen tiefen Konservatismus und schließt sich dem ,Falangismo‘ an: unvereinbar mit Zambranos kämpferischem Engagement für die spanische Republik. Was aber immerhin für eine Rezeption Ors’ durch Zambrano spricht, ist der Ansatz reiner Kontemplation, des Denkens als Nichtdenken, der beiden zu eigen ist. Ors hatte es in Oceanografía del tedio bereits 1916 erzählerisch in Szene gesetzt: „¡ni un pensamiento, ni un movimiento! “ 105 Die reine Betrachtung des Bildhaften, Me‐ ditation und Stille sind bei Ors einem Ideal des ,Noucentisme‘ geschuldet: Die klassizistische, zuweilen extrem reduzierte Ästhetik sollte die Präzision des in‐ tellektuellen Ausdrucks und die Besinnung auf ein Wesentliches fördern. Zam‐ brano hingegen entlehnt ihre meditative Haltung eher der spanischen Mystik. Die Erforschung der Stille ist jedoch für beide ein intellektuelles Projekt im Sinne einer Weltschau, die sich einer Unbekannten zuwendet; eine Selbstbetrachtung als Ozeanografie der Seele. Dieses Projekt ist bei Zambrano untrennbar mit der Poesie verbunden, weil die Poesie Ort dieser Stille ist. Sie verweist auf das, was dem philosophischen Intellekt entgeht: die Leere zwischen den Zeilen und die Pausen zwischen den Worten; auf einen Zustand, der dem Wort vorgängig ist 51 2 Der ,poetische Essay‘ in Spanien und Lateinamerika 106 Paz: Una voz que venía de lejos (María Zambrano 1904-1991). in: Homenaje a María Zambrano. Estudios y correspondencia. Colegio de México 1998, 23-25. S. 25: „Es una voz líquida, que no avanza en línea recta sino serpeando entre pausas y vacilaciones“. 107 d̛Ors, S. 153: „Pero el mar, que parece a un contemplador frívolo la igualdad y la mo‐ notonía supremas, ofrece al buzo que en él profundiza el prestigio de mil espectáculos en el templo de la sirena.“ 108 (e. Ü.): „La poesía siempre ha de ser la forma de lo informe“. Brief von María Zambrano an Virgilio Piñera, datiert vom 5. 11. 1941 in Río Piedras, Puerto Rico. Zit. nach: Valender, James: Luis Cernuda y María Zambrano: Simpatías y diferencias. in: Homenaje a María Zambrano. Estudios y correspondencia. Colegio de México 1998, 165-168. S. 171. 109 Sanjaun, S. 76. und dasjenige bewahrt, was sich noch nicht in die Endgültigkeit der Form gefügt hat. Wie Octavio Paz sich erinnern wird, ist dies in seinen zahllosen Gesprächen mit der Philosophin die Stimme Zambranos selbst gewesen: „Es ist eine flüssige Stimme, die nicht geradlinig voranschreitet, sondern sich zwischen Pausen und Schwankungen hindurchschlängelt.“ 106 Poetische Essayistik ist die Betrachtung der eigenen Stimme; nicht in ihrem Fluss, sondern in ihrer ozeanischen Dimen‐ sion: „Doch das Meer, das dem frivolen Beobachter als höchste Gleichheit und Monotonie erscheint, bietet dem Taucher, der sich in es vertieft, das Erstaunen über tausend Schauspiele im fantastischen Tempel der Sirene.“ 107 Der Ort des Selbst liegt in den Zwischenräumen der Sprache; in ihren Vertiefungen, in ihren Pausen. Er ist immer dort, wo die Sprache etwas umgeht und von etwas schweigt. Die poetisch essayistische Selbstbetrachtung erkennt das Selbst als Stille, als Ausgangspunkt der Dichtung, der selbst die Struktur des ,Ozeanischen‘ besitzt: „Die Poesie muss immer die Form des Ungeformten sein“, 108 schreibt Zambrano an den kubanischen Dichter Virgilio Piñera. Poetische Essayistik ist der Versuch, das Ungeformte des Selbst in dieser Stille zu erkunden. Sie ist ein Anhalten der Sprache und der Versuch, ihre Tiefe auszuloten, das heißt dem poetischen Vermögen des Wortes, den Möglichkeiten seiner Erfassung und Ge‐ staltung der Welt nachzuspüren. Sprechen. Verklingen lassen. Hören. Neu an‐ setzen. In diesem Sinne ist poetische Essayistik Ozeanografie: die Erkundung dessen, was Octavio Paz die „Flüssigkeit“ der Stimme Zambranos nennt; eine tastende, kritische Versenkung in die nachklingende Stille des Wortes. In Lateinamerika verläuft die Entwicklung des Begriffs ,ensayo‘ ähnlich wie in Spanien. Pilar Sanjuan spricht von einem klaren Parallelismus in der Entfaltung des modernen spanischen und lateinamerikanischen Denkens, der sich in der Essayistik spiegele. 109 Der Beginn der Kolonialzeit bedeutet gleichzeitig einen ersten Export spanischer Ideenliteratur. War Amerika zunächst lediglich Thema in den Chroniken spanischer Conquistadores, bildete sich rasch eine Generation 52 II. Theorie 110 Blasi, Alberto: Hacia una caracterización del ensayo decimonónico. In: Lévy, I. J. / Love‐ luck, J. (Hg.): Simposio: El ensayo Hispánico. Actas. University of South Carolina 1984, 1-8, S. 1. 111 Vgl. Lagmanovich, David: Hacia una teoría del ensayo hispanoamericano. In: Lévy, I. J. / Loveluck, J. (Hg.): Simposio: El ensayo Hispánico. Actas. University of South Carolina 1984, 17-28, S. 17. 112 Loveluck, S. 33. 113 Vgl. Earle / Mead, S. 11. 114 Vgl. ebd., S. 28-42. 115 Vgl. ebd., S. 27: „Quieren poner la política al servicio de la educación, buscan una filosofía social más bien burguesa y liberal.“ von Autoren wie Fray Bartolomé de las Casas oder Sor Juana de la Cruz, die in den Kolonien lebten bzw. bereits dort geboren waren und in ihren Texten einen genuin kolonial-amerikanischen Blick auf die Realitäten des neuen Kontinents entwickelten. Ob es allerdings im 16. und 17. Jh. bereits einen ,lateinamerikani‐ schen Essay‘ gab, darüber herrscht Uneinigkeit: Zwar will Alberto Blasi in den Berichten der Conquistadores, die sich mittels einer „voluntad de visión“ 110 die Neue Welt erschlossen, bereits Vorläufer des Essays erblicken. Dem widerspricht aber vehement David Lagmanovich: Die Geschichte des ,lateinamerikanischen Essays‘ beginnt seiner Meinung nach erst mit der Entstehung der Republiken in den 1840er-Jahren. 111 Letztlich ist es erneut eine Frage des Verständnisses des Begriffs ,ensayo‘, welchem Standpunkt größere Gültigkeit zuerkannt wird. Ähn‐ lich wie in Spanien entsteht im 16. und 17. Jh. ,Ideenliteratur‘ in Form des ,tra‐ tado‘ oder der ,meditación filososófica‘, und mit der Aufklärung kommt es zu einer Entstehung zahlreicher Zeitschriften, ,revistas misceláneas‘ und Gazetten, die einen Diskurs etablieren, der essayistische Züge, „rasgos ensayísticos“, 112 trägt. Der Begriff des ,ensayo‘ setzt sich jedoch auch in Amerika erst im 19. Jh. durch. 113 In den beiden Generationen von Romantikern um Esteban Echevarría, Juan Montalvo und Eugenio María Hostos als herausragenden Figuren gehen Lite‐ ratur und Politik eine besonders enge Verbindung ein: 114 Den lateinamerikani‐ schen Intellektuellen dieser Zeit geht es vor allem um politische Emanzipation, die sie mittels einer geistigen anstreben. Natürlich fällt unter diesen Typus auch Sarmientos berühmter Facundo. Didaktik und Erziehung stehen im Vorder‐ grund, 115 was Montaignes Konzeption des Essays bereits prinzipiell zuwider‐ läuft. Dennoch lodert in Sarmientos romantischem Eklektizismus eine trans‐ gressive Ästhetik, die man bereits als essayistische Haltung bezeichnen könnte. In einer wilden Durchmischung landeskundlicher und soziologischer Betrach‐ tungen, lebendiger Beschreibungen, persönlicher Erzählungen und Anekdoten, 53 2 Der ,poetische Essay‘ in Spanien und Lateinamerika 116 Vgl. Lagmanovich S. 19. 117 Vgl. Earle / Mead, S. 47. 118 Loveluck, S. 37. 119 Ebd., S. 35. Diese Einschätzung kann freilich nur im Bewusstsein grober Vereinfachung für einen ersten orientierenden Blick dienlich sein. 120 Vgl. Lagmanovich, S. 18 f. biografischer Notizen und Gedichtzitate verschafft sie sich einen wortgewal‐ tigen Ausdruck. Der ,ensayo naturalista-modernista‘ umfasst die zwischen 1845 und 1889 geborenen Schriftsteller. Die ,großen Namen‘ unter ihnen sind José Martí, Paul Groussac, Rubén Darío, José Enrique Rodó und José Vasconcelos, um nur einige zu nennen. 116 Diese Generationen sind geprägt von einer Wiederentdeckung humanistischen Denkens und einem aufkommenden Kosmopolitismus. 117 Die Tradition der lateinamerikanischen ,Ideenliteratur‘ ist zu heterogen und weit‐ läufig, um sie hier in Kürze darzustellen. Dazu kommt, dass der Versuch einer Gliederung in ,ensayo romántico‘, ,modernista‘, ,vanguardista‘, wie David Lag‐ manovich sie hier vorstellt, nur bedingt sinnvoll erscheint. Gewiss lassen sich stilistische und thematische Zusammensetzung dieser Texte sehr grob ihrer Epoche zuordnen; der Erkenntnisgewinn einer solchen Zuordnung ist allerdings fraglich. Zudem gibt es nicht nur große Unterschiede zwischen Autoren der‐ selben Epoche; auch das Werk jedes Einzelnen ist in sich oft äußerst heterogen. Allgemein lässt sich jedoch feststellen, dass sich expositorisches Schreiben in Lateinamerika vor allem kämpferisch und politisch gibt. Ausgehend von der romantischen Entdeckung des ,Ich‘ in seiner Subjektivität, schreibt es gegen koloniale Kräfte an, protestiert gegen Militarismus, Autokratie, Vertreibung und schwindende Identität. ,Der Essay‘ ist in Lateinamerika in besonderer Weise Mittel der Anklage und „llamada a la acción“. 118 Dies entspricht der Wandlung, die nach Juan Loveluck jede Kunstform auf dem Weg von Europa nach Amerika vollzogen hat; im Falle des ,Essay‘ spricht er von einer Wendung ins Program‐ matische und Eruptuive - von einem „tránsito de la fórmula europea (contem‐ plativa y serena, con vuelos metafísicos y abstrusas elaboraciones) hasta una voluntad programática, luchadora y eruptiva“. 119 Die Wiederentdeckung einer Essayistik, die sich auf ihre Wurzeln in der frühen Moderne und besonders auf eine spekulative, persönliche und beobach‐ tende Dimension zurückbesinnt, erfolgt in Lateinamerika mit der ,Generación del 27‘, die an dieser Stelle nicht mit der gleichnamigen spanischen Generation verwechselt werden darf. David Lagmanovich assoziiert sie in seiner an Cedomil Goic orientierten Klassifikation 120 mit dem Erscheinen eines neuen Typs des Essays, dem ,ensayo vanguardista-existencialista‘. Seine wichtigsten Vertreter 54 II. Theorie 121 Balderston, Daniel: Borges, ensayísta. In: de Toro, Alfonso / de Toro, Fernando (Hg.): El siglo de Borges II. Literatura, ciencia, filosofía. Madrid: Iberoamericana / Frankfurt a. M.: Vervuert 1999, 565-577. S. 576 f.: „Borges abre el ensayo latinoamericano a lo tentativo, lo personal, lo provisional […] y su toque irónico, su manera hábil de socavar la certeza, puede resultar ser su contribución más importante al género.“ 122 Vgl. de Obaldia, S. 57; Alazraki: Tres formas del ensayo contemporáneo, S. 116. Die These einer fortschreitenden Literarisierung sollte meines Erachtens unter Vorbehalt be‐ trachtet werden. Gerade wenn Borges als (vorläufiger) Zielpunkt einer Entwicklung in die Diskussion eingeführt wird, scheint sich der Begriff der ,Literarizität‘ zu einseitig auf ,Fiktionalität‘ zu beziehen. Zudem ist fraglich, ob sich die Annahme einer (mehr oder weniger kontinuierlichen) Entwicklung hin zu ,Literarizität‘ überhaupt aufrecht‐ erhalten ließe. Denn bereits Montaignes Essais durchlaufen eine Entwicklung hin zu einer stärkeren Präsenz dessen, was sich im weitesten Sinn als ,literarisch‘ beschreiben lässt: Das personale, erzählerische Moment nimmt im dritten Band deutlich zu. In die Geschichte essayistischen Schreibens eine ,Literarisierung‘ teleologisch zu implizieren und darin die Erfüllung einer ,ursprünglichen Form‘ zu sehen halte ich für heikel, und das noch mehr, wenn ,Literarisierung‘ mit einer Herausbildung fiktionaler Tendenzen identifiziert wird. Ohne an dieser Stelle auf die Problematik des Literaturbegriffs ein‐ gehen zu wollen, sollte doch kritisch hinterfragt werden, ob solche Thesen nicht Gefahr laufen, zeitgenössische Vorstellungen von ,Literatur‘ zur ewigkeitswirksamen Norm zu erheben. Ob Sarmientos Facundo, ja ob Bernal Díaz’ Historia verdadera in irgendeiner Weise als weniger ,literarisch‘, ,erzählend‘ oder gar ,fiktional‘ als Borges’ Ficciones gelten können, sei ohnehin dahingestellt. 123 Maíz, Claudio: La historia en el ensayo o el ensayo en la historia. In: Castilleja Magdaleno, Diana / Houvenaghel, Eugenia / Vandebosch, Dagmar (Hg.): El ensayo hispánico: cruces sind neben José Carlos Mariátegui vor allem Autoren aus dem La-Plata-Raum wie Ezequiel Martinez Estrada, später Ernesto Sábato und natürlich die heraus‐ ragende Figur J. L. Borges. Daniel Balderston nach vereint gerade Borges zahl‐ reiche Charakteristika des Montaigne-Typus. So biete seine relativierende Hal‐ tung keine definitiven Lösungen und bleibe stattdessen im Spekulativen. Sein ironischer Ton, mit dem er Sicherheiten untergrabe, könne als wichtigster Bei‐ trag zu einer Gattung des Essays zählen. 121 Für Claire de Obaldia verkörpert Borges gar den essayistischen Geist in besonderer Weise: Die Essayistik sei seit Montaigne ein steter Übergang vom Philosophischen zum Literarischen, und diese Tendenz sei im Fall Borges besonders gut zu beobachten. Wie bereits Jaime Alazraki beobachtet auch sie die Verschmelzung von ,cuento‘ und ,ensayo‘ in seinem Werk. 122 Die Essayistik in Lateinamerika der ersten Hälfte des 20. Jh. steht unter dem Zeichen der großen Panoramen der Geschichtsdeutung. Wie Claudio Maíz her‐ vorhebt, bestärkten nicht zuletzt die beiden Weltkriege trotz des Bewusstseins der Randständigkeit ein wachsendes Selbstbewusstsein: „Lateinamerika kehrt auf die Weltbühne zurück als Kontinent des Friedens, des gelobten Landes und als Zuflucht vor so vielen Übeln der Menschheit.“ 123 Viele der historischen Ro‐ 55 2 Der ,poetische Essay‘ in Spanien und Lateinamerika de géneros, síntesis de formas. Genf: Libraire DROZ 2012, 71-82. S. 73: „América Latina volvió a la escena mundial como el continente de la paz, la tierra promisoria y el refugio a tantos males de la humanidad.“ 124 Vgl. Maíz, S. 72-77. 125 Ebd., S. 79. „revisión, delegitimación y hasta impugnación de las versiones de la historia existentes.“ 126 Mit seinen Beschreibungen folkloristischer Figuren wie der des ,Gaucho‘, des ,Payador‘ und des ,Rastreador‘ hatte bereits Sarmiento einen durchaus ambivalenten Mythos in die historische Betrachtung eingeführt. Der Kommentar zu nationalen ,Typen‘ in El laberinto de la soledad findet womöglich eine Inspirationsquelle in dem berühmten Ar‐ gentinier. mane dieser Zeit, so Maíz, gründeten auf einer affirmativen Neubewertung der Geschichte durch bedeutende Autoren wie Pedro Enríquez Ureña, Arturo Uslar Pietri, Mariano Picón-Salas und Alfonso Reyes. Anliegen dieser Generation sei nicht nur das Zeichnen lateinamerikanischer Identität, sondern auch die För‐ derung des Bewusstseins einer kulturellen Kontinuität mit der Iberischen Halb‐ insel sowie der Einbindung in die abendländische Zivilisation. 124 Doch in der zweiten Hälfte des 20. Jh. sehen sich die homogenisierenden Tendenzen in der Interpretation lateinamerikanischer und nationaler Identität zunehmender Kritik ausgesetzt. Begriffe von ,Stabilität‘, ,Ordnung‘ und ,Tradition‘ werden fraglich. Maíz spricht von einer Periode der „Revision, Delegitimierung und sogar Anfechtung der existierenden Versionen von Geschichte“. 125 Octavio Paz steht nach Ansicht von Maíz nun paradigmatisch für diesen Wechsel. Mit El laberinto de la soledad (1950) erhält der Mythos seinen Platz in der historischen Deutung. Er wirkt doppelgesichtig, ist einerseits identitätsformende Kraft, ver‐ hindert und zergliedert gleichzeitig aber auch manifeste positive Identität durch seine Mehrdeutigkeit. 126 Die Entdeckung der Präsenz des Mythos als das Okkulte in der Geschichte führt vor Augen, dass es kein einfach zugängliches und in sich geschlossenes Symbol von Identität geben kann. War bei Rodó noch ein Ariel als polemische Kampfmetapher der Serenität des lateinamerikanischen Geistes gegen den utilitaristischen amerikanischen Norden emporgestiegen, so er‐ scheinen nun in sich hochproblematische und ambivalente Symbole wie die Figur der Malinche bei Octavio Paz. Borges hatte bereits das Feld einer Sensibilität für das Ambige und das Chi‐ märische metaphysischer Konstruktionen eröffnet, indem er sie in etwas Apo‐ kryphes und oft genug Schauerliches kippen oder umschlagen lässt. Noch mehr als in einer ,Literarisierung‘ liegt die Bedeutung der Borges’schen ,écriture‘ für die Veränderungen in der lateinamerikanischen Essayistik wohl in diesem Im‐ puls begründet: Er unterwirft das Subjekt Kräften, die sich als unkontrollierbar erweisen und seine Sinnkonstruktionen gleichsam von innen her aushöhlen. 56 II. Theorie 127 Vgl. Matzat, Wolfgang: Lateinamerikanische Identitätsentwürfe: Essayistische Reflexion und narrative Inszenierung. Tübingen: Narr 1996, S. 148. 128 Matzat, Wolfgang: Lateinamerikanische Identitätsentwürfe: Essayistische Reflexion und narrative Inszenierung. Tübingen: Narr 1996. 129 Matzat, S. 114 f. Aus diesem Grund ergeben sich von Borges aus immer wieder Verbindungsli‐ nien zu Poststrukturalismus und Dekonstruktion - aber ebenso zum Unbe‐ wussten der Psychoanalyse und zum Phantastischen. Der essayistische Diskurs, so lässt sich vielleicht allgemein feststellen, gewinnt gegen Mitte des 20. Jh. etwas Abgründigeres, das in der mexikanischen Essayistik zudem mit einem gesteigerten Interesse an innerpsychischen Erklärungsmodellen der nationalen Identität zusammenfällt. 127 Der nationale bis pan-amerikanische Identitätsdiskurs ist eines der wichtigsten Beschäftigungsfelder expositorischer Texte in Lateinamerika. Auch in Mexiko ist der ‚Identitätsessay‛ enorm wichtig und stellt einen ganz eigenen Zweig der Ideenliteratur dar. Eine wertvolle Studie über das Thema hat Wolfgang Matzat mit seinem Buch Lateinamerikanische Identitätsentwürfe geliefert. 128 Matzat macht dabei auf die Schwierigkeit aufmerksam, die eigene Identität mit Hilfe fremder, meist aus Europa importierter Diskurse zu formulieren, die darüber hinaus die Überlegenheit des Zentrums über die Peripherie beanspruchen. Auf diese Weise finde die Argumentation durch ein Umschreiben fremder Diskurse, „rhetorische Manipulationen“, „dekonstruktive Verkehrung und Umhierarchi‐ sierung von Oppositionsrelationen“ statt. 129 Für Mexiko stelle sich insbesondere die Problematik der doppelten Abgrenzung, von Europa, wie von den USA . In verschiedenen Etappen oder Phasen arbeiten sich die Autoren dabei an einem jeweils gültigen Paradigma ab: zunächst mit dem sozialdarwinistisch positivis‐ tischen des 19. Jh. Herausragender Vertreter einer Umdeutung und Kritik dieses Diskurses wäre José Vasconcelos mit La raza cósmica von 1925. Gegen Ende des Regimes von Porfírio Díaz kommt es mit dem Vitalismus zum Paradigmen‐ wechsel, dem sich besonders die wissenschaftliche Gesellschaft des ‚Ateneo de la Juventud Mexicana‛ um Alfonso Reyes, Pedro Enríquez Ureña und Antonio Caso widmet. In einer weiteren Phase setzt nach Matzat eine Auseinanderset‐ zung mit dem historischen Perspektivismus Ortega y Gassets und der Tiefen‐ psychologie Alfred Adlers ein. Zu nennen sei in diesem Kontext besonders Sa‐ muel Ramos und El perfil del hombre y la cultura en México von 1934, von dem sich Octavio Paz beeinflusst zeigt: Ramos schließt von manifesten kulturellen Symptomen auf verborgene Ursachen, führt den Topos des Schein- oder Mas‐ kenhaften in die mexikanische Identitätsdebatte ein, sowie den der Selbstent‐ 57 2 Der ,poetische Essay‘ in Spanien und Lateinamerika 130 Matzat, S. 143. 131 Vgl. Ebd. S. 141 ff. 132 Ebd., S. 148. 133 Vgl. Ebd., S. 158 ff. 134 Vgl. Lafaye, Jacques: Octavio Paz den la deriva de la modernidad. Siete ensayos de Jacques Lafaye. Mexiko D. F.: Fondo de Cultura Económica 2013, S. 98. fremdung und des mexikanischen Minderwertigkeitskomplexes. Bei der Kon‐ struktion eines Volkscharakters greift er auf die Unterschichten-Figur des ‚pelado‛ als ein „autre intérieur“ 130 zurück; Octavio Paz wird es ihm später mit der Figur des ‚pachuco‛ gleichtun. 131 Ab Mitte des 20. Jh. etwa beschäftigen sich die Autoren mit dem Existenzia‐ lismus und mit Heidegger, dessen Rezeption in Mexiko vor allem über den Exil‐ spanier José Gaos, seine Schüler Leopoldo Zea und Emilio Uranga, und die phi‐ losophische Vereinigung ‚Hiperión‛ einsickert. Diese Phase, so Matzat, ist von einer Internalisierung geprägt, in welcher die Andersartigkeit des mexikani‐ schen Wesens zunehmend eine Deutung hinsichtlich eines „innerpsychisch An‐ deren“ 132 erfährt. Freilich lässt sich Octavio Paz nicht vollkommen außerhalb der Tradition der mexikanischen Identitätstraktate denken. Dennoch hebt er sich deutlich von ihr ab. Hatten sich seine Vorgänger vornehmlich am Paradigma ihrer jeweiligen Epoche orientiert, oder dieses kritisiert, so kommt es bei Paz zu einer Hybridi‐ sierung der Diskurses; zu einem Eklektizismus sich teils sogar widersprechender Argumentationsformen. 133 Für den laberinto de la soledad greift er zwar einige Ansätze von Samuel Ramos auf, rückt aber zunehmend davon ab. Etwa 25 Jahre nach Erscheinen des laberinto kritisiert er Ramos‛ totale Abhängigkeit der Ar‐ gumentation von den Modellen Alfred Adlers ausdrücklich. 134 Neben der Ab‐ grenzung gegen eindimensionale Argumentation und der Verwendung essay‐ istisch-pluraler Verfahren, unterscheidet sich Paz berühmtester Beitrag zur mexikanischen Identitätsdebatte durch seinen universalistischen Zugang. In einem Brief an Alfonso Reyes vom 23. November 1949 macht Paz klar, dass es ihm beim laberinto nicht um eine Darstellung exklusiv mexikanischer Identität geht. Er folgt einem weitaus kosmopolitischerem Ansatz: Eine in seine Partikularismen verliebte Intelligenz […] beginnt, keine mehr zu sein. Oder, um es noch deutlicher zu sagen: ich fürchte, für einige besteht das Mexi‐ kaner-Sein in etwas so Exklusivem, dass es uns die Möglichkeit verweigert, einfach nur Menschen zu sein. Und ich erinnere daran, dass Franzose, Spanier oder Chinese 58 II. Theorie 135 Reyes, Alfonso / Paz, Octavio: Correspondencia (1939-1959) Edición de Anthony Stanton. México D. F.: Fondo de Cultura Económica / Fundación Octavio Paz 1998, S. 117(e. Ü.): „Y una inteligencia enamorada de sus particularismos […] empieza a no ser inteligente. O para decirlo más claramente: temo que para algunos ser mexicano consiste en algo tan exclusivo que nos niega la posibilidad de ser hombres, a secas. Y recuerdo que ser francés, español o chino sólo son maneras históricas de ser algo que rebasa lo francés, lo español o lo chino.“ 136 Paz: Los hijos de La Malinche. In: El laberinto de la soledad [1950]. Madrid: Cátedra 1993. 26. Aufl. 2018, 210-235. S. 210. 137 Vgl. Paz: Los hijos de La Malinche, S. 219: „En nuestro lenguaje diario hay un grupo de palabras prohibidas, secretas, sin contenido claro, y a cuya mágica ambigüedad confi‐ amos la expresión de las más brutales o sútiles de nuestras emociones o reacciones. […] Cada letra y cada sílaba están animadas de una vida doble, al mismo tiempo luminosa y oscura, que nos revela y oculta.“ zu sein nur eine geschichtliche Art und Weise ist, über das Französische, Spanische oder Chinesische hinauszugehen. 135 Wenn Paz also in Los hijos de La Malinche, das mexikanische Wesen unter dem Vorzeichen einer ‚extrañeza‘ betrachtet - einem tief empfundenen Befremden, das ein Gefühl des Hermetismus und einer fehlenden Lesbarkeit erweckt - so lässt sich dies in einem universell existenzialistischen Kontext interpretieren. So wirken gewiss nicht nur die Mexikaner „herméticos e indescifrables“. 136 Auch Sprache selbst steht bei Paz zunehmend unter Vorbehalt: In unserer Sprache, schreibt Paz in Los hijos de La Malinche, gebe es geheime Wörter ohne klar umrissenen Inhalt, dessen ,magischer Vieldeutigkeit‘ wir sowohl den brutalsten als auch den subtilsten Ausdruck unserer Gefühle anvertrauten. Jeder Buch‐ stabe, jede Silbe, so Paz, scheinen von einem Doppelleben beseelt, das uns gleichzeitig enthüllt und verbirgt. 137 Auch wenn sich Paz hier noch konkret auf das sehr mexikanische Wort ,chingada‘ bezieht, scheint sich doch schon eine Entwicklung abzuzeichnen, die jenes ,Abgründige‘ vom reinen nationalen Iden‐ titätsnarrativ fortschreitend entkoppelt und in einer Sprachkritik universali‐ siert. El mono gramático steht auf der Blüte dieser Entwicklung, die Identität auf einer sehr persönlichen Ebene an das Verhandeln einer Sprachproblematik knüpft. Die gesteigerte Sensibilität gegenüber Inhalten, die in der Alltagssprache verborgen oder latent sind, treibt Paz’ ,écriture‘ nicht nur zu einer poetischen Erkundung von Poesie, sondern rückt ihn auch in die Nähe des französischen Surrealismus. Obwohl Paz ein ,automatisches Schreiben‘ für sein eigenes Werk nie übernommen hatte und ihm immer weniger zustimmte, pflegte er doch eine intensive Freundschaft mit André Breton, mit dessen Werk er vertraut war. Der ,écriture automatique‘ geht es um eine Subversion der Alltagssprache durch 59 2 Der ,poetische Essay‘ in Spanien und Lateinamerika 138 Vgl. Hötter, Gerd: Surrealismus und Identität: André Breton „Theorie des Kryptogramms“ - eine poststrukturalistische Lektüre seines Werks. IGEL: Paderborn 1990, S. 33. 139 Vgl. Bürger, Peter: Der französische Surrealismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996, S. 146. 140 Hötter, S. 33. 141 Ebd., S. 34. 142 Vgl. Bürger, S. 68. 143 Breton, André: Zweites Manifest des Surrealismus [1930]. In: Breton, André: Die Mani‐ feste des Surrealismus. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1977 [1968], 49-99. S. 81. 144 Bürger, S. 76. 145 Beide Zitate ebd., S. 147. den Entzug ihrer kommunikativen Funktion. 138 Diese Subversion sieht Breton ganz allgemein in der Poesie verwirklicht, die sich jedoch nicht im Rahmen einer institutionalisierten ,Literatur‘ beschränkt halten solle, sondern, unter Aufhe‐ bung des Unterschieds von ,Kunst‘ und ,Leben‘, aus dem Randbereich in den Mittelpunkt einer Lebenspraxis gerückt werde. 139 Durch die „zufällige Aus‐ streuung des Signifikanten“ 140 will Breton dessen ursprünglichen Gehalt wie‐ derherstellen. „Die ,écriture automatique‘ soll Inhalte restituieren, die toten Formen wiederbeleben, die Präsenz des Ausgedrückten in die Sprache ein‐ holen.“ 141 Dabei geht es Breton nicht um das pauschale Verwerfen des Rationa‐ lismus, sondern um dessen Befreiung von seinem Nützlichkeitszwang und die Ermutigung des Menschen, sich all seiner Fähigkeiten zu bedienen. 142 Es geht nicht darum, Kunstwerke zu produzieren, schreibt Breton etwa in seinem Zweiten Manifest des Surrealismus, sondern darum „aufzuklären über den nicht-erkannten und doch erkennbaren Teil unseres Seins, wo alle Schönheit, alle Liebe, alle Kraft, die wir kaum kennen, in intensivem Licht leuchten“. 143 Der ,Automatismus‘ ist also Poesie, verstanden als Möglichkeitsdiskurs und Drang zu einer Entdeckung eines in der Sprache Verborgenen. Breton hat nicht einfach eine ästhetische Gestaltung des Lebens im Sinn, sondern eine Durch‐ dringung und vor allem eine „Befreiung der durch die Zivilisation unterdrückten Wünsche“. 144 Damit antwortet das automatische Schreiben auf ein ,Unbehagen in der Kultur‘. Ein unterdrücktes Unbewusstes soll hier mit Mitteln zum Vor‐ schein gebracht werden, die Freud bereits sehr ähnlich in der Traumdeutung angelegt hatte. So ordnet Breton für das Schreiben automatischer Texte eine „passiv rezeptive Haltung“ an. Diesen Zustand „kritikloser Selbstbeobachtung“ empfiehlt auch Freud für die Bildung freier Assoziationen, um den latenten Trauminhalt durch die Zensur zu lotsen. 145 Was nun diese Ansätze gerade für die Entwicklung einer ,poetischen Essay‐ istik‘ so interessant macht, ist nicht zuletzt der Aspekt der Selbstbeobachtung, den Breton im Zweiten Manifest hervorhebt. Nicht nur ein Schreiben dürfe der ,Automatismus‘ sein, sondern auch die Erkundung der Ursprünge dieses 60 II. Theorie 146 Breton, S. 78 f. (Hervorhebung durch den Autor). 147 Paz: AL, S. 13 Schreibens in sich selbst. Andernfalls blieben jene ,logischen Sondergebiete‘, die es zu erschließen gelte, eine Unbekannte: „Was sage ich: sie bleiben nicht nur unerforscht, diese logischen Gebiete, sondern man verharrt so sehr wie je in Unkenntnis über den Ursprung jener Stimme, die jeder von uns in sich ver‐ nehmen kann, die uns in seltsamster Weise von anderem spricht, als wir zu denken meinen […].“ 146 Die Erforschung jenes Anderen, in der Sprache stets Verfehlten, das als Unbewusstes in der Sprache diese immer wieder aufbricht und die denotativen Werte torpediert, ist eine Kraft, die Octavio Paz in der Poesie ausmacht. Er wird versuchen, sie nicht nur poetologisch, sondern auch poetisch zu ergründen. Der Rückgriff auf die dichterischen Vermögen des Menschen steht im Zeichen einer Enthüllungs- oder Demaskierungspsychologie: Sie konzent‐ riert sich auf die ,sprachliche‘ Natur des Unbewussten. Insofern etabliert eine ,poetische Essayistik‘ Verbindungen sowohl zur Psychoanalyse als auch zu poststrukturalen Ansätzen. Damit betritt Paz einen Raum, den Jacques Lacan und die École Freudienne de Paris paradigmatisch bearbeitet haben und deren Erkenntnisse Julia Kristeva in ihren Studien kritisiert und erweitert hat. Octavio Paz steht in El mono gramático einer ,écriture automatique‘ nahe durch eine rezeptive Haltung, die in beobachtender Passivität einen Fluss der Zeichen emp‐ fängt. Was sein Schreiben jedoch deutlich vom ,Automatismus‘ unterscheidet, ist die Intervention der Kritik. Auch wenn Paz die Rolle des Zufalls im poetischen Ausdruck anerkennt, objektiviert er diesen Ausdruk stets mit Präzision und Be‐ dacht: Seine Poesie ist „hija del azar; fruto del cálculo“. 147 Tatsächlich erhält der Leser einen Eindruck sich verselbstständigender Sprache, indem Paz eine Viel‐ zahl miteinander verknüpfter Bedeutungsgehalte, Mallarmés berühmtem coup de dés nachempfunden, inspirativ ,ausschüttet‘. Gleichzeitig setzt jedoch ein kritisches ,Abarbeiten an der Sprache‘ ein; der poetische Fluss der Zeichen wird objektiviert und kritisiert. Poetische Essayistik bei Paz, so wie sie sich in El mono gramático darstellt, entspringt einer Sensibilität gegenüber dem Abgründigen, dessen poetische Gehalte durch eine Praxis des poetischen Schreibens zu Be‐ wusstsein gebracht werden. Gleichzeitig ist sie jedoch auch das Anhalten dieses poetischen Flusses, um ihn mit dem Echolot der rational zentrierten Kritik zu erkunden. Es scheint mir, dass María Zambrano und Octavio Paz das gleiche Projekt, doch vielleicht in ,umgekehrter Richtung‘ verfolgen: inspiratives Ausschütten der Signifikanten bei Paz, in die sich die Kritik senkt, bzw. Wahl des philoso‐ phischen Ausdrucks bei Zambrano, um ihn anschließend vom Widerhall seines 61 2 Der ,poetische Essay‘ in Spanien und Lateinamerika 148 Müller-Funk: Como si fuese un mito, S. 19. 149 Benjamin, S. 19. 150 Vgl. Benjamin, S. 18. 151 Da meine Arbeit sich nicht in erster Linie mit Montaigne beschäftigt, seien an dieser Stelle nur einige Aspekte herausgegriffen, die mir für den weiteren Verlauf meiner Überlegungen besonders wichtig erscheinen. Für eine umfassende Darstellung seines Schreibens, seiner Person und seiner Zeit gibt es eine Anzahl wertvoller Studien, da‐ runter sowohl ,Klassiker‘ wie der von Pierre Villey und Hugo Friedrichs wirklich poetischen Gehalts auseinandertreiben zu lassen. Poesie zu Kritik bzw. Kritik zu Poesie. Am Grund dieser Bewegungen lässt sich eine Sprachkritik ausmachen, die sich letztlich auch auf die Kritik selbst zurückwendet. Damit drückt sich ein Aspekt des ,Essayistischen‘ aus, der sehr nah an die Sensibilitäten des Post‐ strukturalismus heranreicht. Wie Müller-Funk schreibt, hat Essayistik vor allem insofern mit Dekonstruktion zu tun, als sie sich am abendländischen Logozent‐ rismus reibt und darin eine selbstreflexive Metaebene erreicht: „Beide, der Es‐ sayismus wie die Dekonstruktion, sind ,parasitär‘: Das wissenschaftliche Denken, das sie durchkreuzen und subvertieren, ist die Bedingung der Mög‐ lichkeit ihrer eigenen sprachlich-theoretischen Existenz.“ 148 ,Poetische Essayistik‘ ist also mehr als eine Akzentuierung des lyrischen An‐ teils in expositorischen Texten. Sie betont den dekonstruktiven Impuls, der sich an den Grundfesten der Sprache reibt, und setzt ihm gleichzeitig seine radikalste Kritik in der ,Poiesis‘ entgegen - den dichterischen Möglichkeiten der Kon‐ struktion. Damit wird sie auch zum Ausdruck des Ringens um die Möglichkeit einer ,eigenen‘ Sprache, die es immer wieder in Zweifel zieht und immer wieder auf die Probe stellt - deren Ideal sie jedoch nie aufgibt. Denn die Sprachskepsis des ,Essayistischen‘ steht im Zeichen eines ,intensiveren Sinns für Wahrheit‘: eines Versuchs, im Nachhall der Sprache eine Wahrheitsschau zu betreiben, die Walter Benjamin als das „Urvernehmen“ bezeichnet. Dabei soll ein intentions‐ loses und „aller Phänomenalität entrückte[s] Sein“ 149 hörbar gemacht werden. Dieses ,Sein‘ beschreibt eine Wahrheit, die sich intellektueller Anschauung und Erkenntnis entzieht, ein Eingehen in sie erfordert und nach einem Verschwinden in ihr verlangt. 150 3 Über Montaignes Essais - eine Apologie der Sinnesvermögen Wer sich mit dem Schrift- und Kulturphänomen ,Essay‘ beschäftigt, sollte seinen Blick zunächst auf den großen Sieur de Montaigne richten. Denn die Kunst des intellektuellen Aufsatzes in der spekulativen Dimension, die hier im Vorder‐ grund stehen soll, hat in dem Gascongner seinen Ausgangspunkt. 151 Quell des 62 II. Theorie schönes Montaigne-Buch als auch breit aufgestellte Monografien etwas jüngeren Da‐ tums, wie etwa von Karin Westerwelle. 152 Weissenberger, Klaus: Der Essay, S. 109. 153 Adorno, S. 68. 154 Beide Zitate Weissenberger, S. 110. breit gefassten ,Essay‘-Begriffs ist ein Missverständnis, das auf der Übertragung aus dem französischen in den englischsprachigen Raum fußt. So ist Michel de Montaigne zwar der Erste, der seine Prosastücke unter dem Titel Essais 1580 veröffentlicht; in England jedoch beginnt schon bald darauf ebenfalls eine Tra‐ dition des Aufsatzes, die nach dem französischen Vorbild als ,essay‘ bezeichnet wird. Wegweisend dafür ist Francis Bacon mit seinen 1597 erschienenen Essayes or Counsels, civill and morall. Bacon jedoch hatte zwar den Begriff von Mon‐ taigne übernommen, aber nicht die Textform. Bei seinen Essayes handelt es sich, wie Klaus Weissenberger bemerkt, eigentlich um eine „grundsätzlich entgegen‐ gesetzte Spielart des Essays“, 152 die von der empiristischen Distanz des Autors geleitet ist. Damit sind Bacons Stücke eher Traktate, die ihr Augenmerk weniger auf die Ästhetik als auf die Ethik legen. Der Essay französischer Prägung hin‐ gegen bietet etwas anderes als moralische Unterweisung. Seine empirischen Ansätze bleiben innerhalb des Ideals einer ,docta ignorantia‘ und gehen gleich‐ zeitig über den Anspruch des Empirismus hinaus. Adorno sieht dieses Hinaus‐ gehen in Montaignes radikaler Kritik am Systematischen schlechthin begründet und argumentiert: „Selbst die empirischsten Lehren, welche der unabschließ‐ baren, nicht antizipierbaren Erfahrung den Vorrang vor der festen begrifflichen Ordnung zumessen, bleiben insofern systematisch, als sie mehr oder minder konstant vorgestellte Bedingungen von Erkenntnis erörtern.“ 153 Die Erkennt‐ nisbedingungen selbst aber sind für Montaigne stets im Wandel; er betrachtet sie als ,zu Suchende‘ und reflektiert den Prozess dieser Suche im Individuum. Während also Bacon von einem deduktiven Wahrheitsbegriff ausgeht und seine Erkenntnis aus der Position eines abgeschlossenen Bewusstseinsprozesses he‐ raus formuliert, bleibt Montaigne beim „Eingeständnis der eigenen Unwissen‐ heit“ und dem „Weg der Erkenntnissuche“ 154 selbst. Dem heutigen Leser erscheint Montaigne oft als Freund, der immer wieder tröstende Einblicke in die Größe und die Allzumenschlichkeiten eines klaren und gebildeten Verstands gewährt. Stets scheint es, als erwarte uns Montaigne an seinem angestammten Platz in unserem Regal, um bereitwillig eine heitere und wache Plauderei über die Welt, das Leben und die Menschen anzubieten, von der wir uns gut unterhalten fühlen dürfen. Wer sich darauf einlässt, bemerkt jedoch schnell, dass dieser Mensch uns etwas sehr Persönliches und Tiefge‐ hendes zu sagen hat, und wird immer wieder das Gespäch mit ihm suchen. Das 63 3 Über Montaignes Essais - eine Apologie der Sinnesvermögen 155 Vgl. Villey: Montaigne devant la postérité. Paris: Boivin et C ie 1935 S. 274, 283. 156 Vgl. ebd., S. 269: „Ceux-la sonst frappés surtout par ,l'ignorance hardie‘ de cet homme du monde que, sans science, a l’outrecuidance de juger de tout sans composition, d’éc‐ rire sur tous les sujets; sans méthode, de traiter de la philosophie morale“. 157 Vgl. Weissenberger, S. 107. 158 Vgl. Villey: Montaigne devant la postérité, S. 8: „libérer de l’autorité et des préjugés“. Leseerlebnis der Essais ist dabei auch immer eines der Verblüffung über die Mo‐ dernität, die uns einen Menschen in seinen privaten Ansichten und Problemen über 400 Jahre hinweg so unglaublich nah erscheinen lässt. Die zeitgenössischen Leser jedoch hat Montaigne stark polarisiert: Als Montaigne seine Essais im Zeitraum von 1572 bis zu seinem Tod 1592 schreibt, ist Europa noch von der mittelalterlichen Scholastik geprägt, mit ihrer deduktiven Beweisführung und strengen Dialektik. Dagegen musste allein schon das assoziativ gestaltete Spiel mit Zitaten, Weisheiten, Anekdoten und Sprichwörtern, die Montaigne in Bezug zu politischen und persönlichen Fragestellungen setzt, geradezu verstörend wirken. Nicht seine Ideen und Urteile selbst waren es, gegen die sich die Em‐ pörung richtete - die fest katholische Einstellung Montaignes bezweifelte wohl niemand, noch vertrat er in Moral und Politik unerhörte Meinungen; 155 vielmehr war es die Form seines Schreibens, die gerade in gelehrten Kreisen den Unwillen weckte. Seine Gegner warfen ihm, wie Pierre Villey schreibt, eine gewagte Un‐ wissenheit vor sowie die Arroganz, ohne wissenschaftliche Methode und ver‐ nünftigen Aufbau über alles zu urteilen. 156 Montaigne, so also der Vorwurf, maßt sich eine Kompetenz an, welche der Ton und die Form seines Schreibens nicht rechtfertigen. Vor allem aber hat Montaigne Schwierigkeiten, Autoritäten an‐ zuerkennen. Sein Widerwille gegen alles hierarchisch und systematisch Gegliederte lässt ihn vorgefertigte Meinungen hinterfragen und gegen ein didak‐ tisch geordnetes ,Erstens, zweitens, drittens‘ anschreiben. 157 Damit will Mon‐ taigne Werturteile von jeglicher Autorität und Vorurteilen befreien. 158 Wir hätten unsere Meinungen nur von alten Philosophen übernommen, urteilt er im Essay über die Physiognomie ( III , 12). Es gelte schlicht als schick, ihnen aufgrund ihrer Autorität Beifall zu zollen, um selbst für gelehrt und kundig gehalten zu werden; selbst wenn ihre Ideen weder dem eigenen Geschmack noch der ei‐ genen Lebensführung entsprächen. Dabei würden die Lehrmeinungen in immer prunkvollere Sätze gegossen. Es gelte jedoch, das eigene Urteil und den eigenen Blick zu schulen, ohne auf den Putz und Pomp rhetorischer Raffinessen und altehrwürdiger Namen hereinzufallen: Wir nehmen Reize nur noch wahr, wenn sie künstlich sind: gestelzt, gebläht und auf‐ gedonnert. Geht der Liebreiz im Gewand natürlicher Schlichtheit einher, wird er von einem so groben Blick wie dem unseren leicht übersehn, denn seine Schönheit ist zart 64 II. Theorie 159 de Montaigne III, 12, dt. S. 521, frz. III, S. 363: „Nous n’apercevons les grâces que poin‐ tues, bouffies, et enflées d’artifice: Celles qui coulent sous la naïveté, et la simplicité, échappent aisément à une vue grossière comme est la nôtre. Elles ont une bauté délicate et cachée: Il faut la vue nette et bien purgée, pour découvrir cette secrète lumière.“ 160 de Montaigne III, 12, dt. S. 533, frz. III, S. 390: „Il ne faut que l’epître liminaire d’un Allemand pour me farcir d’allégations.“ 161 de Montaigne III, 12, dt. S. 533, frz. III, S. 390 f: „Ces pâtissages de lieux communs, de quoi tant de gens ménagent leur étude, ne servent guère qu’à sujets communs: […] J’ai vu faire des livres de choses ni jamais étudiees ni entendues.“ 162 Vgl. Friedrich, Hugo: Montaigne. Bern: Francke 1949, S. 16. 163 Villey, Pierre: Les sources et l'évolution des essais de Montaigne. Tome II: L'évoulution des essais. Paris: Libraire Hachette 1933, S. 4: „littérature de vulgarisation“. und verborgen. Um dieses geheime Leuchten zu entdecken, bedarf es eines zur Klarheit geläuterten Auges. 159 Montaigne wendet sich nicht nur hier polemisch gegen die Figur des späthu‐ manistischen Gelehrten, der er diesen klaren Blick nicht zutraut und unter denen er dementsprechend wenig Freunde findet. Er kritisiert eine wissenschaftliche Praxis, die sich in den humanistischen Kompendien seiner Zeit oder, im Bereich der ,Naturwissenschaft‘, in den Wissenskompilationen austobe. Der Huma‐ nismus läuft sich in den humanistisch gebildeten Augen Montaignes tot, weil er zunehmend darin bestehe, Maximen antiker Autoren unkritisch aneinander‐ zustückeln; „es reichte schon das Vorwort irgendeines deutschen Schriftstellers, um mich mit Zitaten vollzustopfen.“ 160 Einer schreibt vom Nächsten ab und re‐ produziert ein Wissen, dem wirkliches Verständnis und Substanz fehlen, und scheint daher nicht mehr fähig, Neues hervorzubringen. Dergleichen Sammelsurien abgedroschener Gemeinplätze, mit denen so viele Leute ihr Studium betreiben, ohne sich in geistige Unkosten zu stürzen, sind kaum für an‐ dere, als für abgedroschene Themen brauchbar. […] Ich habe gesehn, wie Bücher über Dinge gemacht wurden, die der Autor weder studiert noch verstanden hat. 161 Anders als der Vorwurf der Beliebigkeit und Unwissenschaftlichkeit, der Mon‐ taigne von zeitgenössischen Gelehrten gemacht wurde (und dem sich Essayisten bis heute stellen müssen), sind die Essais Ausdruck des Versuchs einer Ordnung: Was ist relevant, in welchem Zusammenhang? Dabei richtet sich Montaigne gerade gegen die Vielwisserei 162 und gegen die Überschwemmung durch ge‐ lehrte Zitate und unreflektierte Versatzstücke. Die Literatur, aus der sich die Essais herausbilden und die sie gleichzeitig kritisieren, war, wie Pierre Villey schreibt, eine der Popularisierung antiker Weisheiten. 163 Darunter fallen vor allem Adaptionen antiker Schriften: moralische Sentenzen und, nach dem Vor‐ bild Plutarchs, ,exempla‘ von Lastern und Tugenden großer Männer der Ge‐ 65 3 Über Montaignes Essais - eine Apologie der Sinnesvermögen 164 Villey, Pierre: Les sources et l'évolution des essais de Montaigne. Tome I: Les sources et la chronologie des essais. Paris: Libraire Hachette 1933, S. 14. 165 Vgl. ebd., S. 34. 166 Vgl. ebd., S. 7. 167 de Obaldia, S. 14. schichte, Anthologien und Nachdrucke, vermischt mit Bonmots und erstaunli‐ chen Anekdoten. Villey spricht von einer „quantité des maximes et de réflection mal digérées“ 164 - von schlecht verdauten Reflexionen. Der Hunger nach Lite‐ ratur über moralische Fragestellungen war brandaktuell, gleichzeitig waren die zeitgenössischen Schriften scheinbar zum Vergessenwerden verdammt, da sie kaum imstande waren, etwas wirklich Neues zu schaffen. Villey weist darauf hin, dass auch Montaigne wahrscheinlich nicht geplant hatte, eine neue litera‐ rische Form zu kreieren. Vor allem die frühen, um 1572 entstandenen Essais folgen noch sehr dem Stil der damals in Mode geratenen ,leçons‘. Sie sind eher unpersönlich, präsentieren wenig eigene Gedanken und ähneln dem literari‐ schen Substrat, aus dem sie hervorgegangen sind. Doch schon bald verselbstständigt sich Montaignes Schreiben, und er beginnt, die antike ,Rezeptphiloso‐ phie‘ in moralischen Fragestellungen den realen Bedingungen des Individuums gegenüberzustellen und sie dem Praxistest des eigenen Lebens zu unterziehen. Folgte Montaigne dabei anfangs vage stoizistischen Idealen (Que Philosopher, c’est apprendre à mourir, I, 20), entwickelt sich sein Schreiben schon bald fort. Er folgt keiner bestimmten Denkrichtung, sondern macht sie sich alle zu eigen und unterzieht sie einer Kritik, die als modern gelten kann. 165 Seine Moral ist dabei nicht mehr an einem göttlichen Wesen ausgerichtet, sondern allein an der menschlichen Vernunft. 166 Eine andere Art zeitgenössischer Literatur waren die naturwissenschaftli‐ chen Kompilationen als Ausdruck, wie Claire de Obaldia schreibt, einer kollek‐ tivistischen Tradition. 167 In diesen Nachschlagewerken wurde kritiklos alles zu‐ sammengeführt, was über einen Gegenstand der Natur, etwa ein Tier, bekannt war. Ein besonders anschauliches Beispiel solcher Kompilationen ist durch Mi‐ chel Foucault einem breiteren Publikum bekannt geworden: die Historia ser‐ pentum et draconum des italienischen Naturforschers Ulisse Aldrovandi. Ald‐ rovandi kategorisiert sein Kapitel über Schlangen in Rubriken, die für uns heute kurios erscheinen, wie etwa: Anatomie, Bewegung, Vorkommen, aber ebenso Doppeldeutigkeit, Synonyme, Heilmittel, Lehrfabeln, Symbole, rätselhafte Wunder, Träume etc. Die Essais lassen sich auch als Reaktion auf solche Kom‐ pilationen lesen. Wie Claire de Obaldia schreibt, kritisiert Montaigne die Willkür einer solchen Wissensorganisation und konfrontiert sie mit Kritik und Refle‐ 66 II. Theorie 168 Vgl. de Obaldia, S. 14. 169 Vgl. Mignolo, S. 51. 170 Montaigne, III, 13, dt. S. 543, frz. III, S. 420: „Sed neque quam multæ species et nomina quæ sint, Est numerus: Les savants partent et dénotent leurs fantaisies plus spécifique‐ ment et par le menu. Moi, qui n’y vois qu'autant que l’usage m’en informe, sans règle, présente généralement les miennes et à tâtons. Comme en ceci. Je prononce ma santence par articles décousus: ainsi que de chose qui ne se peut dire à la fois et en bloc.“ (Her‐ vorhebungen durch den Autor). 171 Haas, S. 40. xion. 168 Für Montaigne sind die Kompilationen Ausdruck des utopischen Ge‐ dankens, einen göttlichen Bauplan des Universums in einer allumfassenden und zugleich menschenverständlichen Weise begreifen zu können. In diesem Sinne hat die rigorose innere Organisation eines abstrakten Wissenssystems Mon‐ taigne wohl nicht etwa gelangweilt, wie der argentinische Literaturwissen‐ schaftler Walter Mignolo schreibt, 169 sie musste ihm vielmehr als Phantasma‐ gorie (oder ,fantaisie‘) erscheinen. der Arten Zahl ist unbekannt, und keiner hat sie je benannt. Die Wissenschaftler sind es, die ihre Ideen [fantaisies] zergliedern und bis ins kleinste mit spezifischen Begriffen umgrenzen. Ich hingegen, der ich nicht mehr Einblick habe, als die Alltagserfahrung mir völlig reglos zukommen läßt, lege die meinen, mich vorantastend, nur in groben Zügen dar - so auch hier, wo ich meine Meinungen in unverbundenen Sätzen aus‐ spreche, wie man es bei Dingen zu tun pflegt, die sich nicht auf einmal und im ganzen [à la fois et en bloc] sagen lassen. 170 Der Illusion des wissenschaftlichen Systems, innerhalb dessen alle Aussagen bereits angelegt sind und somit zumindest theoretisch ,à la fois et en bloc‘ ge‐ nannt werden können, erteilt er eine Absage. Es gibt keine Vollständigkeit, keine letztgültige Kategorisierung - daher bleibt das Wissen immer Fragment und Provisorium, das sich auf die individuelle Erfahrung gründet. Radikale Skepsis übernimmt die Regie über Montaignes Denken. Die Unsicherheit gegenüber allen Urteilen - auch den eigenen - lässt ihn nur tastend voranschreiten (à tâ‐ tons). Symbol dieser Skepsis ist die Medaille, die Montaigne 1576 prägen lässt: da‐ rauf eine Waage mit gleichgerichteten Schalen mit dem Wahlspruch darüber „Que scay-je“ - was weiß ich. Bildlich gesprochen, besitzt jede Medaille - ebenso wie die Waage - zwei Seiten. Gerhard Haas interpretiert Montaignes Wahl‐ spruch sehr treffend als eine solche Ambivalenz. So sei jenes „Qué scay-je“ ei‐ nerseits „Rechenschaftsablegung eines wachen Geistes“, 171 der sein Wissen in‐ ventarisiert, es organisiert, Zusammenhänge ergründet und nach Relevanz anordnet. Andererseits aber beinhalte diese Frage auch den Zweifel an der Be‐ 67 3 Über Montaignes Essais - eine Apologie der Sinnesvermögen 172 Vgl. ebd., S. 42. 173 Friedrich, S. 60. 174 Blumenberg, S. 59. (Hervorhebung durch den Autor). 175 Ebd., S. 60. wältigungskraft des eigenen menschlichen Verstands: Montaignes Medaille beinhaltet also eine doppelte Fragestellung: Einerseits: Sind alle Möglichkeiten erwogen? Andererseits: Sind alle Möglichkeiten überhaupt erwägbar? 172 So wenig wie Montaigne in die Wissenssysteme und -schulen seiner Zeit eintaucht, so wenig arbeitet er sich auch an dem ab, was wie kaum etwas anderes die Totalität dieser Systeme suggeriert: das Buch. Seine Lesepraxis bleibt die eines Müßiggängers in den Schriften, eher aufmerksam blätternd als sich in die Lektüre versenkend. Wie Hugo Friedrich schreibt, liest Montaigne interessiert, aber nüchtern. „Das Ringen mit großen Autoren mag er nicht.“ 173 Stattdessen kokettiert er mit der eigenen Durchschnittlichkeit und einem angeblich schlechten Gedächtnis. Die Bücher dienen ihm nicht wie den Humanisten als belehrende Autorität, sondern als Anregung. Hans Blumenberg, der sich in Die Lesbarkeit der Welt mit dem ,Buch‘ als Metapher für die Erfahrbarkeit der Welt beschäftigt, spricht von der Metapher des „Buchs der Natur“, mit der Nikolaus von Cues das Bibliotheks- und Bücherwissen konfrontiert hatte: Von dem Übermaß der Schriften befreie das eine Buch der Natur, dessen Erkenntnisse auch dem illiteraten Laien zur Verfügung stünden. Die Gestalt des ,Idiota‘, des unkundigen, aber mit Weltklugheit und Selbstbewusstsein ausgestatteten Stadt‐ bewohners, „antwortet dem gelehrten Redner auf die Frage, woher er denn seine Wissenschaft der Unwissenheit (scientia ignorantiæ) habe: Nicht aus deinen Bü‐ chern, sondern aus Gottes Büchern, die er mit eigener Hand geschrieben hat.“ 174 Nach Blumenberg muss der Cusaner die Metapher von den ,beiden Büchern‘ (Die Natur und die Schriften) wohl von dem katalanischen Humanisten Ray‐ mund von Sabunde gekannt haben. Dessen Theologia Naturalis (1436) war in Montaignes Übersetzung ins Französische (1568) einem größeren Publikum be‐ kannt geworden. Sabunde vertrat die Auffassung, Gottes Buch der Natur sei im Grunde fälschungssicherer als die Heilige Schrift, da es nicht falsch ausgelegt werden könne. Somit habe der Laie, der in diesem Buch lese, einen unmittelba‐ reren Zugang zur Weisheit. Montaigne hatte sich über seine Übersetzungsarbeit intensiv mit Sabunde auseinandergesetzt, wovon auch der mit Abstand um‐ fangreichste Text seiner Essais, die Apologie de Raimond Sebond ( II , 12), zeugt. Blumenberg ist der Auffassung, dass die Metapher des Buchs der Natur, in wel‐ chem der ,Idiota‘ mehr Erkenntnis findet als der Gelehrte und in dem Weisheit gegen Wissenschaft steht, Jahrhunderte später „Selbstdenken“ genannt werden wird: 175 Das Bücherwissen kann die Erfahrung nicht ersetzen. Die Essais sind 68 II. Theorie 176 Ebd., S. 65. 177 Haas, S. 45. 178 Adorno, S. 43. dem Ideal des ,Idiota‘ und seiner ,scientia ignorantiæ‘ verpflichtet. Doch Mon‐ taigne deutet Sabundes Metapher gleichzeitig um: „Montaignes Begriff der Welt steht den Erscheinungen des Menschen näher als denen der Natur und die Men‐ schenwelt ist Repertoire der Reflexion, der Selbstentdeckung des Subjekts.“ 176 Das heißt: Montaigne hat einen wesentlichen Anteil daran, dass wir uns mit der Vokabel ,Welt‘ nicht nur auf die ,Natur‘, sondern besonders auf den Menschen und seine Kulturleistungen beziehen. In dieser Tradition steht essayistisches Schreiben bis heute. Es ist überhaupt nur aus einer Kulturfülle heraus vorstellbar und existiert nur dort, wo sich sprachliche Zeichen der Zivilisation herausge‐ bildet haben. So ist auch, wie Gerhard Haas schreibt, die Nichtoffenlegung der Zitate nicht als Plagiat zu werten. Vielmehr drückt sich genau darin ein „sou‐ veränes Verfügen über einen reichen Kulturbestand“ 177 aus. ,Das Essayistische‘ konstituiert das Individuum nicht aus sich heraus, sondern betrachtet es als ein Kulturprodukt, das mit den Kulturleistungen, mit den Äußerungen anderer ver‐ schmelze, ja die es überhaupt erst hervorbringe. Das ,Essayistische‘ be‐ trachtet ,Kultur‘ und ,Geschichte‘ nicht als etwas Sekundäres, von der ,Natur‘ Abgeleitetes, sondern als die Natur des Menschen selbst. Adorno betont diesen Aspekt, wenn er schreibt, ein Essayist versenke sich in Kulturphänomene wie in eine zweite Natur, doch: „Unterm Blick des Essays wird die zweite Natur ihrer selbst inne als erste.“ 178 Die beiden Texte von Zambrano und Paz sind nicht zuletzt Symbole für die essayistische Sicht auf die Kultur als ,erste Natur‘ des Menschen. María Zam‐ branos biografisch reale Waldspaziergänge, die sich im Schreiben der Waldlich‐ tungen spiegeln, beschreiben Wege durch das wahre Habitat des Menschen - den Wald von Zeichen, in dem der Mensch selbst als unwirkliche, nicht zu be‐ tretende Lichtung erscheint (wer Wald ist, kann die Lichtung nicht betreten). Und Octavio Paz’ ebenso historisch wirkliches Schlendern durch das Tempel‐ areal von Galta ist Weg durch die halb verfallenen Schriftarchitekturen und Symbolkonstruktionen, die mit der Natur verschmelzen, von ihr verschluckt und überwuchert werden: Der Mensch, der darin haust, wird selbst zur Schrift‐ ruine, die niemals ein Ganzes beschreibt, sondern bröckelt, immer wieder aus‐ gebessert und schließlich ganz verschluckt wird: mächtige Bilder für die Zivili‐ sation als Natur des Menschen und ihre ständige Bedrohung der Auslöschung durch eine Gegenkraft, die schon im Mythos Babylon aufscheint. Das ,Essayis‐ tische‘ selbst hat Anteil an diesem Mythos. Montaignes Turm, Borges’ labyrin‐ thische Bibliothek von Babel, Octavio Paz’ halb verfallene chimärische Tempel‐ 69 3 Über Montaignes Essais - eine Apologie der Sinnesvermögen 179 Allard, Sébastien: Der Mythos Babylon vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. In: Babylon: Mythos & Wahrheit. Katalog zu den Ausstellungen in Paris, Berlin, London. München: Hirmer 2008, 145-167. S. 163. 180 Villey: Montaigne devant la postérité, S. 1 f. 181 Ebd., S. 270, 273. architektur von Galta - all diese Metaphern sind Aspekte des Mythos von der Ambivalenz des Menschen zwischen der Erhabenheit und dem Wahn, zwischen der Anstrengung des Aufbaus und dem ,Sic transit gloria mundi‘; nicht zuletzt des katastrophistischen Mythos der fatalen Verstrickung in die eigenen Schöp‐ fungen. Der Wald der Zeichen und die Wüste der Signifikation reihen sich in die Metaphernwelt des mythischen Babylon ein, die, mit den Worten des Kunst‐ historikers Sébastien Allard, das „allgegenwärtige Spannungsverhältnis zwi‐ schen Dekonstruktion und (Re)konstruktion“ beschreiben. 179 Wald und Wüste, wie sie in den Texten von Zambrano und Paz erscheinen, übertragen den Mythos Babylon von der Architektur auf die Natur, sodass von ,erster‘ oder ,zweiter‘ Natur im Sinne Adornos überhaupt nicht mehr gesprochen werden kann. Das ,Essayistische‘ ist nicht zuletzt ein Weg, diese Natur zwischen Selbstbe‐ hauptung und Entmächtigung in sich selbst zu ergründen, dem Mythos der Zi‐ vilisation in sich selbst nachzuspüren. Für Montaignes Zeitgenossen war das Projekt der Erkundung der eigenen Subjektivität ein Novum. Die Faszination dafür brachte ihm zwar zahllose Be‐ wunderer ein - allein von 1580 bis 1669 wurden die Essais in 37 Auflagen ge‐ druckt -, doch selbst diese verstanden ihn im Grunde nicht. Wie Pierre Villey schreibt, war Montaigne seiner Zeit um 150 Jahre voraus. Erst im 18. Jh. hätte sein Denken wirklich erblühen können. 180 Folgten die ersten beiden Bände der Essais noch einem breiteren Geschmack, zeigten sich selbst Freunde Montaignes vom dritten Band irritiert. Einig waren sich selbst wohlmeinende Leser in der Zurückweisung der ,peinture du moi‘, der exzessiven Präsenz des ,Ich‘ in den Texten, die in den späteren Essays ein immer größeres Ausmaß annimmt. Ge‐ wohnt und ,erlaubt‘ war die Darstellung von Handlungen öffentlicher Personen, die Teil der Geschichte waren und zu einer staatsmännischen Bildung beitragen konnten. Die Darstellung eines privaten ,Ich‘ hingegen war ein regelrechter Skandal, und so sah sich Montaigne mit dem Vorwurf der Eitelkeit konfrontiert, der „vanité de se mettre en scène“; die Essais waren für viele „un livre puéril, vain, pervers“. 181 Dabei spielten nicht zuletzt auch religiöse Gründe eine Rolle, denn der Entwurf des eigenen ,Ich‘ im Duktus des Müßiggängers konnte als Abkehr von Gott aufgefasst und in die Nähe der Todsünden gerückt werden. Vor allem aber war es schlicht unschicklich. 70 II. Theorie 182 Friedrich, S. 271. 183 Ebd., S. 272. 184 Teuber: Figuratio impotentiae. Drei Apologien der Entmächtigung bei Montaigne. In: Galle, Roland / Behrens, Rudolf (Hg.): Konfigurationen der Macht in der Frühen Neuzeit. Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter 2000 (Sonderdruck). S. 126. 185 Ebd., S. 114. Freilich war Montaigne innerhalb der christlichen Welt nicht der Erste, der über sich selbst schrieb. Eines der prominentesten Beispiele für die Darstellung eines ,Ich‘ sind wohl die Confessiones des Augustinus. Doch besitzt das ,Ich‘ hier einen ganz anderen Status: Augustinus spricht von seinen Fehlern, um sich Gott zu unterwerfen; Selbsterkenntnis ist hier die Erkenntnis der Erlösbarkeit durch Gott. Daher gibt Augustinus nur wieder, was in Zusammenhang mit dem Gna‐ denereignis steht. Hugo Friedrich spricht von einer teleologischen Praxis, bei der es um ein schrittweises Ins-Reine-Kommen mit Gott und dem Heilsplan geht. 182 Montaigne hingegen sucht kein Gnadenereignis. Er spricht über seine Wirkung auf Frauen, seine Gallensteine und das Schuheschnüren. Friedrich schreibt, die „Essais sind ein tagebuchähnlicher Monolog, bei dem man nie genau weiß, wen sich der Verfasser, außer sich selbst, als Mithörer denkt; Gott ist es jedenfalls nicht“. 183 Obwohl Montaigne in seinen Ideen katholisch konser‐ vativ bleibt, zieht er auch den Zorn der Kirche auf sich, sodass seine Essias 1676 auf den vatikanischen Index verbotener Bücher gesetzt werden. Dabei dürfte wohl seine antidogmatische, radikal skeptische und für seine Zeit damit in ge‐ wisser Weise rebellische Grundhaltung eine Rolle gespielt haben, die in Verbin‐ dung mit einer rein weltlich ausgerichteten Moral die Autoritäten auf den Plan gerufen hatte. Bernhard Teuber liest die Essais als Auseinandersetzung mit den Dispositiven der Macht, in der das Subjekt sich selbst entmächtigt, um aus einer Position der ,faiblesse‘ heraus dieser Macht immer wieder trickreich auszuwei‐ chen. Dies führe letztlich zu einer subtilen Subversion der Macht selbst: „Bei Montaigne jedenfalls lassen sich die Figurationen der Entmächtigung durch‐ wegs lesen als Defigurationen der Macht.“ 184 Das grundlegende Sprachspiel dieser Operation ist die Verteidigungsrede oder Apologie als „rhetorische In‐ szenierungen der Machtlosigkeit“. 185 Wie sich zeigt, ist ,der Essay‘ als apologetischer Diskurs selbst der Apologie bedürftig; vielleicht ist dies ein Grund dafür, dass seine Verteidigung gegen die Anfeindungen der Wissenschaft oft ihrerseits essayistisch ausfällt. Verteidigen jedenfalls muss sich ,der Essay‘ nicht nur gegen den Vorwurf einer eitlen ,pein‐ ture du moi‘; er ist auch schon immer Ziel der Kritik vonseiten des Vernunft‐ mächtigen. Schon unter den Gelehrten seiner Zeit stand er unter Anklage feh‐ lender Wissenschaftlichkeit und Methode. Ein knappes Jahrhundert später ist 71 3 Über Montaignes Essais - eine Apologie der Sinnesvermögen 186 Vgl. Westerwelle, Karin: Montaigne: Die Imagination und die Kunst des Essays. München: Fink 2002, S. 23 f. 187 Alle Zitate Adorno, S. 64. 188 Alle Zitate ebd., S. 66. es dann Nicolas Malebranche, der in seiner Recherche de la vérité (1675) die gän‐ gigen Vorwürfe gegen Montaigne pointiert formuliert: Er habe mit den Essais eine Sprache geschaffen, die Vernunftpositionen unterlaufe. 186 Ohne an dieser Stelle auf die lange Reihe von Kritikern einzugehen: Der Vorwurf bleibt be‐ stehen, sodass Adorno in seiner berühmten Apologie des Essays (Der Essay als Form) von 1958 noch dagegen mobil macht: Dem Positivismus nach solle, so Adorno, jede Darstellung des Ausdrucks eine Objektivität gefährden, die „nach Abzug des Subjekts herausspränge“. Die Reinheit der Sache selbst hoffe man durch ihre Indifferenz gegenüber dem Ausdruck gewährleisten zu können. Damit läuft der szientifische Geist jedoch Gefahr, zum „stur dogmatischen [sic]“ zu verkommen, schreibt Adorno, um dann noch einmal mächtig gegen die Ver‐ ächter des Essays auszuholen: „Das unverantwortlich geschluderte Wort wähnt, die Verantwortlichkeit in der Sache zu belegen, und die Reflexion über Geistiges wird zum Privileg des Geistlosen.“ 187 Adorno plädiert keineswegs für eine Wiederzusammenführung von Wissen‐ schaft und Kunst. Im Verlauf einer Entmythologisierung seien die beiden aus‐ einandergedriftet; eine Einheit sei weder wiederherstellbar noch erwünscht. Dennoch sei der Gegensatz auch nicht zu hypostasieren: Wer jegliche Vermi‐ schung ablehne, sorge für eine „nach Sparten organisierte Kultur“, die den Ver‐ zicht auf „die ganze Wahrheit“ in sich berge: „Die Ideale des Reinlichen und Säuberlichen, die dem Betrieb einer veritablen, auf Ewigkeitswerte geeichten Philosophie, einer hieb- und stichfesten, lückenlos durchorganisierten Wissen‐ schaft und einer begriffslos anschaulichen Kunst gemein sind, tragen die Spur repressiver Ordnung.“ 188 In der Paraphrase jener berühmten Apologie des Essays wird ein Aspekt es‐ sayistischer Haltung deutlich, der auch die beiden Texte von Zambrano und Paz stark prägt: ein Plädoyer für den Gebrauch sämtlicher Sinnesvermögen des Menschen, um dem ,repressiv Systemhaften‘ zu entkommen. Denn bei aller Skepsis geht es der Essayistin / dem Essayisten um die Erkenntnis einer ,ganzen Wahrheit‘; um ein Wissen, das nur unter Einbezug sinnlicher Kapazitäten einer ,imaginatio‘ erlangt werden könne. Beide Texte sprechen aus der Position einer Machtlosigkeit, da sie herrschende Diskurse unterlaufen; nicht indem sie sie angreifen, sondern indem sie sie erweitern und durch den Rückbezug auf die Dichtung mit ihrem ,anderen‘ konfrontieren. 72 II. Theorie 189 Vgl. Zambrano, María: [CB dt.] Waldlichtungen [1977]. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992, S. 15. 190 Paz, Octavio: Una voz que venía de lejos, S. 24. 191 Nübel, S. 58. Besonders stark hatte María Zambrano unter den Machtdispositiven zu leiden: zunächst als Verteidigerin der unterlegenen politischen Sache, anschlie‐ ßend aufgrund ihres philosophischen Stils, der sich der Mystik annähert. Wie Zambrano in den Claros del bosque andeutet, hatte sie selbst damit zu kämpfen, von einem Teil des akademischen Establishments als ,Mystikerin‘ oder ,Poetin‘ nicht für voll genommen zu werden. 189 Schließlich musste sich Zambrano auch des allgegenwärtigen ,Machismo‘ erwehren, wie Octavio Paz in seiner Hom‐ mage an die Philosophin schreibt. So sei die Lehrtätigkeit Zambranos an der Casa de España (später Colegio de México) vor allem am Widerstand ihrer männlichen Kollegen gescheitert, die es ablehnten, mit einer Frau zusammen‐ zuarbeiten: „¡una mujer profesora de filosofía! “ 190 Daraufhin sei sie ohne Vor‐ bereitung kurzerhand in die Provinzstadt Morelia geschickt worden, wo sie sich einsam und verlassen in einem Umfeld gefühlt habe, das ihren geistigen An‐ liegen eher fernstand. Dieser Art von Problemen war Octavio Paz als renom‐ mierter Diplomat und bereits früh anerkannter Dichter nicht ausgesetzt. El mono gramático ist dennoch ein Werk, das die „Exklusionsmechanismen der diskur‐ siven Logik“ 191 unterläuft. Der bloßen Einordnung als ,Prosagedicht‘ entgeht die tiefe und sehr persönliche Reflexion über den Vorgang des Dichtens und Schreibens. Sie entzieht sich jeglicher Macht, die versucht ist, mittels einer wis‐ senschaftlichen Metasprache über den Text zu verfügen, und das Poem aus ihrem Sprachspiel ausschließt. Sein Konzept einer kritischen und historischen Poesie oder einer ,pasión crítica‘ steht daher unter dem Zeichen einer Apologie der Dichtung, die seit Platon unter dem Verdacht steht, der Vernunft entgegen‐ gesetzt zu sein. Sowohl Zambrano als auch Paz sehen sie jedoch als Instrument jenes unmittelbaren Weltverständnisses, wie es dem Laien im ,Buch der Natur‘ zur Verfügung steht. Dabei konfrontieren sie jedoch auch die Dichtung mit dem wissenschaftlichen Diskurs. Nicht die Erhöhung des ,Buchs der Natur‘ ist ihr Projekt, sondern die Problematisierung des Dechiffrierens aller Bücher. Denn Zambranos Lichtung ist genauso wie Paz’ Tempelruine unter diesem Gesichts‐ punkt vor allem eine Metapher für mangelhafte Lesbarkeit. „Das komplizierte Ineinander von Dichterischem und Wissenschaftlichem im Essay“, schreibt Gerhard Haas, „hat immer wieder herausgefordert, sein Ver‐ hältnis zu diesen beiden Erkenntnis- und Aussageweisen näher zu be‐ 73 3 Über Montaignes Essais - eine Apologie der Sinnesvermögen 192 Haas, S. 45. 193 Müller-Funk, Wolfgang: Como si fuese un mito, S. 20. 194 Vgl. Westerwelle, S. 29. 195 Zweig, Stefan: Montaigne. Frankfurt a. M.: S. Fischer 1995, S. 59. stimmen.“ 192 Beide Texte akzentuieren in der Metathematik die Interrelation von Philosophie und Mystik / Dichtung, die bei Paz als Verknüpfung von Text und Bild zusätzlich auf intermedialer Ebene gedacht und umgesetzt ist. Damit ge‐ raten die Texte zum Untersuchungsfeld für das Essayistische selbst, das sich auf seine Konstitutionsmechanismen hin prüft. In der Apologie ganzheitlicher Er‐ kenntnisvermögen lässt sich das ,Essayistische‘, wie Müller-Funk schreibt, als „Absetzbewegung von den vertrauten Formen und Figuren des rationalen Den‐ kens bestimmen: Definition, Eindeutigkeit, Kausalität, Verständlichkeit durch explizite Erklärung, die Wirksamkeit des Kausalgesetzes, Fußnoten, linearer Aufbau, eine strenge und tendenziell statische Distanz von Subjekt und Objekt, Einhaltung der Regeln der ,Disziplin‘.“ 193 Das ,Essayistische‘ schafft einen Raum, wo Diskurse atmen können, denen die szientifische Aussagepraxis ihre Sprache entzieht. Weil das ,Essayistische‘ sich jedoch dabei selbst infrage stellt, delegi‐ timiert es Wissenschaft nicht, sondern unterhält einen kritischen Dialog mit ihr durch den Einbezug von Imagination und Phantasie, von Erfahrung und Sinn‐ lichkeit. 194 4 Das ,Essayistische‘ als ,Praxis‘ 4.1 Selbst und Praxis Die Essais, schreibt Stefan Zweig in seinem Fragment gebliebenen biografischen Essay über Montaigne, haben einen einzigen Gegenstand, „und er ist derselbe wie der seines Lebens: das ,moi‘ oder vielmehr ,mon essence‘“. 195 Und bei der gewaltigen Vielzahl an Sujets, die in den Essais anklingen, ist dieses ,Ich‘ tat‐ sächlich das alles bestimmende, verbindende Element. „Ainsi, lecteur, je suis moi-même la matière de mon livre“, heißt es bereits im Vorwort; der Leser solle keinen anderen Zweck erwarten als einen rein privaten. Die Selbstbetrachtung ist bei Montaigne dabei nichts grundlegend Neues; sie gründet auf einer reichen Tradition von Schriften römischer Autoren des ersten und zweiten Jahrhun‐ derts, die er sich zum Vorbild genommen hatte, darunter Epiktet und Marc Aurel und ganz besonders Senecas Epistulæ morales. Michel Foucault betrachtet diese Schriften unter den Vorzeichen einer allgemeinen Hinwendung zum Selbst und einer „Sorge um sich“ („souci de soi“), die mittels asketischer Techniken ,prak‐ 74 II. Theorie 196 Foucault, Michel: Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit III. Frankfurt a. M.: Suhr‐ kamp 1989, S. 79 f. 197 Foucault, Michel: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit II. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989, S. 21. 198 Foucault: Der Gebrauch der Lüste, S. 40. tiziert‘ wurde, die also im Zusammenhang mit einer konkreten Praxis gedacht werden muss. Mit Askese ist dabei die Anstrengung der Einübung verschiedener Techniken gemeint, die Foucault auch unter dem Begriff der Künste seiner selbst („arts de soi-même“) versammelt. Diese sollen in ihrer Gesamtheit eine Lebens‐ kunst („art de vivre“) beschreiben, die es dem Menschen erlaubt, sich als Subjekt moralischer Handlungen zu formen. Die Künste seiner selbst zielen auf die ,Um‐ formung‘ des Individuums, das das eigene Verhalten reflektieren soll, damit sich in Analogie von Medizin und Moral eine ,Besserung‘ einstellen kann: „Die Selbstpraktik impliziert, daß man sich in seinen eigenen Augen nicht schlicht und einfach als unvollkommenes, unwissendes Individuum darstellt, der Bes‐ serung, Formung und Erziehung bedürftig, sondern als Individuum, das an ge‐ wissen Übeln leidet und sie in Pflege nehmen muß, sei's von eigener Hand, sei's durch jemand, der dazu berufen ist.“ 196 Dazu soll vor allem gemäß dem delphi‐ schen Prinzip eine Selbsterkenntnis gefördert werden, die auf die Formung des Selbst als moralisches Wesen zielt. Den dazu notwendigen Operationen, die von praktischen Texten zur Anleitung begleitet werden, kommt eine „etho-poeti‐ sche“ Funktion zu, wie Foucault sie in Anlehnung an ein Wort Plutarchs nennt. 197 Die Techniken umfassen dabei geistige Übungen wie Gedächtnistrai‐ ning, Meditation und Gewissensprüfungen und in erster Linie natürlich das Philosophieren. Aber auch körperliche Übungen sind wichtig wie verschiedene Arten der Abstinenz, Gymnastik und Körperpflege, die Umsetzung von Ge‐ sundheitsregeln wie eine maßvolle Befriedigung von Bedürfnissen. Das Leben des Individuums bedarf einer ästhetischen Formung, die in der ,Askesis‘ erreicht wird, womit zunächst nur ,Übung‘ an sich gemeint ist. ,Praxis‘ ist also mit dem Begriff der Askese eng verbunden und beschreibt fortgesetzte Handlungen, die in einer Regelmäßigkeit einer bestimmten inneren Haltung einerseits entspre‐ chen, diese aber gleichzeitig auch bedingen und formen. Foucault bezeichnet sie als „Formen der Einwirkung auf sich selber“. 198 Askese ist dabei aber mehr als nur eine Übung zur ästhetischen Selbstformung; sie impliziert eine Haltung der ständigen Kontrolle, der Prüfung und der Wachsamkeit. Sie ist ,Anstrengung‘ zu sich selbst, Körperarbeit und Geistesarbeit: ,Selbstarbeit‘. Dabei nehmen das Lesen und Schreiben eine wichtige Rolle ein. Gerade in Senecas Philosophie, die unter dem Zeichen einer Subjektivierung von Moral steht und eine bloße Übernahme stoizistischer Sinnsprüche ablehnt, steht die 75 4 Das ,Essayistische‘ als ,Praxis‘ 199 Seneca, Lucius Annaeus: An Lucilius. Briefe über Ethik / Ad Lucilius. Epistulae morales. In: ders.: Philosophische Schriften, Bd. 3,4. lateinisch und deutsch. Hg. und übers. von Manfred Rosenbach. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1984. 84,3: „Apes, ut aiunt, debemus imitari, quæ vagantur et flores a mel faciendum idoneos carpunt, deinde quicquid attulere, disponunt ac per favos digerunt.“ 200 Vgl. Seneca: 84,5. 201 Seneca: 84,7: „Conoquamus illa: alioquin in memoriam ibunt, non in ingenium. Adsen‐ tiamur illis fideliter et nostra faciamus, ut unum quiddam fiat ex multis.“ selbstständige Reflexion über Handlungsmaximen im Vordergrund. Die Über‐ tragung abstrakter Anweisungen auf das Individuum erfolgt in einem Drei‐ schritt aus Lektüre, Reflexion und Synthese: Schriften anderer sollen zur Kenntnis genommen werden, im Anschluss muss das Individuum darüber ur‐ teilen und im eigenen Schreiben das Gelesene zu etwas Eigenem umformen. Das Fremde soll mit dem eigenen Verschmelzen und im Einklang mit der eigenen Natur synthetisiert werden, um sich des eigenen moralischen Standorts zu ver‐ sichern. Zur Veranschaulichung arbeitet Seneca mit Gleichnissen wie dem Bienen- und dem Verdauungsgleichnis: „Die Bienen, wie man sagt, müssen wir nachahmen, die umherfliegen und die zur Honiggewinnung geeigneten Blüten aussaugen, sodann, was sie eingebracht haben, ordnen, auf die Waben ver‐ teilen.“ 199 Genauso müsse, was durch Lektüren zusammengetragen wurde, durch Sorgfalt und Einfallsreichtum des Verstandes („ingenii nostri cura et facultate“) geordnet und in eine eigene Substanz transformiert werden. 200 Unreflektierte Lektüren hingegen seien wie unverdaute Nahrung, die schwer im Magen liegt und zur Belastung wird. Stärkung werden sie nur, wenn sie in einen anderen Zustand verwandelt und vom Körper aufgenommen werden können: „,Ver‐ dauen‘ wir es: sonst geht es nur in unser Gedächtnis über, nicht in unser Wesen. Seien wir damit ehrlich einverstanden und machen wir es zu unserem Eigentum, damit eine Art von Einheit entstehe aus der Vielheit.“ 201 Seneca schreibt aus der Tradition der ,Stoa‘ und ihres Ideals sittlicher Voll‐ kommenheit, des Erreichens der Gemütsruhe und des In-sich-selbst-Ruhens, der ,Euthymia‘ als Voraussetzung für ein glückliches Leben. Dazu gehört die Unempfindlichkeit gegenüber körperlichen und seelischen Übeln. Durch die Einübung einer sittlichen Lebensführung können Ruhe und Zufriedenheit er‐ langt werden, wobei das Sittliche als das von der Vernunft gebotene und als naturgemäßes Handeln angesehen wird. Der Mensch soll sich frei machen von allen Affekten, die dem naturgemäßen Handeln widersprechen und daher als schädlich gelten; nur so kann er die Unabhängigkeit seiner Seele erlangen. Wer sich von den Leidenschaften, dem ,pathos‘, leiten lässt, ist nicht Herr seiner selbst und kann nicht glücklich sein. Doch das höchste Gut der ,Stoa‘ ist nicht das glückliche Leben, sondern die ,Tugend‘ als intrinsischer Wert. Tugend be‐ 76 II. Theorie 202 Foucault: Die Sorge um sich, S. 86. 203 Montaignes Schreiben steht nicht nur im Zeichen der Subjektivierung von Moral, wie bei Seneca, sondern auch der Kritik dieser Moral selbst. 204 Foucault: Die Sorge um sich, S. 88. 205 Seneca, 82,6. 206 Vgl. ebd., S. 82,5. deutet zu sich selbst kommen und im Einklang mit sich, seinem Schicksal und der Natur zu stehen. In diesem Zusammenhang können auch die Selbstpraktiken betrachtet werden. Vor allem durch das Philosophieren, also die Übung in der Vernunft, soll eine ständige Geisteshaltung antrainiert werden, welche dafür sorgt, dass sich der Mensch nicht von Dingen abhängig macht, die sich seiner Kontrolle entziehen. Dies erfordert nach Foucault „die Notwendigkeit einer Ar‐ beit des Denkens an ihm selbst; […] sie muß die Gestalt einer fortwährenden Filterung der Vorstellungen annehmen, muß sie prüfen, kontrollieren und sor‐ tieren“. 202 Der Gedanke, zu kontrollieren, was in unser Bewusstsein dringt, das dauernde Filtern von Ideen wird sich in veränderter Form 203 auf Montaignes essayistische Haltung übertragen. „Die Kontrolle ist eine Machtprobe und eine Freiheitsgarantie: eine Weise, sich beständig zu versichern, daß man sich nicht an das binden wird, was nicht unserer Herrschaft unterliegt.“ 204 In der Tradition der ,Stoa‘, zu der Seneca einen lebenspraktischeren Zugang verschaffen will, besitzt vor allem die Überwindung der Todesfurcht große Bedeutung. Dieses Ziel ist durch die Einübung der Vernunft zu erreichen. Philosophieren heißt, zu lernen, über sich selbst Bescheid zu wissen - ein Aspekt, der für Montaignes Essais von zentraler Bedeutung sein wird. Zur Vermeidung der Todesfurcht schreibt Seneca an Lucilius: das wird allein gewährleisten die Kenntnis seiner selbst und der Natur. Der Mensch wisse, wohin er gehe, woher er stammt, was ihm gut, was ihm schlecht ist, wonach er strebe, was die Vernunft ist, die Begehrenswertes und zu Meidendes unterscheidet, durch die der Begierden Wahnsinn zur Ruhe kommt, der Ängste Aufruhr gedämpft wird. 205 Das eigene Denken wagen, auf die Probe stellen, um seine Unabhängigkeit zu bewahren - Stefan Zweig sieht darin das Ethos und das wahre Verdienst Mon‐ taignes um die Welt und nennt es, nach einer Metapher Senecas, die „Verteidi‐ gung der Zitadelle“. Für Seneca muss die Seele eine von Bollwerk geschützte Zitadelle sein, jedem Ansturm von außen gewachsen und unerreichbar für Ge‐ schosse. Sie besitzt sich selbst und genügt sich selbst. 206 In diesem Sinn hatte Zweig in Montaigne eine Galionsfigur im Ringen mit seinem eigenen Schicksal und den Verheerungen seiner Zeit gesehen, der die Frage in den Mittelpunkt 77 4 Das ,Essayistische‘ als ,Praxis‘ 207 Beide Zitate Zweig, S. 13. 208 Das Manöver der mexikanischen Regierung hatte eher den gegenteiligen Effekt; Bücher wie Ladera este wurden ein Verkaufsschlager, und Paz’ Ansehen in der Welt wuchs. 209 Seneca, 1,1. rückt: „Wie bewahre ich meine ureigenste Seele und ihre nur mir gehörige Ma‐ terie, meinen Körper, meine Gesundheit, meine Nerven, meine Gedanken, meine Gefühle vor der Gefahr, fremdem Wahn und fremden Interessen aufgeopfert zu werden? “ Ihm geht es um den Aspekt der „Rettung der Freiheit in einer Zeit der allgemeinen Servilität an Ideologien und Parteien“. 207 Dieses drängende Thema des 20. Jh. durchdringt auch die Schreibpraxis von Octavio Paz und María Zam‐ brano. In Claros del bosque reflektiert sie ihr persönliches Schicksal gegen Ende eines 40-jährigen Exils; die Texte beschreiben nicht zuletzt ein Ringen um jenes ,Selbstsein‘, das sich stets an einem Topos existenzieller ,Selbstferne‘ abar‐ beitet. Und Octavio Paz’ El mono gramático entstand 1970 in England, nachdem er 1968 seinen Posten als mexikanischer Botschafter in Indien aus Protest gegen das Massaker von Tlateloco niedergelegt und seine Regierung ihn zur Persona non grata erklärt hatte und versuchte, ihn im eigenen Land totzuschweigen. 208 Auch El mono gramático beschreibt einen Kampf um die eigene Unabhängig‐ keit - als Ringen um die eigene Sprache. Zur Vorbereitung der Hinwendung zu sich, der ,conversio ad se‘, muss der Mensch zu der Einsicht gelangen, dass er Zeit mit nutzlosen Dingen zugebracht und sein Leben in einer ,Uneigentlichkeit‘ gelebt hat. Seneca schreibt an Lucilius: manche Zeit wird uns entrissen, manche gestohlen, manche verrinnt einfach. Am schimpflichsten ist jedoch der Verlust, der durch Lässigkeit entsteht. […] der größte Teil des Lebens entgleitet unvermerkt, während man Schlechtes tut, ein großer Teil, während man gar nichts tut, das ganze Leben, während man Belangloses tut. 209 Der Mensch muss sich von seinen unnützen Beschäftigungen befreien und eine Leere in sich schaffen; ein Vorgang, den Seneca als „sibi vacare“ bezeichnet. In diese Leere aber werden nun die Selbstpraktiken gepflanzt. Montaignes physi‐ scher Rückzug in den berühmten Turm 1571, in dem er mit dem Verfassen seiner Essais beginnt, folgt dem Gebot des Rückzugs zu sich, der Entledigung der be‐ langlosen Tagesgeschäfte. Dabei entdeckt Montaigne, wie Karin Westerwelle beobachtet, nicht etwa die Meeresstille des Gemüts: Der Geist, einmal sich selbst überlassen, galoppiert davon („faisant le cheval échappé“): „wie ein durchge‐ gangenes Pferd macht er sich selber heute hundertmal mehr zu schaffen, als zuvor, da er für andere tätig war; und er gebiert mir so viel Schimären und phantastische Ungeheuer, immer neue, ohne Sinn und Verstand, daß ich, um ihre Abwegigkeit und Rätselhaftigkeit mir mit Gelassenheit betrachten zu 78 II. Theorie 210 Montaigne, I, 8, dt. S. 20., frz. I, S. 154: „Mais je trouve, variam semper dant otia mentem, que au rebours, faisant le cheval échappé, il se donne cent fois plus d’affaire à soi-même, qu’il n’en prenait pour autrui: Et m’enfante tant de chimères et monstres fantasques les uns sur les autres, sans ordre, et sans propos, que pour en contempler à mon aise l’ineptie et l’étrangeté, j’ai commencé de les mettre en rôle, Espérant avec le temps, lui en faire honte à lui-même.“ 211 Barthes, Roland: Die Lust am Text, S. 74. 212 Montaigne, III, 12, dt. S. 530, frz. III, S. 384: „La philosophie nous ordonne, d’avoir la mort toujours devant les yeux, de la prévoir et considérer avant le temps, et nous donne après, les règles et les précautions, pour prouvoir à ce, que cette prévoyance, et cette pensée ne nous blesse. Ainsi font les médecins qui nous jettent aux maladies, afin qu’ils aient où employer leurs drogues et leur art.“ können, über sie Buch zu führen begonnen habe“ („mettre en rôle“). 210 Die Syn‐ these der vielfältigen Stimmen zu einer ,Einheit‘, die Seneca im Verdauungs-, aber auch im Chorgleichnis (ein harmonischer Klang aus vielen Einzelstimmen) noch beschworen hatte, will bei Montaigne nicht so recht gelingen. Er entpuppt sich eher als Derrida’scher ,Polylog‘. Roland Barthes seinerseits wird diese Er‐ fahrung als eine des ,Ich‘ als ein orientalischer Suk beschreiben, als öffentlicher Ort also, an dem Geschrei und Durcheinander und jedenfalls kein geordneter Chorklang herrscht. 211 Und so bedeutet Montaignes Schreiben als Selbstpraxis den Versuch, durch das „mettre en rôle“ Ordnung ins Chaos seiner Gedanken zu bringen - und das gelingt nur mit einer schonungslosen Reflexion über den inneren „Polylog“. Es ist der Abgleich antiker Vorbilder mit Montaignes konkreter Lebenser‐ fahrung, der seine Essais zu etwas Neuartigem macht. Man kann sagen, Mon‐ taigne denkt seinen Seneca in einer gewissen Radikalität weiter. Das wird ins‐ besondere deutlich, wenn man sich den stoizistischen Topos der Askese als Einübung der Unempfindlichkeit gegen die Todesfurcht näher ansieht. Fasst Montaigne ihn in einem der frühen Essays, Que Philosopher, c’est apprendre à mourir (I, 20), noch dem Titel gemäß konservativ auf, entwickelt sich seine Sichtweise in De la Physionomie ( III , 12) in eine andere Richtung: Mit einer Vor‐ bereitung auf Übel wie Verbannung, Folter und Krieg, Schiffbruch und Krank‐ heit müsse sich der Geist mit Gedanken beschäftigen, die uns vielleicht nie be‐ gegnen. Durch die Sorge aber um den Tod trüben wir das Leben und durch die Sorge um das Leben den Tod. Die Philosophie befiehlt uns, den Tod stets vor Augen zu haben […], und dann gibt sie uns Verhaltensregeln an die Hand, die gewährleisten sollen, daß diese Voraussicht und dieses Vorausbedenken uns ja nicht weh tue. Genauso machen es die Ärzte, die uns in Krankheiten stürzen, damit sie etwas haben, an dem sie ihre Arzneien und Künste ausprobieren können. 212 79 4 Das ,Essayistische‘ als ,Praxis‘ 213 Friedrich, S. 12. 214 Vgl. ebd., S. 225. 215 Foucault: Der Gebrauch der Lüste, S. 39. 216 Vgl. Friedrich, S. 261 f. 217 Vgl. de Obaldia, S. 3. Montaigne sieht zwei Seiten der philosophischen Zurichtung auf den Tod: Ei‐ nerseits sei es gut zu erkennen, was man vor sich habe. Andererseits könne die Vorausahnung die Angst erst recht schüren. Wenn die Philosophie wie in der Tradition der Selbstsorge eine Medizin sein soll, fragt Montaigne gewisser‐ maßen nach ihren Nebenwirkungen. Schlichte Bauern, so Montaigne, wüssten manchmal ehrenhafter zu sterben als Philosophen. Der Mensch solle sich nicht mit Belanglosem und Nutzlosem beschäftigen. Bis hier folgt Montaigne Seneca. Doch dann wendet er die ,Askesis‘ polemisch gegen sie selbst: Wenn das Philosophieren sich als nutzlos oder kontraproduktiv erweise, solle man lieber damit aufhören. Die Askese, deren Basis bei Seneca stets die Philosophie bleibt, radikalisiert sich in der Subjektivierung und kriti‐ siert nun ihre eigenen Grundlagen: Vielleicht bestehe die beste Übung darin, auf jede Übung zu verzichten. Damit wendet sich Montaigne ab von der Moralphi‐ losophie; seine Essais werden, in den Worten Hugo Friedrichs, zum „Hauptstück der neuzeitlichen Moralistik“, 213 die immer auch die Nähe zur Dichtung pflegt und aus ihr hervorgeht. 214 Schreiben ist durchaus noch Selbstpraxis; doch aus der Selbstkontrolle wird eine eher ungerichtete Selbstbetrachtung. Das thera‐ peutische Ziel der Selbstvervollkommnung wird zugunsten einer Beobachter‐ position weitgehend aufgegeben, und aus einer „Teleologie des Moralsub‐ jekts“ 215 entsteht das Subjekt als Faszinosum. Der Moralist ist kein Ethiker und geht nicht von einem idealisierten Menschenbild aus. Montaigne entbindet sich, wie Friedrich sagt, von jeder Mustergültigkeit 216 und erteilt so auch einem mög‐ lichen erzieherischen Nutzen seiner Texte eine Absage: „Je n’enseigne poinct, je raconte.“ 217 Statt Lehren gibt er Beschreibungen seiner selbst und beobachtet vorurteilsfrei die Menschen in ihrer konkreten Lebenswelt und ganzen Wider‐ sprüchlichkeit. ,Der Mensch‘ verschwindet im Plural der Individuen, und sich selbst als Individuum zu betrachten und schreibend zu spiegeln gebe daher am besten Auskunft über das Menschlichsein. Die Beobachtung der Fremdheit, die Betrachtung der Sprachlosigkeit - Zam‐ brano und Paz beschreiben Universalia der Menschen als persönlichste Erfah‐ rungswelt. Damit korrespondieren sie mit einem Aspekt, den Georg Lukács als entscheidenden des essayistischen Schreibens ansieht: An seinem Grund er‐ scheint eine existenzielle Metathematik, welche ,den Essay‘ über seinen histo‐ 80 II. Theorie 218 Vgl. Lukács, S. 34. 219 Vgl. Friedrich, S. 225. 220 Derrida: Grammatologie. Frankfurt a. M. Suhrkamp 1974. 12. Aufl. 2013, S. 154. 221 Ortner, Hanspeter: Schreiben und Denken. Tübingen: Niemeyer 2000, S. 43. 222 Vgl. Ortner, S. 173. rischen Moment hinaushebt: 218 Die ,poetische Essayistik‘ von Zambrano und Paz ist ein Versuch, diese ,großen Fragen‘ im Subjekt durch die Dichtung zu öffnen, und besinnt sich gerade darin auf die Moralistik, die in ihren Ursprüngen stets in der Nähe zur Dichtung gestanden hat. 219 Der essayistische Text etabliert sich aus antiken Traditionen heraus als mo‐ ralistische Selbstpraxis. Dabei versprachlicht oder ,ver-schriftet‘ sich die Praxis; konkrete Handlungsanweisungen, vor allem im Bereich physischer Betätigung, verschwinden. Das Schreiben als Praxis steht bei Montaigne unter dem Begriff des „mettre en rôle“, das ein Untereinandersetzen der Zeilen, ein lineares ,Ab‐ spulen‘ des Schreibens und damit eine geordnete, auf- und abrollbare Folge im‐ pliziert. An die Regelmäßigkeit einer ordnenden Schreibpraxis ist die wohlge‐ gliederte Darstellung des schreibenden Subjekts in der Selbst-Beschreibung / Selbst-,Verschriftung‘ gebunden. Doch genau das bleibt als Versuch unvollständig. Die Schrift seiner selbst verliert ihr festes Ziel und beginnt, um sich selbst zu kreisen: „Doch das Ende der linearen Schrift ist das Ende des Buches“, 220 schreibt Derrida - das heißt auch des Buches seiner selbst. Weder stellt sich eine geordnete Textgestalt ein, noch zeichnet sich eine schlüs‐ sige psychologische Gestalt ab. Zum Schreiben als entwerfende Praxis gibt es einen interessanten Ansatz von Hanspeter Ortner, der untersucht, wie Texte Wissen als gefügte Formen her‐ stellen. Er ist zunächst für das essayistische Schreiben interessant, weil es Ortner um Textoperationen geht, die nicht reproduzieren, sondern gestaltend und er‐ schaffend sich ihren Gegenstand ,erschreiben‘. Ortner nennt es „das episte‐ misch-heuristische Denken“. Ortner stellt sich die Frage, wie solche Texte un‐ verbundene Einzeldaten organisieren, um am Ende konstruktivistisch erarbeitete Ganzheiten hervorzubringen. Gerade weil ich diesem Gedanken in einem entscheidenden Punkt für das ,Essayistische‘ nicht folgen möchte, lohnt sich ein kurzer Blick auf Ortners Idee, um von hier aus - ex negativo - Schlüsse für ein essayistisches Schreiben zu ziehen: Ortner fasst Texte als Gestalten im Sinne der Gestaltpsychologie auf. Text ist für ihn „eine Figur aus organisiertem Wissen vor dem (Hinter-) Grund des nicht-organisierten Wissens“. 221 Eine Figur ist eine Einheit, die sich vor einer Umgebung abhebt. Als Gestalt bezeichnet Ortner den inneren Zusammenhang der Elemente dieser Einheit, ihre „Binnen‐ struktur“. 222 Die sogenannte Gute Gestalt ist dann erreicht, wenn alle Elemente 81 4 Das ,Essayistische‘ als ,Praxis‘ 223 Vgl. ebd., S. 47. 224 Beide Zitate ebd., S. 84. (Hervorhebung durch den Autor). 225 Ebd., S. 76. 226 Vgl. ebd., S. 175. 227 Ebd., S. 51. 228 Ich möchte an dieser Stelle auf eine ausführlichere Darstellung von Kristevas Textpraxis verzichten, da ich im Kapitel über Octavio Paz darauf eingehen werde. zusammenstimmen und ein konzises Bild ergeben. 223 Ortner fasst nun Schreiben (oder zumindest jenes Wissen schaffende Schreiben) als Gestaltbildungs- und Abduktionsprozess auf, genauer: als Suche nach der ,Guten Gestalt‘, dem Höchstmaß an Kohärenz und Stimmigkeit, in der aus einer Fülle von Möglich‐ keiten, aus einem „embarras de richesse“ heraus, konzise Einheiten entstehen: „Das Chaos war schon immer die Ursuppe der Schöpfung. Doch vor der Schöp‐ fung ist es eben nur Chaos, Raum des Möglichen.“ 224 Ein Scheitern oder Nicht‐ zustandekommen der ,Guten Gestalt‘ trotz der „Probierbewegungen“ 225 selbst‐ reflexiver Prozesse im epistemisch-heuristischen Schreiben führt Ortner nun im Wesentlichen auf eine Fehlleistung des Gehirns zurück. 