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Nachkriegslyrik

2020
978-3-8385-5402-0
UTB 
Thomas Boyken
Nikolas Immer

Das Studienbuch arbeitet die Heterogenität der deutschsprachigen Nachkriegslyrik zwischen 1945 und 1965 anhand von Fallanalysen heraus. Die Dichter orientieren sich an typisch deutschen Lyriktraditionen wie der Naturlyrik (z. B. Peter Huchel), favorisieren die Anverwandlung avantgardistischer Schreibweisen (z. B. Gottfried Benn), propagieren den sprachlichen ,Kahlschlag' (z. B. Wolfdietrich Schnurre), orientieren sich an christlich-heilsgeschichtlichen Deutungsmustern (z. B. Werner Bergengruen) oder plädieren für das ,Gebrauchsgedicht' mit politischem Impetus (z. B. Bertolt Brecht). Zugleich ist eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit der Formenvielfalt moderner Lyrikströmungen zu beobachten. Die systematische und didaktisch aufbereitete Einführung eröffnet den Zugang zu diesen unterschiedlichen Prozessen.

,! 7ID8C5-cfeacf! ISBN 978-3-8252-5402-5 Thomas Boyken Nikolas Immer Nachkriegslyrik Poesie und Poetik zwischen 1945 und 1965 Das Studienbuch arbeitet die Heterogenität der deutschsprachigen Nachkriegslyrik zwischen 1945 und 1960 anhand von Fallanalysen heraus. Die Dichter orientieren sich an typisch deutschen Lyriktraditionen wie der Naturlyrik (z. B. Peter Huchel), favorisieren die Anverwandlung avantgardistischer Schreibweisen (z. B. Gottfried Benn), propagieren den sprachlichen ‚Kahlschlag‘ (z. B. Wolfdietrich Schnurre), orientieren sich an christlich-heilsgeschichtlichen Deutungsmustern (z. B. Werner Bergengruen) oder plädieren für das ‚Gebrauchsgedicht‘ mit politischem Impetus (z. B. Bertolt Brecht). Zugleich ist eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit der Formenvielfalt moderner Lyrikströmungen zu beobachten. Die systematische und didaktisch aufbereitete Einführung eröffnet den Zugang zu diesen unterschiedlichen Prozessen. Literaturwissenschaft Nachkriegslyrik Boyken | Immer Dies ist ein utb-Band aus dem Narr Francke Attempto Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel 54025 Boyken_M-5402.indd 1 54025 Boyken_M-5402.indd 1 29.10.20 09: 46 29.10.20 09: 46 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn Narr Francke Attempto Verlag / expert verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München Ferdinand Schöningh · Paderborn transcript Verlag · Bielefeld Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlag · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld utb 5402 JProf. Dr. Thomas Boyken lehrt Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. PD Dr. Nikolas Immer lehrt Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Trier. Thomas Boyken, Nikolas Immer Nachkriegslyrik Poesie und Poetik zwischen 1945 und 1965 Narr Francke Attempto Verlag · Tübingen © 2020 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart CPI books GmbH, Leck utb-Nr. 5402 ISBN 978-3-8252-5402-5 (Print) ISBN 978-3-8385-5402-0 (ePDF) ISBN 978-3-8463-5402-5 (ePub) Umschlagabbildung: Dresden. Blick vom Rathausturm mit Skulptur auf die zerstörte Innenstadt, 1945. © SLUB / Deutsche Fotothek / Hahn, Walter Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® 7 1. 7 2. 11 3. 18 3.1. 19 3.2. 20 3.3. 22 4. 24 5. 27 31 1. 31 1.1. 31 1.2. 36 1.3. 47 1.4. 56 2. 67 2.1. 67 2.2. 77 2.3. 86 2.4. 94 3. 101 3.1. 101 3.2. 111 3.3. 118 3.4. 126 Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Unabschließbare Experimente“: Zur Polyphonie der deutschsprachigen Nachkriegslyrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adorno und Holthusen: Das Reden über Lyrik nach 1945 Die ‚gemeinsame Sache‘ der Nachkriegslyrik . . . . . . . . . . Konstellation als Beschreibungsmodell . . . . . . . . . Exkurs: Begriffsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konstellationen der Nachkriegslyrik . . . . . . . . . . . Forschungslinien der deutschsprachigen Nachkriegslyrik Hinweise zur Anlage und zum Gebrauch . . . . . . . . . . . . . . Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachverdichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Poetologische Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paul Celan: Dichtung als Trauerarbeit . . . . . . . . . . Ingeborg Bachmann: Zeitreflexion und Zeitkritik Günter Eich: Lyrik des ‚Kahlschlags‘? . . . . . . . . . . Naturerfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Poetologische Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Huchel: Melancholische Naturerfahrung . . . Karl Krolow: Natur als Bedrohung des Subjekts . . Johannes Bobrowski: Natur im Zeichen des Verlusts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schuldfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Poetologische Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mascha Kaléko: Kommunikation nach außen . . . . Werner Bergengruen: Kommunikation nach innen Wolfdietrich Schnurre: Warnung vor dem Vergessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. 134 4.1. 134 4.2. 140 4.3. 150 4.4. 157 5. 163 5.1. 163 5.2. 172 5.3. 178 5.4. 187 197 203 227 Trauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Poetologische Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nelly Sachs: Poetik der ‚Durchschmerzung‘ . . . . . Stephan Hermlin: Zwischen Erinnern und Vergessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ceija Stojka: Die geraubte Kindheit . . . . . . . . . . . . Gesellschaftskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Poetologische Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bertolt Brecht: Scheitern der ‚politischen Gebrauchsästhetik‘? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans Magnus Enzensberger: Subversive Lyrik . . . Günter Grass: Lyrische Alternativen? Gegen Ideologie und Traditionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Abschluss: ‚Nachkriegslyrik‘ und ‚Gedichtinterpretation‘ . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 6 Einleitung 1. „Unabschließbare Experimente“: Zur Polyphonie der deutschsprachigen Nachkriegslyrik Epochen, Perioden und Strömungen sind heuristische Kategorien, die notwen‐ digerweise die Komplexität eines Untersuchungsgegenstands reduzieren. Sie helfen beim Reden über Literatur; sie sind in der konkreten Anwendung jedoch meistens nur grobe Schemata mit begrenztem Aussagegehalt (vgl. T ITZMANN 2007, 476 f.). Eine populäre Grenzmarke, die vielfach auch als Epochengrenze gesetzt wird, stellt das Jahr 1945 dar. Walter Jens (1923-2013) hat bereits 1958 in seiner Studie Deutsche Literatur nach 1945 konstatiert: „Der Ausgangspunkt ist klar zu bezeichnen, die große Wende des Jahres 1945 kann durch keinen noch so diffizilen Hinweis auf unterschwellige Kontinuitäten (vor allem stilistischer Art) aus der Welt geschafft werden.“ (J E N S [1958] 1998, 365) Dass nach 1945 die Literatur im Allgemeinen und die Lyrik im Speziellen keinesfalls radikal mit Traditionen bricht, wurde hingegen in zahlreichen Studien der letzten Jahre herausgestellt (vgl. S CHÄF E R 1977; B E ND E R 1984; K O R T E 2004; L AM PA R T 2013). Die Rede vom ‚Nullpunkt‘ und von der ‚Stunde Null‘ scheint eher auf zeit‐ genössische Selbstvergewisserungsstrategien und eine subjektiv empfundene Umbruchphase zu verweisen; sie trifft, wenn überhaupt, nur auf Einzelfälle zu. Insbesondere in der frühen Nachkriegszeit verbinden sich die Orientierung an traditionellen poetischen Mustern und die Rückwendung auf poetologische Konzepte der Vorkriegsjahre mit der Thematisierung existentiell erschütternder Kriegserfahrungen. Diese mentalitätsgeschichtlich einschneidende Zäsur wird bereits direkt nach Ende des Zweiten Weltkriegs in der Literatur und Literatur‐ kritik reflektiert. So versuchen beispielsweise Hans Egon Holthusen (1913-97) und Friedhelm Kemp (1914-2011) im Nachwort zu ihrer Anthologie Ergriffenes Dasein (1953) die Neuartigkeit der Lyrik nach 1945 zu umreißen: Gewiß sind neue Themen und Motive hinzugekommen: die inkommensurablen Erfahrungen der modernen Katastrophenlandschaft, der zweite Krieg, Gefangen‐ schaft, die Unterwelt des politischen Terrors, das soziale und seelische Chaos der Nachkriegszeit, apokalyptische Bewußtseinskrisen, Genrebilder aus dem Leben der heutigen Gesellschaft. (H O L T H U S E N / K E M P 1953, 353) Von besonderer Relevanz ist das Nachwort deswegen, weil Holthusen und Kemp im Gegensatz zu Walter Jens und anderen Zeitgenossen keine ‚Stunde Null‘ proklamieren, sondern die Kontinuitäten zwischen Vor- und Nach‐ kriegszeit hervorheben. Gleichzeitig erkennen sie auch Veränderungen, die sie vor allem auf thematischer Ebene situieren. Auch in seinem Gedicht Tabula rasa (1949) wendet sich Holthusen mit „intrikater Dialektik gegen die Nullpunktthese“, wie Alexander von Bormann festgestellt hat (B O R MANN 2006, 197). Das Jahr 1945 stellt insofern eine subjektive Epochengrenze dar, als sich mit ihr die Vergangenheit bequem von der Gegenwart scheiden lässt. Retro‐ spektiv betrachtet ist diese eindeutige Grenzziehung aber nicht haltbar: „Von einem Neuanfang, gar nach einer Phase des konsequenten ‚Kahlschlags‘, kann im gesamten deutschen Sprachraum nicht die Rede sein, so dass das Jahr 1945 innerhalb eines literarhistorischen Periodisierungsentwurfs im Kern nichts anderes ist als ein Orientierungsrahmen“ (K O R T E 2004, 9). Außer‐ dem ist zu berücksichtigen, dass zahlreiche Gedichte, die 1945 veröffentlicht werden, bereits in den 1930er Jahren entstanden sind. Die vermeintlich klaren Epochengrenzen sind demnach keineswegs so eindeutig, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Auch wenn der Eindruck entstehen könnte, als habe sich die Bundes‐ republik Deutschland, die sich 1949 konstituierte, recht schnell in politi‐ sche und kulturelle Traditionen des Westens eingereiht, ist mit Blick auf die Gedichtproduktion bis 1960 zunächst eine klar erkennbare Diversität festzustellen. Noch deutlicher wird diese Heterogenität und Formenviel‐ falt, wenn man zusätzlich die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) und die ‚ostdeutsche‘ Nachkriegslyrik in den Blick nimmt: Die zeitgenössischen Dichter orientieren sich an typisch deutschen Lyriktraditionen wie der Naturlyrik (z. B. Peter Huchel [1903-81]), favorisieren die Anverwandlung avantgardistischer Schreibweisen (z. B. Gottfried Benn [1886-1956]), pro‐ pagieren den sprachlichen ‚Kahlschlag‘ (z. B. Wolfgang Weyrauch [1904- 80]), greifen christlich-heilsgeschichtliche Deutungsmuster auf (z. B. Rudolf Alexander Schröder [1878-1962]) oder plädieren für das ‚Gebrauchsgedicht‘ mit politischem Impetus (z. B. Bertolt Brecht [1898-1956]). Gleichzeitig ist eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit der Formenvielfalt moderner Lyrikströmungen zu beobachten, die zunächst zeitlich parallel verlaufen und sich erst in den 1960er und 1970er Jahren ausdifferenzieren. Aus diesem Grund ist es notwendig, für die Darstellung der deutschsprachi‐ Einleitung 8 gen Nachkriegslyrik auch die poetologischen Positionsbestimmungen zu berücksichtigen. Die deutsche Nachkriegslyrik ist poetologisch genauso wenig auf den Begriff der ‚verspäteten Moderne‘ zu bringen wie auf die Begriffe ‚Trümmerliteratur‘, ‚Kahlschlag‘ oder ‚Naturlyrik‘ (vgl. B O Y K E N / I MME R 2016, 9). Vielmehr scheinen diese Strömungen unterschiedliche Nah- und Fernverhältnisse auszubilden: Die Nachkriegslyrik lässt sich als ein spannungsvolles Feld beschreiben, das sich in heterogenen und teilweise widerstreitenden Konstellationen präsen‐ tiert. Hier setzt der vorliegende Band an: Unser Ziel ist es, eine systematische Einführung in die ästhetische Übergangsphase deutschsprachiger Lyrik nach 1945 zu geben. Ohne das komplexe lyrische Gefüge der Zeit von 1945 bis ca. 1965 zu sehr zu vereinfachen, sollen die oben genannten Prozesse in poetologischer und thematischer Hinsicht strukturiert werden. Im Zentrum stehen die Analyse und dichtungstheoretische Einordnung ausgewählter Ge‐ dichte aus der Nachkriegszeit. Das Studienbuch bietet somit eine Einführung in einen Teilbereich der Nachkriegsliteratur, der sowohl in akademischen Lehrveranstaltungen als auch im Rahmen des schulischen Deutschunterrichts immer wieder thematisiert wird. Wir verfolgen in der Darstellung einen gestuften Aufbau. Zunächst möchten wir im Rahmen dieser Einleitung die zeitgenössische Diskussion über Lyrik skizzieren, indem wir einen Überblick über das Diskursfeld der deutschsprachigen Lyrik zwischen 1945 und 1965 geben (2. Abschnitt). Unsere Leitfrage lautet dabei: Wie wird über Gedichte nach 1945 geredet? Anhand zeitgenössischer Positionen wie denen von Theodor W. Adorno (1903-69) und Hans Egon Holthusen werden kultur-, ideen- und mentali‐ tätsgeschichtliche Denkfiguren herausgearbeitet, mit denen die Nachkriegs‐ lyrik zeitgenössisch beschrieben wird und die auch in den Gedichten oftmals eine bedeutende Rolle spielen. Mit Adorno und Holthusen werden nicht nur zwei meinungsbildende (und kontrovers diskutierte) Publizisten der deutschen Nachkriegszeit vorgestellt, sondern auch zwei Autoren, die unterschiedliche Sichtweisen auf die Lyrik nach 1945 vertreten. Da sich zahlreiche Dichterinnen und Dichter auch innerhalb der Literaturkritik positionieren und hier eine poetologische Agenda verfolgen (z. B. Benn, Krolow [1915-99], Enzensberger [*1929] u. a.), sensibilisiert dieser Einstieg auch für die Diskursbedingungen der unmittelbaren Nachkriegszeit. Ferner wird mit den Positionen von Adorno und Holthusen das Spektrum der zeitgenössischen Standpunkte zur deutschsprachigen Nachkriegslyrik aus‐ gemessen, da es sich hierbei um zwei ‚Extrempositionen‘ handelt. Nach 1. Zur Polyphonie der deutschsprachigen Nachkriegslyrik 9 diesem Diskursaufriss skizzieren wir sowohl die spezifischen gattungsinter‐ nen Entwicklungen als auch die ästhetisch-poetologischen Strömungen der deutschsprachigen Nachkriegslyrik (3. Abschnitt). Als Leitkonzept dient der Begriff der ‚Konstellation‘, um die ästhetischen, sozialen und thematischen Beziehungen der Nachkriegslyrik näher zu bestimmen. Es folgt ein kurzer Überblick über Studien, die ebenfalls in das Forschungsfeld einführen (4. Abschnitt). Hierbei handelt es sich keinesfalls um einen Vollständigkeit beanspruchenden Forschungsstand. Vielmehr möchten wir einen ersten Ansatzpunkt geben, um sich jenseits des Studienbuchs selbstständig in das Forschungsfeld einzuarbeiten. Die Einleitung beschließen Hinweise zum Gebrauch des Studienbuchs (5. Abschnitt). Die folgenden Textanalysen bauen auf den Überlegungen der Einleitung auf. Der Analyseteil gliedert sich in die folgenden fünf thematischen Schwerpunkte bzw. thematischen Konstellationen: Sprachverdichtung (1. Kapitel), Naturerfah‐ rung (2. Kapitel), Schuldfragen (3. Kapitel), Trauma (4. Kapitel) und Gesell‐ schaftskritik (5. Kapitel). Jedes dieser Unterkapitel bietet eine eigenständige Argumentation, die an die Ausführungen des ersten Teils anschließt. Im Prinzip handelt es sich um fünf ‚Aufbaumodule‘, die unabhängig von ihrer Reihenfolge miteinander kombiniert oder separat voneinander rezipiert werden können. Innerhalb der einzelnen Kapitel des zweiten Teils wird daher eine einheitliche Gliederung beibehalten: Im Anschluss an eine poetologische Hinführung folgt jeweils die Analyse von drei repräsentativen Gedichten. Damit liefert das Studienbuch neben den Interpretationen auch eine poetologische und zeithistorische Einbettung der vorgestellten Gedichte. In der poetologischen Hinführung gehen wir auch auf Dichterinnen und Dichter ein, die wir in unserer exemplarischen Auswahl nicht berücksichtigt haben (z. B. Hannah Arendt [1906-75], Rose Ausländer [1901-88], Rudolf Hagelstange [1912-84] u. a.). Dieser Aufbau ermöglicht es, die verschiedenartigen ästhetischen Aus‐ gangslagen der einzelnen Texte individuell einzubeziehen. In einem kurzen Fazit wird eine knappe Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse der fünf Analysekapitel gegeben. Ein Anlass für die Konzeption und Ausarbeitung dieses Studienbuchs war unser Eindruck, dass die deutschsprachige Nachkriegslyrik sowohl in der universitären Lehre als auch im schulischen Deutschunterricht mittler‐ weile auf einen eher begrenzten Kanon reduziert worden ist: Neben Paul Celan (1920-70), Ingeborg Bachmann (1926-73) und Günter Eich (1907-72) begegnet man vielleicht noch Rose Ausländer, Gottfried Benn, Bertolt Brecht oder Ernst Jandl (1925-2000). Die Dichterinnen und Dichter, die nach 1945 Einleitung 10 hohe Auflagen erzielt haben, sind hingegen aus dem lyrischen (Schul- und Universitäts-)Kanon gefallen: Karl Krolow, Mascha Kaléko (1907-75) oder Werner Bergengruen (1892-1964). Wir möchten diese Dichterinnen und Dichter, mit denen auch bestimmte lyrische Strömungen verbunden sind, wieder in Erinnerung rufen, da sie aus heutiger Sicht beispielsweise in ihrem Umgang mit der historischen Schuld überraschend deutlich (z. B. Kaléko) oder nur noch schwer erträglich sind (z. B. Bergengruen). Adornos berühmtes Resümee: „nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barba‐ risch“ (A DO R N O [1951] 2003, 30) ist nur in Kenntnis von Gedichten wie etwa Bergengruens An die Völker der Erde (1945) adäquat zu verstehen. Gleichzeitig möchten wir auch auf Dichterinnen und Dichter eingehen, die bislang für die Erforschung des lyrischen Feldes nach 1945 kaum eine Rolle gespielt haben (z. B. Ceija Stojka [1933-2013]). Ziel ist es dabei, die Komplexität, Heterogenität und Multiperspektivität der Nachkriegslyrik sichtbar werden zu lassen. Dass es uns dabei nicht um Vollständigkeit gehen kann, sondern um Repräsentativität, versteht sich von selbst. Einem Befund Karl Krolows, der im Wintersemester 1960/ 61 in Frankfurt am Main eine Reihe von Vorlesungen zur Einordnung der zeitgenössischen Lyrik gehalten hat, ist aus der Sicht des frühen 21. Jahrhunderts noch immer zuzustimmen: Krolow selbst stand vor der Schwierigkeit, aus der „Unmittel‐ barkeit der Reaktionen“ heraus „Stichworte für die Beschäftigung mit einer sensiblen Materie“ zu geben, „die zu ordnen erst dann möglich sein wird, wenn die verwirrende Nähe gegenüber dem Stoff aus der Entfernung entsprechend ruhiger Betrachtung gewichen ist.“ (K R O L OW [1961] 1963, 7) Die Distanz von nunmehr 75 Jahren möchten wir nutzen, um diese „sensible Materie“ in ihrer Vielfältigkeit im vorliegenden Studienbuch - zumindest teilweise - neu zusammenzustellen, um produktive Zugänge zu ihr zu eröffnen. 2. Adorno und Holthusen: Das Reden über Lyrik nach 1945 Die Debatte um den Stellenwert, die Funktion und die Möglichkeiten von Ly‐ rik nach 1945 ist maßgeblich geprägt durch die (häufig verkürzte) Rezeption des Satzes von Theodor W. Adorno: „nach Auschwitz ein Gedicht zu schrei‐ ben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.“ (A DO R NO [1951] 2003, 30) Laut Robert Weninger handelt es sich hierbei um den „vielleicht wichtigsten Drehpunkt des ästhetischen Diskurses der Nachkriegszeit“ 2. Adorno und Holthusen: Das Reden über Lyrik nach 1945 11 (W E NIN G E R 2004, 33), wurde der Satz doch oft als Verdikt gegen Lyrik nach der Shoah und auch gegen die schönen Künste überhaupt interpretiert (vgl. S T E IN 1996). Adorno selbst hat sich an der Diskussion beteiligt und seine Folgerung mehrfach variiert und relativiert (vgl. K I E DAI S CH 1995). Der Aufsatz Kulturkritik und Gesellschaft, aus dem dieser Satz stammt, wurde 1949 geschrieben und 1951 veröffentlicht. Zunächst fand der Satz kaum Beachtung, war er doch in einer Festschrift für Leopold Wiese (1876-1969) platziert. Dies änderte sich 1955, als Adorno den Aufsatz in seinen Band Prismen aufnahm, wonach recht schnell eine intensive Debatte geführt wurde. Den Dreh- und Angelpunkt bildete dieser Schlusssatz seines Essays. Der Satz suggeriert eine Abgeschlossenheit, eine Endgültigkeit, die zum Widerspruch förmlich herausfordert. So hat Wolfdietrich Schnurre (1920-89) in seiner literarischen Autobiografie Der Schattenfotograf Adornos Aussage als „niederknüppelndes Verdikt“ bezeichnet (S CHNU R R E 1978, 455). Wenn man den Satz ausschließlich als Verdikt gegen Lyrik und Kunst liest, so verkennt man jedoch den theoretischen Kontext, aus dem der Satz stammt. Im Zusammenhang mit der Zivilisationstheorie von Adorno und Max Horkheimer (1895-1973), wie sie sie in ihrer Dialektik der Aufklärung (1944/ 1947) dargelegt haben, erscheint er gleichsam als Schlusspunkt der kapitalistischen Gesellschaftsentwicklung: Adorno und Horkheimer gingen davon aus, dass die kapitalistische Gesellschaft und ihre Kultur „auf dem höchsten Stand ihrer Aufgeklärtheit und Zivilisiertheit in Gefahr gerät, in die absolute Verdinglichung des Menschen, und das heißt zugleich in Barbarei und Totalitarismus, zurückzufallen.“ (W E NIN G E R 2004, 33) Der Grundgedanke, den Adorno seinem Satz unterlegte, ist der dialektische Zusammenhang von Kultur und Barbarei. Insofern wendete sich Adorno gegen ein ungebrochenes ‚Weitermachen‘ und gegen die Vorstellung, die deutsche Kultur sei von der Zeit des Nationalsozialismus unberührt geblie‐ ben. Adorno schrieb gegen eine Kultur an, die „Auschwitz hervorgebracht hatte und nun im Begriff stand, ohne Auschwitz wiederaufzuerstehen“ (S T E IN 1996, 487). Adorno zielte mit seinem Satz auf die Frage, ob es nach Auschwitz - im Sinne eines inkommensurablen Ereignisses - überhaupt möglich sei, Kunst zu produzieren, die nicht barbarisch ist. Denn, wie Harald Hartung (*1932) festgestellt hat: „Nach Auschwitz schreiben heißt, implizit oder explizit über Auschwitz schreiben.“ (H A R TUN G 1967, 77) Dieser Befund führt zu einem unauflösbaren Problem: Wenn man die Schrecken nicht thematisiert, ignoriert man Auschwitz. Wenn man die Gräueltaten und den Massenmord Einleitung 12 hingegen literarisch thematisiert, so beschönigt man einen grauenhaften, möglicherweise literarisch nicht darstellbaren Sachverhalt. Denn mit jeder Ästhetisierung geht stets die ‚Beschönigung‘ der Leiden einher. Die erfah‐ renen Gräuel der Opfer werden ästhetisiert, die klaren Grenzen von Opfern und Tätern verwischt und die erlittenen Qualen unter Umständen sogar bagatellisiert. Gleichzeitig stellt sich damit auch ein Sinngebungsprozess ein: „Durchs ästhetische Situationsprinzip […] erscheint das unausdenkliche Schicksal doch, als hätte es irgend Sinn gehabt; es wird verklärt, etwas von dem Grauen weggenommen; damit allein schon widerfährt den Opfern Unrecht.“ (A DO R NO 1976, 126) Auf diese Aporie hat Adorno hingewiesen. Neben Alfred Andersch (1914-80) war es Hans Magnus Enzensberger, der sich als einer der ersten mit Adornos Satz kritisch auseinandersetzte. In seinem Essay Die Steine der Freiheit, der 1959 im Merkur veröffentlicht wurde, wendet Enzensberger Adornos Argumentation: „Wenn wir weiter‐ leben wollen, muß dieser Satz widerlegt werden.