226 Und genau hier liegt wohl Ortners Fehleinschätzung, denn im ,Essayistischen‘ ist jenes Scheitern konstitutiv veranlagt. Die essayistische Wahrheits- und Wissenssuche - und dieser Vorgang ist nur aus der tiefen Ambivalenz ihrer Haltung heraus zu be‐ greifen - impliziert das Paradox von Finden-Wollen und dem Wissen um ein letztendliches Nicht-Finden-Werden. Aus aufrichtiger Suche und kalkuliertem Scheitern ergeben sich das besondere Spannungsverhältnis und die Ästhetik des ,Essayistischen‘. Ortner macht für das Schreiben geltend: „Der komplizierte dynamische Prozeß, den ich als Gestaltbildungsprozeß begreifen will, braucht im Geflimmer der Möglichkeiten den Stabilisator Sprache, die dauerhaften Ob‐ jektivierungen mit und in Zeichen.“ 227 Das ,Essayistische‘ jedoch folgt einer Sprachkonfiguration, in der Zeichen, wenn überhaupt, nur ein verschwom‐ menes Bedeutungszentrum besitzen, in der jede feste Begrifflichkeit nur als Prozess temporärer Fixierung erscheint und Sprache einen Dialog mit dem stets Ungesagten ermöglichen soll: Wie stabil kann vor diesem Hintergrund ein ,Sta‐ bilisator Sprache‘ sein? An dieser Stelle halte ich Julia Kristevas Begriff der ,Text‐ praxis‘ für weitaus besser auf das ,Essayistische‘ applizierbar. Denn sie verbindet in ihrer Theorie nicht nur explizit Schreib- und Selbstpraxis, sondern fasst diese Praxis auch als Problematik von Gestaltwerdung, die sich aus einem dynami‐ schen, unabschließbaren Verhältnis der sprachlich fixierten ,Bedeutung‘ zu ihren immer wieder umwälzenden Urkräften, dem ,Semiotischen‘, ergibt. 228 Ortners Vorstellung des Texts als gefügte, ,gute‘ Bedeutungsgestalt wirkt vor 82 II. Theorie 229 Montaigne wählt Erstere; es lassen sich jedoch auch essayistische Formen vorstellen, die zu Zweiterem tendieren. Zambrano wäre vielleicht als solcher Fall zu deuten. 230 Nübel, S. 61. 231 Paz, Octavio: [MG dt.] Der sprachgelehrte Affe [1974]. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990. [MG span.] El mono gramático [1974]. Barcelona: Seix Barral 2016. hier: MG, dt. S. 75, span. S. 79: „Por ese camino salimos mañana y llegamos ayer: hoy.“ dem Hintergrund Kristevas Beschreibung komplexer textlicher Sinngebung bei‐ nahe naiv. Das ,Essayistische‘ entsteht zunächst aus der selbstpraktischen ,Askesis‘. Doch Montaigne legt in die Idee der ,Askesis‘ den Gedanken an ihr Scheitern an, richtet sie gegen sich selbst und veranlagt sein Schreiben somit als (selbst-)kritischen ,Versuch‘. Entweder Ironie oder Tragik folgt dieser Haltung. 229 Das ,Essayistische‘ bleibt, ebenso wie sein schreibendes ,Ich‘, immer mit einem Fuß in jenem „Geflimmer der Möglichkeiten“, das Kristeva als das ,Semiotische‘ einer näheren Betrachtung unterziehen wird. Beide, Text und ,Ich‘, exponieren geradezu ihre semiotische Potenz und sind daher vor allem ‚Un-Gestalten‛. Montaignes Wissen beginnt mit dem ,Versuch‘, seine galoppierenden Gedanken zu ordnen und durch ein „mettre en rôle“ festzuschreiben; doch das auf- und abrollbar gegliederte Wissens verliert mit einem gefügten Ziel- und Endpunkt auch seinen festen Ort. Wie Birgit Nübel beobachtet, weicht daher im ,Essayis‐ tischen‘ die logisch-chronologische Darstellung einer ,achronen Kontingenz‘: Die zeitliche Verkettung des Nacheinanders der Geschehnisse, welche die Narration konstituiert, ist beim Essay aufgelöst und überführt in eine Diskontinuität, eine Achronie, eine räumliche Anordnung der Elemente, einem Nebeneinander verschie‐ denster, auch narrativer, dramatischer und lyrischer Elemente. 230 Octavio Paz beschreibt diesen Vorgang in seinem mono gramático durch die Gleichzeitigkeit seiner (Handlungs-)Orte Galta und Cambridge sowie durch die Metapher des Schreibens als Weg ohne festes Ziel, in der wir wieder die Haltung ungerichteten moralistischen Beobachtens erkennen können. Die essayisti‐ sche ,écriture‘ löst ihre Chronologie in der Metapher des (Irr-)Wegs auf: „Auf diesem Weg brechen wir morgen auf und kommen gestern an: heute.“ 231 Die Teleologie der Praxis kommt darin zum Stillstand. Ich würde aber im Fall des ,Essayistischen‘ ein wenig genauer von einer ,intendierten Teleologie‘ spre‐ chen, die sich in einem konsekutiven Scheitern verliert und zerstreut wie Paz auf den Pfaden von Galta. Das ,wahre‘ Wissen des Essayisten Paz ist das des erfahrenen Rückkehrers, der sein Denken auf die ,Erfahrung‘ genau dieser Um- und Irrwege stützt. 83 4 Das ,Essayistische‘ als ,Praxis‘ 232 Foucault: Der Gebrauch der Lüste, S. 15. 233 Ebd., S. 16. 234 Lukács, S. 28. Im Vorwort zum zweiten Band von Sexualität und Wahrheit (Der Gebrauch der Lüste) offenbart auch Foucault seinen Erkenntnisweg als in einem eben ge‐ schilderten Sinn ,essayistischen‘, wenn er schreibt, das Motiv seines Schreibens sei die Hartnäckigkeit einer Neugier gewesen, die nicht nur ein vorgefasstes Wissen zu erkennen suche: „Was sollte die Hartnäckigkeit des Wissens taugen, wenn sie nur den Erwerb von Erkenntnissen brächte und nicht in gewisser Weise und soweit wie möglich das Irregehen dessen, der erkennt? “ 232 Foucault fragt sich, wie es möglich werden kann, ,anders‘ zu denken, als man denkt. Der philosophische Diskurs dürfe weder vorsagen, wo die ,Wahrheit‘ zu liegen habe, noch ein Verfahren diktieren: Der ,Versuch‘ - zu verstehen als eine verändernde Erprobung seiner selber und nicht als vereinfachende Aneignung des anderen zu Zwecken der Kommunikation - ist der lebende Körper der Philosophie, sofern diese jetzt noch das ist, was sie einst war: eine Askese, eine Übung seiner selber, im Denken. 233 Sich selbst erproben und sich in der aufrichtigen Haltung einer ,parrhesia‘ aufs Spiel setzen, um in einem „Geflimmer der Möglichkeiten“ der „eisig-endgültigen Vollkommenheit der Philosophie“ 234 immer wieder kreisend zu entgehen, darin besteht, um ein Wort Heideggers zu bemühen, das „Fest des Denkens“. María Zambranos Bild der Lichtung ist dem des Weges komplementär: Statt auf das Irregehen auf den Wegen des Denkens und Schreibens oder das schreibende Denken als Praxis legt sie ihr Augenmerk auf deren Voraussetzung: das ,sibi vacare‘. Wie die ,Waldlichtungen‘ leere Orte sind, müsse man die Leere auch in sich schaffen. Zambranos Text nimmt, vergleichbar mit einer Meditations‐ praxis, ,Haltung‘ ein. Doch das leere Zentrum des Selbst wird nicht mit Aktivität gefüllt; Zambranos asketische Praxis besteht, gleich Montaignes Kritik der As‐ kese, in dem Versuch, auf das Philosophieren zu verzichten oder, besser: es aus‐ zusetzen und in der Schwebe zu halten. Statt des Chaos der Gedanken, das mit‐ tels des ,mettre en rôle‘ geordnet werden muss, konzentriert sich Zambrano auf den Versuch, das ,Selbst‘ als reinen Rezeptionsraum der Erfahrung offenzu‐ halten. Exkurs: Was ist ,écriture‘? Was ist ,Schrift‘? Derridas ,Schrift‘ oder ,écriture‘ ist kein Begriff. Sie lässt sich weder definieren noch in einem hermeneutischen Prozess erfassen. Denn beides sind Teile eines von Derrida als „Präsenzmetaphysik“ beschriebenen Komplexes, 84 II. Theorie 235 Kimmerle, Heinz: Derrida. Zur Einführung. Hamburg: Junius 1988, S. 23. 236 Vgl. ebd., S. 29. 237 Vgl. Kofman, Sarah: Derrida lesen. Wien: Passagen 1987, S. 27. 238 Ebd., S. 29. 239 Derrida: Grammatologie, S. 122. den die ,Schrift‘ infrage stellt. Die ,Schrift‘ ist Metaphysik und Hermeneutik gegenübergestellt. Es lässt sich daher nicht eindeutig bestimmen, was sie ist. Wenn ,Schrift‘ überhaupt etwas ,ist‘, dann vielleicht die Problematik einer Ant‐ wort auf die Frage nach ihrer Bedeutung - und damit auch Chiffre für einen akademischen Streit, den Derrida provoziert hat. So hält es z. B. Heinz Kimmerle für unangemessen, über Derrida wie über andere Autoren zu schreiben, und bezeichnet es insbesondere als „ganz inadäquat, im allgemeinen darzulegen, was die écriture (Schrift) Derridas bedeutet. […] Was Derrida Dekonstruktion nennt […] ist immer auch eine Dekonstruktion des Theorietyps, der allgemeine Beschreibungen gibt.“ 235 So sei die ,Schrift‘ lediglich auf vielfältige Weise inter‐ pretierbar, wobei jede Deutung auch eine Verdeckung sei. 236 Die französische Essayistin und Derrida-Interpretin Sarah Kofman wirkt in ihrem Urteil sogar noch radikaler: Es sei gänzlich unmöglich, Derridas Denken resümieren zu wollen oder überhaupt eine Auflistung seiner Themen zu erstellen. 237 Folge ich Kofman, hätte ich mit meiner naiven Frage nach der ,Schrift‘ ein regelrechtes Sakrileg begangen. Kofman kommt zu dem Schluss: „Die unerhörte Schrift Der‐ ridas - die Schrift - verbietet also jede traditionelle Lektüre und Fragestel‐ lung: […] Man muß also ein drittes Ohr besitzen oder das philosophische Ohr verrenken und mit schiefem Blick lesen.“ 238 In der Tat kann es bei der Der‐ rida-Lektüre weniger um analytische Inhaltsbestimmung gehen als vielmehr darum, die Gesten und Bewegungen seines Denkens nachzuvollziehen. Dabei lauert jedoch stets die Gefahr, dass ein Nachvollziehen zu einem bloßen Nach‐ ahmen wird. Dennoch ist Kofmans Eifer an dieser Stelle vielleicht überzogen. Die ,Schrift‘ ist weit davon entfernt, irgendetwas zu ,verbieten‘. Derrida gibt uns ein Knäuel von Begrifflichkeiten an die Hand und schult uns, sie nicht ,an sich‘ zu begreifen, sondern innerhalb einer Struktur. Wenn die Wörter und die Begriffe nur in differenziellen Verkettungen sinnvoll werden, so kann man seine Sprache und seine Ausdrücke nur innerhalb einer Topik und im Rahmen einer historischen Strategie rechtfertigen. Mit anderen Worten, eine solche Rechtfertigung kann niemals absolut und endgültig sein. 239 So wird die ,Schrift‘ zu etwas, das seinen Sinn daraus bezieht, dieses Wort in Relation zu setzen zu einem ganzen Geflecht von anderen Worten, wie etwa der ,Spur‘, dem ,Logos‘ oder der ,Präsenz‘. In immer neuen Windungen schlän‐ 85 4 Das ,Essayistische‘ als ,Praxis‘ 240 Adorno, S. 72. 241 Derrida: Grammatologie, S. 123. 242 Lagemann, Jörg / Gloy, Klaus: Dem Zeichen auf der Spur. Derrida - eine Einführung. Aachen: ein-Fach Verlag 1998, S. 130. 243 Vgl. Derrida: Grammatologie, S. 28. 244 Ebd., S. 28. gelt sich dann die ,Schrift‘ durch ihre möglichen Bedeutungsoptionen, Facetten und Konnotationen. Nicht zuletzt diese Definitionsverweigerung macht Derrida zu einem versierten Essayisten, denn er praktiziert damit jenes methodisch-un‐ methodische Vorgehen, das Adorno für ein Wesensmerkmal des Essays hält. Der Essayist, so Adorno, erschließe seine Begriffe wie einer, der eine fremde Sprache ohne Diktionär lernt - eben aus dem Zusammenhang -, „anstatt schulgerecht aus Elementen sie zusammenzustümpern“. 240 Es verwundert also nicht, wenn Derrida eines seiner wichtigsten Werke, die Grammatologie, selbst als ,Essay‘ bezeichnet. 241 Sein unsystematischer „Bezeichnungswirbel“ 242 macht den Um‐ gang mit ihm nicht einfach, doch wäre es vielleicht unklug, die Ironie in diesem Exzess nicht zu begreifen und seine Lust am Spiel nicht zu berücksichtigen. Insofern ist Kofmans Bild vom Verrenken des philosophischen Ohrs und vom Lesen ,mit schiefem Blick‘ durchaus treffend. Gerade eine „poetische Essayistik“ scheint eine Lektüre des ,schiefen Blicks‘ vorauszusetzen. Insbesondere Zam‐ branos Claros del bosque erfordert und beschreibt gleichermaßen die Perspektive eines philosophischen Zwielichts und einer ,Unentschiedenheit‘. Sie ist zwar vollkommen frei von jeglicher ,spielerischen Ironie‘, nicht aber von einer ,tra‐ gischen‘. Aus wissenschaftlicher Perspektive ist natürlich noch ein anderer Um‐ gang mit solchen Texten als jener des ,schiefen Blicks‘ angezeigt. Und so ver‐ suche ich, Eckpunkte zu setzen, rote Fähnchen irgendwo in den Wald der ,Schrift‘ aufzustecken, Rodungsflächen einzuzäunen wohl wissend, dass diese für das menschliche Verständnis eingezäunten Bereiche nicht die Grenzen des Waldes sind, sondern lediglich etwas Landschaftspflege für die Bewirtschaf‐ tung darstellen. Es lässt sich durchaus über die ,Schrift‘ sprechen. Derrida selbst macht deut‐ lich, dass es ihm nicht um die generelle Zurückweisung metaphysischer Be‐ grifflichkeiten geht. Sie seien notwendig, denn ohne sie lasse sich heute nichts mehr denken. 243 „Es muß vielmehr die systematische und historische Verbun‐ denheit von Begriffen und Gesten des Denkens evident gemacht werden, die man oft unbedenklich glaubt voneinander trennen zu können.“ 244 Derrida ist es lediglich darum zu tun, auf das Problematische an Begriffen wie ,Begriff ‘ oder ,Verstehen‘ aufmerksam zu machen. Zu diesem Zweck übernimmt er Hei‐ deggers Technik der ,kreuzweisen Durchstreichung‘ als „die letztmögliche 86 II. Theorie 245 Ebd., S. 43. 246 Vgl. Lagemann / Gloy, S. 70 ff. 247 Lagemann / Gloy, S. 73. 248 Derrida: Grammatologie, S. 38. 249 Ebd., S. 25. Schrift einer Epoche. Unter ihren Strichen verschwindet die Präsenz eines trans‐ zendentalen Signifikats und bleibt dennoch lesbar.“ 245 Ausgangspunkt für Derridas Schrifttheorie ist, neben seiner Kritik der Zei‐ chentheorie de Saussures, seine Auseinandersetzung mit Husserls Konstrukt des „einsamen Seelenlebens“ oder der „einsamen Rede“, wie Jörg Lagemann beson‐ ders deutlich herausgearbeitet hat: Husserl unterscheidet zwischen zwei Zei‐ chentypen; dem Ausdruckszeichen und dem Anzeichen. Dabei ist nur das Aus‐ druckszeichen Träger von Bedeutung. In Husserls Argumentation fällt der kommunikative Akt, die reale Mitteilung, unter die Kategorie der reinen An‐ zeichen. Denn die Bedeutung ist dem Hörenden nicht direkt zugänglich. Husserl braucht nun ein Beispiel für das reine Ausdruckszeichen, in dem die kommu‐ nikative Funktion suspendiert ist. Dieses Beispiel findet er in der ,einsamen Rede‘: Man könne sich als zu sich selbst Sprechender vorstellen. Dieses Selbst‐ gespräch entbehre jeder kommunikativen Funktion, da man sich in Wahrheit nichts mitteile, was nicht zur gleichen Zeit bereits erlebt werde. Die in sich selbst verbleibende Stimme wird so an die Kategorie der Bedeutung geknüpft. Es ist eine Bedeutung, die nicht durch Zeichen vermittelt wird, sondern im Inneren des Bewusstseins als unmittelbar anwesend, als Präsenz gedacht wird. 246 „In solchermaßen bedeutungshaft erfüllten, imaginierten phonischen Signifikanten des inneren Diskurses realisiert sich also die Selbstpräsenz des Bewußtseins.“ 247 Auch wenn nun die phänomenologische, innere Stimme nicht in die empirische Welt dringen kann, bleibt doch in jedem sprachlichen Akt, in jedem phonetisch hervorgebrachten Signifikanten diese innere Idealität haften; die Stimme wird zum reinen Signifikat, dem Träger der idealen Bedeutung. Derrida schreibt in der Grammatologie: „Die Erfahrung, daß der Signifikant in der Stimme erlischt, ist nicht irgendeine beliebige Illusion - denn sie bedingt gerade die Idee der Wahrheit.“ 248 Diesen Komplex bezeichnet Derrida als „Logozentrismus“, der durch die Koppelung an die Stimme immer auch ein „Phonozentrismus“ sei: als „Phono-Logozentrismus“, d. h. „absolute Nähe der Stimme zum Sein, der Stimme zum Sinn des Seins, der Stimme zur Idealität des Sinns“. 249 Derrida kritisiert, dass unter den Vorzeichen des ,Phonozentrismus‘ die Schrift als etwas Sekundäres abgedrängt werde, da ihr selbst nur die Rolle zu‐ komme, das ursprünglich bedeutungs- und wahrheitsvolle gesprochene Wort festzuhalten und dabei unweigerlich zu verzerren und zu verfälschen. Die 87 4 Das ,Essayistische‘ als ,Praxis‘ 250 Ebd., S. 19. (Hervorhebung durch den Autor). 251 Vgl. Lagemann / Gloy, S. 55. 252 Derrida: Grammatologie, S. 43. 253 Lagemann / Gloy, S. 52. 254 Vgl. Derrida: Grammatologie, S. 64-73. 255 Derrida: Grammatologie, S. 65 Schrift war in dieser seit Platon geltenden Vorstellung nur „Übersetzung eines erfüllten und in seiner ganzen Fülle präsenten Wortes (sich selbst, seinem Sig‐ nifikat und dem anderen präsent, geradezu Bedingung der Thematik der Präsenz im allgemeinen), Technik im Dienst der Sprache, Fürsprache und Interpretation eines ursprünglichen, selbst der Interpretation entzogenen gesprochenen Wortes“. 250 Damit eröffnet die logozentrische Vorstellung eine bestimmte Art von Metaphysik, die in der Folge zu einem der Grundpfeiler der abendländischen Philosophie wird. Diese habe ihr System anhand der Bestimmung gegensätzli‐ cher Begriffspaare entwickelt, wobei immer ein Glied des Paares zugunsten des anderen abgewertet worden sei, wie eben am Beispiel der Dichotomie von Sprache aus Wort und Schrift zu erkennen. Die ganze abendländische Philoso‐ phie fußt in dieser Argumentation auf einer gewaltsam hergestellten Hierar‐ chie. 251 Derrida spricht von der „Herrschaft einer sprachlichen Form“. 252 In ihr manifestierten sich immer die „Unterdrückung widerständiger Elemente“ 253 und die Verdrängung des Latenten und Marginalen. Damit hat Derridas Kritik der Metaphysik unter anderem auch eine politische Bedeutungskomponente. Denn es wird klar, dass sie ein Macht- und Herrschaftssystem begründet oder zumin‐ dest die Bausteine liefert für die Begründung von Machtsystemen, die es zu erschüttern gilt. Die Erschütterung eines Machtsystems aber ruft immer Em‐ pörung und Zurückweisung hervor, wie sich beobachten lässt, wenn die Schrift es wagt, an die Stelle des Wortes zu treten, wenn der Buchstabe die Phonie aus sich abzuleiten sucht. Derrida geht hier besonders ausführlich auf die Auslas‐ sungen de Saussures ein, der in diesem Kontext von ,Perversion‘ und ,Usurpa‐ tion‘ durch die Schrift und von der ,Tyrannei der Buchstaben‘ spricht. 254 Als ,Usurpation‘ wird schließlich der Einbruch des vermeintlich Künstlichen in die natürliche Ordnung empfunden und als deren Umdrehung und Verstellung. Sie besteht in einem ,Vergessen‘ des einfachen Ursprungs, denn, wie de Saussure im Cours de linguistique sagt, man vergesse, dass man das Sprechen vor dem Schreiben lerne. 255 Dass sich das ,Essayistische‘ an dieser Revolte und Usurpation der ,écriture‘ beteiligt, zeigt sich allein schon in diesem Aspekt, im Bewusst‐ werden der ,zweiten Natur‘ des Menschen als erste, wie Adorno sagt, und in der Infragestellung des einfachen, identitären Bewusstseins. Insofern ließe sich 88 II. Theorie 256 Ebd., S. 66. 257 Vgl. Kimmerle, S. 84. 258 Vgl. Lagemann / Gloy, S. 17 f. 259 Kofman, S. 23. 260 Lagemann / Gloy, S. 66. (Hervorhebung durch die Autoren). sagen, das ,Essayistische‘ sei, zumindest bis zu einem gewissen Grad, ,schrift‐ getrieben‘. Im Einbruch des Verdrängten, des als unnatürlich oder gar widernatürlich Geschmähten lässt sich auch eine psychoanalytische Komponente der Meta‐ physikkritik festmachen. Nicht mehr das im Bewusstsein ,Präsente‘ ist Aus‐ gangspunkt aller Bestimmungen und allen Bedeutens: Der Ursprung ist jetzt ein in sich doppelter, der schon immer in der Aufspaltung in sein jeweils ,Anderes‘ bestand, in seiner Doppelung und seiner Differenz von sich selbst. Die ,Präsenz‘ war damit schon immer der Verweis auf eine ,Nichtpräsenz‘, die Sprache war schon immer die Möglichkeit ihrer Abweichung in Schrift. Zu Saussures Vor‐ wurf der Usurpation und Aggression durch die Schrift schreibt Derrida seine Grammatologie als deren Apologie: „Es kann eine ursprüngliche Gewalt der Schrift nur geben, weil die Sprache anfänglich Schrift in einem Sinne ist, der sich fortschreitend enthüllen wird: Die ,Usurpation‘ hat immer schon be‐ gonnen“: 256 Das in sich identische, transzendentale Signifikat hat, genauso wie jenes stabile ,Ich‘, nie existiert. Es war schon immer in seine Vielheiten zerlegt. Dies trifft die Metaphysik in ihrem Kern, die versucht, alles aus dem einheitli‐ chen Ursprung herzuleiten, 257 und damit die Illusion erzeugt, dass ein Zustand von ,Eindeutigkeit‘ erreicht werden könne. 258 ,Eindeutigkeit‘ liefe letztendlich ohnehin auf eine bloße Wiederholung des Gleichen heraus. Der Sinn des Seins, als Identität aufgefasst, bedeutet nur sich selbst; er bedeutet das Bedeuten des Sinns, ein „Sich-Selbst-Bedeuten der Präsenz“ 259 etc. - er ist Tautologie. Der Weg, den Derrida nun beschreitet, um die unter den Begriffen ,Eindeu‐ tigkeit‘, ,Identität‘ und ,Präsenz‘ versammelte Metaphysik zu dekonstruieren, fraglich zu machen, führt ihn über die Kritik des strukturalistischen Zeichens. Es wird zum Dreh- und Angelpunkt seiner dekonstruktiven Arbeit an der Me‐ taphysik. Der Zeichenbegriff mit seiner markanten Scheidung von Bezeich‐ netem und Bezeichnendem dient Derrida als „theoretische Abbreviatur“, 260 das heißt, er steht metonymisch für das ganze metaphysische System. Dazu führt er in der Grammatologie aus: Die Epoche des Logos erniedrigt also die Schrift, die als Vermittlung und als Heraus‐ fallen aus der Innerlichkeit des Sinns gedacht wird. […] Die Differenz zwischen Sig‐ 89 4 Das ,Essayistische‘ als ,Praxis‘ 261 Derrida: Grammatologie, S. 27. 262 Ebd., S. 81. 263 Vgl. Lagemann / Gloy, S. 121. 264 Derrida: Grammatologie, S. 75. nifikat und Signifikant gehört zutiefst in die Totalität jener großen, von der Geschichte der Metaphysik eingenommenen Epoche. 261 Es zeichnet sich nun eine Interpretation der ,Schrift‘ ab: Als abgewerteter, er‐ niedrigter Teil eines metaphysischen Begriffspaares steht sie dem gesprochenen Wort strukturell gegenüber und dient zugleich als eine Art Instrumentarium gegen den ganzen Komplex des ,Phono-Logozentrismus‘ und der ,Präsenzme‐ taphysik‘. Aber was genau ,ist‘ ,Schrift‘ in diesem Zusammenhang? Derrida verbindet mit ,Schrift‘ die Einkerbung oder Gravur. 262 In ihrer plas‐ tischen Materialität bildet sie einen Gegenpol zum Ideal des transzendentalen Signifikats in der Stimme. Wir haben weiter oben schon gesehen, wie sich dieses Signifikat als ein ,Bei-sich-Sein‘, als ,Präsenz‘ ausdrückt. Die ,Schrift‘ steht dieser gedachten ,Präsenz‘ nun deshalb gegenüber, weil sie sich aus Signifikanten zu‐ sammensetzt, das heißt aus Elementen, die eine ,Abwesenheit‘ in sich tragen, da sie stets nur auf etwas anderes als sie selbst verweisen. Das geschriebene Wort ist dabei sogar nur ein Signifikant zweiten Grades, da es auf einen primären Signifikanten, das gesprochene Wort, verweist, das wiederum Zeichen eines vorausdrücklichen Sinns, eines transzendentalen Signifikats, ist. Der besondere Schritt, den Derrida nun vollziehen möchte, besteht im Nachweis, dass die ,Schrift‘ als ein solcher „exemplarischer Signifikant“ 263 kein nachgeordnetes Element, kein dem ,eigentlichen Wesen‘ der Sprache Abgefallenes und Äußeres darstellt, sondern Sprache und Sprachlichkeit selbst ausdrückt. Dabei richtet sich die Bewegung in Derridas Denken nicht mehr an einem Zentrum aus. Die marginalisierte Schrift wird nicht in Amt und Würden gesetzt und als neuer Mittelpunkt inthronisiert. Ganz im Gegenteil, das Zentrum selbst, affiziert von der ,Schrift‘, flieht aus seinem Mittelpunkt, wird auseinandergetrieben: „Die Schrift ist nicht Zeichen der Zeichen, es sei denn, was schon in einem tieferen Sinne wahr wäre, man behauptet dies von jedem Zeichen.“ 264 Derrida geht den Weg über die Dekonstruktion des klassischen Zeichenbegriffs, um diese Zent‐ rifugalkräfte der ,Schrift‘ ins Werk zu setzen: Das sogenannte ,Ding selbst‘ ist immer schon ein repräsentamen, das der Einfältigkeit der intuitiven Evidenz entzogen ist. Das repräsentamen kann nur funktionieren, indem es einen Interpretanten hervorbringt, welcher seinerseits zum Zeichen wird und so ad infinitum. Die Identität des Signifikats mit sich selbst verbirgt und verschiebt sich unaufhörlich. Das Eigentliche des repräsentamen besteht darin, es selbst und ein An‐ 90 II. Theorie 265 Ebd., S. 86. (Hervorhebungen durch den Autor). 266 Vgl. Derrida: Grammatologie, S. 19, 77. 267 Ebd., S. 17. 268 Ebd., S. 81. (Hervorhebung durch den Autor). 269 Ebd., S. 130 f. (Hervorhebungen durch den Autor). 270 Vgl. ebd., S. 123. 271 Vgl. ebd., S. 109. deres zu sein, als eine Verweisstruktur zu entstehen und sich von sich selbst zu trennen. […] Das Repräsentierte ist immer schon ein repräsentamen. 265 Das heißt, das Zeichen besteht nicht, wie in der ererbten Vorstellung, aus Sig‐ nifikant und Signifikat. Denn jedes Signifikat entpuppt sich als verkappter Sig‐ nifikant; das Zeichen besteht nur noch aus Signifikanten, die in einer unendli‐ chen Verkettung aufeinander verweisen. Das bedeutet in der Konsequenz, dass das sprachliche Zeichen, dass Sprache überhaupt Signifikant - ,Schrift‘ ist. 266 Dabei handelt es sich um ein Modell, das die Bewegung des stetigen Verweisens auf ein Nicht-Eigentliches hervorhebt und zuspitzt. In einem solchen Modell ist es nicht mehr möglich, etwas auf einen nicht in der Sprache selbst liegenden Ursprung zurückzuführen; „man ahnt bereits, daß ein Ursprung, dessen Struktur als Signifikant des Signifikanten zu entziffern ist, sich mit seiner eigenen Her‐ vorbringung selbst hinwegrafft und auslöscht“. 267 Man gewinnt nun den Eindruck, dass Derrida in den Momenten, in denen er von diesem ,Nicht- Ursprung‘ spricht, einen weiteren Aspekt von ,Schrift‘ in die Diskussion führt: den der ,Spur‘. Die ,Spur‘ ist eine Möglichkeit, auf die Frage nach der ,Schrift‘ zu antworten. Derrida schreibt, sie impliziert „als die allen Bezeichnungssystemen gemeinsame Möglichkeit - die Instanz der vereinbarten Spur (trace instituée)“. 268 Was aber ist nun die ,Spur‘? Derrida antwortet wie immer ausweichend: „Die Spur ist nichts, ist nicht ein Seiendes; sie übersteigt die Frage Was ist - und macht sie vielleicht erst möglich. […] Aber wir wollen uns nicht bis zur gefahrvollen Notwendigkeit der Frage nach der Urfrage ,Was ist das‘ vorwagen.“ 269 Ich denke jedoch, wenn die Urfrage eine ,Notwendigkeit ist‘, wie Derrida zugibt, sollten wir das Gefahrvolle nicht scheuen. Die ,Spur‘ ist Derridas eigener Auskunft nach nicht weiter ableitbar und dient ihm zur De‐ konstruktion der ,Präsenz‘. 270 Sie ist gerade das nicht Gegenwärtige, die reine Differenz. 271 Denn die ,Spur‘ verweist nur auf eine Abwesenheit, die aber nicht mehr metaphysisch einen vorangegangenen Verursacher der ,Spur‘ voraussetzt. Für Derrida ,ist‘ der Ursprung eben nicht einfach ,Spur‘, vielmehr tritt an die Stelle eines Ursprungs ein dynamisches Ursprungsgeschehen, ein Nebenei‐ nander aus ,Spur‘ und gesprochenem Wort, das sich wechselseitig bedingt, auf‐ 91 4 Das ,Essayistische‘ als ,Praxis‘ 272 Vgl. Kimmerle, S. 46 f. 273 Derrida: Positionen [1972]. Wien: Passagen 1986, S. 67. 274 Kimmerle, S. 84. 275 Kofman, S. 49. einander verweist und ,supplementiert‘. 272 In Positionen gibt Derrida ungewöhn‐ lich genau darüber Auskunft, was mit dem Begriff der ,Spur‘ gemeint ist: Jedes Element, gleich ob Phonem oder Graphem, besteht aus den Spuren anderer Elemtente, auf die es verweist. So gebe es nichts mehr einfach Ab- oder Anwe‐ sendes, sondern nur „Differenzen und Spuren von Spuren“. 273 Entscheidend erscheint mir an der ,Schrift‘, dass Derrida ihr eine doppelte Funktion zuschreibt: Einerseits bezieht er sich nur beschreibend auf die Eigen‐ schaften von Schrift allgemein. Sie ist materiell, räumlich; sie ist etwas der Stimme Entgegengesetztes und als exemplarischer Signifikant Träger von Ab‐ wesenheit und Abweichung. Weil Derrida diese Eigenschaften aber nun an den Grund der Sprache setzt, wird die ,Schrift‘ außerdem zur Chiffre für ein signi‐ fikantenbasiertes Modell, für ein Denken der Differenz, der Verschiebung; ein Denken, das nichts auf eindeutige Ursprünge zurückführen kann, sondern mehrdimensional und dynamisch, nicht konzeptuell, sondern kontextuell ist. Es unterläuft jede Vorstellung von Identität und Totalität. In dieser Funktion wird das Denken der ,Schrift‘ zu einem wichtigen Aspekt für ein Verständnis des ,Es‐ sayistischen‘. Gerade über das Wort der ,Spur‘ sind Aspekte zu erschließen, die im Zusam‐ menhang mit dem ,Essayistischen‘ interessant sind: Die ,Spur‘ ist keine Sache, die außerhalb der Sprache liegen könnte, sie ist im Zeichen selbst und ist als Abwesenheit in jedem Element der Sprache am Werk. Diesen Aspekt nennt Derrida „Ur-Spur“ oder auch „Ur-Schrift“ („archi-écriture“). Damit sind keine weiteren Elemente gemeint, die der ,Schrift‘ oder der ,Spur‘ vorausgingen, „sie bestehen auch nicht neben diesen, sondern als Effekt in ihnen“. 274 Dieses Detail scheint mir von Bedeutung, da es eine generelle Methodik in Derridas Denken veranschaulicht: Er entkernt die Begriffe nicht nur, indem er ihnen die Defini‐ tionen nimmt. Gleichzeitig nimmt er ihnen auch den festen Ort. Sarah Kofman beobachtet diese Atopie der ,Schrift‘ parallel zum Begriff des Unbewussten: Die Originalität der Psychoanalyse, gibt Kofman zu bedenken, beruhe nicht auf der Erfindung des ,Unbewussten‘, sondern darauf, es überall eingeführt zu haben, „ohne es dabei irgendwo als etwas Eigenes, Selbständiges in Erscheinung treten zu lassen. Ein solcher Begriff durchbricht […] jede Grenze und jede Randvor‐ gabe, er erschüttert also die Metaphysik tief.“ 275 Dies legt die Verfahrensweise offen, in der Derrida generell mit Begriffen umgeht: Er verändert sie von einem ,Sein‘ hin zu einem ,Wirken‘ oder einem Effekt. Ebenso geschieht es mit 92 II. Theorie 276 Barthes: Die Lust am Text, S. 13. der ,Schrift‘, die, so könnte man vielleicht sagen, als unheimlicher Effekt der Abwesenheit in der Sprache wirkt. Die ,Ur-Spur‘ ist eine Chiffre für die Ortlo‐ sigkeit der ,Schrift‘; durch sie ist die ,Schrift‘ gleichzeitig überall und nirgends, und durch die ,Spur‘ erst bekommt die ,Schrift‘ als performativer Begriff jene Metaphysik erschütternde Sprengkraft, von der Kofman spricht. Wenn das ,Essayistische‘ von der sprachlichen Verfasstheit des Menschen ausgeht, so besteht María Zambranos und Octavio Paz’ Projekt einer ,poetischen Essayistik‘ darin, einen Schritt weiter zu gehen und zum Wesen und zu den Grenzen von Sprache vorzudringen. Wo beginnt die Sprache, wo endet sie? Dabei stoßen sie auf die ,Ur-Spur‘: ubiquitäre Abwesenheit als das Unbewusste der Sprache. Unter diesen Vorzeichen ist Zambranos ,Ortlosigkeit‘ des Exils zu verstehen, ebenso wie Paz’ Beschreibung der Tempelarchitektur von Galta als „Fata Morgana‘. Die Sprache ,ist‘ nicht, bedeutet nicht, sondern sie ,wirkt‘. So‐ wohl bei Zambrano also auch bei Paz ist dabei die ,Lichtung‘ der Ort einer ,Nicht-Materialisierung‘ des sprachlichen Menschen, um mit Barthes zu sprechen, die ,andere Seite‘ der Sprache, „die mobil, leer ist (fähig, beliebige Konturen anzunehmen), immer nur der Ort ihrer Wirkung“. 276 Sich als kon‐ kreten Menschen in seiner sprachlichen Verfasstheit zu ergründen heißt, sich als Effekt der Sprache zu setzen, den Menschen im Schattenwurf der Laterne zu suchen. Doch auch für ein Verständnis des ,Essayistischen‘ als Begriff selbst ist eine Reflexion über Derridas Gedankengänge wertvoll: Die ,Schrift‘ existiert nur als Praxis, denn die ,Schrift‘ ,ist‘ nicht, sondern sie schreibt sich, und indem sie sich schreibt, setzt sie verschiedene Effekte in Gang: Sie stößt auf gewisse Po‐ sitionen und Begriffe, die sich im Charakter einer ,Usurpation‘ an den Begriffen abendländischer Metaphysik abarbeiten. In ähnlicher Weise operiert auch das ,Essayistische‘: Heimatlos, keinem festen Genre zugeordnet, bezieht es seine Bedeutung aus einem Schillern von Konstellationen, die von einer Praxis erspürt werden. Anders ausgedrückt: Der ganze Komplex der ,Schrift‘ ist eine mögliche Konstellation des ,Essayistischen‘. Denn was die essayistische Praxis in Gang setzt, ist eine ganze Reihe verschiedenartiger und vielfältiger Erfahrungen der Abwesenheit von Signifikanz in der Moderne. 4.2 Körperpraxis: Entkleidung und Demaskierung Heute scheint das ,Essayistische‘ eher mit einem kühlen Intellektualismus in Verbindung gebracht zu werden, dabei ist es eigentlich Praxis, die einen starken Bezug zum ,Sinnlichen‘ hat. Montaigne entdeckt das körperliche Gepräge des 93 4 Das ,Essayistische‘ als ,Praxis‘ 277 Villey: Les sources des Essais, S. 87. 278 Friedrich, S. 420. Denkens als sinnliche Erfahrung. Sie ist fest verankert in einem textuellen Körper-Bewusstsein: dem Bewusstsein des Textes als lebendiger Körper und des Körpers als Text. Pierre Villey macht deutlich, in welchem Maß Montaigne über einen Zeitraum von 20 Jahren mit seinen Essais verschmilzt: „Sa personne va pénétrer son livre.“ 277 In diesem Sinne ist der essayistische Text in wörtlichem Sinn ,Körper-Schrift‘. Die sinnliche Erfahrung entsteht im selbstpraktischen Schreiben als ein Akt der Verschmelzung mit dem Text. Die Selbsthingabe an die Schrift ist nun verbunden mit einer Reihe von Auflösungsbewegungen des Subjekts, die sich als Figuren der Selbstentmächtigung betrachten lassen. Sie werden, folgen wir Roland Barthes, als ,lustvoll‘ erlebt. Als sinnliche Körper‐ praxis taucht das ,Essayistische‘ in den Konstellationen einer Texterotik auf. Die Öffnung zum Sinnlichen hin wird bereits deutlich im Titel, den Montaigne wählt. Essais sind zunächst keineswegs ein ungewöhnlicher Buchtitel in einer Zeit, in der eine Vielzahl miszellenartiger Schriften mit recht bunten Namen gedruckt wurden: Disputations, Sentences, Mots dorés, Entretiens, Mélanges, Va‐ riétés oder Diversités. Hugo Friedrich weist jedoch darauf hin, dass Montaigne mit den Essais nicht nur einen bis dato völlig neuen Titel für seine Texte erfand, sondern sich damit auch statt auf den Inhalt, auf eine methodische Program‐ matik bezog, die er häufig mit Denkmethode, Lebensführung und Selbsterfah‐ rung verknüpft. Die französischen Wortbedeutungen im 16. Jh. sind vielfältig, so ist Essay Übung, Probe, Versuch, aber ebenso Vorspiel, Versuchung und Kost‐ probe. Und ,essaier‘ erscheint in den Bedeutungen des bereits viel zitierten ,Wä‐ gens‘ und ,Abwägens‘, aber auch als „betasten, prüfen, schmecken, erfahren, in Versuchung führen, unternehmen, sich in Gefahr begeben, ein Risiko ein‐ gehen“. 278 Das ,Essayistische‘ hat also von Beginn an etwas Korporales und pflegt eine Nähe zur Kulinarik wie zur Erotik. Dies sollte nicht vergessen werden, wenn wir heute beim Titel ,Essay‘ an ein hochgeistiges Textgebilde über kul‐ turelle Zusammenhänge denken. Die essayistische Praxis ist immer auch, in körperlichem Sinn, Lust am Text - ,plaisir du texte‘. Roland Barthes charakter‐ isiert diese Lust als Ambivalenz von ,Lust‘ (plaisir) und ,Wollust‘ (jouissance). Im ‚Text der Lust‛ stellt sich ein Gefühl des Erfülltseins und des Behagens ein. Er erstreckt sich auf einen Bereich des Sagbaren, in dem das ,Ich‘ eine gewisse Beständigkeit genießt. In dieser Art lesen jene, die Sprache lieben, schreibt Bar‐ thes: die Logophilen, die Schriftsteller und Linguisten. Es ist der Text der ,Kritik‘, der sozialen Funktion und des Sinns. Der ‚Text der Wollust‛ hingegen erscheint bei Barthes als Schock und Erschütterung des ,Ich‘. Er bricht die ge‐ 94 II. Theorie 279 Barthes: Die Lust am Text, S. 65. 280 Vgl. ebd., S. 67. 281 Ebd., S. 77. (Hervorhebung durch den Autor). 282 Friedrich, S. 205. 283 Ebd., S. 209. 284 Barthes: Die Lust am Text, S. 85. 285 Ebd., S. 91. wohnten Verbindungen der Wörter untereinander auf; überhaupt ist er Bruch - „ein Anhalten der Sprache“. 279 Er dringt zu den Grenzen des Sagens vor, zerbricht die ,Namen‘ und löst die Benennungen auf. 280 ‚Texte der Wollust‛ zerschlagen noch jeden letzten Rest einer Kontinuität oder Teleologie einer Praxis: „Die Lust in Stücken; die Sprache in Stücken. Sie sind insofern pervers, als sie außerhalb jeder vorstellbaren Finalität sind - sogar der der Lust.“  281 ,Jouissance‘ erscheint zunächst als der geeignetere Begriff als ,plaisir‘, wollen wir Barthes’ Überlegungen für die Beschreibung des ,Essayistischen‘ nutzbar machen. Denn der zerstückelte, fragmentarische (Text-)Körper ist nicht nur Materialisierung des ,Essayistischen‘, sondern bestimmt auch seine inhaltliche Motivik. Sie speist sich aus dem moralistischen Erbe und seiner Akzentuierung der Widersprüchlichkeit des Individuums, insofern der Widerspruch ein Bruch mit dem Kontinuierlichen ist. Wie Hugo Friedrich schreibt, gelangt Montaigne zu seinen Erkenntnissen, indem er wahrgenommene Widersprüche mit geor‐ dneten Strukturen vergleicht. „Doch mündet der Vergleich stets in die Preisgabe eines solchen Gefüges.“ 282 Dies gilt insbesondere auch für die Strukturen seines ,Ich‘, das aus dem ,Versuch‘ seiner Konstitution seine zersplitterte Exis‐ tenzweise erkennt. Hugo Friedrich spricht von einer „Demaskierungspsycho‐ logie“ 283 als klassischem Thema aller neueren Moralistik. Im Zeichen einer sol‐ chen Psychologie möchte ich später auch den Begriff des ,Spiegelstadiums‘ in die Diskussion über das ,Essayistische‘ führen. Dabei soll in keiner Weise Lacans Theorie des Begehrens mit Barthes’ Begriff der ,Lust vermengt‘ werden. Sobald einer das Wort ,Lust‘ im Zusammenhang eines Textes sage, tauche sofort der ,Gendarm Psychoanalyse‘ auf, so Barthes. Die ,Lust‘ sei jedoch nicht ,Be‐ gierde‘, sondern Hedonismus. 284 Wir wollen Lacan also nicht als einen solchen Gendarm betrachten. Seine Frage, wer oder was ,wirklich‘ spricht, wenn wir sprechen, gehört als Kritik illusionärer Konstruktionen zu den Grundfragen es‐ sayistischer Selbsterfahrung. Barthes macht für die Moralisten geltend, sie seien Meister darin, die Illusionen zu kritisieren, mit denen sich das „imaginäre Sub‐ jekt“ 285 umgibt. In diesem Sinn ist es lohnend, essayistisches Schreiben als eine Schwelle zwischen den imaginären Verstrickungen des Subjekts und dem Ein‐ tritt ins ,Symbolische‘ zu betrachten. Lacans Spiegelstadium interessiert in 95 4 Das ,Essayistische‘ als ,Praxis‘ 286 Westerwelle, S. 30. (Hervorhebung durch die Autorin). 287 Blumenberg, Hans: Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 7. Aufl. 2019, S. 62 (Hervorhebungen durch den Autor). 288 Ebd., S. 63. 289 Vgl. ebd., S. 67. 290 Vgl. ebd., S. 70. diesem Zusammenhang also vor allem als Beschreibung von Operationen, die bei der Entmächtigung des (imaginären) ,Ich‘ eine übergeordnete Rolle spielen - mit Bernhard Teuber gesprochen, als ,Figuratio impotentiae‘. Sie stehen in Zu‐ sammenhang mit einer Praxis, welche einer Apotheose des selbstmächtigen Subjekts und seiner Wahrnehmung prinzipiell entgegenwirkt. Der Status des ,Ich‘ in der essayistischen ,écriture‘ bleibt immer prekär und labil; und genau daraus zieht es seine ,Lust‘. Es zersplittert in Perspektiven und Modalitäten, in „varieté und diversité“. 286 Die Zersplitterung ist Preisgabe des ,Ich‘. Sie steht in Verbindung mit einer Psychologie der Demaskierung, einer Entkleidung oder Entblößung als Lusterleben. Was hier auf dem Spiel steht ist die unzweifelhafte Identität, die unleugbare Wahrheit des ‚Ich‛: denn das Motiv der Entkleidung ist mit einer Konzeption von Wahrheit verbunden, die Hans Blumenberg unter dem Motiv der Nacktheit metaphororologisch untersucht hat. Die ‚nackte Wahrheit‛, so Blumenberg unter Bezugnahme auf Ortega y Gasset, sei tautologische Rede, weil die Wahr‐ heit ohnehin immer das „Entblößtsein einer Sache uns gegenüber“ sei. 287 Die Deu‐ tung und Verwendung der Metapher lasse aber Rückschlüsse auf historische Bewertungen des Wahrheitsbegriffs zu und so sei es etwa möglich, eine Kul‐ turgeschichte der Wahrheit durch die Betrachtung ihrer Kleidung und Entklei‐ dung nachzuvollziehen. Entlang der Metapher spürt Blumenberg den Fragen nach, ob Wahrheit in ihrer natürlichen „Offenheit und Andringlichkeit“ 288 un‐ verträglich für den Menschen als bekleidetes Wesen betrachtet wurde, oder sich die Wesen in ihrer Nacktheit nur Gott offenbaren könnten, wie es in Texten der Augustinischen Tradition der confessio zutage tritt. Thomas von Aquin eröffnet die Frage nach der Nacktheit im Zusammenhang mit einer Sprachproblematik und diskutiert die Notwendigkeit, mit der die göttliche Offenbarung unter dem Schutz eines Metaphernkleids erschienen sei. 289 Die eindeutige Verneinung dieser Frage durch Giovanni Pico de la Mirandola wird schließlich prägend für die Moderne und ihren Vorbehalt gegen die Sprache bei der Erkenntnis. Die Objektivität der Wissenschaft steht zunehmend unter dem Zeichen unverhüllter und ungeschönter ‚Nacktheit‛, deren Ideal in der aufklärerischen Vernunft zur Blüte kommt. 290 Erst die Entdeckung der Geschichte erahne die ‚nackte Wahr‐ heit‛ als Illusion und führe schließlich zu der Anschauung, „daß die ‚Verklei‐ 96 II. Theorie 291 Ebd., S. 72. 292 Ebd., S. 65. 293 Ebd., S. 65. 294 Vgl. Montaigne I, 42, dt. S. 133, frz. I. S. 469. 295 Blumenberg: Paradigmen, S. 66. 296 Alle Zitate Dünne, Jörg: Asketisches Schreiben, S. 106 f. dungen‛ der Wahrheit nun nicht mehr rhetorischem Schmuckbedürfnis und dichterischer Phantasie entstammen, ja überhaupt nicht akzidentell-abstreif‐ bare ‚Zutaten‛ darstellen, sondern den Manifestationsmodus der Wahrheit kon‐ stitutiv ausmachen.“ 291 In der Moderne, so ist Blumenbergs Darstellung zu ent‐ nehmen, sind zwei gegenläufige Positionen zu beobachten, die in ihrer Zusammenschau ein zutiefst ambivalentes Wahrheitsverständnis bilden. Einer‐ seits geht sie über ihren Vernunftbegriff fortschreitend gegen die Formen von Umhüllung und rhetorischer Bekleidung vor - die „nie abreißende, vor immer neue Kulissen führende Suche der Neuzeit nach der ‚natürlichen Natur‛.“ 292 An‐ dererseits jedoch stellt sie immer mehr den ideologischen Zusammenhang von Natürlichkeit, Wahrheit und Vernunft infrage. Blumenberg präsentiert nun Pascal als denjenigen, der in der Auseinandersetzung mit Montaigne die „Dia‐ lektik von sozialer Verkleidung und ‚nackter Wahrheit‛“ bereits durchschaut habe. 293 Pascal wende sich gegen Montaignes Gedanken, man solle den Men‐ schen nicht nach dem beurteilen, was ihn umgibt - Geld, Kleider, Paläste, Ge‐ folge etc. - sondern, „nu et à découvert“, nur in dem, was ihm wahrhaft eigen ist: „Il le faut juger par lui-même, non par ses atours.“ 294 Pascals Überlegungen richten sich gegen die Betrachtung solch nackter Tatsachen: es sei vielmehr die Phantasie, die durch die „Bebilderung der Faktizität der Menschenwelt“ 295 diese überhaupt erst herstelle. Dass jedoch Montaigne wirklich einer naiven Illusion einer Faktizität erlegen sein soll, ist wenig glaubhaft. Gerade im Fall einer Bloß‐ legung des ‚Ich‛ entdeckt sie sich in einer höchst paradoxen Bekleidungsmeta‐ pher, als erotisches Spiel von Enthüllung und Verhüllung: Jörg Dünne gibt für den Fall Montaignes das Schreiben als einen „Ort der Selbstverdopplung“ an, der eine ständige „Verschiebung des Selbstbilds“ be‐ wirke: Montaigne gehe es nicht um die Stiftung von Selbstidentität, sondern um „Differenzgewinn“. 296 Tatsächlich ist das essayistische ,Ich‘ einerseits dyna‐ misch, nicht statisch; andererseits ist es ein polyphones ,Ich‘, das sich perspek‐ tivisch aus sich überlagernden Stimmen zusammensetzt. So ist es schwierig, Montaigne auf einmal getätigte Aussagen festzulegen. Zuweilen widersprechen sich Positionen in unterschiedlichen Essays, wie im angesprochenen Fall der Einübung in Übel und Tod. Sein beschreibendes ,Ich‘ (sujet de l’énonciation) scheint niemals mit dem von ihm selbst beschriebenen ,sujet de l’énoncé‘ über‐ 97 4 Das ,Essayistische‘ als ,Praxis‘ 297 Montaigne I, 26, dt. S. 82, frz. I, S. 316: „Je ne vise ici qu’à découvrir moi-même, qui serai par aventure autre demain, si nouveau apprentissage me change.“ (Hervorhebungen durch mich). 298 Montaigne, III, 12, dt. S. 533, frz. III, S. 390: „Certes, j’ai donné à l’opinion publique que ces parements empruntés m’accompagnent. Mais je n’entends pas qu’ils me couvrent, et qu’ils me cachent: C’est le rebours de mon dessein: qui ne veut faire montre que du mien. Et de ce qui est mien par nature.“ 299 Montaigne, III, 11, dt. S. 516, frz. III, S. 352 f.: „Je n’ai vu monstre et miracle au monde, plus exprès, que moi-même: On s’apprivoise à toute étrangété par l’usage et le temps. Mais plus je me hante et me connais, plus ma difformité m’étonne. Moins je m’entends en moi.“ einzustimmen. Im Erziehungs-Essay erklärt Montaigne dazu: „Meine einzige Absicht ist es, mich als den zu enthüllen, der ich bin [découvrir moi-même] - und vielleicht morgen schon ein anderer sein werde, wenn neue Erfahrungen mir zur Lehre gedient und mich verändert haben.“ 297 Für das Verständnis jenes po‐ lyphonen ,Ich‘ sind die Aussagen interessant, die Montaigne über seine Zitier‐ praxis tätigt: Im Physiognomie-Essay heißt es etwa: Gewiß, ich habe dem öffentlichen Geschmack das Zugeständnis gemacht, mich in diesem entliehenen Putz zu zeigen. Aber ich möchte keinesfalls, daß er mich verdecke und verhülle - das wäre das Gegenteil meiner Absicht, will ich doch nur das vor Augen führn, was mein Eigen ist, und mein Eigen von Natur. 298 Mit den „parements“, einer modischen Zier, bedient sich Montaigne eines para‐ doxen Bilds: Mit der Präsentation einer Vielzahl fremder Zitate zeigt sich das Subjekt in einem ,unnatürlichen‘ Aufschlag - und gerade darin im naturhaft Eigenen: „Je ne vis ici qu’à découvrir moi-même“ - Die fremden Stimmen de‐ kuvrieren, ent-decken das Eigene: Sie demaskieren und entkleiden die ange‐ nommene Naturhaftigkeit einer identitär gedachten Gestalt als imaginär. Je mehr Montaigne das „Eigene“ sucht, desto mehr löst sich diese stabile Identität als Un-Gestalt auf - zeigt sich als Monstrosität: Dafür habe ich auf der ganzen Welt bisher kein ausgeprägteres Monster und Mirakel gesehen als mich selbst. Zeit und Gewöhnung machen einen mit allem Befremdlichen vertraut; je mehr ich aber mit mir Umgang pflege und mich kennenlerne, desto mehr frappiert mich meine Ungestalt, desto weniger werde ich aus mir klug [Moins je m‛entends en moi]. 299 „Moins je m’entends en moi“ - wörtlich ,hört‘ Montaigne in der Polyphonie seines ,Ich‘ kein eigenes ,Selbst‘. Die „chimères et monstres fantasques“, die in Gedanken beim Rückzug in den Turm erschienen waren sind nichts als Figura‐ tionen seines ,Ich‘. Dies erkannt, lässt Montaigne die Grenzen zwischen dem ,Ei‐ 98 II. Theorie 300 Montaigne III, 12, dt. S. 533, frz. III, S. 391: „Parmi tant d’emprunts, je suis bien aise d’en pouvoir dérober quelqu’un, les déguisant et difformant à nouveau service: Au hasard que je laisse dire, que c’est par faute d’avoir entendu leur naturel usage: Je lui donne quelque particulière adresse de ma main à ce qu’ils (en) soient d’autant moins purement étrangers.“ Der nächste Abschnitt („Für jede Quelle, die ich nenne, verschweige ich zwei“) fehlt in der französischen Folioausgabe. Sowohl die deutsche Stilett-Übersetzung als auch die Folioausgabe stützen sich auf das Exemplaire de Bordeaux, also die Hand‐ schrift, an der Montaigne selbst bis zu seinem Tod gearbeitet hat. Sollte Stilett sich etwa Montaignes „donner particulière adresse de sa main“ zu eigen gemacht haben? 301 Bei Zambrano und Paz steht dieses Thema in bildlichem Zusammenhang mit dem un‐ möglichen Zugang zur Lichtung und dem Nicht-zu-Ende-gehen-Können des Weges. genen‘ und dem ,Fremden‘ immer weiter verschwimmen. Seine provokante Zi‐ tierpraxis erläutert er einerseits mit der Haltung affektiver Bescheidenheit gegen die Angeberei derer, die durch die Kenntlichmachung von Zitaten ihre Gelehrsamkeit zur Schau stellen wollen. Dabei verbindet sich Montaigne ande‐ rerseits aber als Subjekt bis zur Unkenntlichkeit mit seinen Lektüren; mit seinem ,inneren Polylog‘, der ihn durchkreuzt. Angesichts so vieler Anleihen bin ich froh, hier und da etliche tarnen zu können […] Für jede Quelle, die ich nenne, verschweige ich zwei. Mir macht es einfach Spaß, die Zitate nicht nur in einem anderen als dem ursprünglichen, sondern oft sogar im ent‐ gegengesetzten Sinn zu verwenden, und zuweilen füge ich sie meinem Argumentati‐ onsgang so nahtlos ein, daß man schon einen guten Blick braucht […] um sie wie‐ derzuerkennen. 300 Die strukturelle Ununterscheidbarkeit von Eigenem und Fremdem lässt die Suche nach dem ‚Selbst-sein‘ zur Unmöglichkeit werden. In einer poststruktu‐ ralistischen Lesart bedeutet das: Die Suche nach dem Eigenen dekonstruiert die metaphysischen Oppositionen von ‚innen‘ und ‚außen‘, ‚primär‘ und ‚sekundär‘ und im Verwischen von ‚Eigenem‘ und ‚Fremdem‘ schließlich auch das ‚Ich‘. 301 Das Subjekt selbst wird Zeichen, auf das andere Zeichen verweisen und das seinerseits auf andere verweist. Das Essayistische nähert sich poststrukturalis‐ tischen Ideen insofern, als es das Subjekt als entmächtigtes ‚sub-iectum‘ be‐ trachtet: nicht als selbstmächtigen Willen, sondern unterworfen dem großen Polylog, der ‚circunstancia‘, um den Begriff Ortega y Gassets zu gebrauchen: den Diskursen, der Geschichte, der Kultur, der Sprache oder den nicht zu bän‐ digenden Affekten, in denen es vollständig aufgeht. Barthes’ Begriff der ‚jouissance‘ kann in vielerlei Hinsicht mit einem post‐ strukturalistischen und postmodernen Gestus in Verbindung gebracht werden, zunächst einmal, insofern sie eine spielerische Erotik des ‚absolut Neuen‘ ist: Der ‚Text der Wollust‘ befreit die Sprache von ihrem institutionellen Charakter, 99 4 Das ,Essayistische‘ als ,Praxis‘ 302 Barthes: Die Lust am Text, S. 62. 303 Reese-Schäfer, Walter: Lyotard. Zur Einführung. Hamburg: Junius 1989, S. 46. 304 Vgl. Barthes: Die Lust am Text, S. 30 ff. 305 Ebd., S. 95 (Hervorhebung durch den Autor). 306 Ebd., S. 96. ihrer bleiernen Regelhaftigkeit und Stereotypie, ihrem Status als ‚Wiederho‐ lungssprache‘: „alle offiziellen Sprachinstitutionen sind Wiederkäumaschinen“, schreibt Barthes. 302 ‚Wollust‘ ist dagegen ein Text des Ausnahmezustands, und mit Lyotard könnten wir sagen, er manifestiere sich als Status der Moderne vor ihrer Geburt, als „avantgardistische[s] Experimentieren im Zeitalter seiner Ent‐ stehung, wo es gegen Konsens, gegen den Geschmack verstößt“. 303 Der Bereich der ‚jouissance‘ ist der eines denotativ nicht Erfassbaren: ein unmöglicher Text, über den sich nichts sagen lässt. Ihm kann keine Kritik beikommen, denn man könne nicht über, sondern nur in ihm sprechen, heißt es bei Barthes. 304 Wenn der essayistische Text eine solche ‚Lustpraxis‘ darstellt, verwundert es vielleicht nicht, dass es schwer ist, etwas über ihn zu sagen, was sich nicht gleichzeitig selbst einem essayistischen Modus annäherte. Postmodern / Poststrukturalistisch ist an der ‚jouissance‘ außerdem die Be‐ wegung der unendlichen Verweisungen der ‚Schrift‘, in der das Ziel stets ver‐ wehrt wird. Barthes assoziiert dies mit dem ewigen Hinauszögern einer Befrie‐ digung und einem ‚Vor-Lust-Vergehen‘. Eine Betrachtung des ‚Essayistischen‘ unter Gesichtspunkten einer ‚jouissance‘, wie Barthes sie charakterisiert, scheint mir vor allem im Hinblick auf Octavio Paz geboten. Er betreibt die Sprachreflexion in El mono gramático als tantrische Meditation: In hohem Maß erotisch, wird die Befriedigung des Ankommens (llegar) zugunsten einer fort‐ gesetzten Ekstase immer wieder ausgesetzt und ins Unendliche verschoben. So verbinden sich Lust und Sprache in einem Sinn, den Barthes andeutet, wenn er von der „Suspensionskraft der Lust“ 305 spricht: Sie suspendiere den signifikanten Wert, den Sinn als gute Sache: „Die Lust am Text, das ist: der Wert geht in den prunkvollen Rang des Signifikanten über.“ 306 Die dekonstruktiven Anteile des ‚Essayistischen‘ sind hier also ‚lustvoll‘ erotisch aufgeladen. Sie liegen in der Akzentuierung von ‚Schrift‘ als Randvorgaben erschütterndes Modell eines sig‐ nifikantenbasierten Denkens. Es ist ‚Lust‘ als umwälzende, ungerichtete Urkraft, die nicht nur sämtliche Diskurse unterläuft, die es verhandelt, sondern auch ihre eigenen Grundlagen - und die das stabile Subjekt selbst ergreift, auseinander‐ treibt und letztlich auflöst. In dieser Auflösungserfahrung besteht das körper‐ liche Vergnügen einer ‚Wollust‘ als totaler Hingabe. Die sinnliche Körperpraxis ist das bedingungslose Verweben und Verstricken des Selbst in das Zeichenge‐ 100 II. Theorie 307 Ebd., S. 94 (Hervorhebungen durch den Autor). 308 Ebd., S. 13. 309 Ebd., S. 22. 310 Vgl. Dünne, Jörg: Asketisches Schreiben. Rousseau und Flaubert als Paradigmen literari‐ scher Selbstpraxis in der Moderne. Tübingen: Gunter Narr 2003S, 106. 311 Vgl. ebd., S. 42. webe des Texts. Roland Barthes beschreibt daher eine mögliche Praxis von ‚Texten der Lust‘ als ‚Hyphologie‘: Text heißt Gewebe; aber während man dieses Gewebe bisher immer als ein Produkt, einen fertigen Schleier aufgefaßt hat, hinter dem sich, mehr oder weniger verborgen, der Sinn (die Wahrheit) aufhält, betonen wir jetzt bei dem Gewebe die generative Vorstellung, daß der Text durch ein ständiges Flechten entsteht und sich selbst bear‐ beitet; in diesem Gewebe - dieser Textur - verloren, löst sich das Subjekt auf wie eine Spinne, die selbst in die konstruktiven Sekretionen ihres Netzes aufginge. 307 Doch Barthes’ Texterotik ist nicht gleichbedeutend mit einer Selbstauflösung. Sie entwickelt sich eher aus der Praxis einer Ambivalenz, die im Zwischenraum seiner konstituierenden Pole ‚plaisir‘ und ‚jouissance‘ entsteht. Dabei bilden die dekonstruktiven Konstellationen nur einen dieser Pole. Der ‚plaisir‘ des ‚Essay‐ istischen‘ ist die Befriedigung im Kulturellen, das es auf seine Bedeutungsge‐ halte hin abtastet und in dem sich ein ‚Ich‘ seiner selbst und seines Wissens versichern will. Dagegen steht die ‚joussance‘ als Erschütterung und Bruch. Erotisch wird erst das Wechselspiel zwischen beiden: „weder die Kultur, noch ihre Zerstörung sind erotisch; erst die Kluft zwischen beiden wird es.“ 308 Damit bildet die Texterotik eine weitere Konstellation des ‚Essayistischen‘, das im Zwischenraum des Mythos der Zivilisation operiert: Die Kluft von Kultur und Zerstörung, Konstruktion und Dekonstruktion ist im ‚Essayistischen‘ auch der Ort eines gespaltenen Subjekts: „es genießt die Beständigkeit seines Ich (das ist seine Lust) und sucht seinen Verlust (das ist seine Wollust). Das ist ein zweifach gespaltenes, zweifach perverses Subjekt.“ 309 Die essayistische Praxis bewirkt nicht den Tod oder das Verschwinden des ‚Ich‘, sondern dekonstruiert es in seinem Status als selbstbewusstes. Das heißt, sie akzentuiert seine sprachliche Verfasstheit, indem sie es einer Differenz er‐ zeugenden Verschiebungsbewegung unterwirft, 310 bei der das Subjekt niemals seinen Ort hat, an dem man es gerade vermutet. Jörg Dünne unterscheidet ver‐ schiedene Subjekttypen, die er als ‚stark‘ oder ‚schwach‘ bezeichnet. 311 Während sich das ‚starke‘ Subjekt als feste Identität und Selbstbewusstsein darstellt, ist das sogenannte schwache Subjekt eines, das sich schreibend in der Selbstpraxis stetig neu erringt. Dünne verortet es in einem Zwischenraum, als „prekäres 101 4 Das ,Essayistische‘ als ,Praxis‘ 312 Ebd., S. 60. 313 Ebd., S. 59. 314 Barthes: Die Lust am Text, S. 91 f. Grenzphänomen, dessen ‚Dazwischen‘ nie ein für allemal gesichert ist, sondern aus einer unaufhörlichen Abgrenzungsarbeit besteht“. 312 Im Gegensatz zur Au‐ tobiografie, die Subjektivität aus der Rückschau als abgeschlossene Identität betrachtet, sehe ich das essayistische Subjekt eher mit Jörg Dünnes Konzept des ‚schwachen‘ Subjekts charakterisiert, das sich vielleicht besser mit einer Vor‐ stellung von Resilienz als von Schwäche betrachten ließe. Denn für das ‚starke‘ Subjekt beobachtet Dünne eine gewisse Anfälligkeit: Die selbstbewusste Iden‐ tität verleugnet in Dünnes Argumentation den sprachlichen Urstoff, aus dem sie hervorgeht, und läuft daher Gefahr, dekonstruiert zu werden und in die völ‐ lige Subjektlosigkeit zu fallen: Das heißt, es würde in den Bewegungen der ‚Schrift‘ vollkommen aufgerieben und zerstört. Die ‚schwache‘ Subjektivität hingegen ist insofern nicht dekonstruierbar, „als sie sich ohnehin nicht in be‐ grifflicher Erkenntnis fixiert, sondern als prozesshafter, habitueller Selbst‐ bezug“. 313 Die Entmächtigung des ‚Ich‘ ist in einem ‚schwachen‘ oder resilienten Subjekt nicht allumfassend. Aufgrund seiner labilen Identität muss es jedoch in einer ständig fortgesetzten Praxis neu ausgehandelt werden. Das resiliente Sub‐ jekt ist aber nicht nur aufgrund seiner Wandlungsfähigkeit schwer dekonstru‐ ierbar, sondern auch, weil seine temporären Konstruktionen bewusst fiktiv sind: Das ‚Essayistische‘ ist nicht nur Dekonstruktionsarbeit und ‚jouissance‘; es lässt immer auch die Möglichkeit der Konstruktion, des ‚plaisir‘ des Gestalthaften zu, indem es sich zwar lustvoll in die lockenden Täuschungen des ‚Ich‘ begibt, je‐ doch ohne sich falschen Illusionen hinzugeben. Die fortdauernden Dekonst‐ ruktionen setzen einen Prozess der Bewusstmachung der Gebilde als „fantaisies“ in Gang: Vielleicht kehrt nun das Subjekt nicht als Illusion, sondern als Fiktion zurück. Eine gewisse Lust gewinnt man aus einer bestimmten Art, sich als Individuum vorzustellen, eine letzte Fiktion seltenster Art zu erfinden: das Fiktive der Identität. Diese Fiktion ist nicht mehr die Illusion einer Einheit; sie ist im Gegenteil das Gesellschaftsspiel, in dem wir unseren Plural auftreten lassen. 314 Die selbstpraktische Übung Montaignes ist eine Askese als fortdauernde Schaf‐ fung eines Subjekts, das nur in der Gestalt einer stets zu formenden Fiktion, einem ‚Als-Ob‘ existiert oder als versuchhafter Entwurf. Die Lust an der fiktiven Identität kann nur aus einer aufgeklärten Position, aus dem ‚Symbolischen‘ he‐ raus erfolgen. Das ‚Imaginäre‘ bleibt das wichtigste Mittel für alle menschlichen Sinnkonstruktionen. Es kann aber nur als Demaskiertes ‚lustvoll‘ wirken, und 102 II. Theorie 315 Vgl. Dünne, S. 102 ff. 316 Bei Paz wird diese Körperlichkeit des Diskurses als explizite Erotik im Inhalt des El mono gramático gespiegelt. Der Text des Dichters erscheint in der Gestalt Esplendors nicht nur als weibliche Figur, sondern als Anagramm des erotischen Körpers (Vgl. Bar‐ thes: Die Lust am Text, S. 25 f): hervorgegangen aus dem Schweiß der Schöpfergottheit Prajapati und zerstückelt, aufgeteilt unter die Götter, bevor sie ihre Einheit durch das zehnteilige Opfer wiedererlangt. Sie ist in der vedischen Mythologie des Satapatha Brahmana niemand anderes als ‚das Gedicht‘.Vgl. Paz: MG, dt. S. 80. hier setzt das ethopoetische Bewusstsein des ‚Essayistischen‘ an. Im Sinne einer Bewusstmachung oder Selbstdemaskierung ist es immer bestrebt, seine de‐ konstruktiven Substanzen transparent zu machen. In dieser verschriftenden Askese geht es daher nach Jörg Dünne im Wesentlichen um die Begegnung des Subjeks mit sich selbst - als ständig wechselnder Gestalt. 315 Dabei handelt es sich genau genommen um die Begegnung mit der Nichtidentität in der stets verfehlten Gestalt. Diese sieht einer poststrukturalistischen Sprachgestalt im‐ merhin zum Verwechseln ähnlich. Auf diese Begegnung gründen sich, gleichsam auf unsicherem Boden und dessen zum Trotz, labile Wissenskonstruktionen und brüchige Identitäten. Diese Grundfigur des ‚Essayistischen‘ steht im Zusam‐ menhang mit Lust und Körperpraxis: Nach der antiken Konzeption der Askese führt sie den Körper wieder in die Selbstpraxis ein; jedoch nicht als Handlungs‐ anweisung, sondern als ‚Genotext‘. 316 Die essayistische Schrift seiner selbst mit ihrem sich webenden und wieder zerfasernden Ich ist eine Praxis der Bewusstmachung des eigenen Selbst als Sprachkörper. Darin decouvriert sich das essayistische Subjekt in einem Akt einer Ökonomie der ‚Lust‘: Hingabe und ihre Zügelung. Das ‚Essayistische‘ konfrontiert den entfesselten Text der ‚jouissance‘ mit dem ‚plaisir‘ einer stabi‐ lisierenden Kritik, um den zerstückelten, fetischisierten Teilen eines Textes und eines ‚Ich‘ eine Form zu geben, die ganz bewusst nur Provisorium bleibt. Gerade jene Kluft, wie Barthes sagt, zwischen dekonstruktivem Substrat und konstruk‐ tivem Versuch kann ‚lustvoll‘ erlebt werden: Sinnlich ist das Temporäre der Konstruktionen, die schon von ihrer Auflösung affiziert sind, sowie das aus‐ drückliche Wissen um den temporären Charakter. Dabei darf nicht vergessen werden, dass die emotionalen Auswirkungen der Bewusstmachung nicht nur jene Bejahung des Spiels sein kann, in dem wir, wie Barthes schreibt, „unseren Plural auftreten lassen“. Hier kann immer auch eine Tragik und Melancholie als Empfindung der Verlusterfahrung auftreten. In beiden Fällen ist jedoch das ‚Es‐ sayistische‘ eine körperliche Askese: eine Anstrengung, immer neue Identitäts‐ versuche zu entwerfen, um sich nicht vollständig der ‚jouissance‘, dem Strudel einer subjektlosen ‚Schrift‘ hinzugeben und sich nicht in ihr zu verlieren. Es käme darauf an, in welchem Ausmaß die ‚Wollust‘ auch als fatale destruktive 103 4 Das ,Essayistische‘ als ,Praxis‘ 317 Barthes: Die Lust am Text, S. 26. 318 Vgl. Cixous, Hélène: Wer singt? Wer veranlaßt zu singen? [1979]. In: Cixous, Hélène: Weiblichkeit in der Schrift. Berlin: Merve 1980. S. 58-107. S. 71 f. 319 Cixous, Hélène: Das Lachen der Medusa [1975]. In: Hutfless, Esther / Postl, Ger‐ trude / Schäfer, Elisabeth (Hg.): Hélène Cixous. Das Lachen der Medusa zusammen mit aktuellen Beiträgen. Wien: Passagen 2013, 2. Aufl. 2017, 39-62. S. 45 (Hervorhebungen durch die Autorin). Kraft aufgefasst werden kann, ob wir sie fürchten oder begrüßen. Und dieses Verhältnis ist eher eines der Ambivalenz, das beide Positionen mit einbezieht. 5 Die ‚Nähe‘ der Schrift: Der Weg als Abenteuer und Risiko. Bei María Zambrano kann nicht von einer Erotisierung des Texts gesprochen werden; das bedeutet aber nicht, dass ihr Schreiben weniger sinnlich und kör‐ perlich wäre. Die Körperlichkeit ihres Diskurses hat aber eine andere Ausrich‐ tung als bei Paz. Zambrano schreibt aus den ‚entrañas‘, den Eingeweiden. Die ‚entrañas‘ sind ein schwer zu übersetzendes Bild, das sich im Wesentlichen auf die nicht sichtbaren und nicht objektivierbaren körperlichen sowie seelischen Vermögen des Menschen bezieht. Sie sind Ausdruck tiefster Innerlichkeit und dabei Teil einer Symbolik, in der Verstand (razón) nicht nur Intellektualität, sondern auch Körperbewusstsein ist. Roland Barthes schließt ein solches Ver‐ ständnis ausdrücklich in seine vielschichtige und durchaus auch widersprüch‐ liche Konzeption der ‚Lust‘ mit ein: „Die Lust am Text ist jener Moment, wo mein Körper seinen eigenen Ideen folgt - denn mein Körper hat nicht dieselben Ideen wie ich.“ 317 Dieses Schreiben aus dem Körper, aus dem Körperbewusstsein heraus ließe sich nun unter einem Begriff von ‚Weiblichkeit‘ versammeln, wie ihn etwa Hélène Cixous geprägt hat. Bei Cixous ist dieser Begriff nicht an ein biologisches Geschlecht gebunden; vielmehr betrachtet sie ‚Männlich‐ keit‘ / ‚Weiblichkeit‘ als zwei unterschiedliche Systeme oder Ökonomien, welche graduell und in unterschiedlichsten Proportionen im schreibenden Subjekt exis‐ tieren. 318 ‚Weiblichkeit‘ in der Schrift ist körperhaftes Schreiben, das die Nähe zu den Schwingungen der Stimme pflegt: [Die Frau] ‚spricht‘ nicht, sie wirft ihren bebenden Körper in die Luft, sie läßt sich gehen, sie fliegt, sie geht ganz und gar in ihre Stimme ein, mit ihrem Körper unter‐ streicht sie lebend die ‚Logik‘ ihrer Rede; ihr Fleisch sagt die Wahrheit. Sie exponiert sich. Tatsächlich materialisiert sie fleischlich was sie denkt, sie bedeutet es mit ihrem Körper. 319 104 II. Theorie 320 Ebd., S. 47. 321 Ebd. 322 Cixous: Wer singt? Wer veranlaßt zu singen? , S. 76 f. 323 Ebd., S. 78. 324 Erwähnenswert in diesem Zusammenhang sind Octavio Paz’ Sammlung visueller Ge‐ dichte der Topoemas von 1971, in denen er diese Körperlichkeit jenseits der Linearität der Schrift erprobt. 325 Alle Zitate Friedrich, S. 106. ‚Weiblichkeit‘ ist bei Cixous in jedem Fall ein polemischer Begriff gegen etab‐ lierte und institutionalisierte Schreibtraditionen, genauso wie gegen das Denken in literarischen Gattungen. Sie steht unter dem Zeichen der Demaskierung kon‐ zeptgetriebenen Denkens. Und so etabliert Cixcous ‚Weiblichkeit‘ als Gegenbe‐ wegung zur „Lug- und Trugmaschinerie“ 320 des als „Konzeptorthopädie“ identi‐ fizierten ,Phallologozentrismus‘. 321 Sie ist gleichsam das Unbewusste des Texts, das nicht kalkulierte, das gegen die (‚männlichen‘) literarischen ‚Gesetze‘ ver‐ stößt und gegen die präfigurierte Textkonserve, gegen die Ordnung des voll‐ ständig aufgerichteten (erigierten) Systems. 322 Während die ,männliche Lite‐ ratur‘ immer spiegelhaft gewesen sei und in der Erfüllung einer Form bestanden habe, bilde der ‚Frauen-Text‘ Stimm-Wege, die der Spontanität unterliegen und weder Anfang noch Ende hätten: „Wie man weiß, ist die Stimme etwas voll‐ kommen Unvorhersehbares, sie zieht ihre Bahnen, schwingt im Raum, hält inne, sie kommt außer Atem oder schöpft Atem, sie ist endlos, d. h. [sic] sie hat kein Ziel, sie geht, wie sie will.“ 323 Dass der ,weibliche‘ Text wenig spiegelhaft sei, drückt aus, dass Cixous ein Schreiben im Sinn hat, das jenseits der Imaginationen des Spiegels stattfindet und einen Blick hinter die zweidimensionalen Bilder des Spiegels ermöglichen soll. Diese Perspektive ist nur mit einer mehrdimensio‐ nalen, körperlichen, das heißt, ‚raumgreifenden‘ Schrift möglich, 324 welche die imaginäre Axiomatik umgeht. ‚Weiblichkeit‘ in der Schrift bedeutet daher, in einem performativen Akt seine zitternde Stimme, metonymisch für den ganzen Körper, in die Waagschale zu werfen. Hier liegt die Wahrheitsidee dieser Schriften: Das schreibende Subjekt legt aus einer inneren Haltung klarer Frei‐ mütigkeit seine allerpersönlichste Substanz offen, die im Akt der Lektüre nach‐ vollzogen werden kann. Hugo Friedrich betont den Aspekt der Wahrheitstreue essayistischen Schreibens: Gerade weil sich das ‚Ich‘ in keinem Moment als vollständig erweist, ist es umso mehr angewiesen auf ein „momenttreues Nie‐ derschreiben“, das somit zum „Organ der Wahrhaftigkeit“ wird. 325 Die Wahrheit als Wahrhaftigkeit steht in der Tradition der ‚parrhesia‘, der freimütigen Rede, wie Foucault sie in seinen späten Vorlesungen Der Mut zur Wahrheit untersucht hat. Foucault untersucht die ‚parrhesia‘ als ‚alethurgische Form‘, das heißt, als 105 5 Die ‚Nähe‘ der Schrift: Der Weg als Abenteuer und Risiko. 326 Foucault, Michel: Der Mut zur Wahrheit. Die Regierung des Selbst und der anderen II. Vorlesung am Collège de France 1983 / 84. Berlin: Suhrkamp 2012, S. 15. 327 Vgl. L. Aranguren, José Luis: San Juan de la Cruz, S. 66. 328 Ebd., S. 22. 329 Ebd., S. 20. „Akt, durch den sich die Wahrheit offenbart“ 326 und in dem sich gleichzeitig das Individuum konstituiert. Die Erkenntnis seiner selbst, die erlangt werden soll, steht in engem Zusammenhang mit dem, was Foucault als ‚Kultur seiner selbst‘ und im Zusammenhang mit den Selbstpraktiken in der griechisch-römischen Kultur analysiert. Das Wahrsprechen über sich selbst ist dabei eine Tätigkeit, die sich nicht allein für sich durchführen lässt, sondern eines anderen, eines Gegenübers bedarf. Typisierte Formen dieser Praxis erscheinen im Geständnis, dem Bekenntnis oder der Gewissensprüfung, wie sie etwa aus der Korrespon‐ denz von Lucilius und Seneca überliefert ist. Auch in einige Formen der Mystik begegnen wir dieser Konstellation. Besonders in der durch den Heiligen Jo‐ hannes vom Kreuz geprägten Tradition ist der ‚maestro‛ oder ‚guia‛ von zent‐ raler Bedeutung für den Glaubensschüler. 327 Die ‚parrhesia‘ sieht Foucault als Form, die nicht nur in der Beziehung zum Beichtvater wieder erscheint, sondern auch Vorbild einer ganzen Reihe modernerer ‚Paarbildungen‘ ist, wie der Kranke und sein Psychiater, der Patient und der Psychoanalytiker. 328 Foucault beo‐ bachtet allerdings für die Antike einen weitaus variableren Status dieses Ge‐ genübers: Er könne, müsse aber kein Berufsphilosoph sein, sondern auch Freund, Liebhaber, Mann einer gewissen Reife. Wichtig ist, dass das Wahrspre‐ chen die Gegenwart des Anderen voraussetzt. Wenn ich das ‚Essayistische‘ hier im Zusammenhang einer solchen ‚alethurgischen Form‘ betrachte, so auch im Hinblick auf ein Problem, das sich im Zusammenhang mit einer Montaigne-Lek‐ türe stellt: Wenn Montaigne, wie er im Vorwort der Essais zu erwähnen weiß, nur für den persönlichen Hausgebrauch schreibt - warum lässt er seine Essais publizieren? Bloße Eitelkeit greift bei einem Autor wie Montaigne deutlich zu kurz. Vielmehr kommt hier geradezu die Notwendigkeit eines Publikums zum Ausdruck. Um als ethopoetische und alethurgische Form einer Selbstpraxis wirksam zu sein, muss sich Montaigne vor dem Blick eines Gegenübers offen‐ baren und entblößen. Die Rolle jenes Gegenübers, die Foucault als „etwas ne‐ belhafte und schwankende Persönlichkeit“ 329 bezeichnet, nimmt im essayisti‐ schen Schreiben ein noch nebulöseres Lesepublikum ein. Interessant scheint mir, dass auch ein Akt der Decouvrierung, wie wir sie in Lacans Spiegelstadium vorfinden, die Präsenz eines anderen verlangt: Nur unter dem Blick der Mutter, der sich im Spiegel mit dem des Kindes kreuzt, vollzieht sich dessen ‚jubilato‐ risches‘ Erkennen. 106 II. Theorie 330 Ebd., S. 25. 331 Ebd., S. 24. 332 Foucault, Michel: Das Wahrsprechen des Anderen. Zwei Vorlesungen von 1983 / 84. Reuter, U., Wolfstetter, L., Heiter, B., Kocyba, H. (Hg.). Frankfurt a. M.: Materialis 1988, S. 36. Zit. nach Hahn, Kurt: Ethopoetik des Elementaren. Zum Schreiben als Lebensform in der Lyrik von René Char, Paul Celan und Octavio Paz. München: Fink 2008, S. 143 (Hervorhe‐ bungen durch den Autor). 333 Montaigne I, 26, dt. S. 78. frz. I, S. 313. 334 Montaigne III, 12. dt. S. 533, frz. III, S. 390. Die ‚parrhesia‘ ist bei Foucault eine Praxis, unter der das besondere Verhältnis von Subjekt, Wahrheit und Macht erscheint. Dabei ist Wahrheit Effekt eines intimen Selbstbezugs, der das Subjekt dahingehend formt, dass es überhaupt erst in die Lage versetzt wird, Wahrheit zu äußern. Anders ausgedrückt: Das Wahr‐ sprechen über sich selbst ist Voraussetzung für ein generelles Wahrsprechen. Das ‚Essayistische‘ als körperhafte Selbstpraxis ist ein parrhesiastischer Impuls in dem Sinn, den ich im Vorwort dieser Arbeit mit Derridas „autobiographi‐ schem Traum“ angedeutet habe. Der Wunsch des Bekenntnisses ist der eines ‚Alles-Sagen-Wollens‘. Er bedeutet nichts anderes, als „die Wahrheit zu sagen, ohne etwas davon zu verbergen, ohne sie durch was auch immer zu ver‐ schleiern“. 330 Etymologisch leitet sich die ‚parrhesia‘ von ‚pan rema‘ ab, und ‚parrhesiazesthai‘ bedeutet ‚alles sagen‘. 331 Es scheint mir, als hätten sowohl Ro‐ land Barthes als auch Hayden White dieses Beispiel für ein ‚Schreiben im Me‐ dium‘ vergessen, bei dem es nach White ja um ein Schreiben geht, das im Status eines gesteigerten moralischen Engagements praktiziert wird und den Einsatz des Subjekts in seiner ganzen Körperlichkeit erfordert. ‚Paresiazesthai‘ ist eine solche Mediumform, die den Mut des schreibenden Subjekts anzeigt, das sich mit vollem Risiko offenlegt und ‚die Wahrheit über sich‘ sagt. „Die parrhesia ist der freie Mut, durch den man sich selbst im Akt des Wahrsprechens bindet. Oder weiter, die parrhesia ist die Ethik des Wahrsprechens in einem gefährlichen und freien Akt.“ 332 Es ist interessant zu beobachten, dass Montaigne das Wort ‚essaier‘ sehr stark in seiner Bedeutung der Anzeige eines Risikos gebraucht, bei dem das ‚naturhaft Eigene‘ auf dem Spiel steht: nicht nur also als ‚wägen‘, sondern auch als ‚wagen‘. So schreibt Montaigne etwa im Essay über die Knabenerziehung, er wolle mit seinen Versuchen seine persönlichsten Fähigkeiten „auf die Probe stellen“; wobei diese Fähigkeiten unter der Last einzustürzen drohen: „Quant aux facultés naturelles qui sont en moi, de quoi c’est ici l’essai, je les sens fléchir sous la charge.“ 333 Doch nur wer dieses Risiko eingeht und sich nicht nur auf die Fähigkeiten anderer stützt, kann sich selbst wirklich kennenlernen: „Or nos fa‐ cultés ne sont pas ainsi dressées. Nous ne les essayons, ni ne les connaissons.“ 334 ‚Essaier‘ bedeutet bei Montaigne, sich in einem gefahrvollen Akt mit sich selbst 107 5 Die ‚Nähe‘ der Schrift: Der Weg als Abenteuer und Risiko. 335 Montaigne, dt. S. 5. 336 Montaigne frz. Au lecteur, I S. 117. 337 Vgl. Cixous: Wer singt? Wer veranlaßt zu singen? , S. 82, 79. 338 Cixous: Wer singt? Wer veranlaßt zu singen? , S. 97 f. 339 Vgl. Foucault: Der Mut zur Wahrheit, S. 25. vertraut zu machen. In diesem Akt ,entblößt‘ sich das schreibende Subjekt, wie Montaigne, der im berühmten Vorwort den ‚lecteur‘ darauf hinweist, er selbst wolle sich „ohne Beschönigung und Künstelei“ darstellen und seine Fehler dabei „frank und frei“ aufzeichnen. 335 Wenn es die öffentliche Moral erlaubte und er unter den Naturvölkern mit ihren freien Gesetzen lebte, würde er sich voll‐ ständig nackt abbilden - „je m’y fusse très volontiers peint tout entier, et tout nu.“ 336 Cixous’ Konzept von ‚Weiblichkeit in der Schrift‘ beleuchtet den Aspekt von Intimität eines solchen performativen Wahrsprechens. In ihr liegt eine ‚Nähe‘, eine Unmittelbarkeit und Verbindlichkeit: Diese nackte Körperlichkeit ist eine Form der Antwort auf die Frage: „Wer spricht, wenn ich spreche? “ Einem solchen Text werde, so Cixous, der Vorwurf der Unlesbarkeit gemacht, weil er lediglich in Bewegung oder in Gang gesetzte Sprache sei. Aus dem Vorwurf spreche die Angst, sich auf diesen Wegen zu verlaufen, sich zu verirren. 337 Auch bei Cixous spielt die Metapher vom Schreiben als Weg eine große Rolle, und man ahnt möglicherweise bereits, an welchen Punkten sich ‚Weiblichkeit‘ und ‚Essayisti‐ sches‘ berühren. Cixous’ Weg als Praxis weiblichen Schreibens ist assoziativ, spontan, sprunghaft und vielstimmig. Diese Schrift fängt nicht an einem Beginn an und endet auch nicht mit einem Ziel, das eine Rückschau ermöglichte. Die Schrift ist zirkulär. Sie lässt sich nicht zusammenfassen; man kann sich nur auf ihren Weg machen, sich in ihr exponieren und dem Risiko aussetzen. Cixous’ Schrift ist Weg als ‚Aventüre‘, welche sowohl die ,écriture‘ als auch die Lektüre erfasst: „daß ein Text aus Weiblichkeit gerade Wege bahnt, die keine Rückkehr versprechen, und eine ganz und gar abenteuerliche Lesweise ermöglichen; eine Lesweise, von der man nicht berichten kann, die man nicht beherrschen kann, eine Lektüre, die gerade bewirkt, daß man der Schrift so nah wie möglich ist, und einzig und allein sie muß man riskieren“. 338 In dieser Schrift manifestieren sich die Bewegungen eines ‚Ich‘, das ein mög‐ liches Publikum nah an sich heranlässt. Die Intimität des Schreibens bedingt ein Wahrsprechen als Abenteuer, bei dem das Selbst auf dem Spiel steht. Bei aller körperlicher Implikation der ‚parrhesia‘, deren Ausdruck auch María Zambranos Schreiben aus den ‚entrañas‘ darstellt: Foucault macht im Anschluss an Demos‐ thenes darauf aufmerksam, dass sich das wahre parrhesiastische Reden dennoch immer an der Vernunft auszurichten habe. 339 Unter diesem Gesichtspunkt lässt 108 II. Theorie 340 Vgl. Cixous: Wer singt? Wer veranlaßt zu singen? , S. 86. 341 Ebd., S. 86 f. 342 Barthes: Die Lust am Text, S. 98 (Hervorhebungen durch den Autor). 343 Foucault: Das Wahrsprechen des Anderen, S. 38. Zit. in Paraphrase durch Hahn, S. 143. sich also auch Zambranos Konzept einer ‚dichterischen Vernunft‘ (razón poé‐ tica) betrachten. In einer hier zur Diskussion stehenden ‚poetischen Essayistik‘ geht nun der Eindruck des Abenteuerlichen, des Ausgesetztseins in der ‚parrhesia‘ weniger von einem ideellen ‚Abenteuer des Denkens‘ auf inhaltlicher Basis aus. Er stammt eher von einer Direktheit oder ‚Nähe‘ oder Unmittelbarkeit, die sich von der inhaltlichen Ebene auf die textproduktive Ebene verschiebt oder von ihr aufgenommen wird. Ich denke, die ‚lustvolle‘ Körperlichkeit des essayistischen Diskurses verknüpft sich hier mit einer Lust an der lautlichen Diskursgestal‐ tung. Was darin in besonderer Weise offengelegt oder entblößt wird, ist ‚Weib‐ lichkeit‘, wie Cixous sie versteht; als Schreiben „jenseits, vor der Grammatik“ 340 und ein Erwachen der musikalischen und rhythmischen Potenziale der Sprache in den Laut- und Wortspielen 341 - eine Schrift des entfesselten Wortes. Anders ausgedrückt: Die essayistische Haltung materialisiert hier die sinnliche Körper‐ lichkeit des Diskurses in dem, was Cixous mit ‚Weiblichkeit‘ assoziiert und Bar‐ thes das ‚laute Schreiben‘ (l’écriture à haute voix) nennt. Auch Roland Barthes erkennt die besondere Relation der ‚Nähe‘ in der Schrift, die er als ‚Rauheit‘ oder ‚Körnung‘ (grain) bezeichnet: Sie entstehe durch einen Effekt vergleichbar wie im Film, wenn der Ton der Sprache „von ganz nah“ aufgenommen wird. 342 In der ‚Nähe‘ klingt, nun auch im ganz wörtlichen Sinn, ein Wahrheitsethos an, das sich nicht in axiomatischen Aussagen bemisst; es begründet vielmehr als per‐ formativer Akt des Aussagens selbst - allem Zweifel und aller Skepsis zum Trotz - einen ‚intensiveren Sinn für Wahrheit‘. Ein solcher Begriff von ‚inten‐ siverer Wahrheit‘, wie er von Claire de Obaldia verwendet wird, darf freilich nicht unkritisch aufgenommen werden; doch handelt es sich dabei nicht etwa um die Verteidigung faktennegierender Aussagestrategien, sondern um die per‐ formative Entäußerung einer Aufrichtigkeit der Wahrheitssuche im Akt des Sprechens. Die diskursiven Strategien wie Überzeugung oder Belehrung, schreibt Kurt Hahn, treten in der ‚parrhesia‘ zurück: „Was somit zählt, ist nicht eine wahrheitsgetreue Feststellung, sondern allein der Akt der Affirmation, der an sich schon die ‚Seinsweise des Subjekts beeinflusst‘.“ 343 Bei Paz werden wir beispielsweise beobachten können, wie diese Beeinflussung im Sinne einer Wahrheitsorientierung als körperlich rhythmische Ausrichtung des Subjekts funktioniert. So unspezifisch das Konzept eines ‚intensiveren Sinns für Wahr‐ heit‘ auch sein mag, es orientiert sich doch am griechischen Begriff der ‚aletheia‘, 109 5 Die ‚Nähe‘ der Schrift: Der Weg als Abenteuer und Risiko. 344 Friedrich, S. 403. 345 Vgl. Nübel: Essayismus als hybride Form, S. 57. 346 De Obaldia, S. 45. 347 Vgl. de Obaldia, S. 39. den Heidegger gegen die lateinische ‚veritas‘ abgrenzt. Es geht in der essayis‐ tischen Wahrheit also weniger um eine Unterscheidung ‚wahrer‘ und ‚falscher‘ Aussagen, die abwägend ausgelotet werden, sondern darum, sein ‚Ich‘ mittels einer Entäußerungspraxis einem dynamischen Wahrheitsgeschehen als geistige Erfahrung auszusetzen und es darin aufgehen zu lassen. Die beiden Texte, die in dieser Arbeit Gegenstand einer Analyse sind, verhandeln diese Erfahrung von Wahrheit als eine der Ambivalenz von Sprache, die sich im performativen Akt des Schreibens selbst ausdrückt. Performativität lässt sich als eines der wichtigsten Elemente essayistischer Praxis bestimmen. Die performative Aussage ist gleichzeitig, was sie sagt - darin ähnelt sie stark Husserls Konzept der „einsamen Rede“ als reines ‚Ausdrucks‐ zeichen‘. Das ‚Essayistische‘ spiegelt den Inhalt seiner Aussagen in der Art ihres Ausgesagtseins ebenso wie die Konstituenten des ‚Essayistischen‘ selbst. Hugo Friedrich fällt der Hang zur Metadiskursivität bereits bei Montaigne auf. Man kann sagen, schreibt Friedrich, „daß die Essais einen durchlaufenden Kom‐ mentar ihrer selbst darstellen“. 344 Und auch Adorno weist darauf hin, dass ‚der Essay‘ nicht nur auf seine Gegenstände verweist, sondern auch auf sich selber. Er umschließt den konkreten Gedanken, den Denkenden und das Verfahren des Denkens. 345 Performativität erscheint als Funktion zur Herstellung von Identität, was bei einer Differenz erzeugenden Schreibpraxis zunächst verwundern mag. Das ‚Ich‘ bindet sich im parrhesiastischen Akt unmittelbar an ein Wissen von ‚Welt‘, weil es gleichzeitig Subjekt und Objekt der Erkenntnis ist. Performativität bedeutet aber nun auch, dass sowohl das ‚Ich‘ als auch der Aspekt des Wissens von der ‚Welt‘ ganz an den Faktor ‚Sprache‘ gekoppelt wird. Ich sehe die Funk‐ tionalität solch performativer Textoperationen in einem strategischen Zusam‐ menhang mit dem, was Claire de Obaldia „search for wholeness“ 346 nennt und was ja bereits im Wunsch des ‚Alles-Sagens‘ zum Ausdruck kam. Obaldia be‐ trachtet diesen Wunsch nach Ganzheit jedoch mehr in kulturgeschichtlichem Zusammenhang: So sei ‚der Essay‘ eine typische Antwort auf eine in der Mo‐ derne problematisch aufgefasste Wirklichkeit, welche durch ein Fehlen einer kulturellen Einheit den Einzelnen in Isolation und Einsamkeit führt: „For the negativity of modern times which the essay embodies is characterized by the split between the ,I‘ and the world.“ 347 Die Differenz erzeugenden, dekonstruktiv wirksamen Pfade essayistischer Erkenntnis verlaufen daher nur scheinbar ziellos. Die Koppelung des ‚Ich‘ an 110 II. Theorie 348 Vgl. de Obaldia, S. 41. die ‚Welt‘ mittels ‚Sprache‘ ist im ‚Essayistischen‘ immer latent und erscheint als metaphysisches Ideal schlechthin: als mythischer primordialer Zustand vor allen Trennungen; ein Horizont, in dem ‚Ich‘, ‚Sprache‘ und ‚Welt‘ eins wären und in dem absolute, umfassende Erkenntnis möglich wäre. Das ‚Essayistische‘ läge im Versuch der Herstellung dieser Trinität durch den Akt des performativen Wahrsprechens. Darin drückt sich ein ‚Ich‘ in seiner ganzen (körperlichen) Sprachlichkeit aus, und darin erfasst es ‚Welt‘ in einem ‚intensiveren Sinn‘. Es geht um ein Gefühl des ‚In-der-Welt-Seins‘, um das Erlangen von Wissen von ‚Welt‘ durch eine ‚Sprache‘, in der das ganze ‚Ich‘ ausgedrückt ist, sich selbst ausdrückt. Ein ‚Ich‘, das seine ganze ‚Welt‘ in der ‚Sprache‘ hat und so weiter - im Grunde ist das ein tautologisches Prinzip. Wir können sowohl bei Zambrano als auch bei Paz Reminiszenzen und Anklänge, jedenfalls die Hoffnung auf ein Aufleuchten dieser Trinität der Er‐ kenntnis ausmachen. Sie zeigt sich als Vision der Dichtung - und verdichtet sich im Symbol der ‚Lichtung‘, als Möglichkeit einer Klarsicht. Das Einheit und Ganzheit suchende Element des ‚Essayistischen‘ liegt nicht nur im Exerzitium einer performativen Sprache. Der gleichen Intention unterliegt auch das Pro‐ zedere der Gedankenführung: So ist die Assoziation, zu der das Symbol anregt, eine Möglichkeit fortgesetzter Anspielungen auf ein Ganzes. Das ‚Essayistische‘ erschöpft sich jedoch nicht im Versuch einer Einheit; viel‐ mehr erscheint dieser metaphysische Urgedanke im ‚Essayistischen‘ als zutiefst fraglich und ist einer ständigen Kritik ausgesetzt; Kritik durch eine Konzeption von Sprache als dauernde Verschiebung, Konzeption eines gleichermaßen sprachlichen ‚Ich‘, das diesen Prozessen der Verschiebung (als ‚sub-iectum‘) un‐ terworfen ist. Und einer Konzeption von ‚Welt‘ und ‚Wahrheit‘ als perspektivi‐ sche Zerrbilder, was Skepsis, Ironie und / oder Tragik hervorruft. Sowohl Kritik eines Verlusts von Bedeutung drückt ‚der Essay‘ aus als auch Kritik am allum‐ fassenden System, schreibt Claire de Obaldia. 348 Doch meiner Ansicht nach trifft diese Ambivalenz die essayistische Haltung noch nicht: ,Essayistisch‘ schreibt ein Subjekt erst, wenn es sein ‚Ich‘ dem Widerstreit risikoreich aussetzt und aufrichtiges Zeugnis darüber ablegt, Zeugnis von seinem Ringen mit dem Wi‐ derstreit und von seinen Erfahrungen, die es in diesem Ringen erlangt. Und so nimmt die ‚parrhesia‘, in der, wie Kurt Hahn schreibt, einzig der reine Akt der Affirmation zählt, im ‚Essayistischen‘ eine Wendung hin zu einem Akt der Af‐ firmation von Negativität. Das essayistische Wahrsprechen lässt sich daher meiner Ansicht nach mit Heideggers Begriff der ‚aletheia‘ als „Unverborgenheit“ 111 5 Die ‚Nähe‘ der Schrift: Der Weg als Abenteuer und Risiko. 349 Heidegger, Martin: Der Ursprung des Kunstwerks [1935 / 36]. In: ders.: Holzwege. Frank‐ furt a. M.: Klostermann 1950. 9. Aufl. 2015,1-74. S. 40. 350 Vgl. Amarís, Olga: La mística del exilio en la obra de Hannah Arendt y de María Zambrano. Univeristätsbibliothek Ludwig-Maximilians-Universität München 2020, S. 64. 351 Matzat, S. 166. des sich Verbergenden fassen, weil es eine „Gegnerschaft des Anwesens“, 349 der reinen Affirmation, und sogar der Wahrheit in sich einschließt. Der Essayist nimmt bezüglich der Metaphysik eine Haltung ein, die wenn nicht schizophren, so doch hochgradig paradox ist und im aufrichtigen und hingebungsvollen Folgen eines Weges besteht, dessen Ziel er gleichzeitig radikal infrage stellt - der aber ohne dieses Ziel gleichzeitig nicht vorstellbar wäre. Psychologisch ge‐ sprochen, hätten wir es mit einer ,Double-bind-Situation‘ zu tun, die sich, wie Olga Amarís in ihrer Dissertation über María Zambrano und Hannah Arendt untersucht hat, in konkreten linguistischen Figuren ausdrückt. Dazu gehören etwa die Neigung zum vermehrten Gebrauch von Metaphern sowie eine Ver‐ änderung ihrer traditionellen Bedeutungen. 350 Amarís verwendet den Begriff des ‚double bind‘, um damit die Situation des Exilanten zu kennzeichnen, der den Ruf zweier Länder vernimmt und dadurch zwischen beiden in einer ambiva‐ lenten Haltung verharrt. Ich denke jedoch eher an eine aktivere Rolle des Sub‐ jekts im Fall eines ‚double bind‘: Die paradoxe Haltung ist weniger eine Reaktion auf ein gespaltenes Umfeld und kein passives Verharren in der Zerrissenheit; es ist eine Haltung, die aus dem Subjekt selbst kommt, und ein Effekt, den es in sich selbst erzeugt. Die paradoxe Struktur des Essayistischen besteht in einem absichtsvollen Verfehlen metaphysischer Bestimmungen - gerade um ihre Prä‐ senz auf indirekte Weise erahnen zu können. Es handelt sich um den Versuch, ‚alles‘ zu sagen, gerade indem man es nicht versucht. Für diese Operation, die unser logisches Denken herausfordert, halte ich erneut Sarah Kofmans Wort vom „Verrenken des philosophischen Ohrs“ und vom Lesen (und Schreiben) „mit schiefem Blick“ für überaus treffend. Es konkretisiert sich in problematischen Figuren der Labilität, die der Essayist / die Essayistin durch ein Denken und Schreiben in Zwischenräumen erzeugt: zwischen Form und Formlosigkeit, Thesis und Auflösung, ‚plaisir‘ und ‚jouissance‘. Es ist ein Bereich des Denkens, in dem jedoch diese Gegensätze nicht mehr eindeutig lokalisierbar sind. Diese Eigenart beobachtet auch Wolfgang Matztat im Fall von Octavio Paz‛ Laberinto de la soledad; erkennbar sei eine bedeutsame Divergenz, „die man mit Derrida als Divergenz zwischen einer ‚dekonstruktiven‛ und einer ‚präsenzmetaphysi‐ schen‛ Argmumentation bezeichnen kann“. 351 Was Matztat jedoch lediglich als „symptomatisch für die eingeschränkten Möglichkeiten der Identitätsbestim‐ 112 II. Theorie 352 Ebd., S. 167. mung in peripheren und postkolonialen Kulturen“ 352 sieht, halte ich für die Grundlage jeder essayistischen Praxis. Sie lässt einen Raum entstehen, in dem metaphysische Konstruktionen nicht einfach nur fraglich werden, sondern in dem sogar das Verhältnis von Metaphysik und ihrer Dekonstruktion selbst un‐ bestimmbar wird: Daher erscheinen alle metaphysischen Aussagen im ‚Essay‐ istischen‘ einerseits bedroht und fragil. Andererseits sind die dekonstruktivsten Ansätze noch durchdrungen von einem tiefen metaphysischen Geist. Die Prob‐ lematik einer Trinität von ‚Ich‘, ‚Sprache‘ und ‚Welt‘ organisiert das Ganze des essayistischen Diskurses und bildet damit das Denken eines primordialen Zu‐ stands, der gleichzeitig ubiquitär und vollkommen utopisch ist. Man kann also sagen, das ‚Essayistische‘ ist Praxis, welche ihre Grundlage beständig auf per‐ formative Weise kritisiert, in ihrem Verfahren reflektiert und offenlegt; es ist eine performative, kritische und transparente Textpraxis. 113 5 Die ‚Nähe‘ der Schrift: Der Weg als Abenteuer und Risiko. 1 Siehe: Ortega Muñoz, Juan Fernando: Introducción al pensamiento de María Zambrano. México, D. F.: Fondo de Cultura Económica 1994, S. 22. III. Praxis 1 María Zambrano: Claros del bosque María Zambrano (1904-1991) wird in der andalusischen Provinzstadt Vélez-Má‐ laga geboren, ein Jahr später zieht die Familie nach Segovia. 1924 kommt Zam‐ brano zum Philosophiestudium in die Hauptstadt Madrid. Als Schülerin der großen spanischen Denker ihrer Zeit, wie José Ortega y Gasset und Xavier Zu‐ biri, und gut befreundet mit den Dichtern der ,Generación del 27‘ wie Rafael Alberti, Luis Cernuda und Federico García Lorca, gehört sie rasch selbst zur intellektuellen Elite des Landes. Sie schreibt für die bedeutenden Kulturzeit‐ schriften Revista de Occidente und Cruz y Raya; 1931 wird sie Assistenzprofes‐ sorin für Metaphysik an der Universidad Central. Weitere Lehrtätigkeiten kommen ab 1935 in der Bildungseinrichtung für Frauen Residencia de Señoritas und dem Instituto Cervantes hinzu. 1937, kurz nach ihrer Heirat, begleitet sie ihren Mann Alfonso Rodríguez Al‐ dave nach Santiago de Chile, der dort zum Botschaftssekretär berufen ist. Doch schon acht Monate später kehrt das Paar nach Spanien zurück, um sich am Kampf gegen die heraufziehende Diktatur General Francos zu beteiligen. Zam‐ brano engagiert sich von Valencia aus für Propagandaorgane der Republik sowie in der republikanischen Zeitschrift Hora de España und nimmt am zweiten Congreso Internacional de Escritores para la Defensa de la Cultura teil, wo sie auch Octavio Paz kennenlernt. Als sich die Niederlage der republikanischen Truppen abzeichnet, flieht sie nach Barcelona und von dort aus Ende Januar 1939 über die Pyrenäen nach Frankreich. Mit diesem Schritt tritt Zambrano ihr Exil an, das sie 45 Jahre lang quer durch Lateinamerika und Europa führt. Wichtige Stati‐ onen sind unter anderem Mexiko, Kuba, Puerto Rico, Italien, Frankreich und die Schweiz. Erst 1984 kehrt sie wieder nach Spanien zurück. Zambrano gilt heute als eine der bedeutendsten spanischen Schriftsteller‐ innen und Intellektuellen des 20. Jahrhunderts. Doch obwohl sie das kulturelle Leben Spaniens schon in den Jahren vor dem Krieg mitprägte, ist das Werk der Philosophin und Essayistin in ihrem Mutterland lange unbekannt geblieben. 