“ (E NZ E N S B E R G E R 1959, 772) Enzensberger führte als Gegenbeweis die Gedichte der deutsch-jüdischen Dichterin Nelly Sachs (1891-1970) an, die 1940 kurz vor dem Inkrafttreten einer allgemeinen Ausreisesperre ins schwedische Exil geflüchtet war und 1966 den Literaturnobelpreis erhalten hatte. Auf Enzensbergers Einlassun‐ gen ging Adorno später ein und relativierte seinen Satz: Die authentische Kunst könne die Dialektik von Kultur und Barbarei aufheben (vgl. A DO R NO 1970). Adornos Celan-Lektüre war für diese Differenzierung entscheidend; erst nach der Publikation von Kulturkritik und Gesellschaft hat Adorno die Gedichte Celans rezipiert (vgl. F E L S TIN E R 2001, 139). Die Absage galt also nicht jeder Kunst, sondern einer „Literatur, worin Auschwitz als Schock nicht vorhanden ist“ (M AY E R 1967, 362). In seinen Dreizehn Thesen gegen die Behauptung, daß es barbarisch sei, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben griff Wolfdietrich Schnurre diese Vorstellung einer authentischen Kunst auf, indem er den Vergleich zum Dreißigjährigen Krieg zog: „Haben die ich-bezogenen Gedichte des Andreas Gryphius den Greueln des Dreißigjährigen Krieges standgehalten oder nicht. Sie haben ihnen ebenso standgehalten, wie Celans Todesfuge den Akten des Frankfurter Auschwitz-Prozesses standhält.“ (S CHNU R R E 1978, 456) Laut Schnurre ist die Literarisierung erfahrener Leiden möglich - sie ist sogar nötig, um das Gedenken am Leben zu halten. Dabei stellt er einen expliziten Bezug zwischen den Schrecknissen des Dreißigjährigen Kriegs und denen des Zweiten Weltkriegs her: So wie Andreas Gryphius (1616- 64), der die Schrecken des Dreißigjährigen Kriegs erlebte, authentische 2. Adorno und Holthusen: Das Reden über Lyrik nach 1945 13 Kunstwerke über diese Zeit schreiben konnte, so konnte etwa Celan den erfolgreichen Versuch unternehmen, Gedichte zu schreiben, die auch mit dem Wissen über die Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs nichts von ihrer ästhetischen Wirkung verlieren. Die Analogie zwischen Dreißigjährigem Krieg und Zweitem Weltkrieg wird jedoch spätestens dann problematisch, wenn man die Shoah als singuläres Ereignis versteht und damit die ethische Dimension des organisierten Genozids hervorhebt. Für Dichterinnen und Dichter wie Nelly Sachs und Paul Celan mag die Vorstellung einer ‚authentischen Kunst‘ auch im Sinne Adornos unpro‐ blematisch gewesen sein. Vertrackter stellt es sich aber für Dichter wie Enzensberger und Schnurre dar. Folglich scheiden sich hier die Positionen von Schnurre und Adorno wieder: Darf ein nichtjüdischer Deutscher - jemand, der gewissermaßen den Tätern angehört - Gedichte nach Ausch‐ witz schreiben? Wie kann ‚nicht-authentische‘ Kunst nach Auschwitz nicht barbarisch sein? Die Lösung des Dilemmas besteht in der Reflexion über die eigene Sprache, um sich ihres Formeninventars und ihrer Traditionen bewusst zu werden. Enzensberger hat das selbst vorgeführt, wenn in dem Gedicht Ins Lesebuch für die Oberstufe (1957) gefordert wird: Lies keine Oden, mein Sohn, lies die Fahrpläne: sie sind genauer. Roll die Seekarten auf, eh es zu spät ist. Sei wachsam, sing nicht. (E N Z E N S B E R G E R [1957] 1981, 90) Schnurre hat dies theoretisch expliziert: „Nicht auf die Hereinnahme eines so unfaßbaren Themas wie Auschwitz kommt es an im Gedicht. Es kommt darauf an, daß der Gedichteverfertiger es sich klarmacht, nach Auschwitz zu dichten. Er kann schreiben, worüber er will. Auch über Bäume. Aber seine Bäume müssen andere sein als die, die in den Gedichten rauschten, die vor Auschwitz entstanden.“ (S CHNU R R E 1978, 456) Mit dem Verweis auf die „Bäume“ referiert Schnurre an dieser Stelle wiederum auf ein einflussreiches Gedicht Bertolt Brechts, der in An die Nachgeborenen, das 1939 in Die neue Weltbühne publiziert wurde, festgestellt hatte: Was sind das für Zeiten, wo Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt! (B R E C H T 1988, 85) Einleitung 14 Brecht wendet sich mit diesen Versen vor allem gegen eine bestimmte lyrische Tradition, nämlich die Naturlyrik. Adorno ist aber wesentlich radikaler: Wogegen er opponiert, ist eine Lyrik, die geschichtsvergessen einem Traditionalismus huldigt, der von den historischen Ereignissen kon‐ taminiert wurde. Den Gedichten Wilhelm Lehmanns (1882-1968), Karl Krolows oder Werner Bergengruens ist dies nachgesagt worden. So ist in vielen Gedichten Bergengruens tatsächlich eine - nicht erst aus heutiger Sicht - ungeheuerliche Gleichsetzung von Täter- und Opferperspektive zu konstatieren. In An die Völker der Erde avanciert das ‚deutsche Volk‘ nicht nur zu den Opfern des Nationalsozialismus, sondern erhält sogar eine religiöse Märtyrerfunktion. Das Reden über Lyrik nach 1945 findet in der Folge von Adornos Kultur‐ kritik und Gesellschaft im Täter-Opfer-Paradigma statt. Aus dieser Dichoto‐ mie ergeben sich klare und eindeutige ‚Lizenzen des Sagbaren‘, die sich auf die ethisch-moralische Dimension der Literatur beziehen. Laut Adorno kann die ästhetische Dimension nach 1945 nur noch in ethisch-moralischer Perspektive betrachtet werden, weil die Shoah einen inkommensurablen Zivilisationsbruch markiert. Gleichwohl handelt es sich bei Adornos Ab‐ schlusssatz nicht um ein einfaches ‚Verdikt‘, das die literarische Praxis im Moment des Ausspruchs bereits widerlegt. Adorno wendet sich nicht primär gegen Lyrik oder Kunst im Allgemeinen, sondern gegen den unauflösbaren Widerspruch, der aus der Durchdringung von faschistischer Ideologie und lyrischer Tradition resultiert. Von dieser ethisch-moralischen Perspektive, die der Authentizität und Zeugenschaft den gewichtigeren Teil einräumt, wird man sich im Laufe des 20. Jahrhunderts distanzieren. Imre Kertécz (1929-2016), der als Fünfzehnjähriger nach Auschwitz deportiert wurde, erkennt 2002 eine Aufweichung dieser ‚Lizenzen des Sagbaren‘, was auch das von Adorno ausgeführte Darstellungsproblem betrifft: „Das Konzentra‐ tionslager ist ausschließlich in Form von Literatur vorstellbar, in Realität nicht.“ (K E R TÉCZ 2003, 148) Adorno vertritt eine wichtige Position innerhalb des Spektrums, wie über Lyrik in der Nachkriegszeit geredet wird. Allerdings war die ethisch-mora‐ lische Perspektive im Reden über Gedichte nach 1945 nicht die dominante Perspektive - auch wenn sie aus heutiger Sicht als die hegemoniale Deutung erscheinen mag. Einflussreicher war eine Sicht auf Lyrik, die die ästhetische Dimension wesentlich höher skalierte und damit das andere Ende des Spek‐ trums markiert. Der vielleicht einflussreichste Vertreter dieser Sichtweise war Hans Egon Holthusen. Holthusens Essaysammlung Der unbehauste 2. Adorno und Holthusen: Das Reden über Lyrik nach 1945 15 Mensch (1950) ist laut Fabian Lampart das „vielleicht wirkmächtigste Bei‐ spiel“ einer Diagnostik der literarischen Moderne (L AM P A R T 2013, 35). In einer Reihe von Essays entwickelt Holthusen hier die ‚Bewusstseinslage‘ der modernen Literatur, indem er einen konsequent internationalen Fokus setzt und mit seiner Krisendiagnostik auf Ansätze der 1920er Jahre zurückgeht (vgl. L AM PA R T 2013, 36). Im Zentrum steht zunächst der moderne Mensch, durchaus heimatlos, ein verlorener Sohn, der die Liebe des Vaters nicht will, ein Mensch ohne Haus, der nicht in das alte Haus zurückkehren will. [In dieser Situation] findet sich der moderne Mensch seltsam wirklichkeitslos, ortlos, ohne Griffsicherheit des Gefühls, in einer tiefen Krise der weltschaffenden Einbildungskraft. (H O L T H U S E N 1951a, 13) Einerseits bietet Holthusen mit dieser Beschreibung des modernen Men‐ schen eine breite Projektionsfläche, die sowohl für die individuelle als auch für die kollektive Krisensituation nach 1945 attraktiv ist. Andererseits betreibt Holthusen - ganz im Gegensatz zu Adorno - eine Enthistorisierung des Nachkriegszustands. Im Begriff des ‚unbehausten Menschen‘ ist dies bereits angelegt: Die Wendung verweist auf die Rede von Goethes (1749- 1832) Faustfigur: „Bin ich der Flüchtling nicht? der Unbehaus’te? / Der Unmensch ohne Zweck und Ruh? “ (G O E THE 2005, 144) Der Zweite Weltkrieg und die Gräueltaten in den Konzentrationslagern sind für Holthusen keine singulären Ereignisse. Vielmehr geht es ihm in seiner Zeitdiagnose darum, „den Zeitraum von etwa 1910 bis heute [1951] als Ganzes ins Auge zu fassen“ (H O LTHU S E N 1951a, 8). Die epistemologischen Umbrüche sind für Holthusen die einschneidenden Ereignisse: Relativitäts‐ theorie und Quantentheorie führen zu einer fundamentalen Infragestellung der Wirklichkeit und des menschlichen Seins. Damit erweist sich Holthu‐ sens Diagnostik in ästhetischer Sicht als durchaus hellsichtig, gerade weil er keine ‚Stunde Null‘ annimmt, sondern die Kontinuität der literarischen Entwicklung betont. Hier wie auch andernorts zeigt sich der nüchterne Blick des Literaturhistorikers, der auch seine eigene Gegenwart und die Signaturen des literarischen Feldes in die Tradition einzuordnen weiß. In Holthusens Beschreibung der Nachkriegszeit rücken die Funktionen der Lyrik mit Blick auf die menschliche Existenz ins Zentrum. Dies liegt gewiss auch an der religiösen Grundierung seiner Weltsicht (vgl. K E M P E R 2010, 113-126). Sein erklärtes Ziel ist es, „in einer Vielheit vertretbarer Sinn‐ gebungen eine sinnvolle eigene Position zu behaupten“ (H O LTHU S E N 1951a, 7). Sinn ist dabei das Kernelement „künstlerische[r] Dokumente von Rang“ Einleitung 16 (H O LTHU S E N 1951a, 7). Literatur dient in seinem Konzept als Orientierung in der Welt: insofern hält die Literatur eine Transzendenzerfahrung bereit, die dem Menschen Aufschluss über die Weltprozesse bietet. Es dürfte kaum angezweifelt werden, dass sich Holthusen in seiner eigenen dichterischen Praxis als ein Dichter verstand, der zum literarischen Sinngebungsprozess befähigt ist (vgl. I MME R 2016, 85). Die Funktion des Literaturkritikers bestehe darin, die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Literatur zu beantworten, also „Ja oder Nein“ zu sagen, „den Wert“ eines literarischen Textes zu erkennen oder den „Unwert“ zu tadeln (H O LTHU S E N 1954a, 9). Als ‚Elle der Bewertung‘ habe der Kritiker die „großen dichterischen und kritischen Autoritäten der Vergangenheit“ anzulegen (H O LTHU S E N 1954a, 8). Aus der Position eines Sachverwalters der ‚vergangenen Autoritäten‘ ging Holthusen mit den zeitgenössischen Texten und den Dichterinnen und Dichtern keineswegs zimperlich um. In seinem Essay Die Überwindung des Nullpunkts (1951) charakterisiert er die Lyrik der Nachkriegszeit: „[D]as Publikum ertrank in Sturzfluten von Sonetten, Elegien apokalyptischer Visionen, in denen man die ungeheuerlichen Schrecken der Zeit beschwören wollte, meist aber nur larmoyante oder komische Effekte erzielte.“ (H O LTHU S E N 1951b, 160) Brisant ist diese Einschätzung, weil der ethische Zündstoff der Texte, in denen „die ungeheuerlichen Schrecken der Zeit“ beschworen werden, vollkommen ignoriert wird. Holthusen, und das scheint ein wesentlicher Unterschied zu Adornos Position zu sein, konzentriert sich vollkommen auf die ästhetische Faktur. Ästhetik und Ethik sind für ihn zwei voneinander geschiedene Sphären. Vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Vergangenheit Holthusens bekommt dieser Ästhetizismus jedoch eine Schieflage, die sich mitunter in nicht zu ertragenden Zynismen Bahn bricht: „Ich habe Stöße von Gedichten gelesen, die in Konzentrationslagern entstanden waren, und es war kaum eines darunter, das nicht von einem drittklassigen Gold‐ schnittlyriker aus der Umgebung Emanuel Geibels hätte stammen können.“ (H O LTHU S E N 1948, 605) Dass sich die Bereiche der Ethik und Ästhetik keinesfalls so klar von‐ einander scheiden lassen, wie Holthusen hier zu behaupten versucht, hat hingegen Adorno gezeigt. Auch Holthusens eigene Lyrikproduktion belegt die enge Verquickung dieser Bereiche (vgl. I MM E R 2016, 85-105). Gleichwohl markiert er eine enorm einflussreiche Position im Diskursfeld der Litera‐ turkritik. So betreibt Holthusen auch 1954 weiterhin eine konsequente Enthistorisierung der Literatur. Zudem entkoppelt er Literatur von den politischen, historischen und gesellschaftlichen Einflüssen, wenn er in der 2. Adorno und Holthusen: Das Reden über Lyrik nach 1945 17 Einleitung zu seinem Essay Versuch über das Gedicht die literarische Linie Platon - Goethe - Hölderlin von der Linie Valéry - Poe - Mallarmé scheidet und die erste Richtung als geniehafte Gottesinspiration und die zweite als Handwerk und Arbeit an der Sprache bezeichnet. Historische Ereignisse und Erlebnisse sind für Literatur und ihre Bewertung nur insofern von Relevanz, „als sie in eine glückliche Konstellation treten können zu einem sprachlich-rhythmischen Kairos in der Seele des Dichters, das heißt als sie motivbildend sind.“ (H O LTHU S E N 1951a, 20) In der Gegenüberstellung der Positionen von Adorno und Holthusen, die beide in den frühen 1950er Jahren ihre Beobachtungen zur zeitgenössischen Lyrik publizieren, zeigt sich, dass keineswegs Einigkeit darüber herrschte, was Lyrik nach 1945 kann, darf und soll. Es dürfte deutlich geworden sein, dass Adorno und Holthusen zwei nahezu konträre Einschätzungen der zeitgenössischen Lyrik liefern. Die Frage ist, ob diese diametralen Positionen aus dem Gegenstand oder aus den Beobachtern (und ihren Axiomen, Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsmustern) resultieren. 3. Die ‚gemeinsame Sache‘ der Nachkriegslyrik „Was macht die heutige Poesie - trotz unterschiedlicher Praktiken - zu einer ‚gemeinsamen Sache‘? Was steht hinter dem heutigen Gedicht als Ambition, als Notwendigkeit, als Verhängnis möglicherweise? “ (K R O L OW [1961] 1963, 16) Diese Fragen, die ein nachvollziehbares Kategorisierungsbedürfnis doku‐ mentieren, stellt Karl Krolow an den Anfang seiner Abhandlung Aspekte zeitgenössischer Lyrik. Ob es möglich ist, die deutschsprachige Nachkriegslyrik unter ein verbindendes ‚Label‘ zu fassen, wird jedoch nicht diskutiert. Insofern darf man sich fragen, ob es überhaupt ein solches verbindendes Merkmal gibt. Entsprechend schwer tut sich Krolow, eine Antwort auf seine selbstgestellten Fragen zu geben. Krolow zufolge bestehe zwischen den einzelnen Gedichten, den Strömungen und Tendenzen eine Verbindung, die in der substanziellen Isolation des Schreibenden bestehe. Der Dichter sei in einer hoffnungslosen Lage und suche mittels der Lyrik einen Weg aus der Beziehungslosigkeit. Freilich schlägt Krolow damit in eine ähnliche Kerbe wie Holthusen. Trotz die‐ ser vergleichbaren Grundsituation des existenziell verunsicherten Menschen stellt Krolow vor allem die thematische Vielfalt, die Heteromorphie und die Ungreifbarkeit der zeitgenössischen Lyrik heraus. Sie sei „ein Gewebe, das sich von Moment zu Moment bildet und wieder auflöst“ (K R O L OW [1961] Einleitung 18 1963, 9). Wenn man sich die deutsche Lyriklandschaft anschaue, würden je nach Zeitpunkt und Blickperspektive stetig wandelnde Gruppierungen und mögliche Einteilungen sichtbar werden. Gerade diese Unabgeschlossenheit, Flexibilität und Momenthaftigkeit der deutschen Nachkriegslyrik möchten wir mithilfe des Begriffs der ‚Konstel‐ lation‘ beschreibbar machen. Die Gedichte werden also weder nach ihren programmatischen Selbstbeschreibungen (‚Kahlschlag‘ und ‚Trümmerlite‐ ratur‘) gruppiert (vgl. K O R T E 2004, 5-32; K NÖR R ICH [1971] 1978), noch wird nach einem Verbindungsglied zwischen allen Gedichten gesucht. 3.1. Konstellation als Beschreibungsmodell Mit ‚Konstellation‘ verweist man im alltäglichen Sprachgebrauch zumeist auf eine Gesamtlage, die sich aus dem Zusammentreffen unterschiedlicher Umstände, Ereignisse oder Verhältnisse ergibt. Mit Konstellation werden in der Regel sich dynamisch verändernde Relationsstrukturen bezeichnet, die aus mehreren unterschiedlichen Elementen bestehen. Beschreibbar und darstellbar werden diese variablen Kraft- und Positionsverhältnisse aus der Perspektive einer festen Beobachterposition, die auch zeitlich bestimmt ist. Insofern handelt es sich um eine Wissens- und Ordnungsmetapher, die eine hohe Anschlussfähigkeit besitzt, weil der Begriff ‚Konstellation‘ eine terminologische Vagheit und einen großen Assoziationsspielraum eröffnet (vgl. A L B R E CHT 2010, 146). Dieser flexible Rahmen geht aber zumeist auf Kosten der Genauigkeit. Nimmt man den etymologischen Ursprung des Begriffs ‚Konstellation‘ in den Blick, lässt sich der Übergang von einem weiten zu einem engeren Verständnis beobachten. Seit dem 16. Jahrhundert wird in der Astrologie und Astronomie die Stellung der Gestirne zueinander als ‚Konstellation‘ bezeichnet. In Übereinstimmung mit dem lateinischen constellare geht es um die Positionserfassung fixer und bewegter Himmelskörper. Dabei ist die Erde der Beobachtungsstandort dieser sich verändernden Sternenstellun‐ gen. Die Planetenbewegungen werden von einem unveränderlichen Punkt aus beschrieben, wobei die Relation der Planeten zu Sonne und Mond eine besondere Bedeutung besitzt. Die astrologische bzw. astronomische Konstellation manifestiert sich in einem geometrisch-diagrammatischen Ordnungssystem. Der Veränderbarkeit der stellaren Positionierungen wird insofern Rechnung getragen, als der Begriff nicht auf eine ganzheitliche Geschlossenheit, feste Abhängigkeit oder hierarchische Struktur zielt. Die 3. Die ‚gemeinsame Sache‘ der Nachkriegslyrik 19 diagrammatische Fixierung der Konstellationen ist das Festhalten eines bestimmten Moments, der somit beschreibbar und analysierbar wird. Mit ‚Konstellation‘ wäre im Anschluss an diese Vorstellung ein Ordnungssystem zu bezeichnen, das sich von einem bestimmten Betrachtungsort zu einer bestimmten Zeit darstellt. Insofern bietet sich der Begriff zur Beschreibung eines dezentralen, pluralen und dynamischen literarischen Feldes wie dem‐ jenigen der deutschsprachigen Nachkriegslyrik an. Der folgende Exkurs bietet eine knappe Skizze zur Begriffsgeschichte, da sich die heuristische Tragfähigkeit des Begriffs zur Beschreibung des literarischen Feldes der Nachkriegszeit auch aus seiner Begriffs- und Ver‐ wendungsgeschichte ergibt. Dabei legen wir den Schwerpunkt auf die literaturwissenschaftliche bzw. poetologische Begriffsgeschichte. 3.2. Exkurs: Begriffsgeschichte Aus dem Bereich der Sternenkunde diffundiert der Begriff ‚Konstellation‘ spätestens Ende des 19. Jahrhunderts in andere Wissenschaftsdiskurse. Andrea Albrecht hat den Transfer des Begriffs zu einer wirkmächtigen Wissens- und Ordnungsmetapher in den Sozial-, Geistes- und Kulturwis‐ senschaften akribisch nachgezeichnet (vgl. A L B R E CHT 2010, 104-149). Sie zeigt auf, dass der Begriff den Hintergrund für die Entwicklung dezentraler Wissensordnungen und von anti-systemischen Ordnungsmetaphern (wie beispielsweise Rhizom oder Netzwerk) bildet. Gekoppelt ist dieser Transfer an die Frage, in welchem Verhältnis die Natur- und die Geisteswissenschaf‐ ten stehen. Der Begriff sei vor allem deswegen attraktiv, weil „damit das seit Leibniz virulente Problem einer Verknüpfung von relativistischem Per‐ spektivismus und absolutistischem Objektivismus zu lösen oder zumindest in ein Bild“ (A L B R E CHT 2010, 109) zu bringen ist. ‚Konstellation‘ beschreibt in den jeweiligen Theorien eine flexible und mehrteilige Beziehungsstruktur, ein Ensemble aus Positionen, die in einem „dynamischen, veränderbaren Wirkungszusammenhang“ (A L B R E CHT 2010, 107) stehen. Mittlerweile wird ‚Konstellation‘ als Wissens- und Ordnungsmetapher in verschiedenen geistes-, sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschungs‐ diskursen verwendet. Auch Dieter Henrich nutzt den Begriff, um ein dezen‐ trales Wissens- und Ordnungssystem zu beschreiben. Henrich etablierte in der Philosophie eine Konstellationsforschung, die das Zusammenwirken von bestimmten Personen, Theorien, Ideen und Problemen in den Blick nimmt. Henrich verfolgt dabei die Abkehr von der an Personen fixierten Einleitung 20 Philosophiegeschichte (vgl. H E N R ICH 1986, H E N R ICH 1996, 104-114, und H E N R ICH 2004). Ideengeschichtliche Entwicklungen werden mit Blick auf das Nebeneinander synchroner Ideenformationen und auf die Austauschpro‐ zesse (Briefwechsel, Gespräche etc.) zwischen den Akteuren bzw. zwischen den Ideenformationen rekonstruiert (vgl. H E N R ICH 1986, 42-46). Im Kern zielt Henrichs Konstellationsbegriff auf die Beschreibung sozialer Netzwerke. Martin Mulsow und Marcelo Stamm haben diese Richtung der Konstellati‐ onsforschung aufgenommen und sie als Methode weiter aufgefächert, um das Zusammenwirken von verschiedenen Akteuren in einem gemeinsamen ‚Denkraum‘ beschreibbar zu machen (vgl. M U L S OW / S TAMM 2005 und M U L S OW 2005, 74-97). Neben der Ausbildung einer Konstellationsforschung in der Philosophie und Soziologie wird der Begriff auch in der Literaturwissenschaft immer wieder verwendet. Jenseits der Figurenanalyse im Drama (‚Figurenkonstel‐ lation‘, vgl. P LATZ -W AU R Y 2007, 591) wird der Begriff für die Bestimmung von sozialen Netzwerken in der soziologischen Literaturwissenschaft ge‐ nutzt (in lockerer Anlehnung an die Studien Henrichs). Meist wird ‚Kon‐ stellation‘ synonym zu ‚Relation‘, ‚Beziehung‘ oder ‚Verhältnis‘ verwendet. Christine Weder gibt daher zu bedenken, dass der Begriff in literatur- und kulturwissenschaftlichen Studien womöglich vorschnell und unreflektiert gebraucht wird (vgl. W E D E R 2006, 326-341). Im Kontext der deutschsprachigen Nachkriegslyrik wäre beim Begriff ‚Konstellation‘ auch an Eugen Gomringers (*1925) poetologisches Manifest vom vers zur konstellation (1954) zu denken. Mit Gomringers konstellatio‐ nen-Programm ist die Etablierung der Konkreten Poesie verbunden, die sich wiederum auf die Konkrete Kunst bezieht (vgl. G OM R IN G E R 1972, 5). Abge‐ lehnt wird hier der Vers, der als Organisationseinheit des Gedichts nur noch „historische größe“ oder eine „kunsthandwerkliche reminiszenz“ sein könne (G OM R IN G E R 1969, 278). Gegenwärtige Dichtung müsse anders funktionieren, wobei Gomringer die Wortkonstellation als „einfachste gestaltungsmöglich‐ keit der auf dem wort beruhenden dichtung“ ansieht (G OM R IN G E R 1969, 280). Die Grundprinzipien von Gomringers konstellationen sind die Reduktion, die Wiederholung, die Inversion und die Permutation. Insofern nutzt er den Begriff nicht als Wissensmetapher: ‚Konstellation‘ avanciert vielmehr zu einem poetologischen Prinzip. 3. Die ‚gemeinsame Sache‘ der Nachkriegslyrik 21 3.3. Konstellationen der Nachkriegslyrik In Anlehnung an Albrechts Rekonstruktion der Begriffsgeschichte möchten wir ‚Konstellation‘ als Beschreibungsmodell für eine dezentrale Ordnung verstehen, deren einzelne Elemente in einer spannungsvollen Relation zu‐ einander stehen. Es handelt sich also um eine Positionserfassung potenziell beweglicher Elemente. Wenn man die Nachkriegslyrik als Feld unterschied‐ licher Konstellationen betrachtet, dann trägt man der Heterogenität, Flexi‐ bilität und Prozesshaftigkeit des Untersuchungsgegenstands Rechnung. Die Konstellation wäre eine Alternative zum Phasenmodell, das insbesondere für die Literatur nach 1900 immer noch gerne verwendet wird, um die Literatur in eine lineare Abfolge einzelner Schritte zu bringen, obgleich Hermann Korte richtigerweise betont, dass 1945 keine faktische Epochen‐ grenze darstellt, sondern dass sich nach 1945 Entwicklungen fortschreiben, die schon in den 1930er Jahren begonnen haben. Die Konstellation versucht hingegen, die sich in Bewegung befindlichen Elemente in der Momentauf‐ nahme zu fixieren. Insofern möchten wir die Lyrik von 1945 bis 1965 als eine solche Momentaufnahme heuristisch beschreibbar machen. Die deutschsprachige Nachkriegslyrik lässt sich in diesem Sinne im Horizont von drei möglichen Konstellationen untersuchen: von (a) sozialen Konstellationen, von (b) ästhetischen Konstellationen und von (c) themati‐ schen Konstellationen. Für das vorliegende Studienbuch haben wir uns für den primären Zugriff über die thematischen Konstellationen entschieden, da wir denken, dass dies für die akademische Lehre besonders sinnvoll ist. Allerdings rücken in den folgenden Teilkapiteln auch die ästhetischen und sozialen Konstellationen in den Blick. Was verstehen wir aber unter sozialen, ästhetischen und thematischen Konstellationen? Mit sozialen Konstellationen fokussieren wir Ideenformationen und soziale Netzwerke. Austauschprozesse, Briefwechsel oder Gruppenbil‐ dungsprozesse wären hier detailliert in den Blick zu nehmen. Zu diesem Untersuchungsbereich rechnen wir die Studien über die Gruppe 47 (vgl. B R AE S E 1999, A R NO LD 2004a, A R N O LD 2004b, B ÖTTIG E R 2012) oder etwa auch Gottfried Benns Netzwerkarbeit. Benn gelingt es in den 1950er Jahren, über eine Allianz mit den Herausgebern des Merkur, Joachim Moras (1902-61) und Hans Paeschke (1911-91), wieder ins Zentrum des literarisch-kulturel‐ len Deutschlands vorzustoßen. Hierbei handelt es sich um eine symbiotische Beziehung, da auch der Merkur von Benns Strahlkraft profitiert. So führt beispielsweise die Redaktionskorrespondenz eindrücklich vor Augen, dass Einleitung 22 nicht alle Texte, die Benn einsandte, dem Geschmack der Herausgeber oder dem ästhetischen Profil der Zeitschrift entsprachen. Aufgenommen wurden sie dennoch, denn Benn war ein „Name von Rang und Klang“, wie Hans Paeschke am 19. Januar 1949 an Joachim Moras schreibt. Daneben unterhält Benn einen äußerst engen Kontakt mit verschiedenen Literaturkritikern, die ihrerseits zur gesellschaftspolitischen Rehabilitation Benns maßgeblich beitragen. In vielen Fällen ‚belohnt‘ Benn die Literaturkritiker mit persönli‐ cher Sympathie, wenn sie seine Gedichte öffentlich würdigen. An Friedrich Sieburg (1893-1964), der Benns Statische Gedichte in den höchsten Tönen lobt, schreibt er: „Das ist die erhabenste Kritik, die je über mich erschienen ist, - eigentlich müsste man hinfallen u. sterben.“ (zit. n. G R E V E 1986, 303) Mit zahlreichen Kritikern, Publizisten und Akademikern steht Benn in lang‐ jährigen Briefkontakten, wodurch ein dichtes Beziehungsgeflecht entsteht, das den Dichter seinerseits massiv beeinflusst. Egal ob Friedrich Sieburg, Hans Egon Holthusen, Karl Korn (1908-91), Ernst Robert Curtius (1886- 1956) oder dessen Schüler Walter Boehlich (1921-2006) - sie alle eint ein privater Kontakt zum Dichter, den sie in der literarischen Öffentlichkeit zur „einzige[n] grosse[n] dichterischen Gestalt Deutschlands“ (C U R TIU S 1949, 661) und zum „Erzdichter unserer Zeit“ (H O LTHU S E N 1987, 246) stilisieren. Unter ästhetischen Konstellationen verstehen wir die besondere Ge‐ machtheit und die intentionale Verfasstheit von Kunstwerken, hier bezogen auf die Zeit von 1945 bis ca. 1965. Wie Kunstwerke ästhetisch wahrgenom‐ men werden und wie sie zeitgenössisch bewertet werden, steht hier ebenso im Zentrum. Einerseits entwickelt Adorno in seinem Essay Kulturkritik und Gesellschaft eine ästhetische Theorie, die dann andererseits von mehreren Seiten kontrovers diskutiert wird und so den Ausgangspunkt für unter‐ schiedliche ästhetische Positionen bildet. Die ästhetischen Konstellationen sind nicht notwendigerweise auf die Literatur begrenzt. Hierunter fallen auch die poetologischen Strömungen der Nachkriegslyrik, die - wie im Fall der Naturlyrik - den literarischen Anschluss an die Vorkriegszeit erlauben oder die - wie im Fall der Trümmerlyrik - programmatisch auf die literarische Erneuerung zielen. Daneben sind auch eine traditionalistische und eine klassizistische Strömung auszumachen, die sich oftmals mit der na‐ turmagischen Linie verbinden. Experimentelle und hermetische Tendenzen lassen sich ebenfalls feststellen. Dabei spielen auch Fragen der ästhetischen Wahrnehmung, des ästhetischen Erlebens und der Interpretation von Kunst‐ werken eine Rolle. Solche ästhetischen Konstellationen werden von uns 3. Die ‚gemeinsame Sache‘ der Nachkriegslyrik 23 in den poetologischen Hinführungen der fünf Unterkapitel im Analyseteil dargelegt. Unter thematischen Konstellationen verstehen wir die thematische Gruppierung unterschiedlicher Gedichte. So arbeiten sich verschiedene Dichterinnen und Dichter an einem mehr oder minder klar umrissenen Set an Themen ab. Um das heterogene Feld der deutschsprachigen Nachkriegs‐ lyrik beschreibbar zu machen, haben wir uns auf fünf thematische Konstel‐ lationen konzentriert: Sprachverdichtung, Naturerfahrung, Schuldfra‐ gen, Trauma, Gesellschaftskritik. Zwischen diesen fünf thematischen Konstellationen gibt es selbstverständlich Schnittmengen. So sind Schuld‐ fragen mitunter in den Gedichten virulent, die wir unter dem Begriff ‚Trauma‘ verhandeln. Gedichte, die wir unter dem Begriff ‚Sprachverdich‐ tung‘ summiert haben, könnten gegebenenfalls auch unter dem Aspekt der ‚Naturerfahrung‘ gefasst werden. Wichtig war uns jedoch, auf der Grundlage dieser fünf thematischen Konstellationen einen repräsentativen Ausschnitt der Nachkriegslyrik vorstellen zu können. 4. Forschungslinien der deutschsprachigen Nachkriegslyrik Für den Bereich der Nachkriegslyrik liegen drei einschlägige Einführun‐ gen vor, wobei die Zeit von 1945 bis 1965 jeweils nur einen Teilbereich ausmacht. Alle drei Einführungen thematisieren die Lyrik nach 1945 bis zur Gegenwart. Lediglich Hermann Kortes Deutschsprachige Lyrik seit 1945 wird noch verlegt (mittlerweile in der 2. Auflage). Korte bietet eine litera‐ turgeschichtliche Gesamtdarstellung der deutschsprachigen Lyrik von 1945 bis 1989, wobei vor allem die Kontinuitäten der deutschsprachigen Nach‐ kriegslyrik herausgearbeitet werden. Die Studie verfährt chronologisch, indem die einzelnen Kapitel nach Jahrzehnten gegliedert werden und in sich wiederum nach Dichterinnen und Dichtern strukturiert sind. Ähnlich geht auch Otto Knörrich vor, der in seinem 1971 vorgelegten Überblickswerk Die deutsche Lyrik seit 1945 vor allem die poetologischen Strömungen der deutschsprachigen Nachkriegslyrik thematisiert (2. Auflage von 1978). Knörrich gruppiert die Lyrik nach 1945 in „Lyrischen Traditionalismus“, „Nach dem Expressionismus“, „Nach Dada und Surrealismus“, „Lyrik und Gesellschaft“ und „Lyrische Postmoderne“. Im Gegensatz zu Kortes Lyrik seit 1945 unterscheidet Knörrich explizit zwischen den Entwicklungen im Westen und Osten. Die dritte Einführung in die Lyrik nach 1945 stammt Einleitung 24 von Dieter Hoffmann und trägt den Titel Arbeitsbuch deutschsprachige Lyrik seit 1945. Ebenso wie Korte und Knörrich wählt Hoffmann einen weiten Fokus, um die gesamte Gedichtproduktion von 1945 bis in die Gegenwart in den Blick nehmen zu können. Auch Hoffmann geht chronologisch vor, wobei er - im Gegensatz zu Korte und Knörrich - eine Phasenabfolge der Lyrik suggeriert. Trotz der zweiten Auflage, die 2005 publiziert wurde, ist das Arbeitsbuch mittlerweile vergriffen. Eine grundsätzliche Schwierigkeit des Arbeitsbuchs von Hoffmann sehen wir in seiner doppelten Adressie‐ rung: Das Arbeitsbuch soll als Grundlage sowohl der universitären als auch der schulischen Lehre dienen. Aus dieser doppelten Adressierung ergeben sich verschiedene Probleme, die sich schlaglichtartig in der für den akademischen Gebrauch stellenweise reduktionistischen Aufbereitung des Lernmaterials zeigen. Denn die einzelnen Kapitel zu den verschiedenen Strömungen der Lyrik fallen insgesamt recht knapp aus. Auch der Appendix, in dem exemplarische Analysen der im Arbeitsbuch verhandelten Gedichte bereitgestellt werden, ist insofern diskussionswürdig, als sich Hoffmann auf äußerst knappe Analysen beschränkt, ohne dabei bestehende Forschungs‐ positionen aufzugreifen. Ein hilfreiches Nachschlagewerk für die Nachkriegslyrik ist das Handbuch Nachkriegskultur. Literatur, Sachbuch und Film in Deutschland (1945-1962), das Elena Agazzi und Erhard Schütz herausgegeben haben. Das Handbuch geht auf ein deutsch-italienisches Forschungsprojekt zurück; die Periode von 1945 bis 1962 wird als „Zeitraum einer exemplarischen Mentalität“ (A GAZZI / S CHÜTZ 2016, 2) begriffen. Die ausführliche Einleitung von Erhard Schütz entfaltet ein instruktives Panorama der deutschen Nachkriegskultur. Die folgenden 117 Artikel sind in zwölf thematische Sektionen gegliedert und bieten einen schnellen Zugriff für spezifische Fragen, da sie teilweise nach einzelnen Texten gruppiert sind. Das Handbuch Nachkriegskultur bietet insgesamt eine sinnvolle (und aktuelle) Ergänzung zum Teilband Literatur der Bundesrepublik Deutschland bis 1967, der im Rahmen von Hansers Sozial‐ geschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart erschienen ist. Neben diesen Einführungswerken möchten wir auf drei wichtige Refe‐ renzstudien hinweisen, die auch für die weiterführende Arbeit mit dem vorliegenden Studienbuch ertragreich sein dürften. (1) In seiner 2013 veröffentlichten Habilitationsschrift Nachkriegsmo‐ derne. Transformationen der deutschsprachigen Lyrik 1945-1960 untersucht Fabian Lampart, inwieweit nach 1945 eine Modernisierung der Lyrik einsetzt 4. Forschungslinien der deutschsprachigen Nachkriegslyrik 25 und inwiefern dabei Strömungen der internationalen Moderne relevant werden. Sein Fokus liegt auf der diskursiven Erkundung von Moderne-Kon‐ zepten in der Lyrik nach 1945, die als parallel verlaufende und sich wech‐ selseitig beeinflussende ‚Transformationsprozesse‘ beschrieben werden. Die Studie verfolgt zwei Ziele: „Literaturhistorisch geht es darum, die Nach‐ kriegsmoderne in der deutschsprachigen Lyrik an exemplarischen Autoren und Autorengruppen aufzuarbeiten. Zugleich sollen aber die individuellen Lyrikkonzepte, Poetiken und Programme im Kontext kulturgeschichtlicher Nachkriegsdiskurse verortet werden.“ (L AM PA R T 2013, 24) Dabei entfaltet Lampart zunächst die Signaturen der ‚Nachkriegsmoderne‘, um dann mit der Naturlyrik, der Trümmerlyrik und den konträren Ansätzen Gottfried Benns und Bertolt Brechts jene Koordinaten in den Fokus zu nehmen, die das Feld der Nachkriegslyrik maßgeblich bestimmt haben. Der umfangreiche Schlussteil der Studie widmet sich den Transformationen dieser ‚Nachkriegs‐ moderne‘ und enthält mehrere autorbezogene Einzelstudien (Günter Eich [1907-72], Peter Huchel, Karl Krolow, Ingeborg Bachmann [1926-73], Paul Celan, Peter Rühmkorf [1929-2008] und Hans Magnus Enzensberger), in denen der „Prozess des Erkundens und poetologischen Reformulierens bestimmter Moderne-Vorstellungen auf der Basis bestehender Traditionsbe‐ stände“ (L AM PA R T 2013, 8) exemplarisch untersucht wird. Der zentrale Gehalt dieser Studie besteht darin, dass die poetischen und poetologischen Trans‐ formationen im Spannungsfeld „einer komplementären Gegenläufigkeit aus Modernisierung und Tradition“ (L AM PA R T 2013, 449) herausgearbeitet werden. (2) Am Beispiel der Lyrikbeiträge des Merkur zwischen 1947 und 1956 untersucht Hanna Klessinger in Bekenntnis zur Lyrik die Literaturpolitik die‐ ser für die unmittelbare Nachkriegszeit enorm einflussreichen Zeitschrift. Ins Zentrum stellt sie dabei die Platzierung der Texte von Hans Egon Holthusen, Karl Krolow und Heinz Piontek (1925-2003). So konstatiert Klessinger beispielsweise, dass Holthusens Langgedichte die Unsicherheit der Nachkriegszeit durch existenzialistische Fragestellungen auffangen und der Sinnfrage mit der Aussicht auf christliche Erlösung begegnen (vgl. K L E S S IN G E R 2011, 55-59). Laut Klessinger radikalisiere Krolow seine lyri‐ sche Bildsprache gegenüber der traditionellen Naturlyrik, integriere zeitge‐ schichtliche Bezüge und vollziehe eine Anpassung an das metaphysische Gedankengedicht durch philosophische Reflexionen in den Gedichten (vgl. K L E S S IN G E R 2011, 72-74). Ebenso wie Holthusen schaffe sich Krolow mit seiner objektivierten Gedankendichtung in der Naturlyrik einen stabilen, Einleitung 26 überzeitlichen Rahmen, in dessen Schutz er sich mit der Zeitgeschichte auseinandersetzen kann (vgl. K L E S S IN G E R 2011, 92). (3) Ein weiteres Referenzwerk stellt der von uns herausgegebene Sammel‐ band Texturen der Wunde dar, in dessen konzeptioneller Einleitung wir die deutschsprachige Nachkriegslyrik unter dem Paradigma der Traumatologie gruppiert und analysiert haben. In exemplarischen Analysen von Gedichten und Gedichtbänden bekannter und weniger bekannter Dichterinnen und Dichter wird das Trauma als verbindendes Element der Nachkriegsgedichte zur Diskussion gestellt (vgl. B O Y K E N / I MME R 2016). Die hier in den Blick genommenen Texte werden als Ausdrucksmedien einer ‚Wunde‘ bzw. ‚Ver‐ wundung‘ verstanden, was mit der insbesondere der Lyrik zugeschriebenen Authentizität des Aussagegehalts korrespondiert: Die traumatische Erfahrung erweist sich als Generator einer schöpferischen Produktionskraft, die in Worte zu fassen versucht, was der Sprache eigentlich entzogen ist. Das wiederholte Umkreisen des schmerzvollen Erlebens erzeugt neue Darstellungsformen, die den Anspruch auf ‚ästhetische‘ Authentizität er‐ heben. Die dabei unterstellte Beziehung der Unmittelbarkeit ist wechselseitig ausgerichtet: Ebenso wie die lyrische Gestaltung die adäquateste Äußerungsform der traumatischen Erfahrung zu sein scheint, führen die sprachlichen Bilder des Gedichts direkt ins Zentrum des schmerzvollen Erlebens. (B O Y K E N / I M M E R 2016, 8) Dabei geht es jedoch nicht um eine schlichte Gleichsetzung von Literatur und Leben; vielmehr werden die sprachlichen Ausdrucksformen der indivi‐ duellen und kollektiven Traumata konturiert. 5. Hinweise zur Anlage und zum Gebrauch Die Ausführungen des folgenden Abschnitts fungieren als jeweils in sich ab‐ geschlossene Argumentationen. Anhand konkreter Einzeltextanalysen wird ein Teilbereich der deutschsprachigen Nachkriegslyrik näher konturiert. Das Analysekorpus, das die thematischen Konstellationen exemplarisch illustriert, ist eine Auswahl. Leitkriterium war die Repräsentativität mit Blick auf die Lyriklandschaft von 1945 bis ca. 1965. Daher haben wir bekannte und kanonisierte Gedichte der Nachkriegszeit aufgenommen. Gleichzeitig haben wir unsere Auswahl durch (heute) weniger bekannte Gedichte ergänzt. So stehen Gedichte von Bachmann, Celan, Eich und Brecht neben Texten von Kaléko, Bobrowski (1917-65), Schnurre, Bergengruen 5. Hinweise zur Anlage und zum Gebrauch 27 oder Stojka. Gleichzeitig haben wir auf eine angemessene und repräsentative Auswahl von ost- und westdeutschen Dichterinnen und Dichtern Wert gelegt. Dass man möglicherweise eine wichtige Dichterin oder einen wich‐ tigen Dichter vermisst, ist vornehmlich darauf zurückzuführen, dass wir die Lesbarkeit und Übersichtlichkeit des Studienbuchs gewährleisten wollten. Über die Zuordnung der Gedichte zu einer Strömung ließe sich im Einzelfall, wie bereits erwähnt, diskutieren. Dass die thematischen Konstellationen untereinander Schnittmengen bilden, ist evident. Ein Spannungsfeld, das wir in den jeweiligen Unterkapiteln auch immer wieder erwähnen, besteht zwischen Entstehungs- und Publikationszeit. So wurden die Gedichte Stojkas beispielsweise erst nach 2000 veröffentlicht, sind aber deutlich früher entstanden und rekurrieren noch auf den ästhe‐ tischen Diskurs der unmittelbaren Nachkriegszeit. Andere Gedichte, wie beispielsweise Huchels Oktoberlicht, sind vor 1945 geschrieben worden, wirkten jedoch aufgrund ihrer Publikationszeit auf das literarische Feld nach 1945 nachdrücklich ein. Die ästhetischen Konstellationen, die sich aus unserer Zusammenstellung ergeben, und die sozialen Konstellationen haben wir bewusst nur punktuell aufgearbeitet. Insbesondere zu den sozialen Konstellationen darf auf die umfangreiche Spezialforschung verwiesen werden, die sich mit literatursoziologischen Fragen und mit Fragen der Gruppenbildung intensiv auseinandersetzt. Ein komplexes Feld wie die deutschsprachige Nachkriegslyrik lässt sich in der Retrospektive nur bis zu einem bestimmten Grad sinnvoll reduzieren. Wenn man sich im Rahmen universitärer Pro- und Hauptseminare oder in Basis-, Aufbau- und Mastermodulen mit literarischen Texten befasst, ist es selbstverständlich nicht damit getan, die literarischen Texte zu lesen. Man muss die Texte historisch kontextualisieren, sich mit der Forschungsliteratur auseinandersetzen und mögliche Forschungsdesiderate ausfindig machen. Ein Studienbuch kann dazu verschiedene Hilfestellungen geben. Es kann vor allem zeigen, wo es sich lohnt, weiter zu suchen. Wir hoffen, mit dem vorliegenden Studienbuch einen kleinen Anstoß geben zu können, um die Polyphonie der deutschsprachigen Nachkriegslyrik wieder zu Gehör zu bringen. Dass sich aus der Vielgestalt und Vielstimmigkeit der deutschsprachigen Nachkriegslyrik der eigene poetische Standort ableiten lässt, belegt bei‐ spielsweise ein Gedicht Rolf Bosserts (1952-86). Bossert gehörte zur Gruppe der deutschstämmigen Rumänen des Banats. Er studierte Germanistik und Anglistik in Bukarest, war unter anderem als Deutschlehrer tätig und Einleitung 28 schloss sich 1972 der „Aktionsgruppe Banat“ an, die vom Ceaușescu-Regime politisch verfolgt wurde. Auch Bossert sah sich den Repressionen der Securitate ausgesetzt, weswegen er seine Ausreise beantragte. Nur zwei Monate nach seiner Emigration aus Rumänien kam er im Februar 1986 in einem Aussiedlerheim in Frankfurt am Main unter ungeklärten Umständen zu Tode. In einem Gedicht, das auf seine Studienzeit zurückgeht, macht Bossert die deutsche Nachkriegslyrik zum Thema. Das seminar deutsche nachkriegslyrik (germanistikfakultät bukarest) bildet den Ausgangspunkt des Dichters Bossert, der sich in den Elementen der Nachkriegslyrik als Beobachter positioniert: eichsche vögel und bachmannsche fische haben sich gegenseitig aufgefressen was bleibt ist luft und mehr dazwischen ein land ein wort (B O S S E R T 2006, 26) Wir werden uns im Rahmen unseres Studienbuchs nicht nur auf die „eich‐ sche[n] vögel“ und die „bachmannsche[n] fische“ konzentrieren. Auch möchten wir das „dazwischen“ sichtbar machen, indem wir jene Gedichte, die heute nicht mehr präsent und bekannt sind, mit den heute noch kanonisierten Gedichten der Nachkriegszeit in Relation setzen. 5. Hinweise zur Anlage und zum Gebrauch 29 Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 1. Sprachverdichtung 1.1. Poetologische Hinführung Als der Schriftsteller Wolfgang Weyrauch (1904-80) seine Anthologie Ex‐ peditionen. Deutsche Lyrik seit 1945 (1959) veröffentlicht, stattet er sie mit einem An die Leser gerichteten Nachwort aus. Darin wirbt er dafür, sich aufgeschlossen und gutwillig an diesen lyrischen ‚Expeditionen‘ zu beteiligen. Angesichts des herausfordernden Charakters der Lektüre gibt er eine Empfehlung, wie den widerständigen Gedichten am besten zu begegnen sei: „ich habe mir vorgenommen, geduldig zu sein, […] das Unverständliche, das Fremde, falls es mir begegnet, mir verständlich und vertraut zu machen, und wenn ich es siebenmal lesen müßte“ (W E Y R AU CH 1959, 155). Zudem bietet Weyrauch eine konkrete Hilfestellung: Am Beispiel eines Gedichts von Helmut Heißenbüttel (1921-96), den Weyrauch in den 1950er Jahren entschieden fördert (vgl. S T E IN 2011, 234), demonstriert er, wie eine interpretative Annäherung an dieses Gedicht aussehen kann. Ziel einer produktiven Lektüre sei es, aus den eingangs genannten „inhaltslose[n] Sätze[n]“ (H E IẞE NBÜTT E L 2000, 93), von denen zu Beginn des Gedichts e aus dem Zyklus Topographien (1956) die Rede ist, „inhaltsvolle Sätze zu machen“ (W E Y R AU CH 1959, 158), um somit aktiv zu dessen Sinnkonstitution beizutragen. Eine solche Mitwirkung ist vor allem deshalb erforderlich, weil Heißenbüttels dichterische Sprachverwendung erheblich vom alltäglichen Sprachgebrauch differiert. Sein poetologisches Verfahren beschreibt er in einer Stellungnahme, die in Hans Benders Anthologie Mein Gedicht ist mein Messer (1961) gedruckt wird: Wenn die überkommene Sprache sich entzog, galt es, sozusagen ins Innere der Sprache einzudringen, sie aufzubrechen und in ihren verborgensten Zusammen‐ hängen zu befragen. Was dabei herausgekommen ist, kann keine neue Sprache sein. Es ist eine Rede, die sich des Kontrasts zur überkommenen Syntax und zum überkommenen Wortgebrauch bedient. (H E IẞE N BÜT T E L 1961, 92) Die Ambition, die Gebrauchssprache zu ‚zerlegen‘, um „ins Innere der Sprache einzudringen“, ist bei Heißenbüttel kein Selbstzweck. Vielmehr geht es ihm darum, bisher verborgene Daseinsbereiche sprachlich zu erfassen: Die dichterische Arbeit wird dabei „als Versuch [begriffen], ein erstesmal einzudringen und Fuß zu fassen in einer Welt, die sich noch der Sprache zu entziehen scheint“ (H E IẞE NBÜTT E L 1961, 63). Somit lässt sich der Prozess des lyrischen Gestaltens - im Sinne Weyrauchs - als eine sprachlich-onto‐ logische ‚Expedition‘ verstehen. Das poetologisch begründete Aufbrechen der Sprache korrespondiert mit der von Hermann Kasack (1896-1966) be‐ obachteten Tendenz, dass Heißenbüttel schon in seinem ersten Gedichtband Kombinationen (1954) „das Begriffliche“ favorisiert, während er „das Gegen‐ ständlich-Sinnliche […] immer stärker eliminiert“ (zit. nach H E IẞE NBÜTT E L 2000, 6). Zwei Jahre später folgt die zweite Sammlung Topographien (1956), in der die Metaphern „nur noch eine untergeordnete Rolle spielen“ und „der Duktus […] noch karger, zurückgenommener“ (K O R T E 2004, 82) wird. Im Horizont der sich herausbildenden Konkreten Poesie erprobt Heißenbüttel mit seinem sprachreflexiven Zugang innovative Verfahren der lyrischen Sprachverdichtung. Im Anschluss an seine Deutung von Heißenbüttels Gedicht aus dem Zyklus Topographien hinterfragt Weyrauch die historische Position der gegenwärtigen Lyrik. Er stellt die Frage, ob es nicht einen geschichtlichen Augenblick gegeben habe, „da eine Zeit der äußersten Situationen begann, eine Zeit also, die von der Zeit des [Matthias] Claudius, ja, von der des Richard Dehmel und Arno Holz aufs äußerste verschieden war? “ (W E Y R AU CH 1959, 160) Weyrauch, der diese Frage selbstverständlich bejaht, bezieht sich in seiner Antwort bemerkenswerterweise auf den ästhetischen Umbruch, der sich in der Zeit des Expressionismus vollzogen habe. Wie er außerdem nahelegt, sei es unmöglich, die prägenden Kriegserfahrungen in der moder‐ nen Lyrik zu ignorieren. Weyrauch zieht die Konsequenz, dass Gedichte keineswegs mehr - wie noch bei Johann Wolfgang Goethe (1749-1832) - mit dem Bild „gemalte[r] Fensterscheiben“ (W E Y R AU CH 1959, 160; G O E THE 1988, II, 542) zu erfassen seien. Indem er daran erinnert, dass die realen „Fensterscheiben […] gestern noch zersplittert“ waren, formuliert er ein Plädoyer für ein anspruchsvolles und zugleich herausforderndes Gedicht, das in der Lage sei, „den Menschen […] aus der Bewegungslosigkeit, aus den überholten Ordnungen“ (W E Y R AU CH 1959, 160 f.) zu katapultieren. Die von Weyrauch skizzierte Widerständigkeit korrespondiert mit jener Abkehr von der „kommunikative[n] Wohnlichkeit“ (F R I E D R ICH [1956] 1961, Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 32 11) des Gedichts, die der Romanist Hugo Friedrich (1904-78) kurz zuvor diagnostiziert hatte. In seiner einflussreichen Studie Die Struktur der moder‐ nen Lyrik (1956) befasst er sich zunächst mit dem Merkmal der ‚Dunkelheit‘, das bei der Lektüre moderner Lyrik sowohl zur Anziehung als auch zur Distanzierung führe: „Ihr Wortzauber und ihre Geheimnishaftigkeit wirken zwingend, obwohl das Verstehen desorientiert wird.