1 Erst in den 1960er-Jahren, als Zambrano beginnt, Artikel für die spanischen 2 L. Aranguren, José Luis: „Los sueños de María Zambrano“, Revista de Occidente Nr. 35, 1966, 207-212. S. 212: „Si María Zambrano se hubiera callado, algo profundo y esencial habría faltado, quizá para siempre, a la palabra española.“ 3 Vgl. Gómez Blesa, Mercedes: Introducción. In: Zambrano, María: Claros del bosque. Madrid: Cátedra 2014, 11-113. S. 26 f. Zeitschriften Ínsula, Papeles de Son Armadans, La caña gris und Índice zu ver‐ fassen, wird eine junge Generation von Philosophen auf sie aufmerksam. Ihr Haus im Wald nahe La Pièce im französischen Jura, in dem sie ab 1964 lebt, wird zu einer Pilgerstätte für Intellektuelle, die Zambrano kennenlernen möchten, wie etwa Fernando Savater. Nach und nach erscheinen nun kritische Studien, Rezensionen und Artikel, unter anderem von José Ferrater Mora für sein Diccionario de Filosofía (1965), von José Luis Abellán (María Zambrano. La razón poética en marcha, 1966) und José Ángel Valente (El sueño creador, 1966). Eben‐ falls 1966 erscheint ein viel beachteter Artikel über sie in der Revista de Occidente von José Luis Aranguren. Diesen Artikel beendet der Philosoph mit jenen Worten, die aus der Zambrano-Rezeption kaum mehr wegzudenken sind: „Wenn María Zambrano geschwiegen hätte, hätte dem spanischen Schrifttum etwas Tiefes und Essenzielles gefehlt; vielleicht für immer.“ 2 Ab 1977 gibt es auch in einer breiteren spanischen Öffentlichkeit ein gesteigertes Interesse an der Au‐ torin. Das Jahr, in dem Spanien formal die Zensur abschafft, macht einen Neu‐ druck ihres frühen republikanischen Essays Los intelectuales en el drama de Es‐ paña möglich. Zusammen mit einem neuen Vorwort wird der Band im Zuge der einsetzenden Aufarbeitung des Bürgerkriegs bekannt. Im selben Jahr erscheint auch der Essayband Claros del bosque. Zu offiziellen Ehrungen in Spanien kommt es jedoch erst in den 1980er-Jahren. 1981 wird ihr der Premio Príncipe de Asturias verliehen, und 1988 erhält sie als erste Frau die höchste literarische Auszeich‐ nung des Landes, den Premio Miguel de Cervantes - für Claros del bosque.  3 Thematisch erstreckt sich Zambranos Werk über politische Stoffe wie De‐ mokratie und Faschismus (Horizontes del liberalismo, 1930; La agonía de Europa, 1945; Persona y democracia, 1959) bis hin zu Metaphysik, dem Göttlichen und der Mystik (z. B. in Filosofía y poesía, 1940; Hacia un saber sobre el alma, 1950; El hombre y lo divino, 1953; Claros del bosque, 1977, um nur einige zu nennen). Zudem setzt sich Zambrano intensiv mit Platon, Seneca, San Juan de la Cruz und Augustinus auseinander. Aus stilistischer Sicht ist vor allem ihr Spätwerk schwer einzuordnen. Denn ihr Schreiben verbindet im Laufe ihres Schaffens ihre historische und philosophische Analytik zunehmend mit einer poetischen bis beinahe opak wirkenden Metaphernsprache und einem visionär-mystischen Ausdruck; Der Heidelberger Romanist und Zambrano-Übersetzer Gerhard Pop‐ 116 III. Praxis 4 Poppenberg bediente sich dieses Ausdrucks im Rahmen der Tagung „Maria Zambrano in der gegenwärtigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung in Deutschland“ des Ro‐ manischen Seminars der Universität Heidelberg am 25./ 26. Mai 2017. 5 Zambrano, María: Los bienaventurados [1979]. Madrid: Siruela 2004, S. 29: „atísbos, vis‐ lumbres entre visiones no reductibles al análisis, revelaciones, pues.“ penberg hat dies in respektvollem Scherz als „intellektuelles Aquaplaning“ 4 be‐ zeichnet. Gemeint ist damit jenes Schreiben, das sich kaum mehr auf klar fass‐ bare Begrifflichkeiten gründet und sich daher ebenso wenig auf unveränderliche Aussagen hin auslegen lässt. Zambrano will Inhalte ansprechen, die sich ihrer Meinung nach dem rein analytischen Verstand widersetzen und die nur er‐ fahrbar werden durch ganzheitlichere Formen der Vernunft und mittels einer Offenbarung. Diese ‚revelaciones‘ führen weniger zu Kenntnissen (conoci‐ mientos) als vielmehr zu einem Wissen (saber), zu „Funken und Ahnungen“, wie sie selbst schreibt, die nicht auf eine Analyse verkürzt werden können. 5 So begibt sich Zambrano auf die Suche nach dem Apokryphen der Historie und des Men‐ schen, nach dem von der Geschichte Vergessenen und Ausgeschlossenen, nach den ‚Para-logien‘. Besonderes Augenmerk legt sie dabei auf eine kritische Re‐ flexion über Metaphysik in der abendländischen Tradition. Dem in ihr Nicht‐ gesagten, Anderen, Marginalisierten - dem ‚anderen Logos‘ - will sie Ausdruck verleihen. 1.1 Zambrano - Heidegger - Derrida: Revisionen der Metaphysik Zambrano stößt sich keineswegs an Metaphysik an sich; vielmehr soll sie neu gedacht werden können. Da sich das Projekt einer Revision der Metaphysik in vielen Punkten mit dem Martin Heideggers berührt und María Zambrano in einigen Passagen der Claros del bosque recht deutlich auf Heidegger anspielt, ist es wichtig, ihren Bezug zu dem umstrittenen deutschen Philosophen eingehender zu betrachten. Vor allem zu Heideggers philosophischen Reflexionen über den Ursprung des Kunstwerks gibt es starke Parallelen, die vermuten lassen, Zambrano könnte sich beim Schreiben der Claros del bosque direkt auf entspre‐ chende Textstellen bei Heidegger bezogen und diese kommentiert haben. Ich will daher versuchen, einige Positionen und Begriffe der beiden Philosophen vergleichend gegenüberzustellen, und dabei auf die Vorstellungen von ‚Sein‘ und ‚Wahrheit‘ sowie auf Heideggers Begriff der ‚Seinsvergessenheit‘ eingehen. Beide entwickeln ihr Denken in einem Spannungsfeld von Erneuerung und Überwindung von Metaphysik. Dadurch ergeben sich Verbindungslinien zum Poststrukturalismus, die mitreflektiert werden sollen. Dabei ist es besonders Zambranos Vorstellung von Einheit als ‚Harmonie der Gegensätze‘, die in ihrem 117 1 María Zambrano: Claros del bosque 6 Vgl. Zambrano: Los bienaventurados, S. 51. 7 Vgl. Dorang, Monique: Die Entstehung der razón poética im Werk von María Zambrano. Frankfurt a. M.: Vervuert 1995, S. 38. 8 Vgl. ebd., S. 40. neomystischen Ansatz unerwartete Verbindungen zu Derridas Denken er‐ kennen lassen. 1.1.1 Das Geschehen der Wahrheit Augenscheinlich sind Zambranos Anspielungen auf Martin Heidegger schon im Buchtitel der Waldlichtungen, der mit Heideggers Begriff der ‚Lichtung‘ sowie mit dessen gesamter Waldmetaphorik korreliert, wie sie in Holzwege zum Aus‐ druck kommt. Wir können davon ausgehen, dass Zambrano mit Heideggers Philosophie lange vertraut gewesen sein und sie weitgehend geschätzt haben muss. In ihrem Spätwerk Los bienaventurados spricht sie jedenfalls von Hei‐ degger als angesehenstem Philosophen dieses Jahrhunderts, der diesem Ruf auch gerecht werde. 6 Zum ersten Mal bezieht sich Zambrano bereits 1938 auf ihn, als sie einen Artikel von Antonio Machado über Heidegger zur Veröffent‐ lichung an die argentinische Zeitschrift Sur schickt. In diesem Artikel spricht Machado allerdings mit der ironisch burlesken Stimme seiner Kunstfigur Juan de Mairena. 7 Schon während ihrer Studien an der Universidad Central dürfte Zambrano mit Heideggers Philosophie in Berührung gekommen sein. So hatte ihr Lehrer Ortega y Gasset den Philosophen bei einem Aufenthalt in Deutsch‐ land persönlich kennengelernt. Javier Zubiri, dem sie assistierte, war Hei‐ degger-Schüler und hatte bereits 1933 den Band Was ist Metaphysik? ins Spani‐ sche übersetzt. Und auch im lateinamerikanischen Exil hatte sie Möglichkeiten, der Entwicklung von Heideggers Denken zu folgen, denn die beiden Exilanten José Gaos und David García Bacca besorgten während der 1940er-Jahre Über‐ setzungen, die in Mexiko und Buenos Aires erschienen. So stammt etwa die erste spanische Übersetzung von Sein und Zeit von Gaos aus dem Jahr 1948, García Bacca übertug Hölderlin und das Wesen der Dichtung 1944 ins Spanische. In der Revista Cubana de Filosofía erschien 1950 eine Übertragung von Warum Dichter? . 8 Eine Übersetzung der Holzwege legte 1960 der katalanische Diplomat und Übersetzer Josep Rovira i Armengol unter dem Titel Sendas perdidas für den argentinischen Verlag Losada vor. Heideggers Überlegungen gehen von dem Gedanken aus, dass die Metaphysik und sogar die gesamte abendländische Philosophie etwas Entscheidendes aus‐ gelassen und mit ihren Fragen eine Stoßrichtung vorgegeben habe, welche den Kern metaphysischer Spekulation nicht berühre. Heidegger wirft der Meta‐ physik vor, was er als ‚Seinsvergessenheit‘ bezeichnet: Sie leide gewissermaßen 118 III. Praxis 9 Vgl. Schmiedinger, Heinrich: Metaphysik. Ein Grundkurs. Stuttgart / Berlin / Köln: Kohl‐ hammer 2009, S. 44 f. 10 Vgl. Heidegger, S. 37. 11 Vgl. ebd. 12 Vgl. ebd. 13 Heidegger, S. 37. an einem Geburtsfehler, denn schon bei ihrer Entstehung sei die entscheidende Differenz von ‚Seiendem‘ und ‚Sein‘ (die ‚ontologische Differenz‘) nicht berück‐ sichtigt worden. Konkret lastet Heidegger den Philosophen an, sie hätten sich von Anfang an nur auf das ‚Seiende‘ (als ein Zweitrangiges oder Abgeleitetes) konzentriert und dabei ,vergessen‘, dass Aussagen darüber erst gemacht werden können, wenn die Frage nach dem ‚Sein‘ an sich (dem Wesen des ‚Seins‘) hin‐ reichend geklärt sei. 9 Aus seinem Essay über den Ursprung des Kunstwerks, der uns noch genauer beschäftigen wird, geht hervor, wie eng dieses ‚Sein‘ für Hei‐ degger mit einem besonderen Wahrheitsbegriff zusammenhängt: Das Wesen von etwas beruhe auf dem, was das ‚Seiende‘ in Wahrheit sei, heißt es im Kunst‐ werk-Essay. 10 Heidegger will nun aber nicht beim Verständnis von Wahrheit als ‚Richtigkeit‘ oder ‚Übereinstimmung der Erkenntnis mit der Sache‘ verweilen. Nicht weil diese Auffassung gänzlich fehlginge, sondern vielmehr weil sie nicht imstande sei, ihre eigenen Bedingungen zu denken, und damit nicht zu ihrem eigentlichen ‚Sein‘ vordringe: Im Grunde wirft Heidegger einem solchen Denken Bequemlichkeit vor. Die Auffassung von Wahrheit als ‚Richtigkeit‘ gehe von Voraussetzungen aus, „die wir selbst - der Himmel mag wissen, wie und weshalb - nun einmal machen“. 11 Aber um die Übereinstimmung der Erkenntnis mit einer Sache überhaupt bestimmen zu können, müsse sich diese Sache vorher auf irgendeine Weise gezeigt haben. Sie müsse zuerst aus einer Verborgenheit herausgetreten sein. 12 Genau dieser Vorgang ist es, den Heidegger untersuchen will. Dazu legt er seinen Überlegungen nicht den lateinischen Begriff der ‚ve‐ ritas‘ zugrunde, sondern die griechische ‚aletheia‘ (Ἀλήθεια), die er als „Unver‐ borgenheit“ übersetzt. Die Geschichte der griechischen Philosophie, schreibt er, bestehe seit ihrem Anfang darin, „daß sie dem im Wort Ἀλήθεια aufleuchtenden Wesen der Wahrheit nicht gemäß bleibt und ihr Wissen und Sagen vom Wesen der Wahrheit mehr und mehr in die Erörterung eines abgeleiteten Wesens der Wahrheit verlegen muß. Das Wesen der Wahrheit als Ἀλήθεια bleibt im Denken der Griechen und erst recht in der nachkommenden Philosophie ungedacht.“ 13 Im Kunstwerk-Essay geht Heidegger der Frage nach dem ‚Sein‘ über zahl‐ reiche Umwege (oder Holzwege) nach und dabei dem Ursprung des Kunstwerks nachspürt. Dabei führt ihn seine zu Beginn des Textes eingeführte Definition 119 1 María Zambrano: Claros del bosque 14 Ebd., S. 9. 15 Ebd., S. 24. 16 Ebd., S. 25. 17 Vgl. ebd., S. 30. 18 Ebd. 19 Ebd., S. 35. 20 Ebd. 21 Vgl. ebd., S. 33. 22 Vgl. ebd., S. 36. von Ursprung als „Herkunft seines Wesens“ 14 zu der Frage nach dem ,Wesen‘ des Kunstwerks, nach seiner ,Wirklichkeit‘ und seiner ,Wahrheit‘. Heidegger versucht zunächst, es über den Begriff des ‚Dinghaften‘ zu erfassen, doch führt ihn dieser Versuch sogleich zu der Frage, worin denn jenes ‚Dinghafte‘ über‐ haupt bestehe. Heideggers Fragen führen ihn zu der Erkenntnis, dass sich das Wesen des Kunstwerks nicht bestimmen lasse, indem andere, verwandte oder von ihm abgeleitete Begriffe definiert würden. Vielmehr müsse das Kunstwerk aus sich selbst heraus, aus seinem ‚Sein‘ gedacht werden: „Worauf es ankommt, ist eine erste Öffnung des Blickes dafür, daß das Werkhafte des Werkes, das Zeughafte des Zeuges, das Dinghafte des Dinges uns erst näher kommen, wenn wir das Sein des Seienden denken.“ 15 Das Kunstwerk steht deshalb in Heideggers Interesse, weil es seiner Ansicht nach eine Weise ist, in der sich das ‚Sein des Seienden‘ eröffnet: „Im Werk geschieht diese Eröffnung, d. h. das Entbergen, d. h. die Wahrheit des Seienden.“ 16 Worin besteht für Heidegger nun diese Wahrheit im Kunstwerk? Die Antwort lässt sich an dieser Stelle nur skizzieren: Das Werk errichtet gewissermaßen zwei Pole, von dem Heidegger den einen als ‚Aufstellen einer Welt‘ und den anderen als ‚Herstellen der Erde‘ benennt. Doch was genau darunter zu verstehen ist, könne nicht definiert, sondern lediglich ,angezeigt‘ werden. Und sogar dieses Anzeigen müsse sich noch darauf beschränken, Vorstellungen abzuwehren, die den Blick auf das Wesentliche verstellen: 17 Hinter dem Begriff ‚Welt‘ verbirgt sich das „immer Ungegenständliche“, 18 in das hinein die Ereignisse der Ge‐ schichte stoßen. Während ‚Welt‘ eine „Geräumigkeit“ oder „sich öffnende Of‐ fenheit“ anzeigt, 19 verbindet Heidegger die ‚Erde‘ mit einem ‚bergenden‘ oder ‚verbergenden‘ Element. Er bezeichnet es als „das zu nichts gedrängte Hervor‐ kommen des ständig Sichverschließenden und dergestalt Bergenden“. 20 Ins Un‐ verborgene kann sie nur als das ‚Sichverschließende‘ gelangen. 21 Beide, ‚Welt‘ und ‚Erde‘, stehen in einem ambivalenten Wechselverhältnis, das Heidegger als inneren Streit verstanden wissen will. Die Wahrheit des Kunstwerks geschehe in der ‚Bestreitung‘ dieses ‚Streites‘.  22 ‚Welt‘ und ‚Erde‘ stehen in einer sich ge‐ genseitig durchdringenden Gleichzeitigkeit. Sie sind, wie Heidegger schreibt, 120 III. Praxis 23 Ebd., S. 34. 24 Vgl. ebd., S. 42, 52. „zwei Wesenszüge im Werksein des Werkes“. 23 Als ein Gegeneinander bilden sie aber zusammen auch die Einheit des Werks, welches damit Bewegtheit und in sich Ruhendes gleichermaßen verkörpert. Das Werk ruht, indem es diese Be‐ wegtheit mit einschließt. Heideggers Spekulationen über ‚Sein‘ und ‚Wahrheit‘ sind gleich in mehrfa‐ cher Hinsicht paradox, denn sie bringen neben den schon in sich widersinnigen Konzeptionen einer ‚sich öffnenden Offenheit‘ und einem ‚bergenden Hervor‐ kommen‘ einige Gegensätze zusammen: sowohl den von ‚Welt‘ und ‚Erde‘ als auch den von Bewegtheit und Ruhe. Damit charakterisiert Heideggers Ontologie Sein nicht mehr, wie in der antiken griechischen Vorstellung, als etwas Unbe‐ wegtes, sondern als ein widersprüchliches, spannungsgeladenes und dynami‐ sches Geschehen von Wahrheit. Durch ihre Koppelung an diese Seinsvorstel‐ lung wird Wahrheit in ihrer historischen Wandelbarkeit wahrgenommen, wobei jedoch ihr metaphysischer Kern unberührt bleibt und keine perspektivistische Relativierung erfährt. 1.1.2 Die Erfahrung vom ‚Grund-Riss‘ der Wirklichkeit Ich halte Heideggers Überlegungen deshalb für wichtig, weil sie einerseits die Lektüre von Zambranos Waldlichtungen im Kontext ontologischer und meta‐ physischer Bezüge erhellen, andererseits weil sie auch weitere Hinweise zu einem besseren Verständnis des ‚Essayistischen‘ liefern können, erstens bezüg‐ lich seiner Methodik und zweitens im Hinblick auf sein Wahrheitsverständnis. Anders ausgedrückt, es geht um die Fragen, wie sich das ‚Essayistische‘ auf Wirklichkeit bezieht und welche Art von Wahrheit es sucht. (1) Die Ergebnisse, zu denen Heidegger kommt, haben Auswirkungen auf die Methodik, mit denen sich Wirklichkeit unter diesen Voraussetzungen überhaupt noch erfassen lässt: Es wird nun nicht mehr möglich sein, auf einheitliche oder ganzheitliche Modelle zurückzugreifen, die der Beschaffenheit der Wirklichkeit eine Statik zuschreiben und diese Statik in der Art ihrer Darstellung reflektieren. Vielmehr wird es notwendig, jenes dynamische und paradoxe Wahrheitsge‐ schehen, das die Wirklichkeit bestimmt, nachzuzeichnen und nachvollziehbar, wenn man so will, spürbar zu machen. Heidegger bezeichnet jene spannungs‐ geladene Dynamik als ‚Urstreit‘, als ‚Riss‘ oder auch ‚Grundriss‘. 24 Um zu Aus‐ sagen über die gesamte Wirklichkeit zu gelangen, wird es notwendig sein, den akademischen philosophischen Diskurs fraglich zu machen und andere Wege zur Erschließung von Welt auszukundschaften. Es wird notwendig sein, den 121 1 María Zambrano: Claros del bosque 25 Vgl. Lyotard: Postmoderne für Kinder, S. 29. 26 Heidegger, S. 3. ‚Grundriss‘ in der Wirklichkeit zu denken oder, mehr noch, ein ‚Denken des Risses‘ anzustrengen, in dem die Brüche, Paradoxa, Differenzen sichtbar werden. Diese Unternehmung findet ihre Fortführung bei postmodernen und poststrukturalistischen Denkern, und nicht zufällig nimmt die Entwicklung des Poststrukturalismus in Frankreich mit der Heidegger-Rezeption einen wich‐ tigen Ausgangspunkt. Der Programmatik einer Darstellung des ‚Grundrisses‘ der Wirklichkeit folgt auch Lyotards Feststellung, das Postmoderne drücke ein Undarstellbares nicht nur aus, sondern lasse es im Ausdruck selbst hervor‐ treten. 25 Daran anknüpfend, entwickeln sich ein Denken des ‚différend‘ und der ‚différance‘ und nicht zuletzt auch die Suspendierung des großen Wahrheits‐ diskurses in Form der Metaerzählungen. Das ‚Essayistische‘ lässt sich zunächst sehr grob als Praxis eines solchermaßen erneuerten und erneuernden Denkens interpretieren, insbesondere indem es Wahrheit nicht als fertiges Produkt ver‐ mittelt, sondern als geschichtliche Wahrheit, die, wenn überhaupt, nur prozess‐ haft angedeutet - umkreist - werden kann. Darin folgt es Heidegger auf seinen Holzwegen, wenn der schreibt: „So müssen wir den Kreisgang vollziehen. Das ist kein Notbehelf und kein Mangel. Diesen Weg zu betreten ist die Stärke, und auf diesem Weg zu bleiben, ist das Fest des Denkens.“ 26 Doch hinter den histo‐ risch wandelbaren Wahrheiten sucht das ‚Essayistische‘ doch noch eine meta‐ physische Wahrheit: Die essayistische Haltung geht von einem in sich proble‐ matischen, dynamischen Wahrheitsgeschehen aus, das es performativ inszeniert, indem es in einem ‚Textprozess‘ eingeholt und dadurch in gewisser Weise auch sinnlich erfahrbar wird. So spiegelt das Sprachgeschehen des ‚Es‐ sayistischen‘ den sukzessiven Modus einer Wahrheitssuche, wie die Betrach‐ tung der Claros del bosque deutlich machen wird. Wie wir sehen werden, ent‐ wickelt Zambrano jedoch einen anderen Zweig innerhalb dieses Denkens, indem sie die Äußerung eines solchen Wahrheitsgeschehens von einem philo‐ sophisch-analytischen Diskurs zu einem visionär-poetischen hin verschiebt. Darin nähert sie sich gewissen Strömungen innerhalb der Mystik, für die gött‐ liche Wahrheit nicht in theologischen Abhandlungen eingefangen, sondern nur erfahren werden kann; sie geben dem Suchenden keine Lehre, als vielmehr Texte an die Hand, die ihn auf dem Weg göttlicher Erfahrungen als spiritueller Führer, als guía espiritual sowohl begleiten, als auch diese Erfahrungen selbst inspi‐ rieren. (2) Heideggers Fundamentalontologie eröffnet den Blick auf das, was uns Claire de Obaldia im Fall des ‚Essayistischen‘ als ‚intensiverer Sinn für Wahrheit‘ 122 III. Praxis 27 Vgl. Rorty, S. 29. 28 Vgl. Heidegger, S. 32. präsentiert. Ein wenig deutlicher lässt die Frage danach vielleicht schon her‐ vortreten, warum sich das ,Essayistische‘ eben nicht so ohne Weiteres, wie von Lyotard vermutet, als postmodern qualifizieren lässt. Nicht nur ist die Suche nach der ‚intensiveren Wahrheit‘ schwer vereinbar mit einer Postmoderne, ob sie nun, je nachdem, welchen Begriff wir zugrunde legen wollen, der Wahrheit spielerisch oder gänzlich ablehnend gegenübersteht. Mehr noch können wir vermuten, dass diese ‚intensivere Wahrheit‘ sich nicht danach bemisst, wie tief sie in eine Sache eindringt, um am Ende zu einem vermeintlichen Urgrund vor‐ zustoßen, sondern die reine ,Erfahrung‘ von Wahrheit in den Vordergrund rückt. Im ‚Essayistischen‘ ginge es demnach nicht um Wahrheit von etwas, sondern um Wahrheit als ‚Sein‘, das heißt um die grundsätzliche ,Möglichkeit‘ von Wahrheit, ganz besonders in Zeiten, in denen sie von verschiedenster Seite in Bedrängnis gerät, der Begriff missbraucht oder zur Disposition gestellt wird: Trotz aller Skepsis um den problematischen Begriff von Wahrheit und trotz des Glaubens an die autonome Schaffensmacht von Sprache - das ‚Essayistische‘ hat die Hoffnung niemals ganz aufgegeben, dass die Wahrheit, um es mit Richard Rorty zu sagen, irgendwo da draußen ist. 27 Damit meine ich nicht eine theolo‐ gische Wahrheit und auch nicht ein Unsagbares, sondern eine von jeglicher Folklore und jeglichem Kitsch befreite Haltung kritischer Ernsthaftigkeit im Versuch, sich und seine Umwelt in der Realität zu verorten. Insofern nähert sich das ‚Essayistische‘ tatsächlich einem asketischen Ideal: Strenge Einübung einer permanenten Wachsamkeit gegen die Einflüsterungen der Welt soll befreien von der hohlen Maske des ‚man sagt‘ oder ‚man denkt‘ - ob es nun als politische Ordonnanz oder unter den Vorzeichen des sogenannten gesunden Menschen‐ verstands daherkommt - und gleichermaßen befreien von einem Gefühl mo‐ ralischer Selbstüberlegenheit. Durch die Art ihrer Äußerung, die Foucault als parrhesiastisches Reden analysiert hat, tritt diese Haltung - wir können es mit Heidegger sagen - ins ‚Unverborgene‘. Das ‚Essayistische‘ ist dadurch ‚Sprach‐ werk‘, weil es in sich die Heterogenität der Wirklichkeit, ihren ‚Grundriss‘ trägt. Es stellt eine ‚Welt‘ auf, indem es sich selbst zurückstellt auf die ‚Erde‘, das heißt in dem Fall in die ‚Dienlichkeit‘ der Sprache als ‚Werkstoff ‘. Weil es aber ‚Werk‘ ist, lässt es die Sprache nicht in der ‚Dienlichkeit‘, macht keinen abnutzenden Gebrauch von ihr, sondern lässt sie allererst ,hervorkommen‘; das „Wort kommt zum Sagen“, heißt es im Kunstwerk-Essay. 28 So ist im essayistischen Schreiben im Sinne Heideggers tatsächlich die Wahrheit am Werk: In der Haltung des ernsthaften Bemühens, Sprache sprechen zu lassen und dieses Geschehen als 123 1 María Zambrano: Claros del bosque 29 Zambrano, Maria: Días de exilio. Correspondencia entre María Zambrano y Alfonso Reyes 1939-1959 y textos de María Zambrano sobre Alfonso Reyes 1960-1989. Hg. von Alberto Enríquez Perea. México, D. F.: Taurus / El colegio de México 2006. S. 254 (e. Ü.): „Cómo vivir en la metamorfosis sin perder la identidad? “ 30 Zweig, S. 13. Erfahrung von Wahrheit anzudeuten, liegt jener ‚Sinn für eine intensivere Wahrheit‘. Bei Zambrano werden wir beobachten können, wie sehr diese Hal‐ tung mit einem Konzept des Poetischen verwoben ist. María Zambrano hat die Abwesenheit einer orientierenden Wahrheit in einer als chaotisch empfundenen Welt als schmerzlich erlebt. In einem offenen Brief an Alfonso Reyes schreibt sie 1954: „Wie können wir in der Metamorphose leben, ohne die Identität zu verlieren? “ 29 Diese bewegende Frage ist ein Widerschein jener, die sich im ersten Teil meiner Arbeit als eine der entscheidenden gezeigt hat, die das ‚Essayistische‘ stellt: Wie können wir uns als sprachlich erkennen, ohne uns von den Bewegungen der ‚Schrift‘ aufreiben und auseinanderreißen zu lassen? Sie macht erneut deutlich, dass ein postmoderner Impuls von Per‐ spektivismus und Wahrheitsskepsis allein das Phänomen nicht recht zu erfassen vermag. Die ständig wechselnde Perspektive, die unendliche Wandelbarkeit, das Scheinen in Facetten und Differenzen wird vom ‚Essayistischen‘ zwar als un‐ bedingtes Prinzip der menschlichen Existenz erkannt; aber die Fragen, wie es möglich ist, unter diesen Voraussetzungen Mensch zu bleiben; wonach man sich richten, was suchen, wonach streben solle, transzendieren die Inkonsistenz von Wahrheit. Die Rettung eines persönlichen Wahrheitserlebens ist für die Essay‐ istin gleichzeitig die Bewahrung der individuellen Freiheit des Menschen, der Freiheit, die es ihm erlaubt, im Geschrei der Welt die Orientierung nicht zu verlieren und die Stimme einer möglichen inneren Wahrheit noch zu ver‐ nehmen: „Saepe etiam et in proeliis Fauni auditi“, heißt es in Ciceros Über die Wahrsagung. Es ist dieser existenzialistische Aspekt des ‚Essayistischen‘, den auch Stefan Zweig erkennt, wenn er in seinem Essayfragment über Montaigne schreibt, diesem gehe es um die „Rettung der Freiheit in einer Zeit der allge‐ meinen Servilität an Ideologien und Parteien“ und um die Frage: „Wie bewahre ich meine ureigenste Seele, […] meine Gedanken, meine Gefühle vor der Gefahr, fremdem Wahn und fremden Interessen aufgeopfert zu werden? “ 30 Für Zambrano ist daher die Erfahrung von Wahrheit ein zentrales Anliegen ihres Schreibens: In ihrer Bürgerkriegsschrift von 1937, Los intelectuales en el drama de España, evoziert sie gegen Faschismus und Krise des Denkens die Figur der Pallas Athene militans als streitbare Vernunft mit Schild und Lanze. 40 Jahre später, im April 1977, schreibt sie in La Pièce eine neue Einleitung für dieses frühe Werk. Sie erscheint im gleichen Jahr erstmals in der Neuauflage im His‐ 124 III. Praxis 31 Zambrano: La experiencia de la historia (después de entonces), S. 12 (e. Ü.): „Extraer de la realidad relativa la verdad subsistiente; de la mezclada sustancia, la esencia indeleble, es la tarea de la experiencia.“ 32 Ebd., S. 10 (e. Ü.): „La palabra viva con el aliento de la verdad. Pues que la mentira cae pesadamente, es una sentencia de muerte. Muerta ella misma ya. Sólo por esa su falta de aliento se la reconocería. Y así, el que la profiere ahueca la voz, hace un vacío donde resuena sin eco y ha de reiterarla una y otra vez. O con voz neutra sin la menor vibración, la sirve inapelable y fantasmalmente.“ 33 Bachelard, Gaston: Poetik des Raumes [1957]. Frankfurt a. M.: Fischer 13. Aufl. 2020, S. 8, 13. pamérica-Verlag. Dieser Einleitungstext steht in einigem Zusammenhang mit den Waldlichtungen, nicht nur weil die Publikation auf das gleiche Jahr datiert; Zambrano legt in diesem Text auf eindrucksvolle Weise die tiefe Verbindung von Erfahrung, Wahrheit und Sprache in ihrem Denken offen, welche auch die Waldlichtungen durchdringen: „Aus der relativen Wirklichkeit die fortdauernde Wahrheit zu entnehmen; aus der vermischten Substanz die unauslöschliche Es‐ senz - das ist die Aufgabe der Erfahrung.“ 31 Träger dieser Erfahrung aber ist das Wort: Das lebendige Wort mit dem Atem der Wahrheit. Denn die Lüge stürzt bleiern hinab, ist ein Todesurteil. Selbst schon tot. Allein an der Atemlosigkeit würde man sie er‐ kennen. So höhlt die Stimme aus, wer sie ausspricht, und schafft eine Leere, in der sie ohne Echo ertönt. Und so muss er sie ein ums andere Mal wiederholen. Oder er bedient sich einer gleichgültigen Stimme, ohne das geringste Zittern, unabwendbar und ge‐ spenstisch. 32 Erfahrung ist für Zambrano ein gleichermaßen metaphysisches wie sprachliches Erleben, sie ist Vision - Offenbarung. In ihr begegnet der der Mensch nicht nur der Wirklichkeit, sondern reflektiert sich selbst in dieser Wirklichkeit mit. Diese Erfahrung lässt sich jedoch nur in einem wahrheitsvoll lebendigen Wort ma‐ chen, das Lücken und Leerstellen in die Diskurse schlägt, in denen sich ihr Echo vernehmen lässt. Die Erfahrung wird in der Kontemplation möglich, wie Walter Benjamin sie darstellt: als „Verzicht auf den unabgesetzten Lauf der Intention“ und als ein „unablässiges Atemholen“. So wird bei Zambrano die Atemlosigkeit einer unerbittlichen Mechanik, in der Sprache reine Wiederholungssprache ist, zum Todesurteil für die Wahrheit. Erfahrung liegt in der dichterischen Sprache und im dichterischen Bild; sie ist Vernehmen des Nachklangs, in dem schon nichts mehr gesagt und die Luft noch erfüllt von der Stimme ist. „In diesem Widerhall bekommt das dichterische Bild eine Klangfülle des Seins“ und fordert zu einer „Vertiefung unseres eigenen Daseins auf “ 33 , schreibt Gaston Bachelard 125 1 María Zambrano: Claros del bosque 34 Zambrano: La experiencia de la historia (después de entonces), S. 19 (e. Ü.): „Toda la ex‐ periencia tiene algo de revelación por muy en la relatividad de lo humano que se dé. Justamente por andar entre la relatividad necesita el hombre de la revelación de las verdades que rondan y ruedan mientras no se las revive. Experiencia es revelación y es historia […] El hombre necesita darse a ver y verse él mismo, en su rostro verdadero. Y ello no puede lograrlo por la sola acción, ni siquiera la sangre sola podría. La revelación entre todas se da en la palabra y por ella.“ 35 Vgl. Gómez Blesa: Introducción. In: Zambrano, María: Las palabras del regreso. Cátedra 2009, S. 28 ff. 36 Zambrano, María: Los bienaventurados, S. 12 (e. Ü.): „Visión es imaginación, o, aún peor, fantasía! “ in der Poetik des Raumes. Hier vollzieht sich die Erkenntnis eines ‚In-der-Welt-Seins‘ in der Selbstentblößung durch das kontemplative Wort: Jede Erfahrung hat etwas von einer Offenbarung, so sehr sie sich auch in der Relativität des Menschlichen abspielt. Gerade weil er in der Relativität wandelt, bedarf der Mensch der Offenbarung der Wahrheiten, die umherstreifen und herumspuken, wenn er sie nicht zu neuem Leben erweckt. Erfahrung ist Offenbarung und ist Ge‐ schichte. […] Der Mensch muss sich zu erkennen geben und sich selbst sehen, in seinem wahren Antlitz. Und das kann er nicht durch die Aktion allein erreichen, nicht einmal durch sein Blut. Die wirkliche Offenbarung gibt sich im Wort und durch das Wort. 34 Diese Überlegungen geben schon den Blick frei auf das, was man als intellek‐ tuelles Lebensprojekt Zambranos bezeichnen mag: die Entwicklung eines sprachlichen Ausdrucks, der als ‚lebendiges Wort‘ (la palabra viva) Sprache zum Träger einer solchen Wahrheitserfahrung macht. Es ist der Ausdruck einer an‐ deren, vergessenen und verdrängten Form der Vernunft, einer ‚razón poética‘. Das ‚Sein‘ kommt hier in der Offenbarung ,zur Sprache‘, und das Wort wird als Vision zu einer Offenbarung des ‚Seins‘. Ausdruck dieser ‚razón poética‛ ist eine komplexe Metaphorik, in der sich jede feste Begrifflichkeit auflöst. Zambrano pflegt diesen Stil vor allem ab ihrer zweiten Schaffensperiode, etwa von 1960 an. 35 Der visionäre Tonfall der Texte mit ihren starken Bezügen zur Mystik mag ein Grund für die zögerliche Rezeption gewesen sein. Zambrano selbst beklagt sich jedenfalls über das fehlende Verständnis von Seiten der akademischen Phi‐ losophie, wenn sie im Vorwort zu Los bienaventurados schreibt: Derjenige, der eine Vision habe, sei im Bereich des Denkens noch immer suspekt. „Vision ist Einbildung, oder, noch schlimmer, Fantasie! “ 36 Dabei ist die ‚razón poética‘ eine philosophisch fundierte Auseinandersetzung mit einer Vernunft, die, so der Vorwurf, nur noch um sich selbst kreist, und einer Philosophie, die nichts weiter vermag, als sich selbst zu bestätigen. Zambrano sieht Offenbarung oder Vision 126 III. Praxis 37 Vgl. ebd., S. 30. 38 Vgl. Dorang, Monique: Die Entstehung der ,razón poética‘ im Werk von María Zam‐ brano. 39 Vgl. Zambrano, María: [FyP] Filosofía y poesía [1939]. México, D. F.: Fondo de Cultura Económica 1993, S. 13 ff. 40 Vgl. ebd., S. 14. 41 Ebd., S. 14 (e. Ü.): „la salida a un mundo nuevo de vida y conocimiento.“ hingegen als ontologische Praxis. Die Vision ist eng mit dem ‚Sein‘ verbunden, schreibt sie in Los bienaventurados, denn keine Erfahrung des Lebens sei ohne das ‚Sein‘ vorstellbar. 37 Vision ist Offenbarung des ‚Seins‘. . 1.1.3 ‚Razón poética‘ - eine Metaphysik der Dekonstruktion Ähnlich wie Heidegger geht es Zambrano darum, ‚Sein‘ neu zu denken, und auch sie kritisiert dabei ein Fehlgehen der abendländischen Philosophie. Dabei schließt sie sich jedoch nicht Heideggers Philosophie an. Trotz einiger Parallelen deutet sie den Begriff des ‚Seins‘ anders: Während er für Heidegger Zentrum seines Philosophierens ist, wird er für Zambrano suspekt. Gegen das von den Philosophen erwogene ‚Sein‘ führt sie das Konzept einer ‚razón poética‘, einer ‚dichterischen Vernunft‘ ins Feld. Monique Dorang hat in ihrer Dissertation die Entwicklung der ‚razón poética‘ im Laufe von Zambranos Schaffen detailliert nachvollzogen, 38 ich möchte daher nur knapp einige Grundzüge für ein besseres Verständnis darstellen. Die ersten theoretischen Auseinandersetzungen beginnt sie bereits 1939; Filosofía y poesía wird zu einem grundlegenden Werk für die ‚dichterische Vernunft‘. Philosophie und Dichtung seien in unserer Kultur in einen Gegensatz gestellt, dabei zeigten beide Seiten für sich jeweils nur die Hälfte der Realität des Men‐ schen, beginnt Zambrano ihre Argumentation. Während wir in der Poesie dem konkreten Individuum begegnen, betrachtet Philosophie den Menschen in seiner universellen Geschichte und seinem ‚Sein-Wollen‘. Seit Platon nun den Streit zwischen diesen beiden Formen des Wortes losgetreten und die Dichter verdammt hat, ist die Poesie an die Randbezirke des Denkens gedrängt worden. 39 Für Zambrano ist dies ein Akt der Unterdrückung mit quasifaschisti‐ schen Zügen; sie spricht von einer „toma de poder“, einer „Machtergreifung“ des philosophischen Denkens. 40 Ihr geht es nun nicht so sehr darum, die Ge‐ schichte des Streits zwischen Philosophie und Dichtung darzustellen; vielmehr soll ein Horizont aufgezeigt werden, in dem sich dieser Konflikt lösen könnte. Jener Horizont, die Versöhnung der beiden Formen des Worts und des Wissens, wäre ein „Aufbruch in eine neue Welt des Lebens und des Wissens“. 41 Auch wenn die Kritik an der Philosophie bei Zambrano mitunter harsch ausfällt, geht sie 127 1 María Zambrano: Claros del bosque 42 Vgl. Ortega Muñoz, S. 53. 43 Vgl. ebd., S. 54 f. 44 Vgl. ebd., S. 55. 45 Zambrano: FyP, S. 99 (e. Ü.): „el aludir a algo, a un lugar, a un tiempo fuera del tiempo, en que el hombre fue otra cosa que hombre. Un lugar y un tiempo que no puede precisar en su memoria, porque entonces no había memoria, pero que no puede olvidar, porque tampoco había olvido. Algo que se ha quedado como pura presencia bajo el tiempo y que cuando se actualiza, es éxtasis, encanto.“ 46 Zambrano schreibt Filosofía y poesía im mexikanischen Exil in der Stadt Morelia, an nicht dazu über, nun das poetische Wort seinerseits über das philosophische zu erheben. Was sie anstrebt, ist eine Restituierung des Rechts der Dichtung und um ein Zusammenwirken aller Erkenntnisorgane, die dem Menschen zur Ver‐ fügung stehen. Der Zambrano-Forscher Juan Fernando Ortega Muñoz umreißt das Projekt ‚razón poetica‘ als solch ganzheitlichen Versuch des Erkennens: Die Suche nach der Wahrheit lässt sich nicht nur mit einer Fähigkeit vollziehen; dies bedeutete eine Verringerung und Verarmung der Kapazitäten unseres Bewusstseins. Vielmehr müsse der ganze Mensch auf all seine möglichen Kommunika‐ tionsorgane zurückgreifen. 42 Die Philosophie Zambranos, so Ortega Muñoz weiter, bewege sich zwischen den Fragen und Anliegen ihrer Zeit, in dem Ver‐ such, den vollständigen Menschen (hombre completo) wiederzuerlangen, ein‐ schließlich all dessen, was im Laufe der Geschichte gering geschätzt und vom Rationalismus verachtet wurde. 43 Dabei geht Zambrano von einem ursprüngli‐ chen gemeinsamen Hintergrund aus. So könne auch der Unterschied zwischen Philosophie und Dichtung nur aufgrund einer vorhergehenden Einheit be‐ stehen; beide haben den gleichen Ursprung. 44 ‚Razón poética‘ ist für Zambrano die Wiederherstellung der verloren gegangenen Liebe in der ,Philo-sophie‘ und die Wiederkunft eines ganzheitlichen Wissens in der Sprache. Daher taucht sie ein in die Matrix des Worts, des Logos, bevor es sich in seinem Ausgedrücktsein zersplittert in die unterschiedlichen Diskurse. In Filosofía y poesia beschreibt sie diese Matrix als „einen Ort und eine Zeit außerhalb der Zeit, als der Mensch noch etwas anderes als Mensch war, die er in seiner Erinnerung nicht genau angeben kann, weil die Erinnerung noch nicht war, aber die er nicht vergessen kann, weil es auch noch kein Vergessen gab. Etwas, das als reine Gegenwart unter der Zeit verborgen geblieben ist und das, wenn es als diese Gegenwart neu erscheint, Ekstase, Verzauberung ist.“ 45 Um nichts Geringeres geht es Zam‐ brano als um die Suche, nicht nach einem Wort, sondern nach dem Wort: Bann jenes Paradieses, Ausdruck, der jedes Ausgedrücktsein aufhebt. Das Vorhaben ist paradox und bleibt ohne konkreten Ort, ein Horizont; eine Utopie, aber kein Nirwana. 46 Denn die Einheit bedeutet für Zambrano nicht Aufhebung, sondern 128 III. Praxis dem Ort also, an dem der erste Bischof der Region Michoacán, Vasco de Quiroga, dem Utopia Thomas’ Morus auch einen realen Ort verleihen wollte. 47 Zambrano: FyP, S. 29 (e. Ü.): „La unidad jamas es completa, porque ha de ser referida continuamente a ,lo otro‘. Lo que es, hace alusión constantemente a ,lo otro‘ que él es, y aun a lo que no es, sin más. La unidad, compañera inseparable del ser, no reside íntegramente en ningún ser, sino úicamente en el todo.“ (Hervorhebung durch die Au‐ torin.) 48 Russell, Bertrand: Philosophie des Abendlandes. München: Piper 2004, S. 306. 49 Ebd., S. 307. Harmonie der Gegensätze. ‚Sein‘ betrachtet sie als ‚Gegensätzlich-Sein‘. Dazu schreibt Zambrano in Filosofía y poesía: Die Einheit ist niemals vollkommen, weil sie ständig auf ,das Andere‘ bezogen werden muss. Was ist, spielt immer an auf ,das Andere‘, das es ist, und sogar auf das, was nicht ist. Die Einheit, untrennbare Gefährtin des Seins, wohnt nicht voll und ganz im Sein, sondern nur im Ganzen. Nur die Harmonie der Gegensätze ist. 47 Zambranos Erwähnung einer jenseits aller Zeitlichkeit stehenden Einheit als Harmonie der Gegensätze muss in Anlehnung an Plotins Vorstellung höchster Göttlichkeit verstanden werden. Der neuplatonischen Auffassung nach ist ‚das Eine‘ (‚to hen‘) absolut transzendentes Prinzip, das keine gedanklichen Diffe‐ renzierungen erlaubt; insofern steht es auch jenseits der Kategorien von ‚Sein‘ und ‚Nicht-Sein‘. Zambranos Vorwurf an Platon ist im Grunde der, vom Höch‐ sten gesprochen zu haben, als könnte man in dieser Weise von ihm sprechen. Als diskursive Strategie verortet sich jedoch seine Rede bereits in einer Sphäre des Geistes, des ‚Nous‘, der bereits Differenzierungen zulässt. Vom ‚Sein‘ als ‚dem Einen‘ zu sprechen usurpiert also gewissermaßen das Höchste. Nach neu‐ platonischer Auffassung lässt sich nur davon schweigen. „Das Eine ist uner‐ klärbar; wenn man schweigt, kommt man der Wahrheit darüber näher, als alle Worte es vermögen.“ 48 Eine Möglichkeit der Erfahrung des ‚Einen‘ besteht in der Kontemplation des eigenen Selbst, einer Seelenschau also, in der das Höchste hindurchscheint. Die Erfahrung des absolut Göttlichen ist möglich; doch weil sie Ekstase und Verzückung ist, können wir in dieser Berührung „nicht ver‐ nünftig denken, noch unsere Schau in Worte fassen; das kommt später“. 49 Der Neuplatonismus wirft die Frage nach diesem ‚Später‘ als die einer Problematik des Sprechens auf. Als Antworten gehen aus ihr die europäische Mystik und die negative Theologie hervor. Die Mystik versucht, das plötzliche ‚Empfangen des Lichts‘ metaphorisch zu vermitteln; die negative Theologie versucht, ‚das Eine‘ im Anschluss an Proklos, einen Schüler Plotins, durch Negationen zu er‐ schließen. 129 1 María Zambrano: Claros del bosque 50 Vgl. L. Aranguren, José Luis: San Juan de la Cruz. Madrid: Ediciones Jucar 1973, S. 75 ff. 51 Vgl. L. Aranguren: San Juan de la Cruz, S. 31 f. María Zambrano folgt einem Ansatz, der visionäre Inspiration und kritische Negation miteinander verbindet und sich darin stark an den spanischen Mys‐ tiker und Kirchenlehrer Johannes vom Kreuz anlehnt. Für San Juan de la Cruz liegt die Ganzheits- oder Gotteserfahrung nicht in einem ekstatischen Glückserleben, sondern in einem mühsamen und schmerzvollen Weg, der in der Nach‐ folge Christi durchlitten werden muss: Dabei muss der Suchende sich frei ma‐ chen von allen weltlichen Gelüsten. Es handelt sich dabei nicht um ein einfaches Rückzugszenario hinter Klostermauern, sondern um den Versuch einer voll‐ kommenen Loslösung, sowohl von weltlichen Sinneseinflüssen, als auch von inneren Ablenkungen, wie Wille und Einbildungskraft. Der Mensch wird um‐ fangen von einer Nacht der Sinne und des Geistes (‚Noche del sentido‛ und ‚Noche del espíritu‛). 50 Denn Gott lässt sich nur gänzlich entblößt, in einer Nacktheit des Geistes, einer „desnudez del espiritu“ empfangen. Die mystische Ekstase ist nur ein möglicher Moment innerhalb eines asketi‐ schen Prozesses, auf den San Juan eigentlich sein Augenmerk legt. Die Askese ist beschwerlich und schmerzvoll und San Juan bezieht sich allegorisch auf sie als Subida del monte Carmelo (Aufstieg auf den Berg Karmel) und im Cántico espiritual als Liebesqual der ‚Esposa‛ die sich nach Vereinigung mit dem ‚Esposo‛ sehnt Wie L. Aranguren schreibt, ist die Askese eine Anstrengung (esfuerzo), um das Erotische an die Realität gebunden zu lassen, im Gegensatz zum eksta‐ tischen Moment, der selbst der Realität entrissen ist. Darin ist sie also auch Ausdruck der Liebe: die Ekstase bedarf der Liebe als erdende Kraft, die histori‐ sche Kontinuität und Verantwortung garantiert. San Juans Mystik erkennt die Bedeutung der Geschichte und der Realität; ihr geht es darum, sich in der Welt zu verorten, nicht nur den trancehaften Augenblick zu erstreben, sondern mit größter Opferbereitschaft einer Praxis zu folgen. 51 . Beides, ekstatische Hingabe oder Loslösung, sowie strebendes Bemühen, Erleiden und Sich-Abarbeiten finden als Zweiheit des Ausdrucks einen Niederschlag in San Juans schriftstel‐ lerischem Schaffen. Sie begründen eine Polarität von extatischer Offenbarung und rationaler Kritik, die das Mysterium in einer Verborgenheit hält und gerade dadurch dem Menschlichen zugänglich macht; eine Polarität zwischen göttli‐ cher Eingebung und menschlichem Verstehen, zwischen der Offenheit des Him‐ mels und dem Sich-Zurückstellen in das Bergende der Erde: so erhalten San Juans inspirierte Gedichte, wie etwa der Cáncico espiritual einen Kommentar, der die Bilder zu erklären versucht, in dem sie jedoch nie ganz aufgehen. Die Beziehung zwischen Poesie und Prosa ist zirkulär und führt von der Dichtung 130 III. Praxis 52 Vgl. Ruiz, Federico: Místico y maestro. San Juan de la Cruz. Madrid: Editorial de Espiri‐ tualidad 1986, S. 40. 53 L. Aranguren, José Luis: San Juan de la Cruz. Madrid: Ediciones Jucar 1973, S. 41 (e. Ü.): „Se descubre así a través de su dualidad, la unidad profunda, aunque rota, poesía-co‐ mentario. […] las obras de San Juan no consisten ni en poemas ni en tratados de teología mística, sino en ese género único que es el poema-con-su-comentario.“ 54 Ebd., S. 42 (e. Ü.): „Es imposible, pero hay que intentarlo. Y el intento es, precisamente, la poesía.“ 55 Ruiz, S. 51 (e. Ü.): „Somete la experiencia personal a un proceso de depuración y en‐ sanche, de donde resulta una experiencia: autobiográfica, retrospectiva, enriquecida, generalizada.“ zu ihrer Auslegung, und wieder zurück zur Dichtung und so fort. 52 L. Aranguren setzt diesen Lektürekreislauf in den thematischen Kontext einer Inkommensu‐ rabilität der Sprache, die nur über ihre innere Supplementarität auf die Einheit anspielen kann: „Über ihre Dualität entdeckt sich so ihre tiefgehende, jedoch in sich gebrochene Einheit, Poesie - Kommentar […]. Die Werke des Heiligen Jo‐ hannes bestehen weder aus Gedichten, noch aus Abhandlungen über mystische Theologie, sondern aus jenem einzigartigen Genre des Ge‐ dicht-mit-seinem-Kommentar.“ 53 Diese Zweiheit des Ausdrucks ist selbstreflexiv und performativ, wie L. Aranguren darstellt: denn Juan vermittle damit den In‐ halt und gleichzeitig dessen Vermittlung selbst (lo comunicado y la comunica‐ ción). Dieses Unterfangen wird von Juan der Unmöglichkeit zum Trotz unter‐ nommen: „Es ist unmöglich, aber man muss es versuchen. Und der Versuch ist genau die Poesie.“ 54 Die Verbindung von Dichtung und Ratio in San Juans Schaffen ist sicherlich eine der wichtigsten Inspirationssquellen für María Zambrano und die Ent‐ wicklung ihrer ‚razón poética‛. Dabei spielt die Transzendierung des persönli‐ chen Erlebens eine übergeordnete Rolle. In Verbindung mit dem freien, assozi‐ ativen Umgang mit biblischen und kirchlichen Quellen besteht gerade in der versuchhaften dichterischen Gestaltung, sowie im Hinausgehen über das Au‐ tobiografische ein Momentum poetischer Essayistik im Werk San Juans. Fe‐ derico Ruiz spricht von einer Desindividualisierung der eigenen Erfahrung und deren Remodellierung in universelleren Zusammenhängen: „Er unterwirft die persönliche Erfahrung einem Prozess der Läuterung und Verbreiterung [depu‐ ración y ensanche], woher eine [neue] Erfahrung rührt: autobiografisch, retro‐ spektiv, bereichert, generalisiert.“ 55 Wichtig ist, dass der Weg der Askese auch ohne das visionäre Ereignis selbst schon Mystik ist; eine tiefe Versenkung in den Glauben, zu dem auch der Glau‐ benszweifel, sowie die Erfahrung scheinbarer Gottesferne gehört. Das visionäre Ereignis steht hingegen als plötzlicher Wissenseinfall dieser Glaubenshoffnung 131 1 María Zambrano: Claros del bosque 56 Vgl. L. Aranguren: San Juan de la Cruz, S. 80. 57 Vgl. Ruiz, S. 79. 58 Ebd., S. 34 (e. Ü.): „Dios, para San Juan de la Cruz, está siempre ‚escondido‛ y sólo en medio del vacío, la desnudez, la soledad, hay mística.“ und Glaubens-sehnsucht als eigentlich abträglich gegenüber. Die Askese des reinen Glaubens weist daher in letzter Konsequenz die plötzliche Ergriffenheit vom Numinosen als ablenkende Affektion der Seele zurück. L. Aranguren weist auf die enorme kulturgeschichtliche Bedeutung dieses Aspekts hin: Das religiöse Leben im Spanien des 16. Jh. sei von alltäglichen Mirakeln, Visionen, Stimmen und Erscheinungen aller Art geprägt und die Verneinung dieser Gotteserfah‐ rungen für die Zeit daher ein wahres Skandalon. 56 Die Mystik San Juans ist also nicht nur als individueller Läuterungsprozess der Seele zu verstehen, sondern auch allgemeiner, als Reinigung einer von Wunderglauben überfrachteten und verzerrten Religiosität. In dieser Hinsicht steht sie komplementär zum weltli‐ chen Projekt der Reinigung eines von Büchern überquellenden und die Reali‐ tätserfahrung verstellenden Humanismus des Zeitgenossen San Juans, Michel de Montaigne. In beiden Fällen geht es um eine Rückbesinnung auf das Wesentliche in einer paradoxen Figur; der Rettung des Bücherwissens durch die Zerstörung der Bü‐ cher, bzw. der Suche nach der Präsenz des Göttlichen in der Abwesenheit Gottes. Grundlage dafür ist eine Meditationslogik, nach der die mystische Erfahrung eines Objekts oder Mediums bedarf, über das meditiert, das aber nicht selbst Inhalt der Meditation werden darf. Vielmehr geht es es in der Übung darum, dieses Medium zu ‚vergessen‛ und es zu transzendieren. 57 Auf diese Weise tran‐ zendiert Montaigne die Verlorenheit im Gewirr der Bücher, wie San Juan die Leere der Gottesferne. Die Mystik liegt in der Versenkung in das Entzogen-Sein Gottes, das Verlassenheits- und Verlorenheitsgefühl. Denn „Gott ist für San Juan de la Cruz immer ‚verborgen‛ und nur in Mitten der Leere, der Nacktheit, der Einsamkeit, gibt es Mystik.“ 58 Der Suchende befreit sich dafür schrittweise durch eine Reihe von Negationen von aller weltlicher Affektivität und allen partiku‐ laren Wahrnehmungen; ein Prozess, den San Juan als ‚Noche activa‛ bezeichnet. In der schließlichen Nacktheit der Seele tritt er dann in die ‚dunkle Nacht‛ - die ‚Noche oscura‛. Nur in diesem Nichts, dem ‚nada‛, liegt also die Möglichkeit der Erfahrung des Alles und der Einheit, des ‚todo‛ - in der durch Negation und Verwerfen und Verzicht erzielten Leere liegt die Fülle Gottes. Federico Ruiz be‐ schreibt die ‚negación sanjuanista‛ als eine Art Filter, mit Hilfe dessen der Mensch Stück für Stück sein Eigeninteresse aufgibt, bis nur noch das wahrhaft Göttliche übrig bleibt, das die Negation nicht abhalten kann. Ziel ist dabei die völlige Hingabe an Christus. „Das ‚Verneinen‛ des San Juan de la Cruz ist nicht 132 III. Praxis 59 Ruiz, S. 88 (e. Ü.): „el ‚negar‛ de san Juan de la Cruz no equivale al negar en lenguaje corriente nuestro. […] Negación, desasimiento, desposesión, salir de sí … Es el lenguaje de la conversión mística.“ (Hervorhebungen durch den Autor). 60 Ruiz, S. 228 (e. Ü.): „Se le han apagado todas las luces de la mente y del corazón. Personas, doctrinas y cosas se vuelven insulsas: no saben a nada, no dicen nada. Se reducen a pura máscara. Los propios ideales, motivos, compromisos, pierden todo sentido y valor. La propia vida se le escapa de las manos.“ 61 Vgl. ebd., S. 89. 62 Vgl. Ruiz, S. 91. 63 Vgl. Teuber: Sacrificium auctoris, S. 140. gleichzusetzen mit dem Verneinen des heutigen Sprachgebrauchs. […] Negation, Loslassen, Besitzaufgabe, Herausgehen aus sich … Dabei handelt es sich um eine Sprache der mystischen Verwandlung.“ 59 Die Verneinung ist Selbstopferung verstanden als Fegefeuer und ‚Noche oscura‛: diese, so Federico Ruiz, übersteigt alles theoretisch doktrinale Wissen von Prüfungen, die Gott den Seinen aufer‐ legt. Was dem Menschen nun geschieht, sei doktrinal nicht zu erklären: „Ihm sind alle Lichter des Geistes und des Herzens erloschen. Menschen, Doktrinen und Dinge werden ihm fade: Sie schmecken nach nichts, sie sagen ihm nichts. Sie werden zur bloßen Maske. Selbst die Ideale, Gründe, Versprechungen, ver‐ lieren jeden Sinn und Wert. Das Leben selbst entgleitet den Händen.“ 60 Doch das Erleiden dieses Purgatoriums im Leben, die Gottferne, betrachtet San Juan als indirekte Kommunikationsform mit Gott, der sich dem Menschen nicht in seiner wahren Gestalt offenbaren kann. Wer versucht, auf direktem Weg zu ihm vorzudringen, ist geblendet und steht nur vor dem Nichts. Gott kann sich dem Menschen nur in Verkleidungen und Verhüllungen darbieten, wie etwa in der poetischen Metaphorik. Wem die Fähigkeit der Transzendierung in der Ne‐ gation fehlt, betrachtet nichts als die oberflächlichen Verhüllungen. 61 Nur die Transzendierung des Mediums kann den Mystiker Gott also indirekt näher bringen. Bei der ‚negación sanjuanista‛ handelt es sich um eine Technik, auch das religöse Wort zu verwerfen und zu zerlesen, um zu seinem wahren Gehalt vorzudringen. Das Wort ist also beides: es verstellt Gott und ist gleichermaßen ein (Um-)Weg zu Gott. Die Wahrheit offenbart sich nur in der Negativität, die aufgrund der Erbsünde nur im Schmerz zur menschlichen Wahrnehmung ge‐ langt. 62 Bernhard Teuber skizziert eine Verbindungslinie von der negativen Theologie bis zu den Wegbereitern postmodernen Denkens. 63 Insofern lassen sich auch poststrukturalistische Ansätze als Fortsetzung jenes Sprachspiels betrachten, das die Ganzheit in der Negativität zu erkennen versucht. Derridas Bekenntnis eines Strebens nach der Totalitätsschau im Exzess des ‚+n‘ wäre ein Hinweis darauf. Zambrano erinnert in ihrem Schreiben an etwas, das uns als Wider‐ 133 1 María Zambrano: Claros del bosque 64 Zambrano: FyP, S. 25 (e. Ü.): „pero hay algo en el hombre que no es razón, ni ser, ni unidad, ni verdad - esa razón, ese ser, esa unidad, esa verdad.“ (Hervorhebungen durch die Autorin.) 65 Ebd. (e. Ü.): „Reconocida la primacía del ser y afirmado que el ser es unidad, ya no le quedaba al hombre sino desprenderse violentamente - violentando y violentándose - de todo lo que no es ella.“ 66 Ebd., S. 33 (e. Ü.): „la palabra puesto en servicio de la embriaguez.“ 67 Ebd., S. 45 (e. Ü.): „[Frente] a la unidad descubierta por el pensamiento, la poesía se aferra a la dispersión. Frente al ser, trata de fijar únicamente las apariencias. Y frente a la razón y la ley, la fuerza irresistible de las pasiones, el frenesí. Frente al logos, el hablar delirante. spruch erscheint: den gemeinsamen Ursprung von Mystik und Dekonstruktion, von Metaphysik und ihrer Kritik in einer Sprachproblematik. Ihre Kritik an Platon und der Tradition abendländischer Metaphysik, die auf ihn zurückgeht, zielt also nicht gegen dessen grundsätzliches Sprechen vom Höchsten, sondern gegen ein ‚falsches‘, das heißt ein irrtümliches und illusionäres Sprechen. Damit beginnt eine ‚Machtergreifung‘ des philosophischen Diskurses, der ‚das Eine‘ als ‚Sein‘ deutet und das fundamental ‚Andere‘ ausschließt. „Dabei gibt es etwas im Menschen, das weder Vernunft, noch Sein, noch Einheit oder Wahrheit ist - jedenfalls nicht diese Vernunft, dieses Sein, diese Einheit und diese Wahrheit.“ 64 Für Zambrano beginnt somit ein fataler Weg von Gewalt und Unterdrückung in der Geschichte der Philosophie. „Als die Vorherrschaft des Seins erst einmal anerkannt war und behauptet wurde, das Sein wäre eine Einheit, blieb dem Menschen nichts anderes übrig, als sich mit Gewalt - Gewalt auch gegen sich selbst - loszureißen von allem, was sie nicht ist.“ 65 Der philosophische Diskurs in Platons Tradition werde nicht nur der Wirklichkeit nicht gerecht, er versehre auch den Menschen. Platon habe die Philosophie eigentlich als Weg der Freiheit konzipiert; die Republik sollte als Werk der menschlichen Vernunft Schutz bieten vor der Tyrannei der Götter. Der Dichter habe für ihn zu sehr im Bund mit den unberechenbaren Kräften dieser Götter gestanden, denn Dichtung sei „das Wort im Dienst des Rauschs.“ 66 Der Dichter ist Besessener, der sich selbst nicht mehr gehört, sondern sich fortreißen lässt von einer Macht, die ihm Herz und Zunge rührt. Während der Philosoph nach dem ‚Sein‘ als vernunftmäßige Einheit strebt, lebt der Dichter mit und von den flüchtigen Erscheinungen. [Gegen] die vom Denken entdeckte Einheit kettet sich die Dichtung an die Dispersion. Gegen das Sein versucht sie, die Erscheinungen festzuhalten. Und gegen Vernunft und Gesetz, die unwiderstehliche Kraft der Leidenschaften, die Raserei. Gegen den Logos das wahnhafte Reden. Gegen die Wachsamkeit der Vernunft in der Obhut des Philo‐ sophen, die immerwährende Trunkenheit. Und gegen das Zeitlose das, was sich schafft und wieder auflöst in der Zeit. 67 134 III. Praxis Frente a la vigilancia de la razón, al cuidado del filósofo, la embriaguez perenne. Y frente a lo atemporal, lo que se realiza y desrealiza en el tiempo.“ 68 Vgl. ebd., S. 62. 69 Zambrano: Notas de un método, S. 63. 70 Vgl. Ortega Muñoz, S. 41. 71 Vgl. Zambrano: FyP, S. 22: „la realidad poetica no es sólo la que hay, la que es; sino la que no es; abarca el ser y el no ser.“ 72 Vgl. ebd., S. 57. 73 Ebd., S. 18. 74 Ebd., S. 57. Der Dichter steht näher an der Form von Einheit, die das ‚Andere‘ zu integrieren weiß, denn Dichtung ist für Zambrano jenes Bewusstsein, das die menschliche Widersprüchlichkeit am besten abbildet. 68 Widersprüchlichkeit ist dabei als eine Art Phänomenologie der fundamentalen ‚Andersheit‘ (‚otreidad‘) zu deuten, welche das ‚Sein‘ bestimmt. „Der Mensch ist die Andersheit“, schreibt Zambrano in Notas de un método. 69 In der Interpretation von Ortega Muñoz bedeutet das: Der oder das ‚Andere‘ ist immer ein notwendiger Bezugspunkt für das Selbst. 70 Der ,poetische‘ Teil in der Realität des Menschen schließe die Differenzen, An‐ dersheit und Andersartigkeit mit ein, so wie die Dichtung selbst das ‚Andere‘ der Philosophie ,verkörpere‘. Ihr entspricht eine eigene Weise der Vernunft mit ihrer eigenen Methodik - die ‚razón poética‘. 71 Diese Methodik lässt sich nach Ortega Muñoz folgendermaßen bestimmen: Sie operiert synthetisch statt ana‐ lytisch, ihr Wissen erscheint spontan durch eine Offenbarung und nicht durch Eroberung mittels Gesetz. Statt durch den Zweifel Distanz von ihrem Gegen‐ stand zu nehmen, taucht sie unmittelbar ein in die Welt der Phänomene. 72 Der größte Unterschied in der Methode von philosophischer und dichterischer Vernunft ist aber deren Gewaltlosigkeit. Der Philosoph reißt sich ge‐ waltsam los von den Erscheinungen, die sich ihm offenbaren, um einen mühe‐ vollen Weg zu dem anzustrengen, was er dahinter zu finden hofft. Dadurch entsteht eine Metaphysik des Spaltens und Trennens. Dieser Weg ist „violencia por la verdad“ - Gewalt für die Wahrheit und zur Wahrheit. 73 Zambrano deutet Philosophie als strenge Askese: 74 Beherrschung durch Verzicht. Im Verzicht auf das unmittelbare Geschenk des Lebens, in der Abwendung vom Erstaunen, das ihm die Dinge in ihrem naiven ‚Sein‘ enthüllt, strebt der Philosoph danach, sie festzuhalten; er strebt nach deren Beherrschung, nach der Beherrschung des Wortes selbst und seiner selbst. Weil der Philosoph nicht die Fülle, sondern einen Mangel in der Natur fühlt, versucht er, zur Einheit mit sich selbst zu kommen; so wird die Suche nach dem ‚Selbst‘, dem ‚sí mismo‘, zu seiner Obsession. Er will nicht, wie der Dichter, in der Dispersion der Erscheinungen leben, sondern eins mit sich werden, Wissen sein, das sich selbst besitzt. „Philosophie heißt, sich 135 1 María Zambrano: Claros del bosque 75 Ebd., S. 101 (e. Ü.): „Filosofía es encontrarse a sí mismo, llegar por fin, a poseerse.“ 76 Ebd., S. 98. 77 Ebd., S. 87 (e. Ü.): „Último y decisivo esfuerzo de un ser náufrago en la nada que sólo cuenta consigo. […] El sistema es lo único que ofrece seguridad al angustiado, castillo de razones, muralla cerrada de pensamientos invulnerables frente al vacío.“ 78 Vgl. ebd., S. 112: „referirse a la totalidad de las cosas, no para desprenderse de ellas, sino para afirmarlas. No para evadirnos del mundo, sino para sostenerlo.“ 79 Zambrano: La confesión, S. 10 (e. Ü.): „Dónde está la verdad que la razón moderna ha deparado para el hombre, para el hombre sencillo, para el hombre sin más? “ selbst finden, sich am Ende selbst besitzen“, 75 schreibt Zambrano in Filosofía y poesía, doch das Denksystem, welches er dabei um sich herum schafft, führt in die Isolation und die Einsamkeit. 76 Schließlich ist es der rationalistische Zweifel Descartes, der die Mauern der Abschottung gegen die Welt endgültig zur Fes‐ tung ausbaut. Der rationalistische Zweifel ist Misstrauen gegen die Welt und schafft eine Geisteshaltung der Beklemmung und des Argwohns. Angst und Beklemmung jedoch erzeugen die Notwendigkeit, Halt zu finden im System. So ist das System die „letzte und entscheidende Bemühung des im Nichts schiff‐ brüchigen Seins, das nur noch auf sich selbst zählt. […] Das System ist das Ein‐ zige, das dem Verängstigten Sicherheit gewährt, eine Festung aus Vernunft‐ gründen, ein in sich geschlossener Verteidigungswall aus Gedanken, die unverwundbar gegen das Nichts sind.“ 77 Das geschlossene System des Philoso‐ phen, die Metaerzählung von der Selbstwerdung des Vernunftwesens und vom Willen des Geistes, dampft die Welt ein auf das Maß menschlicher Beklemmung; es ist Ausdruck einer Suche nach Befreiung, die sich jedoch nur innerhalb der Mauern des rational systematisierten Menschen entfalten kann und die das Ideal der Selbstbeherrschung in einer asketischen Zurichtung der Seele zur Selbst‐ verwaltung degradiert. Was Zambrano mit ihrem Denken anstrengt, ist der Versuch des Ausbruchs aus dem Systemhaften; eine Philosophie, die sich nicht abwendet, sondern Welt bejaht und in diesem Sinne umarmt; 78 eine Philosophie für den ganzen Menschen in einer als ganzheitlich gedachten Welt und nicht nur im Dienst des Abzählbaren und Klassifizierbaren. Denn vor allem seit Des‐ cartes hat die Philosophie den Menschen im Stich gelassen, schreibt Zambrano 1943 in La confesión: „Wo ist die Wahrheit, welche die moderne Vernunft für den Menschen, den einfachen, bloßen Menschen bereithält? “ 79 Die Vernunft muss für Zambrano wieder an das Leben zurückgebunden werden. Um diesen Weg aber zu beschreiten, muss das Denken das ‚Sein‘ des Philosophen aufgeben; es muss das ‚Sein‘ vergessen: Der Philosoph erinnert sich an die verlorene Einheit, er bewahrt ihre Reminiszenz und strebt als sich in Einheit selbst Besitzendes zu ihr zurück. Doch dabei verkennt er, dass Einheit in dieser Welt unerreichbar bleibt und auch ein Besitzen seiner selbst und in sich 136 III. Praxis 80 Vgl. Zambrano: FyP S. 45. 81 Vgl. ebd., S. 42 (e. Ü.) „El filósofo quiere poseer la palabra, convertirse en su dueño. El poeta es su esclavo; se consagra y se consume en ella.“ 82 Pagel, Gerda: Lacan zu Einführung. Hamburg: Junius 2. Aufsl. 1991, S. 51. 83 Zambrano: FyP, S. 109 f. (e. Ü.): „No es que no le importara la unidad, no; era injusta la condena. Sino que siempre supo que no la consiguería más que saliéndose de sí, entre‐ gándose, olvidándose.“ 84 Vgl. ebd., S. 111 (e. Ü.): „Olvido de sí que es despertar en lo que nos ha creado, en lo que nos sustenta.“ 85 Ebd., S. 115. selbst nicht möglich ist. Der Dichter, schreibt Zambrano, weiß das und vergisst daher, was der Philosoph erinnern will. 80 Er vergisst sein ‚Selbst‘, um sich von einem höheren Standpunkt aus zu besitzen. Der Weg des Dichters wäre es also, sich selbst nicht mehr in den Bedeutungen von Sprache nachzuspüren, nicht mehr definitorisch zum ‚Sein‘ zu gelangen. Dem Dichter geht es darum, sich selbst in und als Sprache zu erkennen. Die einzig mögliche Form, zu sich zu gelangen, ist für ihn daher, nicht über Sprache im Sinne einer Nutzbarmachung zu verfügen, sondern einzutauchen in die Matrix von Sprache, in ihr aufzugehen, sich von ihr durchdringen zu lassen. 81 Indem im weiteren Verlauf meiner Arbeit der Versuch gemacht werden soll, die Claros del bosque mit den Termini Jacques Lacans zu untersuchen, soll jenes Unbewusstwerden des Subjekts im Vergessen des ‚cogito‘ als Eintritt in jene Matrix von Sprache betrachtet werden. Von dort aus soll zu einem Denken ge‐ langt werden, wo kein ‚Ich‘ (‚je‘) mehr ist, das heißt, wo alle imaginären Bildungen des ‚Ich‘ außer Kraft gesetzt sind und das unbewusste, ‚wahre‘ Subjekt als Sprachlichkeit erscheint. Es geht um die Heraufkunft eines Denkens, das, wie Gerda Pagel es formuliert, „nur dort auftaucht, ‚wo ich nicht bin‘ - in den Lücken und Leerstellen des bewußten Diskurses“. 82 Für Zambrano ist dies der risikoreiche und abenteuerliche Weg einer totalen Auslieferung des ‚Ich‘ in der ‚razón poética‘. Es ist nicht so, dass dem Dichter die Einheit nicht wichtig wäre, schreibt sie: „Vielmehr wusste er, dass er sie nur erreichen könne, indem er aus sich herausgeht, sich ausliefert, sich vergisst.“ 83 Dieses Vergessen bezeichnet Zambrano als ein ‚Erwachen‘ in den Stoff, aus dem der Mensch geschaffen ist 84 - es ist ein Erwachen in die poetische Sprache, das heißt in ein Bewusstsein der ,Möglichkeiten‘, welches die gewaltvollen Bestimmungen des ‚Seins‘ immer wieder überschreitet und sprengt. Denn jedes Sein trägt „als Möglichkeit eine unendliche Vielfalt“ in sich in Bezug auf das, was es jetzt ist. 85 ‚Seinsvergessenheit‘ erfährt als ein Vergessen des ‚Selbst-Seins‘ eine positive Wendung und wird bejaht. Sie bedeutet Vergessen der Superstition der mo‐ dernen Metaphysik der ‚einfachen Einheit‘ und des ‚einfachen Ursprungs‘. Sie 137 1 María Zambrano: Claros del bosque 86 Martínez de la Escalera, Ana María: La razón poética como exiliada. In: González Ulloa, Pablo Armando / Díaz Sosa, Christian Eduardo: María Zambrano. Pensadora de nuestro tiempo. México, D. F.: Universidad Nacional Autónoma de México 2009, 39-48, S. 45. 87 Kimmerle, S. 84. ist Grundzug der ‚razón poética‘, insofern ‚razón poética‘ als Denken der Dis‐ persion aufgefasst werden kann. 86 Ihr Ausdruck ist die ‚Möglichkeitsaussage‘, da sie ‚Sein‘ in dem zu fassen sucht, was es (noch) sein könnte. Das Wort vom Vergessen wählt Zambrano indes nicht zufällig; als Sinnbild für die gewaltlo‐ seste Form des Widerstands gegen herrschende Diskurse sperrt es nicht aus, sondern lässt vielmehr etwas in einer Innerlichkeit verblassen und kann somit auch in der Innerlichkeit wieder erinnert werden. Aus der Perspektive einer Welt, die vollkommen von der Metaphysik des ‚Seins‘ durchdrungen ist, erscheint nun eine Metaphysik, die sich an einer Har‐ monie der Gegensätze orientiert, als Paradox. Sie ist mit modernen Begrifflich‐ keiten kaum zu denken, und dennoch könnten wir ohne diese Begriffe, wie Derrida sagt, heute überhaupt nichts denken. Es ist dabei bereits der Begriff der Einheit selbst, der Probleme bereitet. Denn eine Einheit, die als Bezug zum ‚An‐ deren‘ und als Gleichzeitigkeit von ‚Sein‘ (Präsenz) und ‚Nicht-Sein‘ (Absenz) gedacht wird, erscheint als ihre eigene Kritik und Auflösung. Letztlich stößt Zambrano im Versuch der Erneuerung metaphysischer Spekulation auf eine dekonstruktive Denkfigur, die das ganze Projekt der Metaphysik fraglich er‐ scheinen lässt: Metaphysik versucht, alles aus dem einen einheitlichen Ursprung abzuleiten, insofern argumentiert Zambrano metaphysisch, wenn sie zurück‐ blickt zu einer Einheit des Logos vor dessen Spaltung. Dabei evoziert sie aber eine Einheit, die mit dem begrifflichen Vokabular, das uns zur Verfügung steht, nur als Verneinung des einheitlichen Ursprungs erscheinen kann. In diesem Punkt trifft sich ihr Denken mit den Überlegungen Derridas: im Denken eines Ursprungs, der - zumindest unter dem Blick der Moderne - kein Ursprung mehr ist. Wie Heinz Kimmerle schreibt, unternimmt Derrida diesen Schritt strate‐ gisch, weil er „bei der Vielheit stehen bleiben“ wolle. 87 Sein intimes Bekenntnis im Interview mit Derek Atridge legt jedoch nahe, dass Derrida sehr wohl auf der Suche nach der Einheit ist - unterwegs jedoch auf die Vielheiten stößt, an denen er sich abzuarbeiten beginnt. Beide, Zambrano wie Derrida, stoßen über‐ raschend auf eine Einheit und einen Ursprung, der anstelle der ‚einfachen Ein‐ heit‘ als statische Präsenz eines sich selbst Besitzenden ein dynamisches Ur‐ sprungs- und Wahrheitsgeschehen treten lässt, das sich als Abweichung, Differenz und als paradoxe Gleichzeitigkeit manifestiert: die Präsenz als Absenz und das ‚Selbst-Sein‘ als ‚Anders-Sein‘. Diese Denkfigur unterliegt einigen The‐ orien, die ich hier im Zusammenhang mit dem ‚Essayistischen‘ für bedeutend 138 III. Praxis 88 Vgl. Heidegger, S. 40 ff. 89 Vgl. Lacan, Jacques: Das Seminar II (1954-1955). Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse. Olten und Freiburg: Walter-Verlag 1980, S. 16. 90 Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1978, S. 149 f. halte: zunächst Heidegger, der im Kunstwerk-Essay schreibt, dass die Unver‐ borgenheit ein Geschehnis sei, das auch die Verbergung in sich trage, und dass Wahrheit daher immer auch ‚Un-wahrheit‘ sei. 88 Die Figur ist ebenso bei Lacan und seinem Diktum des ‚Ich ist ein anderer‘ 89 zu beobachten. Und schließlich liegt diese Denkfigur auf invertierte Weise sogar noch Julia Kristevas Kritik an Derrida zugrunde, wenn sie die Frage stellt, „ob die Grammatologie, nachdem sie zunächst die Heterogenität gesetzt hat, in der die ‚Differänz‘ wirkt, dieses Heterogene nicht außer acht läßt, indem sie das Thetische vernachlässigt“, und anmerkt, „daß es unmöglich ist, restlos das Heterogene in der ,Differänz‘ zu konzentrieren“. 90 Ihr Vorwurf an Derrida lautet also im Grunde, das Prinzip von Heterogenität, welches er in der ‚différance‘ vorstellt, sei nicht konsequent zu Ende gedacht; es berücksichtige nicht, dass Heterogenität und Verschiebung auch Identität und Thesis mit einschließen müssen. Mit einer solchen Denkfigur werden traditionelle Begriffsbedeutungen derart aufgelöst oder zumindest über‐ dehnt, bis sie ihre strukturelle Unterscheidbarkeit unterlaufen. Um Missverständnisse zu vermeiden: Es geht mir an dieser Stelle nicht um eine inhaltliche Vergleichbarkeit der aufgeführten Beispiele, sondern lediglich um die Beobach‐ tung einer isomorphen Denkfigur: Einheit muss auch das Differente, Hetero‐ gene, die Nicht-Einheit einschließen. Im Gegenzug ist echte Heterogenität nur vorstellbar, wenn auch die (einfache) Einheit im Spiel der Differenz einen Platz findet. Begriffe werden zu endlos dehnbaren Metaphern für die Widersprüch‐ lichkeit und Volatilität von Bedeutung in der Sprache; sie können nur gedacht werden über das, was sie gerade nicht sind - über die Abwesenheit und ihre Negativität. Man muss sich fragen, zu welchem Zweck und in welcher Absicht ein solches Manöver durchgeführt wird, und darin zeigen sich die große Un‐ terschiede: Einerseits kann der Gedanke der ‚Implosion der Gegensätze‘ auf eine Dekonstruktion, das heißt ein ,Fraglich-Machen‘ metaphysischer Begriffspaa‐ rungen abzielen. Wenn Bedeutung wandelbar ist und sogar das Gegenteil des ursprünglich Ausgesagten beinhaltet, geraten stabile Systeme ins Wanken, die auf Bestimmbarkeit von Binäroppositionen aufbauen. Ebenso gut kann diese Implosion der Gegensätze aber auch eine Restituierung oder sogar Stärkung von Metaphysik bewirken - jedoch auf einer Grundlage, die uns mit unserem heu‐ tigen begrifflichen Denken dekonstruktiv erscheinen muss. An diesem Punkt setzt Zambranos Denken an. Dies geschieht, indem sie das Gegenteil von Ein‐ 139 1 María Zambrano: Claros del bosque 91 Derrida: Grammatologie, S. 28 f. heit, die Heterogenität, zu Einheit umdeutet. Die Einheit wird zur Harmonie von Nicht-Einheit und erfährt ihre Auferstehung im Mantel der ‚Ganzheit‘ - eine für uns heute beinahe sophistisch erscheinende Spitzfindigkeit. Doch selbst wenn wir die Oppositionen gedanklich nicht auflösen, sondern in einer span‐ nungsvollen Harmonie halten, so begreifen wir sie doch vage in einem überge‐ ordneten Konzept, das immer neue Formen der Vorstellung von Einheit produ‐ ziert, unter welchem Namen auch immer wir sie dann fassen: ob als ‚Ganzheit‘, ‚Harmonie‘, ‚Totalität‘, ‚Undifferenziertheit‘ etc. Zumindest der Möglichkeit nach entsteht damit im Grunde ein noch viel radikaleres Einheitsdenken, das nicht mehr auf die Bestimmung von Begriffen und Oppositionen angewiesen ist, sondern diese überlagert, vereinnahmt. Diese Einheit kann problematisch werden; denn die Einheit wäre nun nicht mehr an einen festen Ort gebunden, sondern ubiquitär - sie existierte sogar im Gegensätzlichen, Heterogenen, An‐ deren. Es gäbe gewissermaßen überhaupt kein Entkommen mehr aus der Ein‐ heit, selbst wenn wir sie nicht als Einheitlichkeit begreifen wollen. Und auch gegen solches Denken muss sich der Widerstand des Verdrängten regen. Denn wir können uns nicht sicher sein, ob es bei einer ausgewogenen Harmonie wi‐ derstreitender Elemente bliebe oder ob es am Ende nicht doch zu einer dysto‐ pischen Aufblähung käme, in der die ‚Ganzheit‘ ihr Recht als ‚Einheit‘ rekla‐ mierte; viel totaler diesmal, viel unausweichlicher als jede zuvor gedachte Struktur, weil sie den gewaltvollen Ausschluss des anderen nur geschickter zu tarnen versteht, indem sie ihn vollkommen einfasst. Spricht man dem Gegensatz ab, das fundamental Gegensätzliche zu sein - Kakophonie statt Harmonie -, so wird ein Denken der Heterogenität und letztlich eine begriffliche Differenzie‐ rung unmöglich, auf der unsere Kultur fußt. Derrida hat dieses Grundproblem erkannt, wenn er in der Grammatologie schreibt, ohne metaphysische Begriffe lasse sich heute nichts mehr denken, schon gar nicht deren Kritik: „Wir können auf diese Begriffe um so weniger verzichten, als wir ihrer bedürfen, um die Erbschaft aufzulassen, zu der auch sie gehören. Mit versteckten, beständig ge‐ fährlichen Bewegungen, die immer wieder dem zu verfallen drohen, was sie dekonstruieren wollen.“ 91 Derrida und Zambrano lassen beide ihr Denken mit einer Dekonstruktion einer herrschenden wie herrschsüchtigen Form von Metaphysik beginnen. Daher lassen sich bei beiden zunächst sehr ähnliche Bewegungen beobachten, etwa wenn es um die Kritik hierarchisch strukturierter Oppositionen geht, in denen das Wort über die Schrift oder die Philosophie über die Dichtung erhoben werden. Beide gelangen über diese Dekonstruktion zu einer anderen Art von 140 III. Praxis 92 Zambrano: FyP, S. 74. 93 Vgl. ebd., S. 116. Einheit, auf die sie jedoch einen vollkommen unterschiedlichen Blick entwerfen. Was für Derrida radikale Heterogenität und Differenz ist, erscheint Zambrano als Sphäre einer ‚Diskontinuität‘. Und während Derridas sprachlicher Ausdruck jene „gefährlichen Bewegungen“ sind, „die immer wieder dem zu verfallen drohen, was sie kritisieren“, sucht Zambrano gerade jenes Verfallen und die Hingabe in der Verwendung eines poetischen, unbegrifflichen Ausdrucks; eines Ausdrucks, der sagt und nicht benennt und der damit nicht im Jargon der Iden‐ tität und außerhalb der Reichweite seines Vokabulars liegt. Was Zambrano damit erschafft, ist eine zutiefst widersprüchliche Metaphysik, die sich einerseits in der ‚Ganzheit‘ verabsolutiert, andererseits aber immer am Rand ihres eigenen Zerfalls verläuft, weil die Diskontinuität aus der Perspektive unseres modernen Denkens nicht gedacht werden kann; es benötigt die Kontinuität einer Methode. Und so erscheint die Diskontinuität dem modernen Menschen als Dekonstruk‐ tion ihrer selbst. Mit meinen Überlegungen habe ich zu zeigen versucht, wie Zambrano in einen Raum des Ausdrucks eintaucht, in dem Metaphysik und ihre Kritik struk‐ turell immer weniger unterscheidbar werden. Hier erscheinen Ursprung und Einheit immer mit dem Zweifel an sich selbst behaftet, und der radikalste Zweifel selbst ist noch durchdrungen von einer tiefen metaphysischen Über‐ zeugung. Damit kommt bei Zambrano eine reine Form der Kritik zur Sprache: als Ausdruck, der die Möglichkeit seines Abweichens von sich selbst ist - ‚dif‐ férance‘. 1.1.4 Simulation, Utopie, Exil Zambranos Metaphysik wirkt irritierend, weil sie ihr eine Struktur zugrunde legt, die sich selbst ständig unterläuft. Da der traditionelle Begriff von Einheit des Seins als „Gewalt zur Wahrheit“ suspekt geworden ist, scheint es nun nicht zuletzt auch um eine strategische Operation zur Bewahrung der Idee von Einheit an sich zu gehen. Denn Zambrano geht davon aus, dass der Mensch ohne sie nicht leben kann: „Er braucht die Einheit als Ziel, als Horizont.“ 92 Doch in einer Zeit, in der sich, wie Zambrano im Schlussabsatz von Filosofía y poesía selbst bemerkt, die Wahrheit als partiell erkennt, 93 besitzt der Begriff von Einheit kein Referential mehr, das mit unserem metaphysischen Verständnis gedacht werden könnte. So maskiert Zambranos Rede von der Harmonie der Gegensätze auch eine Abwesenheit; ihre daraus abgeleitete Metaphysik wird zu ihrem eigenen ‚Simulakrum‘. 141 1 María Zambrano: Claros del bosque 94 Vgl. Baudrillard, Jean: Agonie des Realen. Berlin: Merve 1978, S. 14. 95 Ebd., S. 7. 96 Ebd., S. 25. Derrida erscheint unter den Vorzeichen der Agonie des Realen paradoxer‐ weise als der größte Metaphysiker, indem er schafft, was Baudrillard eine „Simulation dritter Ordnung“ nennt. In einer solchen Art der Simulation geht es darum, das Reale durch die Gegenüberstellung eines offensichtlich Nichtrealen nur umso wirklicher er‐ scheinen zu lassen. Die Simulation dritter Ordnung beweist „die Wahrheit durch den Skandal, das Gesetz durch die Überschreitung“ (Baudrillard, S. 34). In der starken Ak‐ zentuierung der ,différance‘ und ihrer klaren Abgrenzung zum Prinzip von Einheit und Sinnpräsenz wird Letzteres nicht aufgelöst, sondern erscheint zumindest noch in seiner Negativität als das ‚Andere der différance‛. Nicht zuletzt aus diesem Grund zieht Derrida die Kritik Kristevas auf sich, die Grammatologie sei „viel zu sehr in den Kategorien und den Wesenheiten des Seienden befangen“ (Kristeva, S. 149). 97 Baudrillard, S. 51. Für Jean Baudrillard haben ‚Simulakrum‘ und ‚Simulation‘ eine zweifache Stoßrichtung. Sie verschleiern als Gegenkraft zur Repräsentation nicht nur, dass sich Zeichen nicht mehr gegen die „Tiefe eines Sinns“ eintauschen lassen, 94 sondern haben auch produktive Qualität. So ist Simulation auch „Generierung eines Realen ohne Ursprung oder Realität, d. h. eines Hyperrealen“. 95 So wie der Simulant im Krankenhaus an sich die realen Symptome einer Krankheit erzeugt, die er nicht hat, verschwimmt bei jeder Simulation die Differenz von real und imaginär. Das Reale wird ersetzt durch Zeichen des Realen, die Zeichen wie‐ derum schaffen eine Hyperrealität, also eine Realität, die es eigentlich nicht (mehr) gibt, die aber nicht mehr von ihr unterscheidbar ist. Ziel, so schreibt Baudrillard, ist es zu kaschieren, „daß das Reale nicht mehr das Reale ist, um auf diese Weise das Realitätsprinzip zu retten“. 96 Zambrano operiert in gewisser Hinsicht ähnlich: Vor dem Hintergrund des Verlusts von Einheit simuliert sie über die Harmonie der Gegensätze eine Einheit, die keine ist, zur Rettung des Prinzips von Einheit an sich, ohne das der Mensch nicht leben kann. Ihre Me‐ taphysik ist, so betrachtet, eine Simulation von Metaphysik, mit all ihrem an‐ geschlossenen Vokabular vom ,Heiligen‘ und ,Göttlichen‘ und behält deshalb immer das Abgründige ihrer eigenen Widerlegung - ein ewiger Kreislauf; denn dieses dekonstruktive Moment im Zusammenfall der Gegensätze in die Har‐ monie treibt wiederum die Simulation an. Sie beginnt, schreibt Baudrillard, mit der Implosion, das heißt mit dem Ineinanderstürzen klassischer Pole: „Überall dort, wo sich die Unterscheidung zweier Pole nicht mehr aufrechterhalten läßt, ganz gleich auf welchem Gebiet […], betritt man das Feld der Simulation und absoluten Manipulation.“ 97 Nicht alle Aspekte des Baudrillard’schen Simulati‐ onsbegriffs lassen sich freilich auf Zambrano übertragen. So träfe der Vorwurf einer Simulation zu Zwecken der politischen Manipulation nicht zu; auch fehlt das Merkmal der rein operational wirkenden, matritzenartig technischen Re‐ 142 III. Praxis 98 Vgl. ebd., S. 9. 99 Vgl. Zambrano: FyP, S. 38. 100 Ebd., S. 116 (e. Ü.): „Quien está tocado por la poesía, no puede decidirse y quien se decidió por la filosofía no puede volver atrás.“ produzierbarkeit der Simulationsprodukte. 98 Doch der Grundgedanke, ein Ver‐ lorengegangenes durch dessen Zeichen zu ersetzen und damit neu zu beleben, bleibt bestehen. Was auf den ersten Blick wirken mag wie ein abwertender Blick auf Zambranos Schreiben, offenbart in Wirklichkeit, wie sehr sie ihr Denken für den von der Moderne erschütterten Menschen entwickelt und in welch starker genuin spanischer Traditionslinie sie damit steht. Denn Zambrano folgt in der Praxis der Einheitssimulation dem „sentimiento trágico de la vida“ Miguel de Unamunos, der in der Gestalt San Manuel Buenos den Tod Gottes durch einen aktiv gelebten Glauben kaschieren lässt und die Gottessimulation als Werkzeug gegen den drohenden Nihilismus einsetzt. Das Bild des Priesters, der selbst den Glauben verloren hat und doch ohne ihn nicht leben kann, bildet den Kern des unamunianischen „tragischen Lebensgefühls“. In diesem Fall ist Simulation (noch) nicht kühle Berechnung. Es ist vielmehr der bewusste Versuch einer Si‐ mulation, der immer auch das tragische Bewusstsein über die Möglichkeit seines Scheiterns enthält, und darin lässt sich auch eine isomorphe Figur in Zambranos Denken beobachten. Die Frage ist, wie glaubwürdig Zambrano den Dichter, Künder der Erscheinungen und der Dispersion, wirklich als Träger einer Ver‐ nunft positionieren kann, welche nach einer wie auch immer gefassten Ganz‐ heitlichkeit und Harmonie eines Urzustands strebt. Und fraglich erscheint nicht zuletzt, wie überzeugt Zambrano selbst von der Möglichkeit der Heraufkunft einer dichterischen Vernunft oder der Einheit aus dichterischer und analytischer Vernunft ist. Mit dem Hintergrund einer Figur wie San Manuel ist es durchaus möglich, dass ihr Philosophieren vielmehr von einem inneren Kampf zeugt, einem Ringen um die Erneuerung einer Metaphysik wider den eigenen Glauben. Der Philosoph, schreibt Zambrano, weiß, dass die Erscheinungen vorüberge‐ hend sind. Daher wendet er sich von ihnen ab und wird belohnt von der Hoff‐ nung, bleibende Wahrheiten festhalten zu können. Auch der Dichter ist sich im Klaren über den Tod der Phänomene. Doch er wendet sich gegen den Trost und die Hoffnung und wählt die Verzweiflung. 99 Zambrano hingegen wählt mit der ‚dichterischen Vernunft‘ weder das eine noch das andere. Sie ist Philosophin, die nicht mehr hoffen kann, und Dichterin, welche den Trost noch nicht hat loslassen können; den Trost des sich Besitzens, den Trost der ‚guten Form‘ und die Hoffnung auf metaphysische Durchdringung von Welt: „Wer einmal von der Dichtung berührt wurde, der kann sich nicht entscheiden, und wer sich einmal für die Philosophie entschieden hat, kann nicht mehr zurück“, 100 schreibt sie am 143 1 María Zambrano: Claros del bosque 101 Zambrano, María: Amo mi exilio. In: Las palabras del regreso. Madrid: Cátedra 2009, 65-67. S. 66 (e. Ü.): „Creo que el exilio es una dimensión esenciál de la vida humana, pero al decirlo me quemo los labios, porque yo querría que no volviese a haber exiliados, sino que todos fueran seres humanos y a la par cósmicos, que no se conociera el exilio.“ 102 Vgl. Gómez Blesa: Introducción (Claros del bosque), S. 32 f. 103 Vgl. ebd., S. 28. Ende von Filosofía y poesía. Dies scheint ihr eigenes Dilemma widerzuspiegeln, irgendwo zwischen Hoffnung und Verzweiflung einen sehr persönlichen Kampf ausfechtend. So ist Zambrano tragische Priesterin des Wortes, die den Verlust des Glaubens an metaphysische Ewigkeitswerte mittels einer neuen, als dyna‐ misches Wahrheitsgeschehen tätig inszenierten Metaphysik zu überlagern ver‐ sucht. So betrachtet, wäre Zambrano also im Zeitalter der Simulation ange‐ kommen. Die Gefahr des Zusammenbruchs schwebt gewissermaßen immer über ihrem Denken, da sie über den neuplatonisch orientierten Einheitsbegriff (die Harmonie der Gegensätze im ‚to hen‘) auch zu einem ‚Sein‘ gelangt, das immer ambivalent, labil, widersprüchlich und gebrochen und damit aber letzt‐ lich auch menschlich bleibt. So unterläuft Zambrano jedoch, gewollt oder unge‐ wollt, auch ihren Begriff von Erfahrung als visionärer Vergegenwärtigung, denn in der Offenbarung jener „fernen Heimat“ (patria lejana) erscheint am Ende nicht die Ganzheit, sondern nur eine Präsenz als das Absente, nicht Gegenwär‐ tige, Andere der Gegenwart - die Spur. Zambrano war sich dieser Tragik sehr bewusst und hat ihr Denken daher an der Erfahrung der Abwesenheit geschult; ‚Exil‘ lautet die Chiffre dafür. Die Re‐ flexion über das ‚Exil‘ ist für Zambranos Werk, gerade in der späteren Schaf‐ fensperiode ab 1960, zentral. Dabei deutet sie ihre persönlichen Erlebnisse immer stärker zu einer zutiefst ambivalenten Welterfahrung des Menschen um. In ihren autobiografischen Schriften Palabras del regreso schreibt sie 1989, zwei Jahre vor ihrem Tod: „Ich glaube, dass das Exil eine grundlegende Dimension des menschlichen Lebens darstellt. Aber indem ich dies sage, verbrenne ich mir die Lippen, denn ich wünschte, es gäbe nie wieder Exilanten, sondern dass alle menschlich und zugleich kosmisch wären, und dass man das Exil nicht kennte.“ 101 Für Zambrano leidet der Mensch an einer Entfernung von sich selbst, unter einem Exil von der Realität; er ist ein vom ‚Sein‘ Ausgeschlossener. 102 Durch das ‚Ausgeschlossen-Sein‘ aus seinem eigenen Ort ist er selbst utopisch, wobei die Utopie als Bewusstsein, keinen Platz auf der Welt zu haben, gleich‐ zeitig seine einzig mögliche Seinsweise darstellt. 103 In ihrem Spätwerk Los bien‐ aventurados unternimmt Zambrano eine Charakterisierung verschiedener Sta‐ dien des ‚Exils‘, die stark an San Juan de la Cruz‛ Stationen der Subida del Monte Carmelo orientiert sind. So ist die erste Stufe die des Flüchtlings (refugiado), der 144 III. Praxis 104 Zambrano: Los bienaventurados, S. 32 (e. Ü.): „Lo propio es solamente en tanto que ne‐ gación, imposibildad. Imposibilidad de vivir que, cuando se cae en la cuenta, es impo‐ sibilidad de morir. El filo entre vida y muerte que igualmente se rechazan. Sostenerse en ese filo es la primera exigencia que al exiliado se le presenta como ineludible.“ 105 Ebd., S. 32 (e. Ü.): „la unidad perdida que reclama rescate. Y todo rescate tiene un precio.“ 106 Zambrano, María: La confesión. Género literario [1943]. Madrid: Mondadori 1988, S. 71. noch die Erde spürt, die er verlassen musste. Er bewahrt noch die Wärme des eigenen Hauses, des ,Eigenen‘ im Allgemeinen. Der Vertriebene (desterrado) spürt hingegen vor allem dessen Verlust und die unüberbrückbare Distanz zum verlorenen Land, während der Exilant (exiliado) überhaupt nicht mehr in den Kategorien des Anwesens denken kann. „Das eigene ist nur, insofern es Nega‐ tion, Unmöglichkeit ist. Unmöglichkeit, zu leben, die bei genauer Betrachtung Unmöglichkeit zu sterben ist. Der Faden zwischen Leben und Tod, die sich ge‐ genseitig abstoßen. Sich an diesem Faden zu halten ist die erste Anforderung, die sich dem Exilanten unausweichlich stellt.“ 104 Dabei ist das Exil mehr als nur Metapher für Negativität und Abwesenheit im Allgemeinen, sondern auch tä‐ tiges Erleiden der Dispersion, des konkreten Schicksals, in dem der konkrete Mensch sich einrichten muss: ‚Noche oscura‛. Der Dichter ist für Zambrano ein Modell, dem dies am besten gelingt, da er schon immer in der Hoffnungslosigkeit dieses ‚Exils‘ zu leben verstanden hat, indem er dieses Schicksal gewollt und bejaht hat. Das metaphysische ‚Exil‘ steht für die schmerzliche Unmöglichkeit des ‚Bei-sich-Seins‘ und für den dauerhaften Verlust von Einheit und Identität: „die verlorene Identität, die nach Rettung ruft. Und jede Rettung hat ihren Preis.“ 105 Und hier erfährt die ‚Seinsvergessenheit‘ bei Zambrano eine weitere Umdeutung. Sie ist nicht nur Erfordernis der ‚razón poética‘, eine Haltung des Dichters, um seine Dispersion zu ertragen; sie wird zum Klagelied; denn sie spiegelt auch die schmerzliche Erfahrung des Menschen als ein vom ‚Sein‘ Ver‐ gessener, das ihn identitätslos, sich selbst fremd zurücklässt. Auch wenn Zam‐ brano ihr Werk nicht psychoanalytisch verstanden wissen wollte: die Erfahrung des von sich selbst entfernten Subjekts findet eine Entsprechung in der Erfah‐ rung des psychoanalytischen Diskurses Freuds und in dessen Diktum, nach dem das ‚Ich‘ „nicht mehr Herr im eigenen Hause“ ist. Zambrano spricht in ihrem Text über Augustinus’ Bekenntnisse von einer „Entfremdung“ („andar enaje‐ nado“), in welcher der Mensch als „seltsamer Gast im eigenen Haus“ - „huésped extraño en la propia casa“  106 auftaucht, und triebtheoretische Ansätze zur Er‐ klärung sind ihr nicht fremd, wenn sie in Filosofía y poesía die Leidenschaften (pasiones) als Quelle der Fremdheit und Andersheit im Subjekt ausmacht: Die Leidenschaften sind etwas Fremdes innerhalb unserer Seele, und durch sie gehört uns unsere Seele niemals ganz selbst. Die Leidenschaften widersprechen einander, und 145 1 María Zambrano: Claros del bosque 107 Zambrano: FyP, S. 61 (e. Ü.): „Las pasiones son algo extraño dentro de nuestra alma y por ellas nuestra alma no acaba de ser nuestra. Las pasiones se contradicen entre sí y una sola pasión ya se contradice consigo misma y con la propia alma donde habita. El alma agitada por la pasión, por una sola, se desgarra, se vuelva contra sí, carece de unidad; y es, en cada momento, ,otra‘ en terrible monotonía. Es monótonamente con‐ tradictoria.“ eine einzige widerspricht sich selbst und der Seele, in der sie wohnt. Die auch nur von einer einzigen Leidenschaft erschütterte Seele zerreißt, wendet sich gegen sich, ent‐ behrt der Einheit; und ist in jedem Augenblick in schrecklicher Monotonie ‚eine an‐ dere‘. Sie ist auf monotone Weise widersprüchlich. 107 Dieser psychoanalytischen Sichtweise will ich an dieser Stelle nicht weiter nachgehen, doch wird sie uns später bei der Betrachtung der Claros del bosque noch beschäftigen. Heideggers Überlegungen zu den Begriffen von ‚Sein‘ und ‚Wahrheit‘ lassen sich zum Teil auf Zambranos Denken beziehen. So kann es als Ausdruck interpretiert werden, den ‚Grund-Riss‘ der Wirklichkeit in der sich verbergenden Sprache zu reflektieren. Dabei kann ihr Schreiben als Versuch eines sprachlichen Erlebens der ‚aletheia‘ interpretiert werden. Das Denken des ‚Grund-Risses‘ in der Wirk‐ lichkeit bei Heidegger führte mich anschließend zu Überlegungen, in welcher Weise Zambrano dieses Denken in Anlehnung an die Mystik des San Juan de la Cruz und mittels einer ‚razón poética‘ als Denken der Negativität aktualisiert, das gleichzeitig immer auch Rettung der Idee persönlicher Wahrheit und Einheit ist. Inwiefern dieses Denken dekonstruktive Züge trägt, sollte ein Seitenblick auf Derrida verstehen lassen. In der Untersuchung von Zambranos Begriff von Einheit zeichnete sich eine paradoxe Figur ab, welche die Dekonstruktion von Metaphysik als Metaphysik der Dekonstruktion erscheinen lässt. In diesem Zu‐ sammenhang habe ich die ‚dichterische Vernunft‘ als Ausdruck einer simu‐ lierten Metaphysik betrachtet, die als Gegenkraft zum ‚Exil‘ und zusammen mit diesem die Utopie des Menschseins bestimmt. Was von den Überlegungen Heideggers im Denken Zambranos bleibt, ist ei‐ nerseits die Problematisierung des vorherrschenden Vernunftbegriffs: Auch Heidegger erkennt die ‚ratio‘ als Gewalt und spricht von einer Missdeutung der Vernunft. Als Konsequenz fordert er, statt das Denken an sich zu suspendieren, müsse es in gewissem Sinne ,denkender‘ werden. Darunter versteht er den Ein‐ bezug des Sinnlichen und des Gefühls: „Vielleicht ist jedoch das, was wir hier und in ähnlichen Fällen Gefühl oder Stimmung nennen, vernünftiger, nämlich vernehmender, weil dem Sein offener als alle Vernunft, die, inzwischen zur ratio 146 III. Praxis 108 Heidegger, S. 9. 