“ (F R I E D R ICH [1956] 1961, 10) Das Gedicht erweist sich dabei als Medium einer sprachlichen Funda‐ mentalerfahrung: Die Leser werden mit dem Unvertrauten konfrontiert, durch die Verfremdung des Bekannten irritiert und durch die Deformation des Bestehenden provoziert. Ein solches Wirkungspotential resultiert nicht zuletzt aus der Vermeidung von semantischer Eindeutigkeit: „Das Gedicht will […] ein sich selbst genügendes, in der Bedeutung vielstrahliges Gebilde sein, bestehend aus einem Spannungsgeflecht von absoluten Kräften, die suggestiv auf vorrationale Schichten einwirken, aber auch die Geheimniszo‐ nen der Begriffe in Schwingung versetzen.“ (F R I E D R ICH [1956] 1961, 10 f.) Das Merkmal der ‚Selbstgenügsamkeit‘ wird in der zeitgenössischen Diskussion über moderne Lyrik freilich auch kritisch gesehen: Weil sich das Gedicht in „orphischem Geraun“ (P IO NT E K 1961, 113) erschöpfe, gelinge es nicht mehr, eine produktive Dialogbeziehung zwischen Text und Leser zu etablieren. Dabei bleibt jedoch zu bedenken, dass der polemische Begriff „Geraun“ von einer ablehnenden Haltung zeugt; demgegenüber hatte Weyrauch für eine mehrmalige und möglichst aufgeschlossene Lektüre votiert. In beiden Perspektiven geht es um den verborgenen und im Grunde nur bedingt erschließbaren Bedeutungsgehalt eines Gedichts, der bewusst ‚verdunkelt‘ sei: Moderne Lyrik nötigt die Sprache zu der paradoxen Aufgabe, einen Sinn gleich‐ zeitig auszusagen wie zu verbergen. Dunkelheit ist zum durchgängigen ästheti‐ schen Prinzip geworden. Sie ist es, die das Gedicht übermäßig absondert von der üblichen Mitteilungsfunktion der Sprache, um es in einer Schwebe zu halten, in der es sich eher entziehen als annähern kann. (F R I E D R I C H [1956] 1961, 130) Friedrich greift in diesem Zusammenhang einen Begriff auf, der sich als kategorisierendes Ordnungskonzept für einen Bereich der deutschen Nach‐ kriegslyrik etabliert hat: „Hermetismus“ (F R I E D R ICH [1956] 1961, 131). Die Hermetik bzw. der Hermetismus bezeichnet zunächst eine Offenbarungs‐ lehre, die ursprünglich aus der Antike stammt und insbesondere in der Renaissance an Bedeutung gewinnt. Noch vor 1900 wird der Begriff auf die Literatur übertragen und um 1930 von der italienischen Literaturkritik 1. Sprachverdichtung 33 für die Lyrik Giuseppe Ungarettis (1888-1970) verwendet (vgl. S CHÄF E R 1971, 148). Auch wenn sich nachweisen lässt, dass gewisse ‚alchemische‘ Wissenselemente in die neuzeitliche Lyrik einwandern (vgl. T E LL E 2013, I, 157), stellt die literarische Hermetik keine Fortsetzung der hermetischen Tradition dar (vgl. W ALD S CHMIDT 2011, 14 f.). Wenn dieser Begriff im Zusammenhang mit der Nachkriegslyrik gebraucht wird, bezeichnet er folglich keine kodierte alchemistische Geheimlehre, sondern eine ‚dunkle‘ Verssprache, in der die semantischen Relationen gelockert und mitunter aufgehoben werden. Durch das Aufbrechen gebräuchlicher Redeformen und bestehender Sinnkohärenzen soll gleichsam die „Substanz“ der Sprache freigelegt werden; zur Anwendung kommen dabei „Verfahren der Entreali‐ sierung, Entpersönlichung und Entgegenständlichung“ (K O R T E 2004, 49). Nach 1945 ist ein „Aufblühen der hermetischen Dichtweise“ (S CHÄF E R 1971, 149) zu beobachten. Damit wird an ein poetisches Konzept angeknüpft, dessen Wurzeln im französischen Symbolismus liegen und das zunächst Stefan George (1868-1933) für die deutsche Lyrik fruchtbar gemacht hatte. Für die Herausbildung einer hermetischen Nachkriegsdichtung erweist sich einerseits die magische Naturdichtung Oskar Loerkes (1884-1941) und Wil‐ helm Lehmanns (1882-1968) als impulsgebend, an die Günter Eich (1907-72) anschließen wird. Andererseits ist es die metaphorische Lyrik Rainer Maria Rilkes (1875-1926) und Georg Trakls (1887-1914), die Paul Celan (1920-70) aufgreifen wird (vgl. L AM P IN G [1989] 2000, 237). Im Falle Eichs finden sich noch in seiner Sammlung Abgelegene Gehöfte (1948) solche naturmagischen Bilder, wie etwa das Gedicht Aurora belegt. Geht es eingangs um das Erlebnis eines anbrechenden Tages, mündet die Feststellung, dass die römische Göttin Aurora noch lebe, in die Überblendung von gegenwärtiger und antiker Welt: In Kürbis und in Rüben wächst Rom und Attika. Gruß dir, du Gruß von drüben, wo einst die Welt geschah! (E I C H 1991, I, 24) Erweist sich die Natur hier als Medium einer gleichsam magischen Ge‐ schichtserfahrung, akzentuiert Eich in seinem Gedicht Ende eines Sommers aus der Sammlung Botschaften des Regens (1955) ihre „Unausdeutbarkeit“ (S CHÄF E R 1971, 151). Doch der „Trost der Bäume“ (E ICH 1991, I, 81), von dem Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 34 in Ende eines Sommers noch die Rede ist, scheint zusehends zu schwinden (vgl. H A R TUN G 1966, 90 f.). In den Botschaften des Regens wird die Natur schließlich zum „Zeichen einer […] unheilvollen Welt“ (L AM P IN G [1989] 2000, 238). Angesichts dieser Tendenz wird die Dichterin Ingeborg Bach‐ mann (1926-73) in ihren Frankfurter Poetik-Vorlesungen (1959/ 60) darauf hinweisen, dass Eichs Lyrik gerade nicht dem überholten Konzept einer Erlebnis- oder Bekenntnislyrik entspreche. Seine Gedichte seien daher nicht „genießbar“, sondern vielmehr „erkenntnislastig, als müßten sie in einer Zeit äußerster Sprachnot aus äußerster Kontaktlosigkeit etwas leisten, um die Not abzutragen“ (B ACHMANN [1993] 2010, IV, 215). Diese Charakterisierung gilt im Grunde auch für die Gedichte Bach‐ manns, die sie in den 1950er Jahren publiziert und die schon von der zeitgenössischen Literaturkritik als hermetisch qualifiziert werden. In ihrer ersten Sammlung Die gestundete Zeit (1953) liegt der Akzent vorwiegend auf der Auseinandersetzung mit den gesellschaftspolitischen Verhältnissen der Nachkriegszeit. So verbindet sie beispielsweise im Gedicht Herbstmanöver die Zeitkritik mit einer Medienkritik: In den Zeitungen lese ich viel von der Kälte und ihren Folgen, von Törichten und Toten, von Vertriebenen, Mördern und Myriaden von Eisschollen, aber wenig, was mir behagt. (B A C H M A N N [1993] 2010, I, 36) Dass Bachmanns Lyrik dabei „Widerstand gegen eine gefügig gemachte Sprache“ (K O R T E 2004, 58) leistet, veranschaulichen weitere Wendungen aus dem gleichen Gedicht. Wenn darin von der „Spreu des Hohns“, vom „Herbst‐ manöver der Zeit“ oder vom „Splitter traumsatten Marmors“ (B ACHMANN [1993] 2010, I, 36) die Rede ist, dann werden semantisch polyvalente Bilder und Vorstellungen evoziert, die sich einer einlinigen Deutbarkeit entziehen. In ihrem Folgeband Anrufung des großen Bären (1956) wird Bachmann diese Form der poetischen Sprachverdichtung nutzen, um unbestimmte Ahnungen von einer dystopischen Zukunft zu erzeugen. Als eigentlicher Repräsentant der hermetischen Dichtung in der Nach‐ kriegszeit gilt Paul Celan, der zudem die „Königsaura des hermetischen Dichters“ (S CHÄF E R 1971, 155) kultiviert habe. Celan, der sich dezidiert gegen die Unterstellung einer der Verstehbarkeit entzogenen Dichtung ausspricht (vgl. F E L S TIN E R 2000, 322), entwickelt gleichwohl eine Poetik 1. Sprachverdichtung 35 des hermetischen Gedichts (vgl. S PA R R 1989). Zum prominentesten Beispiel seiner innovativen dichterischen Sprache, deren Bildgebrauch zunächst noch an den Surrealismus angelehnt ist, avanciert sein Gedicht Todesfuge (1947) (vgl. S PA R R 2020). Dieses Gedicht, das am musikalischen Kompositi‐ onsprinzip einer Fuge orientiert ist, evoziert über die in Wiederholungs- und Variationsstrukturen eingebundenen Textelemente den Eindruck „po‐ lyphoner Stimmigkeit“ (B U C K 2002, 16). Der in der Todesfuge und auch in anderen Gedichten seiner frühen Lyrik verwendete Langvers weicht in den Folgejahren einer Verknappung der dichterischen Sprache, die zunehmend von neuen und originellen Substantivkombinationen geprägt ist. Allein in Titeln wie Fadensonnen oder Lichtzwang gewinnt die charakteristische „Celansche Sprachverdichtung“ (B AY E R DÖR F E R 1988, 62) spezifische Kontur. Dieses Verfahren der Reduktion zeigt sich außerdem im Aufbrechen der sprachlichen Syntax, d. h. in der „Unterbrechung, Suspendierung, Zäsur“ (L AC O U E -L ABA R TH E 1988, 39) der lyrischen Rede. Dementsprechend betont Celan in seiner Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises, dass das moderne Gedicht „eine starke Neigung zum Verstummen“ (C E LAN 1986, III, 197) aufweise. Trotz dieser Tendenz könne es sich noch am Rande des Sagbaren behaupten, wo es sich in einer „aktualisierte[n] Sprache“ (C E LAN 1986, III, 197) formiere. Diese liminale Position des Gedichts macht es widerständig und bedürftig zugleich: Indem es ein „Gegenwort“ verkörpert, kann es sich der ideologischen Indienstnahme widersetzen; weil es aber ein „Gegenwort“ verkörpert, bedarf es eines empfänglichen Gegenübers, dem es ‚sich zuzusprechen‘ (C E LAN 1986, III, 198) versucht. 1.2. Paul Celan: Dichtung als Trauerarbeit Am 9. September 1948 gibt Paul Celan (eigentlich: Paul Antschel) in einem Brief an Dolf Sternberger (1907-89), den Herausgeber der Zeitschrift Die Wandlung, einen knappen Überblick über seine bisherige Vita: 1920 in Czernowitz, in der östlichsten Provinz der ehemaligen Habsburgermo‐ narchie geboren, habe ich, außer einem einjährigen Aufenthalt in Frankreich, meine Geburtsstadt vor 1941 fast überhaupt nicht verlassen. Was während der Kriegsjahre das Leben eines Juden war, brauche ich nicht zu erwähnen. 1945 kam ich nach Bukarest, das ich 1947 verließ, um nach Wien zu gehn. Seit Juli 1948 lebe ich in Paris. (C E L A N 2019, 43) Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 36 Der am 23. November 1920 geborene Celan verbringt seine Jugend, wie er brieflich darlegt, in Czernowitz, der traditionellen Hauptstadt der Buko‐ wina, die damals zu Nordrumänien und heute zur Westukraine gehört. Dort wächst er mehrsprachig auf: Während sein Vater für die jüdische Erziehung sorgt, die auch das Erlernen des Hebräischen umfasst, vermittelt ihm seine Mutter die deutsche Sprache; später kommt in der Schule die rumänische Sprache hinzu. Frühzeitig tritt bei ihm eine hohe „Sensibilität für lyrische Dichtung“ (F E L S TIN E R 2000, 31) zutage. Diese Disposition zeigt sich darin, dass er und sein Schulkamerad Immanuel Weissglas (1920-79) damit beginnen, erste Gedichte zu verfassen. Nach dem Abschluss der Schulausbildung geht Celan 1938 für ein Jahr nach Frankreich, um in Tours Medizin zu studieren. In Czernowitz setzt er diese Ausbildung jedoch nicht fort, sondern nimmt ein Studium der Romanistik auf. Als Czernowitz gegen Mitte Juni 1940 von russischen Truppen besetzt wird, kann Celan sein Studium zunächst noch fortführen. Das ändert sich ein Jahr später, als deutsche Truppen Anfang Juli 1941 in Czernowitz einmarschieren. Die jüdischen Einwohner werden „in ein Ghetto getrieben und später zu Zehntausenden deportiert“ (F E L S TIN E R 2000, 36). Ende Juni 1942 werden Celans Eltern in das Zwangsarbeiterlager Michailowka gebracht, in dem der Vater an Typhus stirbt und die Mutter von einem SS-Mann erschlagen wird. Nachdem er davon erfahren hat, schreibt Celan betroffen an seinen Freund Erich Einhorn: „Deine Eltern sind gesund, Erich, ich habe mit Ihnen gesprochen […]. Das ist sehr viel, Erich, Du kannst Dir nicht vorstellen, wie viel.“ (C E LAN 2019, 25) Anders als seine Eltern entgeht Celan der Deportation und kommt in das 400 km südlich von Czernowitz gelegene Arbeitslager Tăbărești, wo er Zwangsarbeit im Straßenbau leisten muss. Trotz der strapaziösen Lebensbedingungen bleibt Celan in dieser Periode dichterisch produktiv und verfasst ca. 75 eigene Gedichte sowie mehrere Übersetzungen. Nach der Einnahme von Czernowitz durch die Rote Armee im Frühjahr 1944 kehrt Celan zunächst in seine Heimatstadt zurück, wo er mit Dichtern wie Weissglas, Rose Ausländer (1901-88) und Alfred Margul-Sperber (1898- 1967) zusammentrifft. In dieser Zeit entsteht eines der bekanntesten, wenn nicht gar das berühmteste Gedicht Celans, das mit Pablo Picassos (1881- 1973) Gemälde Guernica (1937) verglichen worden ist: die Todesfuge. Das Gedicht wird zuerst 1947 in rumänischer Übersetzung gedruckt, die deutsche Originalfassung erscheint in Celans erster publizierter Lyriksammlung Der Sand aus den Urnen (1948). Die Todesfuge ist zum einen als Antwort auf 1. Sprachverdichtung 37 das von Weissglas zuvor verfasste, aber erst später publizierte Gedicht ER gelesen worden (vgl. B O LLAC K 2006, 47; C ONT E R N O 2014, 192). Zum anderen enthält es auch die Metapher der ‚schwarzen Milch‘, die bereits Ausländer in ihrem Gedicht Ins Leben (1939) verwendet hatte (vgl. A U S LÄND E R 1984/ 90, I, 66). Diese Form der produktiven Rezeption verschiedener Prätexte wird Celan allerdings von missgünstigen Kritikern als unkünstlerische Imitation vorgeworfen. Eine exponierte Position bezieht in diesem Zusammenhang vor allem die Schriftstellerin Claire Goll (1890-1977), die Celan zu Beginn der 1950er Jahre öffentlich des Plagiats bezichtigen wird (vgl. W I E D E MANN 2000). Demgegenüber wird sich Weissglas konsequent gegen eine solche Unterstellung aussprechen: Im Bereich der Dichtung kommt es - mag auch der Umriß einer Metapher von einem Gebilde ins andere herüberleuchten - immer nur auf Gewinn und Verlust im rein Künstlerischen an. Und die Todesfuge ist tief verankert im lyrischen Be‐ wußtsein unserer Zeit. Parallelismen bezeugen keineswegs irgendeine Priorität. (zit. nach G OẞE N S [2008] 2012, 48) Die Todesfuge, die „zum Inbegriff für Dichtung ‚nach Auschwitz‘“ (F E L S TIN E R 2000, 53) geworden ist, markiert den Beginn von Celans dichterischer Neuorientierung in den Jahren 1944/ 45. Wenn er später in seiner Bremer Literaturpreisrede (1958) sagen wird, dass in der Nachkriegszeit die Sprache „[e]rreichbar, nah und unverloren blieb inmitten der Verluste“ (C E LAN 1986, III, 185), dann verschweigt der Begriff „Verluste“, was fortan den „Fluchtpunkt seiner Lyrik“ (L AM P A R T 2013, 311) bilden wird: die Shoah. Diese thematische Fokussierung hat zugleich poetologische Konsequenzen: Es geht Celan nicht um die mimetische Abbildung, sondern um die „Wirk‐ lichkeitssuche bei zugleich radikaler Problematisierung der sprachlichen Annäherung an die gesuchte Wirklichkeit“ (L AM PA R T 2013, 309). Als Aus‐ druck dieser „Problematisierung“ gelten in Celans Lyrik vor allem seine antirealistische Darstellungsweise und seine pointierte Sprachverdichtung. Die daraus resultierende Unmöglichkeit eines unmittelbaren Verstehens hat wiederholt dazu geführt, Celans Gedichte als ‚dunkel‘ zu kennzeichnen. Schon Karl Krolow (1915-99) hat in seiner Vorlesungsreihe Aspekte zeitge‐ nössischer deutscher Lyrik (1961) festgehalten: „Bei ihm [Celan] kommt es zu einer Beschattung der Worte im Gedicht.“ (K R O L OW [1961] 1963, 149) Am Beispiel des Gedichts Sprich auch du erläutert Krolow, wie sich allmählich eine Schattenwelt formiert, in der das Gedicht schließlich „dem Verstummen zutreibt“ (K R O L OW [1961] 1963, 151). Diese Tendenz zur radikalen Reduktion Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 38 zeigt sich verstärkt in den Lyriksammlungen der 1960er Jahre: „das Gedicht [wird] der Beinahe-Unmöglichkeit, dem Fast-Verstummen abgewonnen.“ (H A R TUN G [1970] 1973, 253) Im April 1945 gelangt Celan nach Bukarest und wird dort als Übersetzer und Verlagslektor tätig. In dieser Periode entsteht nicht nur sein Gedicht Der Sand aus den Urnen; auch unterstützt Margul-Sperber ihn dabei, einen Publikationsort für seine Lyrik zu finden. Dem Schriftsteller Max Rychner (1897-1965), der 1947 einige Gedichte Celans in der Schweizer Tageszeitung Die Tat abdrucken lassen wird, teilt er allerdings auch seine grundsätzliche Befürchtung mit: […] ich will Ihnen sagen, wie schwer es ist als Jude Gedichte in deutscher Sprache zu schreiben. Wenn meine Gedichte erscheinen, kommen sie wohl auch nach Deutschland und - lassen Sie mich das Entsetzliche sagen - die Hand, die mein Buch aufschlägt, hat vielleicht die Hand dessen gedrückt, der der Mörder meiner Mutter war … (C E L A N 2019, 27) Am 17. Dezember 1947 erreicht Celan als sogenannte ‚Displaced Person‘ nach einer „furchtbar schweren Reise“ (C E LAN 2019, 30), die er zu Fuß hinter sich gebracht hat (ca. 1760 km), den Bestimmungsort Wien. Zuvor hatte bereits Margul-Sperber mit Otto Basil (1901-83), dem Herausgeber der Zeit‐ schrift Plan, Kontakt aufgenommen und ihm Gedichte Celans übermittelt. Als er in Wien eintrifft, ist das letzte Heft des Plan (1948) gerade konzipiert, das nicht nur 17 Gedichte Celans enthalten wird, sondern auch eine lobende Einschätzung Margul-Sperbers. Darin heißt es: „Paul Celan [ist] der Dichter unserer westöstlichen Landschaft […]. Ich […] glaube, daß Der Sand aus den Urnen das wichtigste deutsche Gedichtbuch dieser letzten Dezennien ist, das einzige lyrische Pendant des Kafkaschen Werkes.“ (zit. nach D O R [1970] 1973, 282) Celans erster Gedichtband Der Sand aus den Urnen erscheint 1948 mit zwei Lithografien des Grafikers und Malers Edgar Jené (1904-84) (vgl. I VANOVIĆ 2001, 79), dem Wiener „‚Papst‘ des Surrealismus“ (C E LAN 2019, 31). Als Celan nach der Drucklegung jedoch feststellen muss, dass der Band zahlreiche Druckfehler enthält, entscheidet er sich, ihn einstampfen zu lassen. Im Juli 1948 reist Celan nach Paris, wo er sich dauerhaft niederlässt, aber zunächst ein „Fremder“ (D O R 2001, 133) bleibt. Auf Vermittlung der Dichterin Ingeborg Bachmann (1926-73), mit der ihn eine mehrjährige Liebesbeziehung verbindet (vgl. B ACHMANN / C E LAN 2008), erhält er im Mai 1952 die Gelegenheit, an einer Tagung der Gruppe 47 teilzunehmen. Aller‐ 1. Sprachverdichtung 39 dings wird ihm dort unterstellt, seine Gedichte „im Tonfall von Goebbels vorgetragen“ (L E NZ 1988, 316) zu haben. Bei dieser Tagung lernt Celan unter anderem Willi August Koch (1903-80) kennen, den Cheflektor der Deutschen Verlagsanstalt. Dort erscheint sein zweiter Gedichtband Mohn und Gedächtnis (1952), in den zahlreiche Gedichte aus Der Sand aus den Urnen - wie etwa die Todesfuge - Eingang finden. Während Celan in den 1950er Jahren als Übersetzer tätig ist, erlangt er mit den Gedichtbänden Von Schwelle zu Schwelle (1955), den er seiner Gattin Gisèle Lestrange (1927-91) widmet, und Sprachgitter (1959) auch in Deutschland größere Bekanntheit. Nach der Verleihung des Bremer Literaturpreises (1958) erhält er 1960 den Georg-Büchner-Preis, auf den er mit einem „poetische[n] Manifest in Gestalt einer Dankesrede“ (F E L S TIN E R 2000, 215) reagiert: mit seiner Rede Der Meridian. Doch trotz der wachsenden Anerkennung sieht sich Celan neuerlichen Vorwürfen ausgesetzt: Neben den Nachwirkungen der genannten Goll-Affäre trifft ihn die 1965 in der Zeitschrift Merkur artikulierte Unterstellung, mit seiner Todesfuge das Leid des jüdischen Volks ästhetisiert und damit ‚beschönigt‘ zu haben. Daraufhin vermerkt Celan sarkastisch: „jetzt, beim streng nach Adorno denkenden […] Merkur, weiß man endlich, wo die Barbaren zu suchen sind.“ (zit. nach F E L S TIN E R 2000, 291) Zu Beginn und nochmals Mitte der 1960er Jahre wird Celan aufgrund eines Nervenversagens in psychiatrische Kliniken eingewiesen. Trotz der gesundheitlichen Beeinträchtigung widmet er sich weiterhin seinem lyrischen Werk: In den 1960er Jahren entstehen die Sammlungen Die Niemandsrose (1963), Atemwende (1967), Fadensonnen (1968) und Lichtzwang (1970); aus dem Nachlass werden Schneepart (1971) und Zeitgehöft (1976) veröffentlicht. Vermutlich am 20. April 1970 nimmt sich Celan in Paris das Leben. Das Gedicht Der Sand aus den Urnen ist wahrscheinlich 1946 während Celans Aufenthalt in Bukarest entstanden. Bereits frühzeitig gehört es zu jenen Konvoluten, die zur Veröffentlichung an Max Rychner und Otto Basil geschickt werden (vgl. G OẞE N S [2008] 2012, 46 f.). Basil veröffentlicht das Gedicht mitsamt 16 anderen unter der Überschrift Der Sand aus den Urnen in seiner Zeitschrift Plan (1948), rät aber von einer Buchpublikation ab: „An eine Buchausgabe ist aber vorläufig hier in Österreich nicht zu denken, man kauft keine Lyrikbücher, nicht einmal von bekannten Dichtern.“ (zit. nach G OẞE N S 2001, 59 f.) Trotz dieser ‚Warnung‘ bereitet Celan seine erste Gedichtausgabe vor, für die zwischenzeitlich der Titel Der Pfeil der Artemis erwogen wird (vgl. S E N G 2001, 103). Da der ursprüngliche Plan, Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 40 sie im Verlag von Erwin Müller zu veröffentlichen (vgl. C E LAN 2019, 31), scheitert, vermittelt Jené die Verbindung zum Wiener Sexl-Verlag. Celan, der die Herstellung des Bandes nicht überwachen kann, ist von der Druck‐ ausgabe, wie er Rychner schreibt, tief enttäuscht: „das Buch erschien voller Druckfehler, mit dem geschmacklosesten Einband, den ich je gesehn, und obendrein […] mit zwei Beweisen äußerster Geschmacklosigkeit“ (C E LAN 2019, 45), womit die Lithografien Jenés gemeint sind. Da „13 der insgesamt 48 Gedichte des Bandes“ (S E N G 2001, 107) fehlerhaft sind, ordnet Celan an, den Band einstampfen zu lassen. Bei der Neupublikation der Gedichte in der Sammlung Mohn und Gedächtnis verändert Celan ein weiteres Mal die Zusammenstellung und Anordnung der Zyklen. Gehört das Titelgedicht Der Sand aus den Urnen in der Sammlung Der Sand aus den Urnen noch zum Zyklus Mohn und Gedächtnis (vgl. C E LAN 1986, III, 46), wird es in der Sammlung Mohn und Gedächtnis in den Zyklus Der Sand aus den Urnen eingegliedert (vgl. C E LAN 1986, I, 22). Die Fassungen sind fast identisch, nur an zwei Stellen ändert Celan die Interpunktion (vgl. C E LAN 2003, II/ III/ 1, 163 f.). Wir legen hier die Fassung aus Der Sand aus den Urnen (1948) zugrunde. Der Sand aus den Urnen Schimmelgrün ist das Haus des Vergessens. Vor jedem der wehenden Tore blaut dein enthaupteter Spielmann. Er schlägt dir die Trommel aus Moos und bitterem Schamhaar, mit schwärender Zehe malt er im Sand deine Braue. 5 Länger zeichnet er sie, als sie war, und das Rot deiner Lippe. Du füllst hier die Urnen und speisest dein Herz. (C E L A N 2003, II/ III/ 1, 46; C E L A N 1986, III, 46) Das Titelgedicht besteht aus einer einzigen Strophe, die ihrerseits sechs reimlose, daktylische Verse umfasst. Wie schon Winfried Menninghaus fest‐ gestellt hat, bildet der „daktylisch-anapästische Langzeiler“ die „metrische Dominante“ (M E NNIN GHAU S 1988, 173) in den Sammlungen Der Sand aus den Urnen und Mohn und Gedächtnis. Obwohl die Hebungszahl der einzelnen Verse in diesem Gedicht variiert, lässt sich eine regelmäßige Struktur erkennen: Die rahmenden Verse 1 und 6 weisen jeweils vier Hebungen auf, die nächstfolgenden Verse 2 und 5 jeweils sechs Hebungen und die Mittelverse 3 und 4 jeweils fünf Hebungen. Gleichwohl sind auch metrische 1. Sprachverdichtung 41 Unregelmäßigkeiten festzustellen: Zum einen beginnen Vers 2, 3, 4 und 6 mit einem Auftakt, Vers 1 und 5 dagegen nicht; zum anderen sind nicht alle daktylischen Versfüße vollständig realisiert, was sich insbesondere an den durchgängig katalektischen Versschlüssen zeigt. Dabei fällt wiederum auf, dass die Verse 1 bis 5 stimmlos enden, während das Ende von Vers 6 dadurch akzentuiert wird, dass es stimmhaft endet („Herz“). Die formale metrische Rahmung durch zwei daktylische Vierheber kor‐ respondiert mit der inhaltlichen Anlage des Gedichts: Ist in den Versen 2 bis 4 von den Aktivitäten eines Spielmanns die Rede, wird in Vers 1 lediglich ein „Haus des Vergessens“ benannt und in Vers 6 das angesprochene Du als Handelnder beschrieben. Das Gedicht setzt zunächst mit einem deskrip‐ tiven Sprechakt ein: „Schimmelgrün ist das Haus des Vergessens.“ (v. 1) Das demonstrativ am Versbeginn positionierte Farbattribut kennzeichnet einen Vorgang schleichender Verwesung, der mit der Prozessualität des Vergessens korrespondiert. Das dem Verfall anheimgegebene Haus erinnert an jenes marode Anwesen, das im Mittelpunkt von Edgar Allan Poes (1809-49) Kurzgeschichte The Fall of the House of Usher (1839) steht, in der jedoch das titelgebende Gebäude nicht von Schimmel, sondern von einem Pilzgeflecht überzogen ist. Auch wenn offen bleiben muss, inwieweit Celan in der Entstehungszeit seines Gedichts mit dem Werk Poes vertraut war, und daher nur von einer intertextuell möglichen Parallele ausgegangen werden kann, wirkt die Vorstellung höchst ungewöhnlich, ein Haus für das Vergessen zu reservieren. Wenn man diesem Gedanken folgt, könnte hier eine Umkehrung des aus der Mnemotechnik bekannten ‚Gedächtnispalasts‘ vorliegen, der dazu dient, in bestimmten Erinnerungsräumen konkrete Erinnerungsinhalte zu deponieren. Auch wenn im zweiten Vers ohne direkte Referenz von „wehenden Tore[n]“ die Rede ist, legt es die semantische Kohärenz nahe, diese auf das „Haus des Vergessens“ zu beziehen. Daraus ergibt sich eine erste topografi‐ sche Orientierung: Der Fokus wird nun darauf gerichtet, was „[v]or“ dem Haus und damit außerhalb jener „wehenden Tore“ geschieht. Zwar bleibt unklar, wie es Toren möglich sein soll, wehen zu können, jedoch gewinnt der Schwellenbereich zwischen Innen und Außen auf diese Weise einen fließenden Charakter. In diesem Zusammenhang kann erneut an die zitierte Kurzgeschichte Poes erinnert werden, in der auch das Gedicht The Haunted Palace enthalten ist, in dessen vierter Strophe die Durchlässigkeit eines Palasttores anhand einer ‚Schar von Echos‘ („A troop of Echoes“; P O E 1846, 73) thematisiert wird. Die ‚wallende‘ Bewegung dieser Echos („flowing, Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 42 flowing, flowing“; P O E 1846, 73) auf der Grenze von Innen und Außen korrespondiert mit der „wehenden“ Bewegung der Tore bei Celan. Vor die‐ sen Toren beginnt sich die Gestalt eines „enthauptete[n] Spielmann[s]“ zu formieren, der omnipräsent zu sein scheint, da er vor „jedem der wehenden Tore“ (v. 2) sichtbar wird. Auffällig ist dabei, dass der Spielmann einem Du zugeordnet ist, für das er in den Folgeversen künstlerisch tätig zu werden beginnt: Er trommelt, er malt und er zeichnet. Zwar bleibt die Position dieses Du unbestimmt, jedoch wird hier angenommen, dass es in dem eingangs erwähnten „Haus des Vergessens“ situiert ist und von dort auf das Außengeschehen blickt. Besonders auffällig ist, dass mit dem Verb „blaut“ (v. 2) nach „[s]chimmelgrün“ der nächste Farbwert aufgerufen wird. Weil sich das Verb ‚blauen‘ semantisch nicht aus dem Gedicht erschließen lässt, ist es für die Deutung hilfreich, den literaturgeschichtlichen Gehalt dieses Farbwerts zu berücksichtigen. Das hervorstechende Blau ist eine Farbe, die seit der deutschen Romantik mit der Bedeutung ungestillter Sehnsucht verknüpft ist. Exemplarisch sei auf Novalis’ (1772-1801) Romanfragment Heinrich von Ofterdingen (1802) verwiesen, in dem sich die Titelfigur auf die Suche nach der blauen Blume begibt. Demgegenüber ist intratextuell auch an Celans Todesfuge zu denken, mit der er seine Sammlung Der Sand aus den Urnen beschließt. Der einzige Reim, der in dem Gedicht enthalten ist, bezieht sich auf die Augenfarbe des Todes und auf die Zielgenauigkeit einer abgeschossenen Kugel: „sein Aug ist blau / […] er trifft dich genau“ (C E LAN 1986, III, 64). Im Unterschied zu diesen zwei Deutungskontexten scheint das ‚Blauen‘ des Spielmanns eher einer an Intensität gewinnenden Frühlingsfarbe zu gleichen, wie sie etwa Eduard Mörike (1804-75) in seinem Gedicht Er ist’s (1832) geschildert hat: „Frühling läßt sein blaues Band / Wieder flattern durch die Lüfte“ (M ÖR IK E 1997, I, 684). Zugleich ist es auch ein „unverhofftes blau“ (G E O R G E 2008, 48), wie es in Stefan Georges (1868-1933) Gedicht Komm in den totgesagten park und schau (1897) vorkommt. Darüber hinaus kann an das Gestaltungsmittel der ‚Verblauung‘ gedacht werden, das in der Malerei eingesetzt wird, um eine größere Tiefenwirkung zu erzielen. Bei Celan entsteht wiederum der Eindruck, als werde dieser Effekt umgekehrt: Durch das ‚Blauen‘ gewinnt der Spielmann an Sichtbarkeit und Präsenz. Die Künstlerfigur, die vor „jedem der wehenden Tore“ auftaucht, ist in doppelter Weise versehrt: Sie ist enthauptet worden und muss sich „mit schwärender Zehe“ (v. 4) - d. h. mit einem schmerzenden bzw. geschwolle‐ nen Fußglied - fortbewegen. Aufgrund seiner Enthauptung lässt sich der 1. Sprachverdichtung 43 Spielmann auch als eine in der Tradition der mittelalterlichen Totentänze stehende Figuration des Todes begreifen. In der Lyrik des 19. Jahrhunderts ist die Figur des Spielmanns noch sehr präsent (vgl. z. B. Adelbert von Chamisso: Der Spielmann, Friedrich Rückert: Der Spielmann, Joseph von Eichendorff: Der irre Spielmann). Bei Celan macht der Spielmann nicht nur durch sein ‚Blauen‘, sondern auch durch das Schlagen der „Trommel“ (v. 3) auf sich aufmerksam. Zwar liegt es nahe, in diesem Zusammenhang an den ersten Vers aus Heinrich Heines (1797-1856) Gedicht Doktrin (1844) zu denken: „Schlage die Trommel und fürchte dich nicht“ (H E IN E 2005, IV, 412); beide Trommlerfiguren unterscheiden sich jedoch signifikant: Geht es Heines Trommler darum, mit hoher Laustärke eine große Breitenwirkung zu erzielen, schlägt Celans Spielmann ausschließlich für das angesprochene Du seine Trommel „aus Moos und bitterem Schamhaar“ (v. 3), womit er allenfalls dumpfe Töne erzeugt. Die Parallele zu Heine lässt sich allerdings insofern erweitern, als im achten seiner Traumbilder ein lyrischer Sprecher mit einem Spielmann konfrontiert wird, der zur Mitternacht aus seinem Grab steigt. Auch wenn er keine Trommel, sondern eine Zither verwendet, stimmt er jenes „alte Lied“ an, das von der „Liebe“ (H E IN E 2005, I, 31) handelt. Dieses „Lied“ scheint auch bei Celans Spielmann anzuklingen, da seine Trommel unter anderem aus „bitterem Schamhaar“ gefertigt ist, mit dem semantisch auf Erotik und Sexualität hingewiesen wird, wie Celan später selbst angedeutet hat (vgl. C E LAN 2019, 512). In Verbindung mit den Folgeversen entsteht die schemenhafte Vorstellung einer Frauenfigur, deren einzelne Körperteile prominent am Ende der Verse 3 bis 5 genannt werden: „Schamhaar“, „Braue“, „Lippe“. Im Unterschied zu barocken Liebesgedichten geht es jedoch nicht um die Entfaltung eines Schönheitskatalogs, sondern um den Versuch, eine Körpergestalt bildlich zu evozieren. Parallel dazu kommt es zu einer topografischen Verschiebung: Der Spielmann befindet sich zwar noch außerhalb des Hauses, hat aber inzwischen eine Sandfläche erreicht. Mit dieser Bewegung geht die Verän‐ derung seiner künstlerischen Tätigkeit vom Trommeln zum Malen und Zeichnen einher. Trotz seiner bereits genannten Versehrung nimmt er es auf sich, „mit schwärender Zehe […] deine Braue“ (v. 4) in den Sand zu malen. Dass sich der Wunsch nach bildlicher Vergegenwärtigung nur bedingt erfüllen lässt, macht der Folgevers kenntlich: „Länger zeichnet er sie, als sie war, und das Rot deiner Lippe.“ (v. 5) Denn sofern der Komparativ „Länger“ nicht zeitlich, sondern räumlich aufgefasst wird, mündet der Prozess der Veranschaulichung in eine Inkongruenz zwischen der ursprünglichen und Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 44 der gezeichneten Braue. Offenbar scheint dieses Körperteil im Rahmen der künstlerischen Umsetzung nicht adäquat abbildbar zu sein. Auch wenn offen bleibt, wie es dem Spielmann gelingt, das „Rot deiner Lippe“ in den Sand zu zeichnen, wird über die substantivierte Farbe „Rot“ eine Verbindung zum Adjektiv „Schimmelgrün“ und zum Verb „blaut“ geschaffen. In welcher Beziehung stehen aber der Spielmann und das permanent angesprochene Du? Es wird deutlich, dass der Spielmann nicht nur ein‐ deutig auf sein Gegenüber bezogen ist („dein enthaupteter Spielmann“), sondern auch ausschließlich für sein Gegenüber tätig wird („schlägt dir die Trommel“). Aufgrund dieser engen Zuordnung verwundert es, dass der anschließende Versuch, die Braue des Du adäquat wiederzugeben, misslingt. Offenbar scheint es sich um den Versuch zu handeln, die benannten Körper‐ partien im Modus des Erinnerns zu visualisieren. In diesem Horizont lässt sich das Gedicht als Auseinandersetzung mit dem Thema des möglichen bzw. scheiternden Erinnerns zu begreifen. Sofern sich das Du anfangs noch im „Haus des Vergessens“ aufhält, kann der Spielmann, der vor dessen Toren auftaucht, als Verkörperung der Erinnerung gedeutet werden. Durch das Schlagen der Trommel lockt er das Du aus dem Innenraum des Vergessens in den Außenraum der Erinnerung. Doch die Versehrung des Spielmanns verweist auf ein beschädigtes oder nur noch unzureichendes Erinnerungsvermögen. So scheitert der Versuch, ein genaues Bild des Du zu vergegenwärtigen. Hinzu kommt, dass die Silben der Possessivpronomen „deine“ und „deiner“ (v. 4, 5) aufgrund der daktylischen Versstruktur jeweils auf zwei Senkungen liegen. Die fehlende Betonung unterstreicht, wie ferngerückt die nur schemenhaft greifbare Gestalt noch ist bzw. bleiben wird. Dennoch liegt der eigentliche Akzent auf der Erinnerungsleistung: Das „Haus des Vergessens“ konnte verlassen und der Prozess des Gedenkens initiiert werden. Dass es sich konkret um ein Totengedenken handelt, legt das Signalwort „Urnen“ im Schlussvers nahe: „Du füllst hier die Urnen und speisest dein Herz.“ (v. 6) Auffällig ist zunächst, dass nun das angesprochene Du tätig wird und die Urnen zu füllen beginnt. Als Füllmaterial verwendet es - in Anlehnung an den Titel - offenbar jenen Sand, in den der Spielmann zuvor die Braue gemalt hat. Auch wenn die „Chiffre des Sandes“ in diesem Gedicht „eigentümlich stumm und gestaltlos“ (H ON O LD 2012, 83) bleibt, steht sie doch in Beziehung zu Parallelstellen wie „Sandvolk“ und „Sandstadt“ (C E LAN 1986, I, 188) bzw. „Sandkunst“ und „Sandbuch“ (C E LAN 1986, II, 39). Lydia Koelle hat erläutert, dass Celan mit dem „Sandvolk“ das Volk Israel 1. Sprachverdichtung 45 bezeichnet, „das in der Wüste auf die Verheißung des Gelobten Landes wartet, um dann in alle Winde verstreut zu werden wie Flugsand“ (K O E LL E 2001, 154). Insofern gemahne Der Sand aus den Urnen „auch an die Shoah: zermahlen ist der Leib Israels, zu Asche verbrannt, zu Staub zerfallen“ (K O E LL E 2001, 154). Allerdings ist in dem Gedicht weder von Asche noch von Staub die Rede, sondern lediglich von dem Sediment „Sand“. Wenn nun das Du anfängt, die Urnen zu befüllen, setzt das voraus, dass diese vorher leer gewesen sein müssen. Diese Leere ist zugleich die Leerstelle, die das Gedicht umkreist: Unausgesprochen geht es um das vernichtete jüdische Volk, dem ein Totengedächtnis gestiftet werden soll. Weil von den Ermordeten nicht einmal mehr Asche geblieben ist, greift das Du stellvertretend auf den Sand zurück, um die abwesenden Toten zu bestatten und ihnen „einen Ort, eine letzte Ruhestätte anzuweisen“ (W E R N E R 1998, 9). Diese Form der Trauerarbeit gibt nicht nur den Toten ihre Würde zurück, sondern spendet auch dem Du emotionalen Trost („und speisest dein Herz“). Die Erinnerung, die nur noch ein unzuverlässiges Bild der verlorenen Menschen liefert, materialisiert sich schließlich im Gedenkobjekt der Urne. In poetologischer Perspektive lässt sich die Lyriksammlung von 1948 selbst als eine solche Urne begreifen, deren Gedichte jener „Sandkunst“ angehören, die an die Shoah gemahnt. In jenem Jahr, in dem Celan von Wien nach Paris übersiedelt, erscheint nicht nur Der Sand aus den Urnen, sondern auch sein Prosatext Edgar Jené und der Traum vom Traume, der Celans frühestes poetologisches Zeugnis darstellt. Darin geht er zwar von den Bildern Jenés aus, um gleichsam eine ‚Erkundungsfahrt‘ in die „Tiefsee“ (C E LAN 1986, III, 158) ihrer Bedeutungen zu unternehmen, reflektiert aber grundsätzlich die „Möglichkeiten der Sprache, in die Tiefe der bereits verdrängten Geschichte und ihrer Entstel‐ lungen vorzudringen“ (I VAN OVIĆ 2001, 69). Celan geht es folglich weniger um die Affirmation des von Jené vertretenen Surrealismus als vielmehr um die Begründung eines eigenen dichtungstheoretischen Konzepts. Seine tastenden Überlegungen, die auf die Frage nach den Möglichkeiten lyrischen Sprechens nach Auschwitz ausgerichtet sind, münden zehn Jahre später in die Forderung nach einer „graueren Sprache“: Ihre Sprache [gemeint ist die der deutschen Lyrik] ist nüchterner, faktischer geworden, mißtraut dem ‚Schönen‘, sie versucht, wahr zu sein. Es ist […] eine ‚grauere Sprache‘, eine Sprache, die […] nichts mehr mit jenem ‚Wohlklang‘ gemein hat, der noch mit und neben dem Furchtbarsten mehr oder minder unbekümmert einhertönte. (C E L A N 1986, III, 167) Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 46 1.3. Ingeborg Bachmann: Zeitreflexion und Zeitkritik Ingeborg Bachmann wird am 25. Juni 1926 in Klagenfurt geboren. Dort besucht sie zunächst die Volksschule und später das Bundesrealgymnasium, während sie ihre Ferien oft im Kärntner Gailtal verbringt, aus dem ihr Vater stammt. Diesen Grenzraum, den die Länder Österreich, Italien und Slowe‐ nien bilden, wird Bachmann später zum utopischen Ort eines „gewaltfreien Miteinanders der Völker“ (A L B R E CHT / G ÖTT S CH E 2002, 2) stilisieren. Schon in ihrer Schulzeit beginnt Bachmann, Gedichte zu schreiben und Lieder zu komponieren. In einem Interview hält sie 1973 rückblickend fest: Ich habe als Kind zuerst zu komponieren angefangen. Und weil es gleich eine Oper sein sollte, habe ich nicht gewußt, wer mir dazu das schreiben wird, was die Personen singen sollten, also habe ich es selbst schreiben müssen. […] Aber ich habe ganz plötzlich aufgehört, habe das Klavier zugemacht und alles weggeworfen, weil ich gewußt habe, daß es nicht reicht, daß die Begabung nicht groß genug ist. Und dann habe ich nur noch geschrieben. (B A C H MA N N [1983] 1991, 124) Da es für sie in der Kärntner Provinz „nichts zu tun“ und „nichts zu lernen“ (B ACHMANN [1993] 2010, 24) gibt, beginnt Bachmann, im Herbst 1945 an der Universität Innsbruck Philosophie und Germanistik zu studieren. Ein Semester später wechselt sie an die Universität Graz und im Herbst 1946 an die Universität Wien. Wie es in einem autobiografischen Kurztext aus dem Jahr 1952 heißt, repräsentiert die österreichische Hauptstadt für Bachmann einen Sehnsuchtsort: „Als der Krieg zu Ende war, ging ich fort und kam voll Ungeduld und Erwartung nach Wien, das unerreichbar in meiner Vorstellung gewesen war.“ (B ACHMANN [1993] 2010, IV, 301) Während in der Kärntner Illustrierten ihre erste Erzählung mit dem Titel Die Fähre (1946) gedruckt wird, ist Bachmann bestrebt, in Wien einen Mentor zu finden, der sie, wie sie brieflich schreibt, bei der „Veröffentlichung literarischer Arbei‐ ten“ (zit. nach M C V E I GH 2016, 22) gezielt unterstützt. Durch die Vermittlung des Lyrikers Hermann Hakel (1911-87) gelingt es Bachmann gegen Ende 1948, erste Gedichte in dessen Zeitschrift Lynkeus zu publizieren, die das programmatische Ziel verfolgt, „an Vergessenes zu erinnern, Fernes anzunä‐ hern, Fremdes bekanntzumachen und junge Autoren kritisch zu sichten und zu veröffentlichen“ (zit. nach H AK E L 1991, 11). Da sich allmählich das Ende ihres Studiums nähert, beginnt das „Dissertationsproblem“, wie Bachmann an ihre Eltern schreibt, „brennend“ (zit. nach M C V E I GH 2016, 40) zu werden. Nach dem Weggang des Metaphysikers Alois Dempf (1891-1982), bei dem 1. Sprachverdichtung 47 sie zunächst zu promovieren anfängt, übernimmt der Sprachphilosoph Victor Kraft (1880-1975) die Betreuung ihrer Dissertation, die Bachmann 1949 mit dem Titel Die kritische Aufnahme der Existentialphilosophie Martin Heideggers abschließt. Im März 1948 lernt sie in Wien den Dichter Paul Celan kennen, eine Begegnung, die den Anfang einer „schwierigen, nur in kurzen Intervallen gelingenden Liebesbeziehung“ (A L B R E CHT / G ÖTT S CH E 2002, 4) markiert. Am 20. Mai 1948 berichtet Bachmann ihren Eltern von dem „surrealistische[n] Lyriker Paul Celan, […] der sehr faszinierend ist […]. Mein Zimmer ist momentan ein Mohnfeld, da er mich mit dieser Blumensorte zu überschütten beliebt.“ (zit. nach L ÜTZ 2001, 114) Zugleich ist das Verhältnis von einem beständigen dichterischen Austausch geprägt: Bereits zu ihrem 22. Geburts‐ tag schenkt ihr Celan unter anderem ein Gedicht, das „eines der ersten in einer Reihe korrespondierender Gedichte [bildet], die Bachmann und Celan […] zeit ihres Lebens austauschen werden.“ (L ÜTZ 2001, 116) In einem nicht abgesandten Brief, den Bachmann Ende 1948 verfasst, will sie Celan nicht nur an den gemeinsamen Frühling, sondern auch an „das Gedicht [erinnern], das wir miteinander gemacht haben“ (B ACHMANN / C E LAN 2008, 8). Während Celan seinen Lyrikband Mohn und Gedächtnis im März 1953 mit der Widmung versieht: „Für Ingeborg, ein Krüglein Bläue“, antwortet ihm Bachmann im Dezember 1953 mit ihrem Lyrikband Die gestundete Zeit, dem die Dedikation vorangestellt ist: „Für Paul - getauscht, um getröstet zu sein“ (B ACHMANN / C E LAN 2008, 54, 56). Zwischen den Gedichten dieser Sammlungen lassen sich zahlreiche intertextuelle Korrespondenzen ausmachen (vgl. B ÖS CH E N S T E IN / W E I G E L 2000). Ihre vielschichtige Beziehung zu Celan wird Bachmann schließlich in ihrem autobiografisch gefärbten Roman Malina (1971) verarbeiten. Als wichtiger Förderer Bachmanns, den sie noch vor Celan im Herbst 1947 kennenlernt, erweist sich der Schriftsteller Hans Weigel (1908-91). Mit ihm verbindet sie, wie Weigel rückblickend angibt, schon bald „eine sehr intensive Freundschaft“ (W E IG E L 1979, 15). Dank der Vermittlung Weigels erhält Bachmann die Möglichkeit, mehrere Artikel in den Zeitschriften Der Turm und Film zu publizieren (vgl. M C V E I GH 2016, 58-84). In ihrer damaligen Situation ist es aus ökonomischer Sicht nicht zu unterschätzen, dass diese journalistischen Arbeiten vergütet werden: Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 48 Wir waren alle Mitte zwanzig, notorisch geldlos, notorisch hoffnungslos, zu‐ kunftslos, kleine Angestellte oder Hilfsarbeiter, einige schon freie Schriftsteller, das hieß soviel wie abenteuerliche Existenzen, von denen niemand recht wußte, wovon sie lebten, von Gängen aufs Versatzamt jedenfalls am öftesten. (B A C H M A N N [1993] 2010, IV, 323) Als Bachmann im Herbst 1951 als Radiojournalistin bei dem Sender Rot-Weiß-Rot (RWR) angestellt wird, beginnt sie, wieder regelmäßig Ge‐ dichte zu schreiben. Über Weigel kommt der Kontakt zu Hans Werner Richter (1908-93) zustande, der als Leiter der Gruppe 47 Bachmann zu einem Treffen im Mai 1952 einlädt (vgl. L UNDIU S 2017, 208), auf dem auch Celan seine lyrischen Werke präsentiert. Bei der Folgetagung erhält Bachmann den Preis der Gruppe 47 für ihre Gedichte, die im Herbst 1953 unter dem Titel Die gestundete Zeit in Alfred Anderschs (1914-80) Buchreihe studio frankfurt bei der Deutschen Verlags-Anstalt erscheinen. Diese Lyriksammlung, mehr noch aber ein Spiegel-Heft von 1954, in dem sie großformatig auf dem Cover abgebildet ist und in einem längeren Artikel vorgestellt wird (vgl. W AG N E R 1954), machen sie einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Bachmann, die sich in den folgenden Jahren in Italien aufhält, veröffent‐ licht 1956 ihre zweite Gedichtsammlung Anrufung des Großen Bären. Im Wintersemester 1959/ 60 wird sie eingeladen, die neugegründete Gastdo‐ zentur für Poetik an der Frankfurter Goethe-Universität zu übernehmen. Ein Jahr später publiziert Bachmann ihre Erzählsammlung Das dreißigste Jahr (1961), in der sie den Fokus auf die Nachkriegszeit in Österreich und Deutschland richtet. Nach der mehrjährigen Beziehung zu dem Schriftsteller Max Frisch (1911-91), die 1962 ihr Ende findet (vgl. G L E ICHAU F 2013), nimmt Bachmann ein einjähriges Stipendium der Ford-Foundation in Berlin wahr. Nach der Auszeichnung mit dem Georg-Büchner-Preis siedelt sie 1965 endgültig nach Rom über. Obwohl sie zunehmend unter ihrer Tabletten- und Alkoholabhängigkeit leidet, veröffentlicht sie 1971 den Roman Malina und 1972 die Erzählsammlung Simultan. Infolge eines Brandunfalls stirbt Bachmann am 26. September 1973 in Rom. Wenngleich sie sich in ihrer Wiener Zeit mit „eigenen poetologischen Reflexionen“ (M C V E I GH 2016, 112) weitgehend zurückhält, entsteht 1952 ein autobiografischer Text, an dessen Ende Bachmann kurz über die Aufgabe der Lyrik nachdenkt. Das Verfassen von Gedichten sei vor allem deswegen als das „Schwerste“ anzusehen, weil der lyrische Text nicht nur dem „Rhythmus der Zeit [zu] gehorchen“ habe, sondern es auch gelingen müsse, „die Fülle 1. Sprachverdichtung 49 der alten und neuen Dinge auf unser Herz hin[zu]ordnen“ (B ACHMANN [1993] 2010, IV, 302). Drei Jahre später hebt Bachmann in ihrem Artikel Wozu Gedichte? (1955) zudem die mnemotechnische Leistung der Lyrik hervor: Gedichte seien dazu geeignet, „das Gedächtnis zu schärfen“, indem sie „For‐ meln in ein Gedächtnis leg[en]“ (B ACHMANN [1993] 2010, IV, 303). Damit wird die produktive Qualität der Lyrik akzentuiert: Im Unterschied zu der zuvor benannten Ordnungsfunktion erzeuge ein Gedicht poetische „Formeln“, mit denen die Wirklichkeit neu bzw. anders erfasst werden könne. Auch wenn sich diese „Formeln“ vielfach einem unmittelbaren Verstehen entziehen, hat sich Bachmann 1971 in einem Interview gegen den Vorwurf ausgesprochen, sie würde „den Inhalt [i]hrer Verse verrätseln“ (B ACHMANN [1983] 1991, 83). Da die konventionalisierte Sprache nicht für den Dichter tauglich sei, müsse es darum gehen, sich von ihrem Alltagsgebrauch zu emanzipieren: „ein Schriftsteller [kann] sich nicht der vorgefundenen Sprache, also der Phrasen, bedienen, sondern er muß sie zerschreiben.