109 Vgl. Dorang, Monique: La poetización del discurso filosófico en las obras de María Zam‐ brano y de Martín Heidegger. In: Geisler, Eberhard (Hg.): España y Alemania. Interrela‐ ciones literarias. Frankfurt a. M.: Vervuert 2001, S. 42. geworden, rational mißdeutet wurde.“ 108 Zambrano entwickelt mit der ‚razón poética‘ ein in diesem Sinn ,vernehmenderes Denken‘, das sich an die sinnlichen Möglichkeiten des menschlichen Verstehens richtet. Die Zambrano-Forscherin Monique Dorang sieht sehr allgemein in dieser Poetisierung des philosophi‐ schen Diskurses die größte Gemeinsamkeit mit Heidegger: Für beide sei die poetische Sprache das Charakteristikum eines qualitativ neuen Denkens. Doch während Heidegger der poetischen Offenbarung des Seins analytisch beizu‐ kommen versuche, verzichte Zambrano immer stärker auf diesen Anspruch, je weiter sie sich dem Absoluten nähere. 109 In den Waldlichtungen wird deutlich werden, wie sehr sie die Bestimmungen zugunsten einer Metaphorik aufgelöst hat. Ich denke, dass Heideggers Philosophie und vor allem seine Stichworte daher eher inspirativ als im Detail wirklich prägend auf sie gewirkt haben mag. Der bei Heidegger so zentrale Begriff der Seinsvergessenheit wird bei Zambrano weitergedacht und uminterpretiert. Im Übrigen soll hier eine Bezugnahme Zam‐ branos auf den Begriff der ‚Seinsvergessenheit‘ nur hypothetisch angenommen werden. In den Holzwegen lässt sich aber schon Heideggers Versuch einer ‚Überwin‐ dung der Metaphysik‘ beobachten, die in ihrem Ansatz nicht nur für den Post‐ strukturalismus prägend wurde, sondern auch Anstöße zu Zambranos Versuch der Erneuerung geliefert hat. Das Sein ist nach Heidegger die Unverborgenheit dessen, was sich verbirgt, das sich seiner Habhaftwerdung in der Präsenz immer durch Verstellung und Verweigerung entzieht. Dieses in sich Gebrochene und Labile ist auch für Zambranos Schreiben ab etwa 1960 bestimmend. So wird das ‚Exil‘ zur Utopie eines ‚Seins‘, das sich nur in der Negativität des Entzogen-Seins und der existenziellen ‚otreidad‘ beobachten lässt. Die Mystik bietet dabei die Möglichkeit einer anderen Perspektive, unter der gerade der Verlust der Einheit zum Ausgangspunkt für eine glaubhaft gelingende Erfahrung von Ganzheit werden kann. Was Zambranos Schreiben so einzigartig macht, ist nicht nur ihr Projekt, unter den Bedingungen einer ernüchterten Moderne überhaupt noch eine Erneuerung von Metaphysik anzustrengen. Es geht ihr um die Rettung der Idee von Einheit und Wahrheit, für sich ganz persönlich, in einer Welt, in der diese Begriffe bereits hohl erscheinen. Das Besondere ihres Entwurfes liegt aber darin, dass sich Zambrano über die Möglichkeiten ihres Projekts keinen Illusi‐ onen hingibt; es ist das eigene ,Wissen‘ um den Verlust, das ihr Denken und Schreiben bestimmt. Und so skizziert sie nicht nur eine den Menschen orien‐ 147 1 María Zambrano: Claros del bosque 110 Gómez-Blesa: Introducción (Claros del bosque), S. 13 f. tierende Metaphysik; was ihre Texte ausmacht und in besonderer Weise als ,es‐ sayistisch‘ charakterisiert, ist vielmehr jenes ‚Trotzdem‘; jenes ‚wider besseres Wissen‘: der Versuch der Neuorientierung, der Versuch einer Metaphysik trotz und gegen die Ahnung des Scheiterns - das Risiko des Irrwegs. 1.2 Eintritt in die Waldlichtung Claros del bosque - Waldlichtungen ist der Titel einer Sammlung von kurzen, fragmentartigen Stücken, Notizen, Zetteln, die María Zambrano in ihrem kleinen Haus im Wald nahe des französischen La Pièce vom Beginn der 1970er-Jahre an verfasst hat. Die Texte sind tagebuchartig aus spontanen Ein‐ fällen heraus und ohne festen Vorsatz oder Verwendungszweck entstanden in einer Zeit, die für Zambrano geprägt war durch Krankheit und Tod ihrer Schwester Araceli und ihren eigenen sich verschlechternden Gesundheitszu‐ stand. Für die Publikation 1977 geordnet wurden die losen Zettel, die ihr elf Jahre später den Premio Cervantes einbringen sollten, von ihrem engen Freund, dem Dichter José Ángel Valente, während der Titel von Zambrano selbst stammt. Notas de un método - Notizen zu einer Methode sollte die Sammlung zunächst heißen; Zambrano ändert ihn in Waldlichtungen. Dem befreundeten Philoso‐ phen Agustín Andreu schreibt sie, dieser Titel sei besser vereinbar mit einer gewissen Diskontinuität, auf der sie beharren wolle, und mit dem „philoso‐ phisch-poetischen Charakter, oder was auch immer [sic].“ 110 Die Texte bilden einen wichtigen Moment im Werk Zambranos, denn sie bezieht sich darin erst‐ mals nicht nur inhaltlich auf die ‚razón poética‘, sondern setzt sie auch stilistisch um. Jedes der kurzen Stücke ist ein Kosmos für sich und hat gleichzeitig teil am Denken der Waldlichtungen. Ich will mich beschränken auf eine detaillierte Lesart nur des ersten dieser Texte, der dem gesamten Band seinen Namen ge‐ geben hat. Dafür möchte ich einige Gedanken und Lesevorschläge anbieten. Die Waldlichtungen sind zunächst Ausdruck eines Rückzugsszenarios. Zam‐ brano meditiert und philosophiert in der Einsamkeit einer kleinen Hütte mitten im Wald. Ein solches Szenario gehört zur Ästhetik der neuplatonischen Tradi‐ tion, die auch Montaignes stilisiertem Rückzug in den Turm in gewissem Maß zugrunde liegt. In ihr verbindet sich Meditation mit einem melancholischen Grundton und gilt in der neuplatonisch geprägten Pléiade-Ästhetik sogar als Bedingung dichterischen Schaffens. „Den Rückzug des Ich aus der Welt und eine Art ‚Seelenreinigung‘ (purgatio), das meint die Abkehr von der sinngebenden Wahrnehmung der real-historischen Welt und die Unterbrechung der äußeren 148 III. Praxis 111 Westerwelle, S. 373. Funktionen des Handelns.“ 111 Die Waldlichtungen beschreiben zunächst die Be‐ wegung eines solchen Rückzugs selbst und sind innerhalb dieses Szenarios Aus‐ druck einer Stille zu sich selbst und einer Unterbrechung, nicht nur der Funk‐ tionen des Handelns, sondern von Funktionalität überhaupt. Der Inhalt des Texts ist daher nicht eindeutig bestimmbar, sondern eröffnet eine Vielzahl mög‐ licher Ansätze, die sich eher einem von der Lektüre angeregten Gefühl er‐ schließen sollen als einem analytischen Wissen. Es ist daher überaus schwierig, eine rein wissenschaftliche Perspektive anzulegen; ihr würden wesentliche Ele‐ mente des Texts entgehen. Anders gesagt: Eine Analyse, die sich diesem Gefühl widersetzt, bleibt ereignislos, wortlos und inhaltsleer. Man muss sich auf sie einlassen; dies scheint die erste Lehre der Waldlichtung. Ich will daher an dieser Stelle zunächst mit dem Versuch einer anderen Herangehensweise beginnen. Wir betrachten eine Waldlichtung. Wie sind wir plötzlich dorthin gelangt? Vielleicht haben wir sie ganz zufällig entdeckt, auf einem Spaziergang, auf dem wir unterwegs auf Pfaden und Holzwegen unseren Gedanken eben noch nach‐ hingen. Wir haben nicht sehr auf unseren Weg geachtet. Das Licht schimmert durch die Baumkronen weit oben, und hier und da trifft ein Strahl auf die moo‐ sige Erde oder bricht sich in einem trüben Tümpel. Vor unserem Schritt flieht ein Tier; ein Rascheln im Unterholz kündet vom eiligen Verlassen seines Ver‐ stecks. Der Schrei eines Vogels dringt ans Ohr. Dann sind da nur noch die Stille und die Waldlichtung, das Licht und das Erstaunen: Wo bin ich? Was ist das für ein seltsamer, unzugänglicher Ort? Wir betrachten ihn, wollen den Fuß in seine Mitte tun und zögern. Denn der Schritt in die Mitte würde unsere Betrachtung aufheben; es ist nicht möglich, in der Lichtung zu stehen und sie gleichzeitig zu betrachten. Die Perspektive des Zentrums selbst bleibt immer entzogen, ver‐ hüllt. Fast scheint es, ein fremdartiges Wesen sei der Hüter dieses heiligen Ortes, gleich einem unsichtbaren Wächter vor dem Tempel. Ersehnter, unbekannter Ort, der das Geheimnis verbirgt. Geheimnis meiner Seele, die für einen Moment aufleuchtet in der vom schwirrenden Sonnenstrahl erfüllten Lichtung. Sie zeigt sich wie in einem zitternden Spiegel, der uns das Bild unserer Gestalt schenkt und doch verzerrt, verwischt, entrückt - niemals sehen wir uns in der Fülle, der Fülle unseres ganzen Bewusstseins und der Welt, die es umgibt. Worüber habe ich nachgedacht auf dem Weg hierher, wer bin ich, was bedeutet dieses ‚jemand oder etwas sein‘? Die Frage ist erloschen, und für eine Sekunde haben wir in diesem Erlöschen diese Fülle zu spüren gemeint. Doch wie in ihr bleiben, wie sie halten? Der Mensch wird blind und taub, wenn er in das Licht dieser Fülle taucht, wie die Liebe, die vergeht, sobald sie zu sich kommt. Und wie aus der 149 1 María Zambrano: Claros del bosque 112 Zambrano: CB, dt. S. 7, span. S. 121. verwundeten Liebe steigt eine Klage auf über das Verbergen der Geliebten. Hier im Wald ist kein Horizont, an dem wir klarer sehen könnten, aber wenn wir nur immer weiter gehen, die Pfade entlang, von Lichtung zu Lichtung, kündet viel‐ leicht das Stück Blau des Himmels zwischen den Bäumen von einem solchen Ort. Wenn es diese Fülle gibt, diesen Horizont, vielleicht haben wir nur die Fragen danach falsch gestellt, und unser Denken war nicht geeignet, den Pfaden bis dorthin zu folgen? Vielleicht waren auch all unsere Studien, unser Gang durch die Hörsäle geblendet von den immer zu scharfen, gleißenden Fragen unseres Verstands, sodass wir nicht sehen konnten? Claros del bosque besteht aus einer Reihe assoziativ aneinandergeknüpfter poetischer Bilder und Metaphern, die um die Betrachtung der Waldlichtung kreisen. Nur punktuell schweift Zambrano in kurze analytische Passagen ab, die den Leser aus dem rein poetischen Diskurs herausführen. Zambrano lässt den Text beginnen mit einer Beschreibung der Lichtung, die ich an dieser Stelle aus‐ führlich zitieren will, da sie einige der Grundfragen des Textes eröffnet: Die Waldlichtung ist ein Zentrum, das zu betreten nicht immer möglich ist; vom Saum aus schaut man zu ihr hin und wenn auch vielleicht Fährten von Tieren zu sehen sind, hilft das nicht, den Schritt hinüber zu tun. Es ist ein anderes Reich, von einer Seele bewohnt und behütet. Vielleicht ruft ein Vogel und lädt ein, den Weg zu gehen, den seine Stimme anzeigt. Und man folgt ihr; dann findet man nichts, nichts außer einem unberührten Ort, der sich in diesem einzigen Augenblick geöffnet zu haben scheint und der sich niemals wieder so darbieten wird. Man darf ihn nicht suchen. Man darf nicht suchen. Das lehren die Waldlichtungen auf der Stelle: man darf sich nicht auf‐ machen, sie zu suchen und auch nicht, in ihnen etwas zu suchen. Nichts Be‐ stimmtes,Vorgeformtes, Bekanntes. 112 Zambrano bringt nun der Reihe nach einige Bilder vor, die alle auf die Lichtung verweisen, indem sie jeweils eine andere ihrer Facetten erhellen, die immer wieder an die Lichtung zurückgebunden werden. So spricht sie zunächst von einem Vergleich der Lichtung mit dem Tempel, der seit jeher wirken soll, als sei darin jede menschliche Tat getilgt und als hätte der Gott selbst ihn erbaut. Dann, schreibt Zambrano, tritt in der Waldlichtung das Zittern des Spiegels zutage. Die Lichtung zeigt sich als ein zitternder Spiegel, der Lichtreflexe in Regenbo‐ genfarben zurückwirft in einen diskontinuierlichen Himmel, der selbst wie‐ derum eine Lichtung ist. Zambrano hat uns auf den Holzweg geführt, der für Heidegger den ‚Kreisgang‘ vollzieht. 150 III. Praxis 113 Zambrano: CB, dt., S. 11, span. S. 124: „donde la imagen sea real y el pensamiento y el sentir se identifiquen sin que sea a costa de que se pierdan el uno en el otro o de que se anulen“. 114 Ebd., dt. S. 12, span. S. 124: „irremediable discontinuidad“. 115 Ebd., dt. S. 13, span. S. 125: „Si el método se refiere tan sólo al conocimiento objetivo, viene a ser un instrumento, lógico al fin y sin remedio, aunque vaya más allá del ,Or‐ ganon‘ aristotélico.“ 116 Ebd., dt. S. 13, span. S. 125: „Y queda así desamparado el ser, queda librado a todo lo demás que en sí lleva.“ Doch nicht nur kreisen die verschiedenen Bilder wie der Himmel um die Waldlichtung, sondern der Himmel selbst öffnet sich nun in konzentrischen Bewegungen, bis es nichts weiter gibt als Horizont. Es ist ein Horizont, den Zambrano in der Zusammenführung der Vernunft in einen ursprünglichen Logos und in jener Harmonie der Gegensätze bereits theoretisch skizziert hat; ein Horizont, kaum erahnbar, „in dem das Bild real wäre und Denken und Fühlen übereinstimmten, ohne daß dies um den Preis geschähe, daß eins sich im an‐ deren verlöre und daß sie sich aufhöben“. 113 Dorthin lässt sich nicht methodisch gelangen. Nur durch eine ‚diskontinuierliche‘, in gewissem Sinne also ‚unme‐ thodische Methode‘ ist der Horizont zu begreifen. Der Verstand muss passiv werden in dem Sinne, dass er die „unheilbare Diskontinuität“ 114 akzeptiert und nicht versucht, sie mittels der Kontinuität einer analytischen Methode zu er‐ fassen. Zambranos Überlegungen, die interessanterweise gerade in der Kritik der Methode selbst methodisch-analytischer werden, zeichnen ein zweipoliges Bild: Auf der einen Seite stehen formale Logik, Methode, Kontinuität, der Descar‐ tes’sche Discours mit dem rationalistischen Zweifel, mit dem er die Welt erfassen will, die Gewalt. Dem gegenüber steht die Gewaltlosigkeit oder Passivität des Verstands, die Diskontinuität, das menschliche Bewusstsein, der plötzliche Ein‐ fall als ,Halleluja‘, Unmittelbarkeit der Erkenntnis, die aus einem Vergessen der Frage nach dem Sein entsteht. Im Mittelpunkt dieser Überlegungen steht eine Aporie: Zambrano argumentiert, dass sich eine Methode nicht nur auf objektive Erkenntnis stützen dürfe, weil das menschliche Denken eben nicht immer der Logik folge: „Wenn die Methode sich nur auf die objektive Erkenntnis bezieht, wird sie am Ende rettungslos ein logisches Werkzeug sein, auch wenn sie über das aristotelische ‚Organon‘ hinausgeht.“ 115 Sie ist reines Werkzeug, Technik, die nicht mehr greift und völlig unbrauchbar wird, sobald sie es mit einer anderen Seite der Vernunft zu tun bekommt. Die Methode lässt den Menschen verstüm‐ melt zurück, beraubt ihn der Hälfte seines Erkenntnisvermögens: „Und so ist das Wesen schutzlos entbunden zu all dem übrigen, was es in sich trägt.“ 116 Dagegen spricht sich Zambrano für eine Methode aus, „die sich des Lebens an‐ 151 1 María Zambrano: Claros del bosque 117 Ebd., dt. 13, span. S. 125: „[un método] que se hiciese cargo de la vida, al fin desamparada de la lógica, incapaz de instalarse como en su medio propio en el reino del logos ase‐ quible y disponible“. 118 Ebd., dt. 13, span. S. 125: „Un método así no puede tampoco pretender la continuidad que a la pretensión del método en cuanto tal pertenece.“ 119 Ebd., dt. 12, span. S. 125: „Lo propio del método es la continuidad, de tal manera que no sabe pensar en un método discontínuo. Y como la conciencia es discontinua - todo método es cosa de la conciencia - resulta la disparidad, la no coincidencia del vivir concientemente y del método que se le propone.“ 120 Ebd., dt. 12, span. S. 124. nimmt, das von der Logik im Stich gelassen wurde, das unfähig ist, sich im Reich des Logos als in seinem eigenen Medium einzurichten“. 117 Sie muss sich der versteckten, unterdrückten oder gerade erst im Entstehen begriffenen Bereiche annehmen. Doch hier erscheint ein Widerspruch: Eine solche Methode wäre überhaupt keine, denn „sie kann nicht Anspruch erheben auf die Kontinuität, die zum Anspruch der Methode als solcher gehört“. 118 Zum Problem wird dieser Widerspruch, weil Zambrano die Kontinuität einer Methode als Notwendigkeit oder Bedürfnis des Menschen beschreibt, und zwar dahingehend, dass es überhaupt nicht möglich sei, in der Diskontinuität zu denken. Zambrano lässt die Aporie sich noch weiter in sich selbst verstricken, indem sie das Bewusstsein mit der Diskontinuität assoziiert; dieses bedürfe aber nun der Kontinuität der Methode, sodass Bewusstsein und dessen Ausdruck grundsätzlich auseinanderfallen: „Das Eigentümliche der Methode ist die Kon‐ tinuität, und das derart, daß man nicht denken kann in einer diskontinuierlichen Methode. Und da das Bewußtsein diskontinuierlich ist - jede Methode ist eine Angelegenheit des Bewußtseins -, ergibt sich daraus, daß das bewusste Leben und die ihm angetragene Methode ungleich sind und nicht übereinstimmen.“ 119 Das Bewusstsein stellt sich somit als wesensmäßig uneinheitlich dar, als ge‐ spalten und zugleich getragen von seiner inhärenten Widersprüchlichkeit - vor allem aber geprägt von der Unmöglichkeit, sich selbst auszudrücken. Die Waldlichtung erscheint in diesem Zusammenhang als Bild für dieses Be‐ wusstsein, das sich nicht in eindeutiger Weise selbst besitzen noch besessen werden kann, sondern gezeichnet ist von einer ursprünglichen Unmöglichkeit, die sich als ein „stetiges Erleiden“ („continuo padecer“) 120 spürbar macht. Zuletzt bringt Zambrano das Gehen durch die Waldlichtungen in Verbindung mit dem Folgen der Vorlesungen in den Hörsälen, die so mit einem Gang durch das eigene Bewusstsein assoziiert werden. Erkenntnis findet der Student dort nicht in seiner Aufmerksamkeit und der bewussten Frage an den Lehrer, sondern im Abschweifen von dessen Diskurs, im Unbewusst-Werden der eigenen und eigentlichen Fragen. Nur auf diese Art eröffnet sich eine Lichtung des Denkens, 152 III. Praxis 121 Barthes: Die Lust am Text, S. 38. 122 Unamuno, Miguel de: ¡Adentro! , S. 4 f.: „Avanza pues en las honduras de tu espíritu, y descubrirás cada día nuevos horizontes, tierras vírgenes, ríos de imaculada pureza, cielos antes no vistos, estrellas nuevas y nuevas constelaciones.“ indem die Aufmerksamkeit für Augenblicke nachlässt und das Bewusstsein sich im Unbewusstsein hält. In diesem Kontext erinnert Bernhard Teuber im per‐ sönlichen Gespräch daran, dass in spanischen Universitäten die Hörsäle meist um einen Kreuzgang (claustro) herum angelegt sind; dass also der Gang, der Weg von Saal zu Saal wiederum den Kreis um das Offene einer ‚Lichtung‛ herum vollzieht und somit ‚claustro‛ und ‚aula‛ in metonymischer Beziehung zuei‐ nander stehen. Im Nachlassen und Abschweifen liegt das sinnliche Erlebnis, das Roland Bar‐ thes mit einer ‚Lust‘ kennzeichnet und die den Kern der Meditation bildet: Das Ziel der asketischen Übung besteht im Vergessen der Übung, während derer sich etwas indirekt zu Bewusstsein bringt: [Der Text] erregt bei mir die beste Lust, wenn es ihm gelingt, sich indirekt zu Gehör zu bringen; wenn ich beim Lesen oft dazu gebracht werde, den Kopf zu heben, etwas anderes zu hören. […]; es kann eine flüchtige, komplexe, unmerkliche, geistesabwe‐ sende Handlung sein: eine plötzliche Kopfbewegung, wie die eines Vogels, der nicht hört, was wir hören, der hört, was wir nicht hören. 121 Zambrano scheint zunächst jenes Eröffnen eines Raumes in sich selbst, jenes ‚sibi vacare‘ Senecas und der asketischen Tradition der Selbstsorge im Blick zu haben, in das hinein der Philosoph sein Denken versenkt; einen Rückzug, ein Frei-Werden von unnützem Tun, um sich auf das Wesentliche, die Reflexion zu besinnen und dort ganz in sich den Weg zur Wahrheit zu beginnen. Dabei folgt Zambrano auch einem unamunianischen Ideal der Selbstbesinnung des Intel‐ lektuellen, wie dieser es in seinem epochemachenden programmatischen Essay der ,Generación del 98‘ ¡Adentro! beschreibt: Unamuno empfiehlt einen Rückzug zum Inneren der eigenen Seele als Weg der Inbesitznahme des Selbst als ein unbekanntes Land. Die Innenwendung knüpft dabei einen Wahrheitsdiskurs („in interiore hominis habitat veritas“) an eine Topographie und einen spani‐ schen Mythos: Sie ist Entdeckung und ‚conquista‘ der ‚inneren Indias‘: „Dringe also in die Tiefen deines Geistes vor, und du wirst jeden Tag neue Horizonte entdecken, unberührtes Land, Flüsse makelloser Reinheit, nie zuvor geschaute Himmel, neue Sterne und neue Konstellationen.“ 122 Zambrano verabschiedet je‐ doch die zu entdeckenden „tierras vírgenes“ in die Utopie, die lediglich als diffuse „neue Horizonte“ in einem Irgendwo verschwimmen. Die Wendung ins Innere verspricht kein Auffinden einer ‚veritas‘, sondern das ‚Offen-Sein‘ für die ‚ale‐ 153 1 María Zambrano: Claros del bosque 123 Ebd., dt. S. 8, span. S. 122: „Ya que parece que la nada y el vacío - o la nada - o el vacío hayan de estar presentes o latentes de continuo en la vida humana.“ 124 Ebd., span. S. 122 (e. Ü.): „quedar en suspenso, en lo negativo del extasis.“ 125 San Juan de la Cruz: Subida al Monte Carmelo II, 7.6 In: L. Aranguren, José Luis: San Juan de la Cruz, S. 197. 126 Otto, Rudolf: Das Heilige.Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen [1917]. München: C. H. Beck 2014, S. 34 f. 127 Barthes: Die Lust am Text, S. 95 (Hervorhebungen durch den Autor). theia‘: die Erfahrung eines unabschließbaren Wahrheitsgeschehens. Ihr geht es zunächst nicht darum, diesen leeren Raum durch die „makellosen Flüsse“ und „neuen Sternbilder“ zu beschriften, zu be-schreiben und zu be-zeichnen; ihr geht es darum, diesen Raum nur offen zu halten, mit dem Blick der Schriftstellerin auf das leere Papier, in das hinein sie die Möglichkeit des Ausdrucks schaut, bevor sie es mit dem ersten Buchstaben versieht und damit versehrt. Nur indem er diesen Raum zumindest kurz offen hält, erkennt der Mensch etwas Wesent‐ liches in seinem Bewusstsein. „Denn es scheint, daß das Nichts und die Leere - entweder das Nichts oder die Leere - fortwährend im menschlichen Leben an‐ wesend oder unterschwellig vorhanden sein müssen.“ 123 Um nicht davon er‐ drückt oder verschlungen zu werden, müsse er sie in sich selbst schaffen, sich für einen Moment „in der Spannung, der Nicht-Ekstase halten“ 124 . In der Logik der Mystik San Juans bedeutet das Schaffen der Leere in sich, einzutreten in die ‚Noche oscura‛ durch die Negation; die vorübergehende vollständige Vernich‐ tung des Selbst, um Gott in sich zu suchen, der sich für die Menschen geopfert hat („como una muerte y aniquilación temporal y natural y espiritual en todo, en la estimación de la voluntad, en la cual se halla toda negación.“ 125 ). Der Ver‐ einigung mit Gott geschieht durch das vollständig reziproke Opfer. Nach Rudolf Otto sind das Nichts und die Leere nur Ideogramme jenes radikal ‚Anderen‛, nach dem die Mystik überhaupt strebt. Denn sie kontrastieren das numinose Objekt nicht nur mit dem Weltlichen, sondern generell mit allem ‚Sein‛: „Sie meint mit dem Nichts nicht nur das was durch nichts besagbar ist sondern das schlechthin und wesentlich Andere und Gegensätzliche zu allem was ist und gedacht werden kann.“ 126 Das Erreichen dieses ‚Anderen‛ ist ekstatisches Er‐ lebnis - ‚jouissance‛. Es bleibt bei Zambrano im „suspenso“, jenem spannungs‐ vollen Aufschub, der zugleich Qual und Lust ist. „Man kann nie genug die Sus‐ pensionskraft der Lust betonen: es ist eine regelrechte epochē, ein Anhalten, das alle angenommenen […] Werte von weitem erstarren läßt.“ 127 Für Zambrano ist die Offenbarung, die sich niemals vollständig ereignet oder nicht festgehalten werden kann, das mystische Erlebnis: Ein Moment größter Spannung und größter Leere, die gleichzeitig die größte Fülle ist. 154 III. Praxis 128 Ebd., dt. S. 11, span. S. 122: „Una visibilidad nueva“. 129 Ebd., dt. S. 10, span. S. 123: „sin violencia arrolladora“. 1.3 Eine unmethodische Methode: Die ,dichterische Vernunft‘ als ,Lichtung‘ In der Waldlichtung begegnet uns Zambranos ‚dichterische Vernunft‘ zunächst auf inhaltlicher Ebene. Die Lichtung steht für ein Wissen, das sich der rationa‐ listischen Methode immer entzieht, so gesehen, ist sie eine mögliche Antwort auf die Frage, was Zambrano unter ‚razón poética‘ versteht. Die Metaphorik lässt sich nie erschöpfend ausdeuten; sowohl Lichtung als auch ‚dichterische Vernunft‘ bewahren auf diese Weise immer einen Rest an Ungesagtem oder Vergessenem. Gleichwohl bedeutet das nicht, dass sich mit den Mitteln einer Analyse überhaupt nichts sagen ließe. Zambrano selbst gibt uns einen einiger‐ maßen deutlichen Hinweis, was ihr Schreiben bewegt. Diese Gedankengänge, erfahren wir, wurden geleitet von der Idee einer „neuen Sichtbarkeit“, 128 die aus der Zusammenführung von analytischen und sinnesmäßigen Erkenntnissen be‐ steht, wo Denken und Fühlen übereinstimmten - von einer neuen Methode des Denkens. Was zunächst ins Auge fällt, ist das Bild absoluter Gewaltlosigkeit, die sowohl für die Lichtung als auch die dichterische Vernunft bestimmend sind und welche die oberste Maxime jener neuen Methode des Denkens ist. „Man darf nicht suchen“ ist dieses erste Gebot der Lichtung und die Mahnung an den phi‐ losophischen Geist. Dieser, wir erinnern uns, lässt seine Wahrheitssuche mit einer gewaltvollen Abkehr von den ersten Erscheinungen beginnen. Der Dichter aber sucht nicht. Er weiß nicht, was er sucht; die Wahrheit offenbart sich ihm, bietet sich dar als eine Gabe. Diese Gewaltlosigkeit einer Offenbarung durch‐ zieht sämtliche Bilder, die in den Waldlichtungen auftauchen. Sie gilt für den Tempel, in dem jede menschliche Anstrengung getilgt ist, wie für das indirekte Licht im Zittern des Spiegels, Ausdruck der Wölbung, der Krümmung des Uni‐ versums und dessen, was nicht seine Anwesenheit als machtvolle Dezision, als ‚ja‘ oder ‚nein‘ mit einer Endgültigkeit besiegelt. Das Licht, immer auch Symbol von Erkenntnis, muss sich selbst zurücknehmen, muss sich ,einschleichen‘, vor‐ sichtig tastend und ohne „niederzwingende Gewalt“, 129 um wirklich den Bereich des Menschlichen berühren zu können. Und auch die Hörsäle sind Orte, in die der gute Student nicht kommt, um zu suchen oder zu fragen, sondern wo er im Nachlassen seiner Aufmerksamkeit die Unabschließbarkeit und Unfasslichkeit des Wissens erkennt. Zu welchem Wissen kann der Mensch überhaupt ge‐ langen? Wenn die Waldlichtungen überhaupt noch eine Frage zulassen, dann die nach den Bedingungen, unter denen umfassendes Wissen möglich wäre. Denn der rationalistische Diskurs und seine Methode allein - ‚technē des Den‐ 155 1 María Zambrano: Claros del bosque 130 Ebd., dt. S. 13, span. S. 125: „La conciencia se cansa, decae y la vida del hombre, por muy consciente que sea y por muy amante del conocer, no está empleada continuamente en ello.“ 131 Ebd., dt. S. 15, span. S. 126: „Y entonces se arriesga (pues que desde hace siglos, o desde el principio de la cultura llamada de Occidente, la mística está en entredicho) que se piense que ronda la mística o que recae en ella. Y si el veredicto es más leve, que es cosa de poesía y por tanto tal equívoco, que sería el método de un vivir poético. Y nada habría de objetar si por poético se entendiera lo que poético, poema o poetizar quieren decir a la letra, un método más que de la conciencia, de la criatura, del ser de la criatura que arriesga despertar deslumbrada y aterida al mismo tiempo.“ kens‘ - sind an ihre Grenzen gekommen. Sie werden zum nutzlosen Werkzeug im Angesicht dessen, was sich nicht der formalen Logik beugt - des Lebens, des Ausdrucks von Diskontinuität an sich. Die neue, ‚unmethodische‘ Methode, die Zambrano mit dem Schlagwort ‚razón poética‘ im Sinn hat, versucht, das vom Bewusstsein Ausgeschlossene aufzunehmen und ihm einen Platz zu geben. Im Unbewussten liegt wirkliche Erkenntnis verborgen, denn der Mensch bestreitet den Großteil seines Lebens eben nicht in jenem bewussten Modus der Reflexion: „Das Bewußtsein ermüdet, läßt nach und das Leben des Menschen, so bewußt er auch sein mag und so sehr er auch die Erkenntnis lieben mag, ist nicht kon‐ tinuierlich damit beschäftigt.“ 130 Welchen Stellenwert kann also eine Erkenntnis haben, die dem Menschen nur ein Instrumentarium an die Hand gibt, ihn aber in seinem konkreten Leben nicht zu orientieren vermag? Um zu einem neu le‐ gitimierten, weil im Leben des Menschen verankerten Wissen zu gelangen, ist es zunächst notwendig, den anderen Bereich des Bewusstseins überhaupt erst zugänglich zu machen. Die jahrhundertelange Vorherrschaft der ‚ratio‘ hat ihre Spuren hinterlassen in der Hinsicht, dass alles, was nicht ‚ratio‘ ist, als Irrweg betrachtet wurde. Wieder spricht Zambrano von dem Vorwurf und der Aus‐ grenzung, der sich diejenigen aussetzen, die ganzheitliche Formen der Vernunft als Ergänzung und Korrektiv der üblichen Methode in Betracht ziehen: Und dann läuft man Gefahr (denn seit Jahrhunderten oder seit dem Beginn der soge‐ nannten abendländischen Kultur steht die Mystik in Verruf), daß gedacht wird, sie nähere sich der Mystik oder sei ihr gar verfallen. Und wenn das Urteil milder ausfällt, es handle sich um Poesie, und, aufgrund eines solchen Irrtums, es wäre die Methode eines poetischen Lebens. Wogegen nichts einzuwenden wäre, wenn man unter poe‐ tisch, Poem und poetisieren das verstände, was sie buchstäblich bedeuten, nämlich, mehr als eine Methode des Bewußtseins, eine der Kreatur, des Wesens der Kre‐ atur“. 131 Das milde Lächeln, mit dem Erkenntnisformen quittiert werden, die sich den akademischen Vorschriften entziehen oder über sie hinausgehen, dient ebenso 156 III. Praxis 132 Adorno, S. 62. 133 Vgl. Lyotard: Das postmoderne Wissen, S. 126. 134 Vgl. ebd., S. 142. 135 Vgl. ebd., S. 152. dazu, die Essayistin / den Essayisten mit dem Diktum des ‚Literarischen‘ zu dis‐ kreditieren. Es gemahnt an Adornos lakonische Einschätzung, wonach das Lob als ‚écrivain‘ hinreiche, „den, dem man es spendet, akademisch draußen zu halten“. 132 Doch Zambrano beklagt sich hier nicht nur über ihre Kritiker und das fehlende Verständnis, das einer solchen neuen Methode entgegengebracht wird; sie führt die Klage in Andeutungen einer Apologetik über, die sich an der Legi‐ timation des gewonnenen Wissens festmacht: Die Methode der Kreatur, die sich nicht nur auf das Bewusstsein erstreckt, ist ‚poetisch‘. Das heißt nicht nur, dass sie sich in alternativen Formen des Ausdrucks mitteilt; ihr Wissen erfährt ihre Legitimation dadurch, ‚poesis‘ zu sein - Hervorbringung, menschliche Produk‐ tion. Die ‚dichterische Vernunft‘ ist ‚Paralogie‘, wie sie François Lyotard als Le‐ gitimationsmittel eines postmodernen Wissens einführt: Das Neben-Vernünf‐ tige, das neben dem Logos Stehende, lässt auf seiner Basis neue Aussagen zu, die über das im Rahmen geschlossener Systeme gewonnene Wissen hinausweisen und so grundlegend neu sind. Lyotard stellt die ‚Paralogie‘ als eine Operation dar, die zwischen heteromorphen Aussageklassen hin- und herspringt und Daten auf unerwartete Weise neu verknüpft und Wissensfelder neu verbindet. Lyotard verbindet diese Fähigkeit zur Verknüpfung mit der Phantasie (imagi‐ nation). 133 Sie ließe sich wohl jedoch auch mit der Assoziation in Verbindung bringen. Dabei verursacht sie Störungen im konsistenten System, bildet Brüche (fracta) und Paradoxa. Die ‚Paralogie‘ erhöht nicht die Performanz und Effizienz von Systemen, sondern bewirkt ihre innere Abweichung von sich selbst - ihre Differenz. 134 Die ‚Paralogie‘ ist ein Prinzip der Nichtübereinstimmung. Sie stellt nach Lyotard das Antimodell des stabilen Systems dar: „Jede Aussage ist fest‐ zuhalten, sobald sie einen Unterschied zum Bekannten enthält […]. Sie ist ein Modell eines ‚offenen Systems‘, in welchem die Relevanz der Aussage darin be‐ steht, ‚Ideen zu veranlassen‘, das heißt andere Aussagen und andere Spielre‐ geln.“ 135 Die Vorstellung einer ‚razón poetica‘ ist die Bewusstmachung einer ständigen Differenz innerhalb des Methodensystems der ‚razón‘ und deren ständiges Über-sich-Hinausgehen; das Produzieren eines Überschusses, eines Exzesses, den Derrida, das ‚+n‘ nennt. In den Waldlichtungen wird deutlich, welch große Bedeutung einer schöpferischen Kreativität einer ‚poiesis‘ in einem paralogis‐ tisch legitimierten Wissen zukommt: ‚Razón poética‘ ist Zambranos Weg, solch ein Wissen zu etablieren und zu legitimieren, das sich durch seine kreative Kraft 157 1 María Zambrano: Claros del bosque 136 Adorno, S. 45. 137 Zambrano: CB, dt. S. 8, span. S. 122: „me buscabas y ahora, cuando te soy al fin propicio, te vuelves a ese lugar donde respirar no puedes“. 138 Ruiz, S. 89 (e. Ü.): „el hombre se encuentra en la misma alternativa: o de no alcanzar la realidad, porque se le da en envoltorios; o de quedarse sin nada, por rechazar los en‐ voltorios que revelan y ocultan la realidad.“ über die von der akademischen Philosophie geprägten hierarchischen Systeme und Metaerzählungen hinwegsetzt und ein Neues als ein Außerhalb des Ge‐ wohnten und Bekannten erschließt. Für das Essayistische macht Adorno diesen Impuls mit den Worten geltend, der Essay betrachte „das Neue als Neues“. 136 Es bedarf daher einer grundlegenden Offenheit oder eines Raums der offenen Möglichkeiten, um die Geschlossenheit des Systems zu überwinden. Die Wald‐ lichtung als unberührter Ort (lugar intacto) des Nichts und der Leere ist ein Bild für diese Öffnung hin zum Parasystematischen, zu einem Raum des Verstehens, welcher der ‚ratio‘ nicht zugänglich ist. Doch wie dorthin gelangen, wenn der Mensch in jener Diskontinuität nicht denken kann, das heißt, wenn er der Sys‐ teme nicht entbehren kann, wenn er den Trost dessen braucht, was sich noch in den festen Kategorien des Verstands einfassen lässt und Sicherheit gewährt? Diese Frage scheint im Ruf des Vogels widerzuhallen, der dem fragenden Be‐ wusstsein spottet, wenn es durch Zufall auf die Lichtung stößt: „Du hast mich gesucht, und jetzt, wo ich dir endlich wohlgesonnen bin, wendest du dich diesem Ort zu, wo du nicht atmen kannst? “ 137 Das Bewusstsein kommt immer nur als Eindringling (intruso) zu den Orten, die jenseits seines Bewusstseins liegen. Fragend oder, mehr noch, inquisitorisch verhindert es jedes Ausgreifen auf ein Wissen, das nur auf andere Weise verstanden werden kann. Wie bei San Juan ist eine Kommunikation des endlichen Menschen mit dem Unendlichen, Gött‐ lichen, nur indirekt und in einem Unbewusst-werden möglich; oder wie Federico Ruiz schreibt: „der Mensch befindet sich vor eben dieser Alternative: entweder, die Realität nicht zu erreichen weil sie sich ihm nur verhüllt darbietet; oder überhaupt nichts zu erreichen, wenn er die Verhüllungen ablehnt, welche die Realität offenbaren und verbergen.“ 138 Das inquisitorisch agierende Bewusstsein wählt den zweiten Weg; es reißt die Verhüllungen gewaltsam nieder - und steht geblendet vor der absoluten Dunkelheit. Das andere Wissen oder Wissen vom ‚radikal Anderen‛ fordert daher das Vergessen der Suche nach etwas Bestimmtem, Vorgeformtem, Bekanntem und das Aussetzen allen Fragens: Die Frage unentschieden lassen, von der wir glauben, sie sei grundlegend für das Menschliche. Die unheilvolle Frage an den Führer, an das Anwesende, das vergeht, wenn man es bedrängt, an die eigene Seele, die vom Fragen des aufständischen Be‐ 158 III. Praxis 139 Zambrano: CB, dt. S. 8, span. S. 122: „Suspender la pregunta que creemos constitutiva de lo humano. La maléfica pregunta al guía, a la presencia que se desvancece si se la acosa, a la propia alma asfixiada por el preguntar de la conciencia insurgente, a la propia mente a la que no se le deja tregua para concebir silenciosamente, oscuramente también, sin que la interruptora pregunta la suma en la mudez de la esclava.“ 140 Ebd., dt. S. 12, span. S. 124: „la inmediatez del conocimiento pasivo“. 141 Ebd., dt. S. 12, span. S. 125: „un instante glorioso de lucidez que está más allá de la con‐ ciencia y que la inunda. Ella, la conciencia, queda así vivificada, esclarecida, fecundada en verdad por ese instante.“ 142 Reese-Schäfer, S. 46. wußtseins erstickt wird, an die eigene Vernunft, der man nicht den Frieden läßt, schweigend, im Dunkeln auch, zu empfangen und zu begreifen, ohne daß die unter‐ brechende Frage sie stumm wie eine Dienerin werden ließe. 139 Wenn das ‚Wissen-Wollen‘ und das Denken mit und in der kontinuierlichen Methode des Systems nicht aus dem Bereich des Menschlichen zu verbannen ist, wie lässt sich Wissen jenseits dieses Bereichs erlangen? Hier eröffnet sich einmal mehr das Feld der Aporie: Jenseits der Systeme kann der Mensch nicht mehr denken; er gelangt an einen Ort, an dem das Bewusstsein ,nicht atmen‘ kann. Er braucht sie und muss dennoch über sie hinausgehen. Den Ausweg, den Zambrano aus dieser Aporie andeutet, ist der Weg über die Offenbarung als kurzfristiges momenthaftes Erleben eines Wahrheitsgeschehens. Der Mensch muss dafür zuerst eine Offenheit, eine leere Stelle, eine Lichtung in sich schaffen durch eine Wendung des Geistes hin zur Kontemplation, der Passivität des Ver‐ stands und der „Unmittelbarkeit der passiven Erkenntnis“. 140 Die Offenbarung selbst beschreibt Zambrano als Moment des absoluten Neubeginns, als ein dan‐ teskes ‚Incipit vita nova‘, aus der auch einst jede Methode hervorgegangen ist, bevor sie sich zum Systemhaft-Methodischen verfestigt hat. So sei sogar im Descartesʼschen Discours, dem Beginn der modernen philosophischen Methode, noch jenes „Halleluja“ zu hören. Es ist der Zeitpunkt der Entdeckung, gleich einem „Augenblick leuchtender Klarheit, der jenseits des Bewußtseins liegt und der es überflutet. Das Bewußtsein wird so belebt, erleuchtet und wahrhaft be‐ fruchtet durch diesen Augenblick.“ 141 Dieses ‚Incipit‘ lässt sich mit Lyotard als postmoderne Haltung verstehen, insofern es Wort für jenes „avantgardistische Experimentieren im Zeitalter seiner Entstehung“ 142 ist, und als ein fortgesetzter Moment jenes Geburtsdramas, in dem jene Regeln und Methoden errungen werden, welche die Basis bilden für die großen Wahrheits- und Glaubenssys‐ teme der Moderne. Das Offenbarungserlebnis ist jedoch zugleich der Ort einer Sprachproble‐ matik: Wie lässt sich ein tieferes Erkennen der Welt, eine intensivere Wahrheit 159 1 María Zambrano: Claros del bosque 143 Zambrano: CB, dt. S. 13, span. S. 125: „Y arriesga descender tanto que se quede ahí, en lo profundo, o no descender bastante, o no tocar tan siquiera las zonas desde siempre avasalladas.“ 144 Ebd., dt. S. 16, span. S. 127: „ese surco apenas abierto en el aire, ese temblor de algunas hojas, la flecha inapercibida que deja, sin embargo, la huella de su verdad en la herida que abre, la sombra del animal que huye“. 145 L. Aranguren: San Juan de la Cruz, S. 102 (e. Ü.): „La poesía de San Juan de la Cruz es ‚poesía de vuelta‛, segun su título, poesía de retorno. Poesía, no antes de la mística, no de camino hacia ella. Poesía, después“. in einen Modus überführen, in dem mir dieses Erkennen auch intelligibel und damit für mich ‚handhabbar‘ wird? Welche Regeln und Methoden lassen sich am Grund der Erfahrung für das Leben gewinnen? Wie erhalte ich Orientierung für mein Leben, wenn ich meinen Verstand in Bezug auf dieses Leben als in‐ kommensurabel erkannt habe und dennoch auf seine Mittel angewiesen bin? In den Claros del bosque spricht Zambrano diese Thematiken in einer grundle‐ genden Kritik ihrer Methode der ‚dichterischen Vernunft‘ an, die Gefahr läuft, „so weit hinabzusteigen, daß sie dort unten in der Tiefe bleibt, oder nicht tief genug hinabzusteigen oder auch die seit je unterdrückten Bereiche nicht einmal zu berühren“. 143 Erneut stellt sich die Frage des Mystikers: entweder nur die oberflächlichen Verhüllungen Gottes zu betrachten oder sie beiseite lassen und überhaupt nichts zu sehen. Letztendlich wird die einzige Möglichkeit sein, zu versuchen, etwas von dieser außerordentlichen Offenbarung ‚hinüberzuretten‘ in die Welt des Bewusstseins, um zumindest eine Ahnung seiner Erkenntnis zu bewahren: „diese kaum in der Luft geöffnete Furche, dieses Zittern einiger Blätter, der unbemerkte Pfeil, der trotzdem die Spur einer Wahrheit in der Wunde hinterläßt, die er öffnet, der Schatten des Tiers, das flieht“. 144 Auf diese Weise sind auch die Gedichte San Juans zu begreifen. Sie sind, so L. Aranguren, Poesie der Rückkehr: „Poesie, nicht vor der Mystik, nicht des Weges auf sie zu, sondern Poesie danach“. 145 Dieses kaum greifbare Wissen der Offenbarung ist dabei nicht gegen das Philosophisch-Analytische gerichtet, sondern bedeutet den Einbezug seines ‚Anderen‘. Es ist die Erfahrung jener ganzheitlich gedachten Einheit in der Har‐ monie der Gegensätze, dessen extremster Ausdruck der Gegensatz von ‚Sein‘ und ‚Nicht-Sein‘ ist. Die Öffnung eines Raums für das ‚Nicht-sein‘, Zeichen für die ‚Andersheit‘ oder ‚otreidad‘ schlechthin, liegt in der Notwendigkeit der Hin‐ wendung zum Poetischen und im Vergessen des gewaltvollen Wegs des Philo‐ sophen und seiner Obsession für das ‚Sein‘: All das führt nicht zu der klassischen Frage, die das Philosophieren eröffnet, die Frage nach dem ,Sein der Dinge‘ oder nach dem ,Sein‘ allein, sondern läßt unheilbar vom 160 III. Praxis 146 Zambrano, CB, dt. S. 16, span. S. 127: „Todo ello no conduce a la preguna clásica que abre el filosofar, la preguna por ,el ser de las cosas‘ o por ,el ser‘ a solas, sino que irremedialmente hace surgir desde el fondo de esa herida que se abre hacia adentro, hacia el ser mismo, no una pregunta, sino un clamor despertado por aquello invisible que pasa sólo rozando. ,¿Adónde te escondiste? …‘“ 147 San Juan de la Cruz: Cántico espiritual. In: L. Aranguren, José Luis: San Juan de la Cruz, S. 117 (e. Ü.): Wo hast du dich verborgen, / Geliebter, und mich mit Seufzen zu‐ rückgelassen? / Wie der Hirsch bist du geflohen, / nachdem du mich verwundetest; / ich lief dir nach, flehend, und du warst fort. 148 Vgl. Zambrano: CB, dt. S. 13 f. 149 Ebd., dt. S. 10. Grund dieser Wunde, die sich nach innen öffnet, zum Sein selbst, nicht die Frage aufsteigen, sondern eine Klage, geweckt von jenem Unsichtbaren, das nur leicht be‐ rührend vorübergeht. ,Wo hast du dich verborgen? ‘ … 146 Zambrano legt die Rede von der Wunde und die Frage nach der Verbergung mit deutlichem intertextuellen Bezug zu San Juan an. Zu Beginn des Cántico espiri‐ tual klagt die ‚Esposa‛ über die Liebesqual, die ihr das Fortgehen des ‚Esposo‛ zufügt: ¿Adónde te escondiste, amado, y me dexaste con gemido? Como el ciervo huiste, habiéndome herido; salí tras ti, clamando, y eras ido. 147 Der Moment der Offenheit für die Erkenntnis intensiverer Wahrheit währt nicht lang. Zwar soll er jene diskontinuierliche Methode begründen, die aus einem vollständigen ‚Incipit vita nova‘ entstanden ist, und der Widerhall des Augen‐ blicks sein, „der sich ewig diskontinuierlich fortpflanzt“, 148 doch der innere Wi‐ derspruch eines solchen Konzepts kann unmöglich überwunden werden, denn die dauerhafte Suspendierung der Kontinuität wäre nur um den Preis des Endes des Denkens zu erreichen. Und so, schreibt Zambrano, ist das Verweilen des Waldfreunds nur kurz; er ist zerrissen durch eine „doppelte, sich überlagernde Bewegung“, „die, zu gehen, um zu sehen, und die, bis an die Grenze des Orts zu gelangen, den die Gottheit verlassen hat oder den sie ankündigte“. 149 Es ist ein widersprüchlicher Impuls, den die Lichtung auslöst. Als Metapher entzieht sich Zambranos Waldlichtung endgültigen Bestim‐ mungen. Dennoch bieten die Bezüge zu Heidegger Anhaltspunkte für eine In‐ terpretation, die uns die Lektüre als Reflexion über metaphysische Begrifflich‐ keiten näherbringt. Heidegger hat das Bild der Lichtung seit Sein und Zeit 161 1 María Zambrano: Claros del bosque 150 Vgl. Trawny, Peter: Martin Heidegger. Eine kritische Einführung. Frankfurt a. M.: Klos‐ termann 2016, S. 105. Von der Lichtung als dem ,Dasein‘ über die Lichtung als die ,Un‐ verborgenheit‘ bis hin zur Lichtung der ,Verbergung‘. 151 Vgl. Heidegger, S. 40. 152 Ebd. 153 Zambrano: CB, span. S. 123. 154 Heidegger, S. 40. 155 Ebd. intensiv bemüht und im Laufe seines Schaffens mehrfach umgedeutet. 150 In Hei‐ deggers Kunstwerk-Aufsatz ist die Lichtung eine offene Stelle, in die das ‚Sei‐ ende‘ hinein- und hinaussteht; sie ist Ort eines Wahrheitsgeschehens, dem die ‚Unverborgenheit des Seienden‘ geschieht. 151 Heidegger siedelt diesen Ort je‐ doch nicht in einer Mitte des ‚Seienden‘ an; sie sei von ihm nicht umschlossen, „sondern die lichtende Mitte umkreist wie das Nichts, das wir kaum kennen, alles Seiende“. 152 Vorzustellen ist eine solch paradoxe Mitte vielleicht als jene Sphäre, die sich im Kosmos um ein schwarzes Loch herum bildet: ein ‚Ereignis‐ horizont‘ (‚event horizon‘). Als Ort des Übergangs ist er bildlich nur indirekt zu sehen, indem er das Licht um sich herum krümmt. Die Metapher aus der Ast‐ ronomie ist nicht zufällig: So ruft auch Zambranos Lichtung starke Assoziati‐ onen mit Einsteins Entdeckung des gekrümmten Raum-Zeit-Gefüges hervor, wenn sie schreibt, nicht nur das Licht krümme sich, sondern reiße auch die Zeit mit sich in diese Krümmung: „Ligeramente se curva la luz arrastrando consigo al tiempo.“ 153 In Heideggers Lichtung offenbart sich Wahrheit als ein Geschehen; und sie tut es auf ähnliche Weise wie die Claros del bosque: indem sie sich verbirgt und versagt. „Die Lichtung, in die das Seiende hereinsteht, ist in sich zugleich Ver‐ bergung.“ 154 Diese Verbergung äußert sich nun prinzipiell auf zweifache Weise: in einem ‚Sich-Versagen‘ und im ‚Verstellen‘: Mit Ersterem meint Heidegger, dass wir nicht mit Letztgültigkeit sagen können, was das ‚Seiende‘ denn genau sei. Die Grenze, an die wir in der Erkenntnis darüber gelangen, ist jedoch kon‐ stitutiv - das ‚Seiende‘ ist das, was sich uns immer versagt. Bis zu welchem Grad sich uns diese Art der Verbergung darbietet, erkennen wir daran, dass uns am Ende nur die tautologische Aussage als gesichert gelten kann, dass das ‚Seiende‘ eben sei. Doch die Grenze der (intelligiblen) Erkenntnis ist gleichzeitig „Anfang der Lichtung“: 155 In der Gestalt des sich Versagenden kommt es in die Unver‐ borgenheit. Die zweite Art der Verbergung ist das ‚Verstellen‘, bei dem das ‚Seiende‘ zwar erscheint, jedoch nicht als es selbst, sondern als etwas anderes, als es ist: „Seiendes schiebt sich vor Seiendes, das eine verschleiert das andere, jenes ver‐ 162 III. Praxis 156 Ebd. 157 Ebd. 158 Trawny, S. 64. 159 Zambrano CB, dt. S. 9, span. S. 123: „claridad aleteante que apenas deja dibujarse algo que al par se desdibuja.“ 160 Ebd., dt. S. 16, span. S. 127: „el discurso que cesa cuando más se esperaba, cuando se estaba al borde de su total comprensión.“ dunkelt dieses, weniges verbaut vieles, vereinzeltes verleugnet alles.“ 156 Dies ist der Grund, so argumentiert Heidegger, dass das ‚Seiende‘ als Schein trügen könne. Weil nun aber die Verborgenheit eine seiner wesentlichen Eigenschaften ist, erscheint es uns grundsätzlich trügerisch, das heißt eben auch als jenes ,an‐ dere, das es ist‘. Charakteristikum des ‚Seienden‘ ist es, sich in die Verborgenheit zurückzuziehen; jegliches als ,anwesend‘ gedachte ,Seiende‘ hält daher auch „eine seltsame Gegnerschaft des Anwesens inne“. 157 Zambranos Lichtung ist ein solcher Ort der Verbergung in der doppelten Ge‐ stalt, verstanden als ‚Versagung‘ und ‚Verstellung‘. Sie ist, was sich dem Such‐ enden stets entzieht, sich nur kurzzeitig öffnet, erscheint und wieder erlischt, allenfalls erahnbar durch die Stimme des Vogels oder die Fährten der Tiere. Dem Suchenden versagt sie sich als Nichts und Leere. Genauso ist sie auch Ort der ‚Verstellung‘: Sie zeigt sich in einer Überlagerung anderer Bilder, im Tempel‐ werk, im Spiegel, im Himmel, im Hörsaal. Die Waldlichtung hält jene „Gegner‐ schaft des Anwesens“ inne, von der Heidegger spricht, und ist damit ein Bild für eine neue Auffassung des ‚Seins‘, das sich nicht mehr in den traditionellen Ka‐ tegorien von Anwesenheit erfassen lässt, sondern als ‚Verdecktsein‘. Peter Trawny schreibt, die Verdecktheit des ‚Seins‘ verweise bei Heidegger auf eine „elementare ‚Abwesenheit‘, auf einen ‚Entzug‘. Das ‚Sein selbst‘ konnte nicht mehr als eine in sich stabile Entität gedacht werden.“ 158 Was ist ‚Sein‘, was ist ‚Wahrheit‘? Ein in sich gebrochenes Geschehnis, das sich niemals unserem Verstand fügt, das sich seinen Bemühungen des ‚Gefügig‘- und ‚Verfügbar‘-Ma‐ chens vielmehr immer entzieht. Diese Überlegung bestimmt die Bilder der Lich‐ tung beider Philosophen. Entweder als ‚Urstreit‘ gedacht zwischen ‚Welt‘ und ‚Erde‘, zwischen der sich öffnenden Offenheit und dem bergenden Hervor‐ kommen, oder als Ambivalenz dessen, „was sich abzeichnet und zugleich ver‐ schwimmt“, 159 als „der Gedankengang, der aufhört, wenn man kurz davor war, ihn ganz zu verstehen“, 160 als Lichtung und Verbergung. Eine weitere deutliche Parallele, die Heideggers und Zambranos Bilder von der Lichtung verknüpft, ist auch ihre Verbundenheit mit der Dichtung. Stehen die Claros del bosque für ein Wissen, das sich nur einer dichterischen Vernunft beugt, so assoziiert auch Heidegger die Lichtung mit der Gewaltlosigkeit eines 163 1 María Zambrano: Claros del bosque 161 Heidegger, S. 59 (Hervorhebungen durch den Autor). 162 Ebd., S. 61. 163 Zambrano: FyP, S. 115 (e. Ü.): „La palabra que quiere fijar lo inexpresable, porque no se resigna a que cada ser sea solamente lo que aparece. Por encima del ser y del no ser, persigue la infinitud de cada cosa, su derecho a ser más allá de sus actuales límites.“ ‚Geschehenlassens‘ in einem dichterischen Entwurf: „Wahrheit als die Lichtung und Verbergung des Seienden geschieht, indem sie gedichtet wird. Alle Kunst ist als Geschehenlassen der Ankunft der Wahrheit des Seienden als eines solchen im Wesen Dichtung.“ 161 Dieses Verständnis von Dichtung ist den beiden ge‐ meinsam: In der Dichtung geht Sprache über die Funktionalität des Mitteilens hinaus und äußert sich als Transgression, die einzig imstande ist, Neues zu skiz‐ zieren oder zu erproben, und dabei den Raum des Sagbaren um das Mögliche erweitert. Dieses „entwerfende Sagen“ 162 ist Wesen der Sprache an sich. In Filosofía y poesía hebt Zambrano ebenso jenen transgressiven Charakter der Dichtung hervor, den ich oben auch unter dem Wort der ‚Paralogie‘ zu fassen versucht habe, und beschreibt sie als „das Wort, das das Unausdrückbare fest‐ halten will, weil es sich nicht damit zufriedengibt, dass jedes Wesen nur das sei, als was es erscheine. Außer dem Sein und dem Nicht-Sein verfolgt es die Un‐ endlichkeit in jedem Ding, sein Recht, jenseits seiner gegenwärtigen Grenzen zu sein.“ 163 Trotz der auffälligen Parallelen in der Metaphernwelt Heideggers und Zam‐ branos sind sie nicht gleichzusetzen. Zunächst unterscheiden sich beide deutlich in ihrem philosophischen Stil: Wer Heideggers Ausführungen über den Ur‐ sprung des Kunstwerks folgt, wird auf eine Sprache stoßen, die sich seinem Ge‐ genstand zwar peu à peu, in Kreisbewegungen oder eben Holzwegen nähert, jedoch dabei immer ,akribisch‘ vorgeht. Das ‚Sein‘, die ‚Wahrheit‘, das ‚Zeug‘, das ‚Geschaffensein‘ und die Bilder von ‚Erde‘ und ‚Himmel‘ betrachtet Hei‐ degger auf minutiöse Weise. Er klaubt Wörter auseinander, prüft jede Silbe auf ihren verborgenen Gehalt. Adorno wird diesen Stil als ‚Jargon der Eigentlich‐ keit‘ polemisch bekämpfen. Wo bei Heidegger Ausführungen zu lesen sind, finden sich bei Zambrano eher ,Aussparungen‘. Die Essayistin bleibt in den Claros del bosque überwiegend im Metaphorischen und deutet ihre Bilder, wenn überhaupt, dann durch andere Bilder. Doch nicht nur in der Stilfrage unter‐ scheiden sich beide: Dass es zum Wesen der Wahrheit gehört, noch in der Ent‐ bergung verborgen, versagt, verstellt zu sein, ist, so scheint es, für Heidegger eine Entdeckung, für Zambrano aber eine Erschütterung. Für sie entspricht diese Überlegung der tiefen Erfahrung des metaphysischen ‚Exils‘, Ausdruck des nie‐ mals ‚Bei-sich-Seins‘, der grundlegenden Abwesenheit von sich, von der Welt, der Abwesenheit von Wahrheit, Ordnung, Stabilität und Universalität. Ihre 164 III. Praxis 164 Zambrano: CB, dt. S. 17, span. S. 127: „Y al perderse en esa búsqueda, puede dársele el que descubra algún secreto lugar en la hondonada que recoja al amor herido, herido siempre, cuando va a recogerse.“ 165 Ebd., span. S. 122 (e. Ü.): „Suspender la pregunta que creemos constitutiva de lo humano.“ 166 Vgl. ebd., span. S. 122. Waldlichtung ist aber auch Zeichen der Hoffnung auf die Eröffnung einer ‚Spur‘ von Wahrheit für den Menschen, gebrochen durch jenen beinahe schon fle‐ hentlichen Ausruf „Wie sich in ihr halten? “ und gezeichnet von der Klage an das Unverborgene, das vorübergeht: „Wo hast du dich verborgen? “ Es sind die ,Holzwege‘, die zu den ,Waldlichtungen‘ führen; der unvermittelte Zufallsfund ist das Verdienst des Unmethodischen, des Irregehens und des Kreisgangs. Doch Zambrano geht einen Schritt weiter: Wo Heidegger seine Er‐ kenntnis konstatiert, ist ihr Schreiben ein ,Versuch‘, die Konsequenzen aus dieser Erkenntnis zu erspüren, zu erfragen und vielleicht sogar über sie hinauszu‐ gehen. Ihr Schreiben ist bereits ein Versuch, die ,Überwindung‘ der Metaphysik kraft der sprachlichen Offenbarung ihrerseits zu ,überwinden‘, um die Wunde des Verlustes zu heilen: „Und wenn er sich in dieser Suche verliert, kann es ihm geschehen, daß er vielleicht einen geheimen Ort in der Tiefe entdeckt, der die verwundete Liebe aufnimmt, die immer verwundet ist, wenn sie sich aufmacht, um sich zu sammeln.“ 164 1.4 Transgression und Entgrenzung: Die Performativität der Metapher Zambranos Schreiben widersetzt sich genauer Bestimmung, Identifikation; ihr Diskurs ist einer der Uneindeutigkeit. Dabei hinterlässt er inhaltlich, aber auch im Prozess dieses Schreibens selbst Spuren dieser fehlenden Greifbarkeit. Der gedankliche Inhalt der Claros del bosque ist nicht von seiner Darstellung zu trennen; beide Ebenen sind performativ ineinander verwoben: Der Text lässt sich nicht befragen, so wie man nicht nach den Lichtungen suchen und nichts in ihnen suchen darf. So wird die Frage „Was ist die Waldlichtung? “, die sich dem Leser aufdrängt, auf der Inhaltsebene mit dem Gebot beantwortet, man müsse „die Frage aussetzen, von der wir glauben, sie sei grundlegend für das Menschliche“. 165 Und Zambranos Schreiben kommt diesem Gebot nach, indem es bis zuletzt im Ungefähren, in der Unentschiedenheit bleibt; einer Unentschie‐ denheit, die der Text von seinen Lesern einfordert: Um nicht vom Nichts und von der Leere verschlungen zu werden, müsse man sie in sich schaffen und sich in einer spannungsvollen Schwebe halten („quedar en suspenso“). 166 Durch die enge Verzahnung von Inhalt und Darstellung scheint es, als kommentierten und spiegelten sich die beiden Ebenen gegenseitig. „Und alles deutet an, alles ist 165 1 María Zambrano: Claros del bosque 167 Ebd., span. S. 123 (e. Ü.): „Y todo alude y todo es alusión y todo es oblicuo.“ 168 Vgl. Münker, Stefan / Roesler, Alexander: Poststrukturalismus. Stuttgart: Metzler 2012, S. 29 f. 169 Vgl. ebd., S. 30. 170 Derrida: Grammatologie, S. 87. Andeutung und alles ist schief.“ 167 Die Lichtung zeigt sich als Spiegel und als Himmel, dieser wiederum sich selbst als Lichtung. Zambrano setzt drei Meta‐ phern - Spiegel, Himmel, Lichtung - dicht hintereinander und lässt die Meta‐ phernkette sich zum Kreis schließen. Doch statt sie hinsichtlich ihres Sinns zu kommentieren, deuten sich die Metaphern gegenseitig: Die Lichtung ist ein Spiegel, ist ein Himmel … der Kommentar verliert sich im Ungefähr einer An‐ deutung. Damit setzt sich performativ in Szene, dass „alles andeutet und alles Andeutung und alles schief “ (oblicuo) sei. Das Erfordernis eines solchen Texts der Andeutungen ist Kofmans schiefer Blick. Darin erschließt sich in seiner Tiefendimension eine Sprachreflexion poststrukturalistischer Couleur. Wagen wir einen Versuch: Betrachten wir die einzelne Metapher als Zeichen, so ist die erste Konsequenz, dass sie nicht aus sich heraus zu begreifen ist, son‐ dern nur im Zusammenspiel der übrigen Zeichen; erst die Struktur ist es, was dem Zeichen seine Bedeutung verleiht - so zunächst die These des klassischen Strukturalismus. Der Poststrukturalismus ist nun kein Antistrukturalismus, wie Stefan Münker hervorhebt. Denn er übernimmt unter anderem die These, dass sich Sinn nur aus dem differenziellen Prozess innerhalb einer Struktur ent‐ faltet. 168 Doch geht er nicht mehr von der Geschlossenheit solcher Strukturen aus. Zwar generiert die Differenzierung der Zeichen Bedeutung, aber die Zahl der möglichen Differenzierungen und unterschiedlichen Sinnzusammenhänge ist grundsätzlich unendlich; der unterschiedliche Kontext, in dem ein Zeichen verwendet werden kann, positioniert es innerhalb der Struktur immer wieder auf überraschende Weise neu. Poststrukturalismus richtet sich also gegen die Annahme, Strukturen und Systeme besäßen feste Zentren, aus denen heraus sie verständlich und (durch den Verstand) beherrschbar wären; eine Illusion, die, so der Vorwurf, immer nur zum Preis des Ausschlusses des ‚Anderen‘ zu haben ist, das sich dem System nicht reibungslos fügt. 169 Um solche Systeme aufzu‐ sprengen, setzt der Poststrukturalismus beim Zeichen an und löst darin die feste Zuordnung von Signifikat und Signifikant auf. Es gibt kein Zentrum, kein alles durchdringendes, transzendentales Signifikat mehr, welches dem Spiel der auf‐ einander verweisenden Zeichen entkäme und es somit ordnen könnte. Derrida beschreibt das Phänomen als „Entgrenzung des Spiels“. 170 Eine Metaphernkette, wie sie nun Zambrano in den Waldlichtungen einsetzt, kommt einer gleich dop‐ pelten Entgrenzung des Bedeutungsgefüges gleich. Nicht nur, dass die einzelne 166 III. Praxis 171 Zambrano: CB, dt. S. 11, span. S. 124: „una visibilidad nueva, lugar de conocimiento y de vida sin distinción“. Metapher als Zeichen schon in sich vieldeutig ist; ihre Deutung durch weitere Metaphern vervielfältigt die Vieldeutigkeit. Jedes mögliche Signifikat erweist sich als verkappter Signifikant. Jedes ‚Ding‘ ist eingebunden in eine nicht kon‐ trollierbare Struktur, deren einzelne Elemente niemals ‚sie selbst‘ sein können, sondern immer nur ,verstellt‘, als ihr ‚Anderes in Erscheinung treten: „unheil‐ bare Diskontinuität“ ist das Wort, das Zambrano dafür findet. Sie bezeichnet die Erfahrung, in der sich Sprache als grundsätzlich metaphorisch herausstellt. Bei Zambrano erfährt die Signifikantenkette jedoch eine eigentümliche Wandlung. Als Metapher erzeugt der einzelne Signifikant einen bestimmten Ef‐ fekt, der die Verschiebungsbewegung gewissermaßen zum Stillstand kommen lässt: Kurz, es wirkt gerade so, als habe der Signifikant seine Bewegung des ‚Verweisen-Wollens‘ schlicht aufgegeben. Wie ist dies zu erklären? Zambranos Lichtung erhebt überhaupt nicht mehr den Anspruch, sich auf ein eindeutig bestimmbares Signifikat zu beziehen. Es fehlt ihm schlicht der entscheidende Impuls, der die Verweisungsbewegung antreibt und am Laufen hält. In der Waldlichtung bleibt die Bewegung ,suspendiert‘ (quedar en suspenso); sie will nicht bezeichnen, sondern sich in jener „Unentschiedenheit einer Spannung“ halten. Dabei entspricht es für Zambrano der Haltung des Dichters, jenes ,Wollen‘ aufzuheben, das den Weg des Philosophen bestimmt. So lässt sich als Eigenart des von Metaphorizität bestimmten poetischen Diskurses fest‐ stellen, dass darin die Bewegung der Signifikantenverschiebung zwar verinner‐ licht ist - dass aber gleichzeitig diese Bewegung zum Ruhen kommen kann. Was Derrida unter dem Wort ,Schrift vorstellt‘ - in etwa unendliche Verschiebung, Differenz, Aufhebung der Sicherheit des stabilen binären Zeichenbegriffs etc. -, nimmt der poetische Diskurs Zambranos zum Ausgangspunkt, um von dort aus einen neuen ,Horizont‘ des Denkens in den Blick zu nehmen, der die hastende Bewegung der Differenz in eine ruhende Harmonie der Gegensätze im paradiesischen Urzustand umzudeuten versteht: als eine „neue Sichtbarkeit, Ort von Erkenntnis und Leben ohne Unterschied“. 171 Die Bewegung der unendlichen Verschiebungen kann zum Stillstand gebracht werden durch das Vergessen des ,Wollens‘ des inquisitorisch wirkenden, aktiven Verstands. Die Bedeutung kann so vielleicht nie in seiner letzten Wahrheit erscheinen, doch kann sie, nicht zielgerichtet, sondern kontemplativ, umkreist und momenthaft erfahren werden. So offenbart sie sich als „Wink einer entlegenen Ordnung, die uns eine Umlaufbahn darbietet. Eine Umlaufbahn, die, weniger durchlaufen als gesehen werden kann. Eine Umlaufbahn, die sich nur denen bekundet, die auf die Pas‐ 167 1 María Zambrano: Claros del bosque 172 Ebd., dt. S. 12, z. T. e. Ü. Span. S. 124: „nota de un orden remoto que nos tiende una órbita. Una órbita que menos aún ser recorrida puede ser vista. Una órbita que solamente se manifiesta a los que fían en la pasividad del entendimiento aceptando la irremediable discontinuidad a cambio de la inmediatez del conocimiento pasivo con su consiguiente y continuo padecer.“ 173 Lagemann / Gloy, S. 125. 174 Zambrano: CB, dt. S. 11, span. S. 124: „Algún jirón se desprende de una blancura no vista, algo, que no es signo. Nada es signo como si se vislumbrase un reino donde lo que significa y lo significado fuera uno y lo mismo.“ sivität des Verstands vertrauen und die unheilbare Diskontinuität akzeptieren im Tausch gegen die Unmittelbarkeit der passiven Erkenntnis.“ 172 Der Rettung eines metaphysischen Erlebnisses liegt eine dekonstruktive Figur zugrunde. Doch Zambrano geht es nicht um die Liquidierung des Signifikats durch die Wende zum Signifikanten. Vielmehr verändert sich die Perspektive auf die Sig‐ nifikantenkette: ‚Lichtung‘ lässt sich nicht nur als Signifikant verstehen, der auf Spiegel und Himmel verweist; sie wird gleichzeitig auch selbst Signifikat, inso‐ fern Spiegel und Himmel ihrerseits auf sie verweisen. Was in der Waldlichtung - linguistisch gesprochen - geschieht, ist die ,Implosion‘ des Gegensatzes oder der Unterscheidbarkeit der beiden Seiten des Zeichenbegriffs. Diese Beobach‐ tung entspricht im Prinzip genau einer Kritik an Derrida, wie sie etwa Umberto Eco formuliert, wenn er anmerkt, bei der Signifikantenkette handele es sich eigentlich doch um eine Kette von Signifikaten. 173 Wieder kommentiert Zambrano diesen Vorgang auf der Inhaltsebene der Waldlichtungen, wenn sie ein Gehen von Lichtung zu Lichtung als fortschrei‐ tende Öffnung eines Horizonts beschreibt, in dem Signifikant und Signifikat eins seien: „Ein Fetzen vielleicht löst sich von einer nie gesehenen Weiße, etwas, etwas, das nicht Zeichen ist. Nichts ist Zeichen, als erahnte man ein Reich, in dem das, was bezeichnet und was bezeichnet wird, ein und dasselbe wären.“ 174 Zambranos Methode des Schreibens erscheint nun selbst als dieser Horizont. Der poststrukturalistische Ansatz Derridas und der Versuch einer erneuerten Metaphysik bei Zambrano gehen erstaunlicherweise von denselben Grundope‐ rationen aus: Beide kritisieren die Vorstellung einfacher, naiver Bedeutung, die sich als Anwesenheit im Bewusstsein ausdrückt, denn Zambranos Offenbarung oder Vision ist die einer Abwesenheit. Beide kritisieren außerdem eine Meta‐ physik, die das Trennende strikter Unterscheidungen zwischen Innen und Außen, Signifikant und Signifikat, Philosophie und Dichtung zur Achse ihres Denkens macht. Doch der Impuls verläuft in unterschiedliche Richtungen. Der‐ rida kommt zu dem Schluss, alles sei Zeichen, und deutet dieses als freies Spiel 168 III. Praxis 175 Der wissenschaftliche Zeichenbegriff Saussures deckt sich nicht mit Zambranos poe‐ tischer Verwendung des Begriffs. In Zambranos Verständnis von ‚Zeichen‘ ist das Sig‐ nifikat erloschen, und es erscheint schlicht als das ‚Andere‘ des Signifikats - als reiner Signifikant. 176 Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, S. 67. von Signifikanten. Zambrano hingegen erklärt, nichts sei Zeichen. 175 Ihr Denken bleibt an einem Horizont von Bedeutung orientiert. In dem Moment, in dem Saussures binäres Zeichen implodiert, lässt Derrida das Pendel in Richtung Sig‐ nifikant, Zambrano in Richtung Signifikat schwingen. Das metaphysische Zentrum, das bei Derrida verschwunden ist und niemals existiert hat, wird bei Zambrano als ersehnter Horizont, als „ferner Blick auf das kaum sichtbare Zentrum“ und als Utopie in den Bereich des Möglichen versetzt. Doch das Denken des Horizonts bleibt labil; denn es droht statt Erscheinen des Signifikats grundsätzlich zu jeder Zeit die Bewegung der Signifikanten wieder angestoßen werden zu können, das heißt, die Perspektive kann sich rasch wieder ändern: Der Horizont ist bedroht von der dekonstruktiven Masse, aus der er gedacht wird. Er entsteht nur aus der Fähigkeit des Perspektivwechsels. 1.5 Ähnlichkeit und Unbegrifflichkeit - die ‚redende Sprache‘ Die Implosion des binären Zeichens legt Sprache als etwas ‚Lebendiges‘ aus, dessen Ort die ,Stimme‘ ist. Der grundlegende Widerspruch, der sich daraus zu Zambranos eigener ,Schreib‘-arbeit ergibt, setzt die alte metaphysische Polarität von Stimme und Schrift instand. Doch Zambrano erneuert sie nicht als hierar‐ chisches Prinzip, sondern als Aporie eines (un)möglichen Ausdrucks: Eine der entscheidenden Annahmen des binären Zeichenmodells ist die These von der Arbitrarität, deren Bedeutung in Michel Foucaults Episteme-Denken zum Ausdruck kommt. Die Auffassung, dass Bedeutung und Bedeutendes nur aufgrund eines konventionalisierten Zufalls miteinander in Verbindung stehen, geht nach Foucault auf die Epoche der Klassik zurück. Sie sei geprägt durch die ‚Repräsentation‘, Wissensordnung der Zuordnungen, Taxonomien und Tab‐ leaus, in der Wissen das Erkennen der Ordnung war. Sie löst die ‚Ähnlichkeit‘ ab, die Foucault als ausschlaggebend für die Konfiguration der Renaissance sieht: Anders als in der Klassik, die ihre Zeichen auf arbiträre Weise den Dingen zuordnete, herrschte im 16. Jh. die Vorstellung, dass die Dinge der Natur auf‐ grund von Ähnlichkeiten in den sprachlichen Zeichen eingeschrieben worden seien. Sprache war in ihrer ursprünglichen, von Gott gegebenen Form „ein ab‐ solut sicheres und wahres Zeichen der Dinge, weil sie ihnen ähnelte“. 176 Durch 169 1 María Zambrano: Claros del bosque 177 Ebd., S. 73. 178 Ebd., S. 73. 179 Ebd., S. 76. 180 Ebd., S. 74. 181 Bachelard, S. 14. die ursprüngliche Sprache als Instrument göttlicher Erkenntnis wurde die Welt in Bezug auf die Wahrheit absolut transparent und lesbar. Die Strafe der baby‐ lonischen Verwirrung bestand nach dem Verständnis der Renaissance nun in der Auslöschung dieser Transparenz; lediglich einige Reminiszenzen belässt Gott in der Sprache. Texte jener Epoche, so Foucault, hatten die Aufgabe, jene absolute Lesbarkeit wiederzuentdecken. Schreiben war im wesentlichen Kom‐ mentar - eine Möglichkeit, die „absolut offene Dimension der Sprache“ 177 frei‐ zulegen. Er begründet ein Wissen, welches sich seinem Gegenstand in einer Reihe unendlicher Interpretationen annähert. Denn die Sprache kann nach dieser Vorstellung zwar den ursprünglichen Diskurs nicht mehr herstellen; sie ist aber durchaus in der Lage, ihm ähnliche Dinge zu äußern. Die Arbeit des Schreibenden lag also in einer Kommentierung des verborgenen, rätselhaft ge‐ wordenen Teils der Sprache. „[Der Kommentar] läßt unterhalb des existierenden Diskurses einen anderen, fundamentaleren und gewissermaßen ‚ersteren‘ Dis‐ kurs entstehen, den wiederherzustellen er sich zur Aufgabe macht. Es gibt nur einen Kommentar, wenn unterhalb der Sprache, die man liest und entziffert, die Souveränität eines ursprünglichen Textes verläuft.“ 178 Die Sprache der Menschen blieb auf diese Weise immer verbunden mit einem absoluten ‚Sein‘ des göttlichen Diskurses, der durch eine Exegese ,zum Spre‐ chen‘ gebracht werden konnte. Zwar wird die ‚Ähnlichkeit‘ in der Klassik von der Episteme der ‚Repräsentation‘ und der binären Zeichentheorie abgelöst. In der Literatur aber lebt die Sprachkonfiguration der Renaissance unter verän‐ derten Vorzeichen weiter. Man könnte also sagen, so Foucault, „daß die ‚Lite‐ ratur‘, so wie sie sich gebildet und als solche an der Schwelle des modernen Zeitalters sich bezeichnet hat, das Wiedererscheinen des lebendigen Seins der Sprache dort offenbart, wo man es nicht erwartet hätte“. 179 So etabliert sich Li‐ teratur als Gegendiskurs zur Repräsentation und ist als Kommentar zu einer rätselhaft gewordenen Welt zu verstehen. Er „wendet sich an jene erste Schrift, deren Wiederkehr er gleichzeitig verspricht und aufschiebt“. 180 Auch die Waldlichtungen verorten sich innerhalb dieser Ästhetik; Zambranos Schreiben lässt sich verstehen als Kommentar zum Wissen von der ‚Welt‘ unter dem Rückgriff auf einen rätselhaft gewordenen Teil der Sprache. „Grundsätzlich meinen wir, daß alles spezifisch Menschliche im Menschen Logos ist. Wir ver‐ mögen nicht in einer Region zu meditieren, die vor der Sprache wäre.“ 181 , schreibt 170 III. Praxis 182 Zambrano: CB, dt. S. 9, span. S. 123: „el anuncio y el final de la plenitud que no llegó a darse: […] la palabra presentida a lo más.“ 183 Ebd., dt. S. 16, span. S. 127: „la palabra perdida que nunca volverá, el sentido de un pensamiento que partió. Y queda también en suspenso la palabra, el discurso que cesa cuando más se esperaba, cuando se estaba al borde de su total comprensión.“ 184 San Juan de la Cruz: Cántico espiritual, S. 119. Gaston Bachelard. Doch genau das versucht Zambrano. Ihr geht es darum, zu einem ideellen Urzustand zurückzufinden, als der Logos noch nicht von der Philosophie vereinnahmt und noch vor seiner Aufspaltung in Dichtung und Philosophie unmittelbarer Ausdruck des Seins war. Dieser Urzustand umfasst auch jene Aspekte der Sprache, die wir in einem alltäglichen Wortsinn nicht als Sprache betrachten: Das Vor-Sprachliche, die Stille, die Vibrationen, die Musi‐ kalität. Gleichzeitig schwingt immer die Ahnung mit, dass sich der Kommentar dem Urzustand nur annähern kann, und sich die absolute Transparenz des Aus‐ drucks, das vollständig sinnerfüllte Wort, nur immer weiter verschiebt und auf‐ schiebt. Und so spricht Zambrano von der „Ankündigung und dem Ende der Fülle, die sich dann doch nicht ergeben hat“, und vom „bestenfalls erahnten Wort“. 182 Thematisiert wird hier die Ambivalenz zwischen der Hoffnung des Kommentars, dem göttlichen Wort ähnliche Dinge aussagen zu können, und dem schmerzlichen Verlust dieser Hoffnung in der Klage über „das verlorene Wort, das niemals wiederkehrt, der Sinn eines Gedankens, der aufgebrochen ist. Und in der Schwebe bleibt auch das Wort, der Gedankengang, der aufhört, wenn man kurz davor war, ihn ganz zu verstehen.“ 183 Im Cántico espiritual des San Juan de la Cruz drückt sich dies durch den Schmerz der ‚Esposa‛ aus, den Geliebten kurz vor der Vereinigung wieder ver‐ loren zu haben, nachdem sie ihm lange gefolgt war: En la interior bodega de mi Amado bebí, y cuando salía por toda aquesta vega ya cosa no sabía y el ganado perdí que antes seguía. 184 Die Geschichte der Moderne kann als eine schrittweise Loslösung vom Glauben an den absoluten Wert des Zeichens interpretiert werden, als bestimmte Form der Sprachkritik, die auf die Hoffnung des Kommentars zielt und im postmo‐ dernen Denken einen vorübergehenden (oder ständigen) Höhepunkt erreicht. Sobald die Möglichkeit eines göttlichen Verstehens aus dem Blick gerät, ähnelt Sprache nichts mehr, sondern wird zunehmend in ihrer Selbstreferenzialität wahrgenommen. Das binäre Zeichenmodell ist vor allem durch die Annahme 171 1 María Zambrano: Claros del bosque 185 Bachelard, S. 13. der Arbitrarität ein Angriff auf die Vorstellung, dass sprachliche Zeichen in ihrem Inneren Träger von Bedeutung sein können. Dennoch hält dieses Modell der ‚Repräsentation‘ noch die Möglichkeit für den Menschen intelligibler Be‐ deutung bereit; diese mag zufällig sein, aber dennoch existent. Mit der Auflösung dieses Modells erstirbt die Arbitrarität. Nun eröffnen sich zwei Wege, die ent‐ weder zurück zur ‚Ähnlichkeit‘ mit dem göttlich erfüllten Wort führen oder den Fall in die Selbstreferenzialität der Sprache einleiten. Man könnte nun meinen, Letzteres sei auch das Ende der Vorstellung von Bedeutung an sich. Doch die absolute Bedeutung verschwindet nicht; sie wird nur auf die Sprache selbst be‐ zogen: sie erstrahlte fortan in einem neuen, ‚absoluten Sein‘. Ohne die Hoffnung auf einen göttlichen Ursprung neigte die Sprache zur Apotheose und bliebe der Welt des Menschen nun grundsätzlich entzogen. Eine Renaissance der ‚Ähn‐ lichkeit‘ wäre immer nur deren Wiedergeburt unter den Vorzeichen der mo‐ dernen Lebenswirklichkeit. Und so bedeutete die Auflösung des binären Zei‐ chenmodells heute einen Verlust von Referenzialität der Sprache. Sie erschiene als Übermächtiges, imstande, sich den Menschen vollkommen zu unterwerfen. In diesem Szenario kommentierte Sprache nicht mehr ‚Welt‘, sondern nur noch sich selbst: als Kommentar des Kommentars. Wir müssen nicht zwangsweise zu einer solch dystopischen Sichtweise ge‐ langen, und dennoch gibt es ein gewisses Unbehagen, das auch aus Zambranos Text spricht und das ich mit einer allgemeinen Ahnung deuten möchte, dass dem Menschen die Sprache nicht mehr zu Diensten steht; dass wir mit unserem Sprechen niemals treffen, was wir sagen wollen und dass uns die intendierte Bedeutung unter dem Einfluss einer selbstermächtigten Sprache stets auf der Zunge zergeht, weil sich unsere Worte nicht mehr auf ‚Welt‘ beziehen, sondern nur auf andere Worte. Gleichzeitig entsteht jedoch auch die hoffnungsvolle Vorstellung, wir könnten uns in dieser Lage einrichten und sogar ganz neue Erkenntnisse gewinnen, wenn wir lernten, die ‚Sprache der Sprache‘ zu spre‐ chen. Das heißt bei Zambrano, sie mit der Haltung des Dichters ‚klingend‛ oder ‚redend‛ zu machen, ganz in dem Sinn, den Gaston Bachelard andeutet, wenn er schreibt: „Das dichterische Bild versetzt uns an den Ursprung des redenden Seins.“ 185 Alles Reden kommt jedoch aus der Stille, und so bedeutet dies auch, in sich selbst den Raum dieser Stille zu schaffen und offen zu halten. „Denn es scheint, daß das Nichts und die Leere […] fortwährend im menschlichen Leben anwesend oder unterschwellig vorhanden sein müssen. Und um nicht vom 172 III. Praxis 186 Zambrano: CB, dt. S. 8. 187 Obaldia, S. 18. 188 Adorno, S. 81. 189 Zambrano: CB, dt. S. 9 f. z. T. e. Ü. Span. S. 123: „Y no se olvidará nunca que la curvatura de luz y tiempo no es castigo, o que no lo es solamente, sino testimonio y presencia fragmentada de la redondez del universo y de la vida, y que el temblor es irisación de la luz que no deja de descender y de curvarse en todo recoveco oscuro, que se insinúa Nichts und der Leere verschlungen zu werden, muß man sie in sich selbst schaffen.“ 186 Die Idee eines ‚lebendigen Seins‘ von Sprache erscheint in einer der Kons‐ tellationen des ‚Essayistischen‘. Ihre Elemente liegen innerhalb der Episteme der ‚Ähnlichkeit‘ und einer Ästhetik des Kommentars. Die Bedeutung des Kom‐ mentars und seiner versprechenden und aufschiebenden Wirkung hebt Claire de Obaldia hervor: Es entspreche einer inneren Verfasstheit des ‚Essayistischen‘, einen Zustand anzukündigen, der noch nicht eingetreten ist, der „jedoch seine Vollendung und Totalisierung erahnen lässt“. 187 Diesem Zustand nähert sich das ‚Essayistische‘ durch einen klangvoll sinnlichen Sprachgebrauch, der die Nähe zur Dichtung pflegt. Adorno unterstreicht diese Vorstellung für das ‚Essayisti‐ sche‘, die Sprache sprechend oder klingend zu machen: „Auch hierin streift der Essay die musikalische Logik, die stringente und doch begriffslose Kunst des Übergangs, um der redenden Sprache etwas zuzueignen, was sie unter der Herr‐ schaft der diskursiven Logik einbüßte.“ 188 Die „redende Sprache“ kann sich nicht im Bereich einer diskursiven Logik mit ihrem begrifflichen Denken produzieren, in einem naiven Vertrauen darauf, dass Zeichen sich umstandslos auf Welt beziehen. Aller sprachlicher Ausdruck reflektiert Welt vielmehr, wie Zambranos Waldlichtungen das Zentrum spie‐ geln, als ein zitternder Spiegel, der seinen Gegenstand nur schemenhaft zu‐ rückwirft und das Licht prismatisch in Farbtöne bricht. Darin enthalten ist aber nicht nur eine Klage über die fehlende oder verloren gegangene Transzendenz, die Unzulänglichkeit allen sprachlichen Begehrens, sondern zugleich auch die Rettung der Möglichkeit von Bedeutung. Denn der Mensch ist in seinem Ver‐ ständnis der Welt nicht völlig blind und taub: Und man darf nie vergessen, daß die Krümmung von Licht und Zeit nicht Strafe ist oder daß sie es nicht nur ist, sondern Zeugnis und Bruchstück der Wölbung des Uni‐ versums und des Lebens, und daß das Zittern Schillern des Lichts ist, das beständig herabfließt und sich in jede dunkle Biegung krümmt, das sich so einschleicht, da es auf direktem Weg sich nicht ohne niederzwingende Gewalt gestatten kann, unsere letzten Schutzwinkel zu betreten. Und die Farben entstehen, um uns das Licht zu‐ gänglich zu machen. 189 173 1 María Zambrano: Claros del bosque así, ya que directamente no puede sin violencia arrolladora permitirse entrar en nuestro último rincón de defensa. Y los colores mismos nacen para hacernos la luz asequible.“ 190 Adorno, S. 71. 191 Zambrano: CB, dt. S. 15, span. S. 127: „Como los claros, las aulas son lugares vacíos dispuestos a irse llenando sucesivamente, lugares de la voz donde sa va a aprender de oído, lo que resulta ser más inmediato que el aprender por letra escrita, a la que inevi‐ tablemente hay que restituir acento y voz para que así sintamos que nos está dirigida. Die Definition, Kernstück aller begrifflichen Logik, wird nach dieser Ästhetik als Akt der Gewalt verurteilt. Sie ist jener erdrückende niederzwingende Weg des direkten Lichts, von dem Zambrano hier spricht. Die ‚redende Sprache‘ ist unbegrifflich, und Adorno hält ‚dem Essay‘ diesen Gebrauch zugute: Er durch‐ schaue strikte Definitionen als „festsetzende Manipulationen“, 190 welche das Ir‐ ritierende und Gefährliche der Sachen wegschafften, die in den Begriffen lebten. Die Fixierung des Wortes als Ausdruck beschneidet den Raum des Möglichen. Der Essayist ist sich darüber im Klaren, dass Sprechen immer auch ein Akt des Vergessens oder sogar des gewaltvollen Ausschließens gleichberechtigter Aus‐ sagen ist und dass keine Äußerung je diesem ursprünglichen Vergessen ent‐ kommt; der essayistische Ausdruck ist daher immer ‚Möglichkeitsaussage‘. Sie stellt den Versuch dar, im Text einen Zustand herzustellen, in dem die Vielheit der möglichen Bedeutungen veranlagt und noch nichts endgültig gesagt ist. Eine Besonderheit der ,poetischen Essayistik‘ liegt nun vielleicht darin, die ‚Mög‐ lichkeitsaussage‘ zu radikalisieren, indem sie sie nicht nur in den gesamten Text, sondern als Metaphorisches tendenziell sogar in den einzelnen Ausdruck zu legen versucht - einen mehrdeutigen Ausdruck eines Unbewussten, der über die ‚Verdichtung‘ im Bild die (Traum-)Zensur umgeht und sich so einen indi‐ rekten Zugang zum Bewusstsein erschleicht. Zambranos Waldlichtung jeden‐ falls gibt sich nicht als Begriff zu verstehen, sondern als ,Stimme‘: als lebendig redende, ihren Gegenstand offen haltenden Sprache und nicht als Schrift, die schon zu sehr Form ist und die immer die Abgeschlossenheit des Gesagten und damit das Ende der Möglichkeiten impliziert, den Dialog mit dem Ungesagten, Unbewussten tendenziell unterbindet. Orte der Stimme sind für Zambrano hin‐ gegen leere Orte, die Raum für die Vielheit des Noch-nicht-Gesagten bieten: Wie die Lichtungen sind die Hörsäle leere Orte, dazu da, sich nach und nach zu füllen, Orte der Stimme, wo man hörend lernt, was unmittelbarer ist, als das Lernen durch das geschriebene Wort, dem man unvermeidlich Betonung und Stimme zurückgeben muß, damit wir so spüren, daß es an uns gerichtet ist. Dem geschriebenen Wort müssen wir auf halbem Weg begegnen. Und immer bewahrt es nur die Objektivität und die leblose Beharrlichkeit dessen, was gesagt wurde, dessen, was bereits durch sich und in sich ist. 191 174 III. Praxis Con la palabra escrita tenemos que ir a encontrarnos a la mitad del camino. Y siempre conservará la objetividad y la fijeza inanimada de lo que fue dicho, de lo que ya es por sí y en sí.“ 192 Ebd., dt. S. 12, span. S. 125 (e. Ü.): „Todo método es un ,Incipit vita nova‘ que pretende estilizarse.“ Poppenberg übersetzt die Passage als: „Jede Methode ist ein ,Incipit vita nova‘, das sich stilisieren will.“ Nach dem Diccionario de la Real Academia (RAE) besitzt ,estilizar‘ die Bedeutungen einer künstlerischen Bearbeitung und Neugestaltung von Formen im Sinne einer Verfeine‐ rung. 1.) „Interpretar convencionalmente la forma de un objeto, haciendo más delicados y finos sus rasgos.“ Und 2.) „Someter a una nueva elaboración refinada una obra popular anterior.“ 3.) Umgangssprachlich wird ,estilizarse‘ mit ,abnehmen‘ übersetzt. Es geht nicht um eine Stilisierung als Vereinfachung oder Verfälschung, sondern um einen künstlerischen Akt des Hervorbringens einer verfeinerten, deutlich erkennbaren Form, bei der Überflüssiges abgezogen und weggenommen wird. Die Stilisierung ist bei Zambrano somit als Problematik des sprachlichen Ausdrucks gekennzeichnet, die aus der Fülle der Möglichkeiten immer etwas wegnehmen, beiseitelassen muss, um sich als materieller Ausdruck hervorbringen zu können. Dabei ist ,pretender‘ mehr als nur ein ‚Wollen‛. Es beinhaltet eine innere Notwendigkeit des Strebens und vor allem ein mü‐ hevolles Ringen, gemäß RAE ein ,hacer diligencias‘. 193 Vgl. Zambrano: CB, dt. S. 9. Zambranos Sprache der Stimme ist ein Modus, sich sprechend dem ‚lebendigen Wesen der Sprache‘ anzunähern (wenn das Wesen ‚west‘, so spricht die Sprache). Dieser Modus begründet den Versuch, einen Ausdruck zu finden, in dem die Fülle der Möglichkeiten anklingt, in dem „alles andeutet und alles Andeutung“ ist, als ständig fortgesetztes Versprechen eines absoluten Neubeginns, eines ‚In‐ cipit vita nova‘. Zambranos essayistischer Ausdruck ist die Suche nach seiner eigenen Gestaltung: „Jede Methode ist ein ‚Incipit vita nova‘, das danach strebt, sich zu gestalten.“ 192 Doch dieses Streben erscheint bei Zambrano problematisch und fragwürdig. Denn die Essayistin ahnt, dass die aller Eindeutigkeit enthobenen Zeichen, die ‚redende Sprache‘ immer Gefahr läuft, in die Selbstreferenz zu fallen, sodass Sprache am Ende nur um sich selbst kreiste. Die Stimme wäre eine nur in ihrer Innerlichkeit verhaftete und die radikale ‚Möglichkeitsaussage‘ ein ausdrucks‐ loser Ausdruck, eine stumme Geste des Anhebens zu etwas. Sobald sie zu einer Form gerinnt, sich sprachlich „stilisieren“, das heißt gestalten will, ginge die ursprünglich gedachte Bedeutungsfülle verloren. Dieser radikale Ausdruck ver‐ harrt im Nirgendwo eines Zustands des ewigen Sagen-Wollens. Zambrano ist sich dieser Problematik schmerzlich bewusst, wenn sie von der „Ankündigung und vom Ende der Fülle“ schreibt, die sich „dann doch nicht ergeben hat“, und vom „bestenfalls erahnten Wort“. 193 Auch ihre Rede vom ‚Incipit vita nova‘ re‐ flektiert diesen Widerspruch. Jede Methode entspringe immer einem „Moment lichtvoller Klarheit“, der sich in der Methode fortsetzen soll. Das Eigentümliche 175 1 María Zambrano: Claros del bosque 194 Vgl. ebd., dt., S. 12. 195 Ebd., dt. S. 13, span. S. 125: „Y arriesga descender tanto que se quede ahí, en lo profundo, o no descender bastante, o no tocar tan siquiera las zonas desde siempre avasalladas.“ der Methode, schreibt sie, ist die Kontinuität, ohne die sich nicht denken lasse. Das Bewusstsein jedoch, indem sich das Denken abspiele, sei ,diskontinuierlich‘. Bewusstes Leben und ihm angetragene Methode seien ungleich. 194 Zambranos Waldlichtungen sind daher auch als Reflexion zu lesen über ihre eigene Methode einer ‚dichterischen Vernunft‘; die Selbstkritik ist ihrem Diskurs mit einge‐ flochten. Sie weiß um den unauflöslichen Widerspruch, in dem sich auch ihr Denken und Schreiben abspielen, wenn sie feststellt: Eine solche Methode kann auch nicht Anspruch erheben auf die Kontinuität, die zum Anspruch der Methode als solcher gehört. Und dabei läuft sie Gefahr, so weit hinab‐ zusteigen, daß sie dort unten in der Tiefe bleibt, oder nicht tief genug hinabzusteigen oder die seit je unterdrückten Bereiche nicht einmal zu berühren. 195 Die Selbstkritik ist nicht nur auf der Inhaltsebene zu lesen, sondern spielt sich auch auf einer performativen Ebene ab. Die Rede war weiter oben bereits von einer Überlagerung oder Durchdringung der Ebenen. Nur an einer Stelle scheinen sie vollkommen ungleich: Zambranos Assoziation der Waldlichtung mit dem Hörsaal zeigt, dass sie die theoretische Möglichkeit, die „lichtvolle Klarheit“ zu erreichen, im Medium der Stimme erahnt. Dennoch schreibt sie. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären? Durch ihr Schreiben konfrontiert Zam‐ brano auf performativer Ebene das „diskontinuierliche Bewusstsein“ mit einer Kontinuität der Methode. Philosophie und Dichtung durchdringen sich, indem sich die Dichtung objektivieren lassen, während die Philosophie sich für die Offenbarung ‚offen halten‘ muss. Zambrano versucht, die Zeichen der „unheil‐ baren Diskontinuität“, des ‚Lebens‘ und die dem Bereich des Irrationalen ent‐ sprungene Idee in einen Bereich zu überführen, der nicht in der Tiefe verbleibt, sondern für den menschlichen Verstand fassbar ist. Doch ist ein solches Projekt überhaupt möglich, oder bleibt am Ende doch nur die Entscheidung zwischen zwei unbefriedigenden Zuständen? In der Tiefe, im Ungesagten oder Unver‐ ständlichen einer wirkungslosen Glossolalie verbleiben, was seit jeher die Schmähung gegen den Intellektualismus ist, oder zu wenig tief vordringen, nur im seichten Gewässer der Tautologien, scheinbaren Evidenzen und Trivialitäten einer naiven diskursiven Logik dahinplätschern mit ihren einfachen Folge‐ rungen und Bedeutungen und ihrem Insistieren auf der ‚Beispielebene‘ - das ist die beklemmende Frage, die sich Zambrano im Hinblick auf ihre eigene Arbeit stellt. Wie die Stelle finden, an der sich eine Klarheit darbietet, wenn die Lich‐ 176 III. Praxis 196 Vgl. Montaigne, III, 11. dt. S. 516, frz. III, S. 352 f.: „Je n’ai vu monstre et miracle au monde, plus exprès, que moi-même: On s’apprivoise à toute étrangété par l’usage et le temps. Mais plus je me hante et me connais, plus ma difformité m’étonne. Moins je m’entends en moi.“ 197 Derrida: Grammatologie, S. 68. tung doch lehrt, sie nicht einmal suchen zu dürfen, und vor allem: „Wie sich in ihr halten? “ Vor diesem Dilemma befindet sich das ‚Essayistische‘, das sich seine Wege als Versuch einer Gestaltung zwischen Poesie und Philosophie bahnt: Es sucht eine Form, die letztlich nur unter dem Preis der Formlosigkeit überhaupt vorstellbar wäre oder allenfalls im Raum des Dichterischen verbliebe. Das ‚Essayistische‘ thematisiert auf einer Metaebene immer dieses Verhältnis von Idee und Form und erscheint grundsätzlich als Problematik der Gestaltwerdung oder der Me‐ thode. Zwischen dem Verbleiben in der ideellen Fülle der Möglichkeiten und dem Ausdruck muss es ständig neue, schmerzliche Kompromisse finden. 1.6 Das ,Essayistische‘ als Spiegelstadium: Im Pandämonium des Selbst Dem ‚Essayistischen‘ haftet eine Formlosigkeit an. Nicht nur dem Text an sich, der heterogenes Gebilde ist; betroffen von dieser Formlosigkeit ist auch der Es‐ sayist, der sich in seinem Text auf die Suche nach sich selbst begibt - und als Antwort die Erkenntnis über sein zutiefst ungefügtes ‚Ich‘ erhält. Bereits Mon‐ taigne spricht in seinem Essay Über die Hinkenden von dieser Erfahrung: Er habe auf der ganzen Welt kein ausgeprägteres Monster gesehen als sich selbst; je mehr er Umgang mit sich pflege, desto mehr frappiere ihn seine eigene Ungestalt: „Je n’ai vu monstre et miracle au monde, plus exprès, que moi-même […] plus je me hante et me connais, plus ma difformité m’étonne.