“ (B ACHMANN [1983] 1991, 84) Bachmanns Gedicht Die gestundete Zeit wird zuerst am 15. August 1952 in der Neuen Zeitung veröffentlicht. Die Stimmung, die darin anklingt, kommt bereits in einem Brief zum Ausdruck, den Bachmann am 17. Juli 1951 an Celan richtet: „Das Leben in Österreich ist in diesem letzten Jahr um so vieles härter, um so vieles hoffnungsloser geworden, dass man sehr viel Mut braucht, um sich, jeden Tag von neuem, hineinzufinden.“ (B ACHMANN / C E LAN 2008, 28 f.) Nach der Einzelpublikation erscheint das Gedicht im Herbst 1953 am Ende des ersten Zyklus in Bachmanns gleichnamigem Gedichtband. Der Literaturkritiker Günter Blöcker wird die Sammlung ein Jahr später als „Novum in der Lyrik seit 1945“ (zit. nach B LAU 2008, 353) bezeichnen. Die gestundete Zeit Es kommen härtere Tage. Die auf Widerruf gestundete Zeit wird sichtbar am Horizont. Bald mußt du den Schuh schnüren 5 und die Hunde zurückjagen in die Marschhöfe. Denn die Eingeweide der Fische sind kalt geworden im Wind. Ärmlich brennt das Licht der Lupinen. Dein Blick spurt im Nebel: 10 die auf Widerruf gestundete Zeit wird sichtbar am Horizont. Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 50 Drüben versinkt dir die Geliebte im Sand, er steigt um ihr wehendes Haar, er fällt ihr ins Wort, 15 er befiehlt ihr zu schweigen, er findet sie sterblich und willig dem Abschied nach jeder Umarmung. Sieh dich nicht um. 20 Schnür deinen Schuh. Jag die Hunde zurück. Wirf die Fische ins Meer. Lösch die Lupinen! Es kommen härtere Tage. (B A C H MA N N [1993] 2010, I, 37) Das Gedicht ist in reimlosen, metrisch ungebundenen Versen gestaltet. Es besteht aus vier Strophen, deren Versanzahl sich kontinuierlich verringert: Umfasst die erste Strophe elf Verse, besteht die vierte Strophe nur aus einem einzigen Vers, der mit dem identischen Eingangsvers das Gedicht rahmt: „Es kommen härtere Tage.“ (v. 1, 24) Diese Wiederholung ist Teil von Bachmanns „ausgefeilte[r] Technik der Iteration“ (K U CH E R / R E ITANI 2000, 16), die insbesondere in den anaphorischen Versanfängen der zweiten Strophe sichtbar wird. Darüber hinaus lässt sich insbesondere in der dritten Strophe die Verwendung des Zeilenstils feststellen, d. h. in dieser Strophe stimmen Vers- und Satzende in jeder Zeile überein. Grundsätzlich ist das Gedicht von einer zunehmenden Verknappung gekennzeichnet: Enthält die erste Strophe noch mehrere Enjambements, dominieren in der zweiten und dritten Strophe parataktische Reihungen. Zudem endet die dritte Strophe mit dem einzigen Ausrufezeichen des gesamten Gedichts. Bereits der Titel des Gedichts erscheint mehrdeutig: Er verweise „auf das Motiv der vanitas mundi und zugleich auf eine Banalität der Zeiterfahrung: Zeit ist nur vorübergehend gegeben“ (S CHÄR F 2002, 32). Während jedoch Motive der Vergänglichkeit erst im weiteren Textverlauf greifbar werden, geht die Rede von der „gestundete[n] Zeit“ über die „Banalität der Zeiterfah‐ rung“ hinaus. Denn ‚Stundung‘ ist auch ein Rechtsbegriff, der die zeitliche Verschiebung einer fälligen Forderung bezeichnet. Die im Titel aufgerufene 1. Sprachverdichtung 51 „gestundete Zeit“ kann einerseits auf jenen ‚Stundungszeitraum‘ verweisen, in dem die ausstehenden Forderungen noch nicht geltend gemacht werden können. Andererseits legt die Formulierung nahe, dass die Zeit selbst das Objekt der Stundung sei. Im ersten Fall wird der Eindruck einer ablaufenden Frist, im zweiten Fall der einer verpflichtenden Rückzahlung erzeugt. Durch den zweiten und zehnten Vers gewinnt diese Vorstellung an Bedrohlichkeit: Die gewährte Stundung gilt nur „auf Widerruf “ und kann jederzeit zurück‐ genommen werden. Mit dem Eingangsvers wird die Gewissheit artikuliert, dass eine beschwer‐ liche Periode bevorsteht. Der Komparativ „härtere Tage“ (v. 1) lässt darauf schließen, dass sich die Verhältnisse im Vergleich mit der Gegenwart verschär‐ fen werden. Auch wenn bereits hier Bachmanns „Ästhetik des Unbehagens“ (K O R T E 2004, 58) zutage tritt, bleibt die einleitende Voraussage im Grunde vollkommen unbestimmt. Der Hinweis, dass die „auf Widerruf gestundete Zeit / […] am Horizont“ (v. 2 f.) sichtbar wird, verstärkt die Dringlichkeit des Eingangsverses. Die Visualisierung des Abstraktums Zeit intensiviert den Eindruck, als stehe der Ablauf eines Ultimatums unmittelbar bevor. Fraglich bleibt dabei, welche lyrische Sprechinstanz hier das Wort ergreift. Christian Schärf zufolge spreche in dem Gedicht „keine in Wien promovierte Philosophin von 27 Jahren, sondern ein Gott, […] der deus absconditus des Dichterhimmels, der vertriebene Gott also, […] der unbehauste Gott der Orakel“ (S CHÄR F 2002, 34). Die erste Vermutung versteht sich von selbst: Die bei der Erstpublikation des Gedichts im Übrigen 26-jährige Ingeborg Bachmann kann als empirische Verfasserin nicht mit der lyrischen Sprechinstanz identisch sein. Die zweite Vermutung rekurriert auf die ursprünglich biblische Vorstellung vom ‚verborgenen Gott‘ (Jes 45,15), die mit der Vokabel ‚unbehaust‘ verknüpft wird, die wiederum auf den Schriftsteller Hans Egon Holthusen (1913-97) und seine einflussreiche Essaysammlung Der unbehauste Mensch (1951) verweist. Tatsächlich liegt es nahe, die Eingangsworte einer göttlichen Sprecherfigur zuzuweisen, zeugen sie doch von einer Voraussicht, die den menschlichen Wissenshorizont übersteigt. Demgegenüber kristallisiert sich zwischen der Sprecherfigur und dem erstmals im vierten Vers genannten „du“ im Verlauf des Gedichts ein Verhältnis heraus, das eher den Charakter einer partnerschaftli‐ chen Beziehung besitzt. Dass die verbleibende Zeit zu schwinden scheint, legt auch das Tem‐ poraladverb „Bald“ nahe, mit dem der vierte Vers eingeleitet wird. Dem angesprochenen Du werden sofort zwei Aufträge mitgeteilt: Zum einen wird es aufgefordert, „den Schuh [zu] schnüren“ (v. 4), was auf eine bevorstehende Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 52 Wanderung hindeutet. Zum anderen soll es „die Hunde zurückjagen in die Marschhöfe“ (v. 5). Denkbar ist, dass die Hunde daran gehindert werden sollen, dem Du auf seiner Wanderung zu folgen. Der nächste Vers wird zwar mit der kausalen Konjunktion „Denn“ (v. 6) eingeleitet, nur bieten der fünfte und sechste Vers keinerlei Begründung für die zuvor artikulierten Aufträge: „Denn die Eingeweide der Fische / sind kalt geworden im Wind.“ Mit dieser Aussage werden vielmehr semantische Leerstellen erzeugt: Warum sind die Eingeweide der Fische überhaupt nach außen gekehrt, so dass sie im Wind erkalten konnten? Steht das Erkalten tatsächlich in ursächlichem Zusammenhang mit dem Aufbruch, der von dem Du verlangt wird? Die Fische tragen zumindest dazu bei, dass sich im Verlauf des Gedichts eine „Kulissenszenerie“ (W IMME R 2014, 167) herausbildet, die aus „Marschhöfe[n]“ (v. 5), „Sand“ (v. 12) und „Meer“ (v. 22) besteht. Damit ist ein Bildbereich erfasst, der schon frühzeitig das poetische Denken Bachmanns bestimmt: „Immer waren es Meere, Sand und Schiffe, von denen ich träumte“ (B ACHMANN [1993] 2010, IV, 301). Das Erkalten der „Eingeweide der Fische“ setzt einen Verlust von Vitalität ins Bild, der auch im Folgevers zu erkennen ist: „Ärmlich brennt das Licht der Lupinen.“ (v. 8) Diese Pflanzen, die alliterativ mit dem „Licht“ verknüpft und wohl wegen ihrer Kerzenform zu Lichtspendern stilisiert sind, verfügen nur noch über eine reduzierte Leuchtkraft. Trotz der deutlichen Fokussierung auf die Lupinen, die im vorletzten Vers erneut aufgerufen werden, hat Bach‐ mann in einem späteren Interview bekannt, dass sie die Natur „überhaupt nicht“ interessiere und dass sie keinesfalls zu den „Gräserbewisperern ge‐ höre“ (B ACHMANN [1983] 1991, 45). Da sie Mitte der 1950er Jahre ausdrücklich Celan und Günter Eich (1907-72) zu jenen Dichtern zählt, die fähig seien, das „Neue“ (B ACHMANN [1983] 1991, 16) zum Ausdruck zu bringen, ist es denkbar, dass sie bei der Gestaltung von Die gestundete Zeit an Eichs Gedicht Lupinen gedacht haben mag, in dem das Bild eines gelben Lupinenfeldes evoziert und sogar von der „Lupinenflamme“ gesprochen wird (vgl. E ICH 1991, I, 197 f.). Bei Bachmann wird allerdings auf die Nennung einer Farbe verzichtet: Es ist anzunehmen, dass das „[ä]rmlich[e]“ Leuchten der Lupinen auf den „Nebel“ zurückzuführen ist, der vom „Blick“ (v. 9) des Du ‚gespurt‘ wird. Der nachfolgende Doppelpunkt erweckt den Eindruck, als gebe der Nebel die Sicht auf die „gestundete Zeit“ (v. 10) frei. In der zweiten Strophe verändert sich die Konstellation insofern grund‐ legend, als die „Geliebte“ (v. 12) des Du sowie ein anonymes „er“ (v. 13) in Erscheinung treten. Auch wenn sich das Personalpronomen „er“ gramma‐ 1. Sprachverdichtung 53 tisch auf den Sand beziehen lässt, legt der Verlauf der zweiten Strophe nahe, dass damit ein lebendiger Akteur und kein lebloses Sediment bezeichnet wird. Während die Geliebte passiv im Sand versinkt, trägt das männliche Subjekt aktiv zu ihrer Vernichtung bei. In parallel strukturierten Versen wird sein brutales Verhalten deutlich gemacht: ‚Umsteigt‘ er zunächst ihr „wehendes Haar“ (v. 13), fällt er ihr danach ins Wort, um sie schließlich zum Schweigen zu bringen. Erinnert die abschließend genannte „Umarmung“ (v. 18) an die einstige Vertrautheit, verweist das Attribut „sterblich“ (v. 16) auf das Resultat der anhaltenden Erniedrigung: Mit dem Euphemismus, die Geliebte sei „willig dem Abschied“ (v. 17), wird ihr bevorstehender Tod angekündigt. Selbst wenn das Du des Gedichts und das männliche Subjekt nicht miteinander identisch sind, trägt das Du Mitschuld an ihrem Untergang. Denn der Hinweis, dass diese Vernichtung sich „[d]rüben“ (v. 12) ereignet, veranlasst das Du nicht dazu, die Geliebte zu verteidigen. Vielmehr scheint es sich von seiner persönlichen Bindung zu lösen, was die radikale Trennung vorbereitet, die in der dritten Strophe gefordert wird. Die dritte Strophe besteht aus parallel angeordneten Versen, in denen die lyrische Sprechinstanz mit fünf Imperativen konkrete Handlungsanweisun‐ gen gibt, die - so die Schriftstellerin Hilde Spiel (1911-90) in einer Rezension von 1974 - wie „Hammerschläge“ (S P I E L [1994] 2011, 24) wirken. Dabei werden in vier Fällen Motive der ersten Strophe erneut aufgegriffen. Der Vers „Sieh dich nicht um“ (v. 19) nimmt nicht nur Bezug auf das Geschehen der zweiten Strophe, von dem sich das Du dezidiert abwenden soll, sondern rekurriert auch auf den Orpheus-Mythos (vgl. H ÖLL E R 2002, 66). Nach dem Tod seiner Gattin Eurydike versuchte der Sänger Orpheus, sie aus dem Hades zu befreien, vermochte aber nicht, das ihm auferlegte Blickverbot einzuhalten. In diesem Kontext ist ferner an das dreizehnte Sonett aus dem zweiten Teil von Rainer Maria Rilkes (1875-1926) Sonetten an Orpheus (1922) zu denken (vgl. H ÖLL E R 2002, 66), das mit der Aufforderung beginnt: „Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter / dir“ (R ILK E 1996, 79). Der Imperativ, sich nicht umsehen zu sollen, folgt überdies „dem Prinzip der Ver‐ stellung“ (B E IC K E N 2009, 96), das bereits Bertolt Brecht (1898-1956) in seiner Gedichtsammlung Aus dem Lesebuch für Städtebewohner (1930) propagiert hatte. Der produktive Antikenbezug wird außerdem mit dem Vers „Jag die Hunde zurück“ (v. 21) fortgesetzt, der mit dem Bild des heimkehrenden Odysseus korrespondiert, der von seinem Jagdhund Argos erkannt wird (vgl. H ÖLL E R 2002, 66). Im Unterschied zu dieser Wiederbegegnung wird dem Du bei Bachmann die strikte Abschiednahme abverlangt: Während Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 54 die Gebote, den Schuh zu schnüren und die Hunde zurückzujagen, den Appellen aus der ersten Strophe entsprechen, verschärfen die übrigen zwei Forderungen die vorherigen Aussagen. Ebenso wie das männliche Subjekt der Geliebten in der zweiten Strophe zu schweigen befiehlt, befiehlt die lyrische Sprechinstanz dem Du zu handeln: „Wirf die Fische ins Meer. / Lösch die Lupinen! “ (v. 22 f.) Vor allem die verlangte Tilgung des Lupinenlichts mutet wie eine Stillstellung allen Lebens an, bevor das Du seinen endgültigen Abschied nimmt. Vor diesem Hintergrund wirkt der Schlussvers „Es kommen härtere Tage“ (v. 24) geradezu resignativ, da es keine Aussicht gibt, dieser bevorstehenden Zukunft zu entgehen. Damit ist freilich noch immer nicht gesagt, worauf die Rede von der Ankunft „härtere[r] Tage“ konkret zielt. Eine solche Festlegung lässt Bachmanns Gedicht Die gestundete Zeit aufgrund seiner Offenheit und der bisweilen „orakelhafte[n] Unklarheit“ (S CHÄR F 2002, 33) einiger Verse aber auch gar nicht zu. Ulrike Marquardt hat vorgeschlagen, das Gedicht im Kontext der anbrechenden 1950er Jahre zu sehen: Während Bachmann selbst von den unmittelbaren Nachkriegsjahren als einer „aufgeregten, hoffnungsträchtigen Zeit“ (B ACHMANN [1993] 2010, IV, 185) gesprochen hat, markiere die Entstehungszeit des Gedichts die anschließende Phase der „sich verhärtenden gesellschaftlichen Verhältnisse“, in denen die Tendenz zunimmt, „die Katastrophe des Nationalsozialismus vergessen zu machen“ (M A R Q UA R DT 1994, 693). Diese Einschätzung korrespondiert mit dem Gedicht Früher Mittag, das auch in der Sammlung Die gestundete Zeit enthalten ist. Darin wird der gesellschaftliche Zustand geschildert, der „Sieben Jahre später“ - d. h. sieben Jahre nach 1945 - zu beobachten sei: Sieben Jahre später, in einem Totenhaus, trinken die Henker von gestern den goldenen Becher aus. (B A C H M A N N [1993] 2010, I, 44) Diesen Deutungsansatz hat Gernot Wimmer weitergeführt und Bachmanns Gedicht Die gestundete Zeit konsequent als „Erinnerung an die Kriegstrei‐ berei des NS-Totalitarismus“ (W IMME R 2014, 166) gelesen. Auch wenn Bach‐ manns Bilder und Motive auf diese Weise vereindeutigt werden, ist doch der Versuch unternommen, Bachmanns Konzept einer ‚neuen‘ lyrischen Sprache interpretativ aufzunehmen. Dieses Konzept wird sie wenige Jahre 1. Sprachverdichtung 55 später in ihren Frankfurter Poetik-Vorlesungen beschreiben: „Mit einer neuen Sprache“, heißt es dort, „wird der Wirklichkeit immer dort begegnet, wo ein moralischer, erkenntnishafter Ruck geschieht“ (B ACHMANN [1993] 2010, IV, 192). 1.4. Günter Eich: Lyrik des ‚Kahlschlags‘? Günter Eich wird am 1. Februar 1907 in der Brandenburger Kleinstadt Lebus geboren. Sein Biograf Heinz F. Schafroth hat vermerkt, dass Eich „zeitlebens nichts getan [habe], [um] seine Biografie zu überliefern […]. Sie ist deshalb, soweit der Autor selbst sie vermittelt, eine Reihe nackter Zahlen, Ortsnamen, Daten, Fakten.“ (S CHA F R O TH 1976, 7) Bis Eichs Familie 1918 nach Berlin übersiedelt, ist seine Kindheit von zahlreichen Umzügen geprägt. 1922 folgt die Übersiedlung nach Leipzig, wo er das Nikolai-Gymnasium besucht und 1925 seine Schullaufbahn mit dem Abitur abschließt. Danach beginnt er, Sinologie in Berlin zu studieren und lernt dort den Schriftsteller Martin Raschke (1905-43) kennen. In der Wahl dieses Studienfachs - später kommen Volkswirtschaft und Handelsökonomie hinzu - zeigt sich Eichs frühe Tendenz zur Absonderung, wie ein Brief an seinen Freund Willi R. Fehse (1906-77) belegt: „(außerdem lerne ich Chinesisch) weltabgewandt, in buddhistischer Versenkung […]. Die Welt ist eben madiger Käse.“ (zit. nach V I E R E G G 1996, 6) Während seines Studiums beteiligt sich Eich an einer Ausschreibung, die in der von Willy Haas (1891-1973) herausgegebenen Zeitschrift Die literarische Welt publik gemacht wird. Aus den mehr als 8.000 Einsendungen werden unter anderem acht Gedichte Eichs ausgewählt (vgl. C U OMO 1989, 10). Diese Gedichte werden in die von Fehse und Klaus Mann (1906-49) herausgegebene Anthologie jüngster Lyrik (1927) aufgenommen und dort unter dem Pseudonym ‚Erich Günter‘ veröffentlicht. Wie Stefan Zweig (1881-1942) im Vorwort der Anthologie darlegt, ist es Ende der 1920er Jahre für junge Lyriker äußerst schwierig, ihre Werke zu publizieren: Die lyrische Generation von heute steht vor verschlossenen Türen. Keine einzige Zeitschrift mehr, die dem Lyrischen Wert und Wichtigkeit gibt. Kein Verleger, der nicht vor einem Versbuche erschrickt. Kein Jahrbuch mehr, kein Sammelpunkt, keine Förderung und vor allem: kein Publikum. (Z W E I G 1927, 3) Bald darauf geht Eich für ein Jahr nach Paris, wo er seine sinologischen Studien fortsetzt. Später hat er dargelegt, wie prägend dieser Aufenthalt für ihn war: „Ein Jahr in Paris nährte ich [einen] Hang zur Welt der Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 56 Kunst und verdarb den Sinn für bürgerliche Sicherung.“ (E ICH 1991, IV, 464) Wie sehr sich dort sein „Hang zur Welt der Kunst“ ausprägt, wird etwa daran deutlich, dass er „sich unter die Bohème vom Montparnasse“ (R O LLIN 1996, 32) mischt und engen Kontakt zu dem Surrealisten Philippe Soupault (1897-1990) pflegt, dessen Roman Le Nègre (1927) er zu übersetzen plant (vgl. F E H S E 1973, 36). Nach seiner Rückkehr aus Frankreich beginnt Eich an Raschkes Zeitschrift Die Kolonne (1929-32) mitzuarbeiten und lernt über die gleichnamige Künstlervereinigung bald Dichter wie Peter Huchel (1903-81) oder Horst Lange (1904-71) kennen. Während Eichs erster Lyrikband unter dem schlichten Titel Gedichte (1930) erscheint, betont er zeitgleich in der Kolonne, dass der moderne Dichter keine gesellschaftspolitische Funktion übernehmen solle: „Ich bin zunächst Lyriker und alles, was ich schreibe, sind mehr oder minder innere Dialoge. […] Und Verantwortung vor der Zeit? Nicht im geringsten. Nur vor mir selber.“ (E ICH 1991, IV, 457) Angesichts des erstarkenden Nationalsozialismus wirkt eine solche Stellungnahme auf den ersten Blick eigenartig „zeitfremd“ (S T O R C K 1988, 17). Demgegenüber ist aber zu berücksichtigen, dass Eich mit seiner Aussage die ästhetische Autonomie der Lyrik verteidigt und damit auch die Geltung seiner ersten Lyriksammlung legitimiert. Seine Gedichte stehen noch in der Tradition der naturmagischen Schule und orientieren sich an Vorbildern wie Wilhelm Lehmann und Oskar Loerke (vgl. N E UMANN 1981, 235). In seiner kurzen autobiografischen Skizze, die um 1946/ 47 entstanden sein dürfte, vermeidet es Eich weitgehend, auf die Zeit des Nationalsozialismus einzugehen. Das lässt sich einerseits als „Diskretion im Biographischen“ (S T O R C K 1988, 2) werten, andererseits aber auch als Versuch, Details der eigenen Vergangenheit zu verschweigen. Wie Alexander Vieregg in einem kontrovers diskutierten Essay offengelegt hat, ist Eich von 1933 bis 1940 ein gefragter Rundfunkautor: Gemeinsam mit Raschke verfasst er 75 Folgen der im Deutschen Reich äußerst beliebten und als Propagandainstrument genutzten Serie Deutscher Kalender. Monatsbilder vom Königswusterhäuser Landboten (vgl. V I E R E G G 1993; W AG N E R 2000, 49-59). Zuvor hatte schon Fehse rückblickend erwähnt, dass sich Eich „vor dem Ausbruch des Zweiten Welt‐ kriegs […] zu einem unserer bekanntesten Rundfunkautoren entwickelt“ (F E H S E 1973, 41) habe. Mit Kriegsbeginn wird Eich als Wehrpflichtiger eingezogen und im Oktober 1940 nach Frankreich versetzt. Bald darauf gelangt er auf Veranlassung von Jürgen Eggebrecht (1898-1982) zurück nach Berlin, bis er im September 1943 seinen Dienst bei der Luftwaffe antritt (vgl. 1. Sprachverdichtung 57 S TO R C K 1988, 26). Im April 1945 gerät Eich bei Remagen in amerikanische Kriegsgefangenschaft. In dieser Zeit beginnen jene Gedichte zu entstehen, in denen Eich die Erfahrungen seiner Gefangenschaft verarbeitet und die aufgrund ihrer sprachlichen Kargheit und Drastik zur sogenannten ‚Kahlschlaglyrik‘ ge‐ rechnet werden. Er publiziert seine ersten Nachkriegstexte in der Kriegsge‐ fangenen-Zeitung Der Ruf, die von Alfred Andersch (1914-80) und Hans Werner Richter (1908-93) herausgegeben wird. 1948 veröffentlicht Eich seine zweite Gedichtsammlung mit dem Titel Abgelegene Gehöfte. Wie er gegenüber seinem Verleger Georg Kurt Schauer bekräftigt, komme in diesem Titel seine „Wendung zum Konkreten“ zum Ausdruck: „Das Ungewöhnliche im Gewöhnlichen, das ist es, was mich interessiert“ (zit. nach S TO R C K 1988, 32). Im gleichen Jahr, in dem die Sammlung Abgelegene Gehöfte erscheint, nimmt Eich auch an einem Treffen der Gruppe 47 teil. 1950 wird ihm von der Gruppe 47 der erste Literaturpreis zugesprochen; gewürdigt werden dabei vorwiegend jene Gedichte, die Eich später in seiner Sammlung Botschaften des Regens (1955) veröffentlicht. Neben seiner Produktion von lyrischen Tex‐ ten verfasst Eich zahlreiche Hörspiele und wird 1953 mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnet. Nach der Heirat mit der Schriftstellerin Ilse Aichinger (1921-2016) lebt Eich zunächst in Oberbayern und zieht 1963 nach Großgmain bei Salzburg um. Dort entsteht seine Prosasammlung Maulwürfe (1968), in der er gezielt die Gattungsgrenzen von Kurzgeschichte und Gedicht verwischt. Am 20. Dezember 1972 stirbt Eich in Salzburg. Dass in der Nachkriegszeit eine neue Werkphase beginnt (vgl. N E UMANN 1981, 233), lassen nicht nur Eichs Gedichte der Sammlung Abgelegene Ge‐ höfte erkennen, sondern auch seine poetologischen Positionen, die er nach 1945 bezieht. Auch wenn er sich - etwa im Unterschied zu Hans Magnus Enzensberger (*1929) - öffentlich kaum zu ästhetischen Fragen äußert, ist es dennoch unzutreffend, pauschal von Eichs „theoretische[r] Enthaltsam‐ keit“ (M ÜLL E R -H AN P F T 1970, 13) zu sprechen. So ist es insbesondere sein unveröffentlichter Aufsatz Der Schriftsteller 1947, an dem sich ablesen lässt, wie fundamental sich sein Lyrikverständnis nach 1945 gewandelt hat. Darin beschreibt er die Aufgabe des modernen Lyrikers: […] alles, was er schreibt, sollte fern sein jeder unverbindlichen Dekoration, fern aller Verschönerung des Daseins. Im Sonnenuntergang, den […] [er] besingt, geht nicht ein Tag der Gefühle zu Ende, sondern vorerst einmal eine genau meßbare Anzahl von Stunden, in denen Fabriksirenen ertönen, Straßenbahnen kreischen Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 58 und ein Bagger den Häuserschutt von den Straßen räumt. […] [S]o trockene Dinge können bedeutender sein als die subtilen Gefühle, die der Spaziergänger beim Einatmen des Tannenduftes hat. (E I C H 1991, IV, 469 f.) Das ästhetische Programm, das Eich nach 1945 entwirft, ist gekennzeichnet von der „Abkehr vom Inventar der Naturlyrik“ (L AM PA R T 2013, 140) und von der Hinwendung zur Gegenwärtigkeit des Urbanen. An anderer Stelle wird zumindest die Naturerfahrung rehabilitiert, wenn es heißt, dass der Dichter seine inspirative „Erschütterung nicht nur im Liede der Nachtigall […], sondern auch vor den Trümmern unserer Städte“ (E ICH 1991, IV, 477) finde. Mit der Rede von „Trümmern unserer Städte“ bezieht sich Eich ausdrücklich auf die desolate Nachkriegswirklichkeit, mit der sich zeitgleich etwa Stephan Hermlin in seinen Zwölf Balladen von den großen Städten (1945) auseinan‐ dersetzt. In den poetologischen Überlegungen der 1950er Jahre wird jedoch seine wachsende Sprachskepsis zunehmend Kontur gewinnen. Von der Neuausrichtung der eigenen Poetik ist auch Eichs zweite Lyrik‐ sammlung Abgelegene Gehöfte geprägt. Das kommt in erster Linie in jenen Gedichten zum Ausdruck, die vom Schicksal der Kriegsgefangenen handeln wie Frühling in der goldenen Meil, Erwachendes Lager, Pfannkuchenrezept, Camp 16, Blick nach Remagen, Inventur, Latrine, Gefangener bei Nacht und Der Nachtwind weht. Gleichzeitig „bestehen die Texte […] in Abgelegene Ge‐ höfte hauptsächlich aus Naturhieroglyphen. Pflanzen und Tiere werden zu diesseitigen Zeichen, die auf die mystische Schöpfungseinheit hinweisen.