“ 196 Monstrosität ist, was sich nicht zu einer ganzheitlichen, also wohlgestalten Form integrieren lässt; sie ist Text, der sich im Raum Derridaʼscher ‚écriture‘ bewegt, weil sie die formvollen‐ dete Bedeutung verweigert; sie ist jedoch auch das Subjekt, das sich in einem solchen Text schreibend erkundet. Der Zwang des Abweichens von sich selbst oder der Unmöglichkeit des ‚Selbst-Seins‘, des ‚yo-mismo‘, muss sich dem Schimpf stellen, es sei eine übertrieben ,künstliche‘ Vorstellung, die eine ver‐ meintlich vorgegebene, fassbare natürliche Ordnung dem Unnatürlichen, Be‐ helfsmäßigen, dem Buchstaben opfert. „Die Perversion des Künstlichen zeugt Monstren“, schreibt Derrida in der Grammatologie. „Wie alle künstlichen Spra‐ chen, die man festhalten und der lebendigen Geschichte der Sprache entziehen möchte, partizipiert die Schrift an der Monstrosität. Sie ist eine Abweichung von der Natur.“ 197 Diesem Vorwurf begegnet Derrida mit dem Argument, dass Ab‐ 177 1 María Zambrano: Claros del bosque 198 Ebd., S. 72 f. (Hervorhebungen durch den Autor). 199 Lacan: Seminar II, S. 104. 200 Ebd., S. 20. 201 Ebd., S. 16 (Hervorhebung durch den Autor). 202 Ebd., S. 60. weichung, sei es in die Schrift oder das ‚Andere‘ schlechthin, im Grunde die Mutation, selbst bereits in der Natur veranlagt sei: „Die sich selbst denaturie‐ rende, die von sich selbst abweichende Natur, die auf natürliche Weise ihr Draußen und ihr Drinnen aufnimmt - dies ist die Katastrophe als natürliches Ereignis, das die Natur umwälzt, ist die Monstrosität als natürliche Abweichung in der Natur.“ 198 Zu den grundlegendsten Erfahrungen der essayistischen Selbst‐ erforschung gehört denn auch die Erkenntnis dieser Abweichung, der Differenz und Unfasslichkeit des ‚Selbst‘, die Zersplitterung in Teile, die sich nicht zu‐ sammenfügen wollen und immer ‚ungestalt‘ bleiben. Die Suche nach dem ‚Ich‘ führt nicht in eine stabile Aussage über dieses ‚Ich‘, sondern zu einer Reihe perspektivischer Verzerrungen und Verschiebungen. Es entpuppt sich als Spiel von Signifikanten; ,schreibend‘ erkennt es sich als ‚Schrift‘. Der sogenannte gesunde Menschenverstand jedoch drängt zum Iden‐ titären und behauptet in unumwunden tautologischem Narzissmus sein ‚Ich bin ich‘. Doch in dieser Annahme täuscht sich der Verstand. Jacques Lacan hat ver‐ sucht, dieses Phänomen mit den Mitteln der Psychoanalyse zu denken, die ich im Folgenden für die Betrachtung der Waldlichtungen und ebenso als eine Kons‐ tellation des ‚Essayistischen‘ vorschlagen möchte. Für die Annahme eines identitären ‚Ich‘ sieht Lacan physiologische Gründe: Es gebe im Menschen offenbar etwas, das gebrochene, approximative Formen immer komplettieren möchte. „Es gibt zweifellos etwas, das dazu tendiert, auf dem Grund der Retina […] bestimmte analoge Formen hervorzubringen.“ 199 Die Vorstellung eines nicht in uns und durch uns selbst fassbaren, ganzheitlichen ‚Ich‘ erscheint daher zunächst abwegig und ‚künstlich‘: „Offenbar haben wir alle die Neigung zu glauben, daß wir wir sind. Aber wir sind uns dessen nicht so ganz sicher, wenn Sie sich das einmal näher ansehen.“ 200 „Ich ist ein anderer“, „das Subjekt ist in Bezug auf das Bewusstsein dezentriert“, lautet daher Lacans vielleicht bekanntestes Theorem. 201 Gemeint ist damit, dass dieses ‚Ich‘, von dem wir glauben, es sei der Kern unseres Wesens, in Wirklichkeit vollkommen ima‐ ginär ist. Das ‚Ich‘ ist nicht das Subjekt, sondern eine Konstruktion aus An‐ nahmen, die wir im Laufe der Zeit über uns selbst treffen; es ist ein Objekt, eine ‚imaginäre Funktion‘, derer wir uns beim Sprechen bedienen. 202 Eingebunden ist diese Funktion damit aber auch immer in das ‚Symbolische‘, unter dem Lacan 178 III. Praxis 203 Ebd., S. 59. 204 Vgl. ebd., S. 42 ff. 205 Ebd., S. 48. 206 Nemitz, Rolf: Das Imaginäre, das Symbolische, und, vor allem, das Reale (ohne Seiten‐ nummerierung). 207 Ebd. (ohne Seitennummerierung). in etwa das Sprachliche versteht oder die Funktion des Sprechens, das „Matrix des verkannten Teils des Subjekts“ ist. 203 Das ‚Symbolische‘ ist für Lacan menschliche Ordnung schlechthin. Sie inter‐ veniert in jedem Bereich des menschlichen Lebens. Anders gesagt: Lacan sieht den Menschen in eine totale, aus Symbolen bestehende Ordnungsstruktur ein‐ gebunden. 204 Wir sind alle keine Einzelwesen, sondern existieren innerhalb eines sprachlich formulierten Gesetzes- und Ordnungsrahmens einer Gemeinschaft, der unser Leben unbewusst ausrichtet und an dem wir nicht einfach vorbei‐ kommen. Dieser Ordnungsrahmen bildet „Theoreme, die sich verketten und in‐ nerhalb einer Menge bestimmte Strukturverhältnisse herstellen, strengge‐ nommen ein Gesetz“. 205 Es ist jedoch wichtig, in diesem Zusammenhang zu verstehen, dass Lacan unter dem ‚Symbolischen‘ trotz dieses starren Gesetzes‐ charakters mitnichten die feste Bindung von Signifikanten an Signifikate und damit die Fixierung universaler Bedeutung in einem von der ‚ratio‘ bestimmten patriarchalen Gesetz versteht. Das Gesetz stellt sich vielmehr auf der Ebene des Sprechens ein und nicht auf jener der Sprache. So weist Rolf Nemitz darauf hin, das ‚Symbolische‘ sei vielmehr das Gesetz des Unbewussten. Das Unbewusste ist von der ‚symbolischen Ordnung‘ und ist strukturiert wie eine Sprache. „Für Lacan sind Signifikanten die Elemente des Symbolischen. ‚Das Unbewusste ist strukturiert wie eine Sprache‘ meint also auch: Es besteht aus Signifikanten.“ 206 Nemitz weist darauf hin, dass Lacan den linguistischen Terminus leicht umdeutet; Signifikanten sind demnach ganz all‐ gemein Elemente des Unbewussten, etwa Symptome oder Träume, deren Be‐ deutung stets eine ‚zu Suchende‘ ist. Und so verwendet Lacan den Begriff des Signifikanten häufig: ein rätselhaftes, manchmal überraschendes isolierbares Element, dessen Bedeutung unbekannt ist, aber gesucht wird. Dieser Signifikant muss nicht sprachlicher Natur sein, es kann auch in einem bestimmten Verhalten bestehen, etwa in einer störenden Angewohnheit, die man sich vergeblich abzugewöhnen versucht hat, oder darin, dass man zur eigenen Überraschung etwas tut, das man auf keinen Fall tun wollte. Das Verfahren der „freien Assoziation“ zeigt, dass solche Verhaltens- Signifikanten [sic] mit einem unendlichen Netz von Signifikanten verknüpft sind, die sprachlicher Natur sind, mit dem Unbe‐ wussten. 207 179 1 María Zambrano: Claros del bosque 208 Ebd. (ohne Seitennummerierung). 209 Lacan: Seminar II, S. 59 210 Vgl. Ebd., S. 300. 211 Vgl. ebd., S. 138. 212 Lacan, Jacques: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion wie es uns in der psycho‐ analytischen Erfahrung erscheint [1949]. In. Schriften I: Olten: Walter-Verlag 1973, 61-70. S. 67 (beide Zitate). Diese Signifikanten sind auf vielfältige Weise miteinander vernetzt und bilden gewissermaßen ein Gewebe, in dem sich Elemente spontan mit Bedeutungen verknüpfen: „Das wichtigste Merkmal der unbewussten Signifikanten ist für Lacan ihre Mehrdeutigkeit. Ein Signifikant ist im Unbewussten nicht mit einem bestimmten Signifikat verschweißt, er hat viele und gegensätzliche und wech‐ selnde Bedeutungen.“ 208 Es handelt sich beim Symbolischen also nicht um ein starres Gesetz, sondern um einen dynamischen Raum wechselnder Signi‐ fikat-Signifikanten-Verkettungen, statt eines väterlichen Gesetzes um eine „Matrix des verkannten Teils des Subjekts“ 209 . In ihr begegnen wir dem, was das Subjekt in Wirklichkeit bestimmt und ausrichtet; dem ‚großen Anderen‘. 210 Diese beiden grundsätzlichen Dimensionen, jenes ‚Imaginäre‘, welches die eigene Vorstellung des ‚Ich‘ formt, und das ‚Symbolische‘, das uns über das Sprechen Zugang zum (wahren) Subjekt verheißt, müssen zwar theoretisch voneinander unterschieden werden, um zu wissen, in welchem Register, von welcher Position aus eine Aussage erfolgt; praktisch jedoch überkreuzen und umschlingen sie sich. 211 Beide gehören also zum erwachsenen Menschen, und das ganz und gar untrennbar voneinander. Es ist nicht möglich, entweder nur im Imaginären oder nur im ‚Symbolischen‘ zu verharren, selbst wenn Lacans früheres Denken das noch nahelegt. In seinem berühmten Aufsatz über Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion von 1948 hat Lacan diese beiden Funk‐ tionen noch stark als zeitliche Positionen innerhalb der Entwicklung des Kindes bestimmt: Das Kleinkind, das seine Extremitäten und Körperteile noch als un‐ zusammenhängend begreift, erkennt sich im Spiegel zum ersten Mal als Einheit. Damit erhält es eine theoretische Kontrolle über seinen Körper, noch bevor die physiologischen Voraussetzungen dafür überhaupt gegeben sind. Das gespie‐ gelte Bild nähert sich dem realen Subjekt dabei nur asymptotisch, doch an dieser Verzerrung, an der „lockenden Täuschung räumlicher Identifikation“ bildet sich die ‚Imago‘ des Selbst. Von ihr ausgehend, heckt das Individuum jene Phan‐ tasmen aus, die „von einem zerstückelten Bild des Körpers, in einer Form enden, die wir in ihrer Ganzheit eine orthopädische nennen könnten“. 212 Das heißt, das Spiegelbild zeigt dem Kind nicht sein tatsächliches Selbst, sondern etwas ,an‐ deres‘, das es aber nun dafür hält. Das Kind erkennt im Spiegel, aber auch im 180 III. Praxis 213 Vgl. Cixous, Hélène: Wer singt? Wer veranlaßt zu singen? [1979]. In: Cixous, Hélène: Weiblichkeit in der Schrift. Berlin: Merve 1980. S. 58-107. S. 80. 214 Vgl. Pagel, S. 33. 215 Lacan: Seminar II, S. 67. 216 Lacan: Das Spiegelstadium, S. 64. Blick der Mutter nur sich selbst. Das Imaginäre dieser Täuschung ist daher we‐ sentlich narzisstisch. Doch ist die Täuschung nicht nur destruktiv; ausgehend vom ‚Als-ob‘ der reinen Vorstellung ist sie vielmehr zur ersten realen Bildung von Identität und Selbstkontrolle zentral. Hélène Cixous bringt dies aus politi‐ scher Perspektive auf den Punkt, wenn sie schreibt: „Die Psychoanalyse ist sich der Tatsache bewußt geworden, daß es kein homogenes Subjekt gibt, sondern daß ein Subjekt immer ein gespaltenes Subjekt ist. Und trotzdem lehrt uns die Gesellschaft, das grammatikalische Personalpronomen, das Ich sagt, zu verfes‐ tigen, sonst kann man nicht leben, sonst kann man nicht zur Wahl gehen.“ 213 Lacan beschäftigt sich immer wieder mit dem Spiegelstadium, mit dem er schließlich weniger ein bloßes Entwicklungsstadium beschreibt als vielmehr eine allgemeine Ambivalenz in der Struktur des menschlichen Wesens; 214 eine Dialektik, die Lacan im zweiten Band des Seminars (1954 / 55) als Erfahrung des Unzusammenhängenden, Uneinigen, Zerstückelten beschreibt, die sich mit jener Erfahrung der Einheit vermischt. „Diese Einheit ist das, worin sich das Subjekt zum ersten Mal als Einheit erkennt, aber als entfremdete, virtuelle Ein‐ heit.“ 215 Im Rahmen einer Problematik der Formwerdung lässt sich nun essayistisches Schreiben als Praxis betrachten, die sich in dieser Dialektik des Spiegelstadiums abspielt oder bestrebt ist, über es hinauszugehen: Die Schreibende versucht, das monströse, als bruchstückhaft empfundene Selbst zu integrieren und als Einheit zu betrachten, so wie im Spiegelstadium das formlose ‚Ich‘ (‚je‘), seine „Nicht‐ übereinstimmung mit der eigenen Realität“ 216 zu überwinden sucht und sich als gestalthaftes ‚moi‘, als Identität zu erkennen glaubt. Doch im Schreiben erfährt das ‚Selbst‘ einen Moment der Demaskierung, in dem es seine Monstrosität in der Dispersion erkennt und der eine Sehnsucht nach einer neuen Einheit be‐ dingt - einer Einheit als ‚intensivere Wahrheit‘ oder der des ‚wirklicheren Sub‐ jekts‘. Die Faszination über dem Spiegel gleicht der des Essayisten im Schreiben, der sich im Spiegel des Texts imaginiert. Für Lacan ist diese Faszination jedoch weit mehr als nur narzisstische Imagination; sie ist auch die Möglichkeit des Hinausgehens über das ,Imaginäre‘: Indem es sich über einem Spiegel fasziniert, und zwar vorzugsweise einem, wie er immer gewesen ist, von Anbeginn der Menschheit bis hinein in eine relativ neue Zeit, 181 1 María Zambrano: Claros del bosque 217 Lacan: Seminar II, S. 77. 218 Westerwelle, S. 34. 219 Lacan: Seminar II, S. 226. eher dunkel als klar, einem Spiegel aus poliertem Metall, kann es dem Subjekt gelingen, für sich selbst viele Elemente seiner imaginären Fixierungen aufzudecken. 217 Der zitternde Spiegel der Waldlichtungen, der das Licht nur indirekt, gekrümmt und in Farben aufgefächert zurückwirft - dieser eher dunkle als klare Spiegel -, ist für Zambrano ein Bild ihres eigenen Schreibens. Der Weg über das Imaginäre, der Versuch, zur Einheit zu gelangen, ist ent‐ scheidend und unumgänglich. Denn aus dem Imaginären kann der Mensch nicht einfach heraustreten. So ist das Imaginäre auch der absichtliche Umweg über den scheiternden Versuch, den das ‚Essayistische‘ seit Montaigne bahnt und der sowohl das schreibende ‚Ich‘ als auch sein Wissen als Phantasiegebilde, als „fantaisies“, provisorisch setzt. „Montaigne bezeichnet seine Essais als ‚imagi‐ nations‘ und ‚fantasies‘ und unterstreicht damit den fortwährenden imagina‐ tiven Modus der Mitteilung und der Ich-Repräsentation.“ 218 Lacan argumentiert mit einer Theorie des Begehrens, in der wir Zambranos Aporie der Erkenntnis wiedererkennen können: Was vom Horizont des ganz‐ heitlichen Wissens erfahren werden kann, lässt sich nicht übertragen auf die Welt diesseits der Waldlichtung. Und was wir in unserem Diesseits zu erkennen glauben, entspricht nur einem verstümmelten Teil eines Wissens. Von beiden Seiten droht Gefahr, entweder in der Tiefe zu bleiben oder nicht tief genug hi‐ nabzusteigen, um jenes Wissen aus der Tiefe zu holen. Doch „wie sich in ihr halten“, in jener Tiefe, in der sich „lichtvolle Klarheit“ darbietet? Immer wieder sind es diese Aporie und diese schmerzvolle Frage, um die die Waldlichtungen kreisen. In Lacans psychoanalytischem Modell entspricht das Wissen der Tiefe dem Begehren des Subjekts, in das aber immer das ‚Ego‘ interveniert, das das ‚Ego‘ auch braucht, um die begehrten Objekte ,halten‘ zu können: Vom Subjekt jedoch […] werden alle Objekte begehrt. Das Subjekt kann nicht be‐ gehren, ohne sich selbst aufzulösen und ohne eben dadurch das Objekt ihm entwi‐ schen zu sehen in einer Reihe unendlicher Verschiebungen. […] Und es ist die Span‐ nung zwischen dem Subjekt - das nicht begehren kann, ohne fundamental vom Objekt getrennt zu sein - und dem Ego, von wo aus der Blick aufs Objekt geht, von wo aus die Dialektik des Bewußtseins ihren Ausgangspunkt nimmt. 219 Erinnern wir uns an den Weg des Dichters, wie ihn Zambrano in Filosofía y poesía beschreibt: Sein Wissen erreicht er nur durch das Herausgehen aus sich, durch die Selbstauslieferung an die Dispersion und durch das Vergessen des 182 III. Praxis 220 Zambrano: FyP, S. 109. 221 Lacan: Seminar II, S. 363. 222 Ebd. 223 Pagel, S. 43. Selbst - „saliéndose de sí, entregándose, olvidándose“. 220 Er sucht die Offenba‐ rung im Verlassen des Spiegelstadiums, in dem er sein ‚Ego‘ aufgibt und ein‐ taucht in einen Bereich, in dem die Sprache in ihrem ‚lebendigen Sein‘ auftaucht und er sich selbst in diesem ‚Sein der Sprache‘ als sprachlich erkennt. Es ist ein Eintauchen in das ‚Symbolische‘ und die ‚Schrift‘ - im Grunde sind dies alles Chiffren für die Vorstellung einer ‚Matrix der Sprache‘. In Lacans Seminar legt eine Bemerkung M. Marchants nahe, dass wir uns diese Matrix als absolute Tiefenebene der Sprache vorzustellen haben, die nur durch das Sprechen (des Analysanden) zugänglich wird. Er merkt an, dass es auf dieser Ebene keinen Irrtum mehr gebe, da Kommunikation und das Sprechen nicht auf dem gleichen Niveau lägen. Kommunikation beruht demnach auf einem sprachlichem Ursubstrat, aus der sie sich herauskristallisiert: „Nach meiner Vorstellung muß die Sprache fast auf einem Niveau von Undifferen‐ ziertheit gehalten werden. Wenn man anfängt, den Sinn einer Sprache entziffern zu wollen, dann läßt sich das nicht mehr anwenden. Man kann nur den Sinn eines Sprechens entziffern.“ 221 Sinn liegt nicht in der Sprache, sondern stellt sich mit dem Sprechen ein, das aufgrund der Sprache ist. Lacan bestätigt dies: „Die Hauptsache ist, daß wir gewahr werden, daß es etwas gibt, was wir in seiner Reinheit erreichen können und worin sich bereits Gesetze manifestieren, Ge‐ setze, die solange unentziffert sind, bis wir eingreifen, um den Sinn einzu‐ bringen.“ 222 Auch Derridas ‚Schrift‘ stellt ja eine solche Matrix dar, in der das Gesetz der Verschiebung die Undifferenziertheit der Tiefenebene von Sprache markiert. Wir haben jedoch keinen Zugriff auf diese Matrix, solange wir uns der Täu‐ schung durch die Vorstellung eines transzendentalen Signifikats mit seinem ganzen Apparat von Einheit und Bedeutung nicht bewusst werden, solange wir also noch im ‚Imaginären‘ verharren, „in dem, linguistisch gesprochen, die Identität des Ich (moi) auf dem Trugbild des Signifikats beruht, das die Bewe‐ gungen der Signifikanten und der Signifikation festlegt“. 223 Das ‚Imaginäre‘ scheint bei Lacan an die Vorstellung des Signifikats gebunden. ‚Schrift‘ hingegen eröffnet als sprachlich fundierte Erfahrung grundsätzlicher Andersartigkeit und Abweichung den Raum der unendlichen Möglichkeiten, immer neuen Sinn auch ohne stabiles Signifikat hervorzubringen. Darin zeigt sich das Subjekt in seinem tieferen Wesen: sprachlich zu sein, sinngebend zu sein. 183 1 María Zambrano: Claros del bosque 224 Begriff nach Fernando Savater: Ders: El pesimismo ilustrado. In: Gracia, Jordi / Ródenas, Domingo (Hg.): El ensayo español. Siglo XX. Barcelona: Editorial Crítica 2008. S. 810-824. S. 818. 225 Lacan: Seminar II, S. 226 (Hervorhebungen durch den Autor). Doch die ‚Schrift‘ hat ambivalenten Charakter, weil ihre Vorstellung für un‐ seren „metaphysischen Narzissmus“ („narcisismo metafísico“) 224 bedrohlich wirkt: Für das Bedürfnis nach greifbarem, umsetzbarem Wissen und nach Wahr‐ heiten, das unsere Lebenswirklichkeit bestimmt, kann sie sich leicht als Verlust darstellen. Und so scheint es, dass uns das Wissen aus dieser tiefen Erfahrung der Matrix, sobald wir es an die Oberfläche tragen wollen, nur noch als eine Reihe unendlicher Verschiebungen wie Sand durch die Finger rinnt. Uns fehlt die Möglichkeit, in einem Bewusstseinszustand Sprache zu erfahren als das, was sie ist - als das, was unser ‚Ego‘ ausrichtet. Ohne die strukturierende Intervention des ‚Ego‘, das auf der Ebene des ‚Ima‐ ginären‘ liegt, wäre unser Wissen vielleicht umfassend und dennoch in gewisser Weise ‚wertlos‘. Der gewaltvolle, trennende Weg des Philosophen ist daher auch für Zambrano nicht ,Übel‘, das überwunden werden muss, denn der Mensch kann sich nicht dauerhaft einrichten in der Dispersion, im Eintauchen, im Eins‐ werden mit seinem Gegenstand des Begehrens. Um die ‚Liebe‘ aufrechtzuer‐ halten, um begehren zu können, braucht er gleichzeitig die fundamentale Tren‐ nung vom Objekt. Es bedarf des Ausgleichs zwischen dem Wissen des ‚Ich‘ und dem des darunterliegenden ‚Subjekts‘, zwischen Philosophie und Dichtung. Die Waldlichtungen können, in der Verbindung dichterischer und diskursiver Ele‐ mente, als Versuch eines solchen Ausgleichs gelesen werden. Lacan zeichnet ein Bild vom Bewusstsein, in dem das wahre Subjekt in einer passiven Wahrnehmung besteht und das sich doch innerlich gespalten und un‐ trennbar von einem aktiv intervenierenden ‚Ego‘ zeigt, das den Blick auf jenen eigentlichen Kern stört und sogar verhindert: Das Bewußtsein beim Menschen ist wesentlich polare Spannung zwischen einem dem Subjekt entfremdeten Ego und einer ihm grundsätzlich entgehenden Wahrnehmung, einem reinen percipi. Das Subjekt wäre streng identisch mit dieser Wahrnehmung, gäbe es nicht dieses Ego, das es, wenn man das sagen kann, in einem Spannungsver‐ hältnis auftauchen lässt. 225 In Zambranos sehr ähnlichem Modell übernimmt das „diskontinuierliche Be‐ wusstsein“ die Rolle des wirklichen (verborgenen) Subjekts, das dem ‚Ego‘, der Kontinuität der Methode, immer entwischt. Lacans Grundsatzproblematik ent‐ steht, weil das ‚Ego‘ im Hinblick auf das ‚Subjekt‘ dezentriert ist, bei Zambrano 184 III. Praxis 226 Zambrano: CB, dt. S. 12. 227 Lacan: Seminar II, S. 226. 228 Ebd., S. 226 229 Zambrano: CB, dt. S. 11, span. S. 123 (e. Ü.): „Alguna figura en esta lejanía anda a punto de mostrarse al borde de la corporeidad, o más bien más allá de ella, sin ser un esquema ni un simple signo.“ ist es die Ungleichheit zwischen ‚Leben‘ und der ihm ‚angetragenen Methode‘. 226 Die Offenbarung oder Vision zielt auf die Erfahrung dieses wirklichen Subjekts durch die kontemplative Haltung des passiven Verstands, des reinen ‚percipi‘. Das Metaphorische und Poetische ihres Schreibens liegt in dem Versuch, mittels der ‚dichterischen Vernunft‘ auf diese Subjekterfahrung zuzugreifen. Es ist de‐ lirant, indirekt, ,traum-haft‘ und zielt auf das Erlöschen oder Vergessen des ‚Ego‘. Damit folgt sie einem Weg zu einem ‚Jenseits des Spiegels‘, dem Horizont. Diesen deutet auch Lacan für die Psychoanalyse an: „Unter bestimmten Bedin‐ gungen erreicht diese imaginäre Beziehung selbst ihre Grenze, und das Ego zerrinnt, zerstreut sich, desorganisiert sich, löst sich auf.“ 227 Zambranos Bild der Lichtung lässt sich mit der Dialektik des Spiegelstadiums, verstanden als Grenze und Durchgang zwischen dem ‚Imaginären‘ und dem ‚Symbolischen‘, in Verbindung bringen. Dabei legt sich jenes spannungsvolle Geschehen offen, das sich beim ‚Essayistischen‘ im Zwischenraum von Form und Formlosigkeit verortet: Bei Lacan tut sich der gleiche Widerspruch auf, der sich durch die Waldlichtungen zieht: Es ist ein Ort, den man sehen, auffinden kann, in dem jedoch der Aufenthalt nicht dauerhaft möglich ist. In Lacans Se‐ minar interpretiert Jean Hyppolite das ‚Symbolische‘ als Funktion der Trans‐ zendenz, da wir ihrer zwar nicht entbehren, uns jedoch auch nicht in ihr ein‐ richten können. Lacan bestätigt: „Natürlich. Das ist eine Anwesenheit in der Abwesenheit und eine Abwesenheit in der Anwesenheit.“ 228 Die Waldlichtung kann in diesem Sinne als Feld einer Transzendenz der Sprache gedeutet werden, die allein den Blick auf das ferne Zentrum, den Horizont freigeben kann, in dem sich vage die Gestalt abzeichnet - das wahre Subjekt: „Eine Gestalt geht in dieser Ferne, zeigt sich fast an der Grenze seiner Körperlichkeit oder vielmehr schon fast über sie hinaus, ohne doch ein Schema zu sein oder ein einfaches Zei‐ chen.“ 229 Es kann nur hervortreten durch ein Denken, das, von ,Lichtung‘ zu ,Lichtung‘ kreisend, sich bewegt und in dessen Kreisgang sich das imaginäre ‚Ich‘ als illusorisch erkennt - ein psychoanalytischer Vorgang, denn „hinter dem Ich, das sich weiß und sich denkt, bringt die Psychoanalyse ein anderes Subjekt zur Sprache. Ein Subjekt, das seinen Launen und Symptomen, in seinen Träumen und Verirrungen nur eine höchst indirekte Ausdrucksmöglichkeit gefunden 185 1 María Zambrano: Claros del bosque 230 Pagel, S. 24. 231 Zambrano: CB, dt. S. 9. 232 Barthes: Die Lust am Text, S. 50 (Hervorhebungen durch den Autor). 233 Lukács, S. 34. hat - und dessen Rede es zu entziffern gilt.“ 230 Zambrano geht es ebenso um den Zugang zu jenem verkannten, anderen, ausgeschlossenen Teil, dessen indirekter Ausdruck auch nur indirekt erfasst werden kann: nicht durch die niederzwin‐ gende Gewalt des direkten Lichts, sondern durch die Krümmung des Lichts im zitternden Spiegel: „Und alles deutet an und alles ist Andeutung und alles ist indirekt.“ 231 Die Bewegungen im Spiegelstadium können nicht dem ‚Imaginären‘ allein zugeschrieben werden, weil es ebenso die Dimension des ‚Symbolischen‘ be‐ herbergt. Die Frage nach dem ‚Imaginären‘ ist vielmehr eine des Blicks oder der Perspektive: Es ist die Frage nach seiner Bewusstmachung, das heißt, ob wir aus der Sicht eines Getäuschten oder eines Ent-täuschten sprechen. Nur aus der zweiten Position heraus erkennen wir den Horizont eines Wissens, das dem ganzen Menschen gerecht wird. Obwohl er sich nie erreichen lässt, ist es mög‐ lich, ihm mittels des ,Texts‘ nachzuspüren, indem der ,Text‘ sich von seinen pragmatischen, logischen und instrumentellen Gestalten löst: „Die Imaginaria der Sprache aufspüren“, nennt Barthes diesen Vorgang. „Die Linguistik spricht durchaus die Wahrheit über die Sprache aus, aber nur darin: ‚daß keine bewußte Täuschung begangen wird‛: das eben ist die Definition des Imaginariums: Unbe‐ wußtheit des Unbewußten.“ 232 Die Praxis des essayistischen Texts mit der ihr eigenen ‚Demaskierungspsychologie‘ folgt der Hervorbringung eines Ethos der Bewusstmachung oder der Ent-Täuschung. Nach Georg Lukács ist der ‚wahrhaftige Essay‘ immer durchdrungen von einer bestimmten Metathematik, die allein ihm die Gültigkeit über seine kon‐ kreten Zeitumstände hinaus bewahrt. Diese Frage könne durch die Dichtung allein nicht gestellt werden und sei doch ohne die Poesie nicht denkbar. Es ist, so Lukács, die Frage an die Intellektualität selbst, die sich nach einem Ausdruck sehne, der unmittelbares und schicksalhaftes Erlebnis dieser Frage wäre. Im Problem der Form sei symbolhaft das Problem des Schicksals enthalten. Und so schwingen im ,Essayistischen‘ die prägenden, ewigen Menschheitsfragen mit: „was ist das Leben, der Mensch und das Schicksal? Doch als Frage nur; denn die Antwort bringt hier auch keine ‚Lösung‘, wie eine der Wissenschaft oder wie […] jene der Philosophie, sie ist vielmehr, wie in jeder Art Poesie, Symbol und Schicksal und Tragik.“ 233 Zambranos Waldlichtungen sind ein solches Symbol, Ausdruck der Tragik des Menschen, gleichermaßen als persönliches wie uni‐ versell metaphysisches Schicksal des ‚Exils‘. Das Thema, das durch die Lichtung 186 III. Praxis 234 Paz: Una voz que venía de lejos, S. 24 (e. Ü): „Nuestra amistad fue una larga conversación. Guardo de estas pláticas no las ideas, que se disipan, sino el sonido de su voz, un sonido de cristal, claro como agua y, como ella, fugitivo, inapresable. De dónde venía su voz? De un lugar muy antiguo, un lugar que no estaba afuera sino adentro de ellla misma.“ 235 Ebd., S. 24 (e. Ü): „Una voz que, más que buscar su camino, lo inventa.“ hindurchschimmert, ist damit eines, das für das ‚Essayistische‘ allgemein prä‐ gend ist: das Leben in der schmerzhaften Diskontinuität. Das Aushalten-Können des Widerspruchs, des Widerspruchs zwischen dem Begehren und der Notwen‐ digkeit der Trennung, der Ablehnung von Eindeutigkeit und dem Beklagen ihres Verlustes und der ewigen Inkommensurabilität von Wirklichkeit und Sprache, von Idee und Emanation. Inmitten dieses Widerspruchs die eigene Stimme er‐ tönen zu lassen war das große Lebensprojekt von María Zambrano, und dass wir diese Stimme bis heute hören können in ihrer tiefen Auseinandersetzung, ist Zeugnis einer großen Sensibilität, mit der sie ihre Welt und sich selbst wahr‐ genommen hat. Die Suche nach einem unmöglichen Selbst findet ihr Ziel in der Stimme, aus dem dieses Selbst als ‚redende Sprache‘ spricht. Octavio Paz erinnert die Geschichte der Freundschaft mit María Zambrano als die einer langen Konversation und bewahrt ihre Stimme als unauslöschlichen Nachklang im Gedächtnis: „Ich bewahre von diesen Gesprächen nicht die Ideen, die sich zerstreuen, sondern den Klang ihrer Stimme; ein kristalliner Klang, klar wie Wasser und, wie sie, flüchtig. Nicht greifbar. Woher kam ihre Stimme? Von einem sehr alten Ort; einem Ort, der nicht außerhalb, sondern in ihr selbst war.“ 234 Diese in besonderer Weise essayistische Stimme des Selbst ist keine, die in ‚línea recta‘ verläuft, sondern in Kurven, zwischen Leerstellen und Pausen, Zögern und unsichtbaren Hindernissen: „Eine Stimme, die, mehr noch als ihren Weg sucht, die ihn erfindet.“ 235 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica Spätestens seit Erhalt des Literaturnobelpreises im Jahr 1990 für sein lyrisches Werk ist Octavio Paz (1914-1998) einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Bereits in den Jahren zuvor hatte der Dichter, Essayist und Herausgeber zahlreicher Literaturzeitschriften wie Taller, Plural und Vuelta mit dem Premio Cervantes (1981) und dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels (1984) herausragende Ehrungen erhalten. Früh verortet sich Paz im politisch linken Spektrum; sein Engagement für die spanische Republik führt ihn 1937 als Teil der Delegation der Liga de Escritores y Artistas Revolucionarios ( LEAR ) nach Valencia zum Con‐ greso Internacional de Escritores para la Defensa de la Cultura. Paz ist Sympathi‐ 187 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica 236 Vgl. Ruy Sánchez, Alberto: Octavio Paz: Leben und Werk. Eine Einführung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2. Aufl. 1994, S. 37. 237 Vgl. ebd., S. 69. sant der kommunistischen Partei, distanziert sich aber bereits während des Kongresses nach den heftigen Anfeindungen der Teilnehmer gegen André Gide. Die Ästhetik des sozialistischen Realismus hat er nie geteilt. Zeitlebens beschäf‐ tigt ihn vielmehr die Frage, wie sich die Dichtung von einer ‚poesia pura‘ eman‐ zipieren könne, ohne von politischen Programmen in Dienst genommen zu werden. 236 Paz verbringt 23 Jahre im diplomatischen Dienst und wird nach Paris, Neu-Delhi, Tokio, Genf und seine Heimat, Mexiko-Stadt, entsandt; nach 1945 zunächst nach Paris, wo grundlegende Werke wie die Gedichtsammlung Li‐ bertad bajo palabra (1949) und der Essayband über das Wesen des Mexikaners El laberinto de la soledad (1950) entstehen. Hier entwickelt er eine Leidenschaft für den Surrealismus und freundet sich mit André Breton an, obwohl ihn dessen ‚écriture automatique‘ nie überzeugt. Bei seinem zweiten Aufenthalt in Paris Anfang der 1960er-Jahre kommt er mit dem Strukturalismus in Berührung, in Tokio mit der japanischen Kurzgedichtform des ‚Haiku‘, die er bereits vorher über José Tablada kennengelernt hatte. Immer wieder beschäftigt ihn die Krise der Moderne mit ihren problematisch gewordenen Begriffen wie ‚Zukunft‘ und ‚Wandel‘. Wie Alberto Ruy Sánchez schreibt, formuliert Paz bereits einige der Problematiken, die später unter dem Stichwort der ‚Postmoderne‘ versammelt werden. 237 1962 wird Paz als mexikanischer Botschafter nach Indien berufen und bleibt dort, bis er nach dem Massaker von Tlateloco an Studenten 1968 das Amt aus Protest gegen die eigene Regierung niederlegt. Danach ist er hauptsächlich als Dozent tätig, zunächst in Cambridge, später an amerikanischen Universi‐ täten, darunter auch als Lecturer in Harvard, wo der Essayband Los hijos del limo entsteht. 1956 erscheint während eines episodischen Aufenthalts in Mexiko-Stadt mit El arco y la lira ein poetologischer Essay, der das Schaffen des Dichters maß‐ geblich prägen wird. Darin beschäftigt sich Paz mit drei zentralen Fragestel‐ lungen: Was macht das dichterische Sagen aus? Dieser Frage geht Paz mit einer Untersuchung von Sprache, Rhythmik, Vers und Bild nach. Zweitens: Was sagen Gedichte überhaupt? An diesem Punkt setzt er mit einem Konzept dichterischer Offenbarung an. Und zuletzt: Auf welchem Weg teilt sich dieses Dichterische mit? Hier erkundet Paz die Beziehungen zwischen Poesie und Geschichte; das Gedicht kann nicht Geschichte referieren, jedoch selbst historisch werden. In seiner Erfahrung liegt die Erfahrung der Geschichte. El arco y la lira bildet zu‐ sammen mit Los signos en rotación, das ab 1967 den alten Epilog des Werks er‐ setzt, in meinen Überlegungen wichtige Referenzpunkte, die ich nicht zufällig 188 III. Praxis 238 Ruy Sanchez, S. 67. 239 Dunsmoor, Helena: El mono gramático: entre lenguaje y cuerpo. In: Literatura Mexi‐ cana XXV.1. 2014, 79-102, S. 82. 240 Vgl. Alazraki, Jaime: The Monkey Grammarian or Poetry as Reconciliation. In: World literature today. Vol. 56 Nr. 4, 1982, 607-612. S. 108 f. 241 Gómez Arciénaga, Luis Alfonso: De centauros, arqueros y otros esplendores metáforas de la modernidad en la obra ensayística de Octavio Paz. In: del Valle Lattanzio, Ca‐ milo / Müller-Funk, Wolfgang (Hg.): Zwischen dem Schreiben und der Kritik: Octavio Paz, die Moderne und der Essay. Wien: Praesens Verlag 2018, 129-169. S. 154. für die Betrachtung des ‚Essayistischen‘ ausgewählt habe. Denn, wie Alberto Ruy Sanchez festhält, eröffnet Paz mit diesem Text einen neuen Weg für sein gesamtes essayistisches Werk. Sämtliche Essaysammlungen werden Themen, Motive und Fragestellungen aufgreifen, die in El arco y la lira angestoßen, dort jedoch am Ende offengelassen werden. 238 Auch Helena Dunsmoor bescheinigt dem El mono gramático eine enge Verbindung zu jenen essayistischen Texten, in denen Paz die Poesie und deren Bezug zur Welt ergründet. 239 Besonders pro‐ minent weist Jaime Alazraki in World Literature Today auf die Nähe der beiden Texte hin: El arco y la lira sei eine Betrachtung über die Rolle der Poesie in dem Projekt einer magischen Versöhnung des Menschen mit sich selbst und mit der Welt. El mono gramático nehme 20 Jahre später diese Überlegungen wieder auf und vereine sie wie ein Prisma mit weiteren Ansätzen, die Paz im Laufe dieser Zeit über dieses Thema angesammelt habe. 240 El mono gramático ist einer jener Texte Pazʼ, die sich an der Suche nach einem verlorenen paradiesischen Urzustand der Einheit abarbeiten. Dennoch bean‐ sprucht diese Schrift eine Sonderstellung innerhalb seines essayistischen Schaf‐ fens, hebt sie sich doch vom größten Teil seiner Essays allein schon durch den hochpoetischen Stil ab. Womöglich wird der Text in der Literaturwissenschaft deshalb häufig als Prosagedicht gehandelt. Eine Untersuchung unter Gesichtspunkten des ‚Essayistischen‘ schließt al‐ ternative Betrachtungsweisen des Texts nicht aus; insbesondere als es ja nicht um eine Klassifizierung geht. Allerdings halte ich den Text durch eine Bezeich‐ nung als Prosagedicht allein nicht auf befriedigende Weise charakterisiert, weil der hohe Reflexionsgrad weit über das poetisch Gefügte hinausgeht und die Präsenz diskursiver Elemente jederzeit stark bleibt. Nach Meinung von Luis Al‐ fonso Gómez Arciénaga ist El mono gramático sogar Octavio Pazʼ Text mit der größten denkerischen Dichte („de mayor densidad de pensamiento“). 241 Zwar favorisiert Paz ein Konzept von Dichtung, das eine kritische Funktion in sich trägt. In Los signos en rotación geht Paz dazu ausführlich auf Mallarmés Un coup de dés und dessen Vorstellung eines ‚poème critique‘ ein, eines Gedichts, 189 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica 242 Vgl. Paz, Octavio: Los signos en rotación. In: ders.: El arco y la lira [1956]. México, D. F.: Fondo de Cultura Económica 2. Aufl. 1967, 5. Nachdruck. 1983, 253-284. S. 271. 243 Paz: Los signos en rotación, S. 273 (e. Ü.). 244 Paz, Octavio: [AL] El arco y la lira [1956]. México, D. F.: Fondo de Cultura Económica 2. Aufl. 1967, 5. Nachdruck. 1983. S. 13. das seine eigene Negation enthält und durch die Negation der Negation im‐ stande ist, das Absurde aufzuheben. 242 Mallarmé, so Paz, habe sich öfter auf eine derartige ideale Schrift bezogen, „in der Sätze und Wörter einander spiegeln und sich auf gewisse Weise selbst betrachteten oder läsen“. 243 Schließlich wird dieses anvisierte dichterische Konzept bereits am Beginn von El arco y la lira deutlich, in dem Paz über die Dichtung schreibt, sie sei: „Hija del azar; fruto del cálculo“ - Tochter des Zufalls, Frucht des Berechnens oder des Kalküls, aber auch des Ab‐ wägens. 244 Paz steht damit schon früh in seinem Werk für eine Dichtung, die poetische Inspiration und kritischen Geist als ‚pasión crítica‘ zusammenbringen will. Schon in diesem Projekt allein ist eine große Nähe zum ‚Essayistischen‘ gegeben, was eine ebenso klare wie überzeugende Abgrenzung von Poesie und Essay zusätzlich erschwert. Vielmehr ist der Leser ähnlich wie bei María Zambrano mit einem Text konfrontiert, der Genregrenzen ganz bewusst verwischt und seinen Reiz gerade aus der Überschreitung bezieht. War es bei Zambrano die von Philosophie und Dichtung als ‚razón poética‘, so handelt es sich bei Pazʼ El mono gramático um einen Text, der irgendwo zwischen Dichtung, fernöstlicher Meditation, philosophischer Studie und - auch dieser Aspekt sollte nicht über‐ sehen werden - Reise- oder Pilgerliteratur changiert. Begleitet werden Reise‐ beschreibungen aus Galta von eindringlichen Landschaftsbildern und Ansichten der Paläste sowie starken Porträts von Affen und Wanderasketen, den Sadhus, die meisten davon eingefangen durch die Kamera von Eusebio Rojas. Pazʼ Ausflug in die indische Tempelstadt Galta ist realhistorisch verbürgt, vermutlich in Begleitung seines Freundes Rojas wie auch seiner Frau Maríe José. Ein Foto von ihr, aufgenommen im Observatorium in Jaipur, ist in den Text eingefügt. Allein dieser Umstand lässt dem Werk etwas anhaften, was über die Lyrik hinausgeht. Die Gedankencollage, die das ‚Essayistische‘ aus dem Versuch des Inventarisierens des Wissens und des ‚Alles-Versammelns‘ entstehen lässt, erscheint bei Paz besonders intensiv, auch in intermedialer Form: als assoziatives Zusammenstellen und Herstellen der auf den ersten Blick unwahrscheinlichsten Verbindungen - nicht nur der unterschiedlichsten literarischen Gattungen, son‐ dern auch künstlerischer Darstellungen. Dieses Zusammenfügen geschieht unter dem Zeichen von Selbstbefragung, Selbstkritik und Selbstreflexion. So liegt das ‚Essayistische‘ auch bei María Zambranos nicht in einer utopischen 190 III. Praxis Vereinigung von Philosophie und Dichtung oder Mystik; vielmehr wird die Möglichkeit eines solchen Unterfangens versuchsweise und kritisch verhandelt. In El mono gramático von Octavio Paz sind ebendiese Operationen am Werk; ihnen nachzuspüren widme ich meine folgenden Betrachtungen. 2.1 El mono gramático: Universum von Analogien, Meditation über den unmöglichen Ursprung El mono gramático erscheint 1972 zunächst auf Französisch im Genfer Verlag Albert Skira in einer Übersetzung von Claude Esteban. Erst zwei Jahre später, 1974, erscheint die erste Version auf Spanisch bei Seix Barral. Geschrieben hat Paz das Werk allerdings schon 1970 in Cambridge. Obwohl, wie schon im Fall der Waldlichtungen, der Inhalt des Texts kaum eindeutig greifbar ist, lässt sich doch aus dem Zusammenhang ein grober Erzählrahmen rekonstruieren: Der Autor selbst, Octavio Paz, sitzt in der Abenddämmerung in einem Zimmer in Cambridge und sieht aus dem Fenster. Noch mal den Weg nach Galta ein‐ schlagen, mit diesem Einstieg präsentiert sich das erzählende ‚Ich‘ als ein auto‐ biografisches, das sich an die Eindrücke eines Ausflugs nach Galta erinnert, einer halb verfallenen Tempelstadt etwa 2,5 Kilometer von der nordindischen Stadt Jaipur entfernt. In der Palast- und Tempelanlage befindet sich das zentrale Heiligtum für Hanuman, den hinduistischen Gott in Affengestalt, Berater und Weggefährte des Gottes Rama. Staubige Straße. Die Hitze des Nachmittags flirrt in einem Gemisch verschiedenster Gerüche: Feuer, Räucherwerk, ein verwe‐ sender Tierkadaver am Wegrand. Darein mischen sich die Stimmen der Pilger, die an diesem Tag das Fest des Hanuman begehen. Sie psalmodieren, singen, murmeln unverständliche Litaneien. Paz schreitet durch das Tor von Galta, ver‐ liert sich auf den Pfaden des Areals, aus dem der Gott geflüchtet scheint: Halb verfallene Bauten zeugen noch von einer vergangenen Pracht. Die unwirkliche Prunkarchitektur bröckelt an allen Ecken. Dazwischen hausen die Paria; sie selbst Lehmgestalten, halb verschmolzen und eins mit der Sand- und Felswüste, die unaufhörlich voranschreitet und Bau um Bau verschluckt. Wie die Stadt der Unsterblichen aus Borgesʼ Erzählung El imortal erscheint dieses heilige Galta: Fassaden, hinter denen sich der Sand türmt, absurde Treppen, die ins Nichts führen. Der Versuch, ein sinnhaftes Sprachgebäude zu errichten, mündet in Sackgassen, wie die Treppen in den Ruinen, in Fragen, deren Antworten die Fragen vervielfältigen. „Los espejos y la cópula son abominables“ - „die Spiegel 191 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica 245 Borges, J. L.: Tlön, Uqbar, Orbis Tertius. In: ders.: Ficciones [1944]. Madrid: Alianza 2005, 13-40. S. 14. und die Kopulation sind abscheulich“, heißt es bei Borges. 245 Dies gilt in jedem Fall auch für das Areal von Galta. Wobei der Spiegel in spanischer Sprache aus‐ sagekräftiger ist, wo Spiegelung, ‚espejismo‘, auch die Wortbedeutung ‚Fata Morgana‘ besitzt. So erscheint die verfallende Architektur als ‚espejismo‘ der Sprache. Kinder springen umher, zeigen Paz mit Geschrei heilige Skulpturen, lepra‐ kranke Bettler strecken ihre halb verfaulten Hände nach Almosen aus, Priester schreiten gestenreich auf Paz zu. Asketen sitzen und meditieren bei einer Tasse Bhang. Paz schlägt die Einladungen aus, folgt seinem eigenen Weg, erklimmt die Stufen zu einer Terrasse. Affen, überall Affen. Sie starren Paz an mit ihren Tiermienen zwischen Neugier und Teilnahmslosigkeit. Die Horden springen über den Boden, über die Balustraden; mit einem langen Stock versucht Paz, sie zu vertreiben, um sich seinen Weg zu bahnen. So dringt er ein in das Innere des Palasts. An den Wänden halb verfaulte und verschimmelte Bemalungen mit verwaschenen Farben, die Hanumans Heldentaten preisen. Die Erinnerung löst zahlreiche Assoziationen zum eigenen Schaffen als Dichter und Schriftsteller aus, die schreibend reflektiert werden. Sprachphilo‐ sophische Anspielungen und immer wieder die Frage, was sich mit Sprache überhaupt ausdrücken lässt. Dabei tauchen eine Reihe Analogien auf, Assozia‐ tionen zum Schreiben, zum Weg, Schrift, Vegetation und Sex. Paz meditiert über die mythische Frauengestalt Esplendor, die an die Götter verteilt wurde und ihre Einheit am Ende zurückerlangt, über ein Gemälde des englischen Malers Richard Dadd; immer wieder werden die Beschreibungen aus Indien kontrastiert mit den Eindrücken beim Blick aus Pazʼ Zimmer in Cambridge: Ein Wäldchen vor dem Fenster, ein Mülleimer, das Vorüberziehen der Wolken und das Spiel des Lichts in den Bäumen während der Dämmerung, später die zuckenden Schatten an der Wand seines Zimmers, die mit erotischen Phantasien verknüpft werden - alles wird Gegenstand der Betrachtung und der gedanklichen Verknüpfung. Immer wieder aber unterbricht Paz den Fluss der Gedanken, das reine Schreiben, um das Geschriebene zu lesen, um sich selbst zu lesen, zu hinterfragen, zu verbes‐ sern, zu kritisieren und zu kommentieren und darüber erneut zu schreiben. Dabei stößt er immer wieder auf Widerstände in der Sprache, auf Widersprüche und Paradoxa, denen er nachgeht und die ihn immer wieder dazu veranlassen, den Gedankengang zu verwerfen und neu anzusetzen, immer neue Versuche des Aussagens zu machen. Nach einer durchschriebenen Nacht löst sich der Dichter in der Morgendämmerung von seinem Platz am Fenster. Er verlässt seinen Text, 192 III. Praxis 246 In der deutschen Übersetzung der Suhrkamp-Ausgabe Der sprachbegabte Affe. Der Titel ist meines Erachtens etwas unglücklich gewählt, da der Text nicht auf eine fabelhafte Sprechfähigkeit eines legendären Affen als Jahrmarktattraktion referiert, sondern auf die Gegenüberstellung einer göttlichen und einer menschlichen Grammatik als sprach‐ liche Organisation und Tradierung von Ordnung und Wissen, symbolisiert durch das doppelgesichtige Bild des Affen - als hinduistischer Affengott und Darwin’scher Men‐ schenaffe. 247 Paz, Octavio: [MG dt.] Der sprachgelehrte Affe [1974]. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990. [MG span.] El mono gramático [1974]. Barcelona: Seix Barral 2016. hier: MG dt. S. 8. der nun als geschaffener Textkörper vor ihm liegt und in den er den Körper einer Geliebten imaginiert. El mono gramático  246 ist ein komplexes Zusammenspiel von autobiografischer Erinnerung, Anspielungen auf hinduistische Mythologie aus dem Epos Ra‐ mayana, sehr expliziten erotischen Schilderungen sowie sprachphilosophischen und poetologischen Überlegungen, die in Metaphern und Analogien um eine Reihe von Motiven kreisen. So erscheint der Text als ein Gebilde, das Paz selbst im ersten Kapitel beschreibt: als Bilder, Erinnerungen, bruchstückhafte Vorstel‐ lungen, Empfindungen, Visionen, „Halbgedanken, die einen Moment lang er‐ scheinen und wieder verschwinden, während man auf etwas zugeht …“. 247 Das Zugehen auf etwas, die Suche, das ‚ir hacia‘, das mit dem Prozess des Schreibens assoziiert wird, bildet dabei einen thematischen Fixpunkt des gesamten Texts. Den Weg gehen, Schritt für Schritt, Zeichen, Wörter und Sätze aneinander‐ reihen - das ist die Metapher, die dem Text immer wieder eine neue Dynamik verleiht, Gegenstand essayistischer Erkundung ist, durch vorsichtig tastendes, sein Thema auslotendes Schreiben nachvollzogen wird, deren Bedeutung, Mög‐ lichkeit und Unmöglichkeit Paz nachgeht, kurz: Diese Metapher organisiert den Text sowohl durch einen thematischen Rahmen als auch von innen heraus, indem alle inhaltlichen Bestandteile an sie gebunden werden. Im vorletzten Ka‐ pitel reflektiert die im gesamten Werk als Autor des El mono gramático auftre‐ tende Erzählstimme das versuchte künstlerische Projekt: Als ich mit diesen Seiten begann, hatte ich beschlossen, der Metapher im Titel der Sammlung, für die sie bestimmt waren, Die Wege der Schöpfung, wörtlich zu folgen und einen Text zu schreiben, zu entwerfen, der wirklich ein Weg gewesen wäre und als solcher hätte gelesen, hätte gewandert werden können. Doch als ich schrieb, ver‐ schwand der Weg nach Galta, oder ich kam ab und verlor mich auf seinen Bergpfaden. 193 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica 248 Ebd., dt. S. 129, span. S. 137 f.: „Al comenzar estas páginas decidí seguir literalmente la metáfora del título de la colección a que están destinadas, Los Caminos de la Creación, y escribir, trazar un texto que fuese efectivamente un camino y que pudiese ser leído, recorrido como tal. A medida que escribía, el camino de Galta se borraba o yo me des‐ viaba y perdía en sus vericuetos. Una y otra vez tenía que volver al punto del comienzo. En lugar de avanzar, el texto giraba sobre sí mismo.“ 249 Ebd., dt. S. 7f, span. S. 11 f.: „Lo mejor será escoger el camino de Galta, recorrerlo de nuevo (inventarlo a medida que lo recorro) y sin darme cuenta, casi insensiblemente, ir hasta el fin - sin preocuparme por saber qué quiere decir 'ir hasta el fin' ni qué es lo que yo he querido decir al escribir esta frase. […] No me hacía preguntas: caminaba, nada más caminaba, sin rumbo fijo. Iba al encuentro … ¿de qué iba al encuentro? En‐ tonces no lo sabía y no lo sé ahora. Tal vez por eso escribí 'ir hasta el fin': para saberlo, para saber qué hay detrás del fin. Una trampa verbal; después del fin no hay nada pues si algo hubiese, no sería fin. Y, no obstante, siempre caminamos al encuentro de …, aunque sepamos que nada ni nadie nos aguarda. Andamos sin dirección fija pero con un fin (¿cuál? ) y para llegar al fin. […] Sin ese fin que nos elude constantemente ni caminaríamos ni habría caminos. Pero el fin es la refutación y la condenación del ca‐ mino: al fin el camino se disuelve, el encuentro se disipa. Y el fin - también se disipa.“ Immer wieder mußte ich zum Ausgangspunkt zurückkehren. Statt weiterzukommen, drehte sich der Text um sich selber. 248 Tatsächlich ist El mono gramático ein Buch, das von Beginn an die Frage nach seiner Bedeutung ganz besonders mit einschließt. Oder vielmehr ,handelt‘ der Text überhaupt von der Suche nach dem Sinn des Texts, der - der Metapher vom Schreiben als Weg folgend - den Schlusspunkt des Wegs markiert: als das Ge‐ suchte, das am Ende des Satzes wartet und niemals greifbar ist; allenfalls als das, was sich im Sinne Heideggers ,verstellt‘ und ,verdeckt‘. Es ist der Sinn, der sich letztendlich immer entzieht, die finale Bedeutung, die entrückt bleibt. So liegt das Augenmerk auf der Suche oder dem Weg selbst, dargestellt in der Bewegung, in der der Text um sich selbst kreist: Am besten den Weg nach Galta einschlagen, ihn nochmal wandern (ihn erfinden, indem ich ihn wieder erwandere), ihn achtlos, fast unwillkürlich zu Ende gehen - es kümmert mich nicht zu wissen, was das bedeutet: ‚zu Ende gehen‘ […] Ich stellte mir keine Fragen: ich wanderte, wanderte einfach ohne festes Ziel. Auf etwas zu … auf was? Ich wusste es damals nicht, noch weiß ich es heute. Vielleicht habe ich deshalb ‚zu Ende gehen‘ geschrieben: um es zu wissen […] Wir gehen ohne feste Richtung, aber haben ein Ziel (welches? ) und wollen ans Ende gelangen. […] Das Ziel jedoch ist die Widerlegung des Wegs, seine Verdammung. 249 Letztlich findet Paz mit El mono gramático eine Schrift, die sich selbst sagt und die mit der Nennung einer außertextlichen Bedeutung ihren Sinn verlieren würde (das Ziel ist die Verdammung des Weges). Denn das Ende und der Sinn - 194 III. Praxis 250 Ebd., dt. S. 105, span. S. 111 f.: „El sentido es aquello que emiten las palabras y que está más allá de ellas, aquello que se fuga entre las mallas de las palabras y que ellas quieran retener o atrapar. El sentido no está en el texto sino afuera. Estas palabras que escribo andan en busca de su sentido y en esto consiste todo su sentido.“ 251 Im Zwiegespräch inszeniert Paz an der eigenen Person als Autor die Infragestellung des Identitätsprinzips, die er in El arco y la lira darlegt: Das ‚Man-selbst-Sein‘ komme einer Verstümmelung gleich; der Mensch sei ständiges Verlangen, ein anderer zu sein. „Ser uno mismo es condenarse a la mutilación pues el hombre es apetito perpetuo de ser otro. La idolatría del yo conduce a la idolatría de la propiedad.“ (AL, S. 268.) beides kann nur als ständig uneingelöstes Versprechen oder als Vision exis‐ tieren; das Schreiben erhält seine Bedeutung nur als Prozess des Schreibens. Bedeutung ist, was Worte aussenden und was weit über sie hinausreicht, was durch ihre Maschen fällt, was sie gern halten oder einfangen würden. Die Bedeutung liegt nicht im Text, sondern außerhalb. Die Worte, die ich eben schreibe, gehen auf die Suche nach ihrer Bedeutung, und darin besteht ihr ganzer Sinn. 250 Insofern ist El mono gramático das Nachspüren der Vision einer Bedeutung des Schreibens überhaupt, wobei diese Vision selbst vom Schreiben nicht genannt werden kann, sondern sich stets in einer unendlichen Kette von Metaphern auflöst. Jede literaturwissenschaftliche Betrachtung des Texts unterliegt daher einem grundlegenden Paradox: Eines der auffälligsten Textmerkmale ist Pazʼ Hang zur Selbstexegese. Der Autor liefert in Parenthesen oder Zwischenfragen eigene Interpretationsansätze seines Textes, erklärt oder hinterfragt seine Me‐ taphern, spinnt sie weiter und treibt sie an. Auf diese Weise gewinnt der Leser den Eindruck, das ‚Ich‘ des Autors befinde sich in einem anhaltenden Selbstge‐ spräch, eines Gesprächs zwischen dem ‚Ich‘ und seinem ‚Anderen‘. 251 Gleich‐ zeitig erscheint jedoch eine Auslegung, folgt man streng der Logik des Texts, aussichtslos; bedeutet der Text doch nichts als sich selbst. Jedes Sprechen oder Schreiben über den Text heißt daher, sich nur metaphorisch auf ihn beziehen, ihn also niemals in seinem ‚Sein‘ zu treffen. Sprache kann sich in dieser Vor‐ stellung zwar auf die Wirklichkeit des Texts beziehen; gleichzeitig sagt sie je‐ doch etwas fundamental anderes, ist in ihrem Inneren also auf Abweichung hin angelegt. Auch bei Paz zeigt sich die Performativität als eines der wichtigsten Merkmale des ‚Essayistischen‘. Sie gewinnt sogar noch an Intensität, indem sie sich zusätzlich auf einer weiteren Ebene abspielt - der Ebene des kritischen Bezugs auf den Text. Denn indem Paz die eigentlich unkommentierbare Wirk‐ lichkeit des Texts mit Kommentaren versieht, die nun ihrerseits wieder Gegen‐ stand eines literaturwissenschaftlichen Kommentars werden, hebt Paz spürbar hervor, was er in El mono gramático als grundlegende Problematik im Bezug von Sprache auf Wirklichkeit beschreibt: „Die menschliche Schrift spiegelt die des 195 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica 252 Paz: MG, dt. S. 128, span. S. 137: „La escritura humana refleja a la del universo, es su traducción, pero asimismo su metáfora: dice algo totalmente distinto y dice lo mismo.“ 253 Vgl. Moreno, Hugo: The politics of writing in Octavio Paz’s El mono gramático, S. 6. 254 El arco y la lira ist weniger Poetik als vielmehr selbst als poetologischer Essay zu lesen. Wenn ich versuche, die Begriffe grob gegeneinander abzugrenzen, so handelt es sich dabei also eher um einen Versuch, einige Gedanken zu skizzieren, die Paz selbst nicht deutlich konturiert hat. Wie Zambrano sieht auch er Definition und analytische Ratio als Weg der ,Gewalt‘. Eine der wenigen Textstellen, die eine Unterscheidung der Begriffe vermuten lassen, befindet auf S. 106: „en sí mismo el idioma es una infinita posibilidad de significados; al actualizarse en una frase, al convertirse de veras en lenguaje, esa posi‐ bilidad se fija en una dirección única.“ (Hervorhebungen durch mich.) Hier deutet sich Alls [die des Universums, also der stofflichen, realen Dinge], sie ist ihre Über‐ setzung, doch ebenso ihre Metapher: sie sagt etwas gänzlich Anderes und sagt doch dasselbe.“ 252 Was sagt Sprache, was liegt am Ende des Satzes, was liegt jenseits der Sprache? Können wir Realität sprachlich erfassen? Und wenn ja, wie? Diese Fragestellungen schwingen in der Tiefe des Texts ständig mit. Damit rührt dieser Essay an die sprachkritisch gefasste, epistemologische Leitfrage Montaignes: „Que scay-je? “ - Was weiß ich denn, und was kann ich überhaupt wissen? Der Text antwortet mit einer Reihe konstituierender Metaphern, die so sehr verdichtet und ineinandergeschoben sind, dass sie sich mehr noch als zu einer bloßen Metaphernkette zu einem Universum von Analogien zusammen‐ schließen. Am prägnantesten ist dabei die Analogie von Text als Gewebe und urwaldartiges Pflanzendickicht, dessen Unentwirrbarkeit keine Sicht auf eine letztgültige Bedeutungsebene zulässt. Weitere bestimmende Motive ergeben sich aus einer meditativen Relativierung der Opposition von ‚Wandel‘ und ‚Be‐ harren‘ in dem Satz „Wandel ist immer ein Beharren“ und aus der paradoxen Metapher vom Satz als Weg, dessen Schlusspunkt oder Ende den Weg aufheben würde. Worauf Paz immer wieder abhebt, ist seine grundlegende Anschauung über Sprache und Dichtung, wie er sie in El arco y la lira beschreibt. Sie bildet ge‐ wissermaßen das poetologische Grundmotiv und einen Schlüssel zum Ver‐ ständnis von El mono gramático. Denn dieser Text ist, wie Hugo Moreno her‐ vorhebt, in erster Linie als Meditation über Sprache, über Bedeutung, die Beziehung zwischen Wörtern und Dingen sowie über den Akt des Benennens, Dichtens, Denkens, Schreibens und Lesens zu begreifen. 253 Paz unterscheidet in El arco y la lira verschiedene Sprachbegriffe, die er wechselnd als ‚habla‘, ‚idioma‘ und ‚lenguaje‘ bezeichnet. Es ist jedoch nicht möglich, diese Begriffe strikt zu definieren oder auch nur voneinander zu trennen, da Paz sie selbst äußerst widersprüchlich gebraucht. 254 Was festgehalten werden kann, ist die 196 III. Praxis eine Lesart an, nach der ,idioma‘ die unendliche Vielfalt der Ausdrucksmöglichkeiten bezeichnet, den eine historische Sprache vorgibt, während ,lenguaje‘ eine sinnhafte Äußerung im Rahmen dieser Möglichkeiten bezeichnet (langue / parole), die jedoch nicht an einen Sinn im herkömmlichen Sprachgebrauch gebunden ist. So äußert sich der Sinn einer poetischen Aussage etwa eher als Stimmigkeit eines rhythmischen Emp‐ findens. Auf S. 73 spricht Paz von „tendencias naturales del idioma“. Hier erscheint ,idioma‘ als eine Art poetische Grundmasse, die zwar diskursive Fähigkeiten entwickeln kann, je‐ doch immer zu ihrem natürlichen Zustand des Poetischen zurückstrebt. Auch der Ge‐ brauch von ,idioma‘ auf S. 49 („el idioma está siempre en movimiento“) lässt auf diese Interpretation schließen, ebenso auf S. 53: „El poeta crea por analogía. Su modelo es el ritmo que mueve a todo idioma.“ Ebenso spricht er auf S. 69 von der bewegten poetischen Substanz als einem „fluir del idioma“. Allerdings ist auch der Begriff ,lenguaje‘ mit ähnlichen Eigenschaften belegt; als Rhythmus (S. 81) und besonders deutlich auf S. 34: „Lenguaje es poesía en estado na‐ tural.“ Auf S. 22 als das Ursprüngliche der Sprache: „En el poema el lenguaje recobra su originalidad primera, mutilada por la reducción que le imponen prosa y habla cotidiana.“ Je nach Sichtweise könnte ,lenguaje‘ hier aber auch als neutraler Oberbegriff von Sprache überhaupt verstanden werden, von dem sich eine ursprüngliche Substanz ab‐ setzen kann. Im Kapitel betitelt mit El lenguaje, erscheint der Begriff ebenso allgemein wie ,Sprache‘. Auf S. 49 ist ,lenguaje‘ allerding wieder etwas, das sich durch eine Sinn‐ haftigkeit auszeichnet und ,erschaffen‘ werden muss („para que el lenguaje se pro‐ duzca …“). ,El habla‘ ist mal „un conjunto de seres vivos, movidos por ritmos semejantes a los que rigen a los astros y las plantas“ (S. 51), mal die durch den Alltagsdiskurs verstümmelte Sprache (S. 22). Kurz: Der Versuch, diese Begriffe als unterschiedliche Konnotationen von ,Sprache‘ zu deuten, endet in Verwirrung und erscheint mir daher wenig sinnvoll. Eher macht es den Eindruck, Paz habe zwar durchaus an eine Unterscheidung verschiedener Ebenen gedacht, diese aber begrifflich nicht konsequent weitergeführt, sodass sie in El arco y la lira nicht mehr rekonstruierbar ist. Unterscheidung zweier unterschiedlicher Sprachmodi: Poesie und Prosa, deren wechselvolles und spannungsgeladenes Verhältnis in El mono gramático per‐ formativ betrachtet wird. Will man sich diesem besonderen Werk annähern, so genügt es eigentlich nicht, über die textlichen Bestandteile zu sprechen. Einen nicht minder wich‐ tigen Aspekt nehmen die zahlreichen Illustrationen ein, mit denen die Origi‐ nalausgabe durchsetzt ist und die mit dem Text in ein spannendes Verhältnis wechselseitiger Kommentierung treten. Ein wirklich prächtiger Eindruck: 72 Illustrationen, teils in gestochenem Schwarz-Weiß, teils in Farbe, Fotografien, Grafiken, Gemäldeabdrucke von Turner über Delacroix und Richard Dadd bis hin zu abstrakter zeitgenössischer Kunst wechseln sich mit Arbeiten indischer Künstler aus mehreren Jahrhunderten ab, Collagen reihen sich an Abbildungen religiöser Skulpturen, alles auf edlem Velinpapier und aufwendig gestaltet. Der 197 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica 255 David Smith vermutet Probleme mit dem Copyright. In der spanischen Erstausgabe waren es 25 Illustrationen. Bei Suhrkamp sind es nur 20, unterteilt in vier Blöcke; al‐ lerdings ist die Qualität etwas besser. Hier sind vor allem die Abbildungen zeitgenös‐ sischer westlicher Werke zugunsten von Kunst aus Indien beiseitegelassen worden. Dafür sind einige von Paz’ Gedichten eingefügt, was zusätzlich die Kapitelzahl gegen‐ über der Seix-Barral-Ausgabe verändert. 256 David Smith: India and the surreal. journeying through the illustrations of Paz’s El mono gramático. In: Martínez Ruiz, Xicoténcatl / Rosado Moreno, Daffny (Hg.): Festines y ayunos. Ensayos en homenaje a Octavio Paz (1914-2014). Mexico D. F.: Instituto Politéc‐ nico Nacional 2014, 179-192. S. 180, 188, 191. Text selbst ist in eigens für die Editions Skira entworfenen Typen nach Mustern des holländischen Designers Chris Brand gedruckt, teils über Kopf und mit einem ungewöhnlichen Verhältnis von Druck und großzügig weiß belassenen Seitenrändern. Nicht nur einen Text, sondern ein wahres Lese- und Bilderbuch hält man hier in Händen. Im Vergleich dazu nimmt sich das Bild, das die spanische Seix-Barral-, aber auch die deutsche Suhrkamp-Edition abgibt, recht traurig aus. Gerade einmal 24 Illustrationen, allesamt in Schwarz-Weiß und mäßiger bis schlechter Druck‐ qualität, die in drei Blöcken zusammengefasst sind, konnten sich retten. 255 Dabei ist es weniger die billigere Produktionsart, die Anlass zur Klage gibt, sondern die Tatsache, dass mit der geringeren Anzahl sowie dem Austausch von Bildern auch deren Anordnung, Gewichtung und Aussagen vollkommen aufgehoben wurden. Der britische Indologe David Smith hat sich 2014 im Rahmen einer Hommage des Instituto politécnico de México an Octavio Paz anlässlich des 100. Geburtstags des Dichters eingehender mit der Frage nach den Illustrationen in El mono gramático beschäftigt. Seiner Meinung nach kann es keinerlei Zweifel geben, dass der mit zahlreichen Malern befreundete Paz seinen Text in engem Zusammenhang mit den Illustrationen geschrieben und die Relation von Text und Bild akribisch geplant hat. Das ganze Buch, so Smith, sei eine Art Collage, in welcher der Text sich mit allen möglichen Formen der Darstellung auseinan‐ dersetze; ganz so also, wie es der Titel von Albert Skiras’ Kollektion Les sentiers de la création vorgebe, in derem Rahmen El mono gramático damals erschien. Diese Serie, in der Werke herausragender Autoren wie René Char, Louis Aragon, Eugène Ionesco, Roger Caillois, Jean Starobinski und Roland Barthes verlegt wurden, war eigens für die Kombination von Literatur und bildender Kunst konzipiert. Bei Paz hätten aber die Pfade der Schöpfung, so Smith, eine voll‐ kommen einzigartige Vielfalt einschlagen: „I know of no other major poet who represents his words so intimately conjoined with other works of art.“ 256 Pazʼ großes Verdienst könne überhaupt nur anhand einer neuen spanischen Edition mit originaler Bildzusammenstellung richtig gewürdigt werden. Ich schließe 198 III. Praxis 257 Vgl. Haas, S. 45. 258 Paz: MG, dt. S. 8. 259 Paz: MG, span. S. 26. mich dieser Einschätzung an, umso mehr, als ich die Illustrationen als Teil einer essayistischen Praxis begreife, als Bildzitate, die durch den Gestus eines, nach dem Wort Gerhard Haasʼ, „souveränen Verfügens über einen breiten Kulturbe‐ stand“ 257 aus ihrem gewohnten Zusammenhang herausgenommen, neu gefügt und umgeformt werden und somit auch in einer neuen Sinnhaftigkeit er‐ scheinen. Wenn ich mich selbst in meinen Überlegungen ausschließlich auf die Text‐ komponente beziehe, so doch immer mit dem Bewusstsein, dass das Bildmaterial der Erstausgabe nicht Zierde oder schmückendes Beiwerk ist, sondern eigentlich einen integralen Bestandteil des Textkorpus darstellt. Aber so groß das Unbe‐ hagen über die zerstörte Korrelation der Teile dieser Schöpfung auch sein mag, sie birgt auch eine erste performative Untermauerung inhaltlicher Aussagen des Texts: So ist El mono gramático in seinem derzeitigen Zustand ein Werk, das sofort die Frage nach dem Ursprung aufwirft: Geschrieben in spanischer Sprache, aber erstmals erschienen in der französischen Übersetzung - wer könnte entscheiden, welcher Fassung das Privileg einer Ursprünglichkeit zu‐ kommt, zumal sich der Text mit der vollständigen Anzahl und Anordnung der Illustrationen nur in der Genfer Ausgabe mit einer Auflage von 1175 Exemplaren erhalten hat? Um einer inhaltlichen Darstellung vorzugreifen: Die Infragestel‐ lung des Ursprungs als Teil eines Identitätsdenkens stellt einen thematischen Schwerpunkt des Textes dar und erinnert an entsprechende Überlegungen Der‐ ridas. Gleich zu Beginn des ersten Kapitels erscheint die Reflexion über die Un‐ möglichkeit, an das Ende des Weges nach Galta zu gelangen (ir hasta el fin). „Wir würden ohne dieses Ziel, das sich uns ständig entzieht, nicht wandern, noch gäbe es Wege. Doch das Ziel ist die Widerlegung des Weges, seine Verdammung: am Ziel löst sich der Weg auf, die Begegnung wird zunichte. Und das Ende - ebenfalls.“ 258 Dabei ist der Weg nach Galta eine Chiffre für den Weg des Schreibens und der Weg des Satzes auf der Suche nach seiner Bedeutung, wie Paz selbst immer wieder kommentiert, sowohl explizit („Der Weg ist Nieder‐ schrift“, MG , dt. S. 116) als auch implizit („Galta ist nicht hier: es erwartet mich am Ende dieses Satzes.“ MG , dt. S. 16). Wie mit dem unmöglichen Endpunkt sieht sich der Leser auch mit einem Anfang konfrontiert, dessen er nicht mehr habhaft werden kann: „No hay palabra original“ - „es gibt kein ursprüngliches Wort.“ 259 Die Suche nach der „palabra original“ stößt nur auf die grundlegende Metapho‐ rizität von Sprache: Kein Ausdruck ist auf Eindeutigkeit festzulegen. Das Wort ist Proteus, das stets Sich-Wandelnde: „Jedes Wort oder jede Wortgruppe ist eine 199 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica 260 Paz: AL, S. 34: „La esencia del lenguaje es simbólica porque consiste en representar un elemento de la realidad por otro, segun ocurre con las metáforas. […] Cada palabra o grupo de palabras es una metáfora. Y asimismo es un instrumento mágico, esto es, algo susceptible de cambiarse en otra cosa y de trasmutar aquello que toca.“ Paz scheint ,Symbol‘ und ,Metapher‘ synonymisch zu verwenden. 261 Ebd., span. S. 53: „lo que tocamos y vemos y oímos y gustamos y olemos y pensamos, las realidades que inventamos y las realidades que nos tocan. Nos miran, nos oyen, nos inventan, […] es siempre la misma realidad plena, […] todo está lleno hasta los bordes, todo es real, todas esas realidades inventadas, y todas esas invenciones tan reales, todos y todas, están llenos de sí, hinchados de su proia realidad.“ 262 Ebd., dt. S. 50 f., span. S. 54: „el árbol que digo no es el árbol que veo, árbol no dice árbol, el árbol está más allá de su nombre, realidad hojosa y leñosa: impenetrable, intocable, realidad más allá de los signos, inmersa en sí misma, plantada en su propia realidad: puedo tocarla pero no puedo decirla, puedo incendiarla pero si la digo la disipo.“ 263 Vgl. ebd., span. S. 56. Metapher. Und ebenso ist es magisches Instrument, das heißt, etwas, das fähig ist, sich in etwas anderes zu verwandeln, und das zu verwandeln, was es be‐ rührt.“ 260 Beides, Anfang so wie Ende, ist entrückt, und was bleibt, ist nur der Weg mit seinen Verzweigungen, der Kreisgang einer ‚zirkulären Schrift‘. 2.2 Die Wege der poetischen Signifikation I: Die Kritik des Paradieses 2.2.1 Das Referenzproblem und die Entdeckung einer ‚redenden Sprache‘ Paz fasst die Wirklichkeit als in sich geschlossene und dem Menschen unzu‐ gängliche Dimension auf, eine Wirklichkeit, die er als ‚realidad plena‘, eine von sich selbst gesättigte, vor sich selbst strotzende Realität beschreibt. Selbst fiktive Realitäten unterliegen diesem absoluten ontologischen Prinzip - ein tautologi‐ sches Prinzip des Seins, das nichts sagt, außer sich selbst in seinem Sein zu bestätigen. 261 Fast unerbittlich und kalt leuchtet hier die Wirklichkeit im Licht auswegloser Identität. Die Sprache reicht nicht an sie heran: Der Baum, den ich nenne, ist nicht der Baum, den ich sehe, Baum heißt nicht Baum, der Baum liegt jenseits seines Namens, Wirklichkeit aus Blatt und Holz: undurch‐ dringlich, unantastbar, Wirklichkeit jenseits der Zeichen, in sich versunken, in ihre eigene Wirklichkeit gepflanzt: Ich kann sie berühren, nicht aber nennen, ich kann sie anzünden, doch wenn ich sie nenne, löse ich sie auf. 262 Es ist eine nichtmenschliche Welt, für den Menschen unbewohnbar, „realidad no habitable“, 263 deren Status als Realität Paz sogar in Zweifel ziehen möchte; denn sie spricht nicht, sie sendet keinen Sinn aus, und für den Menschen kann 200 III. Praxis 264 Ebd., dt. S. 50, span. S. 54: „la realidad más allá del lenguaje no es del todo realidad, realidad que no habla ni dice no es realidad“. 265 Ebd. „Apenas lo digo, apenas escribo con todas sus letras que no es realidad la desnuda de nombres, los nombres se evaporan, son aire, son un sonido engastado en otro sonido y en otro y en otro, un murmullo, una débil cascada de significados que se anulan.“ 266 Ebd., span. S. 122: „todo es una adorable, impasible, abominable, impenetrable super‐ ficie. […] todas estas realidades son un tejido de presencias que no esconden ningun secreto. Exterioridad sin más: nada dicen, nada callan, solamente están ahí, ante mis ojos.“ 267 Paz: AL, S. 19: „No hay colores ni sondes en sí, desprovistos de significación: tocados por la mano del hombre, cambian de naturaleza y penetran en el mundo de las obras. Y todas las obras desembocan en la significación; lo que el hombre roza se tiñe de intencionalidad: es un ir hacia … El mundo del hombre es el mundo del sentido.“ nur wirklich sein, was ihm in seinem Verlangen nach Sinn entgegenkommt, und das bedeutet, was ihm sprachlich begegnet: „Die Wirklichkeit jenseits der Sprache ist keine volle Wirklichkeit, eine Wirklichkeit, die weder redet noch etwas benennt, ist keine Wirklichkeit.“ 264 Doch die Aussage bleibt eher Anrufung als Überzeugung. Denn sogleich glaubt Paz nun die Welt der Sprache als chi‐ märische Erscheinung vorübergehender Formen zu erkennen, die in unendliche Pluralität zerfällt: kaum schreibe ich mit entsprechenden Lettern, daß keine Wirklichkeit sei ohne Namen, verflüchtigen sich die Namen, werden sie Luft, ein Laut, den ein anderer umschließt und wieder ein anderer und noch einer, ein Raunen, eine schwache Er‐ gießung von Bedeutungen, die sich verlieren. 265 Es zeigt sich, dass Paz Referenzialität wesentlich als Ringen um Referenzialität denkt; als Versuch der Vermittlung zwischen unverständlicher Wirklichkeit und menschlichem Bedürfnis nach Sinn: Die außersprachliche Realität stellt Paz als ein Gewebe von Präsenzen dar, die nichts verbergen, rein äußerlich sind; Ober‐ fläche, die einfach ‚da‘ ist; bewundernswert - aber ebenso schauerlich und voll‐ kommen gleichgültig wie undurchdringlich. 266 Gleichzeitig kann der Mensch nicht anders, als auch der nicht zu ihm sprechenden Welt Sinn abzuringen oder diesen Versuch zu wagen. In El arco y la lira bezeichnet Paz die Realität des Menschen als eine Welt der Intentionalität und der Sinnhaftigkeit. Alles, was er anfasst und betrachtet, verwandelt er in Sinn. Diesen Prozess der Sinngebung bringt Paz mit jener Metapher in Verbindung, die er in El mono gramático ver‐ tiefen und als literarisches Erlebnis inszenieren wird: als Weg und Zugehen auf etwas, als ein ‚ir hacia‘.  267 Die Metapher des Wegs für die langsam schreitende Erkenntnis, die immer wieder abschweift und sich auf Irrgängen verstrickt, findet schließlich ihren poetischen Ausdruck in Pasado en claro (1975), einem der Haupt- und Schlüsselwerke in Paz‛ dichterischem Schaffen. Viele der Ideen 201 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica 268 Vgl. Lafaye, Jacques: Octavio Paz. En la deriva de la modernidad. Siete ensayos de Jacques Lafaye. México D. F.: Fondo de Cultura Económica 2013, S. 57. 269 Paz, Octavio: Pasado en claro [1975]. México D. F.: Fondo de Cultura Económica 2. Ed. 1978, S. 9. 270 Vgl. Paz: AL, S. 57. Sinn und Richtung gewinnen bei Paz zusätzlich die Dimension der Rhythmik. und Motive aus dem mono gramático finden sich hier in Versform ‚verdichtet‛; wie den unsteten, mehrdeutigen intellektuellen Prozess der Niederschrift als autobiografische und metapoetische Reflexion, bei dem jeder Buchstabe, jedes Zeichen eine Brücke (puente) hinüber zum anderen Buchstaben ist; eine Brücke zu anderen Brücken. Stets verdampft das Ziel, der Sinn, wie Nieselregen auf glimmender Kohle (como llovizna sobre brasas). Pasado en claro selbst be‐ zeichnet Paz in einem Interview 1989 als „itinerario poético“ - als poetischen Weg oder Wegstrecke. 268 Hier vermischen sich die ‚Schatten‛ (sombras), die das Nachdenken über das eigene Schaffen wirft, mit den mentalen ‚Schritten‛ (pasos) auf dem Weg: Oídos con el alma, pasos mentales más que sombras, sombras del pensamiento más que pasos, por el camino de ecos que la memoria inventa y borra: sin caminar caminan sobre este ahora, puente tendido entre una letra y otra. Como llovizna sobre brasas dentro de mí los pasos pasan hacia lugares que se vuelvan aire. 269 Vermutlich inspiriert vom Philosophierstil Heideggers, ergründet Paz die Be‐ deutung der Wörter, indem er ihrem wörtlichen und etymologischen Gehalt nachgeht. So pflückt er auch das Wort ‚Sinn‘ auseinander, deutet es mithilfe seiner verschiedenen Bedeutungsgehalte. Der ‚Sinn‘ wird so zum Scharnier, an dem sich die Wegmetapher aufhängt und um sich selbst drehen kann, denn ‚Sinn‘ (sentido) hat im Spanischen auch die Bedeutung von ‚Richtung‘ (direc‐ ción), die das Deutsche nur noch als ‚Uhrzeigersinn‘ kennt. Die Richtung, in der man auf etwas zugeht, bestimmt den Weg, der ihr folgt; sie selbst liegt aber immer außerhalb des Gehens und des Wegs. Der Weg, nicht aber die ‚Richtung‘ kann beschritten werden. 270 Sinngebung ist in diesem Verständnis also weniger der Versuch, Wirklichkeit ‚richtig‘ zu interpretieren, auch nicht den Dingen durch einen autonomen Akt Sinn zu verleihen; vielmehr ist es der Mensch selbst, 202 III. Praxis 271 Das erhoffte Totalitätserlebnis ergibt sich, wie ich weiter unten noch darstellen werde, nicht nur aus der Verschmelzung des ‚Ich‘ mit der Welt, sondern auch aus dem Eins‐ werden mit der ‚Sprache‘. Das Dreieck ‚Ich-Sprache-Welt‘, dessen problematisches Zu‐ sammenspiel immer wieder neu ausgelotet wird, kann als Grundmuster des Essayisti‐ schen ausgemacht werden. Siehe Kap. 2.4. 272 Paz: MG, dt. S. 7. 273 Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 75. 274 Ein essayistisches Schreiben ließe sich unter Vorzeichen einer um die Komponente des ‚Ich‘ erweiterten Episteme der ‚Ähnlichkeit‘ verorten. Sie denkt nicht nur Welt und Sprache in enger Verkettung, sondern integriert das denkende ‚Ich‘ in diese Einheit. So ist das ‚Essayistische‘ die Verhandlung einer erhofften Einheit von ‚Ich - Sprache - Welt‘. 275 Vgl. Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 76 f. 276 Vgl. Kap. 1.5. der sich Sinn verleiht, indem er sich eine Richtung gibt, das heißt, indem er sich der Wirklichkeit in bestimmter Weise zuwendet und ihr entgegenwandert. Dieser Prozess, der Weg des Schreibens, wird zur Bewegung des ‚Sich-Ausrich‐ tens‘ an den Dingen der Welt. Hoffnung, den Sinn zu treffen, das eigene Selbst mit der Welt zu verbinden: eine erhoffte Erfahrung von Totalität oder Ganzheit durch die Vereinigung mit dem Sinn, letztendliche Übereinstimmung mit der ‚Richtung‘, selbst und gerade aufgrund der Erkenntnis ihrer Unzugänglichkeit. Das ist die paradoxe Bewegung, in der sich essayistisches Denken abspielt. 271 Es liegt nichts hinter dem Ende, schreibt Paz, „und dennoch wandern wir immer auf etwas zu … auch wenn wir wissen, daß nichts und niemand uns erwartet.“ 272 Die Frage nach der Erkennbarkeit von Welt wird dabei nicht grundsätzlich ver‐ neint; jedoch zieht das ‚Essayistische‘ deren direkte Sagbarkeit in Zweifel (das direkte, immer zu gleißende, gewaltvolle Licht bei Zambrano). Das ‚Essayisti‐ sche‘ sucht sich daher Wege indirekter Nennung, ist um Anklänge und Remi‐ niszenzen bemüht und um die nicht gesagten, mitschwingenden Bedeutungen. Damit verortet es sich, wie bereits für den Fall der Waldlichtungen aufgezeigt, ganz in der Nähe zu dem, was Foucault die Episteme der ‚Ähnlichkeit‘ nennt und die er als Denken einer „tiefen Zusammengehörigkeit der Sprache und der Welt“ 273 charakterisiert. 274 Die ‚Ähnlichkeit‘ bedingt die Vorstellung einer Sprache, nicht in ihrer reprä‐ sentativen oder bedeutenden Funktion, sondern in ihrem ‚Sein‘. 275 Im vorher‐ gehenden Kapitel habe ich versucht, dieses ‚lebendige Sein‘ über den Begriff der ‚sprechenden‘ oder ‚redenden Sprache‘ zu erschließen, die eine Fülle der Be‐ deutungsmöglichkeiten anklingen lässt und dabei gleichzeitig Gefahr läuft, in die reine Selbstreferenz (ihr unintelligibles, rohes Sein) zu verfallen. 276 Der ‚redenden Sprache‘ haftet daher eine Gefährlichkeit in doppeltem Sinn an: als Ge‐ 203 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica 277 Paz: MG, dt. S. 96, span. S. 101: „lenguaje que ya no significa, que sólo dice“. 278 Paz: MG, dt. S. 92 f., span. S. 98 f. 279 Paz: AL, S. 29 (e. Ü.). Es wirkt, als bringe Paz hier einen Abbildcharakter der Zeichen mit dem Paradies in Verbindung, doch sind seine Ausführungen hier nicht ganz kon‐ sistent. Auf derselben Seite spricht er von „identidad entre el objeto y su signo“. fahr des Zusammenbruchs des Menschlichen und als Gefahr eines Übergriffs des Unmenschlichen. Auch bei Paz werden die Figurationen der ‚Ähnlichkeit‘ als ‚redender Sprache‘ erkennbar. So ist in El mono gramático von einer Sprache die Rede, „die schon nichts mehr bedeutet, die nur sagt“. 277 Sie ist als Gegenkraft zur Reprä‐ sentation und der arbiträren, auf Konvention beruhenden Zuordnung von ‚Be‐ zeichnendem‘ und ‚Bezeichnetem‘ zu verstehen, die die natürliche Zugehörig‐ keit der Wörter und der Dinge gemäß Foucault auseinanderreißt und Sprache nach ihrem funktionalen, bedeutenden Aspekt befragt und nicht mehr nach ihrem ‚Sein‘. Pazʼ poetologisches Konzept der Signifikation kritisiert die ‚Re‐ präsentation‘ und will Sprache wieder sprechend statt nur bedeutend machen. An entscheidender Stelle formuliert Paz in El mono gramático: Der Dichter nennt die Dinge nicht mit Namen, sondern löst ihre Namen auf, er ent‐ deckt, daß die Dinge keine Namen haben, daß die Namen, die wir für sie haben, nicht die ihren sind. Die Kritik des Paradieses heißt Sprache: Abschaffung der Eigennamen; die Kritik der Sprache heißt Poesie: die Namen schwinden bis zur Transparenz, bis zur Verdunstung. Im ersten Fall verwandelt sich die Welt in Sprache; im zweiten die Sprache in Welt. 278 Jenes Paradies, von dem Paz spricht, ist die Vorstellung einer göttlichen Ur‐ sprache, also der Identität von Zeichen und ‚Ding‘. Dies hatte er bereits in El arco y la lira verdeutlicht: Die erste Haltung des Menschen gegenüber der Sprache sei eine des Vertrauens gewesen. „Zeichen und bezeichnetes Objekt waren dasselbe. Die Skulptur war das Doppel ihres Modells; die rituelle Formel die Reproduktion der Realität, fähig, sie wieder erstehen zu lassen. Sprechen bedeutete, das Objekt, auf das es sich bezog, (wieder) zu erschaffen. Das exakte Aufsagen der magischen Worte war eine der wichtigsten Bedingungen ihrer Wirksamkeit.“ 279 Diese Beschreibung eines Paradieses erinnert freilich stark an diejenige Michel Foucaults, der beinahe schon im Duktus einer mythologischen Kosmogonie die Vorstellung eines paradiesischen Zustands vor der babyloni‐ schen Sprachverwirrung aufzeigt. Hier offenbart sich die göttliche Sprache als vollkommene Transparenz der Wörter in Bezug auf die Dinge: 204 III. Praxis 280 Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 67. Streng genommen spricht Foucault von ,Ähn‐ lichkeit‘, während Paz den Urzustand der Sprache als ,Identität‘ mit den Dingen denkt. Ich gehe davon aus, dass beide sich aber damit auf dieselbe Idee einer Transparenz von Sprache oder einer ‚redenden Sprache‘ beziehen, die ihre Bedeutung ,offen‘ und ein‐ deutig in sich trägt. 281 Grundsätzlicher Unterschied zwischen den beiden Ansätzen dürfte dabei der Faktor der Geschichte sein. Während Foucault auf eine mythologische Zeit vor aller Zeit anspielt, gewinnt bei Paz der paradiesische Urzustand der Sprache durchaus historische Ank‐ länge: Ganz konkret bringt er ihn mit dem vedischen Indien in Verbindung (das aber natürlich seinerseits wieder mythisch durchsetzt ist). 282 Vgl. Paz: AL, S. 29. In ihrer ursprünglichen Form, als sie den Menschen von Gott gegeben wurde, war die Sprache ein absolut sicheres und wahres Zeichen der Dinge, weil sie ihnen ähnelte. Die Namen waren auf dem von ihnen Bezeichneten deponiert, wie die Kraft in den Körper des Löwen eingeschrieben ist, wie das Königtum in den Blick des Adlers, wie der Einfluß der Planeten auf der Stirn der Menschen markiert ist. 280 Während Foucault die Überzeugung aufgreift, Gott habe die ursprüngliche Transparenz als Strafe für die Überheblichkeit der Menschen ausgelöscht, spricht Octavio Paz schlicht von einem fortschreitenden Verlust des Glaubens in die Identität von Objekt und Zeichen: 281 Die Menschen selbst hätten irgend‐ wann eine Kluft zwischen den Dingen und ihren Namen entdeckt und fortan versucht, den Wörtern eine präzise Bedeutung zuzuschreiben. Die Wörter je‐ doch widersetzen sich aller Definition, sodass die Schlacht zwischen wissen‐ schaftlicher Präzision und Sprache bis heute anhalte. 282 Die Geschichten, die uns Foucault und Paz von Entstehung und Wandel der Sprache erzählen, sind freilich nicht identisch, gleichen sich aber in ihren Ursprungsmythen: In beiden geht es um die Vertreibung aus dem Paradies und den Wandel hin zu einer Welt, in der Sprache ihre Unschuld verliert. Für Foucault gründet darauf die Episteme der ‚Ähnlichkeit‘ mit ihrer Ästhetik des Kommentars, der darauf zielt, die ursprüng‐ liche Transparenz wiederherzustellen - gefolgt von einem harten, nicht näher erklärten Bruch hin zur ‚Repräsentation‘. Sie wird im Zeitalter der Klassik dem Versuch, Zeichen und Dinge als Einheit zu begreifen, zugunsten wissenschaft‐ licher Präzision ein Ende bereiten. Bei Paz hingegen erscheint die Vertreibung durch den Glaubensverlust eher als Exil in einen Zustand, dessen Beschreibung an die der ‚Repräsentation‘ erinnert (arbiträre Fixierung von Bedeutung). Sie impliziert jedoch bei Paz keinen radikalen epistemologischen Bruch. Der Verlust des Glaubens löscht noch nicht die unterschwellige Hoffnung darauf, jenen verloren gegangenen Glauben wiederzuerlangen und die geheime Zusammen‐ gehörigkeit von Welt und Sprache zum Fundament des Sprechens zu machen. Pazʼ Ausführungen dazu sind in El arco y la lira sehr schematisch und wenig 205 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica 283 Paz: AL, S. 29 f. konsistent. Ich deute sie jedoch folgendermaßen: Der Mensch, so scheint es bei Paz, hat die Idee des Paradieses nicht ganz aufgegeben, nachdem er die Kluft zwischen Wörtern und Dingen bemerkt hatte. Vielmehr betrachtet er sie aus seinem Exil heraus als ferne Möglichkeit. Er hat sich provisorisch in der ‚Re‐ präsentation‘ eingerichtet und bedient sich ihrer, um die Wörter gefügig zu ma‐ chen und sie dem menschlichen Bewusstsein anzupassen. Denn sein Bewusst‐ sein sehnt sich nach Identität und kann die göttliche Identität doch nicht denken. Die ‚Repräsentation‘ erscheint somit als ein lediglich künstliches oder simu‐ liertes Identitätsprinzip, dessen Simulation aber nicht vollständig verfängt. Es ist Identität, aber eingeschmolzen auf menschliches Maß und deshalb labil und krisenanfällig. Das heißt, unser funktionales Sprechen ist von einer Fehlan‐ nahme geleitet: Wir haben geglaubt, das Paradies mittels der Fixierung von Be‐ deutung retten zu können, und sprechen unter den Vorzeichen der Repräsen‐ tation, als ob sie dazu fähig sei - eine Illusion, die im Laufe der Geschichte immer wieder als solche erkannt wird, vor allem wenn metaphysische Begriffe hinter‐ fragt werden und ihre Wirkung einbüßen. 283 Die Paradiesvorstellung scheint auf den ersten Blick nicht mit der Repräsentation vereinbar, an die ja das struktu‐ ralistisch aufgefasste Zeichen geknüpft ist mit seinem Fokus auf die rein kon‐ ventionelle, arbiträre Bedeutungszuschreibung. Es gilt aber zu überlegen, unter welchen Bedingungen wir uns des strukturalistischen Zeichens bedienen, und dies scheint unter Zuhilfenahme des ‚Als-ob‘ der Fall, das ein naives Sprechen begründet. Das Thema der Arbitrarität ist ganz entscheidend, doch die Frage ist: Sind wir uns ihrer bewusst oder nicht? Das heißt: Haben wir erkannt, dass wir auf ‚imaginärer‘ Grundlage sprechen? Hier liegt unsere paradoxe Einstellung zur Sprache, die diese Frage abwechselnd mit ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ oder mit einem unentschiedenen Schweigen beantwortet. 2.2.2 Die Erfahrung der Sprache Sprache lässt sich vor allem als tief greifende Erfahrung dieser Unentschieden‐ heit, dieses wechselvollen Changierens verstehen; sie birgt in sich die Affirma‐ tion der Identität, aber auch die der Desillusionierung, des Abschieds vom Pa‐ radies - eine Erfahrung von Dispersion und Pluralität, in der uns die Bedeutung stets zwischen den Fingen hindurchrinnt. Sie ist in diesem zweiten Aspekt eine Erfahrung fundamentaler Unbegrifflichkeit, die unsere Konstruktionen unter‐ miniert und letztlich zerstören kann. Paz führt dem Leser des mono gramático den Moment dieser Zerstörung (je nach Sichtweise auch der Überwindung) exemplarisch vor Augen durch Über‐ 206 III. Praxis 284 Paz: MG, dt. S. 92, span. S. 98: „El paraíso está regido por una gramática ontológica: las cosas y los seres son sus nombres y cada nombre es propio.“ 285 Vgl. ebd., dt. S. 92, span. S. 98. 286 Ebd., dt. S. 93, span. S. 99. 287 Ebd., dt. S. 45 f., span. S. 48 f. „Maleza de signos: ¿cómo leerla, cómo abrirse paso entre esta espesura? Hanuman sonríe con placer ante la analogía que se le acaba de ocurrir: caligrafía y vegetación, arboleda y escritura, lecura y camino.“ legungen, die er beim Blick aus seinem Fenster auf ein kleines Wäldchen in der Dämmerung anstellt: Der Name ‚Wäldchen‘ werde ihm nicht gerecht, sinniert Paz, da es nicht mit anderen vergleichbar sei, auch nicht mit jenen unförmigen Kohlehaufen, mit denen Paz es in der Dunkelheit vergleicht. Nicht einmal mit sich selbst sei es identisch, da es sich bei jedem Lichteinfall zu jeder Stunde verändere: „Im Paradies herrscht eine ontologische Grammatik: Die Dinge und Wesen sind ihre Namen und jeder Name ist Eigenname. Das Wäldchen ist nicht einzig, gesetzt, es hat einen allgemeinen Namen […], es ist aber einzig, gesetzt, daß kein Name ihm wahrhaft eignet.“ 284 In unserer menschlichen Sprache schafften wir lediglich symbolhafte Entsprechungen, statt die Dinge bei ihren eigentlichen Namen nennen zu können. Den Versuch, Wirklichkeit auszudrü‐ cken, fasst Octavio Paz dabei in zwei signifikante Metaphern, die sich quer durch El mono gramático ziehen: zum einen die des Texts als ‚Textur‘: Buchstaben- und Wortreihungen sind ein Gewebe, welches die Wirklichkeit be-schreibt und dabei gleichzeitig mit einem undurchdringlichen Netz metaphorischer Wortverkno‐ tungen verhüllt: 285 ein Gewebe von Namen - „tejido de nombres“. 286 Die zweite Metapher ist die Aneinanderreihung der Zeichen als ein wuchernder Urwald mit den Buchstaben als Schlingpflanzen, ein Grün, das alles verdeckt und ver‐ schluckt. Der Mensch bahnt sich einen Weg, schlägt Schneisen durch dieses Dickicht auf der Suche nach Bedeutung und verliert sich in der Natur aus Zei‐ chen: „Zeichengestrüpp: wie ist es zu lesen, wie bahnt man sich einen Weg durch dieses Dickicht? “ 287 Es sind Metaphern einer gewissen Desillusionierung durch Verdeckung und Verstellung. Nichts hat einen Eigennamen, sondern nur wech‐ selnde, austauschbare Namen, Metaphern für Metaphern: Gestrüpp von Linien, Figuren, Formen, Farben: die Schlingen der Muster, […] die Folge der miteinander verknüpften Figuren, die in waagrechten Streifen sich wiederholen und dem Verständnis entziehen [org. besser: die den Verstand vom Weg abbringen], als wolle der Raum sich Zeile um Zeile allmählich mit Lettern bedecken, jede anders und doch mit der folgenden auf die gleiche Weise verbunden, so als brächten sie alle mit ihren verschiedenen Fügungen die unveränderlich gleiche Figur, dasselbe Wort 207 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica 288 Paz: MG, dt. S. 69, span. S. 73: „Maleza de líneas, figuras, formas, colores: los lazos de los trazos […], la sucesión de figuras enlazadas que se repiten en franjas horizontales y que extravían el entendimiento, como si renglón tras renglón el espacio se cubriese paulatinamente de letras, cada una distinta pero asociada a la siguiente de la misma manera y como si todas ellas, en sus diversas conjunciones, produjesen invariablemente la misma figura, la misma palabra. Y no obstante, en cada caso la figura (la palabra) posee una significación distinta. Distinta y la misma.“ 289 Ebd., dt. S. 22, span. S. 26: „Quizá las cosas no son cosas sino palabras: metáforas, palabras de otras cosas.“ 290 Ebd., dt. 21, span. S. 25. hervor. Dennoch hat die Figur (das Wort) eine jedesmal andere Bedeutung. Eine andere und doch dieselbe. 288 Das immer gleiche Wort mit immer anderer Bedeutung - Ende der Identität, Kritik des Paradieses: ‚iterabilité‘ und ‚différance‘. Abschaffung der Eigen‐ namen, „die Welt wird Sprache“, formuliert Paz. Und fast zu Beginn des Buchs die Mutmaßung: „Vielleicht sind die Dinge nicht Dinge, sondern Wörter: Me‐ taphern, Wörter für andere Dinge.