“ (K R I S P Y N 1970, 80) Dieses überraschende Festhalten an der naturmagischen Dichtung, von der sich Eich mit seiner lakonischen Gefangenenlyrik erkenn‐ bar distanziert, hat entstehungsgeschichtliche Hintergründe. Tatsächlich besteht die Sammlung zu einem Fünftel aus Gedichten, die zwischen 1930 und 1934 entstanden sind und die ursprünglich unter dem Titel Jugendbildnis als eigenständiger Komplex dargeboten werden sollten (vgl. S CHA F R OTH 1976, 48 f.). Als Eichs ästhetische Neuerung sind die sogenannten ‚Camp‘-Gedichte anzusehen, in denen in sachlich-nüchternem Ton das leidvolle Leben im Gefangenenlager zur Sprache kommt. Das in diesen Texten zitathaft aufgerufene „abendländische Kulturgut“ zeugt nur noch von der „absurde[n] Unvereinbarkeit mit den gegenwärtigen Erfahrungen“ (S CHA F R O TH 1976, 52). Eichs Gedicht Latrine ist vermutlich während seiner Gefangenschaft im Frühjahr bzw. Sommer 1945 entstanden. Für diese Datierung spricht, dass er im November 1945 Abschriften einiger Gedichte, die in der ersten Hälfte 1. Sprachverdichtung 59 des Jahres entstanden waren, an Horst Lange und die Schriftstellerin Oda Schaefer (1900-88) schickt und diese Sendung folgendermaßen kommen‐ tiert: „Hier schicke ich euch etwas von der Ernte 45 zur Erbauung und Verdauung. Es sind die noch genießbaren Gewächse. Was ich sonst noch habe, handelt vorwiegend von Scheiße, - ein Thema von Ewigkeitswert, wie uns die Zeit inzwischen gelehrt hat.“ (zit. nach S T O R C K 1988, 30) Es liegt nahe, dass mit dem Hinweis auf jene anderen, von menschlichen Exkrementen handelnden Texte unter anderem das Gedicht Latrine gemeint sein dürfte. Wie Eich wenig später darlegt, sei es nicht das Ziel dieser Texte, „den Leser oder Hörer in eine schönere Welt zu versetzen, sie bemühen sich [vielmehr] um Objektivität.“ (E ICH 1991, IV, 464) Willi Fehse hat ergänzend vermerkt, dass Eich schon Ende der 1920er Jahre versuchte, „drastische Umgangsausdrücke oder gar Vulgarismen wie etwa ‚knöken‘ durch seine Dichtungen ‚literaturfähig‘ zu machen“ (F EH S E 1973, 36). Latrine wird gemeinsam mit Pfannkuchenrezept und Frühling unter dem Titel Gedichte aus dem Lager erstmals am 15. November 1946 in der Zeitung Der Ruf veröffentlicht. Während das Gedicht in dieser Fassung noch aus zwei Strophen besteht (vgl. E ICH 1991, I, 442), hat es Eich für den Abdruck in Abgelegene Gehöfte umgestaltet und um zwei Strophen erweitert (vgl. E ICH 1948, 44). Auch wenn diese Lyriksammlung nicht in Binnenzyklen gegliedert ist, haben die beigegebenen vier Holzschnitte von Karl Rössing (1897-1987) durchaus die Funktion, einzelne Gedichtgruppen voneinander abzuteilen. Die Gedichtgruppe, der Latrine zugehört, wird mit dem Gedicht Frühling in der goldenen Meil eröffnet, in dem bereits die olfaktorische Wahrnehmung des Lageraborts thematisiert wird: In trübe Stille das Lager versinkt. Mein eigener Seufzer füllt kein Ohr. Als Gruß der Welt noch herüberdringt der Geruch von Latrine und Chlor. (E I C H 1991, I, 30) Wie auch in den anderen ‚Camp‘-Gedichten wird in Latrine die existentiell bedrohliche Lebenssituation in den improvisierten amerikanischen Gefan‐ genenlagern bei Remagen und Sinzig vergegenwärtigt: „ohne Obdach und oft mangelhaft mit Nahrungsmitteln und Medikamenten versorgt, sollen die US-Lager zahlreiche Opfer gefordert haben“ (S CHÄF E R [2009] 2016, 260). Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 60 Latrine Über stinkendem Graben Papier voll Blut und Urin, umschwirrt von funkelnden Fliegen, hocke ich in den Knien, 5 den Blick auf bewaldete Ufer, Gärten, gestrandetes Boot. In den Schlamm der Verwesung klatscht der versteinte Kot. Irr mir im Ohre schallen 10 Verse von Hölderlin. In schneeiger Reinheit spiegeln Wolken sich im Urin. „Geh aber nun und grüße die schöne Garonne -“ 15 Unter den schwankenden Füßen schwimmen die Wolken davon. (E I C H 1991, I, 37) Mit dem Titel des Gedichts ist ein Ort benannt, der für die elementaren Bedürfnisse des Urinierens und Defäkierens vorgesehen ist. Ursprünglich von ‚lavare‘ (lat. für ‚sich waschen‘, ‚baden‘) abgeleitet, bezeichnet eine Latrine im 20. Jahrhundert nur noch eine behelfsmäßige Anlage zur Verrichtung der menschlichen Notdurft. Eichs Gedicht setzt mit einer synästhetischen Wahr‐ nehmung dieses Orts ein, der olfaktorisch durch den Geruch, visuell durch das Klopapier und akustisch durch das Schwirren der Fliegen vergegenwärtigt wird. Herbert Heckmann hat dazu angemerkt: „Günter Eich verharrt […] in einer nüchternen Beobachtung, er deutet nicht, er registriert.“ (H E CKMANN 1997, 128) An dieser Aussage ist zweierlei unzutreffend: Erstens ist Günter Eich der empirische Verfasser des Gedichts, während die Beobachtungen, die innerhalb des Gedichts angestellt werden, von einer anonymen Sprechinstanz ausge‐ hen. Zweitens erscheint der Modus dieser Beobachtungen zwar weitgehend ‚nüchtern‘, ja bisweilen teilnahmslos, jedoch gehen die Wahrnehmungen der 1. Sprachverdichtung 61 Sprecherfigur über ein reines ‚Registrieren‘ hinaus. Um das zu verdeutlichen, muss zunächst die formale Anlage des Gedichts bestimmt werden. Das Gedicht besteht aus vier Strophen, die jeweils vier Verse umfassen, wobei nur der zweite und der vierte Vers ein Reimpaar bilden (abcb). Eine Ausnahme bildet die vierte Strophe, in der zusätzlich der erste und der dritte Vers über einen unreinen Reim („grüße“ / „Füßen“) miteinander verbunden sind. Weniger eindeutig verhält es sich dagegen mit der metrischen Faktur des Gedichts. Mit Ausnahme von Vers 14 weist jeder Vers drei Hebungen auf, während die Anordnung und Anzahl der Senkungen variiert. Wird von den Versen 14 und 15 ausgegangen, lässt sich ein daktylisches Grundmuster erkennen, das allerdings in den übrigen Versen meist nur in reduzierter Form hervortritt. Auch die daktylischen Dreiheber in Vers 14 und 15 sind katalektisch, d. h. ihr letzter Versfuß ist jeweils nur unvollständig realisiert (v. 14: X x x | X x x | X x [x], v. 15: X x x | X x x | X [x] [x]). In der ersten Strophe kommen der erste und dritte Vers dem genannten daktylischen Grundmuster am nächsten: Während im ersten und dritten Versfuß von Vers 1 eine Senkung fehlt (v. 1: X x [x] | X x x | X x [x]), beginnt Vers 3 mit einem Auftakt und weist ebenfalls einen verkürzten ersten und dritten Versfuß auf (v. 3: x | X x [x] | X x x | X x [x]). Diese metrische Struktur lässt erkennen, dass die Attribute „stinkendem“ (v. 1) und „funkelnden“ (v. 3) jeweils einen daktylischen Versfuß ausmachen. Auf diese Weise werden beide Attribute formal parallelisiert, inhaltlich aber kontrastiert, indem sie die Opposition von Hässlichkeit und Schönheit kenntlich machen. Angesichts dieses kalkulierten Gegensatzes wirkt die Behauptung, die Sprecherfigur würde ihre Umwelt nur ‚registrieren‘, wenig überzeugend. Hinzu kommt, dass das Adjektiv „funkelnden“ nicht nur über die Alliteration mit dem Substantiv „Fliegen“ eigens betont wird, sondern auch wie eine Ausschmückung erscheint, die über eine nüchterne Schilderung der Wirklichkeit erkennbar hinausgeht. Ferner lässt sich die Nennung der schwirrenden Fliegen als intertextueller Verweis auf Charles Baudelaires (1821-67) Gedicht Une Charogne (Ein Aas) lesen (vgl. K AI S E R 2003, 280), in dem die Zersetzung eines Kadavers detailliert beschrieben wird (vgl. B AUD E LAI R E 1997, 64-67). Dort ist sowohl von Fliegen („les mouches“) die Rede, die ein Aas ‚umsummen‘, als auch von einem Moment, in dem sich das Ungeziefer ‚schillernd‘ („en petillant“) - und damit beinahe funkelnd - zu erheben scheint. Die Baudelaire-Referenz unterstreicht, dass Eich in Latrine eine Ästhetik des Hässlichen entfaltet. Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 62 Der Ort, an dem die Kriegsgefangenen urinieren und defäkieren, ist ein Ort des Ekels. Das verdeutlichen sowohl die olfaktorische Wahrnehmung des Gestanks als auch die visuelle Wahrnehmung des „Papier[s] voll Blut und Urin“ (v. 2). Das „Blut“ zeugt ebenso wie der „versteinte Kot“ (v. 8) davon, dass im Lager Krankheiten grassieren und permanente Mangelernährung vorherrscht. Um seine Notdurft zu verrichten, hockt der lyrische Sprecher „in den Knien“ (v. 4). Damit nimmt er eine Körperhaltung ein, die zugleich als Ausdruck seines demütigenden Gefangenendaseins gelesen werden kann. Es wirkt daher wie eine vage Fluchthoffnung, wenn der Sprecher in der zweiten Strophe, die über ein Enjambement mit der ersten Strophe verknüpft ist, den Blick in die Ferne richtet. Während die „bewaldete[n] Ufer“ und die „Gärten“ (v. 5 f.) einen Naturraum repräsentieren, der für den Sprecher unerreichbar ist und daher paradiesisch anmutet, werden mit dem Anblick des „gestrandete[n] Boot[s]“ (v. 6) Spuren der Zivilisation sichtbar. Das unbrauchbar gewordene Transportmittel lässt sich überdies mit dem lyrischen Sprecher in Beziehung setzen, da es dessen Zustand des ‚Gestrandetseins‘ versinnbildlicht. Das Geräusch des ‚klatschenden Kots‘ (v. 8) führt jedoch abrupt in die abstoßende Lebenswirklichkeit zurück. Die dritte Strophe setzt mit einem Erinnerungsreflex ein: „Irr mir im Ohre schallen / Verse von Hölderlin.“ (v. 9 f.) Aufschlussreich ist hier eine der Veränderungen, die Eich gegenüber der ersten Fassung vorgenommen hat (vgl. S AVAG E 2008, 3), deren zweite Strophe mit den Versen einsetzt: „Im Fieber schallen im Ohre / mir Verse von Hölderlin.“ (E ICH 1991, I, 442) In der zweiten Fassung hat Eich die Rede vom Fieberzustand des lyrischen Sprechers getilgt und durch das Adverb „Irr“ ersetzt, das zunächst einmal nur auf den Klangmodus der Verse Friedrich Hölderlins (1770-1853) bezogen ist. Darüber hinaus verweist das Adverb auch auf den ‚Irrsinn‘ Hölderlins, der aufgrund einer schweren psychischen Erkrankung zunächst im Uni‐ versitätsklinikum Tübingen zwangsbehandelt, später aber als ‚unheilbar‘ entlassen wurde. Weil Hölderlins Verse im Ohr des lyrischen Sprechers „Irr“ erschallen, entsteht der Eindruck, als würde sich der ‚Irrsinn‘ des Verfassers auf ihn übertragen. Während erst in der vierten Strophe mitgeteilt wird, um welche Verse von Hölderlin es sich konkret handelt, endet die dritte Strophe mit einer visuellen Wahrnehmung: „In schneeiger Reinheit spiegeln / Wol‐ ken sich im Urin.“ (v. 11 f.) Die bildliche Überlagerung von Wolken und Urin im Moment der Reflexion erzeugt eine Spannung, die erneut die Opposition von Schönheit (reine Wolken) und Hässlichkeit (unreiner Urin) sichtbar macht. Eichs eigentlicher Tabubruch besteht jedoch darin, „Hölderlin“ auf 1. Sprachverdichtung 63 „Urin“ zu reimen. Diese Engführung hat bei zeitgenössischen Leserinnen und Lesern für Empörung und noch in den 1990er Jahren für nachhaltige Irritation gesorgt (vgl. K AI S E R 2003, 279). Aber Eich geht es nicht allein darum, die Kollision von zwei konträren Sprachregistern herbeizuführen: auf der einen Seite die dichterische Hoch‐ sprache, die Hölderlin mit seiner Lyrik repräsentiert, und auf der anderen Seite die drastische Fäkalsprache, die das zweimal verwendete Reimwort „Urin“ (v. 2, 12) stellvertretend anzeigt. Vielmehr greift Eich auch deshalb auf Hölderlin zurück, weil er ein Dichter ist, der im Nationalsozialismus gezielt instrumentalisiert wurde, um die Kriegsbegeisterung zu steigern. So hat beispielsweise der Schriftsteller Dieter Wellershoff (1925-2018) rückbli‐ ckend festgehalten: Wir waren für diesen Ausnahmezustand erzogen worden durch die Lektüre zahlreicher Kriegsbücher, aber auch in der feierlichen Sprache der Poesie. Ich weiß nicht mehr, wann ich Hölderlins Gedicht Der Tod fürs Vaterland las oder rezitiert hörte. Es muß in den ersten Kriegsjahren gewesen sein, auf dem Höhepunkt des nationalen Narzißmus. (W E L L E R S H O F F 2007, 184) Die Popularisierung Hölderlins war insbesondere durch den Neudruck seiner Werke befördert worden. Neben der verbreiteten Feldauswahl Höl‐ derlin (1943), die der NS-Germanist Friedrich Beißner (1905-77) zusammen‐ gestellt hatte und die in einer Auflage von 100.000 Exemplaren gedruckt worden war, hatte Eichs Freund Martin Raschke die Anthologie Deutscher Gesang (1940) mit Gedichten Hölderlins veröffentlicht (vgl. B R E U E R 1988, 355; S CHÄF E R [2009] 2016, 261). Vor diesem Hintergrund lässt sich Eichs lyrische Gestaltung auch als Kommentar auf den Umgang mit Hölderlin im Dritten Reich lesen: Es fragt sich, wie nachhaltig die „schneeige[] Reinheit“ (v. 11) dieser Dichtung vom „Urin“ der nationalsozialistischen Ideologie beschmutzt worden ist. In der vierten und abschließenden Strophe wird der Hölderlin-Rekurs durch einen direkten intertextuellen Bezug weiter intensiviert. Das Zitat: „Geh aber nun und grüße / die schöne Garonne -“ (v. 13 f.) stammt aus der ersten Strophe von Hölderlins Hymne Andenken, die er wahrscheinlich nach seiner Rückkehr aus Bordeaux 1803 verfasst hat. Obwohl nicht überliefert ist, auf welche Textvorlage Eich zurückgegriffen hat, liegt es zumindest nahe, dass er den Frontbericht seines Freundes Raschke gelesen hat, der 1942 in der Zeitschrift Das Innere Reich erschienen war. Raschke berichtet darin, wie die Soldaten auswendig gelernte Gedichte aufsagen und zitiert selbst Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 64 die Eingangsverse aus Hölderlins Hymne Andenken (vgl. S CHÄF E R [2009] 2016, 262). Zu berücksichtigen ist ferner die minimale Änderung, die Eich gegenüber dem Prätext vornimmt: Aus dem Komma, das bei Hölderlin auf den Flussnamen „Garonne“ folgt (H ÖLD E R LIN 1992, I, 360), wird bei Eich ein Gedankenstrich. Auf diese Weise entsteht der Eindruck eines abrupten Satzabbruchs: Die so erzeugte Leerstelle scheint dazu aufzufordern, sich die gesamte Hymne zu vergegenwärtigen. Wie bereits vermerkt, weicht Vers 14 aufgrund seiner Zweihebigkeit von den übrigen dreihebigen Versen des Gedichts ab. Diese metrische Akzentuierung unterstreicht die Nennung des Flussnames „Garonne“, wo‐ gegen der Rhein, der in anderen ‚Camp‘-Gedichten wie Pfannkuchenrezept, Camp 16 oder Blick nach Remagen explizit erwähnt wird, in Latrine nicht vorkommt (vgl. L AM PA R T 2013, 159). In Hölderlins Hymne ist der Flussname „Garonne“ zudem mit der auch von Eich zitierten Aufforderung verbunden, einen Gruß auszurichten. In diesen Gruß werden weiterhin die „Gärten von Bordeaux“ einbezogen, wobei präzisierend auf jene Stelle verwiesen wird, „wo am scharfen Ufer / […] ein edel Paar / Von Eichen und Silberpap‐ peln“ (H ÖLD E R LIN 1992, I, 360) wächst. Diese Kombination aus „Gärten“, einem „Ufer“ und Bäumen ähnelt auffällig jenen Naturelementen, die in der zweiten Strophe von Latrine angeführt werden. Darüber hinaus wird die vierte Strophe von Hölderlins Hymne mit zwei Fragen eingeleitet: „Wo aber sind die Freunde? Bellarmin / Mit dem Gefährten? “ (H ÖLD E R LIN 1992, I, 361) Die Einsamkeit des lyrischen Sprechers, die in diesen Fragen zum Ausdruck kommt, korrespondiert mit der isolierten Position, von der aus Eichs Sprecherfigur ihre Umwelt wahrnimmt. Über diese Perspektive hinaus kristallisiert sich in der Nennung des Namens „Bellarmin“, der in Hölderlins Briefroman Hyperion (1797/ 99) den Adressaten der Titelfigur verkörpert, die Sehnsucht nach dem entschwundenen Freund. Bei Eich wird zwar kein solcher Wunsch nach einem Freund artikuliert, jedoch ist die Hölderlin-Referenz auf zweifache Weise - nämlich über die Anthologie Deutscher Gesang sowie über den Frontbericht in Das Innere Reich - mit Martin Raschke verbunden. In biografischer Hinsicht mag der bei Eich implizit mitgedachte Ruf „Wo aber sind die Freunde? “ auch Raschke gegolten haben, der am 24. November 1943 in Newel, im Nordwesten Russlands, kriegsbedingt gestorben war (vgl. H AE F S / S CHMITZ 2002). „Was bleibet aber, stiften die Dichter.“ (H ÖLD E R LIN 1992, I, 362) Mit diesem berühmten Vers endet Hölderlins Hymne Andenken. Bei Eich hingegen folgen auf das Hölderlin-Zitat noch zwei Schlussverse, in denen allerdings 1. Sprachverdichtung 65 nichts ‚Bleibendes‘, sondern vielmehr etwas Vergehendes in den Blick gerät. Die unter den Füßen des lyrischen Sprechers ‚davonschwimmenden Wolken‘ (v. 16) veranschaulichen euphemistisch das Abfließen seines Urins, der in ironischer Wendung zum Adressaten des in Vers 13 ausgesprochenen Grußes avanciert. Parallel zu dieser Bewegung scheint der lyrische Sprecher seinen Halt zu verlieren, da ausdrücklich von seinen „schwankenden Füßen“ (v. 15) die Rede ist. Diese physische Destabilisierung kann zum einen mit seiner schlechten gesundheitlichen Verfassung begründet werden, die der „versteinte Kot“ (v. 8) bereits symptomatisch sichtbar gemacht hat. Zum anderen ist es ebenso denkbar, dass die plötzliche Einsicht in die eigene Gefangenschaft diesen Schwindel ausgelöst hat: Während die zitierte „Garonne“ bei Hölderlin an „Traubenbergen“ vorbeifließt und gemeinsam mit der Dordogne „meerbreit“ (H ÖLD E R LIN 1992, I, 362) in den Atlantik mündet, ist der lyrische Sprecher seiner Bewegungsfreiheit weitgehend beraubt. Noch radikaler als in Eichs Gedicht Inventur ist er auf die eigene Kreatürlichkeit, auf seine „nackte[n] Überlebensreserven“ (K AI S E R 2003, 280) verwiesen. Umso mehr hält er an dem fest, was ihm verblieben ist: am kulturellen Erbe, das er als immateriellen Besitz im Modus des ‚Andenkens‘ zu bewahren versucht. Doch der Reim „Hölderlin“ / „Urin“ demonstriert auch, wie wenig sich der hohe Ton (genus sublime) der zitierten Hymne eignet, um das Dasein im Gefangenenlager zu erfassen (vgl. B R E U E R 1988, 357). Dieser Lebenswirklichkeit, der Eich in seinem Gedicht Latrine ein Andenken gestiftet hat, entspricht nur noch der niedere Ton (genus humile). In seiner Rede auf den Preisträger (1959) anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises an Günter Eich hat der Laudator Walter Höllerer (1922-2003) betont, dass sich Eichs Dichtung dadurch auszeichne, dass sie „keine lyrischen Reservate, keine Worte und Situationen [kenne], die spezi‐ ell für Lyrik geeignet oder verboten wären. Ein Gedicht über die Latrine ist ebenso wahr […] wie ein Gedicht An eine Lerche.“ (H ÖLL E R E R 1970, 46) Dieser Anspruch auf ‚Wahrheit‘ besitzt insofern eine politische Qualität, als Eich in seinen Nachkriegsgedichten darauf zielt, das Widerständige, Abstoßende und Beunruhigende mit lyrischen Mitteln zu gestalten. Auch wenn er in den 1950er Jahren eine stärker sprachskeptische Haltung auszubilden beginnt - wie insbesondere seine Rede Der Schriftsteller vor der Realität (1956) belegt, die er in verkürzter Form in Hans Benders (1919-2015) Anthologie Mein Gedicht ist mein Messer (1961) unter dem Titel Trigonometrische Punkte veröffentlicht -, konstatiert Eich selbst, dass sich in seinen nach 1945 entstandenen Dichtungen ein „Hang zum Realen“ manifestiert habe: „Ich Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 66 habe als verspäteter Expressionist und Naturlyriker begonnen, heute enthält meine Lyrik viel groteske Züge, das liegt wohl an einem Hang zum Realen, es ist mir nicht möglich, die Welt nur in der Auswahl des Schönen und Edlen und Feierlichen zu sehen.