“ 289 Die Erfahrung der Sprache ist die ihrer Metaphorizität und damit geprägt durch die Ambivalenz von Andersheit und Gleichheit (‚Wandel‘ und ‚Beharren‘). Sie ist, so schreibt Paz, Metapher der Wirklichkeit: Sie sagt etwas gänzlich anderes und sagt doch dasselbe. Gespiegelt findet sich diese Überlegung in einer Meditation, die Paz beim Blick aus seinem Fenster in Cambridge anstellt. Er beobachtet das unstete Spiel der Blätter im herannahenden Sturm während der Abenddämmerung und setzt dem die Betrachtung von Fixpunkten gegenüber, wie etwa einem Tisch, der scheinbar unbeweglich in einer Ecke des Hinterhofs steht, einem Mülleimer, den Baumstämmen, dem Licht des Himmels. Wandel und Beharren sind die gegen‐ sätzlichen Eigenschaften, die er Blättern und Fixpunkten zuschreibt. Schließlich gelangt er zu der paradoxen Formel „La fijeza es siempre momentánea“ - „Das Beharren gilt immer nur augenblicklich“ 290 - ein poetischer Ausdruck für die Beobachtung, dass es ein Beharren gibt, das lediglich Zustand eines Übergangs ist, sich aber letztlich nicht in diskursive Sprache übersetzen lässt. Als Paz der Bedeutung dieser Aussage nachgeht, verstrickt, verspinnt und verheddert er sich im Dschungel der Wörter. Paz beginnt nun, eine stets noch ‚eigentlichere‘ Bedeutung dieses Satzes aufspüren zu wollen. Damit stößt er schließlich auf die Absurdität der Annahme einer Metasprachlichkeit, die sich der Metaphorik entzöge. Der Satz ist nur in der Vorstellung einer poetischen, auf ‚Ähnlichkeit‘ gründ‐ enden ‚redenden Sprache‘ zu verstehen. Er erscheint jedoch widersinnig, wenn er aufgrund der Annahme klar bestimmbarer Begriffe, das heißt als binäre Po‐ 208 III. Praxis 291 Paz: AL, S. 30: „los signos deben ser explicados y no hay otro medio de explicación que el lenguaje.“ 292 Paz: MG, dt. S. 22, span. S. 25 f.: „Deberíamos someter el lenguaje a un régimen de pan y agua, si queremos que no se corrompa y nos corrompa. (Lo malo es que ré‐ gimen-de-pan-y-agua es una expresión figurada como lo es la corrupción-del-len‐ guaje-y-sus-contagios.) Hay que destejer (otra metáfora) inclusive las frases más simples para averiguar qué es lo que encierran (más expresiones figuradas) y de cómo están hechas […]. Destejer el tejido verbal: la realidad aparecerá (Dos metáforas.) ¿La realidad será el reverso de la metáfora - aquello que está del otro lado del lenguaje? “ larität, gedacht wird. Das ist ein Angriff auf die logozentrische Metaphysik mit ihrer auf Oppositionen festgelegten Sprache. In El arco y la lira bringt Paz (genau wie María Zambrano) das Festhalten der Begriffe unter der Annahme objektiver Metasprachlichkeit mit der Philosophie in Verbindung: Deren Irrtum oder deren Tragik bestehe in der Abhängigkeit von den Wörtern. „Die Zeichen müssen erklärt werden, und es gibt kein anderes Mittel für das Erklären als die Sprache.“ 291 In der Meditation über Wandel und Beharren hebt Paz auf eine all‐ gemeine Thematik ab, die er mit essayistischem Gestus darstellt: in einer per‐ formativen und selbstkritischen Praxis des Schreibens: Wir müssten die Sprache einer Kur von Wasser und Brot unterwerfen, wenn wir wollten, daß sie nicht verdirbt und uns verdürbe. (Nur schlimm, daß die Wasser-und-Brot-Kur ein bildlicher Ausdruck ist wie der von der Verderbnis-der Sprache-und-ihrer-Ansteckung). Selbst die einfachsten Sätze muß man entwirren (noch eine Metapher), um zu erforschen, was sie in sich schließen (wieder übertra‐ gener Ausdruck) und aus was und wie sie gemacht sind […] Das Wortgeflecht ent‐ flechten: die Wirklichkeit erscheint (Zwei Metaphern.) Ist die Wirklichkeit die Kehr‐ seite des Gewebes, der Metapher - das, was auf der anderen Seite der Sprache liegt? 292 Die „Kur von Wasser und Brot“, das Ende der in Opulenz schwelgenden Viel‐ deutigkeit, wäre eine Fixierung der Bedeutung. Doch es scheint nicht einmal möglich zu sagen, was wir selbst mit einer Äußerung haben ausdrücken wollen. Die Suche nach dem ‚eigentlich Gemeinten‛, dem dahinter und zugrunde lie‐ genden Ursprungswort gerät ins Schlingern und führt zu unauflösbaren Para‐ doxa: Wenn man den übertragenen Ausdruck durch den Unmittelbaren ersetzt, wird der Widersinn deutlich: das Beharren ist (immer) Bewegung. Das Beharren ist seinerseits eine Metapher. Was habe ich sagen wollen mit diesem Wort? Vielleicht: das, was sich nicht wandelt. Der Satz hätte also heißen können: was sich nicht wandelt, ist (immer) Bewegung. Das Ergebnis befriedigt nicht: der Gegensatz zwischen Nichtwandel und 209 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica 293 Ebd., dt. S. 24, span. S. 27: „Si se substituye la expresión figurada por la directa, aparecerá el contrasentido: la fijeza es (siempre) movimiento. A su vez, fijeza es una metáfora. ¿Qué quise decir con esa palabra? Tal vez: aquello que no cambia. Así, la frase podría haber sido: lo que no cambia es (siempre) movimiento. El resultado no es satisfactorio: la oposición entre no cambio y movimiento no es neta, la ambigüedad reaparece.“ (Her‐ vorhebungen durch den Autor.) 294 Ebd. dt. S. 21, span. S. 25: „Mi frase tiende a dispolver esa oposición y así se presenta como una taimada transgresión del principio de identidad.“ 295 Lacan: Seminar II, S. 59. 296 Vgl. ebd., S. 300. 297 Paz: MG, dt. S. 22 f., span. S. 26 f.: „Aquello que se dice en el lenguaje sin que el lenguaje lo diga, es decir (¿es decir? ): aquello que realmente se dice (aquello que entre una frase y otra, en esa grieta que no es ni silencio ni voz, aparece) es aquello que el lenguaje calla.“ Bewegung ist nicht eindeutig; von neuem der Doppelsinn. Da Bewegung eine Meta‐ pher ist für Wandel, wird es am besten heißen: Nichtwandel ist (immer) Wandel. 293 Und so fort. Wörter werden versucht, getauscht, abgewandelt, ‚Wandel‘ wird zu ‚werden‘, wird zu ‚entstehen‘, ‚Nichtwandel‘ wird zu ‚bleiben‘. Nur wenn sich das Verständnis dem Paradox öffnet, wird der Satz „Das Beharren gilt immer nur augenblicklich“ begreifbar. Ich habe so ausführlich zitiert, um hier wirklich den performativen Charakter, in dem Paz seinen mono gramático schreibt, vor Augen zu führen. Die Bewegung des Schreibens, das Suchen, Tasten, Neu-An‐ setzen, folgt den inhaltlichen Bezügen zum Schreiben als (Irr-)Weg, den Paz hier schreibend beschreitet. Die Erfahrung der Sprache kann verwirrend und be‐ ängstigend sein und entspricht einem Weg, an dessen Ende der Mensch nicht mehr als Getäuschter dasteht. Sie ist eine Überschreitung der imaginären wie naiven Paradiesvorstellung: „Mein Satz ist bestrebt, diesen Gegensatz aufzu‐ heben, er bietet sich darum dar wie eine listige Überschreitung des Identitäts‐ prinzips.“ 294 Schreiben heißt, die Erfahrung menschlicher Sprachlichkeit ma‐ chen, die ‚Imago‘ identitärer Bedeutung aufgeben, über das Spiegelstadium hinausgehen und sich darüber klar werden, den Regeln des ‚Symbolischen‘ un‐ terworfen zu sein. Das heißt auch: sich der Arbitrarität bewusst werden. Unter dem ‚Symbolischen‘ hatte Lacan die „Matrix des verkannten Teils des Sub‐ jekts“ 295 verstanden, in dem das Subjekt dasjenige erkennt, was es in Wirklich‐ keit bestimmt und ausrichtet: das ‚große Andere‘. 296 Und auch bei Paz heißt es: „Was in der Sprache spricht, ohne daß die Sprache es spricht, ist sozusagen (so‐ zusagen? ): das, was wirklich spricht.“ 297 Es offenbart sich im materiellen Riss (grieta) zwischen den Sätzen, als ‚Grund-Riss‘ der Sprache. Das ‚Symbolische‘, das uns über das Sprechen Zugang zum (wahren) Subjekt (und zur Wirklichkeit) 210 III. Praxis 298 Vgl. Lacan: Seminar II, S. 138. 299 Vgl. Ebd., S. 67. 300 Paz: MG, dt. S. 23 f. gewährt, kann aber nach Lacan nicht getrennt vom ‚Imaginären‘ existieren. 298 Die Täuschung des ‚Als-ob‘ ist durchaus notwendig bzw. überhaupt nicht zu umgehen. 299 Genauso erkennt Paz in El mono gramático die fixierten Bedeu‐ tungen als arbiträr, als Virtualität des ‚Als-ob‘, und überführt sie in eine Meta‐ phernkette ohne Ursprung und Ziel, die den Gedankengang unterbrechen und aufbrechen. Dennoch verzichtet er nicht auf den Versuch, jenen imaginären An‐ nahmen zumindest augenblickhaft immer wieder nachzugehen, indem er immer wieder neu ansetzt und neu schreibt: „Ich komme zu meiner anfänglichen Be‐ obachtung zurück“ oder „Ich beginne von neuem.“ 300 Kontinuierliche Desillusi‐ onierung und Neuentwurf - fortgesetztes Atemholen als Kontemplation. Die Erfahrung der Sprache, von der Paz in El mono gramático schreibt, ist eine zutiefst ambivalente: Es ist sicherlich die Desillusionierung durch die Einsicht in das Symbolische, wie ich oben geschrieben habe: die Erfahrung eines Wegs, an dessen Ende der Mensch nicht mehr als Getäuschter dasteht. Doch Paz fragt auch: Können wir den Weg überhaupt zu Ende gehen, oder bleiben wir nicht immer auch von der Sprache nicht nur Getäuschte, sondern auch Illusionierte? El mono gramático ist, so betrachtet, inhaltlich wie performativ ein Schreiben im ambivalenten Spiegelstadium und der Versuch, diese beiden Positionen mit‐ einander zu vermitteln - Essay über die Erfahrung von Sprache in unserem Sprechen. 2.3 Die Wege der poetischen Signifikation II : Die Kritik der Sprache und die Erfahrung der Wirklichkeit Bisher haben wir die eine Seite betrachtet: die Abschaffung der Eigennamen, Kritik des Paradieses: Die Welt ist Sprache geworden und droht in einem Urwald aus Zeichen und Metaphern zu verschwinden, die immer Gefahr laufen, in die reine Selbstreferenz zu fallen. Die Namen besitzen keine Bedeutung mehr; sie sind aufgebrochen, zerstreut, entehrt. Was übrig bleibt, ist das Rascheln ver‐ trockneter Buchstaben-Samen: 211 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica 301 Paz: Pasado en claro, S. 42. 302 Ebd., dt. S. 49 f., span. S. 53: „las cosas se vacían y los nombres se llenan […] los nombres les chupan los tuétanos a las cosas, las cosas se mueren sobre esta página pero los nombres medran y se multiplican, las cosas se mueren para que vivan los nombres.“ 303 Baudrillard, S. 9. 304 Paz: MG, dt. S. 22. 305 Baudrillard, S. 14. Una sonaja de semillas secas las letras rotas de los nombres: hemos quebrantado a los nombres, hemos dispersado a los nombres, hemos deshonrado a los nombres. 301 Was aber hat es mit der anderen Seite auf sich, die Paz als Kritik der Sprache bezeichnet, die Seite der Poesie, auf der „Sprache zu Welt“ wird? Die Wirklichkeit ist für Octavio Paz, wie bereits oben erwähnt, ein undurch‐ dringliches Gewebe reiner Präsenzen. Die Sprache versucht, sie in Zeichen zu übersetzen, die sich aber nur metaphorisch auf sie beziehen können; sie über‐ schreiben das Gewebe der Präsenzen mit einem anderen Gewebe, zerbrechlicher als das erste und provisorisch, vergänglich. Sie ersetzen das Dickicht der Dinge durch einen Wald der Zeichen. Wie Schlingpflanzen überwuchern sie die Rea‐ lität und erdrosseln die Dinge: „Die Dinge leeren und die Namen füllen sich […] Die Namen saugen den Dingen das Mark aus, die Dinge sterben auf dieser Seite, die Namen aber wachsen und mehren sich, die Dinge sterben, damit die Namen leben.“ 302 Befinden wir uns also mit Paz im Zeitalter der Hyperrealität, in der selbstreferenzielle Zeichen nur noch kaschieren, dass es gar keine Wirklichkeit gibt? Literatur also als „Substituierung des Realen durch Zeichen des Realen“? 303 Liegt überhaupt etwas hinter der Sprache? „Ist die Wirklichkeit die Kehrseite des Gewebes, der Metapher - das, was auf der anderen Seite der Sprache liegt? “, fragt Paz, um dann einzuwerfen: „(die Sprache hat weder Kehrnoch Vorder‐ seite, noch Ränder). Vielleicht ist die Wirklichkeit auch eine Metapher (für was und / oder für wen)? “ 304 Der Gedanke der Simulation scheint also naheliegend, und doch trifft er die Sache nur im Ansatz, nicht aber in der Konsequenz. Denn ebenso wenig wie Zambrano beschreitet Octavio Paz jenen Weg der „radikalen Negation des Zeichens als Wert“, der Umkehrung und des Todes jeder Refe‐ renz, 305 den Jean Baudrillard als Ausgangspunkt der Simulation ausmacht. Zu‐ nächst scheinen Pazʼ Vorstellungen von Sprache die Nähe zur Simulation zu bestätigen: Vier Phasen beschreibt Baudrillard, welche die Repräsentation suk‐ zessive durch die Simulation ersetzen: a) Es ist Reflex einer tiefer liegenden 212 III. Praxis 306 Ebd., S. 15. 307 Paz: MG, dt. S. 92. 308 Ebd., dt. S. 124. Der Suhrkamp-Ausgabe liegt eine erweiterte Textfassung zugrunde, das komplette Kapitel fehlt in der spanischen Seix-Barral-Ausgabe. Realität; b) es maskiert und denaturiert die tiefer liegende Realität; c) es maskiert eine Abwesenheit einer tiefer liegenden Realität; d) es verweist auf keine Rea‐ lität: Es ist sein eigenes Simulakrum. 306 Dieser Prozess kann als der des schrittweisen Verlusts des Glaubens in die Transparenz der Sprache verstanden werden, den Paz in El arco y la lira an‐ deutet. Auch er spricht von einer Phase, in der Sprache als sehr direkt an die Dinge geknüpft erschien, gefolgt von einer ‚Denaturierung‘, die bei Paz der schrittweisen Überlagerung der Realität durch Zeichen entspricht: Lettern be‐ decken den Gegenstand, die ihn gleichzeitig beschreiben und verhüllen, 307 heißt es in El mono gramático. Wo Baudrillard nun von Maskierung der Abwesenheit einer tiefer liegenden Realität spricht, setzt auch Paz Abwesenheit in den Fokus sprachlicher Signifi‐ kation: Die Zeichen verweisen nicht mehr auf Präsenzen, sind nicht ihr unmit‐ telbares Abbild und Zeugnis, sondern sie fangen lediglich die Abwesenheit der Dinge ein. So besitzt auch ein Werk niemals Realität: Das Werk ist nicht das, was ich gerade schreibe, sondern etwas, was ich noch nicht geschrieben habe - das, was ich nicht sagen kann. […] unter dem Gesagten befindet sich immer das Nichtgesagte. Die Schrift ruht in einer Abwesenheit, die Worte bede‐ cken aufs neue eine Lücke. […] Alle Werke, einschließlich der Vollendetsten, sind die Ahnung oder der Entwurf eines anderen Werkes, des wirklicheren Werks, das niemals geschrieben worden ist.“ 308 Performativ untermauert Paz diesen Gedanken, indem er mit El mono gramático ein Werk schafft, das sich selbst bedeutet und sich selbst doch nicht ,sagen‘ kann, weil es immer etwas ,anderes‘ sagt als es selbst. Das (reale) Werk kann sich selbst nicht transparent sein, weil es abwesend ist. Das ist nicht zuletzt deshalb inte‐ ressant, da es Pazʼ Vorstellung über Bedeutung in der Sprache in ein Feld rückt, dem seit Freud eine grundlegende Verständnismöglichkeit eröffnet worden ist: Die hinter der Sprache liegende Bedeutung nimmt die Form eines Unbewussten an - das dem Menschen stets als fundamentale Abwesenheit begegnet. In einem solchen Zusammenhang kann das ‚Reale‘ zwar nicht Objekt direkter Signifika‐ tion sein; es lässt sich aber indirekt in der Erfahrung des Unbewussten dem Verständnis nahebringen. Genau hier folgt Paz eben nicht dem Weg in die Re‐ ferenzlosigkeit der Simulation, oder anders gesagt: Sprache kann eben doch mehr sein als ihr eigenes Simulakrum. Sie enthält die Möglichkeit, auf Welt 213 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica 309 Lacan, Jacques: Das Drängen des Buchstabens im Unbewussten oder die Vernunft seit Freud [1957]. In: Schriften II. Olten: Walter-Verlag 1975, 15-59. S. 19. 310 Ebd., S. 18. Bezug zu nehmen, weil - wie Lacan bekräftigt - das Unbewusste wie eine Sprache strukturiert ist und damit gesprochen und entziffert werden kann. Ge‐ nauer gesagt, entdeckt die Psychoanalyse nach Lacan nicht nur ein Sprechen, sondern die Struktur der Sprache überhaupt. 309 Der Psychoanalytiker nimmt aus dem Sprechen seinen Rahmen, sein Material, sein Instrument, „und zwar bis hin zum Hintergrundgeräusch seiner Ungewißheiten“. 310 Das heißt, der Analytiker erhält Zugang zum ‚Dahinterliegenden‘, indem er die Sprache des Analysanden im Hinblick auf gewisse psychische Vorgänge transparent macht - und ihm damit auch sein ‚Ich‘ (moi) offenbart. Nun ist Octavio Paz freilich kein Psycho‐ analytiker, und dennoch lässt er als Dichter eine weitere Idee der Möglichkeit des Bezugs von Sprache auf Wirklichkeit erkennen, die der Psychoanalyse im Ansatz durchaus ähnlich ist: die poetische Signifikation. Auch sie ist eine Sprechweise, in der sich die Transzendierung von Sprache ereignen soll. Doch während durch die Psychoanalyse nur jenes Dahinterliegende lesbar gemacht werden soll, geht es bei der poetischen Signifikation darum, es zu bezeichnen, es zu schreiben. Insofern ermöglicht Dichtung nicht nur, Wirklichkeit zu be‐ nennen; sie ist gleichzeitig auch eine verändernde Kraft, die Wirklichkeit ,her‐ vorbringen‘ kann. Der Dichter vernimmt dabei gerade in jenem „Hintergrund‐ geräusch der Ungewissheiten“ das kosmische Rauschen, die Überreste des Urknalls, aus dem sich die Welt konstituierte, die kosmologische Konstante - wenn man so will, das Unbewusste des Universums. Die poetische Signifikation maskiert keine Abwesenheit, sie sucht das Universum der Sprache unermüdlich mit den Radioteleskopen des dichterischen Gespürs nach ihr ab. Auf diese Weise kann der Dichter das Nichts und die Leere zum Sprechen, oder genauer, zum Klingen bringen, und ihr Anklänge der Bedeutungsfülle entlocken. Ähnlich der mystischen Formel des San Juan de la Cruz kommt es zu einer paradoxen Um‐ kehr von ‚todo‛ und ‚nada‛. In Pasado en claro nennt Paz diesen Zustand, schwer zu übersetzen, einen „tercer estado“ (dritter Zustand) oder „un estar tercero“ (ein im Dritten sein), zwischen dem Sein und dem Nicht-Sein: eine leere Fülle; keine Präsenz (presencia), sondern eine Vorahnung (presentimiento). Die Namen, die es nennen, sagen nichts: ein zweischneidiges Wort zwischen zwei Leerstellen: 214 III. Praxis 311 Paz: Pasado en claro, S. 40. 312 Vgl. del Valle Lattanzio, Camilo: Die unendliche Frage der Poetik. Zur Grenze der Poetik und zum Poetologischen Essay im Werk Octavio Paz'. In: del Valle Lattanzio, Ca‐ milo / Müller-Funk, Wolfgang (Hg.): Zwischen dem Schreiben und der Kritik: Octavio Paz, die Moderne und der Essay. Wien: Praesens Verlag 2018, 89-125. S. 92. 313 Heidegger, S. 32. Hay un estar tercero: el ser sin ser, la plenitud vacía, hora sin horas y otros nombres con que se muestra y se dispersa en las confluencias del lenguaje no la presencia: su presentimiento. Los nombres que la nombran dicen: nada, palabra de dos filos, palabra entre dos huecos. 311 Camilo del Valle Lattanzio vermutet eine intensive Heidegger-Rezeption als Grundlage dieser poetologischen Überlegung. 312 Im Essay über den Ursprung des Kunstwerks schreibt Heidegger etwa davon, was das ‚Werksein‘ ausmache, und grenzt es dabei folgendermaßen vom ‚Zeug‘ ab. Während das (Hand‐ werks-)Zeug durch Dienlichkeit oder Brauchbarkeit charakterisiert ist und seinen Werkstoff vollkommen vereinnahmt und im Gebrauch abnutzt, treten im Kunstwerk erst die Eigenschaften seines Werkstoffs hervor und werden spürbar. So kann im Kunstwerk Wahrheit erlebt werden. Das ‚Zeug‘, so Heidegger, nehme den Stoff, aus dem es gemacht ist, in seinen Dienst; dieser verschwinde geradezu in der ‚Dienlichkeit des Zeugs‘. So würden etwa das Holz und das Metall in einer Axt gebraucht und verbraucht. Ganz anders im Werk: […] der Fels kommt zum Tragen und Ruhen und wird so erst Fels; die Metalle kommen zum Blitzen und Schimmern, die Farben zum Leuchten, der Ton zum Klingen, das Wort zum Sagen. All dieses kommt hervor, indem das Werk sich zurückstellt in das Massige und Schwere des Steins, in das Feste und Biegsame des Holzes, in die Härte und den Glanz des Erzes, in das Leuchten und Dunkeln der Farbe, in den Klang des Tones und in die Nennkraft des Wortes. 313 In El arco y la lira nimmt Paz den Gedanken fast wörtlich auf: Der Stein ragt in der Skulptur hervor und beugt sich in der Treppe. Die Farbe sticht im Gemälde hervor; die Bewegung im Tanz. Die Materie, die im Werkzeug unter‐ worfen ist, erlangt in der Kunst ihre eigene Urtümlichkeit wieder. Die poetische Tä‐ tigkeit wirkt unter gegensätzlichen Vorzeichen als die Dienstbarmachung durch die 215 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica 314 Paz: AL, S. 22 (e. Ü.): „La piedra triunfa en la escultura, se humilla en la escalera. El color resplandece en el cuadro; el movimiento del cuerpo, en la danza. La materia, vencida o deformada en el utensilio, recobra su esplendor en el arte. La operación poética es de signo contrario a la manipulación técnica. Gracias a la primera, la materia recobra su naturaleza: el color es más color; el sonido es plenamente sonido.“ 315 Die Selbstoffenbarung der Sprache ist die Erfahrung der Conditio humana und letztlich die des Exils. Siehe Kapitel 2.4 316 Paz: MG, dt. S. 22, span. S. 26: „Ciertas realidades no se pueden enunciar pero, cito de memoria, ,son aquello que se muestra en el lenguaje sin que el lenguaje lo enuncie.‘ Son aquello que el lenguaje no dice y así dice.“ Technik [technische Manipulation]. Dank ersterer gewinnt die Materie ihre Natur zurück: die Farbe ist farblicher; der Klang ist gänzlich Klang. 314 Es geht um den Gedanken, Sprache sprechen zu lassen, nicht durch ihre Ver‐ wendung als Werkzeug, nicht also, indem sie sich in ihrem kommunikativen Alltagsgebrauch abnutzt und verschleift, sondern durch ihre künstlerische Her‐ vorhebung im Werk, im Gedicht. So tritt, wie Heidegger sagt, die „Nennkraft des Wortes“ wieder zutage. Diese ‚Nennkraft‘ ist nicht bloße Referenzfähigkeit in Bezug auf Objekte des Realen. Sie besteht vielmehr darin, dass Sprache in jedem Ausdruck gewissermaßen an ihr eigenes Wesen zurückgebunden wird, oder anders gesagt: dass sich in jedem Ausdruck nicht nur entfaltet, was wir gemeinhin ‚Bedeutung‘ nennen würden, sondern sich gleichzeitig das Wesen der Sprache selbst mitteilt. Wirklichkeit lässt sich nur vermittels einer Selbst‐ offenbarung der Sprache benennen. Dies aber lässt unweigerlich die Frage er‐ scheinen, was Sprache eigentlich ist und worin sie sich offenbart. 315 Nicht ihre kommunikativen oder künstlerischen Eigenschaften werden hier in den Blick genommen, sondern das (stets ungedachte) ‚Sein‘ der Sprache. Dieses ‚Sein‘ kommt nun in der Dichtung ins ‚Unverborgene‘, insofern Dichtung imstande ist, Abwesenheit und Nicht-Sein in ihrem Ausdruck mit einzufangen. Dichtung ist also fähig zur Signifikation, indem sie sich (mit Heidegger for‐ muliert) zurückstellt in das ‚Bergende der Erde‘ (des Stoffs). Es nennt Wirklich‐ keit in ihrer Eigenschaft als das in der Sprache Sich-Versagende - als Abwesen‐ heit in der Sprache. „Manche Wirklichkeiten kann man nicht ausdrücken“, schreibt Paz in El mono gramático, „doch, ich zitiere aus dem Gedächtnis, ‚sie sind das, was sich in der Sprache zeigt, ohne daß die Sprache es ausdrückt‘. Sie sind, was die Sprache sagt, indem sie es nicht sagt.“ 316 Allein die künstlerische Sprache (oder die Sprache im Kunstwerk) kann durch ihr subtiles ‚Nichtsagen‘ das Wesen der Dinge, ihre Wahrheit erfassen, indem sie die Abwesenheit evoziert. Um etwas genauer zu werden: Dichtung offenbart das Wesen der Sprache, indem es die Anwesenheit gerade durch Nennung der 216 III. Praxis 317 Ebd., dt. S. 50, span. S. 54: „enre mis labios el árbol desaparece mientras lo digo y al desvanecerse aparece: míralo, torbellino de hojas y raíces y ramas y tronco en mitad del ventarrón, chorro de verde bronceada sonora hojosa realidad aquí en la página: míralo allá en la eminencia del terreno, míralo: opaco entre la masa opaca de los árboles, míralo irreal en su bruta realidad muda, míralo no dicho.“ 318 Vgl. Paz: AL, S. 109. Abwesenheit beschwört; indem sie also in jeden Ausdruck das mit hineinlegt, was Sprache ist oder womit sie vielmehr umschrieben werden kann: die Mög‐ lichkeit einer Transzendenz. Wenn es nicht möglich ist, die Dinge bei ihrem wahren Namen zu nennen (Paradies), und ihre Darstellung als Abbild (‚Repräsentation‘) suspekt geworden ist, so bleibt eine dritte Möglichkeit bestehen. Der Versuch, sie mittels der poe‐ tischen Sprache vorstellbar zu machen (Präsentation). Die Dinge gewinnen durch die Sprache Wirklichkeit innerhalb des individuellen Geistes. Auf diese Weise beschwört Paz in El mono gramático einen Baum, den er von seinem Zimmer in Cambridge aus durch sein Fenster beobachtet: […] indem ich ihn nenne, verschwindet der Baum zwischen meinen Lippen und im Verschwinden erscheint er wieder: sieh ihn an, ein Wirbel von Blättern und Wurzeln, Zweigen und Stamm inmitten des Sturms, ein Schauer von bronzegrüner, rau‐ schend-blättriger Wirklichkeit hier auf dieser Seite: sieh ihn dort auf der Erhebung im Gelände, sieh ihn, düster in der düsteren Masse der Bäume, sieh ihn, irreal in seiner stummen, rohen Wirklichkeit, sieh ihn, das Unge‐ sagte: 317 Dieser Versuch, den Baum in der Sprache Wirklichkeit werden zu lassen, ent‐ spricht dem poetischen Verfahren, wie es Paz es in El arco y la lira beschreibt: Der Dichter beschreibt nicht, er stellt den darzustellenden Gegenstand als Bild vor uns hin. Das Bild fängt den Moment der Wahrnehmung ein und zwingt den Leser, den wahrgenommenen Gegenstand in sich selbst zu erschaffen. 318 Damit dieser Moment der Erfahrung von Wirklichkeit durch die Sprache geschehen kann, muss die Sprache selbst erlöschen; sie muss einen Modus finden, sich selbst abwesend und unbewusst zu machen. Wie bei María Zambrano lässt sich hier eine Meditationslogik isolieren, die eines Objekts bedarf über das meditiert wird; in diesem Fall die Sprache selbst. Die Übung besteht im zweiten Schritt jedoch in einem Vergessen der bewussten Übung, wodurch der Gegenstand transzendiert werden kann. Gott, oder der Zustand der Einheit und der Bedeu‐ tungsfülle erscheint in der Leere. Darin offenbart sich das Wesen der Sprache: In ihrem Erlöschen gewinnt sie ein Moment der Transzendenz, indem es das hinter den Zeichen liegende offenbart. „Bedeutung ist, was Worte aussenden 217 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica 319 Paz: MG, dt. S. 105, span. S. 111 f.: „El sentido es aquello que emiten las palabras y que está más allá de ellas, aquello que se fuga entre las mallas de las palabras y que ellas quisieran retener o atrapar.“ 320 Vgl. Paz: AL, S. 22. 321 Ebd., S. 23: „el poema es algo que está más allá del lenguaje. Mas esto que está más allá del lenguaje sólo puede alcanzarse a través del lenguaje.“ 322 Ebd., S. 35 f.: „La palabra no es idéntica a la realidad que nombra porque entre el hombre y las cosas - y, más hondamente, entre el hombre y su ser - se interpone la conciencia de si.“ 323 Vgl. Paz: MG, dt. S. 107. 324 Vgl. Paz: AL, S. 117. 325 Es handelt sich hierbei nicht um eine trennbare zeitliche Abfolge verschiedener ‚Phasen‘, sondern um eine komplexe Wechselbeziehung die eng ineinandergreift. und was weit über sie hinausreicht, was durch ihre Maschen fällt, was sie gern halten oder einfangen würden.“ 319 Dieses ständige ‚Mehr‘ und Hinausreichen über sich selbst ist, was Dichtung einzufangen vermag. Sie blickt hinter die Sprache mit den Mitteln der Sprache. Ihrem Wesen nach ist sie daher ein Durch‐ gang, Brücken zu anderen Ufern 320 - Lichtung. „Das Gedicht ist etwas, das jen‐ seits der Sprache liegt. Aber dieses Jenseits der Sprache lässt sich nur durch die Sprache erreichen.“ 321 Die Erkenntnis über das Wesen der Sprache lässt sich erneut an die Psycho‐ analyse knüpfen, wenn Paz in El Arco y la Lira schreibt: „Das Wort ist nicht mit der Realität identisch, die es benennt, weil sich zwischen den Menschen und die Dinge - und, noch weiter in der Tiefe, zwischen den Menschen und sein Wesen - das Bewusstsein seiner Selbst schiebt.“ 322 In der Tilgung des Bewusstseins, indem sich also die Sprache selbst unbewusst wird, geht sie über sich selbst hinaus, erhält sie Zugang zu ihrer ‚anderen Seite‘, 323 zum Realen, das auch das Unbe‐ wusste und das Nicht-Sein mit einschließt. Bei genauer Hinsicht zeigt sich immer wieder, dass die freudianisch ausgerichtete Psychoanalyse einen festen Platz in Pazʼ Vorstellungswelt behält. Selbst wenn er ihre Theoreme vermutlich nicht wissenschaftlich detailliert rezipiert hat, scheint sie Teil des Bodens, von dem aus er seine poetologischen Konzepte formuliert. So bezeichnet Paz jene ‚andere Seite‘ als den „nächtlichen Teil unseres Wesens“ („parte nocturna de nuestro ser“) und assoziiert diesen deutlich mit der Formulierung der Imperative des Unbewussten durch Freud. 324 Ging es im ersten Teil der Signifikationstheorie um die Kritik des Paradieses und das ambivalente Erlebnis der Sprache, so steht in einem zweiten Schritt 325 das Erlebnis der Wirklichkeit durch eine bestimmte Form der Sprachbetrach‐ tung im Fokus: „Die Kritik der Sprache heißt Poesie: die Namen schwinden bis 218 III. Praxis 326 Paz: MG, dt. S. 92, span. S. 98 f.: „la crítica del lenguaje se llama poesía: los nombres se adelgazan hasta la transparencia, la evaporación.“ 327 Ebd., dt. S. 54, span. S. 57 f.: „las frases configuran una presencia que se disipa, son la configuración de la abolición de la presencia, si, es como si todas esas presencias tejidas por las configuraciones de los signos buscasen su abolición para que aparezcan aquellos árboles inaccesibles, inmersos en sí mismos, no dichos, que están más allá del final de esta frase, en el otro lado, allá donde unos ojos leen esto que escribo y, al leerlo, lo disipan.“ 328 Paz: AL, S. 151 f. (e. Ü): „Ya estamos solos. La espera misma se vuelve desesperación, porque la esperanza de la presencia se ha trocado en certidumbre de soledad. No vendrá. No habrá nadie. No hay nadie. Yo mismo no soy nadie. La nada se abre a nuestros pies. Y en ese instante sobreviene lo inesperado, lo que ya no esperábamos. El goce ante la irrupción de la presencia amada se expresa como una suspensión del ánimo: nos falta zur Transparenz, bis zur Verdunstung“, 326 heißt es in El mono gramático. Die Dichtung schiebt die insistierende Frage nach der Bedeutung beiseite. Sie drückt sich als ein Erlöschen oder ein Vergessen des selbstpräsenten Bewusstseins aus: […] die Sätze bilden eine vergehende Gegenwart, sie sind Gestaltung der Abschaffung der Gegenwart [Präsenz], ja, es ist, als strebten all die durch Zeichengestalten inei‐ nander gewobenen Gegenwarten nach ihrer Aufhebung, damit jene unzugänglichen in sich versunkenen, unausgesprochenen Bäume erscheinen, die hinter dem Ende des Satzes liegen, auf der anderen Seite, wo ein paar Augen lesen, was ich schreibe und es lesend verflüchtigen. 327 Das Erscheinen der versunkenen, unausgesprochenen Bäume ist das Erlebnis von Wirklichkeit jenseits der Sprache, die sich nur über den Umweg des Bemü‐ hens in der und um die Sprache einstellen kann. Gleich Zambranos Lichtung ist der Fund stets unverhofft und unvermittelt. Er zeigt sich, nachdem wir lange gewartet und den Weg der Wörter vergeblich beschritten, uns in ihren Dschun‐ gelranken verfangen und verlaufen und nichts mehr zu hoffen gewagt haben. Uns umfängt eine finstere Nacht, eine ‚Noche oscura‛. Zeile um Zeile sind an‐ einandergereiht, Versuche des Nennens und Benennens - umsonst? Nun sind wir allein. Das Warten selbst wird Verzweiflung, denn die Hoffnung auf die Präsenz wandelt sich in die Gewissheit der Einsamkeit. Sie wird nicht kommen. Nie‐ mand wird da sein. Es gibt niemanden. Ich selbst bin niemand. Das Nichts tut sich vor unseren Füßen auf. Und in diesem Augenblick bricht das Unerwartete herein, das wir nicht mehr erwartet haben. Die Erregung angesichts des Einbruchs der ersehnten Präsenz drückt sich als ein Aussetzen des Geistes aus: uns fehlt der Boden, uns fehlen die Worte, die Freude raubt uns den Atem: Alles steht still, mitten im Sprung ins Leere. 328 219 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica suelo, nos faltan palabras, la alegría nos corta la respiración. Todo se queda inmóvil, a mitad del salto en el vacío.“ 329 Vgl. Paz: AL, S. 157: „No es una experiencia que luego traducen las palabras, sino que las palabras mismas constituyen el núcleo de la experiencia.“ 330 Ebd., S. 50: „Cada vez que nos distraemos, reaparece el lenguaje en su estado natural, anterior a la gramática.“ 331 Ebd., S. 103 f.: „La identidad última entre el hombre y el mundo, la conciencia y el ser, el ser y la existencia es la creencia más antigua del hombre y la raíz de ciencia y religión, magia y poesía.“ So beschreibt Octavio Paz die poetische Offenbarung der Wirklichkeit, nicht als Rausch, sondern als Innehalten und Unterbrechung und leere Stelle: als Moment absoluter Stille wie im Auge des Sturms oder als einen Zustand der Schwebe. Doch was sich da offenbart, ist nicht das immer unzugänglich bleibende Reale, sondern seine Spuren, die es in der Sprache hinterlässt, jenes ‚kosmische Rau‐ schen‘, wie ich es weiter oben genannt habe. Dieses Offenbarungserlebnis, so Paz daher in El arco y la lira, sei nichts, was Worte übersetzen könnten. Vielmehr seien Worte selbst der Kern jenes Erlebnisses. 329 Ohne den Versuch des Weges bleibt die Lichtung verborgen. Die Dichtung in Pazʼ poetologischer Vorstellung ist daher ‚pasión crítica‘: ein Modus, die Sprache bewusst zu bearbeiten (der Weg), bis sich in kurzen Momenten dieser konzentrierten Arbeit Augenblicke des Abschweifens einstellen (die Lichtung), die das ‚Ego‘ unvermittelt auflösen und den Blick auf eine transparente Tiefendimension von Sprache freigeben: „Immer, wenn wir abschweifen, erscheint die Sprache in ihrem natürlichen Zu‐ stand wieder, in ihrem Zustand vor der Grammatik.“ 330 2.4 Vision, Bild, Monogramm: Der Urzustand und das Paradox des Menschen María Zambrano spricht in den Waldlichtungen von einem erahnten Reich, in dem das, was bezeichnet und was bezeichnet wird, ein und dasselbe wären, und bezieht sich damit auf den Horizont eines ersehnten paradiesischen Urzustandes der Einheit. Octavio Paz nun beschreibt einen solchen in der Offenbarung er‐ fahrbaren Urzustand ebenfalls als ein linguistisches Mirakel: als einen ursprün‐ glichen Zustand der Sprache vor der Grammatik, als eine Sprache, die zur Über‐ windung der Kluft zwischen dem Menschen, seinem Wort und der Welt fähig ist. „Die letztendliche Identität zwischen dem Menschen und der Welt, des Be‐ wusstseins und des Seins, des Seins und der Existenz, ist der älteste Glaube des Menschen und die Wurzel der Wissenschaft und der Religion, der Magie und der Poesie.“ 331 El mono gramático ist jedoch nicht einfach ein Text über diesen Urzustand; vielmehr verhandelt Paz kritisch dessen Möglichkeiten und Bedin‐ 220 III. Praxis 332 Ebd., S. 36: „La palabra es un puente mediante el cual el hombre trata de salvar la dis‐ tancia que lo separa de la realidad exterior. Mas esa distancia forma parte de la natu‐ raleza humana.“ 333 Paz: La búsqueda del presente. Conferencia Nobel 1990. https: / / www.nobelprize.org/ priz es/ literature/ 1990/ paz/ 25350-octavio-paz-nobel-lecture-1990/ (e. Ü.): „La conciencia de la separación es una nota constante de nuestra historia espiritual. A veces sentimos la separación como una herida y entonces se transforma en escisión interna, conciencia desgarrada que nos invita al examen de nosotros mismos […] desprendidos del todo caemos en un suelo extraño. Esta experiencia se convierte en una llaga que nunca ci‐ catriza.“ 334 Vgl. Lafaye, S. 37, 64. gungen. Um diese essayistische Perspektive deutlich zu machen, möchte ich die kritischen Bewegungen des Texts zwischen Affirmationen und Skepsis im fol‐ genden Abschnitt kommentierend begleiten und sie als sukzessiven Modus einer Formwerdung, als Problematik der ,Ver-körperung‘ betrachten: Die Sprache, die den paradiesischen Urzustand offenbaren soll, stellt sich als grundlegendes Pa‐ radox dar. In Pazʼ Vorstellung, die jener des ‚Exils‘ bei Zambrano sehr ähnlich ist, dient das Wort als Mittler zwischen Mensch und Welt. Gleichzeitig lässt sich diese Distanz niemals überwinden, da sie Teil der Conditio humana ist. 332 ‚So‐ ledad‛ oder ‚Exil‛, die Ferne von sich selbst und von der Welt, ist das Schicksal des Menschen, das er nicht ablegen kann. Die ‚soledad‛ ist individuell und la‐ teinamerikanisch gefasst, lässt sich jedoch genauso universell existenzialistisch im Sinne einer ‚Geworfenheit‛ verstehen. In seiner Nobelpreisrede 1990, La bús‐ queda del presente, sagt Paz: „Das Bewusstsein der Trennung ist ein konstantes Merkmal unserer Geistesgeschichte. Manchmal spüren wir die Trennung wie eine Wunde, und dann verwandelt sie sich in eine innere Entfernung, ein zer‐ rissenes Bewusstsein, das uns zur Selbsterforschung einlädt […] abgetrennt von allem fallen wir auf einen fremden Boden. Diese Erfahrung wird zu einer Wunde, die niemals heilt.“ 333 Alles Tun und Handeln des Menschen könne, so Paz weiter, als Versuch aufgefasst werden, einen ursprünglichen Zustand vor dieser Tren‐ nung wiederherzustellen. Nach Jacques Lafaye übernimmt Paz für diese Wie‐ derherstellung das Stichwort der Versöhnung (‚reconciliación‛) von Novalis, als Versöhnung von Ich und Kosmos, Moment und Ewigkeit, Kunst und Leben: Die Lieb ist frei gegeben, Und keine Trennung mehr …  334 Der Versuch der Wiederer‐ langung des Zustands vor allen Trennungen ist dabei Sehnsucht nach dem Pa‐ radies, die Paz immer wieder autobiografisch als Sehnsucht nach dem Garten seiner Kindheit in Mixcoac überlagert hat. Auch der ‚Brunnen‛, als Symbol von Ursprung und Quell der Kindheit, das Emotionen und Erinnerungen wachruft ist als Synonym des Gartens zu verstehen. In Pasado en claro schreibt Paz von 221 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica 335 Paz: Pasado en claro, S. 12. 336 Ebd., S. 10. 337 Fuestle, Joseph A.: Poesía y mística (Darío, Jiménez y Paz). Universidad Veracruziana 1978, S. 51. 338 Paz: Pasado en claro, S. 11. 339 Paz: AL, S. 35 f.: „La palabra no es idéntica a la realidad que nobra porque entre el hombre y las cosas - y, más hondamente, entre el hombre y su ser - se interpone la conciencia de sí.“ jenem überwucherten Garten („Jardín ya matorral“) als Brunnen des Anbeginns, und gleichzeitig als das Gedicht Pasado en claro: Estoy dentro del ojo: el pozo donde desde el principio un niño está cayendo, el pozo donde cuento lo que tardo en caer desde el principio, 335 Von hier aus gehen die Pfade der Sprache mit ihren Verzweigungen, entfernen sich von jener Einheit des Ursprungs, von sich selbst und sind doch der einzige Weg zu ihm zurück, der nur mühsam, als steiniger Ziegenpfad (senda de piedras y de cabras) beschritten werden kann: Me alejo de mí mismo, sigo los titubeos de estta frase, senda de piedras y de cabras. 336 Die Heilung der Wunde, welche die existenzielle ‚soledad‛ gerissen hat, liegt nach Joseph Fuestle denn auch in der Wiedererlangung einer Erinnerung (re‐ cuperación de la memoria), einer rituellen Aktivierung der Vergangenheit, die als mythisch zirkuläre Zeit zugleich auch Gegenwart und Zukunft ist 337 : in Pa‐ sado en claro evoziert als Kristallkugel, die chimärisch zerbrechlich zwischen den Spiegelungen der Worte erscheint, dort, wo sich das eigene Ich in den Wi‐ dersprüchen der Sprache begegnet: Ni allá ni aquí: por esa linde de duda, transitada sólo por espejos y vislumbres, donde el lenguaje se desdice, voy al encuentro de mí mismo. La hora es bola de cristal. 338 In Pazʼ Verständnis kann der Mensch nicht ‚bei sich‘ sein, denn sowohl zwischen ihn und die Welt als auch zwischen ihn und sein wahres Wesen stellt sich das illusionäre Bewusstsein seiner selbst. 339 Um dieses Bewusstsein aufzulösen, ent‐ 222 III. Praxis 340 Vgl. Fuestle, S. 53. 341 Ebd., S. 36: „una vez reconquistada la unidad primordial entre el mundo y el hombre, ¿no saldrían sobrando las palabras? El fin de la enajenación sería también el del lenguaje. La utopía terminaría, como la mística, en el silencio.“ 342 Ebd., S. 30: „Pues el hombre es inseparable de las palabras. Sin ellas, es inasible. El hombre es un ser de palabras.“ 343 Ebd., S. 34: „Por la palabra, el hombre es una metáfora de sí mismo.“ 344 Ebd., S. 31: „el lenguaje, en su realidad última, se nos escapa. […] El lenguaje es una condición de la existencia del hombre y no un objeto, un organismo o un sistema con‐ vencional de signos que podemos aceptar o desechar.“ 345 Ebd., S. 30: „Así, en un extremo, la realidad que las palabras no pueden expresar; en el otro, la realidad del hombre que sólo puede expresarse con palabras.“ 346 Paz: MG, dt. S. 108, span. S. 116: „El lenguaje es la consecuencia (o la causa) de nuestro destierro del universo, significa la distancia entre las cosas y nosotros. También es nuestro recurso contra la distancia. Si cesase el exilio, cesaría el lenguaje.“ wirft Paz sein poetologisches Konzept. Darin geht es um die Wiedererlangung der Einheit durch die Opferung des vergänglichen ‚Ich‛ durch das Wort. 340 Doch je mehr der Mensch nun versucht, eins zu werden mit der Welt, desto unnötiger und störender wird das Wort als Mittler: „Das Ende der Entfremdung wäre auch das der Sprache. Die Utopie mündete dann, wie die Mystik, in der Stille.“ 341 Das Ende der Sprache aber ist nicht vorstellbar, denn es wäre unweigerlich auch die Auflösung des Menschen selbst, denn „der Mensch ist untrennbar von den Worten. Ohne sie ist er nicht greifbar. Der Mensch ist ein Wesen aus Worten.“ 342 Weil die Sprache metaphorisch ist und ihre Bedeutung sich in einer unendlichen Reihe von Verschiebungen entzieht, ist damit auch der Mensch eine Metapher seiner selbst. Genauer: Er ist Mensch aufgrund des Wortes, der ursprünglichen Metapher. 343 „Die Sprache in ihrer letztendlichen Realität, entwischt uns. […] Die Sprache ist Bedingung der Existenz des Menschen und kein Objekt, Orga‐ nismus oder konventionelles Zeichensystem, das wir akzeptieren oder ver‐ werfen könnten.“ 344 Pazʼ Paradox der Sprache ist damit das des Menschen selbst: „Auf der einen Seite steht also die Wirklichkeit, welche die Worte nicht aus‐ drücken können, auf der anderen die Wirklichkeit des Menschen, der sich einzig mit Worten ausdrücken kann.“ 345 Der Mensch braucht die Sprache, die ihn zu‐ gleich befähigt und verdammt. Diese Gedankengänge bilden ein zentrales Thema des mono gramático. Wollen wir versuchen, den Text auf seinen Sinn hin zu deuten, stoßen wir immer wieder auf eine Diskussion über den Wert von Sprache und ihre ambivalente, doppelte Gestalt: „Die Sprache ist die Folge (oder die Ursache) unserer Verban‐ nung [destierro] aus dem Universum, sie bedeutet die Trennung zwischen uns und den Dingen. Sie ist aber auch unser Mittel gegen diese Trennung.“ 346 Ge‐ nauer besteht dieses Mittel in einem speziellen Sprachgebrauch: in der Dichtung, 223 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica 347 Paz: AL, S. 52: „El suenno, el delirio, la hipnosis y otros estados de la relajación de la conciencia favorecen el manar de las frases. […] Arrastrados por el río de imágenes, rozamos las orillas del puro existir y adivinamos un estado de unidad, de final reunion con nuestro ser y con el ser del mundo. Incapaz de poner diques a la marea, la conciencia vacila. Y de pronto todo desemboca en una imagen final. Un muro nos cierra el paso: volvemos al silencio.“ 348 Paz: MG, dt. S. 108, span. S. 116: „La poesía nos alimenta y nos aniquila. Nos da la palabra y nos condena al silencio.“ die uns den Urzustand zu offenbaren versucht, indem sie das Unbewusste akti‐ viert. In El arco y la lira beschreibt Paz anschaulich das poetische Verfahren, das er auch in El mono gramático in Gang setzt: Mitgerissen von dem Fluss der Bilder streifen wir die Ufer des reinen Lebens und erahnen einen Zustand der Einheit der letztlichen Vereinigung mit unserem Sein und mit dem Sein der Welt. Unfähig, die Flut einzudämmen, wankt das Bewusstsein. Und sogleich mündet alles in ein finales Bild. Eine Mauer versperrt uns den Weg: wir kehren zur Stille zurück. 347 Ein Fluss der Bilder: Der staubige Weg nach Galta, das Wäldchen vor dem Zimmer in Cambridge, die felsige karge Wüstenlandschaft in der Nachmittag‐ shitze, Pilgerströme in bunten Gewändern, Bettler, Sadhus, Lepra, Gestank und Kadaver, wilde erotische Vereinigung von Nymphen und Tieren, der Dämon Ravana, und zwischen all diesen Bildern entsteht ein Netz, das jedes einzelne mit allen anderen in Verbindung bringt. Das finale Bild erscheint, das Zentrum aller Verflechtungen: der heilige Affe, Hanuman, der Text El mono gramático. Was genau ist sein Sinn? Was ist mit der Offenbarung geschehen? Die volle Transparenz hat sich nur für einen kurzen Augenblick ereignet. Zambrano hatte von der „Ankündigung und dem Ende der Fülle“ geschrieben, die sich dann doch nicht ergeben hat. Warum nicht? Die von der Dichtung enthüllte Wirklichkeit, so Paz in El mono gramático, erscheint nur bei Vernichtung der Sprache: „Die Dichtung nährt uns und vernichtet uns, sie gibt uns das Wort und verdammt uns zum Schweigen.“ 348 Das Scheitern der vollen Offenbarung liegt im Para‐ doxon vom Menschen und von der Sprache begründet. Dessen volle Komplexität zeigt sich, wenn ich versuche, die Elemente des ersehnten Urzustandes wirklich in eine Einheit und sie als Gedankenexperiment auf eine horizontale Linie zu bringen: Ich - Sprache - Welt Bin ich eins mit meiner Sprache, entgeht mir die Wirklichkeit. Tauche ich hingegen mit meinem ganzen Wesen ein in die Wirklichkeit und verschmelze 224 III. Praxis mit ihr, verschwindet die Kluft zwischen mir selbst und der Welt, so gehe ich meiner Sprache als Mittler verlustig - und damit auch meiner selbst. Und ver‐ einigt sich in der Offenbarung die Sprache mit der Realität, wird sie also Sprache der Wirklichkeit, so vermag ich sie nicht mehr zu begreifen. Ich vernehme sie nur als Stille und bin in der Einsamkeit, isoliert von Sprache und Welt. Stets lässt sich eines der drei Elemente nicht mit den anderen beiden in Ein‐ klang bringen und liegt außerhalb der gedanklichen Linie. Sie ließe sich eher als ein Dreieck vorstellen: Ich Sprache Welt Die Trinität der Ganzheit ist unerreichbar. Für El mono gramático bedeutet das auch, dass unsere Leseerfahrung von der Haltung abhängt, die wir innerhalb dieses Dreiecks einnehmen. Folge ich den Wegen des Texts mit der Annahme einer bewussten Objektsprache, so muss ich mir recht bald die Frage nach seinem Referenten in der Wirklichkeit, also nach der der Bedeutung stellen. Unter den Vorgaben der kommunikativen Sprache lässt sich erfahren, dass es sich nicht um einen Reisebericht handelt, aber auch nicht um einen philosophi‐ schen Text, ja vielleicht nicht einmal um Prosa. Will ich den Text hingegen als Dichtung begreifen, lasse ich mich von dem Erlebnis der Auflösung der Sprache mitreißen, das seine virtuosen Sprachbilder in mir hervorrufen. Dann entgehen mir aber entweder die Inhalte, die mir durch die Sprache bewusst vermittelt werden, oder sie stören das poetische Erlebnis. Für Paz ist das poetische Wirklichkeitserlebnis darüber hinaus zutiefst am‐ bivalent. Denn in dem Moment, in dem die Transzendenz augenblickhaft spürbar wird, offenbart sich auch, dass die Wirklichkeit jenseits der Sprache unmenschlich und unbewohnbar ist und dass mit der Sprache auch die Welt des Menschen erlischt. So ist das Offenbarungserlebnis sowohl Glanz als auch Trü‐ bung: Das Schreiben ist eine Suche nach dem Sinn, den es selber produziert. Am Ende der Suche entschwindet der Sinn und enthüllt eine eigentlich sinnlose Wirklichkeit […] Jeder Versuch endet gleich: […] Die Suche nach dem Sinn hat ihren Höhepunkt in der Erscheinung einer Wirklichkeit, die jenseits des Sinns liegt, die ihn zerlegt und zer‐ stört. Wir wandern von der Suche nach dem Sinn zu seiner Vernichtung, damit eine 225 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica 349 Ebd., dt. S. 108 f., span. S. 116 f.: „La escritura es una búsqueda del sentido que ella misma expele. Al final de la búsqueda el sentido se disipa y nos revela una realidad propiamente insensata. […] Cada tentativa termina en lo mismo: […] La búsqueda del sentido culmina en la aparición de una realidad que está más allá del sentido y que lo disgrega, lo destruye. Vamos de la búsqueda del sentido a su abolición para que surja una realidad que, a su vez, se disipa. La realidad y su esplendor, la realidad y su opacidad“. 350 Kurt Hahn betrachtet die ‚soledad‘ bei Paz als Teil einer „Existenzanalytik, als deren Grundfigur der Mangel erscheint. Ohne die Einbettung in eine symbolische Ordnung lässt sich die Geworfenheit des Individuums nicht mehr auf Distanz bringen.“ (Vgl. Hahn, S. 49. Hervorhebung durch den Autor). 351 Paz: AL, S. 154: „En suma, nuestra condición original no es sólo carencia ni tampoco abundancia, sino posibilidad. La libertad del hombre se funde y radica en no ser más sino posibilidad. Realizar esa posibilidad es ser, crearse a sí mismo.“ 352 Ebd., S. 111: „la imagen es un recurso desesperado contra el silencio que nos invade cada vez que intentamos expresar la terrible experiencia de lo que nos rodea y de nosotros mismos.“ 353 Paz: MG, dt. S. 105, span. S. 111: „Ninguna pintura puede contar porque ninguna trans‐ curre. La pintura nos enfrenta a realidades definitivas, incambiables, inmóviles. […] En Wirklichkeit entsteht, die ihrerseits wieder vergeht. Die Wirklichkeit und ihr Glanz [esplendor], die Wirklichkeit und ihre Trübung. 349 Für Paz ist die Dichtung ein Erleben der Ambivalenz einer selbstkritischen Sprache: einerseits die Einsamkeit (soledad) des Exils von der Wirklichkeit, 350 andererseits auch die Möglichkeit eines transzendenten Ausdrucks: „Alles in allem ist unsere Existenzbedingung weder nur Mangel, noch Überfluss, sondern Möglichkeit. Die Freiheit des Menschen gründet darauf und wurzelt darin, nicht mehr als Möglichkeit zu sein.“ 351 Pazʼ Ideal des Ausdrucks ist die ‚Möglichkeits‐ aussage‘ als menschlichste aller Ausdrucksformen. Sie ist der Ausdruck der Er‐ fahrung von Einsamkeit und Freiheit. Die stille Kontemplation ist eine Möglichkeit der Reaktion auf die unaus‐ sprechliche wie unverständliche Wirklichkeit; eine andere ist das poetische Bild: „Das Bild ist ein verzweifeltes Mittel gegen die Stille, die uns jedes Mal befällt, wenn wir versuchen, die schreckliche Erfahrung unserer selbst auszudrücken und dessen, was uns umgibt.“ 352 Ebenso stark, wie in El mono gramático die Me‐ tapher vom Schreiben als Weg in Szene gesetzt ist, so wichtig ist auch das ‚Bild‘. Es erscheint bei Paz zunächst als Träger poetischer Offenbarung der Wirklich‐ keit, die er dem Schreiben als ‚Weg‘ komplementär gegenüberstellt: Kein Gemälde kann erzählen, weil keines sich ereignet. Die Malerei stellt uns vor fertige, unwandelbare, unbewegliche Realitäten. […] Auf Bildern sind die Dinge, sie geschehen nicht. Reden und Schreiben, Erzählen und Denken bedeutet Ablauf, von einem zum anderen gelangen: Geschehen. Ein Bild hat räumliche Grenzen, doch weder Anfang noch Ende. 353 226 III. Praxis los cuadros las cosas están, no pasan. Hablar y escribir, contar y pensar, es transcurrir, ir de un lado a otro: pasar. Un cuadro tiene límites espaciales pero no tiene ni principio ni fin.“ 354 Vgl. Paz: AL, S. 98 ff. Alle Formen des Bildes (Metaphern, Allegorien etc.) haben eines gemeinsam: Sie verbinden Gegensätze. Damit werden sie zur Chiffre der Conditio hu‐ mana. „Preservar la pluralidad de significados de la palabra sin quebrantar la unidad sintáctica de la frase o el conjunto de frases.“ 355 Ebd., S. 22: „En el poema el lenguaje recobra su originalidad primera, mutilada por la reducción que le imponen prosa y habla cotidiana. […] La palabra, al fin en libertad, muestra todas sus entrañas, todos sus sentidos y alusiones, como un fruto maduro o como un cohete en el momento de estallar en el cielo.“ 356 Ebd., S. 106 f.: „La imagen recoge y exalta todos los valores de las palabras, sin excluir los significados primarios y secundarios.“ In der Poesie werden die Worte nicht ,geschrieben‘; das heißt, das dichterische Schreiben ist nicht Verkettung als Syntagma, sondern es ist ,bildlich‘, das heißt hier: paradigmatisch geprägt: eine Gleichzeitigkeit ähnlicher, aber teils auch gegensätzlicher Wahrnehmungen. 354 Im Gedicht erhält die Sprache ihre Ursprünglichkeit zurück, welche die Vereinfachung durch Prosa und täglichen Gebrauch verstümmelt hatte. […] Das Wort, endlich in Freiheit, entblößt all seine Eingeweide, all seine Bedeutungen und Anspielungen, wie eine reife Frucht oder ein Feuerwerk im Moment, in dem es am Himmel explodiert. 355 Der bildliche Ausdruck ist also auch radikale ‚Möglichkeitsaussage‘, da es das in jedem Akt der sprachlichen Äußerung Vergessene und Ausgeschlossene mit einschließt und so die Vielheit der Bedeutungen erhält, welche auf der Seite des Realen veranlagt sind, ohne einzelne gewaltvoll auszugrenzen und zu unter‐ drücken: „Das Bild nimmt alle Werte des Wortes auf und betont jeden einzelnen, ohne die ersten noch die zweiten Bedeutungen auszuschließen“ 356 , schreibt Paz in El arco y la lira. Das Bild ist damit Ausdruck einer ganzheitlichen Wirklichkeit, die zwar nicht ,beschrieben‘, wohl aber als Eintritt in das Unermessene ,erfahren‘ werden kann. Es erlaubt uns, die widersprüchliche Pluralität der Realität wi‐ derzuspiegeln. Es unterläuft die Sprache, die immer danach verlangt, interpre‐ tiert zu werden, ihrer Bedeutung in etwas anderem nachzuspüren, als sie sagt. Anders das Bild: Während in einem diskursiven Text Worte eines Satzes ver‐ schoben werden können, ohne den Sinn der Aussage zu verändern, ist dies im poetischen Sprachbild nicht möglich. Es kann auf keine andere Weise geäußert werden. Es ist damit Medium einer Ganzheit im Sinne einer Harmonie der Ge‐ gensätze. Sie ist nicht auf Eindeutigkeit festgelegt, sondern birgt auch Wider‐ streitendes, ohne davon aufgerieben und auseinandergerissen zu werden. Kurz: Das Bild ist eine Reminiszenz des Urzustands und bringt in seinem Inneren die Signifikanten-bewegungen zum Stillstand. Paz schreibt: „Das Bild lässt die 227 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica 357 Ebd., S. 110 f.: „La imagen hace perder a las palabras su movilidad e intercanjeabilidad. Los vocablos se vuelven insustituibles, irreparables. Han dejado de ser instrumentos. El lenguaje cesa de ser un útil.“ 358 Ebd., S. 109: „Por obra de la imagen se produce la instantánea reconcilación entre el nombre y el objeto, entre la representación y la realidad.“ 359 Hahn, S. 120. Worte ihre Beweglichkeit und Austauschbarkeit verlieren. Die Vokablen werden unersetzlich, unumstößlich. Sie haben aufgehört, Instrumente zu sein. Die Sprache hört auf, Werkzeug zu sein.“ 357 Das zentrale Bild des mono gramático ist Hanuman als Monogramm (‚mono-grama‘). Als piktorische Darstellung aus fest angeordneten sprachlichen Zeichen symbolisiert es das Gedicht. Insofern finden wir Pazʼ Vorstellungen vom Bildlich-Poetischen sowohl auf der Inhaltsebene (in den poetologischen Aus‐ führungen zu Bild und Bildlichkeit) als auch performativ in den zahlreichen Bildern, die den Text integrieren. Indem die Bilder sich zum Bild des Mono‐ gramms verdichten, kommt nun jedoch eine weitere Ebene der Performativität hinzu. Der Text als Ganzes bedeutet sich selbst und ist selbst nichts als ein ein‐ ziges Bild: Als Bild aus Zeichen ist El mono gramático ein Monogramm. Es scheint, als schaffe der Text mehrere Ebenen, die sich alle gegenseitig spiegeln und potenzieren. Der Text ist somit eine Hervorhebung des Prinzips der Sprache: der Gleichzeitigkeit von Identität und Alterität („Der Wandel ist immer Be‐ harren“). Er bestätigt sich selbst in immer wechselnden Formen. ‚Mono gramá‐ tico‘ ist ‚Gedicht‛ in seiner konkreten Textgestalt. Das Gedicht ist poetisches Bild, poetisches Bild ist Monogramm, ist El mono gramático und so weiter. Darin spiegeln sich Pazʼ Gedanken über die wichtigste Eigenschaft des Bildes: „Dank des Bildes ereignet sich die augenblickliche Versöhnung zwischen Name und Objekt, zwischen Repräsentation und Realität.“ 358 Kurt Hahn weist darauf hin, diese Operation ziele auf eine „synthetische Anschauung, in welcher der sinn‐ lichen Wahrnehmung eine entscheidende Rolle zukommt“. 359 Nichts anderes ist die Performativität selbst, dessen Funktion innerhalb der essayistischen Praxis nun deutlich wird: Performativität ist der Zusammenfall von ‚Sein‘ und Sprache und steht damit für das ‚Paradies‘, in dem Bezeichnetes und Bezeichnendes das‐ selbe wären. El mono gramático ist als performative ,Ver-körperung‘ des Ge‐ dichts eine sinnliche Erfahrung oder Interpretation des ‚Urzustands‘. Die kanadische Romanistin Helena Dunsmoor weist dabei auf ein interes‐ santes Detail hin: Hanuman, der ,mono gramático‘ als die personifizierte Poesie, sei besonders wirksam, da der Affe in Indien mit einer Poesie in Verbindung gebracht werde, die, ganz wörtlich, körperlich wird, Körper annimmt (cobrar cuerpo). Es sei eine Inkarnation der Kunst im Sinne einer Brücke zwischen 228 III. Praxis 360 Vgl. Dunsmoor, S. 91. 361 Paz: MG, dt. S. 116, span. S. 125: „El camino es escritura y la escritura es cuerpo y el cuerpo es cuerpos (arboleda).“ 362 Alazraki: The Monkey Grammarian, S. 611. 363 Paz: AL, S. 22. Auch Zambrano spricht in Claros del bosque von einer „Befruchtung“ des Bewusstseins durch die Offenbarung: „Ella, la conciencia, queda así vivificada, escla‐ recida, fecundada“ (CB, span. S. 125). 364 Paz: MG, dt. S. 61 f., span. S. 65: „cuerpo más palpado que visto, cuerpo hecho de pedazos de cuerpo, regiones de sequía o de humedad, regiones claras o boscosas, eminencias o hendeduras, nunca el cuerpo sino partes, cada parte una instantánea totalidad a su vez imediatamente escindida, cuerpo segmentado decuartizado despedazado, trozos de oreja tobilla ingle nunca seno uña, cada pedazo un signo del cuerpo de cuerpos.“ Körper und poetischer Sprache. 360 In der poetischen ,écriture‘ vereint sich der Weg als Schreiben mit der Offenbarung, wie sich im Monogramm sprachliches Zeichen und Bild vereinen; der Weg nach Galta ist das Setzen der Zeichen zum Gedicht, der Weg als Inkarnation, als Werden eines Körpers: „Der Weg ist Nie‐ derschrift, die Niederschrift ist Körper […]“ 361 - in El mono gramático auch ver‐ bildlicht als der erotische Körper Esplendors, mit dem sich das Ich vereinigt: das Gedicht als die Geliebte des Dichters. Jaime Alazraki nennt die Gestalt der Esplendor „the other path to Galta“. 362 Der Schreibakt ist somit bei Paz nicht nur Inkarnation, sondern auch erotischer Akt. Es handelt sich um einen Akt, nicht der ‚Dissemination‘ von Bedeutung, sondern der ‚Insemination‘ des entstehenden Textkörpers. Der Dichter spendet seinen Samen, er verschenkt seine Potenz an das Gedicht in einem Akt der Hin‐ gabe, in dem dann die potenziellen Bedeutungen als unendliche Möglichkeit des Ausdrucks und der Bedeutung versenkt sind: Das Gedicht ist in diesem Sinn befruchtete Sprache, in dem das Wort, in seiner Tiefe verborgen, all seine Be‐ deutungsfacetten zeigt, „wie eine reife Frucht oder wie eine Rakete in dem Mo‐ ment, in dem sie am Himmel explodiert“. 363 Doch der ‚Urzustand‘, die Erfahrung der Identität, leidet an einem inhärenten Mangel: Der Zeugungsakt bleibt un‐ vollkommen, und der Körper selbst integriert sich niemals zur ganzheitlichen Form. Wer diese Form sucht, stößt nur auf die Zersplitterungen. So schreibt Paz in der erotischen Szene der Esplendor: Leib aus Körperteilen, […] niemals den Körper, immer nur Teile, und jedes nur ein augenblickliches Ganzes, das gleich wieder aufbricht, einen zerteilten, zerstückelten, zerrissenen Körper, Teile vom Ohr, von der Ferse, der Leiste, vom Genick, von Busen und Nagel, jeder Teil ein Zeichen für den aus Körpern bestehenden Körper. 364 Nun vermehren sich wieder die Bilder: Hanuman, Galta, Esplendor, der Dichter, Körper, Wäldchen, Baumgruppe etc. Das Monogramm, Symbol, in dem die Ver‐ 229 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica 365 Ebd., dt. S. 128, span. S. 137: „En la punta de la convergencia del juego de las semejanzas y las diferencias se anula para que resplandezca, sola, la identidad. Ilusión de la inmo‐ vilidad, espejismo del uno. La identidad está vacía; es una cristalización y en sus entrañas transparentes recomienza el movimiento de la analogía.“ weisungsbewegungen zum Stillstand kommen und das zunächst Bestätigung des Identitätsprinzips schien, löst sich plötzlich wieder in Metaphern auf; die Metaphorizität ist nicht zu umgehen, und die Suche nach dem Einen endet er‐ neut im Vielen. Paz reflektiert das Erlebnis in El mono gramático auf folgende Weise: Im Scheitelpunkt der Konvergenz vergeht das Spiel der Ähnlichkeiten und Verschie‐ denheiten, um nur noch die Identität aufleuchten zu lassen. Illusion der Unbeweg‐ lichkeit, Trugbild des Einen: die Identität ist leer; sie ist eine Kristallisierung, und in ihren undurchsichtigen Eingeweiden beginnt von neuem die Bewegung der Ana‐ logie. 365 So teilt das Monogramm das Schicksal aller Bildlichkeit: Es erscheint als Iden‐ tität, ist aber Trugbild, denn es birgt in sich die Sprache, das heißt das Gesetz der Metapher. Das Monogramm - Bild der ‚Imago‘: Bild zeichenhaften, trüge‐ rischen, menschlichen Sinns. Aber auch Zeichen einer Ambivalenz der Dichtung in der Moderne, einer ‚pasión critica‘: Die Bilderflut des mono gramático ist nicht nur Inszenierung des Konzepts bildlich-poetischer ,écriture‘, sondern auch deren performative Selbstkritik. Dass nämlich das poetische Bild eine Trans‐ zendenz liefert, die durch keinerlei anderen Ausdruck erklärbar sei, mag als Postulat seine Berechtigung haben; dass sich jedoch der Betrachter / Leser des Bildes nach Erklärungen, Einordnungen, Interpretationen, kurz: nach einem Verstehen sehnt, kann sie nicht verhindern. Lacan hat scharfsinnig erkannt, dass die ‚Imago‘ geradezu verführt, sich, ausgehend von ihr, den Illusionen identitärer Verstehensmuster hinzugeben, und dieses Verhalten keineswegs als Ausdruck einer primitiven Entwicklungsstufe gebrandmarkt. Für das Spiegelstadium, für die Ambivalenz sprachlichen Verstehens ist das ‚Imaginäre‘ unverzichtbar. Fern von der Autosuffizienz, verlangt das Bild dem wachen Verstand geradezu eine Deutung ab. Insofern ist El mono gramático eine große Verführung, sich in den Deutungen zu verfangen und, wie Montaigne sagt, gleich einer Maus im Pech‐ fass in den Kommentaren zu ertrinken. Nicht nur ist El mono gramático voller poetischer Sprachbilder; Paz fügt auch ganz konkret Fotografien und Gemäldeabdrucke in den Text ein. Die Performa‐ tivität des Textes wird somit durch eine intermediale Ebene erweitert: Das Werk als Monogramm vereint Bild und sprachliches Zeichen zum Bild des selbstkri‐ tischen Gedichts. In der Originalausgabe erscheinen die Abbildungen ohne Be‐ 230 III. Praxis 366 Vgl. Smith, S. 180. 367 Paz: MG, dt. S. 88 f., span. S. 94: „El conjunto era teatral, efectista. Doble ficción.“ 368 Ebd., dt. S. 89, span. S. 94. schreibung am Bildrand. Wie David Smith vermutet, sollten im Text die Bilder für sich selbst sprechen. 366 Es ist jedoch mehr als fraglich, ob Paz an die Auto‐ suffizienz des Bilds geglaubt hat. Richtiger scheint es mir zu sagen, Paz habe vermutlich nur die eindeutigen Zuschreibungen verbannen wollen. Man müsste sich sonst fragen, wozu Paz ein Werk schafft, in dem Bild und Text auf so fein‐ fühlige Weise interagieren, wenn er von der selbsterklärenden Kraft der Bilder überzeugt gewesen wäre. Es ist der bestimmende Eindruck beim Durchblättern von El mono gramático, dass Text und Bild einen zusätzlichen Raum für die Austauschbarkeit der Zeichen schaffen, indem sie sich gegenseitig kommen‐ tieren und kritisieren. Das Monogramm, genau wie das Buch mit dem Titel El mono gramático, sind daher Ausdruck einer ambivalenten Kritik: Einerseits of‐ fenbart sich die ‚Verunreinigung‘ strenger Diskursivität durch die Bildlichkeit von Sprache, andererseits aber auch die Affizierung von Bildlichkeit durch eine der Diskursivität unterworfene poetische Sprache. Anhand der Untersuchung der Inszenierungsformen des Monogramms lässt sich einem Grund für die Irritation näherkommen, welche die Lektüre von El mono gramático auslöst: Durch die performativen Mechanismen der Interaktion verschiedener Textebenen scheint das Werk einen virtuellen Status zu be‐ kommen. Es stellt sich als System von Spiegelungen und Illusionen dar, hinter denen sich nur weitere Spiegelreflexe zu verbergen scheinen. Das Werk wird zu Galta selbst, auf dessen Wegen sich der Dichter verliert, das aber selbst immer chimärisch bleibt. Die Form des mono gramático ähnelt der Architektur des Tempelwerks von Galta, wie Paz es beschreibt: „Es war ein wirkungsvolles [eig. effekthascherisches], theatralisches Ensemble. Doppelte Fiktion.“ 367 Denn zum einen sei die Welt, die von dieser Architektur aufgestellt werde, trügerisch, Ausdruck von Fata Morganen und Sehnsüchten nach einer erloschenen Welt („espejismos y nostalgias de un mundo extinto“). Zum anderen seien die Schau‐ spiele und Spektakel, die in ihren Mauern stattgefunden hatten, ebenso phan‐ tastisch gewesen: eine Präsentation einer Macht der Herrscher, die bereits längst zerbröckelt war. Doppelte Fiktion also, Fata Morgana (espejismo), Spiegelung eines fassadenhaften Versprechens ohne Realität. Galta und das Kunstwerk, so scheint es in diesem Zusammenhang, waren schon immer ein Hyperreales; immer bemüht, durch ihre Kunstfertigkeit eine Realität zu beweisen, die nicht ist. Sie existieren unter der nagenden Ahnung, vielleicht nur Zeichen eines Re‐ alen ohne Realität zu sein. Paz beschreibt Galta als „Reich des Wahns“ - „imperio de la obsesión“. 368 Von Verzierungen und Schnörkeln überladene Höfe, Gärten, 231 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica 369 Ebd., dt. S. 90, span. S. 95: „Ilusionismo de castillos […]: la arquitectura convertida en una geometría de reflejos flotando sobre un estanque y que el menor soplo de aire disipa …“ 370 Paz: Pasado en claro, S. 39. 371 del Valle Lattanzio: Die unendliche Frage der Poetik, S. 111. 372 Ebd., S. 87. Terrassen, Teiche und Pavillons, bewohnt von Chimären und phantastischen Gebilden: „Blendwerk der Schlösser […]: die Architektur als Geometrie der Spiegelungen in einem Teich, und der geringste Lufthauch läßt sie ver‐ schwinden …“ 369 Galta als Ort der Dichtung ist beinahe ein potemkinsches Dorf, dessen fassadenartige Zeichenhaftigkeit lediglich die Abwesenheit einer Rea‐ lität birgt. Beim Gang durch die von Erosion bedrohte Stadt der bröckelnden Fassaden offenbart sich der imaginäre Charakter der Dichtung. In dieser Di‐ mension verändert sich die Position des Sprechens gegenüber der Dichtung. Eintritt ins Symbolische: Hinter dem Begriff ‚Dichtung‘ liegt keine gefügte Idee, sondern nichts als die Proliferation ihrer Bilder, Figurationen und Aktua‐ lisierungen. El diós sin cuerpo, el dios sin nombre que llamamos con nombres vacíos - con los nombres del vacío -, 370 Die Tendenz zur Virtualisierung hat aber noch einen anderen Effekt auf El mono gramático, der die Frage nach dem Genre berührt: El mono gramático ist kein Gedicht, sondern selbstkritisches Zeichen der Dichtung, die sich ankündigt und nie ereignet. Damit kann er als Kommentar zum Status der Dichtung in der Moderne gelesen werden, wie ihn Camilo del Valle Lattanzio beschreibt: „Die Kritik als der höchste Ausdruck in der Moderne ist auch im Kern der Poesie enthalten: Sie hinterfragt sich selbst und wird zur Poetik.“ 371 Kein Prosagedicht ist also El mono gramático, sondern eine ‚poetische Poetologie‘, das heißt nicht einfach poetische Darstellung poetologischer Ideen, die Paz bereits in El arco y la lira verhandelt hatte. Wie Camilo del Valle Lattanzio bemerkt, geht es darin vor allem um eine selbstreflektierende Poetik, die „das Projekt der Poetik selbst unterläuft oder zumindest in Frage stellt“. 372 Eine ‚poetische Poetologie‘ ist also doppelte Kritik: die der Dichtung und die ihrer Kritik - Negation der Negation. Die in El arco y la lira gestellte Frage, ob eine diskursive Reflexion über die Dichtung überhaupt möglich sei, wird in El mono gramático wieder aufge‐ nommen und teilweise verneint. Paz war offenbar zu der Überzeugung gelangt, dass sich das Poetische mit den Mitteln der ‚ratio‘ allein nicht erfassen lasse, sondern ein ganzheitlicheres ,Sehen‘ erfordere, welches sich nur im Rückgriff 232 III. Praxis 373 Vgl. Paz: MG, span. S. 101: „No pensar: ver, hacer del lenguaje una transparencia.“ Auch Zambrano spricht von der ‚razón poética‘ als einem „Medium der Sichtbarkeit“. 374 Del Valle Lattanzio: Die unendliche Frage der Poetik, S. 107. 375 Vgl. Lafaye, S. 82. 376 Peralta, Braulio: El poeta en su tierra. Diálogos con Octavio Paz. México, D. F.: Consejo editorial Cámera de Diputados 1966, 2. Aufl. 2014, S. 45 f.: „A la poesía le hace falta siempre una buena dosis de prosa […] Y a la inversa: la buena prosa tiene que tener una dosis de poesía.“ auf die unbewussten Veranlagungen des Menschen erschließen lasse. 373 Del Valle Lattanzio schreibt: „Die Poesie scheint dem beschreibenden und dem nar‐ rativen Blick der Prosa zu entschwinden. […] Um das rein Poetische erfassen zu können, so Paz, muss man einen direkten (desnudo) Zugang zu diesem schaffen, nämlich ohne die Mittel einer diskursiven und zerlegenden Analyse.“ 374 Ich halte diese Beobachtung im Fall von El mono gramático für teilweise zutreffend und würde eher sagen, Paz erweitere die Analyse durch poetische Mittel (oder an‐ dersherum), ganz im Sinne einer ‚dichterischen Vernunft‘, deren Konzeption er direkt von María Zambrano übernimmt, insbesondere aus Filosofía y poesía. 375 Im Gespräch mit Braulio Peralta erklärt Octavio Paz: „Der Poesie fehlt immer eine gute Dosis Prosa […] und umgekehrt: die gute Prosa hat auch immer einen Anteil an Poesie.“ 376 Der Frage nach dem Wesen der Dichtung antwortet Paz in El mono gramático in einer Vielzahl labyrinthisch sich verzweigender Bilder, die monogrammatisch für die Dichtung stehen. Doch sie selbst kann nicht direkt genannt werden. Die Dichtung besitzt kein bestimmbares ‚Sein‘, sondern ist Sprache selbst: eine Sphäre, in der sich Transzendenz ereignen kann. Durch sie wird der Mensch in die Lage versetzt, die Wirklichkeit in ihrem ‚Sein‘ momentartig wahrzunehmen. Der Weg poetischer Signifikation besteht im Vergessen des Wegs. Für diese Sphäre findet Paz erneut eine Metapher, die uns aus Zambranos Text geläufig ist: die Lichtung. Entscheidend für das Verständnis des Bedeutungshorizonts der Lichtung für El mono gramático ist Pazʼ Betrachtung des Gemäldes The Fairy Feller’s Master-stroke des wahnsinnigen Malers Richard Dadd, das im Buch auch mit abgedruckt ist. Dadd hatte das Bild zwischen 1855 und 1864 im Zeitraum von neun Jahren gemalt, in denen er in der Londoner Psychiatrie eingesperrt war, nachdem er im Wahn seinen Vater mit einer Axt erschlagen hatte. Auf dem nur 54 mal 39,5 cm großen Gemälde sind zwischen Gänseblümchen, Blättern, Ranken und Gräsern miniaturartige Märchengestalten abgebildet: Feen, Prinzen, Zwerge, Kobolde. Sie alle gruppieren sich um eine Lichtung, auf der eine Haselnuss liegt. Ein Holzfäller steht davor, holt mit seiner Axt aus und ist im Begriff, die Nuss zu spalten. Paz beschreibt die Szene: 233 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica 377 Paz: MG, dt. S. 101, span. S. 106: „El centro de la composición es un espacio vacío, punto de intersección de todas las fuerzas y miradas, claro en el bosque de alusiones y enigmas; en el centro de ese centro hay una avellana sobre la que ha de caer el hacha de piedra del leñador. Aunque no sabemos qué esconde la avellana, adivinamos que, si el hacha la parte en dos, todo cambiará: la vida volverá a fluir y se habrá roto el maleficio que petrifica a los habitantes del cuadro. […] ese espacio es el lugar de una inminente apa‐ rición. Y por esto mismo es, simultáneamente, nulo e inmantado: no pasa nada salvo la espera. […] Condenados a esperar el golpe maestro del leñador, los duendes ven inter‐ minablemente un claro del bosque hecho del cruce de sus miradas y en donde no ocurre nada. Dadd ha pintado la visión de la visión, la mirada que mira un espacio donde se ha anulado el objeto mirado. El hacha que, al caer, romperá el hechizo que los paraliza, no caerá jamás. Es un hecho que siempre está a punto de suceder y que nunca ocurrirá.“ 378 Ebd., dt. S. 107. In der Mitte der Komposition ein leerer Raum, der Schnittpunkt aller Kräfte und Blicke, eine Lichtung im Dschungel der Anspielungen und Rätsel: mitten in dieser Mitte liegt eine Haselnuß, auf welche die steinerne Axt des Holzfällers fallen wird. Auch wenn wir nicht wissen, was sie enthält, so ahnen wir doch, daß sich alles ändert, wenn die Axt sie spaltet: das Leben wird wieder pulsen, der Fluch gelöst sein, der die Bewohner des Bildes versteinert. […] dieser Raum ist Schauplatz einer nahenden Erscheinung. Deshalb ist er zugleich nichtig und magnetisch, nur die Erwartung geht hindurch. […] Dazu verdammt, auf den Meisterstreich des Holzhackers zu warten, blicken die Ko‐ blode unentwegt auf eine aus der Überschneidung ihrer Blicke geschaffene Lichtung, auf der nichts geschieht. Dadd hat die Vision der Vision gemalt, den Blick, der einen Raum betrachtet, in dem der betrachtete Gegenstand verschwunden ist. Die Axt, die beim Niederfallen den lähmenden Zauber brechen wird, sie wird niemals fallen. Es ist ein Ereignis, das immer dabei ist, sich zu ereignen und niemals geschieht. 377 Die Lichtung ermöglicht als ambivalentes Bild freilich keine eindeutigen Be‐ deutungs-zuschreibungen. Dennoch halte ich es für schlüssig, ,Lichtung‘ kom‐ plementär zum ,Weg‘ als das zu betrachten, was am Ende der Sinnsuche er‐ scheint: eine Vision der Wirklichkeit. „Am Ende des Weges, ist da die Vision? “, 378 fragt El mono gramático, und seine Antwort ist ambivalent. Tatsäch‐ lich kann die Lichtung als jener „Scheitelpunkt der Konvergenz“ betrachtet werden, der das Gewebe reiner Präsenzen aufleuchten lässt, bevor der Eindruck wieder erlischt, sich im Spiel der Sprache verliert. Doch bei Paz erhält die Lich‐ tung eine unheilvolle Aura. Die Wirklichkeit, die sich im neuen Sehen (visión) offenbart, kann verrückt machen. Der Eintritt in die Welt ohne Namen ist im Grunde unerträglich: „Wir können nicht sehen ohne Gefahr, irrsinnig zu werden: die Dinge enthüllen uns, ohne dabei etwas zu enthüllen, durch ihr einfaches Vorhandensein vor uns, die Leere der Namen, das Fehlen des Maßes für die Welt, 234 III. Praxis 379 Ebd., dt. S. 96, span. S. 102: „No podemos ver sin peligro de enloquecer: las cosas nos revelan, sin revelar nada y por su simple estar ahí frente a nosotros, el vacío de los nombres, la falta de mesura del mundo, su mudez esencial.“ (Hervorhebung durch den Autor.) 380 Vgl. ebd., dt. S. 107. 381 Ebd., dt. S. 109, span. S. 117: „La poesía está vacía como el claro del bosque en el cuadro de Dadd: no es sino el lugar de la aparición que es, simultáneamente, el de la desapari‐ ción. Rien n’aura eu lieu que le lieu.“ (Hervorhebung durch den Autor). die ihr eigene Stummheit.“ 379 Doch das scheint mir noch nicht ganz den Schre‐ cken zu treffen, den Pazʼ Interpretation des Gemäldes abbildet. Er beschreibt die Lichtung nicht wie Zambrano als Raum der Möglichkeit, die sich dem ab‐ schweifenden, unbewusst werdenden Geist unvermittelt offenbart, sondern aus einer Distanz heraus, als seltsamen Spiegeleffekt. Richard Dadds Lichtung er‐ scheint als doppelte Fiktion: Sie existiert nur im Bild und innerhalb dessen nur als imaginärer Kreuzungspunkt aus Blicken, die auf das abwesende Geheimnis in ihrer Mitte starren. Dadds Bild führt nicht als Vision vor eine „unaussprech‐ liche Wirklichkeit“, 380 sondern ist als Vision der Vision auf die Betrachtung dieser Wirklichkeit fokussiert: Sie ist ein festgefrorener Blick dessen, der be‐ trachten will - und nichts sieht. Was wahrhaft verrückt macht, ist der direkte Blick des wachen Verstands, ohne Lidschlag, der nicht wegsehen kann oder, nach dem Wort Sara Kofmans, nicht mit schiefem Blick zu sehen vermag. Der Holz‐ fäller will gewaltsam ‚zum Kern vordringen‛ und das Geheimnis ‚spalten‛ (Paz assoziiert das Spaltende mit dem analytischen Verstand). Derjenige, der nach rein diskursiven Antworten verlangt, wird angesichts der Lichtung wahnsinnig. Denn er sieht nicht einmal die schreckliche Wirklichkeit in ihrem rohen Sein, sondern nichts als die Leere dessen, was immer nur dabei ist, sich zu ereignen, die Stummheit des sich ereignenden Ereignisses. Aber auch die Richtung der Blicke, die Paz in Dadds Bild beschreibt, ist aufschlussreich: So wendet sich der Holzfäller vom Betrachter ab, der nur seinen Rücken zu Gesicht bekommt. Auch von den übrigen Figuren, die um die Lichtung stehen, blickt keine uns an. Das Erkennen als Eintritt ins Spiegelstadium und als Ausgang aus den imaginären Verstrickungen kann sich jedoch nur unter dem Blick des Betrachters (der Mutter) ereignen, deren Blick sich im Spiegel mit dem des Kindes kreuzt. Die Lichtung steht in El mono gramático für die Offenbarung dessen, was Dichtung ist: „Die Poesie ist leer, wie die Lichtung [eig. Waldlichtung] auf dem Bild von Dadd: sie ist nichts als der Ort der Erscheinung, der zugleich Ort der Verflüchtigung ist. Rien n’aura eu lieu que le lieu.“ 381 Und so wird sich auch der Leser von El mono gramático, der versucht, die Bewegungen des Texts analytisch festzuhalten, hoffnungslos in den widersprüchlichen Bildern des Texts, im „Dschungel der Anspielungen und Rätsel“ verfangen. Camilo del Valle Lattanzio 235 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica 382 Del Valle Lattanzio: Die unendliche Frage der Poetik, S. 104. 383 Paz: MG, dt. S. 109, span. S. 117: „Cada tentativa termina en lo mismo: […] Vamos de la búsqueda del sentido a su abolición para que surja una realidad que, a su vez, se disipa.“ schreibt: „Das Wesen der Sprache (als Metapher des Menschen und der Welt) entzieht sich jeglicher intellektuellen und analytischen Erklärung; es ist ein Mannigfaltiges, immer Anders-Werdendes. Es ist der Kern ihrer Produktivität, ihr vordiskursiver, vorsinnhafter Kern, der alle Bedeutungen in sich trägt und der deswegen, diskursiv betrachtet, unmittelbar auf einmal ausgesprochen als Unsinn erscheint.“ 382 Dem Dichter erscheint die Vision als die ‚offene Stelle‘, er empfängt die Transzendenz. Dem strengen Rationalisten hingegen ist sie die ewige Ankündigung dessen, was sich nie ereignet - Vision der Vision. Welche Position kann ein literaturwissenschaftlicher Betrachter einnehmen? „Auf der anderen Seite der Sprache, ist da die Vision? “ Es kommt wohl auf die Perspektive an, und die ist in Pazʼ Konzept einer selbstkritischen Dichtung nicht eindeutig bestimmbar. Der Philosoph oder Rationalist sieht die Lichtung entweder erst gar nicht oder wird irrsinnig, weil er sie nur als Ankündigung des Nichts wahrnimmt. Dem Dichter steht die Vision durch die Transparenz der Sprache offen; er läuft aber Gefahr, in ihrer Tiefe zu bleiben, seine Sprache zu verlieren und darüber ebenso wahnsinnig zu werden. Noch einen dritten Weg des Ausgleichs gibt es aber: Das Erlebnis der Transzendenz selbst kann nicht festgehalten werden; doch gerade im Scheitern des Versuchs liegt das Geheimnis einer anderen, möglichen Wirklichkeitsauffassung. Wichtiger als Weg und Lich‐ tung (Dichtung als Weg zur Transparenz) ist dem kritischen Geist der Moderne der ,Rückweg‘. Im Versuch, schreibend den Versuch der Offenbarung und sein Scheitern zu reflektieren, besteht das Anliegen einer ‚poetischen Essayistik‘. Sie ist eine Möglichkeit, nicht nur die Kontingenzerfahrung der Wirklichkeit zu machen, sondern sich selbst auch in einen Bezug zu ihr zu setzen und sie zu reflektieren. Der Umweg über den ,Versuch‘ sprachlicher Erfassung der Realität ist unverzichtbar, denn erst das Erlebnis seines Scheiterns macht ein kritisches Schreiben möglich, das visionären Eindruck und reflexive Haltung integriert. Paz schreibt in El mono gramático: „Jeder Versuch endet gleich: […] Wir wandern von der Suche nach dem Sinn zu seiner Vernichtung, damit eine Wirklichkeit ersteht, die ihrerseits wieder vergeht.“ 383 Das Wissen um das Scheitern der Re‐ alitätserfassung endet keineswegs in der Resignation, sondern bedingt eine Ethik und Ästhetik des Versuchs - des ‚glücklichen Sisyphus‘. Pazʼ Poetik ist eine des Verfehlens, der Rückkehr und des Neubeginns; es ist eine Poetik des ‚Essays‘, des Versuchs, die weder auf das poetische Erlebnis noch auf dessen analytische Reflexion verzichten kann. 236 III. Praxis 384 Der Untersuchung der phonetischen Ebene des Texts ist das Kapitel 2.7.2 gewidmet. 385 Paz: AL, S. 177: „Nos rodea el silencio anterior a la palabra: O la otra cara del silencio: el murmullo insensato e intraducible, ,the sound and the fury‘, el parloteo, el ruido que no dice nada, que sólo dice: nada.“ (Hervorhebung durch den Autor.) 2.5 Die Sprache der Sprache lernen: Metapher, Analogie, Rhythmus Allá, donde terminan las fronteras, los caminos se borran. Donde empieza el silencio. Dort, wo sich die Grenzen verlieren und die Wege sich verwischen, dort beginnt die Stille. Im Prolog zu dem Gedichtband Libertad bajo palabra formuliert Oc‐ tavio Paz diese Erfahrung des Zurückgeworfen-Seins in die Stille, die auch für die Lektüre von El mono gramático essenziell ist. Die Stille entsteht aus der Er‐ fahrung der Lichtung, wo sich die Wege des bewussten Schreibens verwischen: wo das syntagmatische Schreiben als Richtung und Weg endet und in das pa‐ radigmatische, zirkuläre und visionäre Schreiben des Bildes mündet. Im Moment des Eintritts in die Sphäre der Offenbarung herrscht Stille. Denn die Wirklichkeit als Einheit des Ich mit der Welt stummer Präsenzen bedeutet den Verlust der Sprache. Diese Lichtung der Stille offenbart sich, wenn wir von der bewussten Lektüre oder dem Schreiben für Momente ablassen, um dem phonetischen Fluss und der Prosodie der Sprache zu folgen. 384 Wie man etwa als Kind manchmal Wörter so oft wiederholte, bis die gewohnte Struktur nachgab und sie sich von ihrer Bedeutung lösten, existieren auch bei dieser Technik die Worte weiter, werden aber in einem gleichermaßen erstaunlichen wie fremdartigen ‚Sein‘ wahrnehmbar. Nur die Bedeutung verabschiedet sich und bleibt stumm. Die Stille aber ist nicht einfach nichts. Sie besitzt ambivalenten Charakter, der sich dem bekundet, der genau hinzuhören versteht. Das Universum ist nicht still, sondern voll des kosmischen Hintergrundrauschens, das auch als kosmische Glossolalie vorzustellen ist, von der weiter oben die Rede war. Paz betrachtet das vermeintlich bedeutungsfreie Geräusch lediglich als das andere Gesicht / die andere Seite der Stille (la otra cara del silencio): „Uns umgibt die Stille, die dem Wort vorgängig ist: Oder die andere Seite der Stille: das unsinnige und unüber‐ setzbare Murmeln, ‚the sound and the fury‘, das Reden, das Geräusch, das nichts bedeutet und das nur eines sagt: nichts.“ 385 In der solchermaßen redenden Stille liegt die Entdeckung der Sprache vor dem Wort, vor der Grammatik: die ‚redende Sprache‘. Die Entdeckung dieser Dimension von Sprache ist, was Sprache in ihrer Möglichkeit vor der Festschreibung einer Bedeutung ausmacht. Sie ist daher auch nicht kommunizierbar. Auch María Zambrano hatte vor der Gefahr gewarnt, „zu tief “ einzudringen in die Dimension von Sprache, wo nur noch die Stille der Kontemplation möglich ist. In El mono gramático geht es nicht zuletzt um Möglichkeiten der Versteh- und Übersetzbarkeit dieser Dimension. Zwar 237 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica 386 Pazʼ ambivalentes Verhältnis zur Verstehbarkeit ist nicht unbedingt in seinem poetolo‐ gischen Konzept veranlagt, sondern geht aus der Genese seines Denkens vor. So weist Saúl Yurkievich darauf hin, dass Pazʼ frühe Schaffensperiode vom Gedanken der Trans‐ zendenz der Sprache geprägt sei, während sein Vertrauen in diese Möglichkeit in der Nachkriegszeit schwinde. Das zunehmende Kontingenzempfinden korreliere hier mit einer Vorstellung der Arbitrarität von Sprache. Das Wort werde gespiegelte Spiegelung und Simulakrum. In der nachfolgenden Schaffensperiode rehabilitiere Paz die Sinnhaf‐ tigkeit der Sprache. Die Welt, so Yurkievich, erscheine nun als mehr oder weniger les‐ barer, immenser Text. „Homologada la realidad con el lenguaje, la estructura lingüística resulta aplicable a toda manifestación de lo real. El cosmos se vuelve un emisor de mensajes verbalizables, una ,sonaja de semillas semánticas‘.“ (Yurkievich, S. 75). 387 Paz: MG, dt. S. 22. 388 Vgl. ebd., Span. S. 98: „El paraíso está regido por una gramática ontológica. Las cosas y los seres son sus nombres y cada nombre es propio.“ beschreibt Octavio Paz die Wirklichkeit als ein unsinniges Netz stummer, von ihrem reinen Sein gesättigter Präsenzen; dennoch lässt er die Möglichkeit menschlichen Verstehens über einen Umweg offen: 386 Vielleicht ist die Wirk‐ lichkeit auch eine Metapher, fragt Paz in El mono gramático. „Vielleicht sind die Dinge nicht Dinge, sondern Wörter: Metaphern, Wörter für andere Dinge. […] Vielleicht spricht auch die Sprache, so wie die Dinge, die in der Sprache der Dinge untereinander sprechen, weder von den Dingen noch von der Welt: sie spricht von sich selbst und mit sich selbst.“ 387 Die erwogene Wesensverwandt‐ schaft zwischen einer Sprache der Dinge und einer Sprache der Sprache rettet die Zeichen vor der drohenden Selbstreferenz. Sie lässt es zu, Wirklichkeit in gewissem Umfang verständlich zu machen. Man müsste, so die Idee, nur die Sprache der Sprache erlernen und Rückschlüsse auf die verwandte Sprache der Dinge ziehen. Wenn Realität wie eine Sprache strukturiert ist, muss ihr eine prinzipiell verstehbare Regelhaftigkeit zugrunde liegen, welche auch die Tie‐ fendimension von Sprache ordnet. Paz bezieht sich in El mono gramático auf diese Regelhaftigkeit als „ontologische Grammatik“. 388 Umgekehrt müsste die Sprache eine kosmische Dimension besitzen, auf der sie aufbaut. Die Tiefendi‐ mension von Sprache öffnet sich zur Transzendenz und Lichtung, in die der kosmische Bauplan als unspezifisches ‚Geräusch‘ hineinsteht. Die Analogie zwischen den atomistischen Abläufen im Inneren der Sprache und denen der Wirklichkeit wird durch ein sichtbares Merkmal geschlossen, das ihnen beiden gemeinsam ist (Foucault spricht von der „Signatur“, welche die Pole einer Ana‐ logie miteinander in Verbindung treten lasse). In diesem Fall handelt es sich um die Existenz einer bestimmten Grammatik, die sowohl Kosmos als auch Sprache gestaltet. Es handelt sich dabei gleichzeitig um die für El mono gramático be‐ stimmende Analogie in einem wahren Dschungel von Metaphern und Ähnlich‐ keiten (Weg - Schreiben - Sinnsuche - Urwald - sprachliche Zeichen - Text - 238 III. Praxis 389 Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 49. 390 Vgl. ebd., S. 51. Körper - Esplendor - Gedicht etc.). Um die Sprache der Sprache zu verstehen, müssen wir lernen, vor dem Hintergrund einer ganz anderen Ordnung zu denken als der, die wir heute gewohnt sind. Die Sprache spricht nicht unter Rückgriff auf die arbiträre Signifikant-Siginifikat-Relation, sondern unter den Vorzeichen der Episteme der ‚Ähnlichkeit‘. Foucault unterscheidet vier Formen von Ähnlichkeit: 1.) die ‚conviventia‘, die eine reine Nachbarschaftsbeziehung von Dingen bezeichnet. Aus dieser Stellung können sich Zonen der Überlappung und Überschneidung ergeben. Wenn die Natur zwei Dinge an einen ähnlichen Ort gesetzt hat, so die Überlegung, müssten sie auch ähnliche Eigenschaften besitzen, die wiederum eine räumliche Nachbarschaft bedingen. 2.) Die ‚aemulatio‘ beschreibt Foucault als berührungs‐ lose Ähnlichkeit, in der entfernt liegende Dinge aufeinander antworten und sich gegenseitig spiegeln: „ebenso wie der Intellekt des Menschen unvollkommen die Weisheit Gottes reflektiert, reflektieren die beiden Augen mit ihrer be‐ grenzten Helligkeit das große Licht, das am Himmel Sonne und Mond ver‐ breiten.“ 389 3.) Die ‚Sympathie‘ beschreibt Foucault eigentlich als die vierte Form der Ähnlichkeit. Sie bewirkt eine blitzartige Annäherung der Dinge, die sich weder in direkter Nachbarschaft noch in einer gespiegelten Gegenüberstellung befinden. Sie ist eine transformierende Kraft, welche die Dinge ,assimiliert‘ und tendenziell identisch macht, indem sie Dinge dazu treibt, ihre ursprüngliche Seinsweise zu verlassen und zu etwas anderem zu werden. So verbindet sich beispielsweise das Feuer, das sich über die Trockenheit des Bodens in die Luft erhebt, mit der Feuchtigkeit und wird als rauchige Wolke selbst Luft. Die ‚Sym‐ pathie‘ ist daher bereits etwas mehr als nur eine Form der Ähnlichkeit und bedarf der ‚Antipathie‘ als ständiger Gegenkraft, welche die Dinge in ihrer Isolation aufrechterhält. 4.) Die ‚Analogie‘ ist nach Foucault die subtilste Form der Ähn‐ lichkeit, da sie sich nicht auf die Dinge und ihre Eigenschaften selbst bezieht, sondern auf ihre Verhältnisse und Verbindungen untereinander. Also in etwa: a verhält sich zu b, wie sich x zu y verhält und so weiter. Die Analogie wirkt integrativ, da sie immer gleich eine größere Anzahl von Dingen zueinander in Bezug setzt. Sie bildet nicht einzelne Ähnlichkeiten, sondern ein ganzes Netz. Foucault schreibt, von einem einzigen Punkt aus könne sie eine unbegrenzte Zahl von Verwandtschaften herstellen. So sei etwa das Verhältnis von Sternen zum Himmel wie jenes des Grases zur Erde, genau wie das der Lebewesen zur Erde, wie jenes der Minerale und Diamanten zu den sie bergenden Felsen, wie das der Sinnesorgane zum Gesicht, das von ihnen belebt wird, und so weiter. 390 239 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica 391 Ebd. 392 Ebd., S. 51 f. Die besondere Raffinesse der Analogie besteht darin, auf keine Eindeutigkeit hin festgelegt zu sein, sondern dass von einem Punkt aus prinzipiell eine große Anzahl von Schlüssen gezogen werden kann, ohne die anderen Analogiebezie‐ hungen grundsätzlich infrage zu stellen. Foucault spricht von der „Reversibi‐ lität“ und „Mehrwertigkeit“, die der Analogie ein universales Anwendungsge‐ biet gibt. „Durch sie können sich alle Gestalten der Welt einander annähern.“ 391 Der Mensch bilde in diesem System einen „privilegierten Punkt“, der mit Ana‐ logien übersättigt sei. Anders gesagt, als Knotenpunkt aller Elemente bildet er Analogien in alle Richtungen, und alles überschneidet sich in ihm: Er steht in einer Proportion zum Himmel wie zu den Tieren und den Pflanzen, zur Erde, den Metallen, den Stalaktiten und den Gewittern. Zwischen den Flächen stehend, hat er Beziehung zum Firmament (sein Gesicht ist für den Körper das, was das Gesicht des Himmels für den Äther ist; sein Puls schlägt in seinen Adern, wie die Sterne nach den ihnen eigenen Wegen ihren Lauf nehmen […)], aber all diese Beziehungen wirft er durcheinander, und man findet sie in der Analogie des menschlichen Lebewesens mit der von ihm bewohnten Erde wieder. Sein Fleisch ist eine Scholle, seine Knochen sind Felsen, seine Adern große Flüsse […]. Der Körper des Menschen ist immer die mögliche Hälfte eines universalen Atlas. 392 Das Denken der ‚Ähnlichkeit‘ ist die Vision einer Zusammengehörigkeit aller Dinge und Lebewesen, die jedoch, unmittelbar auf einmal ausgesprochen, als Unsinn erscheinen würde. Daher kann sie nur durch den Kommentar eingeholt werden, der sie diskursiv umkreist, ohne sie jemals ganz zu treffen. Die Ge‐ samtschau der Welt als das metaphysische Ereignis schlechthin ist visionär, zir‐ kulär, gleichzeitig und kann durch kein Syntagma erreicht werden: Der Weg kann sich der Lichtung nur nähern. Das Hinübertreten aber, dorthin, wo alle Wege sich verwischen (donde los caminos se borran), ist nur auf andere Weise als die diskursive möglich. El mono gramático erscheint vor diesem Hintergrund als Mikrokosmos - ein Universum des Schreibens, in dem alles mit allem zu‐ sammenhängt. Jede seiner Analogien verzweigt sich zu anderen. So verhält sich der Weg zu Galta wie das Schreiben zum Sinn; der Weg verhält sich aber auch zur Lichtung wie die Dichtung zur Sprache. Ähnlich ist die Lichtung mit dem Urwald verbunden wie der Körper mit den Buchstaben und Zeichen, die wie‐ derum die Architekturelemente des Tempels von Galta zusammensetzen, wie die Fabelwesen die verblichenen, vom Schimmel befallenen Gemälde an der Tempelwand, so schreibt der Dichter den Körper der Geliebten in der Erotik, in 240 III. Praxis 393 Ebd., S. 61. 394 Ebd. 395 Paz: MG, dt. S. 47, span. S. 51: „Frases que son lianas que son manchas de humedad que son sombras proyectadas por el fuego en una habitación no descrita que son la masa oscura de la arboleda de las hayas y los álamos azotada por el viento a unos trescientos metros de mi ventana que son demostraciones de luz y sombra a propósito de una realidad vegetal a la hora del sol poniente […]“ 396 Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 60. welcher sich die Naykas mit den Tieren paaren, als tantrische Kopulation der Buchstaben und so weiter. Es ist kaum möglich, sämtliche Verbindungslinien aufzuzeigen. Im Mikrokosmos von El mono gramático spiegelt Paz den Makrokosmos der Foucaultʼschen ‚prosaischen Welt‘. Das heißt, die Lektüre von El mono gramático (auch die kritische) muss sich selbst auch in einem gewissen Grad in der Ord‐ nung der ‚Ähnlichkeit‘ bewegen, die in der Aufdeckung und Akkumulation von Analogien besteht. Die Analogie erhält ihren Wert nur innerhalb der Gesamtheit der analogen Strukturen. Die Ähnlichkeiten, so Foucault, würden also nur unter der Bedingung fixiert, dass sie auf andere verweisen. Es handele sich also um ein „Wissen, das durch unendliche Anhäufung von Bestätigungen“ 393 vorgehen kann und muss. Wissen besteht in dieser Vorstellung in der reinen Anhäufung auf sich verweisender Analogien und ist dazu verurteilt, „stets nur die gleiche Sache zu erkennen, sie aber nur am niemals erreichten Ende einer unendlichen Bahn zu erkennen“. 394 Paz zeichnet diese Ordnung nach, wenn er einem Wissen über die Dichtung nachgeht, indem er einen Urwald sich verzweigender und überlagernder Analogien akkumuliert: Sätze die Lianen sind die feuchte Flecken sind die Schatten sind die vom Feuer an irgendein Zimmer geworfen werden die die dunkle Masse des Buchen- und Pappel‐ gangs sind die der Wind dreihundert Meter vor meinem Fenster zerzaust […] 395 Schon das Fehlen jeglicher Interpunktion, im spanischen Text über 14 Zeilen hinweg, lässt auf die prinzipielle Unabschließbarkeit der Auflistung von Ana‐ logien schließen. In dieser grundsätzlich unendlichen Überlagerung von Ähn‐ lichkeiten werden die Zeichen der prosaischen Welt zum Sprechen gebracht. Dies begründet ein Wissen, das Foucault als „Grammatik der Wesen“ (gram‐ maire des êtres) bezeichnet: „Den Sinn zu suchen, heißt, an den Tag zu bringen, was sich ähnelt. Das Gesetz der Zeichen zu suchen, heißt, die Dinge entdecken, die ähnlich sind. Die Grammatik der Wesen ist ihre Exegese. Die Sprache, die sie sprechen, erzählt nichts anderes als die sie verbindende Syntax.“ 396 Hanuman als der heilige Affe ist Sinnbild für eine solche ‚Grammatik der Wesen‘, die das 241 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica 397 Paz: MG, dt. S. 130, span. S. 138: „Analogía: transparencia universal: en esto ver aquello.“ 398 Paz, Octavio: [HL] Los hijos del limo: del romanticismo a la vanguardia [1974]. Barcelona: Wissen um den Zusammenhang der Welt und der Dinge bewahrt und ihre Syntax als Dichtung beherrscht. Für das ‚Essayistische‘ ist das aufschlussreich, denn ihm liegt dieselbe Hoff‐ nung auf eine mögliche Gesamtschau des Universums zugrunde, in der alle Dinge verbunden sind. Wer einen Gegenstand essayistisch betrachtet, versucht daher nicht, ihn zu isolieren, sondern seine Beziehungen zu anderen Dingen aufzuzeigen. Der Gegenstand soll in einem Netz erscheinen, das ihn inmitten seiner verwandten Strukturen zeigt. Die Distanz zwischen den Gegenständen wird auf subtile Weise überbrückt, ohne zu behaupten, das eine ‚sei‘ das andere. Auf diese Weise ist das ‚Essayistische‘ eine Praxis der Annäherung der Dinge an andere Dinge und an das schreibende Subjekt. Ebenso sind das Abschweifen, der gedankliche Sprung und die freie Assoziation nicht einer diskursiven Lax‐ heit geschuldet; sie bewegen sich innerhalb einer ganz anderen Ordnung und beruhen auf der Anstrengung, Ähnlichkeiten und Analogien aufzudecken, die den Gegenstand nicht nur beschreiben, sondern ihn vor allem in der Welt ver‐ orten. Das ‚Essayistische‘ bezieht dabei implizit das schreibende ‚Ich‘ in die Analogiezusammenhänge mit ein. Dieser Zug ist auch für El mono gramático wirksam, indem sich das Dichter-Ich (das ich in diesem Fall nicht als lyrisches, sondern unbedingt als ‚Octavio Paz‘ zu lesen habe) selbst mit dem heiligen Affen Hanuman in Verbindung bringt und so an der gesamten Struktur der Analogien persönlich Anteil nimmt. „Analogie: die allumfassende Transparenz: in diesem jenes erblicken.“ 397 Das Denken in Analogien bietet uns die Vision einer Welt in einem großen Zusam‐ menhang, in dem jedes Element mit jedem anderen interagiert. Dennoch ist dieser Zusammenhang keine als Identität gedachte ‚einfache Einheit‘, denn Ähnlichkeiten können nur aufgrund von Nichtidentitäten bestehen. Die Ana‐ logie, schreibt Paz in seinem poetologischen Essay Los hijos del limo, ist die Wissenschaft der Korrespondenzen. Sie könne es nur geben, weil dieses eben nicht jenes sei. Die Distanz zwischen zwei Elementen würde vielmehr über‐ brückt: Die Unterschiede würden dabei aber nicht ausgelöscht: Die Analogie impliziert nicht die Einheit der Welt, sondern ihre Pluralität, nicht die Identität des Menschen, sondern seine Teilung, sein ständiges Abspalten von sich selbst. Die Analogie sagt, dass jedes Ding eine Metapher eines anderen Dings ist, nur gibt es in der Sphäre der Identität keine Metaphern: die Unterschiede heben sich in der Einheit auf und die Alterität verschwindet. 398 242 III. Praxis Seix Barral 1987, S. 109 (e. Ü.): „la analogía implica, no la unidad del mundo, sino su pluralidad, no la identidad del hombre, sino su división, su perpetuo escindirse de sí mismo. La analogía dice que cada cosa es la metáfora de otra cosa, pero en la esfera de la identidad no hay metáforas: las diferencias se anulan en la unidad y la alteridad desaparece.“ 399 Ebd., S. 109 (e. Ü.): „Al mundo moderno del tiempo lineal y sus infinitas divisiones, al tiempo del cambio y de la historia, la analogía opone, no la imposible unidad, sino la mediación de una metáfora.“ 400 Vgl. ebd., S. 110 (e. Ü.): „La analogía no suprime las diferencias: las redime, hace tolerable su existencia.“ 401 Müller-Funk: Como si fuese un mito, S. 24. 402 Paz: HL, S. 102 (e. Ü.): „la analogía vuelve habitable al mundo. A la contingencia natural y al accidente opone la regularidad; a la diferencia y la excepción, la semejanza. El Die Poetik der Analogie bietet uns daher die Vision einer Einheit der Unter‐ schiede und Gegensätze, und antwortet damit, so Paz, auf eine von der Moderne erschütterte Welt. Sie habe nur in einer auf die Kritik gegründeten - und von der Kritik zernagten - Gesellschaft entstehen können: „Der modernen Welt der linearen Zeit und ihrer unendlichen Teilungen, der sich wandelnden Zeit und der Geschichte, setzt die Analogie nicht die unmögliche Einheit, sondern die Mediation einer Metapher entgegen.“ 399 Sie ist also Ausdruck des Versuchs, sich in einer zersplitterten Realität zurechtzufinden, indem sie Korrespondenz schafft, wo Kontingenz war. Ob die Poetik der Analogie den als chaotisch emp‐ fundenen Status der Wirklichkeit spiegelt oder lediglich als eine Art Therapeu‐ tikum gegen die Erschütterungen der Metaphysik in der Moderne operiert; in Los hijos del limo schreibt Paz nur davon, dass die Analogie die Existenz der Differenzen erträglich mache. 400 Denn sie beherbergt ein Instrumentarium, um Alteritäten in Verbindung zueinander treten zu lassen. Wolfgang Müller-Funk spricht in diesem Zusammenhang vom „Zauberstab der Analogie“. 401 Gleich‐ zeitig gestattet sie uns aber auch, uns in einer schrecklichen Welt aus reinen, bedeutungsleeren Präsenzen zurechtzufinden, gerade indem sie Korrespon‐ denzen und damit Sinnelemente stiftet, welche in der Wirklichkeit vielleicht gar nicht veranlagt sind, die aber das stumme Netz identitär gedachter Präsenzen erst sprechend und damit sinnerfüllt macht. Die Analogie, so Paz, macht die Welt erst bewohnbar: Der natürlichen Kontingenz und dem Zufall setzt sie die Regelhaftigkeit entgehen; dem Unterschied und der Ausnahme die Ähnlichkeit. Die Welt ist nicht mehr Theater, bestimmt von Zufall und Launen, den blinden Kräften des Unvorhersehbaren: es re‐ gieren der Rhythmus und seine Wiederholungen und Verbindungen. Es ist ein Theater aus Akkorden und Verknüpfungen, in dem alle Ausnahmen, einschließlich der des Menschen, ihr Doppel und ihre Korrespondenz finden. 402 243 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica mundo ya no es un teatro regido por el azar y el capricho, las fuerzas ciegas de lo imprevisible: lo gobiernan el ritmo y sus repeticiones y conjunciones. Es un teatro hecho de acordes y reuniones en el que todas las excepciones, inclusive la de ser hombre, encuentran su doble y su correspondencia.“ 403 Ebd., S. 97 (e. Ü.): „La analogía concibe el mundo como ritmo: todo se corresponde porque todo ritma y rima. La analogía no sólo es una sintaxis cósmica: también es una prosodía. Si el universo es un texto o tejido de signos, la rotación de esos signos está dirigida por el ritmo. El mundo es un poema; a su vez, el poema es un mundo de ritmos y símbolos. Correspondencia y analogía no son sino nombres del ritmo universal.“ 404 Vgl. Solórzano Alfaro: Del amor y la poesía. Un acercamiento a la poética de Octavio Paz. Ohne Seitenangabe. 405 Dunsmoor, S. 86 (e. Ü.): „Es cierto que nuestra referencia primaria al ritmo, fundamento del lenguaje poético, se deriva de nuestras experiencias físicas. El latido del corazón […], El gran teatro del mundo, das ,große Welttheater‘, gehorcht der ‚musikalischen Logik‘ einer ‚redenden Sprache‘, welche den Eindruck des ‚Geworfen-Seins‘ zu‐ mindest erträglicher macht. Sie zu erlernen bedeutet nun nicht, die Analogien in einem Verstehen einzuschließen, dem es stets darum zu tun wäre, in der Analogie eine Reihe von Metaphern zu isolieren und zu deuten. Vielmehr soll der Verstand dazu gebracht werden, ihrem Fluss nachzugeben und einzutauchen in ihre Bewegungen. Die ,Sprache der Sprache‘ und der Dinge untereinander zu begreifen heißt, bildlich verstehen zu lernen; hinter der bloßen Metaphernkette das Gewebe aus Analogien als universelle Transparenz zu sehen. Vor allem aber soll die Transparenz körperlich mitvollzogen werden. Die starke Verbindung zum Körper entsteht, indem Paz die Analogie mit dem Rhythmus assoziiert: Die Analogie konzipiert die Welt als Rhythmus: alles korrespondiert, weil alles reimt und rhythmisiert. Die Analogie ist nicht nur eine kosmische Syntax: sie ist auch eine Prosodie. Wenn das Universum ein Text oder Gewebe aus Zeichen ist, so ist die Ro‐ tation dieser Zeichen von einem Rhythmus geleitet. Die Welt ist ein Gedicht; und gleichzeitig ist das Gedicht eine Welt von Rhythmen und Symbolen. Korrespondenz und Analogie sind nichts als Namen für den universellen Rhythmus. 403 Der costa-ricanische Dichter und Essayist Gustavo Solórzano Alfaro interpre‐ tiert diesen universellen Rhythmus als rituellen Tanz (danza ritual) oder zeitlose Symphonie (sinfonía sin tiempo), die das welterschaffende ursprüngliche Wort reproduziere. 404 Helena Dunsmoor geht hingegen mehr auf die Dichtung als ursprüngliche Sprache ein, deren Rhythmik auf den archaischsten physischen Erfahrungen des Menschen gründe: „Der Herzschlag, […] der konstante Rhythmus unserer Schritte, bieten klare Beispiele dieser Realität. So gebrauchen wir auch einen körperlichen Begriff, den [Vers]Fuß, um eine metrische Einheit in der Dichtung zu bezeichnen.“ 405 Dichtung ist die Schule, in der wir lernen können, die aber auch einfordert, die „Essenz der Sprache“ (esencia del len‐ 244 III. Praxis y el ritmo constante de nuestros pasos proporcionan claros ejemplos de esta realidad. Así, usamos un término corporal, el pie, para trazar una unidad métrica en la poesía.“ 406 Vgl. Paz: AL, S. 34. 407 Ebd., S. 81 (e. Ü.): „La analogía es el lenguaje del poeta. Analogía es ritmo.“ 408 Vgl. Hahn, S. 213. 409 Vgl. del Valle Lattanzio: Die unendliche Frage der Poetik, S. 93 (Hervorhebung durch den Autor). 410 Ebd., S. 95. 411 Paz: MG, dt. S. 104, span. S. 109: „el monograma del Simio perdido entre sus símiles.“ 412 Vgl. Keul, S. 78. István Keul spricht von einer Entwicklung im ausgehenden ersten Jahr‐ tausend, die Hanuman zum „Objekt und Träger eines breiten Frömmigkeitsstroms macht, die ‚Rama‘ nicht nur als den heroischen Gott Ramacandra oder Dasarathi Rama aus dem Epos, sondern auch als nirguna-Gott, als abstrakten, ‚eigenschaftslosen‘, un‐ beschreiblichen und unbeschreibbaren Höchsten Gott verehrt.“ guaje) 406 als Rhythmik zu spüren und als Bildlichkeit und Analogie zu sehen: „Die Analogie ist die Sprache des Dichters. Analogie ist Rhythmus.“ 407 Kurt Hahn bezeichnet eine solche Schule des Denkens auch als „Ethos des Auges“, welche die Dichtung voraussetze und deren Pflicht es sei, ein neues Sehen zu veran‐ lassen. 408 Im Zuge dieses Sehens wird Dichtung in den Stand gesetzt, eine „ur‐ sprüngliche Natur“ 409 der Sprache zu enthüllen - eine Vorstellung, die Pazʼ große Nähe zur romantischen Sprachphilosophie zeigt, die in seinem Denken dauer‐ haft präsent ist. 410 Indem sich El mono gramático als Netz von Analogien präsentiert, das eine ganzheitliche Wahrnehmung erfordert, gestaltet er sich als Dichtung, die durch ein Denken der ‚Ähnlichkeit‘ verstehbar werden kann. Doch ist dieser Status stets bedroht: Nach Foucault besitzt das System von Analogien einen privile‐ gierten Punkt, den er als den Menschen identifiziert. In ihm, so Foucault, findet jede Analogie einen Stützpunkt, der gewissermaßen das gesamte System der Möglichkeit nach für ihn dechiffrierbar macht. Octavio Paz setzt jedoch das Monogramm des Affen in den Mittelpunkt seines Textuniversums, und hier be‐ ginnt das System, labil zu werden: Hanuman ist „das Monogramm des unter seinesgleichen verlorenen Affen“. 411 Das Bild des Affen spaltet sich unwillkür‐ lich in zwei Pole, wird ambivalent. Einerseits ist da Hanuman, der göttliche Affe, Bewahrer und Beschützer der höchsten Göttlichkeit, 412 epischer Held, Gelehrter und Beherrscher der vedischen Verse; auf der anderen Seite springt der Dar‐ winʼsche Menschenaffe durchs Gebüsch und stößt Schreie aus, während er sich am Hintern kratzt. Beides verweist auf den Menschen. Im Zentrum der Struktur setzt Paz eine Metapher für den Menschen, dessen Schicksal es ist, sprachlich, das heißt Metapher seiner selbst zu sein. Eine neue, zutiefst ambivalente Ana‐ logie ist geboren, in der der Affe durch den Wald läuft, wie der hochgeehrte Hanuman durch das Dickicht der Buchstaben dringt. Im 1974 erschienenen 245 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica 413 Paz: HL, S. 112 (e. Ü.): „El hombre atraviesa esos bosques verbales y semánticos sin en‐ tender cabalmente el lenguaje de las cosas: las palabras que emiten esas columnas-ár‐ boles son confusas. Hemos perdido el secreto del lenguaje cósmico, que es la llave de la analogía.“ 414 Hahn, S. 213. 415 Vgl. Foucault, S. 57. 416 Paz: HL, S. 113 (e. Ü.): „El centro de la analogía es un centro vacío para nosotros; ese centro es un nudo para Dante: la Trinidad que concilia lo uno y lo plural, la substancia y el accidente. Por eso sabe - o cree que sabe - el secreto de la analogía, la llave para leer el libro del universo; esa llave es otro libro: las Sagradas Escrituras. El poeta mo‐ derno sabe - o creeque sabe - precisamente lo contrario: el mundo es ilegible, no hay libro. La negación, la crítica, la ironía, son también un saber, aunque de signo opuesto Essay Los hijos del limo greift Paz die Wald-Metapher aus El mono gramático wieder auf. Er schreibt: „Der Mensch durchquert jene verbalen und semanti‐ schen Wälder, ohne die Sprache der Dinge richtig zu verstehen: […] Wir haben das Geheimnis der kosmischen Sprache verloren, die der Schlüssel zur Analogie ist.“ 413 Selbst die Dichtung als Schlüssel zur universalen Transparenz ist als ‚menschliche Schrift‘ stets davon bedroht, an einen Punkt zu gelangen, an dem die ‚kosmische Sprache‘ in Unsinn umschlägt. Kurt Hahn bemerkt daher, dass Pazʼ ,écriture‘ nicht einfach in eine „moderne Version der Ähnlichkeits-Epis‐ teme“ münde: Die Nachbildung des kosmischen Rhythmus führe letztlich wieder in das „differierende ‚Spiel‘ der Metapher, wo die beruhigenden Identitäten ‚leer‘ laufen“. 414 Das Gedicht, so Hahn weiter, könne daher keine stabilen Korrespon‐ denzverhältnisse schaffen, sondern diese nur als endlose Kette von De- und Re‐ chiffrierung fortschreiben. Die Entgrenzung der Analogiestruktur birgt die Kritik der Poesie durch die Poesie und äußert sich als ironische Figur. Als Gegenkraft zur Analogie ist die Ironie gleichsam der sich selbst reflektierende Blick, der ins Zentrum der Wald‐ lichtung starrt und feststellt, dass es dort nichts als eine leere Stelle gibt, auf der nichts geschieht. Für den Menschen der Renaissance, schreibt Foucault, wird der Raum der unmittelbaren Ähnlichkeiten zu einem großen offenen Buch. 415 Im Zentrum steht eine allumfassende Analogie. Und als ob Paz Foucaults Worte aufnehme, schreibt er, das Zentrum der Analogie sei für uns leer. Für Dante sei das Zentrum ein anderes Buch gewesen: die Heilige Schrift. Der moderne Dichter glaube hingegen zu wissen, dass die Welt unlesbar sei und es kein uni‐ versales Buch gebe: „Die Negation, die Kritik, die Ironie, sind ebenfalls ein Wissen, wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen als das von Dante. Ein Wissen, das nicht in der Kontemplation der Alterität im Herzen der Einheit besteht, sondern in der Vision des Bruchs der Einheit. Ein abgründiges, ironi‐ sches Wissen.“ 416 Die Ironie lässt die Sphäre der freischwebenden Analogien labil 246 III. Praxis al de Dante. Un saber que no consiste en la contemplación de la alteridad en el seno de la unidad, sino en la visión de la ruptura de la unidad. Un saber abismal, irónico.“ 417 Ebd., S. 111 (e. Ü.): „La ironía muestra que, si el universo es escritura, cada traducción de esa escritura es distinta, y que el concierto de las correspondencias es un galimatías babélico. La palabra poética termina en aullido o silencio: la ironía no es una palabra ni un discurso, sino el reverso de la palabra, la no-comunicación.“ 418 Aus Gustav Mahlers Trinklied vom Jammer der Erde. Nach Hans Bethges freien Nach‐ dichtungen chinesischer Gedichte. 419 Paz: MG, dt. S. 106, span. S. 113. werden. Sie setzt sie der Bedrohung aus, in die Unlesbarkeit umzuschlagen und als unverständliches Hintergrundgeräusch, als Glossolalie oder Stille wieder in sich zusammenzufallen. Die Ironie zeigt, dass, wenn das Universum eine Schrift ist, jede Übersetzung dieser Schrift unterschiedlich und das Konzert der Korrespondenzen ein babylonisches Kau‐ derwelsch ist. Das dichterische Wort mündet in Geheul oder Stille: die Ironie ist weder Wort noch Diskurs, sondern die andere Seite des Wortes, die Nicht-Kommunika‐ tion. 417 Die nagende Stimme der Ironie sät jene bittere Erkenntnis, in der sich der Mensch als Gefangener seiner Sprache und im Elend einer Nicht-Kommunika‐ tion erfasst: „Seht dort hinab! Im Mondschein auf den Gräbern / Hockt eine wildgespenstische Gestalt. / Ein Aff ’ ist’s! Hört ihr, wie sein Heulen / Hinausgellt in den süßen Duft des Lebens! “ 418 Der Mensch als ,mono gramático‘ ist weder das eine noch das andere, sondern beides: Hanuman, der durch die poetische Sprache Bewahrer einer göttlichen, einer ontologischen Grammatik ist und damit über den Schlüssel zum Ver‐ ständnis der Textur von Analogien verfügt. Ebenso aber der moderne Men‐ schenaffe, der Affe der Ironie, der mit seiner menschlichen Grammatik die Transzendenz der Sprache zerlegt und zerteilt. Zur Nicht-Kommunikation ver‐ dammt, kann er die Vorstellung einer kosmischen Schrift nur mit Heulen und Kreischen quittieren. Der Dichter macht sich auf den Weg nach Galta, dem Tempel Hanumans, der als Monogramm der Sprache nicht nur ‚Ver-Körperung‛ der Dichtung selbst ist, sondern auch „Ideogramm des Dichters“. 419 Doch gibt es auf diesem Weg kein Ankommen, weil auch der Dichter in der Ironie lebt. Der moderne Dichter kann nur nach dem Ideal streben, seine ,écriture‘ bleibt ein ‚Unterwegs zur Dichtung‘. Dennoch entwickelt Paz vor allem unter dem Einfluss einer intensiven Mallarmé Rezeption ein ausgeprägtes Elitebewusstsein, das sich auf die Idee des Dichters als auserwählter Priester stützt, der über die Kenntnis der Symbolik Zugang zu einer dahinter liegenden Geisteswelt be‐ 247 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica 420 Vgl. Wilson, Jason: Octavio Paz. Twayne Publishers. Boston 1986, S. 107 f. 421 Paz: MG, dt. 30 f., span. S. 34: „Estoy rodeado por monos que saltan de un lado para otro: machos fornidos que se rascan sin parar y gruñen enseñando los dientes si alguien se les acerca, hembras con las crías prendidas a las tetas, monos que espulgan a otros monos, monos colgados de las cornisas y las balaustradas, monos que se pelean o juegan o se masturban o se arrebatan la fruta robada monos gesticulantes de ojos chispeantes y colas en perpetua agitación, gritería de monos de culos pelados y rojos, monos, monos.“ 422 Ebd., dt. S. 31. 423 Vgl. ebd., dt. S. 65. sitzt. 420 Es ist für dieses Selbstbild bezeichnend, wenn Paz sich in El mono gra‐ mático als Dichter mit einem langen Stock ausrüstet, um unterwegs zur heiligen Stätte die profanen Affenhorden zu vertreiben: Ich bin von Affen umzingelt […] stämmige Männchen, die sich unentwegt kratzen und knurrend die Zähne fletschen, wenn jemand sich nähert. Weibchen mit Jungen an den Zitzen, Affen, die andere Affen flöhen […] Affen, die sich balgen oder spielen oder masturbieren […], Affen, die mit funkelnden Augen und ewig sich regenden Schwänzen gestikulieren, Geschrei von Affen mit nackten roten Hintern, Affen, Affen. 421 Sie sehen den Dichter mit jenem seltsam starrenden Blick an, „in dem Neugier von Gleichgültigkeit nicht zu unterscheiden ist“. 422 Ein Tierblick, der dreinblickt, ohne zu sehen. Das Bild bekommt sogar einen nicht unproblematischen, rassis‐ tischen Beigeschmack, wenn Paz die räumliche Nähe von Affen- und Pariafa‐ milien betont, die beide in den Ruinen hausen. Der im Denken der ‚Ähnlichkeit‘ geschulte Blick kann hier eine böswillig intendierte Figur der ‚conviventia‘ un‐ terstellen, in der sich ja räumliche Nachbarschaft und Wesensähnlichkeiten be‐ dingen. Dabei geht es Paz aber vermutlich eher um die ambivalente Metapher des Dichteraffen. Denn die Paria gehören der Kaste der ‚Balmik‘ an, aus deren Mitte der Legende nach auch Valmiki, der große Dichter des Ramayana, stammte und nach dem sie sich benannt haben. 423 Wieder eine Analogie: Wie der Paria auch Valmiki ist, kann der Affe auch Hanuman sein - und der Mensch auch Dichter. Doch was kann der Dichter ausrichten, wenn sich auch vor ihm die ‚Sprache der Sprache‘ verbirgt und verstellt? Paz gibt eine Antwort im zu Beginn dieses Kapitels bereits zitierten Libertad bajo palabra: Contra el silencio y el bullicio invento la Palabra - Gegen die Stille und das Getöse erfinde ich das Wort. Zwischen der poetischen Vision und dem prosaischen Geplapper liegt, als Brücke und schwieriger Kompromiss, das überlegte, wohlgesetzte und aufrich‐ 248 III. Praxis 424 Vgl. del Valle Lattanzio, Camilo: Die unendliche Frage der Poetik, S. 92. 425 Ebd. 426 Ebd., S. 93 (Hervorhebung durch den Autor). 427 Ebd., S. 107. 428 Vgl. Müller-Funk: Como si fuese un mito, S. 20. 429 del Valle Lattanzio: Die unendliche Frage der Poetik, S. 93. 430 Vgl. ebd., S. 106. tige Wort. Es ist das essayistische Wort des Ausgleichs zwischen Dichtung und Prosa, Literatur und Kritik. Es antwortet auf die große Frage des „Que scay-je? “ als Versuch: Das Wort weiß sich unzureichend, ohne in der Resignation darüber zu verharren; es gestaltet sich als ein ‚Trotzdem‘ zwischen göttlichem und menschlichem Ausdruck. 2.6 Poesie und Prosa Poesie und Prosa sind bei Paz zwei elementare Aussagemodi, die sich grund‐ sätzlich unterscheiden. Camilo del Valle Lattanzios Vermutung nach unterliegen diese beiden Begriffe bei Paz einer starken Heidegger-Rezeption. 424 So bezeichne Prosa in etwa die Ebene der alltäglichen Kommunikation und sei als ‚das Dis‐ kursive‘ „klar nachvollziehbare und bezweckte Rede“, 425 in der sich ein mehr oder weniger erklärbarer Sinn extrahieren lasse. Das Poetische hingegen ergebe sich aus dem Kontrast zur Prosa: „Die Seite der Poesie bleibt in der Alltags‐ sprache latent und Aufgabe des Dichters ist es, genau diese verdeckte Seite zum Ausdruck zu bringen - d. h. die Sprache in ihrer ursprünglichen Natur zu ent‐ hüllen.“ 426 Es zeige sich in der rhythmischen Prosodie der Sprache und der „nicht analysierbaren Synthese des Bildes“. 427 Während die Prosa als ein ‚Bewusstes‘ Teil der Wissenschaft und der rationalen Welt sei, 428 konstituiere sich die Poesie aus dem unbewussten Teil der Sprache und einer künstlerischen Aktivität. Del Valle Lattanzio hebt hervor, dass das Poetische jedoch nicht mit der literarischen Gattung der Lyrik gleichzusetzen sei, sondern eher als ‚das Literarische‘ ge‐ meinhin erscheine. Es handele sich bei Poesie und Prosa um zwei verschiedene „Haltungen des Menschen zur Realität“. 429 Beide stünden in einer engen, span‐ nungsvollen Wechselbeziehung, die immer wieder eine Art Motor für die Ent‐ wicklung der Literaturgeschichte gewesen sei. Während die Prosa einen ,zerle‐ genden‘ Charakter habe, der die Welt aufteile und zu organisieren versuche, sehe die Poesie das ,Werden‘ der Welt in ihrer Ganzheit und Einheit. Prosa weise dabei immer auf einen konkreten Ort hin, der durch Erörterung und Erklärung bestimmt werden könne; Poesie hingegen stehe in Verbindung mit dem U-to‐ pischen, das alle Orte als „Raum der Möglichkeit“ enthülle. 430 Etwas verkürzt 249 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica 431 Vgl. ebd., S. 105. 432 Vgl. Paz: AL, S. 68 (e. Ü.): „Como si obedeciesen a una misteriosa ley de gravedad, las palabras vuelven a la poesía espontánemente.“ 433 Paz. AL, S. 68 (e. Ü.): „Por la violencia de la razón las palabras se desprenden del ritmo; esa violencia racional sostiene en vilo la prosa, impidiéndole caer en la corriente del habla en donde no rigen las leyes del discurso sino las de atracción y repulsión.“ 434 https: / / www.weltderphysik.de/ thema/ phaenomene-der-thermodynamik/ entropie/ ließe sich sagen: Poesie will zeigen, Prosa will erklären. Dabei, so del Valle Lat‐ tanzio, verberge Letztere jedoch immer ein ‚eigentlich‘ Gemeintes, statt es, wie die Poesie, unerklärt ,erscheinen‘ zu lassen. 431 Wie bei María Zambrano deutet Pazʼ Unterscheidung der Aussagemodi auf jenen Konflikt der Sprache hin, der eine ethische Haltung des Kompromisses erfordert zwischen dem Verbleiben in der nicht kommunizierbaren Tiefe des ‚es spricht‘ und dem Raum einer sprach‐ lichen Identifikation, die jedoch nie trifft, was sie identifizieren wollte. In El arco y la lira zeichnet Paz ein von kosmischen Naturgesetzen durch‐ drungenes, energetisches Bild der Sprache. So erscheint die Poesie als eine Ak‐ tivierung einer Tiefenebene aus magnetischen Feldern phonetisch-rhythmi‐ scher Anziehungen und Abstoßungen, in denen die von der ,ratio‘ geleiteten Gesetze des Diskurses außer Kraft gesetzt sind. Diese Ebene muss nicht erst durch die Poesie freigelegt werden; vielmehr erscheint sie bei Paz als natürlicher Modus, in den jedes Sprechen durch ein mysteriöses linguistisches „Gravitati‐ onsgesetz“ 432 immer von selbst zurückfällt. Die Prosa hingegen erscheint als energetisch höherer Zustand der Sprache in dem Sinn, dass sie die ständige ‚Energiezufuhr‘ braucht, um als logisch-rationaler Diskurs aufrechterhalten werden zu können. Diesen Energieaufwand assoziiert Paz mit einer ,Gewalt‘, die es brauche, um Sprache von ihrem rhythmischen Grundzustand zu trennen: „Durch die Gewalt der Vernunft lösen sich die Wörter vom Rhythmus; diese rationale Gewalt hält die Prosa in Spannung und hindert sie daran, in den Fluss des Redens zu fallen, wo nicht die Gesetze des Diskurses, sondern die von An‐ ziehung und Abstoßung herrschen.“ 433 Poesie und Prosa stehen also in einem Verhältnis zueinander, das durch den Grad ihrer Entropie bestimmt ist: Entropie bezeichnet in der Physik nicht einfach einen beliebigen Zustand der Unordnung, sondern genauer die Anzahl von Mikrozuständen. Darunter wird das Maß von Freiheit verstanden, in der sich Atome und Moleküle innerhalb eines Systems miteinander verbinden können. Die Entropie als ,Anordnungsfreiheit‘ kann also als physikalisches Maß für einen Raum der Möglichkeiten freier Assoziation und Dissoziation verstanden werden. „Steigt die Zahl der einnehmbaren Mik‐ rozustände, dann wächst die Entropie. Gibt es weniger Möglichkeiten, wie sich die Teilchen des Fluids anordnen können, ist die Entropie kleiner.“ 434 Nach den 250 III. Praxis 435 Paz: AL, S. 49 (e. Ü.): „Para que el lenguaje se produzca es menester que los signos y los sonidos se asocien de la manera que indiquen y transmiten un senitdo. La pluralidad potencial de significados de la palabra suelta se transforma en la frase en una cierta y única, aunque no siempre rigurosa y unívoca, dirección.“ 436 Ebd., S. 49 (e. Ü.): „A semejanza del átomo, es un organismo sólo separable por la vio‐ lencia. Y en efecto, sólo por la violencia del análisis gramatical la frase se descompone en palabras.“ 437 Vgl. ebd., S. 50. Gesetzen der Thermodynamik nimmt, sehr vereinfacht ausgedrückt, die En‐ tropie in Systemen ständig zu - es hat die Tendenz, immer ‚chaotischer‘ zu er‐ scheinen. Die Aufrechterhaltung der Ordnung, in der Atome und Moleküle in mehr oder weniger festen Strukturen gebunden sind, benötigt eine dauernde Energiezufuhr. Übertragen auf Pazʼ Sprachmodell, kann die Poesie als Raum hoher Entropie verstanden werden, in der sich die linguistischen Moleküle, Laute und Silben, frei zu Sinneinheiten verketten. Die trennende Gewalt der ‚ratio‘ zerlegt die freien Assoziationen, bricht ihre Sinneinheiten auf und erlegt ihnen Regeln auf, welche das Spiel ihrer Anordnung begrenzen. Sie versucht, Ordnung zu schaffen, indem sie die Moleküle einer Grammatik zuführt. Sie be‐ trachtet Sprache als etwas Statisches und verkennt ihren zutiefst dynamischen Grundcharakter. Pazʼ Argumentation zielt vor allem darauf, dass die zerlegende Analyse der poetischen Sprache widersinnig ist, da die Laut- und Zeichenkom‐ binationen der Dichtung zwar volatil und dynamisch sind, sich aber nicht voll‐ kommen arbiträr vollziehen. Anders ausgedrückt: Das kleinste bedeutungstra‐ gende Element der dichterischen Sprache ist nicht das Phonem, sondern der Satz. Kein Wort in ihm könne isoliert betrachtet werden, sondern immer nur der Zusammenhang mit anderen Wörtern: „Die potenzielle Pluralität der Wortbe‐ deutungen des einzelnen Wortes transformiert sich im Satz in eine bestimmte und einzigartige Richtung, wenn auch nicht immer in einen genauen und ein‐ deutigen Sinn.“ 435 Der Sinn (sentido) der poetischen Sprache aber bestehe in seiner Rhythmik, in welcher der Satz sich ausrichte. „Gleich einem Atom ist er eine Einheit, die nur durch Gewalt teilbar ist. Und tatsächlich, nur durch die Gewalt der grammatikalischen Analyse des Satzes wird dieser in Wörter zer‐ legt.“ 436 Paz führt an, das Erlernen einer Grammatik beginne immer damit, Ein‐ heiten aufzuspalten: Sätze in Wörter, Wörter in Silben und Buchstaben. Kindern jedoch fehle dieser analytische Zugriff. Wenn sie gerade erst begonnen haben, schreiben zu lernen, könne man die natürliche Schwerkraft der Sprache be‐ obachten. Denn sie wüssten oft nicht, wo die Wörter anfangen und enden, und schrieben Lautgebilde nach ihrer natürlichen Vorstellung. 437 Die Prosa sei daher eine erlernte Ausdrucksform, die dem Misstrauen des Denkens gegenüber den natürlichen Tendenzen der Sprache entspringe. 251 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica 438 del Valle Lattanzio: Die unendliche Frage der Poetik, S. 113. 439 Paz: AL, S. 69 (e. Ü.): „La figura geométrica que simboliza la prosa es la línea: recta, sinuosa, espiral, zigzagueante, mas siempre hacia adelante y con una meta precisa. […] El poema, por el contrario, se ofrece como un círculo o una esfera.“ 440 Ebd., S. 68 (e. Ü.): „Sin ritmo no hay poema; sólo con él no hay prosa.“ All diese Schläge, die Paz gegen die Prosa führt, legen die Vermutung nahe, er habe sie zugunsten der Poesie abgewertet. Del Valle Lattanzio schreibt sogar: „Es scheint eine gewisse Tendenz im essayistischen Werk Pazʼ zu geben, die Prosa überhaupt zu negieren.“ 438 Dieses Urteil halte ich jedoch für wenig über‐ zeugend. Pazʼ essayistisches Werk, zu dem ich ganz besonders El mono gramático zähle, reflektiert vielmehr kritisch beide Komponenten, aus denen es sich speist und auf die es nicht verzichten kann: Poesie und Prosa - in El mono gramático verbildlicht durch die ,Lichtung‘ und den ,Weg‘. Diese relativ einfache Zuschrei‐ bung lässt sich in El arco y la lira nachvollziehen, indem Paz beiden Seiten ge‐ ometrische Eigenschaften zuweist: „Die geometrische Figur, welche die Prosa symbolisiert, ist die Linie: gerade, kurvig, spiralförmig, zickzack, aber immer vorwärts, in Richtung eines präzisen Ziels. […] Die Poesie bietet sich hingegen als Kreis oder Sphäre dar.“ 439 Ohne den Sprachmodus der Prosa wäre der poeti‐ sche Ausdruck zwar nicht ohne Sinn, würde sich aber als reine Rhythmik jedem rationalen Verstehen vollkommen entziehen. Das ist bei Paz jedoch nicht der Fall. Seine Lyrik und erst recht seine essayistischen Texte bestehen weder aus dadaistischer Glossolalie noch im Fluidum von Bildern einer automatischen ,écriture‘. Wichtig ist, dass Paz Poesie und Prosa eben nicht als Gattungsbegriffe denkt, sondern als ideelle Formen, die sich kaum jemals zur Gänze, sondern vielmehr graduell aktualisieren. Erst ihr unterschiedliches ‚Mischungsver‐ hältnis‘ lässt überhaupt gattungsmäßige Zuschreibungen zu. „Ohne Rhythmus gibt es kein Gedicht, nur mit ihm keine Prosa.“ 440 In El mono gramático ist auch jenseits der Metapher vom ,Weg‘ des Schreibens die Präsenz der Prosa im Sinne ihrer Pazʼschen Auffassung stark. Vor allem in den sprachphilosophischen Abschweifungen und dem dort enthaltenen Gestus, den Weg ‚zu Ende‘, d. h. den Dingen auf den Grund, zu gehen kommt sie zum Ausdruck. Paz der Prosaist zeigt sich in der Offenlegung seines sprachlichen Ringens, im Wollen und Bemühen um den adäquaten Ausdruck, das ihn immer wieder dazu veranlasst, Wörter auseinanderzunehmen und Metaphern zu spalten, um sie präziser analysieren und verstehen zu können. Gleich zu Beginn etwa führt Paz die bestimmende Wegmetapher als kritisches Selbstgespräch ein, indem er fragt, was es wohl bedeute, auf etwas zuzuwandern, einen Weg zu Ende zu wandern, nur um sich sofort selbst zu korrigieren: „Wortfalle: es liegt nichts 252 III. Praxis 441 Paz: MG, dt. S. 7. 442 Ebd., dt. S. 47 ff. 443 Ebd., dt. S. 129, span. S. 137: „Al comenzar estas páginas decidí seguir literalmente la metáfora del título de la colección a que están destinadas, Los caminos de la Creación, y escribir, trazar un texto que fuese efectivamente un camino y que pudiese ser leído, recorrido como tal.“ hinter dem Ende.“ 441 Die ständige ‚Unzufriedenheit‘ mit dem eigenen Text und die gewissermaßen gewaltvolle Auseinandersetzung mit ihm sind beinahe auf jeder Seite erlebbar. Paz ergründet, verwirft, erneuert, korrigiert, korrigiert die Korrektur, belegt, erklärt, scheitert, setzt neu an, spürt nach, verwirft … Paz versucht sich im Ausdruck und legt den Prozess dieses Versuchs offen. [Sätze] sind nicht, was ich sehe oder gesehen habe, sie sind die Kehrseite des Gesche‐ hens und des Sehens - aber nicht das Unsichtbare […] sie sind die andere Seite nicht der Wirklichkeit, sondern der Sprache, was uns auf der Zunge liegt und vergeht, bevor es gesagt ist […] Das Ungesagte ist weder dies oder das, was wir verschweigen […] sondern die Empfindung beim Gefühl, daß ich ihn [den Baum] sehe […] nein, auch das ist es nicht […] alles ist hohl; und kaum sage ich, ,alles ist hohl‘, spüre ich, wie ich in die Falle gehe […] nein, es ist voll und erfüllt […] kaum sage ich das, entleeren sie sich: die Dinge leeren und die Namen füllen sich […]. 442 Diese nach- und mitvollziehbare Offenlegung tastender Bewegungen des Den‐ kens ist zugleich eine charakteristische Erscheinungsweise des ‚Essayistischen‘, in dem sich das Denken als Prozess transparent macht. So präsentiert Paz sein Werk im Entstehungsprozess, und es wirkt zuweilen, als sei El mono gramático nichts als ‚Vorüberlegungen‘ oder Notizen zu einem Buch, das am Ende nie ge‐ schrieben sein wird. Pazʼ Verwendung des Konjunktivs ist bezeichnend für das Fehlen eines ‚eigentlichen‘ Werks: Als ich mit diesen Seiten begann, hatte ich beschlossen, der Metapher im Titel der Sammlung, für die sie bestimmt waren, Die Wege der Schöpfung, wörtlich zu folgen und einen Text zu schreiben, zu entwerfen, der wirklich ein Weg gewesen wäre und als solcher hätte gelesen, hätte gewandert werden können. 443 Im Prozesshaften liegt zugleich die Gegenseite des Poetischen. Ersteres umkreist die Dinge linienhaft fortschreitend, während Zweiteres sie nach Pazʼ An‐ schauung sphärenhaft erscheinen lässt und augenblicklich präsentiert. Del Valle Lattanzio macht insbesondere auf den Aspekt der Gewaltlosigkeit aufmerksam, wenn er schreibt, das poetische Benennen sei ein „Erscheinen-Lassen und kein 253 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica 444 del Valle Lattanzio: Die unendliche Frage der Poetik, S. 105. 445 Paz: MG, dt. S. 116. Hinweis auf etwas anderes […] Die Poesie ist nicht ein Sagen-Wollen, sondern ein Aus-Sagen, ein Aus-Sprechen.“ 444 Doch es gibt noch weitere Anzeichen für die Kräfte der Prosa, die in El mono gramático walten. Auffällig ist ganz allgemein die Vielzahl disruptiv wirksamer Textelemente, nicht nur auf inhaltlicher, sondern auch auf grafischer Ebene. So unterbricht Paz den Redefluss andauernd durch Auslassungen, die durch ent‐ sprechende Interpunktion (,…‘) materialisiert sind, sowie durch Fragen, die vo‐ rangehende Aussagen zurücknehmen, anzweifeln oder weiter präzisieren. Oft erscheinen diese Elemente in Klammern, um so auch optisch die Textur, das Gewebe von Lettern zu zerreißen. Bezeichnend für die Gewalt der Prosa ist auch die permanente Selbstausle‐ gung, in der Paz seine Metaphern kommentiert und deutet. Für Literaturwis‐ senschaftler wirkt das irritierend, denn sie scheint beinahe eine literaturwis‐ senschaftliche Analyse des Textes vorwegzunehmen, obwohl dem Autor bei der Interpretation seines Werks freilich grundsätzlich nicht über den Weg zu trauen ist. Der Weg ist Niederschrift, die Niederschrift ist Körper und der Körper viele Körper (Baumgruppe) […] der Körper ist immer jenseits des Körpers. Beim Betasten zerfällt er (wie ein Text) in Teile […] Die Versöhnung mit dem Körper gipfelt in die Vernich‐ tung des Körpers (dem Sinn). Jeder Körper ist eine Sprache. 445 Paz inszeniert den Versuch, Ordnung in das Analogien- und Metapherngeflecht zu bringen, unterbricht dadurch den natürlichen poetischen Fluss immer wieder durch das Eingreifen des Diskursiven, das sich aber nie zu präzisen Aussagen verfestigt, sondern letztlich immer wieder in den poetischen Ausdruck zurück‐ sinkt und wieder eintaucht in den mythischen Fluss der Poesie, wo ein zeitloser Strom von Pilgern als chaotisches Gewimmel von Gewändern, Gerüchen, Farben, Gesängen und Geräuschen zum Tempel des Hanuman zieht, wie die Buchstaben auf der Seite, die sich umschlingen und in freier Anordnung zur Ursuppe der Sprache, zur rhythmischen Glossolalie der Dichtung umarmen. Die Verquickung der Silben verleiht jedem Wort die Farben der anderen und be‐ fruchtet sie mit ihren Bedeutungen hin zu einer pulsierenden Einheit: Schallen und Widerhall der Schreie und Gesänge, das Kauderwelsch der Kinder und Vögel: Kinderkauder und Vögelwelsch, sabbernd flehende Bettelgrime und betende Pilgbettler, das Glucksen der Dialekte, das brodeln der Sprachen, Gärung und Schäumen der sprachlichen Maische, Blasen und Blubbern, die vom Grunde der ba‐ 254 III. Praxis 446 Ebd., dt. S. 99, span. S. 104. „Bote y rebote de gritos y cantos, algarabías de niños y pájaros, algaraniñas y pajarabías, plegarias de los perendigos, babeantes súplicas de los mendigos, gluglú de dialectos, hervor de idiomas, fermentación y efervescencia del lí‐ quido verbal, burbujas y gorgoritos que ascienden del fondo de la sopa babélica y estaban al llegar al aire, la multitud y su oleaje, su multieje y su multiola, su multialud, el multisol sobre la soledumbre, la pobredumbre bajo el alasol, el olasol en su solitud, el solalumbre sobre la podrecumbre, la multisola.“ 447 Ebd., span. S. 81. 448 Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 20 (Hervorhebung durch den Autor). 449 Paz: MG, dt. S. 45 f., span. S. 48: „El Gran Mono cierra los ojos, vuelve a rascarse y musita: antes de que el sol se hubiese ocultado del todo […] logré reducir el boscaje a un catálogo. Una página de enmarañada caligrafía vegetal.“ bylonischen Suppe aufsteigen, sie platzen an der Luft, die Menge und ihr Gewoge, ihre Mengennabe, ihr Mengengewoge, Mengsonne auf Sonngemenge, Ohngedränge unter Längensonne, Sonngewoge der Einsonnkeit, Sonnläuten über der Hügeltonne, Men‐ geneinsam? 446 Der grammatische Affe ist die Sehnsucht nach dem heiligen Tier, das die heilige Sprache und ihre ‚ontologische Grammatik‘ zu bewahren versteht. Insofern ist Paz, der Dichter, selbst dieser Affe, der die Syntax der Einheit der Dinge und Wesen, der Wörter und der Welt als Utopie wiederherstellt. Darüber legt sich aber ein weiterer Diskurs, der des Darwinʼschen Menschenaffen, des „animal humano“, 447 der mit Anstrengung einer menschlichen, von der ‚ratio‘ be‐ herrschten Grammatik die Sätze in der Analyse gewaltvoll auseinanderpflückt und die Wörter darin obdachlos macht. Der grammatische Menschenaffe macht die Sprache zur ‚Heterotopie‘, wie Foucault sie im Vorwort zu Die Ordnung der Dinge beschreibt und gegen die ‚Utopie‘ abgrenzt: „Die Utopien trösten; wenn sie keinen realen Sitz haben, entfalten sie sich dennoch in einem wunderbaren und glatten Raum, sie öffnen Städte mit weiten Avenuen, wohlbepflanzte Gärten, leicht zugängliche Länder, selbst wenn ihr Zugang chimärisch ist.“ 448 Hanuman schafft die Sprache als Utopie und wohlbepflanzten Garten. So sitzt auch der Affengott auf der Mauer zu Ravanas Garten und nennt jede einzelne Pflanze, jedes Heilkraut beim Namen, ihre Wirkung und Eigenart und ordnet gedanklich das Gestrüpp: „Der Große Affe schließt die Augen; kratzt sich aber‐ mals und murmelt: bevor die Sonne gesunken ist […] werde ich den ganzen Wald zu einem Katalog gemacht haben. Eine Seite verworrener Pflanzenkalligraphie.“ Er fragt sich, wie man sich wohl einen Weg hindurchbahnen könne. Dann springt Hanuman von der Mauerkrone „und dringt entschlossen in das Dickicht ein“. 449 Hanuman spricht im spanischen Text von „reducir el boscaje“. Es geht hier also um eine Verwandlung im Sinne einer Verringerung oder Beschränkung, um einer Sache Herr zu werden. Damit spricht Hanuman von dem sprachlichen 255 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica 450 Zambrano: CB, span. S. 125. 451 Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 20. 452 Ebd. Gemeint ist eine ‚ontologische Grammatik‘. 453 del Valle Lattanzio: Die unendliche Frage des Poetik, S. 91. Ausdruck als einem Prozess der formgebenden Gestaltung im gleichen Sinn, den auch María Zambrano in den Waldlichtungen durch das „estilizar“ formuliert: „Todo método es un ‚Incipit vita nova‘ que pretende estilizarse.“ 450 Für den Dichter-Affen ist der Zugang zum utopischen Garten zunächst nur von seiner räumlichen Begrenzung aus zu beobachten. Er wird jedoch Realität durch den Akt des benennenden Gestaltens. Die Sprache als utopischer Garten ist nun übersichtlich, jedoch nicht taxonomisch geordnet; er ist voll lebendigen Sprechens. Jede Pflanze, jedes kalligrafische Zeichen hat seinen Platz auf dem Grund und innerhalb der Ummauerung des Gartens. Dieser gemeinsame Boden, der den unzusammenhängenden Dingen Zusammenhang verleiht, ist für Fou‐ cault Bedingung der ‚Utopie‘. Die ‚Heterotopien‘ aber, so Foucault, zerstören diesen gemeinsamen Raum ihres Zusammentreffens. Sie beunruhigen, weil sie heimlich die Sprache unterminieren: „weil sie die gemeinsamen Namen zerbre‐ chen oder sie verzahnen, weil sie im voraus die ‚Syntax‘ zerstören, und nicht nur die, die die Sätze konstruiert, sondern die weniger manifeste, die die Wörter und Sachen […] ‚zusammenhalten‘ läßt.“ 451 Die ‚Heterotopien‘ ließen die Wörter „in sich selbst verharren [und] bestreiten bereits in der Wurzel jede Möglichkeit von Grammatik“. 452 Die zerlegende grammatische Analyse entzieht den Wörtern mit der Einheit des Satzes den gemeinsamen Boden und den Ort ihres Zusam‐ mentreffens. Foucault stellt seine Überlegungen im Hinblick auf die berühmte chinesische Enzyklopädie aus dem Borges-Essay El lenguaje analítico de John Wilkins an. Er hat damit eine Problematik im Blick, die auch Paz für die Prosa/ ‚das Diskursive‘/ den rational-wissenschaftlichen Diskurs sieht und die zugleich zum festen Fragerepertoire des ‚Essayistischen‘ seit Montaigne gehört: die Frage, ob die Basis, aufgrund derer wir wissenschaftliche Klassifizierungen an‐ fertigen, nicht schlichtweg imaginär ist und die Welt aus ihrem Zusammenhang reißt. Das ‚Essayistische‘ hat durch seine poetische Triebkraft eine Tendenz, Systeme und Klassifizierungen abzulehnen oder als phantastische Konstruktion (Fiktion) infrage zu stellen, um die Frage nach einer ‚intensiveren Wahrheit‘ zu stellen. Weil es aber deren Vision zu rationalisieren versucht, ist es gezwungen, sich selbst des Diskursiven zu bedienen, was nicht nur zu Skepsis gegenüber den eigenen Aussagen führt: Das ‚Essayistische‘ muss auch einen Modus finden, sich „als Sprache selbst zu reflektieren“, 453 womit es wieder ins Feld der Poesie eintritt. Das ,Essayistische‘ vereint so Prosa und Poesie. Claire de Obaldia führt für das ‚Essayistische‘ Hegels Bildungsbegriff an, nach dem sich Philosophie und 256 III. Praxis 454 de Obaldia, S. 45. 455 Paz: MG, dt. S. 105, span. S. 111: „En los cuadros las cosas están, no pasan. Hablar y escribir, contar y pensar, es transcurrir, ir de un lado a otro: pasar. […] la pintura nos ofrece una visión, la literatura nos invita a buscarla y así traza un camino imaginario hacia ella.“ Kunst zu einem absoluten Wissen zusammenfügen. Es kommt zu einer sinnli‐ chen Präsentation des Geistes und einer Spiritualisierung der Sinne zu einem dialektischen Ganzen: „The essay offers just such an ideal, mediating form. Its hybrid, marginal position between philosophy and art […] is motivated by a search for wholeness intended to overcome the shortcomings of each mode of knowledge.“ 454 Doch im ‚Essayistischen‘ findet keine Synthese statt, bzw. sie bleibt bewusst versuchhaft. Auch kommt es nicht zu einer Vereinigung aller Gattungen im Sinne einer Universalpoesie. Im ‚Essayistischen‘ bleibt es immer bei einer spannungsvollen Polarität. Es mag eine Gleichzeitigkeit der Elemente in gegenseitiger Durchdringung beschreiben, doch bleiben die Teile als wider‐ streitende Elemente stets unterscheidbar; der Versuch ihrer Zusammenschau ist die Formulierung einer Aporie. El mono gramático ist ein essayistischer Text, nicht nur weil in ihm Poesie- und Prosaelemente eine Liaison eingehen, sondern vor allem weil die Brüche zwischen beiden so markant sind. Poesie und Prosa sind als innerer Dialog gestaltet, bei dem sich ein gewisser poetischer Grund‐ modus den Einwürfen der forschenden ‚ratio‘ stellen muss. Die Abwechslung von Bild und Text hebt dabei die Polarität zwischen revelatorischer Transzen‐ denz und tentativer Narration zusätzlich auf ein intermediales Niveau: „Auf Bil‐ dern sind die Dinge, sie geschehen nicht. Reden und Schreiben, Erzählen und Denken bedeutet Ablauf, von einem zum anderen gelangen: Geschehen. […] Die Malerei bietet uns eine Vision, die Literatur lädt uns ein, sie zu suchen, und so bahnt sie einen imaginären Weg darauf zu.“ 455 Schließlich ist die polare Spannung auch im Bild des Affen-Grammatikers selbst enthalten, ohne sich in einer Synthese aufzulösen. Octavio Paz erforscht sich hier selbst nicht nur als der Dichter-Affe, der die Einheit der Welt bewahrt, sondern auch als jenes andere Gesicht des Affen: als Philosoph, als Prosaist, als Grammatiker und Ironiker, der den Satz nicht zu Ende führen kann, ihn analy‐ siert, seine Glieder kommentiert. Nur im Vergessen des Weges und des Ziels löst sich der analytische Drang auf und ist der Eintritt in das Tempelareal möglich. Für Heidegger, auf den Paz hier deutlich genug anspielt, ist das Tempelareal Ort einer Offenbarung oder der Lichtung von Wahrheit: Es schafft eine Verbin‐ dung zwischen der ‚Erde‘ (als dem „bergenden Hervorkommen“) und dem ‚Himmel‘ (als der sich „öffnenden Offenheit“): Sein mächtiges ‚Dastehen‘ zeigt erst die Erde in ihrer Festigkeit. Und erst sein ‚sicheres Ragen‘ in den Sturm 257 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica 456 Vgl. Heidegger, S. 28. 457 Ebd., S. 27. 458 Ebd. 459 Ebd. 460 Zambrano: CB, dt. S. 10. 461 Paz: AL, S. 68 (e. Ü.): „Y el pensamiento, a medida que es lenguaje, sufre la misma fas‐ cinación. Dejar al pensamiento en libertad, divagar, es regresar al ritmo; las razones se transforman en correspondencias, los silogismos en analogias y la marcha intelectual en fluir de imágenes. Pero el prosista busca la coherencia y la claridad conceptual. Por eso se resiste a la corriente rítmica.“ hinein, das Aufleuchten seines Gesteins in der Sonne macht den unsichtbaren Raum der Luft sichtbar. 456 Der Tempel besitzt diese Kraft der Offenbarung aber nicht in seiner Eigenschaft als Bauwerk, sondern als Areal oder Bezirk; als ‚of‐ fene Stelle‘, in das hinein das Wahrheitsgeschehen steht: „Das Bauwerk um‐ schließt die Gestalt des Gottes und läßt sie in dieser Verbergung durch die offene Säulenhalle hinausstehen in den heiligen Bezirk.“ 457 Ohne den umgebenden Be‐ zirk, kann der Gott nicht ,an-wesen‘. Dieses ‚Anwesen‘ gibt dem Betrachter auch die Sicht auf sich selbst frei. Sie bleibt jedoch nur so lange offen, „als das Werk ein Werk ist, so lange der Gott nicht aus ihm geflohen“. 458 Galta ist ein Areal, das beide Perspektiven bietet. Die Palast- und Tempelanlage birgt in einer gran‐ diosen, offenen Architektur das Bild Hanumans und seiner Taten. Doch im Brö‐ ckeln und Bröseln zeigen sich auch die Abwesenheit des Gottes und die Un‐ wirklichkeit, die abblätternde Struktur des Werks. „Weltentzug und Weltzerfall sind nie mehr rückgängig zu machen. Die Werke sind nicht mehr die, die sie waren. Sie selbst sind es zwar, die uns da begegnen, aber sie selbst sind die Gewesenen.“ 459 Auch Zambrano bemüht das Bild der Lichtung als Tempel, der wirken soll, als hätte die Gottheit selbst ihn erbaut. Auch sie spielt in dieser Metapher auf Heidegger an, indem sie von der Grenze des Orts spricht, „den die Gottheit verlassen hat oder der sie ankündigte.“ 460 Was sich bei Zambrano noch als mög‐ liche Ankündigung und damit als Hoffnung auf ein Ende des Weltzerfalls zeigt, klingt bei Paz bereits deutlich ernüchtert: Aus den halb verschimmelten Wänden scheint die Rückkehr des Gottes fern. „Das Denken in Freiheit zu lassen, abschweifen [divagar], heißt, zum Rhythmus zurückkehren; die Vernunftgründe verwandeln sich in Korrespon‐ denzen, die Syllogismen in Analogien und das Marschieren des Intellekts in ein Fließen von Bildern. Aber der Prosaist sucht die begriffliche Kohärenz und Klarheit. Daher widersetzt er sich dem rhythmischen Strom.“ 461 Dennoch ist auch das Bild Galtas eines des ambivalenten Blicks. So ist die essayistische Stimme Pazʼ im mono gramático weder die des Dichters noch die des Philosophen 258 III. Praxis 462 Lukács, S. 32. 463 Vgl. ebd., S. 35. 464 Ebd., S. 33. und Prosaisten; sie ist gespalten, sie hinterfragt, versucht zu vermitteln und den Prozess der Sprachfindung zu ergründen. Sie ist geleitet von den Visionen der dichterischen Sprache und bemüht, die Bilder zu rationalisieren und als Gestal‐ tung einer Form zu reflektieren. Weil aber auch das rationale Denken sprachlich ist, zirkuliert noch durch die strengste Prosa ein Rhythmus, der sie immer wieder von ihrem linearen Weg fort und auf Umwege führt. Das Denken wird unbewusst, schweift ab in den Wald von Zeichen, in dem freie Assoziationen und Analogien gebildet werden, die zum Tempel der Offenbarungen führen. Damit vollführt Paz die essayisti‐ schen Bewegungen eines freien Schreibens, die im andauernden Irregehen (dar vueltas), Abschweifen, in Umwegen und im Rückweg (vuelta) bestehen. 2.7 Das ,Essayistische‘ als ,Textpraxis‘ 2.7.1 Das ‚Semiotische‘, das ‚Symbolische‘ und das ‚Thetische‘ Das komplexe Wechselspiel von Poesie und Prosa und ihr widerspruchsvolles Ineinandergreifen sind charakteristisch für das ‚Essayistische‘. In gleichem Sinn spricht auch Georg Lukács von der „Zweiheit der Ausdrucksmittel“ und zweier unterschiedlicher Prinzipien: „Das eine ist ein Bilder-Schaffendes, das andere ein Bedeutung-Setzendes; für das eine gibt es nur Dinge, für das andere nur deren Zusammenhänge, nur Begriffe und Werte.“ 462 Die Trennung von Bild (das Lukács wie Paz mit einem unmittelbaren Erlebnis von Wirklichkeit in Verbin‐ dung bringt) 463 und Bedeutung sei jedoch nichts als eine Abstraktion. Die Form des Essays zeichne sich durch eine gewisse Notwendigkeit der Ausgeglichenheit aus: „die Welt und das Jenseits, das Bild und die Transparenz, die Idee und die Emanation liegen in je einer Schale der Waage, die im Gleichgewicht bleiben soll“. 464 Um diese Gleichgewichtsbewegungen näher zu untersuchen, scheint eine Theorie vielversprechend, die nicht nur imstande ist, die beiden Aussage‐ prinzipien genauer zu beschreiben, sondern auch Aufschluss über mögliche Ge‐ setzmäßigkeiten ihrer Verknüpfung gibt. Darüber hinaus muss der Prozesscha‐ rakter essayistischer Wahrheitsfindung berücksichtigt und mit den sukzessiven Bewegungen des Schreibens selbst in Verbindung gebracht werden. Schließlich muss eine Theorie essayistisches Schreiben als Form der Konstitution und Prob‐ lematisierung des schreibenden Subjekts selbstreflexiv in den Blick nehmen. Eine solche Theorie stellt meiner Ansicht nach Julia Kristeva in ihrer Habilita‐ 259 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica 465 Suchsland, Inge: Julia Kristeva. Zur Einführung. Hamburg: Junius 1992, S. 66. 466 Ebd., S. 66. tionsschrift Die Revolution der poetischen Sprache (La révolution du langage po‐ êtique) vor. Kristeva operiert an der Nahtstelle von Psychoanalyse, Linguistik, Semiologie und einem erneuerten Strukturalismus, der sich auf die Erkenntnisse Lacans stützt und sie gleichzeitig in entscheidenden Punkten kritisiert und zu korrigieren versucht. Kristeva hält Lacan vor, sein Konzept des ‚Symbolischen‘ sei im Prinzip zu starr gedacht. Der mit dem Spiegelstadium begonnene Eintritt ins ‚Symbolische‘ muss bei Lacan alles ‚Vorsymbolische‘ verdrängen. Das Klein‐ kind muss seine Einheits- und Verschmelzungsphantasien mit dem mütterlichen Körper aufgeben, da die Mutter selbst von einem wesentlichen Mangel affiziert ist. Ihre Abwesenheit erklärt sich das Kleinkind damit, die Mutter müsse etwas suchen, was sie selbst nicht hat und was das Kind nicht ist. Zeichen dieses Man‐ gels ist nach Lacan der ‚Phallus‘: Als Zeichen des grundlegenden Mangels wird er zum ‚Ursignifikanten‘, dessen sich das Kind zu bemächtigen sucht, ohne seiner jemals habhaft zu werden. Die symbolische Ordnung ist ein Raum, in dem das Kind mit Ausgang aus dem Spiegelstadium sein Begehren auf immer weitere Ersatzobjekte richtet. Es ist Raum der Sprache, da das Kind sich über ihre Struktur, durch Artikulation, Kontrolle über diese Objekte verschafft, wie Freud in der Analyse des ‚Fort-da-Spiels‘ dargelegt hat. Die Nichtexistenz des ‚Phallus‘ macht ihn „zum Ursprung des Symbolischen und des Begehrens. Er ist als ‚Sig‐ nifikant ohne Signifikat‘ ein nicht vorhandener, lediglich imaginierter Zielpunkt des Begehrens, der sich gleich einer Fata Morgana immer entzieht und dadurch das Begehren nie zur Ruhe kommen läßt.“ 465 In Lacans Konzeption muss sich das ‚Symbolische‘ als geschlossene Struktur gegen alles außerhalb Liegende ab‐ grenzen. Der ‚Phallus‘ ist als ‚Ursignifikant‘ Garant für das Aufrechterhalten der grundlegenden Trennung vom Mütterlichen, das mit der Sehnsucht nach Auf‐ gabe der eigenen Konturen der Subjektivität durch Verschmelzung verbunden ist - aber auch mit Ängsten und Hass gegen diese Vereinnahmung. Wie Inge Suchsland schreibt, bildet der ‚Phallus‘ daher „das im Unendlichen liegende Gravitationszentrum des symbolischen Universums“. 466 Schwinde seine Anzie‐ hungskraft, drohe das Subjekt in ein präödipales Chaos zurückzustürzen. Stö‐ rungen aus dem ‚Vorsymbolischen‘, Präödipalen, müssen also unbedingt ver‐ mieden werden durch weitgehende Abschottung der Grenzen. Der ‚Phallus‘ als immer aufgeschobenes Zentrum des Begehrens sei das einzige Loch oder Nichts, das innerhalb des ‚Symbolischen‘ existieren dürfe. Denn ohne es könne keine Ökonomie des Begehrens aufrechterhalten werden. 260 III. Praxis 467 Ebd., S. 68. 468 Ebd., S. 74. 469 Kristeva, S. 36 (Hervorhebung durch die Autorin). 470 Suchsland, S. 76. Kristeva dagegen will gerade jenen ‚schwarzen Löchern‘ aus dem ‚Vorsym‐ bolischen‘ ihren Platz in der symbolischen Struktur zurückgeben, d. h. ihren Ort in einem niemals abgeschlossenen Konstitutionsprozess des Subjekts be‐ stimmen. Ihr Augenmerk liegt auf dem Einbezug dessen, was sich nicht in die geschlossene Subjektstruktur fügt - allerdings ohne die festen, einheitlichen Strukturen zu suspendieren. „Ihr geht es darum, Heterogenität zu denken, den Zwang zur Einheitlichkeit und Geschlossenheit aufzuheben, ohne in völliger Beliebigkeit zu versinken.“ 467 Kristeva ist um eine Dynamisierung des Lacanʼ‐ schen Konzepts bemüht, indem sie in ihre Überlegungen mit einbezieht, dass die Konstitution des Symbolischen auch von einer sich verändernden gesell‐ schaftlichen Ordnung abhängt; daher untersucht sie das ‚Symbolische‘ auch in diachroner Struktur. So unterliegen etwa auch Krankheitsbilder einem Wandel und hängen davon ab, wie sich eine Gesellschaft zu dem ihr Heterogenen posi‐ tioniert. Kristeva untersucht dynamische Prozesse der Sinngebung. Dabei sieht sie in jeder symbolischen Setzung lediglich einen Moment innerhalb dieses Pro‐ zesses; ihr steht eine Gegenkraft gegenüber, welche die „Formationen des Sinns“ 468 immer wieder in Unsinn auflöst. Diese Gegenkraft bezeichnet sie als das ‚Semiotische‘ oder auch als ‚semiotische chora‘. Sie ist Raum energetischer Ladungen und psychischer Energien: eine „ausdruckslose Totalität, die durch Triebe und deren Stasen in einer ebenso flüssigen wie geordneten Beweglichkeit geschaffen wird“. 469 Als Rhythmus gehe, so Kristeva, die ‚chora‘ jeder Evidenz, Wahrscheinlichkeit, Räumlichkeit und Zeitlichkeit voraus und laufe jedem Dis‐ kurs prinzipiell zuwider. In der Sphäre der ‚chora‘ zirkuliert ein rhythmisierter Strom von Wahrnehmungen, Trieben, Gefühlen und Bedürfnissen einer vor‐ sprachlichen Entwicklungsetappe, in der sich ein Körpergedächtnis heraus‐ bildet. Im Unterschied zu Lacan ist das ‚Symbolische‘ bezüglich dieses hetero‐ genen Raums grundsätzlich offen; die Grenze zwischen beiden ist als permeable Membran zu verstehen. Das ‚Symbolische‘ unterliegt daher beständigen Re‐ strukturierungen durch die Einflüsse des ‚Semiotischen‘; die Ordnung der Sprache bleibt rhythmischen, klanglichen und lautlichen Veränderungen un‐ terworfen, die ihre Setzungen immer wieder verwerfen, verändern, durchei‐ nanderwirbelen und so für ständige Erneuerung sorgen. An Lacan kritisiert Kristeva, dieser habe das körperliche Element des Begehrens fast vollständig zugunsten der Sprachlichkeit aufgegeben. Das Unbewusste sei „mehr als Sprache im Sinne eines in sich geschlossenen Systems von Differenzen“, 470 son‐ 261 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica 471 Kristeva, S. 38 (Hervorhebung durch die Autorin). 472 Ebd., S. 41. 473 Suchsland, S. 43. dern bewahre körperliche Erinnerungsspuren, die in jeder sprachlichen Äuße‐ rung mitschwängen und reaktiviert würden. Kristeva schreibt: „Die die semio‐ tische chora organisierenden Funktionen lassen sich, genetisch gesehen, nur im Lichte einer Theorie des Subjekts klären, die dieses nicht auf ein Verstandes‐ subjekt verkürzt, sondern in ihm auch den Schauplatz der vorsymbolischen Funktionen freilegt.“ 471 Das Semiotische sei eng an eine Subjekttheorie gekop‐ pelt, die Freuds Verständnis vom Unbewussten miteinbeziehe. Der sprachliche Sinngebungsprozess binde sich an den Subjektbildungsprozess, bei dem theti‐ sche Setzungen von Ego und Persönlichkeit durch präödipale Erinnerungen immer wieder verworfen würden und sich neu bildeten. „Dezentrierung des transzendentalen ego, das es spaltet und dem es damit eine Dialektik eröffnet, in der sein syntaktischer und kategorialer Verstand nur ein Moment des Pro‐ zesses darstellt, der seinerseits von der Beziehung zum Anderen gelenkt wird“. 472 Die Kritik an der Starrheit des Lacanʼschen Konzepts lässt zum Teil außer Acht, dass das Spiegelstadium auch nach dem Eintritt ins ‚Symbolische‘ nicht einfach verschwindet, sondern fortan dessen „Hinter- und Untergrund“ bildet. 473 Die Kritik orientiert sich eher an Lacans entwicklungspsychologischem Ansatz, lässt aber jene andere Verstehensweise tendenziell unberücksichtigt, nach der das Spiegelstadium als grundsätzliche Dialektik des menschlichen Bewusstseins erscheint und überhaupt nicht mehr an ein Stadium im Kleinkindalter gekoppelt ist. Da es bei Lacan selbst eine große Ambivalenz zwischen diesen Betrach‐ tungsansätzen gibt, halte ich die Theorien Kristevas und Lacans zum ‚Symboli‐ schen‘ für nicht so strikt voneinander unterschieden, wie es zunächst den An‐ schein haben mag. Ich sehe Kristevas Ansatz daher eher als ergänzende Sichtweise und Erweiterung der Diskussionsgrundlage denn als grundsätzlich gegenläufige Position. Ihre Stärke für eine Betrachtung des ‚Essayistischen‘ sehe ich darin, dass Kristeva einerseits das Einbeziehen des Heterogenen weniger als Störung auffasst und zum anderen einen stärkeren Fokus auf die Prozesse legt, welche der ‚Dezentrierung des Ich‘ zugrunde liegen und die bei jeder Sinnge‐ bung und Bewusstseinsbildung am Werk sind. Gerade im Hinblick auf El mono gramático ist außerdem eine Betrachtung von Elementen interessant, die noch vor dem Spiegelstadium angesiedelt sind und daher auch mit Lacans Begriff‐ lichkeiten nicht einzufangen sind: Das ist die rhythmisch-klangliche Dimension, die körperlichen, sinnlichen und erotischen Implikationen, die unterschwellig die Bahnungen von Bedeutung im Text ausprägen. 262 III. Praxis 474 Kristeva, S. 132 (Hervorhebung durch mich). 475 Ebd., S. 52 (Hervorhebungen durch die Autorin). 476 Vgl. ebd., S. 148. 477 Ebd. (Hervorhebungen durch die Autorin.) Kristeva unterscheidet das ‚Symbolische‘ und das ‚Semiotische‘ als zwei Mo‐ dalitäten des Prozesses der Sinngebung, die ineinandergreifen. Sie sind verwi‐ ckelt in einen ‚Subjektprozess‘, in welchem sich das ‚Symbolische‘ auf die punk‐ tuelle, aber durch die Eingriffe des ‚Semiotischen‘ labile Setzung eines Egos stützt. Es ist genau die Verbindung von Subjekt- und Sprachprozess, die einer Analyse des ‚Essayistischen‘ wertvolle Erkenntnisse liefert. Für Kristeva bedient sich das Subjekt der Sprache als einer Hieroglyphe, um deutlich zu machen, „daß es kein von jeher gesetztes und auf immer vom Triebprozeß losgelöstes Reales darstellt, sondern, daß es den objektiven Prozeß praktisch oder experimen‐ tell ,erprobt‘ [expériment ou pratique], indem es in ihn eintaucht und aus den Trieben hervor wiederauftaucht“. 474 Das, was Kristeva als ‚Textpraxis‘ (‚pratique du texte‘) bezeichnen wird, ist als Versuch (Essay oder Experiment) angelegt, mit dem das Subjekt eine körperliche Schrift seiner Selbst ,erprobt‘ und in den zwei Modalitäten der Sinngebung seine Thesen findet und verwirft. Dabei ver‐ orten sich im ‚Symbolischen‘ das Subjekt sowie festgelegter Sinn und denotative Funktion der Sprache. Das ‚Semiotische‘ unterspült mit seiner kinetischen Triebenergie die Setzungen. Dabei ist wichtig, dass Kristeva diese Sphäre frei schwebender Trieb- und Wahrnehmungsmoleküle keineswegs rein psychoana‐ lytisch, sondern vor allem auch ,grammatologisch‘ denkt, als eine Praxis rhyth‐ mischer, jedoch ausdrucksloser Verschiebungen, Strömungen und Markie‐ rungen: „Die Funktionsweise von Schrift, Spur, Gramm, die J. Derrida in seiner Kritik der Phänomenologie und ihrer linguistischen Surrogate dargelegt hat, steht für einen wesentlichen Aspekt dessen, worum es uns geht. Die Gramma‐ tologie spezifiziert das, was der Bedeutung entgeht. Wir bleiben dennoch bei dem Terminus des Semiotischen, um mit ihm die Funktionsweise zu bezeichnen, die der Herausbildung des Symbolischen und dessen Subjekt logisch wie chrono‐ logisch vorausgeht.“ 475 Derridas ,écriture‘ lasse sich als Metapher für eine Be‐ wegung deuten, die jeder Setzung ausweiche, um das fassbar zu machen, was von der logozentrischen Vernunft ausgeschlossen bleibe. Dabei aber, so Kristeva, entsage die Grammatologie dem Subjekt, seinen Möglichkeiten zum Lusterleben oder -abtöten und ziehe sich in eine absolute Neutralität zurück. 476 Zwar öffne die ‚differance‘ ein „Denken als Verzögerung in die Zukunft, […] als Möglich‐ keit“; 477 doch die Auflösung jeder mehr oder weniger stabilen Setzung und die damit verbundene Abkehr vom Logos hießen auch, in einem Bereich jenseits des Spiegels zu verbleiben und jegliche Identifizierungen zu verunmöglichen. 263 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica 478 Ebd., S. 149. 479 Suchsland, S. 92. 480 Kristeva, S. 150. 481 Ebd., S. 61 (Hervorhebungen durch die Autorin). Die Derridaʼsche ‚écriture‘ sei nützlich, um das „Werden der symbolischen Funk‐ tion als ‚Differänz‘ des Triebs gegenüber dem abwesenden Subjekt zu er‐ fassen“; 478 sie entspreche dabei aber dem Verbleib in der ‚Tiefe‘ (wie Zambrano das ‚Semiotische‘ bezeichnet) - in einem ausdruckslosen Ausdruck. Für Kristeva ist daher klar, dass Thesis notwendig und unverzichtbar ist. Ein Verbleib in der mütterlichen ‚chora‘ wäre ein Verharren zwischen „haßerfüllten Abgrenzungs‐ bestrebungen und der Angst, verlassen zu werden. Aus dieser Hölle quälender Ambivalenzen kann nur die symbolische Thesis, die das Subjekt als getrenntes setzt, befreien. Die archaische Mutter muß aufgegeben werden, damit die Bil‐ dung eines Ichs möglich wird.“ 479 Das ‚Thetische‘, das Kristeva als weiteren Be‐ griff neben dem ‚Symbolischen‘ und dem ‚Semiotischen‘ prägt, ist Schwelle zwischen diesen beiden Modalitäten. Es bedeutet einen Einschnitt in das oder Bruch in dem Kontinuum des rhythmischen Triebstroms und ist so für die He‐ rausbildung des Symbolischen unverzichtbar. Das ‚Thetische‘ sorgt für das not‐ wendige, wenn auch labile und provisorische Fortschreiten des sich herausbild‐ enden Subjekts aus dem semiotischen Raum der Möglichkeit hin zu seinen konkreten Identifizierungen. Das ‚Thetische‘ ist, was dem Kontinuum der ‚dif‐ férance‘ immer widerspricht „und in ihrer ‚Verräumlichung‘ Sprünge, Intervalle, abrupte Mutation und Brüche hervorruft“. 480 Das ‚Thetische‘ ist Schwelle zum Sprechen, da jedes Aussagen nach Kristeva bereits ‚thesis‘ ist, welche die Set‐ zung von Subjekt und Bedeutung einleite. Den Prozess aus wechselnden Semi‐ otisierungen und Symboli-sierungen, die durch das ‚Thetische‘ als permeabler Membran zwischen diesen Bereichen ermöglicht wird, nennt Kristeva ‚signifi‐ kante Praxis‘. „Als ob eine Praxis ohne das Thetische möglich wäre und als ob ein Text, um sich als solcher konstituieren zu können, nicht eine Endlichkeit erforderte, eine Strukturierung, eine Art Totalisierung der semiotischen Moti‐ lität! Die Tatsache, […] daß diese Thesis vom Semiotischen nur pulverisiert wird, um dann in einen neuen Apparat überführt zu werden, ist in unseren Augen genau das, was den Text als signifikante Praxis von dem neurotischen Diskurs unterscheidet.“ 481 Am mono gramático lässt sich die ‚signifikante Praxis‘ studieren. Der Text spielt mit der Möglichkeit eines semiotischen Raums, in dem es nie zur Fixierung von Begriffen kommt, die sich stattdessen in einer unendlichen Zahl an Analo‐ gien, Bedeutungs-bruchstücken und Anklängen verlieren. Gleichzeitig struktu‐ riert Paz diesen Raum durch ein Eingreifen des ‚Thetischen‘, etwa durch Selbst‐ 264 III. Praxis 482 Paz: MG dt. S. 24. 483 Paz: MG, dt. S. 32, span. S. 36: „montañas de cuento, ricas en fieras, ascetas y prodigios, frente a ellas cae y se levanta, se yergue y se humilla, montaña que se hace y deshace, un mar convulso, impotente e hirviente de monstruos y abominaciones (los dos ext‐ remos, irreconciliables como el agua y el fuego: la montaña pura y que esconde entre sus replieges los cominos de la liberación / el mar impuro y sin caminos; el espacio de la definición / el de la indefinición; la montaña y su oleaje petrificado: la perma‐ nencia / el mar y sus montañas: inestables: el movimiento y sus espejismos; la montaña al imagen del ser manifestación sensible del principio de identidad, inmóvil como una tautología / el mar que se contradice sin cesar, el mar crítico del ser y de sí mismo.“ auslegungen. Dadurch kommt Paz zu einer Reihe von Setzungen in Form denotativer Aussagen, wie z. B.: „Das Beharren gilt immer nur augenblicklich“, die bei Pazʼ Suche nach dem ‚ursprünglichen Wort‘ auftaucht und bei der das ‚Thetische‘ als Einschnitt oder Zäsur sogar im Text räumlich-grafisch durch die Auslassungspunkte markiert ist: „eine Metapher für das Beharren wie werden für entstehen, dies wieder eine Metapher für die Zeit in ihren unaufhörlichen Wandlungen … [sic] Es gibt keinen Anfang, es gibt kein ursprüngliches Wort“ 482 . Die Ellipse markiert die Einleitung denotativer Setzung. An anderer Stelle ist die Schwelle zum Symbolischen durch Klammern abgegrenzt; etwa wenn Paz in die Beschreibung der rätselhaften Abbildungen auf einem Wand‐ gemälde, Erklärung und Kommentar fügt. Märchenberge, reich an wilden Tieren, Asketen und Wundern, vor ihnen stürzt und erhebt sich, reckt und duckt sich ein Gebirge, geschaffen und wieder vergangen, ein wogendes Meer, ohnmächtig und brodelnd von Ungeheuern und Greueln (die beiden Extreme, unversöhnlich wie Wasser und Feuer: Gebirge, rein, befreiende Wege in seinen Falten verbergend / das Meer unrein und weglos; der Raum der Bestimmt‐ heit / der der Unbestimmtheit […] Meer als Kritik des Seins und seiner selbst) 483 Durch den Kommentar führt Paz - und hier lässt sich erneut eine Figur der Performativität erkennen - Inhalte aus dem Unbestimmten, Semiotischen einer Identifikation im Symbolischen zu, als Bewegungen einer ‚Textpraxis‘. Kristeva unterscheidet vier Typen der Sinngebung oder ‚signifikanter Praxis‘: Erzählung, Metasprache, Kontemplation und Text. Um an dieser Stelle nicht detailreich auf die ersten drei genannten einzugehen, soll hier der Hinweis genügen, dass sie sich im Wesentlichen darin unterscheiden, welche Stellung das ‚Semiotische‘ in ihnen einnimmt. So ordnet die Erzählung das Semiotische den Sinnzusammen‐ hängen unter; ihre Subjekte erscheinen als Prozess einer ‚Selbstverwirklichung‘ und Ziel einer Handlung, während etwa die Metasprache dem Diskurs der Wis‐ senschaft entspricht, der gänzlich im Denotativen verharren will. Das Subjekt verschwindet vollkommen. Die Kontemplation hingegen zerlegt die Setzungen, 265 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica 484 Suchsland, S. 101. 485 Kristeva, S. 111. 486 Ebd. 487 Paz: MG, dt. S. 116, span. S. 125: „El cuerpo que abrazamos es un río de metamorfosis, una contínua división, un fluir de visiones, cuerpo descuartizado cuyos pedazos se es‐ parcen, se diseminan, se congregan en una intensidad de relámpago.“ aber nur spielerisch abstrakt, wie etwa die Dekonstruktion. ‚Textpraxis‘ ist nach Kristeva eine Art der Sinngebung, die in der 2. Hälfte des 19. Jh. aufkommt und tendenziell eine gattungssprengende Funktion in sich trägt - eine Funktion, die gerade für die Betrachtung des ‚Essayistischen‘ bedeutsam erscheint. Inge Such‐ sland beschreibt die Textpraxis folgendermaßen: Es geht hier um eine Literatur, die nicht vorgibt, Gefühle auszudrücken, Erkenntnisse oder Überzeugungen vermitteln zu wollen oder ,äußere Realität‘ abzubilden, kurz: um eine Literatur, die nichts mitteilen will. Der Text […] unterminiert im Gegenteil gerade die Vorstellung, Sprache sei ein Medium, dessen sich ein Subjekt bedienen könne, um seine Gefühle oder Ansichten auszudrücken oder um irgendeine Botschaft oder einen Sinn zu übermitteln. Der Text macht deutlich, daß umgekehrt Subjekt und Sinn sich durch sprachliche Strukturen überhaupt erst konstituieren. 484 Der Text legt Sinn und Subjekt als Produkte eines Prozesses offen, der sie immer wieder infrage stellt, bzw. besteht der ,Text‘ in einem ständigen ‚Hinaus‐ gehen-über‘ sämtliche seiner festen Positionen, um danach zu suchen, was im ‚Symbolischen‘ verschwiegen bleibt. Der Text ist Exzess. Dabei legt er das Au‐ genmerk auf den Prozess der Sinngebung, das heißt, er legt die semiotischen Bewegungen der ‚chora‘ offen. Der Sinn entblößt seine Eingeweide und seine Geschichte als gewachsenes, veränderliches Gebilde. Text ist ein demaskier‐ ender Blick hinter die Fassade der Repräsentation. Inge Suchsland hebt dabei die zeichensprengende Kraft dieses Verfahrens hervor, die sich aber nicht in einem dekonstruktiven Impuls erschöpfe, sondern immer eine Sicht auf die ,Re-konstruktion‘ bewahre. So müsse derjenige, der eine solche Praxis er‐ schließen wolle, „in das Zeichen eindringen, es auflösen“. 485 Zeichen und Re‐ präsentation müssten zerstört werden, die (sinnstiftende) Erzählung ausei‐ nander-gerissen: „Doch um dahin zu gelangen, muß der Text sich in sie einschleichen, um sie schließlich im stürmischen Rhythmus alternierenden Ver‐ werfens und Einrichtens zerspringen zu lassen.“ 486 Dabei müsse auch das Subjekt seine Metaposition aufgeben und sich dem Text unterwerfen. Der Körper, schreibt Paz, „ist ein Strom von Verwandlungen, fortgesetzte Teilung, ein Fließen von Visionen, zerstückelter Körper, dessen Teile sich ver‐ lieren, sich aussäen, sich wieder Sammeln in der Intensität eines Blitzes“. 487 266 III. Praxis 488 Ebd., dt. S. 114, span. S. 122: „En el camino de Galta siempre recomenzado, insensible‐ mente y sin que me lo propusiera, a medida que lo andaba y lo desandaba, se fue const‐ ruyendo este ahora de la terraza.“ 489 Suchsland, S. 97. Verwerfen und (neu) Einrichten sind dabei auch Grundprinzipien des ,Essayis‐ tischen‘. Die Erschütterungen und Neuanordnungen festgefügten Sinns und der Thesen des Selbst durch eine ,Textpraxis‘ entspricht seinem operativen Muster. Wenn Paz am Ende von El mono gramático über den Prozess des Schreibens reflektiert, spricht er daher in der Metapher des Wegs nicht nur vom Sich-Ver‐ lieren in den Bergpfaden von Galta, sondern auch von der Notwendigkeit des Neu-Ansetzens, durch dessen rhythmisches Hin- und Hergeworfensein die In‐ tensität der Realität spürbar werde: „Auf dem immer wieder neu begonnenen Weg von Galta hat sich, unmerklich und ohne daß ich es mir vorgenommen hätte, indem ich ihn wanderte und zurückwanderte, dieses Jetzt der Terrasse gebildet.“ 488 Der Weg führt zum Jetzt der Lichtungen, aber von dort aus müssen auch immer wieder die Rückwege gefunden werden. Pazʼ Bild der Lichtung ist düs‐ terer als das Zambranos. Wo Zambrano Lichtungen des visionär erahnbaren ‚Realen‘ erkennt und eher im Sinne einer Aufrechterhaltung kommunikativer Sprache davor warnt, der Diskurs dürfe nicht nur in dieser ‚Tiefe‘ verharren, legt Paz sein Augenmerk auf die psychisch malignen Auswirkungen eines sol‐ chen Verharrens. Pazʼ Kommentar des Gemäldes von Richard Dadd ist keine Beschreibung einer von ferne ersehnten Lichtung, sondern bösartiger Spuk. In der Lichtung des schwer psychotischen Malers blitzt auf, was geschieht, sollte dem Subjekt die ‚Thesis‘ nicht mehr gelingen: Für die Setzung und Aufrechter‐ haltung eigener Subjektivität ist eine Reihe von Trennungen notwendig, die mit der des Eigenen gegen den Mutterkörper und den Mutterwillen beginnt. Damit einher geht allerdings auch ein Trennungsschmerz, der die Verschmelzungs- und Auflösungssehnsucht niemals ganz verstummen lässt. „Wenn die Thesis dem nicht standzuhalten vermag, droht das Abrutschen in die Psychose.“ 489 In der Psychose bleiben alle Prozesse im Vorsymbolischen eingeschlossen. Sie ist Verlust der Fähigkeit zu symbolisieren und gründet auf einer Unfähigkeit, po‐ lare, differenzierende Unterscheidungen vorzunehmen. Kristeva schreibt: Folgt der subjektive Prozeß nur den Kraftlinien der fließenden, heterogenen, doch semiotisierbaren chora, in welcher der Sinngebungsprozeß Stasen verwirft, so kann es geschehen, daß er mit dem Mechanismus dieser Funktion, ihrer ‚Art‘ von Wieder‐ 267 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica 490 Kristeva, S. 184. 491 Paz: MG, dt. S. 81, span. S. 85: „volvemos al todo y así regresamos a nuestro lugar. Fin del exilio. Liberación abre otra perspectiva: ruptura de los vínculos y ligamentos, so‐ beranía del albedrío. Conciliación es dependencia, sujeción; liberación es autosufi‐ ciencia […] estar separado no es estar escindido: es ser uno mismo. Con todos, estoy desterrado de mi mismo.“ 492 Ebd., span S. 132. 493 Barthes: Die Lust am Text, S. 74 (Hervorhebungen durch den Autor). 494 Alle Zitate ebd., S. 74. holung zusammenfällt; ohne Innen / Außen, ohne Subjekt / Objekt, nichts als verwer‐ fende Bewegung. 490 Dies könne auf eine endgültige Verwerfung (forclusion) des ‚Thetischen‘ an sich hinauslaufen. Die Folge seien Verlust von Heterogenität und Einschluss im Phantasma der Identifikation mit dem weiblichen, d. h. mütterlichen Körper. Den erotischen Verschmelzungsphantasien in El mono gramático ist daher eine Meditation eingeschrieben über das dichotomische Verhältnis von ‚Versöhnung‘ (reconciliación) und ihrem Geschwister und Gegenspieler, der ‚Befreiung‘ (li‐ beración): In der ‚Versöhnung‘ erscheint Trennung als Verirrung und Verfeh‐ lung. Sie eint, was verstreut war; die Verschmelzung mit dem Ganzen verbannt jedoch auch das Ich aus sich selbst: wir kehren zum Ganzen zurück und gelangen so wieder an unseren Platz. Ende der Verbannung. Befreiung schafft eine andere Perspektive: Sprengung der Fesseln und Bande, Herrschaft des freien Willens. Versöhnung bedeutet Abhängigkeit, Unterwer‐ fung; Befreiung heißt Selbstgenügsamkeit, […] getrennt sein heißt nicht gespalten sein: es heißt man selbst sein: Mit allen bin ich verbannt aus mir selber. 491 Das Subjekt in seiner Sehnsucht nach ‚Versöhnung‘ mit der mütterlichen Ur‐ substanz heißt, psychoanalytisch gesprochen, ‚Todestrieb‘. Paz spricht in El mono gramático von der Litaneien aufsagenden Menge der Pilger als mütter‐ lichem Ozean - „océano materno“. 492 Roland Barthes hatte diesen Ozean ganz ähnlich wie Paz als arabeskes Gewimmel chaotischer Stimmen beschrieben, die das eigene ‚Ich‘ integrieren. Das ‚innere Reden‘ lässt das ‚Ich‘ einem Suk glei‐ chen, an dem sich Sätze zu bilden beginnen, die sich niemals ganz artikulieren: „Wörter, kleine Syntagmen, Fetzen von Formlierungen tauchten auf in mir, und kein Satz bildete sich.“ 493 Das „wilde Reden“ bildet einen Fluss, ein „endgültiges Diskontinuum“, einen „Nicht-Satz“. 494 Dagegen steht der Wunsch nach Struk‐ turierung und Abgrenzung durch eine Syntax und Grammatik im abgeschlos‐ senen Satz. Kristeva sieht den Eintritt ins ‚Symbolische‘ als Befreiung: Aus der „Hölle quälender Ambivalenzen kann nur die symbolische Thesis, die das Sub‐ 268 III. Praxis 495 Suchsland, S. 92. 496 In diesem Fall tatsächlich symbolisiert durch das männliche Glied. 497 Vgl. Paz: MG, dt. S. 60. 498 Ebd., dt. S. 132, span. S. 140. „Esplendor es esta página, aquello que separa (libera) y entreteje (reconcilia) las diferentes partes que la componen.“ 499 Ebd., dt. S. 131, span. S. 139: „El cuerpo de Esplendor al repartirse, dispersarse, disiparse en mi cuerpo al repartirse, dispersarse, disiparse en el cuerpo de Esplendor.“ 500 Kristeva, S. 184. 501 Ebd., S. 59. jekt als getrenntes setzt, befreien“. 495 Doch der semiotisierende Körper und das symbolisierende Subjekt umschlingen und durchdringen sich in der Textpraxis, wie etwa in Pazʼ Darstellung der Fellatioszene Esplendors: Der ‚Phallus‘ 496 als Garant der symbolischen Ordnung stößt zwischen die Brüste Esplendors hin‐ durch, durchtrennt den Raum des Semiotisch-Weiblichen, bevor er seinerseits wieder vom weiblichen Mund umschlossen wird 497 - sexualisierte Darstellung einer ‚Textpraxis‘ als sinnlicher Körperschrift und Selbstpraxis, die sich im Wechsel von Triebhaft-Semiotischem und Rational-Symbolischem schreibt. Der Text ist Esplendor; das Schreiben ist poetische Semiotisierung und diskursive Symbolisierung. So schreibt Paz ganz am Ende von El mono gramático: „Es‐ plendor ist diese Seite, das, was die verschiedenen Teile trennt (befreit) und verwebt (versöhnt), aus denen sie besteht.“ 498 Das schreibende Subjekt vereinigt sich mit dieser Praxis, die damit zur Selbstpraxis wird: „Der Körper Esplendors verteilt sich, verstreut sich und vergeht in meinem Körper, der sich verteilt, sich verstreut und im Körper Esplendors vergeht.“ 499 Dabei darf die Hingabe an die Verstreuung im semiotischen Fluidum niemals absolut sein: Was Montaigne die Monstrosität seines Ich nennt, dessen viel‐ schichtige Verschiebungen ins Ungestalte, mündet in der essayistischen Schrift seiner selbst immer wieder auch in provisorische Fixierungen. Der Experiment‐ charakter des Selbstversuchs darf in der Lust des Verwerfens nicht absolut werden. Kristeva schreibt: „Die Verwerfung der thetischen Phase und der Sub‐ jektpräsentation […] leitet entweder den Wahnsinn ein oder ein ausschließlich experimentelles, gar ornamentelles Verhalten im Sinne einer mystischen ‚in‐ neren Erfahrung‘.“ 500 Dies sind die unterschiedlichen Gefahren, die auch Paz und Zambrano in der Lichtung entdecken: entweder die Psychose oder eine Erfah‐ rung, die in der Tiefe reiner Innerlichkeit verbleibt. Kristeva macht daher darauf aufmerksam, „dass das Subjekt eine solide Position erlangt haben muss, wenn die Triebangriffe gegen das Thetische nicht im Phantasma oder in der Psychose dahindämmern, sondern einem ‚Thetischen zweiten Grades‛, d. h. einer Wie‐ deraufnahme der semiotischen chora im Apparat der Sprache stattgeben sollen“. 501 Jenes ‚Thetische zweiten Grades‘ sieht Kristeva in verschiedenen 269 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica 502 Suchsland, S. 51. 503 Kristeva, S. 109. 504 Hahn, S. 135. 505 Ebd. 506 Vgl. Teuber, Bernhard: Acerca de confesión y de contemplación. La escritura autobiográ‐ fica de Santa Teresa de Jesús considerada como estética de la existencia mística. In: Arn‐ scheidt, Gero / Tour, Pere Joan: 'Una de las dos Españas …'. Representaciones de un conflicto identitario en la historia y en las literaturas hispánicas. Madrid: Iberoamericana / Frank‐ Formen moderner Kunst, vor allem aber in der poetischen Sprache verwirklicht. Das bedeutet aber auch, dass der Dichter selbst von einer Position des ‚Symbo‐ lischen‘ aus sprechen muss, um sich in den Überschreitungen ins ‚Semiotische‘ nicht aufzulösen. Auch diese Art der Subjektkonstruktion entspricht der ‚Es‐ sayistischen‘, insofern der Essayist sich in einem Universum kultureller Zeichen fest verankert zeigen muss, um es von dieser Position aus zu hinterfragen und zu kritisieren. Die Freiheit, sich über das ‚Symbolische‘ hinwegzusetzen, erfor‐ dert die Bewusstmachung dessen, worüber man sich hinwegsetzen will. Sinngebung, die sich auf die Syntax des Gesetzes des ‚Symbolischen‘ be‐ schränkt, gerät zur starren Tautologie. Dies ist genau der Vorwurf Kristevas an Lacan: Für ihn sagten alle literarischen Texte das Gleiche - alle seien immer neu vorgetragene Versionen des Ödipusmythos, von der Sehnsucht nach dem Tod durch Verschmelzung mit der archaischen Mutter. Es gibt nichts wesentlich Neues in der Sprache zu entdecken. „Aus der Rede des Gegenübers schallt als Echo die Rede des eigenen Unbewußten.“ 502 In einer ‚Textpraxis‘ geht es hin‐ gegen um die Möglichkeit, sich der verändernden Kraft des Semiotischen be‐ wusst zu werden, um das Denken aus den eingespielten Systemen herauszu‐ führen. Auf diese Weise konfrontiert sich die Praxis den Sinneinheiten, die unter die Gesetze fallen, und den Gesetzen, die Sinneinheiten zu denken imstande sind; doch hält sie sich nicht bei / mit ihnen auf, hypostasiert sie nicht, sondern geht über sie hinaus, stellt sie infrage, verändert sie. Subjekt und Sinn sind für sie nur Momente: sie verweigert sich weder der Erzählung noch der Metasprache, noch der Theorie; sie macht sich alle zu eigen und schiebt sie dann beiseite. 503 Ein Subjekt, das sich mittels der „Verlagerung der Selbstkonstitution in die ly‐ rische Verlaufsgestalt“ 504 mit seinen Setzungen konfrontiert, fördert durch die ständigen Überschreitungen stets neue Versionen des Selbst zutage. Das Subjekt verschwindet nicht in den Verschiebungsbewegungen der Sprache und den syntaktisch-grammatikalischen Auflösungstendenzen, noch erhält es seine ab‐ solute Autonomie als „Erkenntnismonopol“ 505 zurück; vielmehr entsteht es in sich wandelnder Gestalt stets durch die psycho- und ethopoetischen 506 Selbst- 270 III. Praxis furt a. M.: Vervuert 2007, 859-881. S. 864. Wie Bernhard Teuber beobachtet, besitzt die ethopoetische Funktion der Selbstsorge auch einen psychopoetischen Aspekt („verti‐ ente psicopoética“). 507 Paz: MG, dt. S. 129. 508 Kristeva, S. 109. 509 Vgl. ebd., S. 110. 510 Ebd., S. 176. und Wissensentwürfe neu. Das ‚Essayistische‘ als Modus der Sinngebung und als Textprozess spielt sich eben nicht nur in einer Sphäre rein ideeller Welter‐ klärungsphantasmen ab; es ist zurückgebunden an eine sinnlich-körperliche Dimension, die sich als Impulsivität äußert: Plötzliche Gedankensprünge, wilde Assoziationen und unwahrscheinliche Themenverknüpfungen entstehen di‐ rekt, psychoanalytisch gesprochen, aus den ‚vorsymbolischen Triebbahnungen‘, welche jede Selbst- und Sinnsystematik immer wieder zertrümmert und ein Denken jenseits der gespurten Wege erzwingt. Diese Dynamik zwingt auch Paz beim Schreiben von El mono gramático in eine „Spirale von Wiederholungen und Neuansätzen“. 507 Der menschliche Körper, schreibt Kristeva, ist von dieser Dynamik erfasst; er stellt keine Einheit mehr dar, sondern „eine vielfältige To‐ talität mit identitätslosen, distinkten Gliedern“, die jedoch partiell mit Sinn auf‐ geladen werden können (Kristeva spricht vom „Ort der Triebrealisierung“). 508 Doch aus dem destruktiven Prozess werde eine Praxis aus Kombinationen, Ein‐ fügung, Abtrennung, Einbeziehung und Ergänzung. 509 Die ständige Offenheit gegenüber dem Heterogenen erschafft ein resilientes Subjekt, das nicht nur das ‚Andere‘ in seine Existenz zu integrieren fähig ist, sondern durch eine gewisse ‚Biegsamkeit‘ oder Wandelbarkeit auch den Angriffen des ‚Anderen‘ nicht mehr schutzlos ausgeliefert ist. In diesem Sinn hatte Zambrano davon gesprochen, man müsse die Leere in sich schaffen, um nicht von der Leere verschlungen zu werden. Kristeva schreibt über das Subjekt der Textpraxis von der „Herausbildung einer wesentlichen, wenn auch provisorischen Einheit, die wieder zerbricht“, die eine „Logik der Erneuerung“ bildet. 510 Dies ist das essayistische Subjekt, das sein ‚Ego‘ schreibend dekonstruiert, um sich als Subjekt der Kombination, Ab‐ trennungen, Einfügungen und Ergänzungen immer wieder neu zu erproben. Die Ursprünge in einer ‚écriture de soi‘ innerhalb einer ‚Sorge um sich‘ sind evident: Bei Seneca sind Lesen und (über das Gelesene) Schreiben Mittel zur Erlangung der inneren Freiheit und zur Konstitution des Subjekts; der Umgang mit dem Textkörper gestaltet auch den psychischen: Wir dürfen weder nur schreiben, noch nur lesen: das eine wird die Kräfte verzehren und erschöpfen, […] das andere sie auflösen und verströmen lassen. Im Wechsel muss 271 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica 511 Seneca, 84, 2. „Nec scribere tantum nec tantum legere debemus: altera res contristabit vires et exhauriet, de stilo dico, altera soluet ac diluet. Invicem hoc et illo commeandum est et alterum altero temperandum, ut quicquid lectione collectum est, stilus redigat in corpus.“ 512 Teuber: Figuratio impotentiae, S. 112. 513 Ebd., S. 112 f. 514 Ebd., S. 113. 515 Paz: MG, dt. S. 125. Das Kapitel fehlt in der spanischen Ausgabe. man sich hierhin und dorthin begeben und das eine mit dem anderen im rechten Verhältnis mischen, damit die Schriftstellerei, was immer man bei der Lektüre zu‐ sammengelesen hat, in ein Ganzes [corpus] einbringe. 511 Der aus Lektüre und ,écriture‘ gewachsene Körper ist ein zentrales Vorstel‐ lungsbild für das ‚Essayistische‘; doch integriert sich hier der Korpus nie zum Ganzen: Lesen und Schreiben zeitigen die Erfahrung der Monstrosität, der „De‐ konstitution“, 512 und verweisen auf die „Ambivalenz von Ermächtigung und Entmächtigung des Subjekts“. 513 Das essayistische Subjekt ist nicht mehr die innere Zitadelle Senecas, in der das Selbst gegen alle Erschütterungen gefeit ist; vielmehr geht es nun um ein Selbst, das sich seinen inneren Erschütterungen und dem ‚inneren Polylog‘ aussetzt und sich dabei immer wieder gefahrvoll aufs Spiel setzt. Wie Bernhard Teuber schreibt, ist daher Montaignes Turm nicht mehr der Ort wahrer essayistischer Schreibarbeit, wohin sich das schreibende Subjekt vor den Anfeindungen der Macht zurückgezogen hat, „sondern die ‚écriture de soi‘ würde ihrerseits zum Heterotop, zu einer Arena, darin sich das Subjekt den Anwürfen dieser Macht aussetzt“. 514 In diesem Sinne schreibt auch Paz: Das Werk läuft dem Gewohnten zuwider, weil der Zusammenhang, der seine Form ist, uns etwas Zusammenhangloses entdeckt: unsere eigene Zusammenhanglosig‐ keit […]. Der Dichter ist sein eigener Leser: der Leser, der in dem, was er schreibt, die Gegenwart des Nicht-Gesagten entdeckt, die Abwesenheit des Sprechens, das alles Sprechen ist. […] Ich leide auch an Irrealität. 515 Dieses immer irreale und brüchige Subjekt konstituiert sich im rhythmischen Takt von versöhnender Textur und befreiender Thesis. 2.7.2 In der Tiefe der Sprache: Monstrologie des Semiotischen Julia Kristevas Begriffe des ‚Semiotischen‘ und ‚Symbolischen‘ lassen sich auf die von Octavio Paz vorgenommene Unterscheidung von Poesie (semiotisch) und Prosa (symbolisch) übertragen. Dabei lässt sich diese Unterscheidung für Paz nur theoretisch treffen. Beide Pole greifen in der Praxis ineinander, es ent‐ 272 III. Praxis 516 Ebd., dt. S. 127, span. S. 136: „La perspectiva simultánea no contempla al lenguaje como un camino porque no la orienta la búsqueda del sentido. La poesía no quiere saber qué hay al fin del camino.“ 517 Vgl. ebd., dt. S. 132, span. S. 140: „mirada pozo para beber, mirada en donde yo escribo la palabra reconciliación.“ 518 Kristeva, S. 94 f (Hervorhebung durch die Autorin). stehen Schnittmengen: Denn da die Prosa sprachlich ist, durchzieht sie die Rhythmik, und ohne eine Dosis Prosa gäbe es nach Paz kein Gedicht, weil die reine Poesie ihren Sinn (sentido) nur als Richtung (dirección) ausdrücke, die ihre Rhythmik vorgibt. Paz bezeichnet die Poesie als einen bestimmten Blick, eine „Perspektive“: „Die simultane Betrachtungsweise [perspectiva] sieht die Sprache nicht als Weg, weil sie sich nicht an der Suche nach dem Sinn orientiert. Poesie will nicht wissen, was es am Ende des Weges gibt.“ 516 Obwohl der Garten oder der Tempel der reinen Poesie selbst utopisch, sein Zugang chimärisch ist und von der Prosa gewissermaßen ‚verunreinigt‘, bewahrt Paz doch ihre ver‐ söhnende Perspektive in El mono gramático: Am Ende des Buches entfernt sich Esplendor, das Gedicht, und wirft Paz noch einen Blick mit dem Versprechen der Versöhnung zu. Wie in Pasado en claro bemüht Paz auch hier den Brunnen als Bild der vordenklichen Einheit. Der Blick Esplendors ist „pozo para beber“. 517 Zur Perspektive der Poesie gehören die bereits angesprochenen Analogien. Aber worauf gründen sie eigentlich, was begründet die Ähnlichkeiten? Bei ge‐ nauer Untersuchung des Texts fällt auf, dass ihn eine sprachliche Tiefenebene, eine Art von Unbewusstem der Sprache durchzieht, die noch vor dem poetischen Ausdruck ist und die die Analogien einer ‚redenden Sprache‘ und einer ‚onto‐ logischen Grammatik‘ allererst bewirkt. Diese Tiefenebene ließe sich mit Kris‐ teva als ‚Genotext‘ in Abgrenzung zum ‚Phänotext‘ ansprechen. Der ‚Genotext‘, so Kristeva, umschließt die triebhaften semiotischen Vorgänge, ist aber auch Geburtsstätte des ‚Symbolischen‘, in dem Subjekt und Objekt getrennt werden, sich Sinnkerne konstituieren und Semantik und kategorielles Denken etab‐ lieren. Mit ‚Genotext‘ bezeichnet Kristeva also das Vorsprachliche, das sich noch in der Sprache zu erkennen gibt. Kristeva schreibt: Wollte man in einem Text den Genotext bloßlegen, so müßte man die Energieschübe der Triebe freilegen, wie sie sich beobachten lassen im phonematischen Apparat (Phonemhäufung und -wiederholung, in Reim etc.) und melodischen Apparat (Into‐ nation, Rhythmus etc.), aber auch in der Anlage der semantischen und kategoriellen Felder, wie sie sich in syntaktischen und logischen Feldern oder in der Ökonomie der Mimesis (Phantasma, Aufschub der Denotation, Erzählung etc.) zu erkennen gibt. 518 273 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica 519 Varenne, Jean: Le Tantrisme. Mythes, rites, métaphysique. Paris: Albin Michel 1997, S. 186. 520 Vgl. Ebd., S. 212. 521 Ebd., S. 190. 522 Ebd., S. 49. 523 Ebd., S. 49. 524 Ebd., S. 51. Ebenso wie bei Paz die Poesie als sprachlicher Grundmodus erscheint, ist der ‚Genotext‘ bei Kristeva die Grundlage der kommunikativen Sprache des ‚Phä‐ notexts‘, der bereits ein sprechendes Subjekt erfordert. Wer nun El mono gra‐ mático unter Gesichtspunkten des ‚Genotexts‘ untersucht, stößt darauf, dass die den Text integrierenden Metaphern keine willkürlich gewählten Bilder sind, sondern rhythmisch-phonematischen Aktivitäten und Affinitäten entspringen. Sie entzünden sich an ähnlich lautenden Silben, ja an einer ganzen Reihe von Paronymen. Den ähnlichen Klang bewirken Laute, Silben, einzelne Buchstaben, die sich wie Moleküle aneinanderbinden oder sich abstoßen und dabei neue Bindungen eingehen. Die genotextuelle Ebene ist durchzogen von einer linguistischen Erotik, die weit ausgefeilter ist als die einer Kopulation von Buchstaben in einem pitto‐ resken ‚les mots font l‛amour‛: Paz verfasst den mono gramático vor dem Hin‐ tergrund profunder Kenntnisse hinduistischer und tantrischer Schriften, die eine eigene Sprachphilosophie bergen. Nach dem französischen Indologen Jean Varenne ist die spirituelle Vollendung im Tantrismus (‚sâdhana‘) nur auf drei Ebenen zu erreichen, die als Einheit nicht voneinander getrennt werden können: die rein gedankliche in der Meditation, die körperliche Geste und die sprachliche Artikulation. 519 Es sind also alle Vermögen des Menschen am religiösen Akt be‐ teiligt gemäß der ganzheitlich triadischen Vorstellung vom menschlichen Wesen aus Körper, Seele (‚âtman‘) und einem Verbindungsstück, das ‚buddhi‘ genannt wird und in etwa die intellektuelle Funktion darstellt. 520 Diese Funktion hat eine sprachliche Dimension; dem Wort kommt eine ganz besondere Bedeutung zu: Den Tantrikern gilt es als kosmische Energie (‚shakti‘) mit dem Namen ‚Vâch‘, deren erste Bedeutung ‚Stimme‘ ist. 521 Die Göttin Vâch, die laut Varenne stark an Athene erinnert, ist eine übergeordnete Macht; denn die übrigen Götter existieren nur, wenn sie durch ihre Gnade genannt werden. 522 Auch ist Vâch für die Offenbarung der heiligen Lehre (‚Veda‘) an die Menschen verantwortlich; „la parole révéle, la parole rendue accessible aux hommes.“ 523 In diesem Sinn ist die sprachliche Überlieferung der Lehre auch vor‐ zustellen als erotische Vereinigung, in der Vâch dem gelehrten Dichter ihre be‐ sondere Gunst gewährt. 524 Das Motiv im mono gramático, nach dem das 274 III. Praxis 525 Lafaye, S. 43. 526 Vgl. Wilson, S. 116. 527 Varenne, S. 230. 528 Vgl. Feustle, S. 79. Dichter-Ich sich mit dem als weiblich konnotierten Text vereinigt ist mögli‐ cherweise daran angelehnt. Octavio Paz kennt die indischen Mythologien und der mono gramático gilt, wie Jacques Lafaye berichtet, Indianisten gar als Refe‐ renztext. 525 Der Text müsste unter dem Aspekt tantrischer Metaphysik und Er‐ kenntnistheorie einmal gesondert untersucht werden. An dieser Stelle möchte ich nur auf die große Bedeutung dieses Bezugs aufmerksam machen. Der Weg zur Einheit führt im Tantrismus nur über die Vereinigung des Männlichen und des Weiblichen, die der ‚linkshändige Weg‘ in engem rituellen Rahmen auch explizit körperlich pflegt. Symbol der Einheit ist der ‚Körper‘ als Dialog fe‐ minin-maskulin 526 , und als Ausdruck der liebenden Vereinigung des Götterpaars Shakti und Shiva bzw. ihrer Reinkarnationen. Nach Jean Varenne gibt es in der indischen Metaphysik eine gewisse Unentschiedenheit zwischen strikt monis‐ tischen und dualistischen Ansätzen, wobei der Tantrismus dem Dualismus den Vorzug gebe. Dabei wird die Zweiheit nicht als Polarität zweier unterschiedli‐ cher Elemente vorgestellt; sie existiert vielmehr im Inneren eines jeden Ele‐ ments. So ist im Tantrismus schon die Geburt des Universums nicht auf ein einziges Prinzip zurückzuführen, sondern auf das Zusammenwirken komple‐ mentärer Kräfte, die als sexuelle Vereinigung gedacht in der Kreation die „con‐ dition première“ darstellen. 527 Diese erotische Komplementarität waltet auch im Inneren der Sprache und findet ihren philosophischen Ausdruck in einer komplexen linguistischen The‐ orie, deren Darstellung den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Das Prinzip dieser linguistischen Erotik, die Paz am Tantra besonders interessiert hatte, 528 basiert auf der Betrachtung von Konsonanten als weiblich und der Vokale als männlich. Eine Silbe existiert demnach, wenn die konsonantische ‚yoni‘ (Vulva) von einem vokalischenn ‚bîja‘ (Same, Spermium) befruchtet wird. Dabei werden den einzelnen Vokalen des Sankskrit-Alphabets eine unterschiedliche Bedeu‐ tung und Konnotation beigemessen. So repräsentiert das kurze ‚a‘ die Bewusst‐ seinsenergie, während das lange den Schöpferaspekt dieser Energie kenn‐ zeichnet, die sich im Herzen als vitaler Rhythmus reproduziert. Das kurze ‚i‘ ist die Willensenergie, das lange ‚i‘ die Manifestation dieser Energie: das ewig Weibliche, die Göttin ‚Durga‘, u. s. w. Diphtonge erschaffen durch die Kombi‐ nation der Charakteristika und die Union von Gegensätzen neue Kräfte. Nach gleicher Art werden den Konsonanten bestimmte Charakteristika zugespro‐ chen, die wiederum mit bestimmten Gottheiten in Verbindung gebracht werden. 275 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica 529 Vgl. Ebd., S. 198 ff. 530 Vgl. Ebd., S. 116 f. 531 Jason Wilson macht darauf aufmerksam, dass der Titel der französischen Ausgabe, Le singe grammairien, von Paz selbst stammt. Vgl. Wilson, S. 129. 532 Paz: MG, dt. S. 32, span. S. 36. In tantrischer Vorstellung existiert in jedem Wort eine göttliche Essenz, Vâch selbst, die in der Meditation über dem Mantra freigelegt werden soll. Sie besteht in einem absoluten Klang, der weniger als Vokal, denn als eine nasale stimmliche Vibration, reine Resonanz (‚ OUM ‘ / ‚anusvâra‘) oder in einem Aushauchen (‚H‛ / ‚visagra‘) erfahrbar wird. 529 Sie transzendieren die Silben hinsichtlich eines Paradieses, einer Essenz, die der hinduistische Tantrismus als ‚brahman‘ be‐ zeichnet und der buddhistische als ‚shûnyatâ‘: Leerheit. Jean Varenne macht darauf aufmerksam, dass es sich dabei um etwas anderes als ein ‚néant‘ handelt. Kein Nichts sei gemeint, sondern eine Leere, in der gleichzeitig die absolute Glückseligkeit liege. Sie ist als Körpermitte gedacht und als offene Stelle, um die sich das kosmische Rad drehe. 530 Eine Untersuchung des mono gramático unter Gesichtspunkten der kom‐ plexen tantrischen Linguistik muss an dieser Stelle ausgeklammert werden; zu zeigen sei hier lediglich allgemein, wie ausgeprägt Pazʼ Sinn für eine energetisch erotische Anschauung von Sprache auf der genotextuellen Ebene ist. Da die Sichtbarkeit (oder Hörbarkeit) ihrer Bestandteile an die spanische Sprache ge‐ bunden ist, muss ich an einigen Stellen auf Übersetzungen verzichten und ein‐ tauchen in die Prosodie des spanischen Texts. Ich wähle aus gutem Grund nicht das Wort vom ‚Original‘, da sich abgesehen vom spanischen monoǀgrama - mono gramático auch im französischen Titel der Erstveröffentlichung eine nicht minder augenfällige Ähnlichkeit ergibt: Le singe grammarien. Mit nur einem verdrehten Buchstaben wird aus dem grammatischen Affen Le signe gramma‐ rien - das grammatische ,Zeichen‘. 531 Hanuman erscheint als ,Anagramm‘ des sprachlichen Zeichens im Titel eines Buchs, in dem es um den Vorgang des Bezeichnens geht - bereits ein erster Hinweis, wie Bedeutung im ‚Symbolischen‘ an eine Herkunft aus dem ‚Semiotischen‘ gebunden ist und auf diese Weise auch eine Reihe assoziativer Sprünge auslöst. So wie sich im Kosmos Atome und Moleküle miteinander aufgrund physikalischer Gesetze verbinden, basiert die Bindung von ‚Affe‘ und ‚Zeichen‘ auf der mysteriösen vorsymbolischen Ge‐ setzmäßigkeit einer Anagrammierung. Im Anagramm vereinen sich Körper (Paz beschreibt den ‚Affen‘ als astrale Körperlichkeit, als „große dunkle Form“, als „Bolid“) 532 und Text (Gewebe aus Zeichen) zu einer Körperschrift und einem erotisierten Textkörper: Der Text hat eine menschliche Form, schreibt Barthes, „er ist eine Figur, ein Anagramm des Körpers? Ja, aber unseres erotischen Kör‐ 276 III. Praxis 533 Barthes: Die Lust am Text, S. 26. 534 Paz: MG, span. S. 39 (Hervorhebungen durch mich). 535 Barthes: Die Lust am Text, S. 97 f. (Hervorhebungen durch den Autor.) pers. Die Lust am Text wäre nicht reduzierbar auf sein grammatisches (phäno-textuelles) Funktionieren, so wie die Lust des Körpers nicht reduzierbar ist auf das physiologische Bedürfnis.“ 533 Als Paz sein ‚Ich‘ in einem der Paläste des Areals umherschweifen lässt, ent‐ deckt es dabei zwischen schimmlig feuchten Flecken Reste jenes Wandgemäldes, auf dem Hanuman über eine stilisierte grüne Urwaldlandschaft, Berge und den Ozean den mythischen Sprung nach Lanka vollzieht. Das wilde Durcheinander der im Wasser hausenden Kreaturen und Dämonen, der Vegetation und der Pinselstriche, die sich gegenseitig umschlingen, verwischt sich auf dem Wand‐ verputz hier und da und geht über in feucht-dunkle, unleserliche Stellen, die an Tintenkleckse auf einer Seite beschriebenen Papiers erinnern. Pinselstriche auf dem Gemälde werden zu einem Dschungel kalligrafischer Zeichen. Die Ähn‐ lichkeit ergibt sich aber nicht nur aus den phänotypischen Reminiszenzen von Schriftschnörkeln und ineinander verwachsener Vegetation. Ihnen liegen rhe‐ torisch verbindende Figuren zugrunde: Alliterationen, Assonanzen, Paronyme, Reime: „Manchas: malezas: borrones. Preso entre las líneas, las lianas de las letras. Ahogado por los trazos, los lazos de las vocales.“ Dem weichen Um‐ schlingen der Vokale folgen die onomatopoetischen Plosiven der dornigen Ranken der Konsonanten: „Mordido, picoteado por las pinzas, los garfios de los consonantes.“ 534 Durch diese Bindungsmerkmale leihen sich die Wörter die Ei‐ genschaften ihrer Silben und damit anderer Wörter, denen sie nicht gleich, aber durch den magischen Zauber der ‚conviventia‘ ähnlich werden: Wörter ent‐ halten die ,Spuren‘ anderer Wörter, sie reichern sich an mit einer unendlichen Zahl möglicher Verbindungen, Assoziationen und ‚Farben‘, die in den Lauten gleichsam ‚gespeichert‘ sind. Diese Sprachspiele sind, was Barthes als ‚lautes‘ oder ‚vokales Schreiben‘ bezeichnet. Barthes leitet sein Konzept aus der ‚actio‘ her, die innerhalb der antiken Rhetorik die körperlich-dramatischen Entäuße‐ rungsteile der Rede bezeichnet. Im Text sei dieser Aspekt getragen von einer gewissen ‚Rauheit‘, in der die Sprache lustvoll nicht auf ihre phonologischen, sondern phonetischen Prägungen hin betastet wird; kurz, hier wird Sprache in ihrer ganzen Körperlichkeit erfahrbar: „sein Ziel ist nicht die Klarheit der mes‐ sages, […] es sucht vielmehr (im Streben nach Wollust) die Triebregungen, […] einen Text, bei dem man die Rauheit der Kehle, die Patina der Konsonanten, die Wonne der Vokale, eine ganze Stereophonie der Sinnlichkeit hören kann: die Verknüpfung von Körper und Sprache, nicht die von Sinn und Sprache.“ 535 Mit dem, was Paz die „lazos de los vocales“ und die „gafíos de los consonantes“ nennt, 277 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica 536 Ebd., S. 98. 537 Suchsland, S. 103. 538 Ebd. 539 Vgl. Kristeva, S. 37. 540 Suchsland, S. 90. 541 Paz: MG, dt. S. 129. setzt er sein Ohr an das sinnliche Raunen des Textkörpers: „das knirscht, das knistert, das streichelt, das schabt, das scheidet: Wollust.“ 536 Das ‚laute‘ oder ‚vokale Schreiben‘ der ‚semiotischen chora‘ ist ein genaues Hören in großer Nähe und Intimität. Inge Suchsland schreibt, es „lauscht dem Atem und den Herztönen des Sprachkörpers“. 537 Dabei gehe es jedoch nicht darum, sinnlose Laute und Rhythmen zu reproduzieren: Der Text „konfrontiert vielmehr das Symbolische mit dem Semiotischen, sucht im Symbolischen die semiotische chora zu rekonstruieren“. 538 Es handelt sich nicht um ein linguisti‐ sches oder philosophisches, sondern eher um ein musikalisch gefasstes Konzept, bei dem es darum geht, aus den rhythmischen Vibrationen gegen eine Membran die Melodien und Harmonien des Selbst abzuleiten und hörbar zu machen. Die Vorgänge innerhalb der ‚chora‘ sind dabei zwar spielerisch, aber nicht rein zu‐ fällig oder ohne Ordnung. Nach Kristeva unterliegen ihre volatilen Bewegungen einer gewissen „Reglementierung“ („réglémentation“), wenn auch einer provi‐ sorischen, die immer neue Artikulationen erzeugt. 539 Die Reglementierung der ‚chora‘ beruht auf klanglichen und rhythmischen, im weitesten Sinne auf kör‐ perlichen Kategorien. Gesteuert werden sie von den grundlegenden Prinzipien der Freudʼschen Traumarbeit, ‚Verdichtung‘ und ‚Verschiebung‘, die Lacan mit den der Sprache zugrunde liegenden Prinzipien ‚Metapher‘ und ‚Metonymie‘ identifiziert. Während ‚Metapher‘ und ‚Metonymie‘ jedoch bei Lacan Verfah‐ rensweisen des ‚Symbolischen‘ sind, interpretiert Kristeva sie als „Überset‐ zungen von vorsymbolischen Phänomenen ins Symbolische“, 540 die noch immer die Reminiszenzen der semiotischen ‚chora‘ in sich tragen. Die kommunikative Sprache wird also gebildet aus einem Ursubstrat, das gleichzeitig jede Denota‐ tion, jede Thesis und Festlegung sprengt; damit ruht die Sprache auf ‚sandigem Boden‘. Diese inneren Vorgänge des Sinngebungsprozesses macht Paz in El mono gramático transparent. Der Text, schreibt er, verdoppelt sich bei jeder Wendung in einen anderen, der zugleich Übersetzung (traducción) und Umset‐ zung (transposición) ist. 541 In El mono gramático übersetzt / verdichtet Paz Wörter, indem sie einander gewisse Seme des jeweils anderen leihen. Die Me‐ taphern verdichtet er, indem er sie durch andere Metaphern übersetzt (etwa Kalligrafie durch Urwald etc.). Die Übersetzung beruht jedoch ihrerseits auf einer Transposition, einer Lautverschiebung oder auf einer Paronymie. Die Be‐ 278 III. Praxis 542 Ebd., span. S. 104. 543 Barthes: Die Lust am Text, S. 64. 544 Kristeva, S. 109 (Hervorhebung durch die Autorin). wegungen lassen sich im Detail nachvollziehen: In der sprachlichen Tiefendi‐ mension, der ‚semiotischen chora‘ als Raum höchster linguistischer Entropie, können Sprach- und Bedeutungsmoleküle (Laute und Seme) sich auch frei und spontan anordnen und dabei Wörter erzeugen, die mit diskursiven Mitteln nicht vorhersehbar sind. Dabei verschiebt sich - durch Transposition - der Bedeu‐ tungsgehalt eines Ausdrucks hin zu einem anderen metaphorischen Ausdruck, so auch in dem bereits oben zitierten Beispiel, bei dem Paz die Wörter „multitud“ und „oleaje“ verdichtet, indem er ihnen eine Silbe des jeweils anderen leiht: Neologismen entstehen als Zwitterworte, in denen sich das Wogende der Menge und die flirrende Partikelhaftigkeit des Wellengangs ausdrücken: „la multitud y su oleaje, su multieje y su multiola, su multialud“. 542 Diese Vorgänge bilden den ‚Text der Wollust‘, der sich als labile Figur gegen jede Phraseologie behauptet: „Das Mißtrauen gegenüber dem Stereotypen (das mit der Wollust am neuen Wort oder am unhaltbaren Diskurs einhergeht) ist ein Prinzip absoluter Labilität, das vor nichts Respekt hat (vor keinem Inhalt, keiner Wahl).“ 543 Das Sprachspiel verschiebt sich schließlich von der Welle zu einem Hervortreten der „Sonne“ (sol), die sich paronymisch aus der „(s)oleaje“ speist und wieder neue Ähnlich‐ keitsspiele begründet: Zur „Mengsonne“ (multisol) und der „Wellensonne“ (olasol) mengt sich eine „Flügelsonne“ (alasol) und so weiter: „multisol sobre la soledumbre, la pobredumbre bajo el alasol, el olasol en su solitud, el solalumbre sobre la podrecumbre, la multisola“ - der Satz verliert sich im babylonischen Urgebrodel und endet offen, ohne Punkt. Kristeva schreibt: „Die Sprachstrukturen werden durch eine solche Praxis des Prozesses gänzlich verändert. Rhythmische, lexikalische, selbst syntaktische Umbildungen greifen die signifikante Kette an [perturbent la transparence de la chaîne signifiante] und öffnen den materiellen Schmelztiegel ihrer Erzeu‐ gung.“ 544 In der Tiefenebene der Sprache gruppieren sich Seme und Laute in überraschenden Verbindungen immer wieder neu. Auf einer darüberliegenden Ebene lockert sich so der Sinn- und Wahrheitsbezug, um den bilderzeugenden Vermögen des menschlichen Verstands Raum zu geben (Imagination und Phan‐ tasie) und sie vor allem vermittels einer erneuernden Kombinatorik wieder in eine ‚befruchtete‘ Diskursivität zu überführen. Dabei handelt es sich um eine Grundoperation des ‚Essayistischen‘. Karin Westerwelle betont die Bedeutung von ‚imaginatio‘ und ‚phantasia‘ als „bildabbildende und bilderzeugende Funk‐ tion“ und spricht von ihnen als eine „Potenz, die die Erfahrungsbilder der Welt 279 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica 545 Westerwelle, S. 14, 17. 546 Paz: MG, dt. S. 49, span. S. 53: „los nombres son plétoras, son dadores, están henchidos de sangre, leche, semen, savia, están henchidos de minutos, horas, siglos, grávidos de sentidos y significados y señales“. 547 Ebd., dt. S. 106, span. S. 113: „Hanuman: mono / grama del lenguaje, de su dinamismo y de su incesante producción de invenciones fonéticas y semánticas. Ideograma del poeta, señor / servidor de la metamorfosis universal […] pero asimismo es la semilla semántica, la semilla-bomba enterrada en el subsuelo verbal“. 548 Ebd., dt. S. 128, span. S. 137: „el juego de las semejanzas enjendradas por las diferencias y el de las semejanzas contradictorias.“ 549 Ebd., dt. S. 32, span. S. 36: „la montaña pura y que esconde entre sus repliegues los caminos de la liberación / el mar impuro y sin caminos; el espacio de la definición / el de la indefinición; la montaña y su oleaje petrificado: la permanencia / el mar y sus neu kombiniert, Entferntes zusammenbringt und Niedagewesenes [sic] er‐ zeugen kann“. 545 Das ‚Semiotische‘ als Schmelztiegel oder Ursuppe der Sprache ist dabei Raum der Möglichkeit, aus dem sich das Phantasievermögen speist. Er wird bei Paz auch als Raum sexueller Potenz verstanden, in dem Laute als Samen die Sprache befruchten und eine unendliche Zahl sprachlicher Kreaturen zeugen. Das Se‐ miotische lässt die Namen mit ihren Bedeutungssamen anschwellen, sie werden Träger der Vielheit und der Möglichkeit: „die Namen sind übervoll, sind Ge‐ bende, geschwellt von Blut, Milch, Samen, Speichel, geschwellt von Minuten, Stunden, Jahrhunderten, geschwängert mit Sinn“. 546 Das Semiotische begründet das nie endende Spiel der Ähnlichkeiten und ist Matrix der Sprache: „Hanuman: Affengestalt, Monogramm der Sprache, ihrer Dynamik und der unablässigen Produktion phonetischer und semantischer Erfindungen. Ideogramm des Po‐ eten, Herrn / Dieners der allumfassenden Verwandlung […] und doch an sich nur der semantische Same, die Samenkapsel, die im Boden des Wortes ruht“. 547 Die Paronymkette verbindet nach dem ihr eigenen Gesetz die ,Seme‘, die ein Wort bilden, mit dem ,Samen‘, der es befruchtet, und dem „Spiel der aus Ver‐ schiedenheiten geborenen Ähnlichkeiten […] und das Spiel der widersprüchli‐ chen Ähnlichkeiten“ (semejanzas). 548 sema - semen - semejanza Auf dem Wandgemälde im Palastinneren schwebt Hanuman zwischen oder über den Bergen und dem Meer. Paz deutet sie selbst als Raum der Bestimmtheit und der Unbestimmtheit. Die Berge als Offenbarung des Stabilen, des Identitäts‐ prinzips, durch das die Prosa ihre Wege zieht, das Meer als das unstete, weglose Wogengebirge, „das unaufhörlich sich widerspricht, Meer als Kritik des Seins und seiner selbst“. 549 Die Tiefe der semiotischen Weglosigkeit und Unbestimmt‐ heit ist jedoch bevölkert von einem Gewimmel an Monstern: 280 III. Praxis montañas inestables: el movimiento y sus espejismos; la montaña hecha a la imagen del ser, manifestación sensible del principio de identidad, inmóvil como una tautología / el mar que se contradice sin cesar, el mar crítico del ser y de sí mismo.“ 550 Ebd., dt. S. 33, span. S. 37: „grandes serpientes lascivas y demonias del océano se levantan de sus lechos viciosos y se precipitan a su encuentro, quieren devorar al gran mono, quieren copular con el casto simio, romper sus grandes cántaros herméticamente cer‐ rados y repletos de un semen acumulado durante siglos de abstinencia, quieren reprartir la substancia viril entre los cuatro puntos cardinales, diseminarla, dispersar al ser, mul‐ tiplicar las apariencias, multiplicar la muerte.“ 551 Ebd., dt. S. 46. 552 Westerwelle, S. 36. 553 Ebd., S. 365. große, lüsterne dämonische Schlangen des Ozeans erheben sich von ihren schleimigen Lagerstätten und eilen auf ihn zu, sie wollen sich mit dem keuschen Affen paaren, sie wollen seine großen, hermetisch verschlossenen Zeugungsgefäße zerbrechen, in denen der Same sich während jahrhundertelanger Enthaltsamkeit gesammelt hat, sie wollen die Manneskraft auf die vier Himmelsrichtungen verteilen, sie ausstreuen, ins Sein versprengen, die Erscheinungen vervielfachen und den Tod vervielfachen. 550 Hanuman ist Herr, aber auch Diener der Sprache, der ihren ‚Nomos‘ (mono-nomos) bewahren, das heißt sie nicht nur als Utopie, sondern auch als einen konkreten Raum der Ordnung erhalten und den kommunikativen Um‐ gang mit ihr lenken muss: „ein Stück Land lesen, ein Stück Welt entziffern“. 551 Als Verkörperung des geschriebenen Buchstabens, des ‚gramma‘, ist er auch Ordnungshüter der Sprache und trägt dafür Sorge, dass die Monstrosität der ungestalten, unsinnigen Sprachkreaturen nicht überhandnimmt, die die Sprache in eine selbstreferenzielle oder völlig unverständliche Glossolalie fallen lassen. Denn in der Tendenz zur ungezügelten Kopulation und Vervielfältigung der Er‐ scheinungen liegt nicht nur Faszination, sondern auch Verfall der Sprache. Hier stellt sich das Lustprinzip, das die Trennungen rückgängig machen will, in den Dienst des nach Auflösung strebenden Todestriebs. Hanuman schwebt auf dem Wandgemälde daher zwischen dem Raum der Bestimmtheit und der Unbe‐ stimmtheit, zwischen der tröstenden Sicherheit des ‚Symbolischen‘ und den Sinn zerstoßenden Vexierspielen der ‚semiotischen chora‘. Die Thematik des ‚Essayistischen‘ spiegelt sich in dieser Rolle wider: So entdeckt Montaigne, zu‐ rückgeworfen in die Einsamkeit seines Turms, nicht die stoische ‚Meeresstille‘, sondern, wie Karin Westerwelle schreibt, „eine zügellose Geistesaktivität“. 552 Im Gestus des Müßiggängers verlässt Montaigne die Zitadelle seines inneren Selbst: „die Seele verläßt ihren Ort (ihre demeure). Chimären und Monstren erscheinen dem Geist.“ 553 Diesen Chimären (weibliche Figuren mit Krallen, die auch den Palast von Galta bevölkern) versucht Montaigne zu begegnen, nicht etwa durch 281 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica 554 Paz: MG, dt. S. 37, span. S. 39: „Maleza de signos: negación de los signos. Gesticulación estúpida, grotesca ceremonia. Plétora térmica en extinción: los signos se comen a los signos. Maleza se convierte en desierto, algarabía en silencio: arenales de letras. Alfa‐ betos podridos, escrituras quemadas, detritos verbales. Cenizas.“ eine totale Hingabe an die flüchtigen sprachlichen Erscheinungsformen, son‐ dern durch eine bestimmte Form der Sprachkritik, die auf dem Versuch der Ver‐ textung als ordnungsstiftendem Prinzip beruht (mettre en rôle). Im Auf‐ schreiben und im Text als Prozess werden die Monstren der Sprache wie die der Vorstellungskraft gleichermaßen beschworen und gezähmt. Auffällig ist in El mono gramático unter diesem Aspekt das Wort „podre‐ cumbre“, das sich in der weiter oben zitierten Stelle von „oleaje“ und „multitud“ eingeschlichen hat und das schon das drohende Unheil enthält, wenn in ihm ‚podre‘ oder ‚podredumbre‘ anklingt - die Fäulnis. El mono gramático ist auch voller ekelerregender Bilder: die Faulwassertümpel, die schmierige Brühe, die im einst klaren Teich verblieben ist, die von Lepra zerfressenen Hände der Bettler, die abgefaulte Wange des Straßenpoeten, der Gestank, der verwesende Hund auf der Straße, den ein Geier ausweidet. Der Wildwuchs der Zeichen läuft immer Gefahr, Wucherung zu werden - Krebsgeschwür der Sprache, in dem die Fülle der Möglichkeiten in der Entropie umschlägt in Zersetzung. Im Gebrabbel häufen sich Bedeutungen übereinander, reichern sich nicht nur an, sondern zerfressen und zerstören sich auch gegenseitig. Die Wörter sterben ab und hin‐ terlassen eine Wüste der Bedeutung. Die Ödnis ist das andere Gesicht der Wu‐ cherung. Dickicht der Zeichen: Verneinung der Zeichen. Törichte Gestik, groteske Zeremonie. Strotzende Fülle wird schließlich zunichte: die Zeichen fressen die Zeichen. Dickicht wird Wüste, Geplapper zu Schweigen: Karste aus Lettern. Verfaulte Alphabete, ver‐ brannte Schriften, Wortmüll, Asche. 554 Was die deutsche Ausgabe des Buchs in der oben zitierten Passage auslässt, halte ich für einen wichtigen Hinweis auf Pazʼ naturwissenschaftliche, physika‐ lisch-kosmische Vorstellung des Zustandes der Wortwucherungen: „Plétora tér‐ mica en extinción“ - „Wärmeüberschuss im Erlöschen“. Der Satz ist interessant, weil er erneut auf die Gesetze der Thermodynamik anspielt: Erhöht sich die Entropie in einem System, heißt das, es verliert an Energie. Die Energie aber löst sich nicht einfach auf, sondern wird in Wärme umgewandelt, die von of‐ fenen Systemen als thermischer Überschuss abgestrahlt wird. Die Landschaft von Galta ist umgeben von der voranschreitenden Wüste, von einem Raum des Ariden, in dem alle menschliche Anstrengung, die menschli‐ chen Konstruktionen, Gebilde, Architekturen, im Sand versinken. Ohne den 282 III. Praxis 555 Vgl. Paz: HL, S. 111. 556 Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 61. 557 Paz: MG, dt. S. 87, span. S. 92: „un diminuto anfibio carmesí poseído por una agitación furiosa y obscena que lo hacia revolverse continuamente dentro de su cueva húmeda. Hablaba sin parar. Aunque subrayaba con las manos y los gestos su imperioso de ser escuchado, era imposible comprenderlo porque, cada vez que articulaba una palabra, el agujero aquel emitía silbidos y respolidos que desfiguraban su discurso.“ 558 Ebd., dt. S. 87. 559 Vgl. Insb. Paz: Lectura y contemplación. In: Sombras de obras. Barcelona: Seix Barral 1983. Schlüssel zu ihrer Grammatik und Syntax drohen die Ähnlichkeiten in Unsinn umzuschlagen; dann flüstern die bösen Geister der Ironie, dass das Konzert der Korrespondenzen ein babylonisches Kauderwelsch ist, und lassen das dichterische Wort in Geheul oder Stille münden - in die Wucherung oder die Wüste einer Nicht-Kommunikation. 555 Foucault erkennt für das Wissen der ‚Ähnlich‐ keit‘ den gefährlichen, abgründigen Charakter, auf den es baut: Es bleibe immer unstet, unsicher, weil es seine Gültigkeit nur in der dauernden Akkumulation aufrechterhalten kann. Es braucht die ständige Bestätigung dessen, was doch niemals verfestigt werden kann und stets wieder entwischt. „Dadurch ruht dieses Wissen mit seinem Fundament auf sandigem Boden.“ 556 Zwischen den Ruinen von Galta, die immer mehr von der Wüste verweht und verschluckt werden, hausen Menschen, die unverständliches Kauderwelsch brabbeln, deren Sprache nichts erschafft und von denen Paz sich immer wieder abwendet. Die Priester gestikulieren, die Bettler stöhnen und zeigen ihre ver‐ sehrten Hände, sogar der Junge ist von der Fäulnis befallen. Seine Rede ist un‐ verständlich. Das Loch in seiner Wange gibt einen Blick frei auf Zähne, Zahn‐ fleisch und die Zunge inmitten des Speichels: […] ein kleines karmesinrotes Amphibium, das sich, von rascher, obszöner Beweg‐ lichkeit besessen, ununterbrochen in der feuchten Höhle umherwälzte. Er redete pau‐ senlos. Obwohl seine Hände und Gesten den dringenden Wunsch unterstrichen, ge‐ hört zu werden, war es unmöglich ihn zu verstehen [sic], weil das Loch, immer wenn er ein Wort hervorbrachte, Pfiffe und Schnaufer ausstieß, die seine Mitteilungen ent‐ stellten. 557 Erst dann entdeckt Paz, dass der Junge kein Bettler, sondern Dichter ist, dessen Kauderwelsch Methode hat und der mit „Verzerrungen und Zerlegungen der Wörter spielte“. 558 Die Anspielung könnte kaum deutlicher sein: Das unverständliche Lallen des inspirierten Dichters und die Offenlegung der Bewe‐ gungen seiner Zunge zielen natürlich auf die Zungenrede oder Glossolalie, mit der Paz sich immer wieder beschäftigt hat. 559 Paz zieht an dieser Stelle west-öst‐ 283 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica 560 Paz: MG, dt. S. 77, span. S. 81: „La algarabía humana es el viento que se sabe viento, el lenguaje que se sabe lenguaje.“ 561 Paz: MG, dt. S. 120, span. S. 129: „Hijo del viento, poeta y gramático, Hanuman es el mensajero divino, el Espiritu Santo de la India.“ 562 Vgl. Keul, S. 177 ff. liche Verbindungslinien, denn die Glossolalie spielt insbesondere in der Pauli‐ nischen Theologie eine Rolle. Paulus hat zur Zungenrede ein ambivalentes Ver‐ hältnis, das im Grunde auch Pazʼ paradoxe Vorstellungen vom Vorgang des Nennens und Benennens erfasst und als theologische Poetologie erscheinen lässt. Paulus misst einerseits der Glossolalie eine große Bedeutung zu: Als Gabe des (Heiligen) Geistes ist es göttliches Sprechen mit sich selbst und Sprechen mit Gott. Doch ohne Exegese bleibt es für die Menschen unwirksam. „Denn wer in Zungen redet, der redet nicht zu Menschen, sondern zu Gott; keiner versteht ihn“. (1. Kor. 14,2) Als Gegenkraft bedarf das Reden in Zungen der verständlichen und klaren, prophetischen Rede zur Gemeinde. Denn Beten brauche nicht nur Geist, so Paulus, sondern auch Verstand. „Denn Gott ist nicht ein Gott der Un‐ ordnung, sondern des Friedens.“ (1. Kor. 14,33) Gegen den ausschließlichen Ge‐ brauch der Zungenrede mahnt Paulus, wenn Fremde, Unkundige oder Ungläu‐ bige in die Gemeinde kämen, „werden sie nicht dann nicht sagen: ihr seid verrückt! “ (1. Kor. 14,23) Dies ist die Perspektive, die Paz als Tourist im Tem‐ pelareal von Galta einnimmt: der die Einladungen der Priester ablehnt und dem die Gesänge, Gebräuche und Weihesprüche „groteske Zeremonie“ und Ge‐ murmel sind. „Ihr redet nur in den Wind“, mahnt Paulus (1. Kor. 14,9). Mit dem Wind ver‐ bindet auch Paz das unverständliche Psalmodieren der Menge, das sich mit den Rufen der Affen vermischt und dem er schließlich die Erkenntnis über das Wesen der Sprache abgewinnt: „Das Menschengeplapper ist Wind, der sich als Wind begreift, ist Sprache, die sich als Sprache begreift.“ 560 An anderer Stelle kommt er auf Hanumans Vater Vayu zu sprechen - der Legende nach der Wind selbst. „Als Sohn des Windes, als Dichter und Sprachgelehrter ist Hanuman der Göt‐ terbote, der Heilige Geist der Inder.“ 561 Paz’ Bemerkung deckt sich mit der reli‐ gionswissenschaftlichen Sicht auf Hanuman. Auch István Keul weist darauf hin, dass der heilige Affe eher als Halbgott und Gesandter Ramas verehrt wird. Vor allem unter dem Dichter Tulsidas werden ihm in dieser Eigenschaft die heraus‐ ragenden Kenntnisse der grammatischen Schriften zugeschrieben: Er avanciert zum Dichter, Sänger und Beherrscher vieler weiterer Künste. In der Version des Tulsidas gewinnt Hanuman insgesamt eine spirituellere Dimension als in Val‐ mikis Epos. 562 Als idealer Verehrer einer höchsten Göttlichkeit wird er vor allem 284 III. Praxis 563 Ebd., S. 219. 564 Paz: MG, dt. S. 21, span. S. 25. 565 Ebd., dt. S. 120. 566 Smith, S. 186. 567 Vgl. Varenne, S. 166 f. eine Figur, die für den „guten Draht“ zu den Göttern steht. 563 Es ist daher nicht verwunderlich, dass Hanuman bei Paz für die göttliche und die menschliche Sprache gleichermaßen steht. Darin verbindet sich das ‚Reden mit Feuerzungen‘ mit einer Sorge um das verständliche Wort durch das Gesetz einer menschlichen Grammatik. „Deswegen“, schreibt Paulus, „soll einer, der in Zungen redet, darum beten, daß er es auch auslegen kann. Denn wenn ich nur in Zungen bete, betet zwar mein Geist, aber mein Verstand bleibt unfruchtbar.“ (1. Kor. 14,13-14). Daher entzieht sich Hanuman der Kopulation. Als Hüter des Samens lebt er keusch; denn ihm kann es nicht um eine ziellose Dissemination zu tun sein, in der die Sprache ihre „perversen Spiele“ - „juegos perversos“ - treibt. 564 Seine erotische Zeugungskraft, welche die Sprache immer wieder befruchtet, beruht gerade auf der angestauten sexuellen Potenz als ständiger Spannung einer ‚jouissance‘, die nur sporadisch (tröpfchenweise) ihr ‚plaisir‘ abgibt: „Sein keu‐ scher Körper bildet einen unerschöpflichen Brunnen der Zeugungskraft, ein einziger Schweißtropfen seiner Haut genügt, um den steinigen Schoß einer Wüste fruchtbar zu machen.“ 565 David Smith macht darauf aufmerksam, dass Paz damit recht genau die Überzeugungen des hinduistischen Asketismus und die Bedeutung des Samens für hinduistische Männlichkeit wiedergibt: „asceticism and chastity are good not least because they preserve the male life force, which being saved within brings a golden lustre to the body. Here Paz has given his own very powerful rewriting of the Rāmāyana, in a way that is entirely in tune with modern India.“ 566 Die Zurückbehaltung des Samens spielt, in vielen der verschiedenen Schulen des Tantra eine große Rolle. Im Gegensatz zu den profanen sexuellen Bezie‐ hungen, in denen der Vorstellung nach der Mann etwas von seiner Zeugungs‐ kraft an die Frau abgibt, ist der Akt in der tantrischen Zeremonie auf das Ge‐ genteil hin angelegt. Hier soll die im Vaginalsekret manifestierte weibliche Kraft (‚shakti‘) dem Adepten zuteil werden. Jean Varenne berichtet gar von Praktiken des Hatha Yoga, die kaum praktiziert werden, und die das Einsaugen des Sekrets durch den Penis zum Ziel haben sollen. 567 Ob die Idee in dieser Radikalität prak‐ tiziert wird oder nicht; in vielen Strömungen des Tantra besitzt die Verhinderung oder zumindest die starke Verzögerung des Koitus die Funktion einer Trans‐ zendierung: Der Weg des Adepten ist der des Erleidens der Lust ganz im Sinne einer Selbstopferung und Purgatio: Entzündet im Feuer der ‚Yoni‘, dem „feu de 285 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica 568 Ebd., S. 171. 569 Vgl. Feustle, S. 88. 570 Varenne, S. 167. 571 Ebd., S. 171. 572 Ebd., S. 164. 573 Ebd., S. 142 (Hervorhebung durch den Autor). 574 Vgl. Aranguren: San Juan de la Cruz, S. 37. la vulve“ 568 erfährt der Adept in der Zurückhaltung des Höhepunkts die Transsubstantiation seiner selbst - im Verbrennen der Materie liegt der Zugang zur rein spirituellen Dimension. 569 Die physische Vermischung von Männlichkeit und Weiblichkeit in der tantrischen Zeremonie (‚Puja‘) bewahrt immer den spi‐ rituellen Hintergedanken einer „union des contraires“. 570 Es ist durchaus üblich, schreibt Varenne, dass der Adept am Ende der Zeremonie sein Gesicht mit einem Gemisch aus Blut, Sperma und Vaginalsekret beschmiert. Dies geschehe nach einer hinduistischen Logik der ‚Pujas‘: dabei werde das Gesicht üblicherweise mit der Asche aus dem heiligen Feuer gezeichnet. Im Fall der tantrischen ‚Puja‘ seien es nun die Überreste aus dem „feu de la volupté“. 571 Als fernöstliche Form asketischer Mystik ist der Tantrismus vor allem als Weg zu begreifen, der mühsam erlernt und durch strikte Zeremonien und Praktiken eingeübt werden muss. Die ‚Pujas‘, darauf legt Varenne wert, sind keine Aus‐ schweifungen, sondern bilden eine strenge Liturgie, in deren Rahmen es zu sehr gezielten Übertretungen kommt. Der sexuelle Akt selbst stellt nur einen sehr kleinen Teil der überaus kostspieligen Zeremonie dar, die ansonsten mit stun‐ denlangem Rezitieren und Meditieren ausgefüllt ist. 572 Bereits im Initiationsritus wird dem Adepten ein dreidimensionales Mandala, das ‚Shrî-Yantra‘ präsentiert, das in Stationen rituell erlaufen werden muss. In seiner Mitte, befindet sich das ‚bindu‘, eine Erhebung, Symbol des mythischen Berges Meru und Wohnstätte der Muttergottheit Pârvtî als höchster Energie (‚Maha Shakti‘). Jean Varenne bringt den Weg des Tantrikers mit der Mystik des Heiligen Johannes vom Kreuz in Verbindung, der ebenso den mühevollen Aufstieg in der Purgatio als Kern mystischer Erfahrung deutet: „Par ailleurs, si le centre du Shrî-Yantra est iden‐ tifié au mont Méru, cela signifie que le voyage de lʼinitié, depuis les portes de lʼenceinte carrée la plus extérieure jusquʼau bindu central, est une ascension, une ‚montée au Carmel‛, pour reprendre l‛expression de saint Jean de la Croix.“ 573 Zu bedenken wäre sicherlich auch, dass die tantrischen Zirkel ähnlich elitär waren, wie die Mystik des Heiligen Johannes, der im Vorwort zur Subida al Monte erklärt, er schreibe für einige Mönche und Nonnen, die sich schon auf dem Weg der Mystik befänden und dabei von den weltlichen Dingen entfernt hätten. 574 In beiden Fällen handelt es sich also um ein ‚Insider-Wissen‛, das wenigen vorbe‐ 286 III. Praxis 575 Vgl. Ebd., S. 40. 576 Varenne, S. 179. 577 Paz: MG, dt. S. 48 / S. 13. 578 Kristeva, S. 127. halten ist und sich daher auch nur über eine opake Sprache vermittelt: Im Fall San Juan durch den Einsatz von Symbolik und Metaphorik in der Poesie; 575 im Tantrismus durch einen bestimmten Jargon, der sich von der kommunikativen Alltagssprache unterscheidet und bei dem sich über den klaren Wortsinn eine weitere, verborgene Bedeutung legt: „Langage codé, donc, oú se combinent la clarté apparente de lʼexpression et lʼocculte de lʼintention secrète.“ 576 In beiden Arten der Mystik ist es weniger Hingabe, als vor allem Selbstkon‐ trolle, die zur Vereinigung mit der Gottheit führt, und dieser Ansatz spiegelt sich auch in der Sprachtheorie: Die Verhinderung oder Verzögerung des Höhepunkts als quälendes, aber reinigendes Feuer der Lust verhindert auch die ungezügelte Kopulation von Buchstaben und Silben im mono gramático nach tantrischem Ideal. Die Aktualisierungsformen des ‚Semiotischen‘ bilden nicht den Kern des Texts, der ansonsten in der Sphäre des Poetischen verbliebe. Ebenso wichtig sind die Inszenierungen des ‚Thetischen‘, vor allem durch wiederkehrende Vernei‐ nung, die auf performativer Ebene mit dem Anakoluth unterstrichen werden. In ihnen verwirft Paz seine Aussagen immer wieder und formuliert sie neu. Das „Nein“ der Selbstkorrektur ist in El mono gramático ständig präsent („nein, auch das ist es nicht“ oder „Der Übergang ist nicht Weisheit, sondern ein Gehen nach … Der Übergang verschwindet“ etc.) 577 Julia Kristeva weist darauf hin, dass das „Nein“ auf dem Höhepunkt des Spiegelstadiums auftaucht und damit vor der Herausbildung einer syntaktischen Kompetenz stehe oder mit ihr zusam‐ menfalle: „in dem Maße, wie die symbolische Funktion syntaktische Funktion ist und im wesentlichen darin besteht, ein Subjekt (und dessen Gruppe) als ein Prädikat (und dessen Gruppe) zu binden, ist die Symbolbildung der Verneinung dieser Funktion vorgängig bzw. fällt sie mit ihrer Entstehung zusammen.“ 578 Die Verneinung ist Voraussetzung oder erstes Anzeichen für die Ausbildung der symbolischen Funktion und markiert auch bei Paz die Schwelle des ‚Theti‐ schen‘. ,Essayistisch‘ ist dabei das in der Verneinung liegende Ethos der Reini‐ gung und der Freiheit, mit dem das Subjekt die gängigen Lehrmeinungen, Syl‐ logismen und gelehrten Unterweisungen ,verwirft‘, um in einem fortgesetzten Prozess des ,Verwerfens‘ und Neu-Ansetzens im ‚Symbolischen‘ seine eigene Sprache zu finden, zu eigenen Urteilen zu kommen, die aber niemals absolut gesetzt bleiben. Das ‚Essayistische‘ kann in diesem Sinne als Herausbildung einer apologetischen Sprachkompetenz verstanden werden, der eine Geste des Von-sich-Weisens innewohnt, mit der das Subjekt sich einer Indienstnahme 287 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica 579 Vgl. auch Teuber: Figuratio impotentiae. 580 Kristeva, S. 175. 581 Moreno, Hugo: The politics of writing in Octavio Paz' El mono gramático. In: Dissidences - Hispanic Journal of Theory and Criticism. Vol. 1 / 2, 1. November 2012, S. 7. durch Dispositive der Macht - das heißt letztlich auch den Strukturen der in‐ stitutionalisierten Sprache - verweigert. 579 Bei Julia Kristeva erscheint diese Geste als Prozess des ‚heterogenen Verwer‐ fens‘, das in sich selbst zur ‚Setzung‘ wird. Es bewirkt Trennung und Spaltung, andererseits wird es durch die repetitive Bewegung auch Markierung und Stase. Die „Positivierung des Verwerfens“ 580 lässt Reiz- und Erinnerungsspuren zurück, aus denen sich schließlich ein ‚Ich‘ herausbildet. Da es sich allererst aus dem ‚heterogenen Verwerfen‘ herausgebildet hat, gerät es zur Figur der ,Negati‐ vität‘. Als solche ist auch das ‚Ich‘ in El mono gramático eines, das sich verliert und verirrt auf den Wegen und Abwegen; anders als in Zambranos Waldlich‐ tungen bleibt es als erzählerische Instanz jedoch immer präsent. Es urteilt, ver‐ wirft, kommentiert - es ist das ‚Ich‘ des Reiseerzählers, der chronologisiert, be‐ schreibt, ordnet, Sinnzusammenhänge erschließt und sogar lexikalische Beiträge liefert, in einem problematischen Versuch, die Vielstimmigkeit unter einem Subjektbewusstsein zu zentrieren. Wie Hugo Moreno beobachtet, er‐ scheint Paz in El mono gramático als einziger Herr und Beherrscher des Wortes: „His monological discours problematically incorporates the multiplicity of voices that are present in the text and creates a seemingly unitary and undisputed discourse.“ 581 Er unterdrücke, so Moreno weiter, systematisch die ver‐ schiedenen Stimmen unterschiedlicher Charaktere, die im Text auftauchen. Damit sind nicht nur die Gestalten auf der ,histoire‘-Ebene gemeint (Priester, Straßenpoeten, Kinder), sondern auch die Stimmen, die den Diskurs des Erzäh‐ lers auf intertextueller Ebene prägen. Moreno spricht von einer großen Zahl anderer Autoren, Linguisten, Philosophen, Anthropologen, deren Identität ver‐ borgen bleibe, obwohl klar sei, dass er einen internen Dialog mit ihnen unter‐ halte. Sie würden aber nicht einmal zitiert. Alles erfahre der Leser nur durch die Interpretation des Erzählers. Dies solle gelesen werden als politische Methode, ideologische Hegemonie über die heterogenen Stimmen und Diskurse auszu‐ üben, die im Text verschmelzen. Die Beobachtung ist an sich durchaus richtig; ich sehe diesen Umgang mit den heterogenen Diskursen im Textkorpus allerdings eher als Ausdruck einer Selbstdisziplinierung und im Zusammenhang mit dem asketischen Ideal einer Selbstpraxis, welche die widerstreitenden, inneren Vorgänge und Lektüreengramme, die das Selbst integrieren, in Ordnungsmuster und Sinnzusammen‐ hänge lenken muss. Die fehlende Kenntlich-machung intertextueller Bezüge 288 III. Praxis 582 Paz: Pasado en claro, S. 33. 583 Paz: MG, span. S. 67. 584 Ebd., S. 66. (Unterstreichungen durch mich). betrachte ich als Souveränität essayistischen Verfügens über einen verinner‐ lichten, reichen Kulturbestand. Mit Julia Kristeva können wir auch an diesem Punkt für Paz geltend machen, wie sehr der Dichter selbst von einer Position des ‚Symbolischen‘ aus sprechen und fest in ihr verankert sein muss, um jenes ‚Semiotische zweiten Grades‘ der Dichtung entstehen zu lassen. Trotz Beibehaltung dieser starken Subjektperspektive: In der Tiefe von El mono gramático wogt und flüstert weiter die ‚redende Sprache‘, die Paz in Pasado en claro als transzendente Kreaturen aus Worten beschwört, die feuergetauft und lufterfüllend von der ‚anderen Seite‘ künden: Son criaturas anfibias, son palabras. Pasan de un elemento a otro, se bañan en el fuego, reposan en el aire. Están del otro lado. No las oigo, ¿qué dicen? No dicen: hablan, hablan. 582 Die Sprache zeugt ihre Chimären und Monstren, murmelt ihre geheimnisvollen Psalme und Anrufungen, mengt Laute und Seme zu Wellen zusammen, lässt sie in einer Brandung wieder auseinanderbrechen, bis sie verstummen und an an‐ derer Stelle des Ozeans neu beginnen. So durchzieht den ganzen Text eine Rhythmik, deren Bestandteile - performativ - die Sinnelemente des Texts spie‐ geln: Die semiotische Sprachtiefe zerschlägt die symbolischen Setzungen; sie ist Weg der Auflösung - „camino de disoluciones“. 583 Und wenn wir ganz nah an sie herantreten und in sie hineinhören, so erkennen wir, dass sie diese Eigen‐ schaft als lautliche Signatur in sich trägt: Un cuerpo que había desaparecido en su cuerpo y que, en el instante mismo de esa desaparición, había hecho desaparecer al suyo: corriente de vibraciones que se disipan en la percepción de su propia dispersión, percepción que es ella misma dispersión de toda percepción […] 584 Die Sprache raunt, wispert, stammelt, bringt ein Wort hervor, das sich als Echo verliert und neu aufbrandet: des - des - dis - per - c(s)ión - dispersión - perción - dispersión - perción Der rhythmische Fluss dieser Semlautbewegungen durchzieht den Text und lädt ein, sich ihm hinzugeben, ihn nachzuvollziehen und in allem zu suchen. Darin besteht die ethopoetische Wirkung des Texts: einerseits darin, im Gemurmel der 289 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica Millionen von Silben Sprache in ihrer Funktionsweise zu transzendieren; ande‐ rerseits aber auch darin, sich dieses Gemurmel als Matrix der Sprache zu ver‐ gegenwärtigen. Demaskierende Erkenntnis und Aufgabe des imaginären Stand‐ punkts bedeutet, sich keine Illusionen mehr darüber zu machen, worauf unsere bewusste Existenz als sprachliche Wesen gründet: auf dem semiotischen Flu‐ idum, in dem sich unaufhörlich Elemente verschieben, verdichten, sich auflösen und neu zusammensetzen. Wie lassen sich auf diesem sandigen Untergrund überhaupt noch mehr oder weniger stabile Setzungen erreichen? Was weiß ich, und was kann ich überhaupt wissen unter diesen Voraussetzungen? El mono gramático zeigt sich als ,essay‐ istische Praxis‘ auf allen Ebenen: metathematisch durch die Meditation über die Montaigne’sche Frage, die bei Paz als Meditation über die Prozesse der Sinnge‐ bung erscheint. Auf einer textperformativen Ebene lassen sich die assoziativen Sprünge essayistischer Gedankenführung beobachten - was wäre etwa in diesem Sinne ,essayistischer‘, als eine Brücke von hinduistischer Mythologie zu christlicher Theologie zu schlagen. Doch Paz untersucht auch die inneren Vor‐ gänge der Sprache, die der Assoziation zugrunde liegen und die für eine sol‐ chermaßen ‚unmethodische Methode‘ ausschlaggebend sind. Dabei stößt er auf die Rhythmik des Wechsels von ‚Semiotischem‘ / Poesie und ‚Symbolischem‘ / Prosa. Er geht jedoch noch einen Schritt weiter: In der Tiefe des ‚Ge‐ notexts‘ offenbart Paz schließlich, wie Verschiebung und Verdichtung das ‚Se‐ miotische‘ konstituieren, sodass nun die thematischen Sprünge und deren Thesen auf der Bedeutungsebene als Ergebnisse dieser Bewegungen sichtbar werden. Dieser Blick in die Sinngebungsprozesse offenbart, dass unser Verstand, unsere Urteilskraft und unser Wissen auf widerstreitenden Elementen gründet: auf Poesie und Prosa, ‚Semiotischem‘ und ‚Symbolischem‘. Die Praxis, selbstre‐ flexiv diese Prozesse zu untersuchen und sie nachzuvollziehen, sich ihnen schreibend auszusetzen, ist eine ,essayistische‘. Das ‚Essayistische‘ weist in all seinen Ausprägungen und unterschiedlichsten Thematiken darauf hin, dass jeder Tatbestand, den wir im Materiellen vorfinden, nicht nur der rationellen Auslegung bedarf, sondern auch eine Offenheit erfordert, sich des Schlüssels zu einer kosmischen Syntax der Dinge zu bemächtigen. Nur wer sein Bewusstsein aus den Systemen heraus und hin zur ‚semiotischen chora‘ öffnet, macht sich wirklich frei: Der ist kein Sklave mehr der symbolischen Sprache, macht keinen imaginären Gebrauch von ihr; der gibt sich nicht einer trügerischen Sicherheit vermeintlich stabiler Strukturen hin, in der alles seinen Platz und seine genaue Bedeutung hat, ohne überhaupt zu bemerken, wie er sich in ihren Verschie‐ bungsbewegungen verliert - als ,Nach-äffer‘ einer Sprache, die er in Wirklich‐ keit weder spricht noch versteht. Nur wer sich über das Wesen der Sprache und 290 III. Praxis das durch sie gebildete Wissen im Klaren ist und sich selbst in ihrer Negativität setzt, kann sich ihrer bemächtigen - und das heißt in letzter Instanz, sich in provisorischen Setzungen seiner selbst zu bemächtigen. Pazʼ essayistische Re‐ flexion über die Poesie erkennt, dass das Subjekt auf eine semiotische Ursub‐ stanz zurückgreifen kann, um im bewussten Bruch mit den Regeln schöpferisch frei zu sein, Sprache als Raum der Möglichkeit zu erfahren und sich dabei den‐ noch der Verantwortung der Verständigung und Deutung zu beugen. So ist sein Diskurs weder ein poetischer noch ein diskursiver, sondern handelt immer neue Kompromisse aus zwischen imaginärem Gebrauch, symbolischem Bewusstsein und semiotischer Körperlichkeit. 291 2 Octavio Paz: El mono gramático. Una pasión crítica IV. Nachklang Was ist das ‚Essayistische‘? Auf die Frage erscheinen zwei Antworten möglich: eine metasprachliche und eine metaphorische. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive umschreibt das ‚Essayistische‘ eine Gestaltungsproblematik, die den Komplex von Subjektkonstruktion, Sprachformation und Wissenskonstitution selbstkritisch und transparent verhandelt und seine Inhalte performativ im Dis‐ kursgeschehen spiegelt. Eine metaphorische Perspektive offenbart das ‚Essay‐ istische‘ als Betrachtung der Konstellationen von ‚Weg‘, ‚Lichtung‘ und ‚Hori‐ zont‘. Der Impuls für ein essayistisches Schreiben geht von einer metaphysischen Ursehnsucht aus, die sich auf ein Erleben von Totalität oder Ganzheitlichkeit richtet und in einer moralisch-ästhetischen Existenzrealisierung sowie einer Überwindung von Trennungen und Grenzen besteht; von Kunst und Wissen‐ schaft, Imagination und analytischem Verstand, Poesie und Prosa. Ohne jedoch selbst zum Ausdruck metaphysischer Konzepte und Systeme zu werden, holt das ,Essayistische‘ die transgressiven Akte prozesshaft in einer Praxis des Schreibens ein, die einen kritischen Blick auf ihre Zielsetzung und Methoden bewahrt und sie fortschreitend als Unmöglichkeit enthüllt. Der Widerspruch aus metaphysischem Impuls und konsekutivem Verfehlen seiner gelungenen Gestaltung ist im ‚Essayistischen‘ von Beginn an veranlagt; das Scheitern der Konstruktionsversuche erfolgt kalkuliert, aber ohne die unbedingte Ernsthaf‐ tigkeit des Versuchs infrage zu stellen. Diese doppelte Bindung an ihre Zielset‐ zung bildet die aporetische Grundstruktur essayistischer Praxis, die in unter‐ schiedlichen Konstellationen von Paradoxa und Ambivalenzen einen Zwischenraum von Dekonstruktion und (Re-)Konstruktion erscheinen lässt. Diesen Zwischenraum zu untersuchen galt eine besondere Aufmerksamkeit dieser Studie. Davon ausgehend, dass sich beim ‚Essayistischen‘ die Textpro‐ zesse im Zusammenhang einer ‚Selbstpraxis‘ abbilden und als ‚écriture de soi‘ im Sinne Michel Foucaults darstellen lassen, entwickelt sich das entwerfende, erprobende Schreiben zu einer ,Körper-schrift‘, die sich in ganz wesentlichen Aspekten durch Einbezug von Sinnlichkeit, Erotik und Körperlichkeit definiert. Sie schafft eine besondere Relation der Intimität und Nähe, die sich nicht nur im Gestus risikoreicher parrhesiastischer Rede, sondern auch in einer ‚geno‐ textuellen‘ Tiefenebene beobachten lassen. Anhand dieser Relation der ‚Nähe‘ habe ich versucht, jenen Zwischenraum zu ertasten, in dem die essayistische Praxis operiert. Da sich bisherige Untersuchungen zwar auf die Existenz dieses Raums verständigt haben, ohne jedoch die Vorgänge in seinem Inneren eingeh‐ ender zu beleuchten, war es Ziel dieser Arbeit, die Funktionsweise der essayis‐ tischen Praxis genau an den Stellen zu betrachten, die bisher lediglich als Dia‐ lektik oder assoziative Sprünge gekennzeichnet waren: Das ‚Essayistische‘ ist eine Praxis, die Lücken, Unterbrechungen, Pausen und Leerstellen durch die assoziative Sprunghaftigkeit zwischen poetischen und argumentativen Mustern erschafft. Gerade innerhalb dieser Lücken verortet sich das besondere Verhältnis von Formlosigkeit und Form, das die essayistische Problematik beschreibt. Wie diese Querverbindungen geschaffen werden und welche Vorgänge sich in ihnen im Detail abspielen, sollte anhand zweier Hypothesen erfragt werden: 1) Das ‚Essayistische‘ ist ein Schreiben im ‚Spiegelstadium‘ nach Jacques Lacan. 2) Es ist ‚Textpraxis‘ nach Julia Kristeva. 1. An Lacans Ansatz interessierte mich in diesem Zusammenhang vor allem dessen Charakter als ‚Demaskierungspsychologie‘. Im Spiegelstadium, das Lacan selbst immer weniger als rein entwicklungspsychologischen Ansatz betrachtet hat, lässt sich das ambivalente Wechselverhältnis des ‚Ich‘ des erwachsenen Menschen beobachten. Es besteht aus einer polaren Spannung der Register des ‚Imaginären‘ und des ‚Symbolischen‘. Wäh‐ rend das ‚Imaginäre‘ dem Wunsch nach der abgeschlossenen, abgerun‐ deten und daher beherrschbaren Form nachkommt, ist das ‚Symbolische‘ nicht starres Gesetz der väterlich sprachlichen Gesellschaftsordnung, sondern, vereinfacht ausgedrückt, Ort eines sprachlich strukturierten Unbewussten. Der Eintritt ins ‚Symbolische‘ ist die Bewusstmachung der Strukturierung des Selbst durch volatile Sprachformationen, deren Zei‐ chen sich immer wieder neu mit unterschiedlichen Bedeutungsgehalten verbinden. Das ‚Symbolische‘ ist eine Position der ,Ent-täuschung‘ und der Einsicht in das, was das Begehren des Menschen lenkt und struktu‐ riert. Es ist jedoch kein Verharren im ‚Symbolischen‘ möglich; die beiden Register oder Positionen des Sprechens durchdringen sich und können praktisch nicht voneinander geschieden werden, weil ohne das ‚Imagi‐ näre‘ überhaupt kein Sprechen möglich wäre. Es braucht die identifizie‐ rende Setzung des ‚Ego‘, um überhaupt einen Blick auf ein begehrtes Ob‐ jekt zu werfen. So ist Lacans ‚Spiegelstadium‘ die Formulierung einer Aporie der Erkenntnis, die als äquivalent zum ‚Essayistischen‘ erscheint. Das ‚Imaginäre‘ ist notwendiger Umweg, fortwährender Versuch, der im Symbolischen sowohl seine Erfüllung als auch seine ,Ent-täuschung‘ er‐ fährt. Das Spiegelstadium beschreibt als Ästhetik des bewussten Schei‐ 294 IV. Nachklang terns eine Figur der Negativität, die für die Konstitution des essayisti‐ schen Subjekts maßgeblich ist. 2. Julia Kristeva führt in ihrem psychopoetischen Begriff der ‚Textpraxis‘ die Konstitutionsprozesse von Text und schreibendem Subjekt zusammen. Bereits dieser Umstand macht ihren Ansatz so interessant für eine Be‐ trachtung des ‚Essayistischen‘. In einer Kritik an Lacan öffnet sie die Po‐ sition des ‚Symbolischen‘ für Vorgänge, die es immer wieder sprengen und in seiner Unbeherrschbarkeit zeigen. Zwar ist bei Lacan das ‚Sym‐ bolische‘ als Sprache des Unbewussten einer großen Dynamik unter‐ worfen; diese bleibt aber tendenziell eher intellektuell erfassbar. Mit dem ‚Symbolischen‘ und dem ‚Imaginären‘ stehen sich also im Grunde zwei Sinnstrukturen gegenüber, und der Unterschied zwischen beiden er‐ scheint als Frage der Perspektive. Spricht das Subjekt aus seinen illusio‐ nären Verstrickungen heraus oder aus einer Position einer produktiven Desillusionierung? Mit ihrem Begriff des ‚Semiotischen‘ erfasst Kristeva einen Bereich, der sich von solchen Sinnstrukturen als das fundamental ‚Andere‘ unterscheidet. Sie beleuchtet zwei Aspekte, die bei Lacan ent‐ weder unterrepräsentiert sind oder fehlen: den konstruktiven Effekt von ‚Vorsymbolischem‘ auf die Gestaltung des ‚Symbolischen‘ und dessen körperliche Verfasstheit. Damit untersucht sie in einem Feinbereich die Prozesse, die der Bildung einer sprachlichen Strukturierung des Unbe‐ wussten überhaupt zugrunde liegen. Dabei sprengt das ‚Semiotische‘ immer wieder die sinnhaften Setzungen durch die andauernde Produk‐ tion eines Sinnüberschusses. Für das ‚Essayistische‘ sind diese Prozesse interessant, weil sie beleuchten, wie genau eine Textpraxis transgressiv wirksam ist und welche Operationen an den Sprüngen beteiligt sind, die in einem Makrobereich lediglich als Assoziation erkennbar sind. Der Ex‐ zess einer körperhaften sprachlichen Ursubstanz bildet die Basis für die Produktion eines Wissens, das sein Ziel in einem Hinausgehen über sich selbst hat, in dem also, was Derrida als das Streben nach dem ‚+n‘ be‐ zeichnet hat. Das ‚Essayistische‘ ist eine Problematik, die sich als ‚Textpraxis‘ materialisiert und in unterschiedlichen Konstellationen erscheint, die nicht abschließend auf‐ zuzählen oder zu definieren sind. Allgemein jedoch lässt sich festhalten, dass die Elemente dieser Konstellationen Begriffe bilden, die sich aus dem Umfeld poststrukturalistischen Denkens gewinnen und isolieren lassen, die jedoch gleichzeitig radikal mit ihrem ‚Anderen‘ und ihrer Kritik konfrontiert werden. Diese Konstellationen bilden daher einen aporetisch strukturierten Raum zwi‐ schen konstruktivistischer Auffassung und einem ‚intensiveren Sinn‛ von Wahr‐ 295 IV. Nachklang heit, der mit Heideggers Vorstellung der ‚aletheia‘ als Eintauchen in ein Wahr‐ heitsgeschehen in Verbindung gebracht werden kann. Andererseits lässt sich dieser Raum auch texterotisch als Ambivalenz von ‚plaisir‘ und ‚jouissance‘ fassen oder mit dem kritischen Verhandeln der dichotomischen Vorstellung der Sprache aus ‚Schrift‘ und ‚Stimme‘. Die in dieser Arbeit untersuchten Texte von María Zambrano und Octavio Paz wurden einer ‚poetischen Essayistik‘ zuge‐ rechnet, die als Begriff in einer Parenthese gedacht werden und keine letztend‐ liche Definition erfahren kann, da eine klassifizierende Darstellung essayisti‐ scher ‚Untergruppen‘ nicht im Sinne meiner Arbeit ist. Mit dem Begriff sollte jedoch auf einen Extrempunkt des ‚Essayistischen‘ aufmerksam gemacht werden, der sich in diesen Texten besonders eindringlich realisiert und das ‚Es‐ sayistische‘ in seiner Dimension als Sprachproblematik offenbart. Sie zeigen die essayistische Konstellation in besonders scharfen Konturen, da sie die Extrem‐ punkte jenes Zwischenraums besonders weit fassen: Zwischen der Poesie als sprachlicher Ursubstanz oder Matrix und philosophischer Prosa als reflexivem, die Sprache beherrschendem Modus liegt die Problematik der Elaboration. Da beide Pole sich überkreuzen und bedingen, gleichzeitig aber in einem Aus‐ schlussverhältnis zueinander stehen, bilden sich in ihrem Spannungsfeld ambi‐ valente Figuren, die nach einem Wort von Sarah Kofman eine Betrachtung mit ‚schiefem Blick‘ erfordern, da sie das logisch rationelle Verstehen herausfordern. Das ‚Essayistische‘ erscheint daher in Konstellationen der Entmächtigung, durch die Rücknahme von Thesen als reiner ‚Möglichkeitsdiskurs‘; andererseits aber auch in Konstellationen der Behauptung gegen Widerstände der ,Un-mög‐ lichkeit‘. Darin entwickelt es eine Ästhetik der Schwäche innerhalb einer apo‐ logetischen Kommunikationssituation und findet seinen Ausdruck in einer de‐ couvrierenden Darstellung isomorpher Figurationen von Labilität: des heteronomen Selbst, das um seine Autonomie ringt, mittels einer inkommen‐ surablen Sprache nach Erfassung der Welt strebt und unter den Vorzeichen des Zweifels an der Erkenntnisfähigkeit die Vision einer ‚intensiveren Wahrheit‘ erhofft. Die metaphysische Ursehnsucht des ,Essayistischen‘ ist die Einheit des ‚Ich‘ mit seiner ‚Sprache‘ und der ‚Welt‘. Seine Praxis entwirft wechselnde Kons‐ tellationen, in denen sich jeweils eines dieser Elemente in Unvereinbarkeit mit den anderen zeigt. Unverzichtbar für das ,Essayistische‘ ist die Präsenz eines ‚Ich‘, das sich jedoch auch, wie im Fall der Claros del bosque, auf indirekte Weise im Text vermitteln kann. Ohne die subjektive Perspektive ist jedoch keine ‚Textpraxis‘ zu denken, in der ein Subjekt versuchhaft den eigenen Platz in Relation zu seiner Welt be‐ stimmt. Dabei kommt es stets zur Begegnung mit seiner ‚verfehlten Gestalt‘ und der Nicht-Identität mit sich selbst. Das Subjekt opfert sein ‚Ich‘ für die Erfahrung 296 IV. Nachklang 1 Paz: Pasado en claro, S. 38. 2 Zambrano: CB, span. S. 131, dt. S. 21: „Ein Erwachen ohne Bild, ein Zustand, in dem wir sein müssen, wenn wir noch nicht unsere Namen gelernt haben und überhaupt noch keine Namen.“ 3 Zambrano: Días de exilio, S. 254 (e. Ü.): „Cómo vivir en la metamorfosis sin perder la identidad? “ seiner sprachlichen Verfasstheit durch eine transzendierende Reinigung der Sprache: Purgación del lenguaje, la historia se consume en la disolución de los pronombres: ni yo soy ni yo más sino más ser sin yo. 1 Un despertar sin imagen, así como debemos de estar cuando todavía no hemos ap‐ rendido nuestro nombre, ni nombre alguno. 2 Die Erfahrung dessen wird schreibend reflektiert und bildet das essayistische Wissen als Rückweg (vuelta). So ist eine Essayistin / ein Essayist eine Person, die Rückwege, ständig neue Wendungen und Umwege macht (dar vueltas). Daraus entsteht als ethopoetische Wirkung der Austritt aus dem Feld des ‚Imaginären‘. Dass dieser Austritt auch schmerzvolles Erlebnis sein kann, davon zeugt insbe‐ sondere María Zambranos Text. Die Frage, die sie im offenen Brief an Alfonso Reyes stellt, „Wie können wir in der Metamorphose leben, ohne die Identität zu verlieren? “, 3 beschreibt die Gefahr einer Tragik, der sich das essayistische Sub‐ jekt zu stellen hat. Darin berührt es auch die Frage, wie sich denken lässt nach dem von Lyotard konstatierten Zusammenbruch der Metaerzählungen: wie sich orientieren in einer fragmentarisch, unsicher erscheinenden Welt, in der sich die Diskurse aufsplitten und perspektivieren? In dieser Zersplitterung kann sich das Subjekt nicht an die Sicherheiten der Systeme halten, sondern liefert sich im parrhesiastischen Reden im Sinne eines (alles sagenden) Bekenntnisses aus. Das ‚Alles-Sagen‘ impliziert dabei noch die Kritik des parrhesiastischen Dis‐ kurses selbst, über dessen Prozess das Subjekt Rechenschaft ablegt. Das ‚Essay‐ istische‘ ist eine performative, kritische und transparente ‚Textpraxis‘. Angesichts dieser Erkenntnis taucht ein Unbehagen auf, das die Frage Hans Blumenbergs neu erinnert: Was war es, was wir wissen wollten? Als radikal kritische Form und Impuls des ‚Hinausgehens-über‘ konfrontiert das ‚Essayis‐ tische‘ jedes wissenschaftlich gefasste Ergebnis mit seinen Voraussetzungen: Was kann Literaturwissenschaft, was erwarten wir von ihr, und wie gehen wir mit ihren Ergebnissen um? Keine ernsthafte Untersuchung über essayistische Schreibpraktiken kann diese Fragen unberührt lassen. So erzeugt eine rein me‐ tasprachliche Formulierung von Erkenntnissen über das ‚Essayistische‘, viel‐ 297 IV. Nachklang 4 Derrida: Diese seltsame Institution genannt Literatur, S. 23. 5 Lukács, S. 41. 6 Vgl. Jung, C. G.: Zugang zum Unbewussten. In: Jung, C. G.: Der Mensch und seine Sym‐ bole. Olten / Freiburg im Breisgau: Walter-Verlag 1979, 20-103. S. 90-94. 7 Ebd., S. 95. leicht noch stärker als in anderen Bereichen, die Ahnung, man hätte es ‚noch nicht so recht getroffen‘; die Wissenschaft müsse selbst literarischer oder zu‐ mindest ‚redender‘ werden, um in Bereiche des Wissens vorzudringen, die der analytische Verstand in der Tiefe belässt. Jacques Derrida antwortet auf die Frage, ob es notwendig sei, zwischen Literatur und Literaturkritik zu unter‐ scheiden, (natürlich) mit einem ‚Weder-noch‘, welches jenes Unbehagen viel‐ leicht gut fasst: Er fühle sich weder wohl mit einer rigorosen Unterscheidung noch mit einer Vermischung. „Worin könnte die strenge Grenze bestehen? ‚Gute‘ Literaturwissenschaft, die einzige, die es wert ist, impliziert eine Handlung, eine literarische Signatur oder Gegenzeichnung, eine erfinderische Erfahrung der Sprache, in der Sprache, eine Einschreibung des Akts des Lesens in das Feld des Textes, der gelesen wird.“ 4 In diesem Sinn also habe ich in dieser Studie aufrichtig versucht, ‚gute Literaturwissenschaft‘ zu betreiben. Was geschieht in jenem Zwischenraum einer Gestaltung? Die Untersu‐ chungen Julia Kristevas haben gezeigt, dass ‚dem Essay‘ in seiner amorphen Form als „frecher Gnom der Literatur“ vielleicht doch mehr Gesetzmäßigkeiten zugrunde liegen als angenommen. So sind die sprunghaften Assoziationen, welche die essayistische Praxis konstituieren, weder unlogisch noch kontingent; vielmehr beruhen sie auf einer ‚musikalischen Logik‘ und einer ‚poetischen Kausalität‘, die sich den sinnlichen und bildlichen Vermögen des Menschen er‐ schließen. Die Frage der Bildlichkeit lässt zwei Perspektiven entstehen: Ent‐ weder der Mensch verfehlt sich stets als Metapher, oder er erkennt sich im Symbol. „Wir fordern, daß die Dichter und die Kritiker uns Lebenssymbole geben“, 5 schreibt Georg Lukács. Und es scheint, eine Antwort würde durch C. G. Jung formuliert: der moderne Rationalismus habe die Fähigkeit des Men‐ schen zerstört, auf Symbole zu reagieren, und ihn damit einer psychischen Un‐ terwelt preisgegeben. Der Mensch verstehe schlicht die Symbolik nicht mehr, die ihm jahrtausendelang als Brücke instinktiver Energien zu rationalen Ge‐ bieten des Geistes diente. Sie sei nicht mehr wirksam. Damit zerfalle seine geistig-seelische Tradition. 6 Der Geist ist zu den „beschränkten Ich-Gedanken des Menschen degeneriert; die unermessliche emotionale Energie […] versickert im Sande einer intellektuellen Wüste.“ 7 Das intellektuelle Projekt María Zambranos und Octavio Pazʼ, das einen Hö‐ hepunkt in einer ‚poetischen Essayistik‘ findet, kann als Ausdruck des alten 298 IV. Nachklang 8 Derrida: Grammatologie, S. 188 f. 9 Paz: MG, dt. S. 108, span. S. 116: „El lenguaje es la consecuencia (o la causa) de nuestro destierro del universo, significa la distancia entre las cosas y nosotros. También es nu‐ estro recurso contra la distancia. Si cesase el exilio, cesaría el lenguaje.“ 10 Vgl. Zambrano: Amo mi exilio, S. 66. Traums gesehen werden, diese Wüste wieder fruchtbar zu machen. Beide greifen dabei auf Motive und Praktiken asketischer Mystik zurück, die einem reinen Rationalismus widersprechen. ,Lichtung‘ und ,Weg‘, die in Claros del bosque und El mono gramático evoziert werden, sind Teil einer alten Ausdrucks‐ symbolik nicht nur für ein ganzheitliches Verstehen, die sich bis heute aufrecht‐ erhält. „Die Möglichkeit des Weges und der Differenz als Schrift müßten einmal aufeinander reflektiert werden“, schreibt Derrida in der Grammatologie. „Die Geschichte der Schrift und die Geschichte des Weges, der via rupta, des durch‐ brochenen, gebahnten Weges, fracta, des von der Öffnung gezeichneten Raums.“ 8 Die Texte von Paz und Zambrano folgen (bewusst oder nicht) diesem Anstoß, den Derrida selbst wohl von Heidegger übernimmt. Der Durchbruch durch den Wald der Schrift zu den leeren Stellen einer Lichtung ist Weg einer Differenz aus einer ‚intendierten Teleologie‘ und ihrem ‚kalkulierten Scheitern‘, in dem sich das Subjekt verliert und zerstreut wie Paz auf den Pfaden von Galta. ,Lichtung‘ und ,Weg‘, ,Poesie‘ und ,Prosa‘, ,Bild‘ und ,Text‘, ,Vision‘ und ,Reflexion‘ bilden die aporetische Struktur eines ganzheitlichen Wissens, in der sich beide Pole bedingen und niemals treffen. In ihren Zwischenräumen macht das Subjekt die Erfahrung der Sprachlichkeit und damit die des ‚Exils‘: Die Sprache, schreibt Paz, ist Konsequenz oder Grund unserer Verbannung. Sie ist aber auch unser Mittel gegen die Distanz zwischen den Dingen und uns. Wenn das Exil aufhörte, hörte auch die Sprache auf. 9 Für María Zambrano bildet das Exil eine zentrale Kategorie ihres Denkens. Ich wünschte, schreibt sie in Amo mi exilio, dass alle zugleich menschlich und kosmisch wären. 10 Und vielleicht ist essayistisches Schreiben überhaupt ein Aus‐ druck dieses Wunsches. Es antwortet auf den menschlichen Wunsch, Sinnzu‐ sammenhänge zu etablieren und Wissen zu erneuern, Wege zu erschließen, die verborgen schienen. Genauso trägt es aber der Sehnsucht nach einem simul‐ tanen, körperlichen Empfinden der Wirklichkeit Rechnung. Dies ist das Bild des Himmels mit seinen Gestirnen, der sich in der Waldlichtung spiegelt, als Kosmos, dessen Harmonie sich in der Seele spiegelt. Eine Uranalogie: Denn ,Lichtung‘ ist kreisförmige Sphäre, und der Kreis ist ein Archetyp der Seele. Im Verständnis C. G. Jungs sind Archetypen Bilder, die emotionalen Ge‐ halt aufweisen und daher verändernd wirken. Das einfache Bild hingegen sei 299 IV. Nachklang 11 Jung, S. 96. 12 Ebd., S. 98. 13 Vgl. von Franz, Marie-Luise: Der Individuationsprozess. In: Jung, C. G.: Der Mensch und seine Symbole. Olten / Freiburg im Breisgau: Walter-Verlag 1979, 160-229. S. 161 ff. 14 Ebd., S. 202 ff. bloße „Wortillustration ohne besondere Folgen“. 11 Jedes Symbol des Unbe‐ wussten entspringt für Jung dem Versuch, Gegensätze in der Psyche zu ver‐ söhnen. Doch die Archetypen bedürfen einer besonderen Achtsamkeit, denn sie verweisen auf allgemeinmenschliche Strukturen. Man müsse, den speziellen „Gefühlston“ eines Archetypen wahrnehmen, um nicht nur ein Gemisch beliebig erscheinender mythologischer Begriffe darin zu sehen: „Archetypen erwachen erst dann zum Leben, wenn man sich geduldig um ein Verständnis ihrer Bedeu‐ tung und Wirkungsweise im einzelnen Menschen bemüht.“ 12 Der Kreis versinn‐ bildlicht für Jung das seelische Zentrum, das ‚Selbst‘, das einen ganzen Prozess des seelischen Wachstums oder der ‚Selbstwerdung‘ organisiert. Für den Wachs‐ tumsprozess steht seinerseits das Symbol des Baums. 13 Die Lichtung als Sphäre inmitten eines Waldes wäre somit Traumsymbol für den ‚Individuationspro‐ zess‘. Zambranos Claros del bosque wären also Schrift eines Selbst- oder Sub‐ jektprozesses, der sich mit genau diesem Prozess auseinandersetzt unter Ver‐ wendung seiner uralten Symbolik. Zambranos Text ist essayistische Reflexion über Archetypen der Seele. ,Essayistisch‘, weil sie sich in ihrem Schreiben auch kritisch auf den Seelenprozess bezieht. So bleibt er als ,Versuch‘ fragwürdig, da sie ihm das Bild des ‚Exils‘ entgegenhält, das uns den Eintritt in die Lichtung verwehrt. ‚Baum‘ oder ‚Pflanze‘ erscheinen bei Jung aber ebenso als Symbol für den ‚kosmischen Menschen‘, das heißt als ein Bild für das Geheimnis der Ganzheit des Menschen und seines ‚Selbst‘, 14 dessen Perspektive Zambrano in ihrem Schreiben stets bewahrt und um den ihre Meditation der ,Lichtung‘ kreist. Denn nicht nur die geometrische Form des Kreises ist Ausdruck des ganzheitlichen ‚Selbst‘, sondern auch die Zahl ‚vier‘: Das ‚Selbst‘ drückt sich in ,vierfaltigen‘ Strukturen aus, und so ist die Waldlichtung auch Tempel, Spiegel, Himmel und Hörsaal. Die verschlungenen Wald- und Pflanzenwege zur ,vierfaltigen‘ Lich‐ tung sind Ausdruck einer problematischen Schrift zu einem immer unwirklich und chimärisch erscheinenden ‚kosmischen Selbst‘ und zum ‚Urgrund‘ eines intensiveren Sinns von Wahrheit. Damit ist Zambranos Text letztlich auch Essay zum ‚Essayistischen‘. Während Zambrano eher der Erfahrung der ,Lichtung‘ nachspürt, legt Oc‐ tavio Paz einen größeren Akzent auf den ,Weg‘; mit Richard Dadds Bild ironisiert er die Lichtung. Dennoch ist auch bei ihm das Bild des kosmischen Menschen 300 IV. Nachklang 15 von Franz, S. 206. 16 Ebd., S. 186. 17 Paz: MG, dt. S. 55, span. S. 59: „El noble mono se dijo a sí mismo: Aquí se han juntado los planetas que, consumida su provisión de méritos, caen del firmamento. Era verdad: las mujeres resplandecían como caidos meteoros en fuego.“ (Hervorhebungen durch den Autor.) zentral, allerdings im Verständnis einer Ambivalenz zwischen menschlichem und göttlichem Sein. Die Jung-Schülerin Maire-Luise von Franz schreibt: „Oft wird das Selbst durch ein hilfreiches Tier dargestellt (ein Symbol für die in‐ stinktive Grundlage der Psyche).“ 15 Hanuman, der göttliche Affe, steht als psy‐ chisches Symbol für den Dichter und seine ‚Anima‘: Diese ist nach Marie-Luise von Franz selbst eine Mittlergestalt zwischen dem Affen (das heißt der instinkt‐ haften Natur des Menschen) und dem Göttlichen. 16 Wie erhält der Mensch Zu‐ gang zu seinem kosmischen Selbst, welches sein ‚Ich‘ bei Weitem überragt? Wie lässt sich dieses Selbst erfahren? Paz sieht die Antwort in einer Möglichkeit des Erlebens kosmischer Harmonie in den semiotischen Prozessen der Sprache. Eines der Kapitel von El mono gramático ist kunstvolle Nacherzählung der neunten Sarga aus dem Sundara Kanda, dem fünften Buch des Ramayana, in dem es um die Heldentaten Hanumans geht. Darin betrachtet Hanuman, ein‐ gedrungen in Ravanas Palast, den Harem des Dämonenfürsten: die Frauen‐ körper, die sich in orgiastischem Tanz und Liebesspiel ineinander verschlingen (wie sich die Pflanzen des Urwaldes und die Kalligrafien auf einer Seite inei‐ nanderschlingen) und erschöpft, teilweise noch in ihren Vereinigungen, zu Boden sinken. Mit ihrem schimmernden Schmuck gleichen sie funkelnden Sternen aus sphärenhaftem Glanz: „Der noble Affe sprach zu sich selber: dies sind die Planeten, die, da der Vorrat ihrer Verdienste aufgezehrt war, vom Himmel stürzten. Es stimmte: die Frauen schimmerten wie herabgestürzte brennende Meteore.“ 17 Die wilden Vereinigungen und Trennungen der Sternenfrauen des Ravana versinnbildlichen eine kosmische Sprache des Universums, die der Mensch mit der kosmischen Gestalt seines ‚Selbst‘ aufnehmen kann, im We‐ sentlichen durch eine Öffnung zum ‚Semiotischen‘. Dieses ‚Semiotische‘ aber ist vor allem Klang, Rhythmus, Prosodie. Die Idee eines musikalischen oder ,harmonischen‘ Verständnisses des Uni‐ versums geht auf die Pythagoreer zurück, die davon ausgehen, dass der Mensch sich unbewusst immer derselben musikalischen Muster bedient, weil er damit einen kosmisch-mathematischen Bauplan des Universums reproduziert. Har‐ monien gründen auf abstrakten Zahlenverhältnissen, die sich auch in den Pro‐ portionen der Gestirne zueinander finden. Daraus ergeben sich Harmonien und Konsonanzen, abgeleitet aus dem ewigen Geist Gottes. Vorzustellen sind diese 301 IV. Nachklang 18 Kepler, S. 67. 19 Ebd., S. 102. 20 Ebd., S. 154 f. Proportionen etwa als Saiten einer Lyra; je nach Länge produzieren sie unter‐ schiedliche Töne. Ob ein Zusammenklang harmonisch ist, bestimmt das Ver‐ hältnis der jeweiligen Saitenlängen zueinander. Johannes Kepler greift diese Idee in seinen fünf Büchern der Harmonices mundi auf, modifiziert sie aber dahin‐ gehend, dass er das starre pythagoreische System aufbricht zugunsten einer größeren Bedeutung des Instinkts bei der Erfassung dessen, was ,harmonisch‘ ist, gestützt auf seine astronomischen Berechnungen. Die „pythagoreische Dik‐ tatur“, 18 so sein Vorwurf, hätten sich auf rein abstrakte Zahlenverhältnisse ver‐ lassen und dem menschlichen Ohr damit Gewalt angetan. Seine „Musik der Sternenstimmen“ 19 leitet sich aus dynamischen, geometrischen Prinzipien her, bezieht Umlaufzeit und Winkelgeschwindigkeit ein und legt damit einen Fokus vom ‚Sein‘ des Universums auf stetiges ,Werden‘. Von der kosmischen Harmonie ist der menschliche Körper in Schwingung versetzt. Die menschliche Stimme ist in der Lage, die Stimmungen dieser kosmischen Prosodie auszudrücken. Und so kommt es, daß der Mensch, der aus der häufigen Empfindung seines in Schwingungen versetzten Kehlkopfes die Idee irgendeiner entsprechenden Gestal‐ tung der tönenden Körper in sich mit aufgenommen hat, dies gleichsam als Gestal‐ tungen der bewegten und dadurch tönenden Körper außerhalb erkennt und unter‐ scheidet und nach Vergleichung untereinander auf die Gesetze der harmonischen Proportionen hin prüft.“ 20 Der Sinn für eine ‚intensivere Wahrheit‘ des ‚Essayistischen‘ besteht im Ein‐ tauchen in ein dynamisches Wahrheitsgeschehen. Das bedeutet eine Ausrich‐ tung an den harmonischen Grundprinzipien, um sich von ihnen ‚in Schwingung versetzen‘ zu lassen. Sich ausrichten aber bedeutet, ihre kosmischen Proporti‐ onen prüfen, unterscheiden, abwägen und erkennen. Und Proportionen sind Analogien: Dies verhält sich zu dem wie jenes zu jenem. ,Essayistisch‘ wäre also nicht die meditative Versenkung in das Spiel der kosmischen Harmonie, sondern ein ständiges Prüfen und Abwägen der Analogien als ihre konstituierenden Elemente sowie auf ihre Kommunizierbarkeit. Vielleicht ließe sich im Hinblick auf die Sternenmelodien das ‚Essayistische‘ dann mit musikalischen Mitteln beschreiben: nicht als Form, sondern etwa als polyphones Gestaltungsprinzip. Es basiert auf dem Kontrapunkt und einer Technik der Imitation und Wiederholung: Dem ‚Ich‘ mit seinen Themen und Setzungen stellen sich kontrapunktisch Verwerfungen, andere Setzungen und Themen entgegen. Imitation und Wiederholung hingegen beschreibt die Mo‐ 302 IV. Nachklang 21 Reyes, S. 291. tivverknüpfung als ‚itérabilité‘ und ‚différance‘: In der polyphonen Satztechnik werden Motive fortgesetzt und weitergesponnen, wobei sie bei jeder Wieder‐ holung doch eine neue Position erreichen. Anschließende Fragen für eine Ana‐ lyse könnten dann lauten: Wie geht das ‚Essayistische‘ mit seinem motivischen Material um, und wie verdichtet es sich zum Thema? Schließlich ließe sich das ‚Essayistische‘ selbst als bestimmte Rhythmik beschreiben aus semiotischem Fließen von Halbgedanken und Verwerfungen, thetischen Einschnitten und symbolischer Souveränität eines Verfügens über Kulturbestände. In diese Rhythmik geht der Sänger ein, der in der Polyphonie versucht, eine eigene Stimme zu behaupten, gleichzeitig mit und, kontrapunktisch, gegen seine ,An‐ deren‘. In einer Verausgabung kommt das Opferfest des Schreibens zu einem vor‐ läufigen Ende, und auf dem Schreibtisch führt noch Alfonso Reyes einen ein‐ samen Monolog, der auf der Seite nachklingt: Tanto divagar, ¿ha sido inútil? Y abrimos, temblando, las valvas de la concha, seguros de encontrarla vacía. ¡Oh pluma, oh papel, oh libros, oh arte difícil! 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Jahrhundert 2017, 414 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8052-8 Band 6 Martina Bengert Nachtdenken Maurice Blanchots „Thomas l’Obscur“ 2017, 340 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8045-0 Band 7 Johanna Vocht/ David Klein / Gerhard Poppenberg (edd.) (Des)escribir la Modernidad - Die Moderne (z)erschreiben: Neue Blicke auf Juan Carlos Onetti 2019, 233 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8101-3 Band 8 Thomas Scharinger Mehrsprachigkeit im Frankreich der Frühen Neuzeit Zur Präsenz des Italienischen, seinem Einfluss auf das Französische und zur Diskussion um das françois italianizé 2018, 719 Seiten €[D] 138,- ISBN 978-3-8233-8160-0 Band 9 Laura Linzmeier Kontaktinduzierter Lautwandel, Sprachabbau und phonologische Marker im Sassaresischen 2018, 625 Seiten €[D] 108,- ISBN 978-3-8233-8141-9 Band 10 Martina Bengert/ Iris Roebling-Grau (edd.) Santa Teresa Critical Insights, Filiations, Responses 2019, 360 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8246-1 Band 11 Jörg Dünne/ Kurt Hahn/ Lars Schneider (Hrsg.) Lectiones difficiliores - Vom Ethos der Lektüre 2019, 664 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-8258-4 Band 12 Christoph Hülsmann Initiale Topiks und Foki im gesprochenen Französisch, Spanisch und Italienisch 2019, 329 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8301-7 Band 13 Mattia Zangari Tre storie di santità femminile tra parole e immagini Agiografie, memoriali e fabulae depictae fra Due e Trecento 2019, 150 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-8360-4 Band 14 Manfred Bös Transzendierende Immanenz Die Ontologie der Kunst und das Konzept des Logos poietikos bei dem spanischen Dichter Antonio Gamoneda 2020, 395 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-8340-6 Band 15 Johanna Vocht Onettis Santa María(s): Machträumliche Spannungsfelder zwischen biologischer Reproduktion und künstlerischer Produktion noch nicht erschienen Band 16 Aurelia Merlan Romanian in the Context of Migration noch nicht erschienen Band 17 Felix Bokelmann Varianzphänomene der Standardaussprache in Argentinien Indizien aus Sprachproduktion und -perzeption 2021, 392 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8490-8 Band 18 Denis Heuring Verdrängen und Erinnern auf dem Theater Bürgerkrieg und Diktatur im spanischen Drama nach 1975 noch nicht erschienen Band 19 Veit Lindner Wege, Lichtung, Horizont: Konstellationen des ‚Essayistischen‘ in María Zambranos Claros del bosque und Octavio Paz’ El mono gramático 2021, 314 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8529-5 ISBN 978-3-8233-8529-5 Der Essay ist eine der wichtigsten literarischen Ausdrucksformen der Moderne. Doch er stellt die Literaturwissenschaft vor Herausforderungen, weil er sich eindeutigen Bestimmungen widersetzt. Die Arbeit beleuchtet das Phänomen als modernen Modus des Schreibens. Er umfasst eine Praxis, mit deren Hilfe Ich-Konstruktionen sowohl vollzogen als auch problematisiert werden.