“ (E ICH 1991, IV, 503) 2. Naturerfahrung 2.1. Poetologische Hinführung Gedichte über die Natur sind seit der griechischen Antike überliefert. Üblicherweise spricht man von Naturgedichten, wenn die Natur zum Ge‐ genstand der lyrischen Darstellung gemacht wird (vgl. K ITT S T E IN [2009] 2012). Dabei interessiert sie vor allem als ästhetisches Anschauungsobjekt oder als Reflexionsgegenstand, um die Bedeutung des Menschen in einem transzendentalen oder religiösen Kontext zu thematisieren. Die Idee einer Lesbarkeit der Natur ist insbesondere in der Naturlyrik der Aufklärung von großer Bedeutung - beispielsweise bei Barthold Heinrich Brockes (1680- 1747) oder Albrecht von Haller (1708-77). Wenn im Folgenden die Lyrik der Nachkriegszeit unter der thematischen Konstellation ‚Naturerfahrung‘ betrachtet wird, rücken vor allem die Effekte der Naturerfahrung für den Sprecher ins Zentrum. Welche Form von Naturerfahrung wird artikuliert? Wie wird Natur in den Gedichten funktionalisiert? In welchem Verhältnis stehen Äußerungssubjekt und Natur zueinander? Naturgedichte sind im 20. Jahrhundert äußerst populär. Insbesondere in den 1950er Jahren avanciert die Naturlyrik im deutschsprachigen Raum zum dominierenden Paradigma der Lyrikproduktion. Natur wird förmlich zur „Universalchiffre“ (K O R T E 2004, 34). Diese deutschsprachigen Naturgedichte sind zumeist einem bestimmten Genre der Naturlyrik zuzurechnen, nämlich der naturmagischen Schule. Hierbei handelt es sich um eine Strömung, die auf den deutschsprachigen Raum begrenzt ist und zwischen 1910 und 1920 im Kontext des Expressionismus entsteht. Als Begründer der naturmagischen Schule gilt Oskar Loerke (1884-1941), der 1911 seinen ers‐ ten Gedichtband Wanderschaft publizierte. Besonders wirkmächtig wurde jedoch der zweite Gedichtband von Loerke: Pansmusik (1916). Bereits an beiden Bandtiteln ist Loerkes Fokussierung auf die Natur als lyrisches Thema abzulesen. Für Pansmusik ist der aus der griechischen Mythologie stammende Hirtengott Pan titelgebend. Pan ist ein Mischwesen, das einen 2. Naturerfahrung 67 menschlichen Oberkörper und den Unterkörper eines Widders besitzt. Im antiken Griechenland ist er der Gott der Wälder und Wiesen. Er wird oftmals dem Gefolge des Dionysos zugeordnet, wo er die rauschenden Feste des griechischen Gottes durch seine Flötenmusik begleitet. Der Titel des Gedichtbands ist insofern doppeldeutig: Denn einerseits kann die Musik gemeint sein, die für Pan gespielt wird (genitivus objectivus). Andererseits kann aber auch die Musik, die der Gott Pan selbst spielt (genitivus subjecti‐ vus), gemeint sein. Pansmusik erscheint im Ersten Weltkrieg. Die Mehrzahl der Gedichte kommt jedoch ohne direkte Bezüge zu diesem einschneidenden Ereignis aus. Dennoch wird vielfach eine bedrückende Atmosphäre erzeugt, indem sich die menschliche Noterfahrung in der Natur spiegelt. So beginnt das Gedicht Wiederkehr mit dem Untergang der Sonne: „Die Sonne fällt. Die Bäume all ergrauen. / Ihr Kragen schleppt, den noch kein Scherer schor.“ (L O E R K E 2010, 180) Beklagt wird der Verlust des Gottes, den der Ich-Sprecher nur noch indirekt in der Natur findet: Mein Gott, der nicht mehr ist, hier mußt du wohnen, Hier hast du mich geboren und gewiegt, Und unser beider Atem rauscht in den Kronen Der Weiden, die des Abends Zorn umfliegt. (L O E R K E 2010, 180) Die Gedichte in Pansmusik entwickeln das Bild eines Gottes, der als „grüne[r] Gott“ (L O E R K E 2010, 178) in der Natur versunken ist. Dieser Naturgott bietet für den Sprecher Halt in einer haltlos gewordenen Welt. In Die Ferienstube heißt es in den ersten Versen: Ich sitze in zweihundertjährigem Bodenloch, Ein Balkenpanzer schleppt sein krummes Backsteinjoch. Die Mauern atmen Dunkel aus und hallen kühl, Angst, Krieg und Aberglaube hockt im Dachgestühl. (L O E R K E 2010, 178) Die Gedichte beschwören den versunkenen Gott, indem sie die Natur indirekt zum Sprechen bringen. Die Ferienstube endet folglich mit: Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 68 Nah gegenüber sitzt der Vogel und hebt an: „Du bist in meinem kleinen Munde wie das Meer, Von deiner Schwermut wurden meine Flügel schwer. Gott, hebt mein Schnabel auf ein Körnchen Weizenspelt, So hob er auf die ganze Göttlichkeit der Welt. In diesem Brunstruf ist ein Haus der Ewigkeit, In seinem Echo ist sie mit sich selbst zu zweit. Schon wollen die Gestirne ihre Steuer regen. Wohl mir! “ Ich muß das Haupt auf meine Arme legen. (L O E R K E 2010, 179) Dieser ‚grüne Gott‘ wird in vielen Gedichten Loerkes lyrisch angerufen. Es handelt sich um die Natur, die allein aufgrund ihres Daseins die Erinnerung an eine göttliche Ordnung birgt, wie Loerke im Nachwort zu seinem Gedichtband Der Silberdistelwald (1934) ausführt (vgl. L O E R K E 2010, 941). Das wesentliche Ziel der Gedichte ist es, diese verdeckten Spuren wieder zu rekonstruieren: „Im Niederfall eines Borkestücks von der hundertjährigen Platane ergeht sein [Gottes] Spruch, im unsichtbaren Alter aller Blätter und aller Adern in den Blättern“ (L O E R K E 2010, 941 f.). Allerdings ist zu beachten, dass Loerkes Gedichte überhaupt erst die Idee eines ‚grünen Gottes‘ konstruieren, den sie dann selbst lyrisch in Szene setzen. Noch vor Pansmusik erhielt Loerke 1913 den Kleist-Preis, die höchste literarische Auszeichnung der Weimarer Republik. Seit 1917 war Loerke als Lektor im einflussreichen S. Fischer-Verlag tätig, wo er intensiven Austausch mit den Hausautoren (z. B. Gerhart Hauptmann [1862-1946], Alfred Döblin [1878-1957] und Thomas Mann [1875-1955]) pflegte. Auch wegen dieser Vermittlerposition bei dem womöglich bedeutendsten Verlag der Weimarer Republik hatte Loerke - trotz seines frühen Todes 1941 - einen großen Einfluss auf die deutschsprachige Literatur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Mit Thomas Mann stand Loerke, auch wegen seiner Anstellung als Sekretär der Sektion für Dichtung der Preußischen Akade‐ mie der Künste, in einem regen Austausch, der teilweise literaturpolitisch brisante Aspekte umfasste. Aber schon vorher war Loerke auch für heikle Fragen eine wichtige Ansprechperson für Thomas Mann. So fragt Mann bei Loerke nach, ob die ‚Peeperkorn-Episode‘ im Zauberberg (1924) tatsächlich an Gerhart Hauptmann erinnere (vgl. M ANN 2011, 95). 2. Naturerfahrung 69 Noch stark vom Expressionismus geprägt ist Loerkes poetologischer Essay Von der modernen Lyrik (1912). Gleichwohl steht am Anfang des Essays bereits ein wichtiger Grundgedanke der naturmagischen Linie. Der Dichter sei dazu befähigt, in der Umwelt zu lesen: „Keine Zeit hat das Aussehen der Welt und das Aussehen des Lebens so jäh bereichert wie unsere. Für jeden, der es betrachten will, ist es da, für den Dichter am meisten. Immer war erst dann etwas wirklich, sobald es in den Dichtern war.“ (L O E R K E 1912, 691) Damit ist der poetologische Ausgangspunkt der naturmagischen Schule von Loerke benannt: Der Dichter beobachtet die Natur und erkennt die ‚Schrift‘ der Natur, die nur er zu lesen befähigt ist. Gerade in Anbetracht der technischen Umbrüche und apparativen Erfindungen des Menschen ist die Natur der letzte Zufluchtsort einer Transzendenzerfahrung, wie Loerke dann programmatisch in seiner Schrift Formprobleme der Lyrik (1928) ausführt: Nicht verändert hat sich die Welt der Natur unter der dünnen bunten Zivilisa‐ tionskruste, nicht das Leben und die Lebewesen, nicht die Kristalle, Pflanzen, Tiere mit ihren Gesetzen. So gab es, gibt es und wird es geben das Wesen Licht, unverändert. Aber die Technik des Lichtes bringt jetzt Osramlampen hervor statt der früheren Ölfunzeln. Der Lyriker taugt nichts, der schon etwas Rechtes getan zu haben glaubt, wenn er sich in seinen Versen für eine Beleuchtungsart entscheidet und darüber die Wirklichkeit Licht vergißt. (L O E R K E 2010, 931) Einige Jahre später konstatiert Loerke in Meine sieben Gedichtbücher (1936), dass seine Verse mehr erzählen, „als daß sie singen, und wenn sie im Gesang erklingen, so ist das mehr der Gesang der Dinge als meine Stimme“ (L O E R K E 2010, 950). Allerdings manifestiert sich in seinen Gedichten ein gebrochenes Verhältnis zur Natur, denn der ‚grüne Gott‘ kann selbst nicht mehr sprechen. Erst im Wiederentdecken und Versprachlichen durch den Dichter kann die verlorene göttliche Einheit erinnert werden. In seiner pseudo-religiösen Poetik avanciert der Dichter zum Übersetzer einer Hieroglyphenschrift der Natur. In der Versprachlichung des Dichters wird der versunkene Gott wieder zum Leben erweckt. Die Natur wird mit einer mythologischen und magischen Dimension aufgeladen. Sie wird zur magisch-heiligen Sphäre, die mit der menschlichen Kultur kontrastiert wird, die ihrerseits in den Gedich‐ ten defizitär erscheint und abgelehnt wird. Verbunden ist damit eine Absage an technizistische Erklärungsmodelle der Welt. In diesem Zusammenhang stellt Karl Krolow (1915-99) in seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen fest: Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 70 Was nun Loerkes Gedichte und das Wesen dieser Gedichte angeht, so scheint mir, daß er sich in ihnen auf eine seinerzeit so noch nicht erlebte Weise aus seinen Versen ‚herausnahm‘, als Person, als Individualität. Er hat […] das Dasein weitgehend dem Zugriff der dichterischen Individualität entzogen und hat dies Dasein im Gespräch mit sich selber liegenlassen. (K R O L O W [1961] 1963, 29) Der Mensch spiele in diesen Gedichten kaum eine Rolle, vielmehr werde ein „Gesang der Dinge“ (K R O L OW [1961] 1963, 30) vernehmbar. Dennoch wird das Subjekt in den Gedichten Loerkes keinesfalls getilgt. In beinahe allen Gedichten wird ein Ich-Sprecher eingesetzt, der als Reflektor der Naturerfahrung und -wahrnehmung fungiert und so erst die Spuren des Seins in der Natur wiederentdeckt. Oder wie es Wilhelm Lehmann (1882- 1968), ein guter Freund von Loerke und der zweite wichtige Vertreter der naturmagischen Schule, ausgedrückt hat: „Wir wurden aus dem Paradies der alten Einheit vertrieben. Diese Vertreibung bedeutet den Beginn des Dichtens, des Schreibens.“ (L E HMANN 1962a, 159) Mit dem Bezug auf den biblischen Sündenfall wird die menschliche Existenz transzendiert. Wäh‐ rend die Ganzheit des menschlichen Seins verloren ist, bleibt, so Lehmann, die Erinnerung an den verlorenen Ganzheits- und Einheitszustand: „Wir verloren das Ganze, wir wurden selbst Teil, um uns als Teil des Ganzen zu erinnern und uns seiner in der Sehnsucht zu vergewissern.“ (L E HMANN 1962a, 159) Die Sehnsucht nach dem Eins-Sein ist für Lehmann der Motor des Dichtens. Insofern greift er einen Aspekt auf, den Loerke in seinen Gedichten immer wieder umkreist, und formuliert ihn lyrisch aus: In der dichterischen Benennung kann die verlorene Ganzheit des Menschen, die nur noch als Erinnerung vorhanden ist, reaktiviert werden. Konkret geht es darum, im Teil das Ganze zu erblicken. Der Dichter hat in diesem Kontext die Aufgabe, im Akt des Betrachtens und lyrischen Benennens, die Magie der Natur wieder zu entfalten: „Wir können, wenn wir uns sprachlich in der Welt zurecht finden, das heißt: Wesen und Dinge benennen wollen, nicht die Welt als Ganzes in den Mund nehmen, sondern müssen ihrer mit Hilfe der Partikularität inne werden.“ (L E HMANN 1962a, 159) Der Dichter ist für Lehmann ein „Mystiker“, der die Augen nicht schließt, sondern weit öffnet: „Er sieht so genau hin, daß sein Blick die Phänomene zum zweiten Mal erschafft.“ (L E HMANN 1962b, 192) Lehmann gehört nach 1945 zu den erfolgreichen Lyrikern, deren Arbeiten in hohen Auflagen gedruckt werden. Aber schon vor 1933 hatte er sich im literarischen Feld Deutschlands etabliert: 1923, also zehn Jahre nach Loerke, 2. Naturerfahrung 71 bekam er gemeinsam mit Robert Musil (1880-1942) den Kleist-Preis. Debü‐ tiert hatte Lehmann zunächst mit Erzählungen, seinen ersten Gedichtband veröffentlichte er 1935: Antwort des Schweigens wurde im Widerstands-Ver‐ lag von Ernst Niekisch (1889-1967) publiziert. Seit 1923 war Lehmann als Gymnasiallehrer in Eckernförde tätig. 1933 trat er in die NSDAP ein, wohl aus Sorge um seinen Beamtenstatus, weil er im Ersten Weltkrieg zweimal desertierte (vgl. S C R A S E 2011, 195-209). Seine Erfahrungen als Deserteur literalisiert Lehmann 1927 im Roman Der Überläufer. Der Text wurde jedoch von den Verlagen abgelehnt. Lehmann konnte ihn erst 1962 veröffentlichen. Typisch sind für Lehmanns naturmagische Gedichte das Festhalten am Endreim und die Orientierung an lyrischen Formtraditionen. Bereits in den frühen Tagebüchern manifestiert sich Lehmanns „Interesse an der offenkundigen Selbstgenügsamkeit der Natur unter Ausschluss des Men‐ schen“ (S CA R S E 2011, 98). Natur stellt dabei das „ideale, aber verlorene Paradies“ bereit, „nach dem Menschheit und Dichter streben, um die alte Einheit wiederzugewinnen“ (S CA R S E 2011, 98). Mythologische Figuren und Gestalten der abendländischen Weltliteratur treten in Lehmanns Gedichten in eine detailliert beschriebene Naturszenerie, wobei es zur Durchdringung von Natur und Kultur kommt. In Atemholen, das 1950 in dem Gedichtband Noch nicht genug publiziert wurde, wird zunächst in der ersten Strophe die Naturszenerie beschrieben: Der Duft des zweiten Heus schwebt auf dem Wege, Es ist August. Kein Wolkenzug. Kein grober Wind ist auf den Gängen rege, Nur Distelsame wiegt ihm leicht genug. (L E H M A N N 1950, 15) Im Hochsommer wird das Heu zum zweiten Mal geschnitten. Für dieses Erntegut hat sich in der Landwirtschaft der Fachbegriff ‚Grummet‘ ein‐ gebürgert. Grummet hat einen höheren Eiweißgehalt und ist insgesamt nährstoffreicher, weshalb man es intensiver trocknen muss als das Heu nach dem ersten Schnitt im Frühsommer. Dieser zweite Schnitt im Hochsommer ist nun soeben abgeschlossen, weswegen sein Duft noch auf dem Wege schwebt. Der olfaktorische Reiz wird mit Ruhe und sanfter Bewegung kombiniert: Die Wolken bewegen sich nicht und es windet kaum. Nur die Distelsamen sind leicht genug, um von dieser Sommerbrise getragen zu werden. Mittels der botanischen Begriffe, die nach 1945 als dichterisch Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 72 ‚unverbraucht‘ gelten, wird im Gedicht eine exakte Naturbeobachtung realisiert. Dabei scheint der in der Luft schwebende Distelsamen dazu zu führen, dass der Sprecher ein Gefühl der Welt-Entrückung erfährt. In der zweiten Strophe folgt daher die Absage an jegliche Form der Historie: „Der Krieg der Welt ist hier verklungene Geschichte“ (L E HMANN 1950, 15). Freilich handelt es sich um eine doppeldeutige Wendung: Mit dem „Krieg der Welt“ kann der Trubel und die Hektik des weltlichen Daseins gemeint sein. Im Kontext der Publikationszeit darf auch der Zweite Weltkrieg mindestens mitschwingen. Neben dem Sehsinn und dem Geruchssinn wird nun auch der Hörsinn angesprochen. Das Hören wird wieder aufgenommen, wenn der Sprecher in dieser idyllisch-weltabgewandten Sphäre feststellt: „Mozart hat komponiert, und Shakespeare schrieb Gedichte“ (L E HMANN 1950, 15, alle weiteren Zitate ebd.). Es folgt ein Imperativ, der einen Adressaten des Sprechers impliziert: „So sei zu hören sie bereit.“ Es werden jetzt jedoch keine Gedichte Shake‐ speares (1564-1616) rezitiert. Vielmehr werden literarische Figuren zum Leben erweckt. Neben Mozarts (1756-91) Don Giovanni sind es die Figuren Shakespeares, die in dieser idyllischen Naturszenerie auftauchen: „Bassanio rudert Portia von Belmont her“, „Timon von Athen und König Lear“ treten auf. Dieses Aufrufen der Figuren aus dem abendländisch-bürgerlichen Gedächtnis realisiert sich als gestufter Vorgang: Zunächst hört der Sprecher nur Don Giovannis Spiel, dann erscheinen tatsächlich Timon von Athen und König Lear, die sich „zu dir“ setzen. Das Du, das bereits im Imperativ als Adressat des Gesagten aufscheint, wird nun explizit angeredet. Ein Effekt dieser Du-Anrede ist, dass sich der Leser angesprochen fühlen dürfte, womit der Rezipient des Gedichts quasi mit in die Naturszenerie geholt wird. Diese Naturszenerie hat sich aber über das Aufrufen der literarischen und mythischen Gestalten bereits zu einer mythologischen Landschaft gewandelt. Diese mythologische Landschaft, die vom Sprecher erzeugt wird und in die der Leser nun eintaucht, funktioniert nach eigenen Raum- und Zeitgesetzen: Hat sich der Beginn des Gedichts schon durch Langsamkeit, Ruhe und eine gewisse Statik ausgezeichnet, kommt es in der Schlussstrophe zum Stillstand der Zeit. Sprecher und Leser werden in eine mythische Zeit gehoben: 2. Naturerfahrung 73 Die Zeit steht still. Die Zirkelschnecke bändert Ihr Haus. Kordelias leises Lachen hallt Durch die Jahrhunderte. Es hat sich nicht geändert. Jung bin mit ihr ich, mit dem König alt. (L E H M A N N 1950, 15) Sowohl die Zirkelschnecke als auch das durch die Jahrhunderte hallende Lachen, die über die Enjambements miteinander verbunden werden, sugge‐ rieren einen mythischen Naturkreislauf. Zeitpolitische Gegenwart und nahe oder ferne Vergangenheit werden nicht als relevant erachtet. Ihre Bedeutung für den Menschen wird relativiert. Orientierung bieten die Hochkultur (Mozart und Shakespeare) und eine ländliche, bäuerliche Landschaft, in der der Mensch noch in enger Verbindung mit dem Naturkreislauf steht. Natur, Kultur und Mythos werden im Gedicht als Einheit konstruiert. Hierauf verweist auch der abschließende Chiasmus, der den Ich-Sprecher als Teil der mythologischen Landschaft einsetzt und im Paradoxon kulminiert, dass das Ich sowohl jung als auch alt sei. Gleichzeitig wird auf diese Weise erneut die Zeit-Enthobenheit betont. Nach dem Zerfall der Einheit des Menschen kann diese Einheit nur in der Dichtung neu empfunden werden. Dabei bedient sich Atemholen eines konstant hohen Tons, der teilweise zu Spannungen zwischen pathetischer Form und banalem Inhalt führt. So erzeugt der folgende Kreuzreim eine womöglich ungewollte Komik: „Die Kühe rupfen. / Im Heckenausschnitt blaut das Meer. / Die Zither hör ich Don Giovanni zupfen“ (L EHMANN 1950, 15). Das Bild der grasfressenden Kühe überlagert sich mit Don Giovannis Gitarrenspiel. An dieser Stelle tendiert die Verquickung von Hochkultur und bäuerlicher Idylle ins Kitschige. In Lehmanns Lyrik kann man gewiss Eskapismus erkennen: die Flucht in die Natur. Oda Schäfer (1900-88) hat diesbezüglich vom „Trost in der Natur“ (S CHÄF E R 1977, 26) gesprochen, womit die Natur jedoch ihren rein eskapis‐ tischen Charakter verliert und die Funktion gewinnt, förmlich therapeutisch auf den Sprecher zu wirken. Womöglich wegen dieser Trostfunktion wurde Wilhelm Lehmann in der Bundesrepublik Deutschland mit Preisen und Ehrungen überhäuft. Erst nach seinem Tod, 1968, geriet sein Werk unter Ideologieverdacht: Zeigt sich hier eine kulturkonservative Denkweise, die sich jeglicher Politisierung verweigert? Ist diese Haltung in Anbetracht der Shoah nicht selbst eminent politisch? Lehmann wurde lyrischer Traditio‐ Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 74 nalismus vorgeworfen und unterstellt, er habe die Schrecken des Zweiten Weltkriegs verschwiegen. Das ist nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz richtig. Fermente des Kriegs finden sich auch in seinem Gedichtband Noch nicht genug (1950). Einerseits manifestiert sich hier eine leise Selbstkritik, in der die eigene Rolle innerhalb der Inneren Emigration thematisiert wird: „Die Toten schweigen in der Erde, / Geschwiegen habe ich wie sie“ (L EHMANN 1950, 16). Andererseits werden die Artefakte des Krieges als Stolpersteine in die Naturlandschaft gesetzt: „Ich stolpre über Flakstandsrest. / Brüllt sein Geschütz und taubt mein Ohr? “ (L E HMANN 1950, 16) Freilich werden diese Erinnerungsreste häufig von der Natur wieder eingehegt: „Wo Bomber stürzte, rostet Eisen, / Vergeßlich hüllt das Gras den Platz“ (L EHMANN 1950, 32). Insofern artikuliert sich in den Gedichten Lehmanns durchaus die Hoffnung auf ein Vergessen der Gräuel, das im Kontext der naturmagischen Linie öfters ins Verschweigen tendiert. Bertolt Brecht (1898-1956) hat ein solches Vorgehen in seinem Exilgedicht An die Nachgeborenen (1938) schon früh kritisiert: Was sind das für Zeiten, wo Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt! (B R E C H T 1988, 85) Das Schlussgedicht der Svendbørger Gedichte besteht aus drei Teilen, die 1934 als unabhängige Teile entstanden sind und sich auf die Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft beziehen. Es thematisiert im ersten Teil, der sich unter dem Eindruck der Exilerfahrung pessimistisch der Gegenwart widmet, „das Dilemma, in manchen Zeiten nicht mehr guten Gewissens vom Schönen und Angenehmen sprechen zu können“ (K ITT S T E IN 2012, 206). Mit diesem „lyrischen Rechenschaftsbericht“ (K ITT S T E IN 2012, 206) hat sich auch Lehmann auseinandergesetzt. Allerdings bleibt Lehmann seiner naturmagischen Linie treu, die im Sinne Brechts „ein Schweigen über so viele Untaten einschließt“. Die Nachfolger Loerkes und Lehmanns nehmen das Programm der na‐ turmagischen Schule zunächst auf. Ein wichtiges Publikationsorgan ist die Dresdner Literaturzeitschrift Die Kolonne, die seit 1929 von Martin Raschke (1905-43) und Adolf Karl Artur Kuhnert (1905-58) herausgegeben wurde, aber schon 1932 wieder eingestellt wurde. Günter Eich (1907-72) zählte in den Jahren 1931 und 1932 zu den Autoren, die in dieser Zeitschrift veröffent‐ 2. Naturerfahrung 75 lichten. Eich gehört zur zweiten Generation der naturmagischen Schule. Vor 1935 führt Eich die Linie, die Loerke und Lehmann begründet haben, nahezu ungebrochen weiter, wenn er beispielsweise in seinen Bemerkungen über Lyrik (1932) konstatiert: „Als die eigentliche Sprache erscheint mir die, in der das Wort und das Ding zusammenfallen. Aus dieser Sprache, die sich rings um uns befindet, zugleich aber nicht vorhanden ist, gilt es zu übersetzen. Wir übersetzen, ohne den Urtext zu haben. Die gelungenste Übersetzung kommt ihm am nächsten und erreicht den höchsten Grad an Wirklichkeit.“ (E ICH 1991, IV, 461) Eich wird sich in seiner Lyrik zunehmend von der naturmagischen Schule entfernen. Dabei wird die Orientierungsfunktion in seiner Poetik mehr und mehr von der Lyrik und der Sprache selbst übernommen, die konstruktivistisch Wirklichkeit erst herstellen. Elisabeth Langgässer (1899-1950) führt den naturmagischen Stil hingegen mit einem christlichen Deutungshorizont zusammen, wie es schon in den Gedichten Loerkes angelegt war. Skepsis gegenüber der naturmagischen Schule oder eine Abkehr von dieser Linie sind bei ihr nicht festzustellen. Karl Krolow (1915-99) wiederum unternimmt eine „Revision der Naturlyrik im Zeichen des Surrealismus“ (L AM PA R T 2013, 192). Stehen Krolows Gedichte in seinem Debütband Hochgelobtes gutes Leben noch stark im Bann der naturmagischen Schule, entfernt er sich in seiner Gedichtproduktion Ende der 1940er Jahre zusehends von dieser Tradition. Dieser poetologische Paradigmenwechsel wird ausgelöst durch die Reflexion der Möglichkeiten naturlyrischen Dichtens nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs (vgl. L AM P A R T 2013, 223). Natur wird in Krolows Gedichten nach 1945 einerseits zum Raum der Erlösung und Entlastung von geschichtlicher Schuld. Damit stehen seine Gedichte durchaus in der etablierten naturmagischen Linie, die über die Mythisierung der Natur eine Enthistorisierung betreibt. Ande‐ rerseits ist Natur der Erfahrungsraum einer durch Gewalterfahrung und Kriegstraumata geprägten Wahrnehmung. In der folgenden Analyse von Krolows Gedicht Die Kammer wird diese Ambivalenz deutlich werden, in der sich womöglich auch eine textimmanente Kritik an der naturmagischen Schule à la Loerke und Lehmann manifestiert. Auch die Gedichte Peter Huchels (1903-81) erscheinen ambivalent, wenngleich in ihnen Natur als mythischer Erfahrungsraum konstruiert wird, in dem sich die innere Ge‐ stimmtheit des Sprechenden manifestiert. Neben Huchel und Krolow wird in den folgenden Gedichtanalysen ein Gedicht von Johannes Bobrowski (1917-65) in den Mittelpunkt rücken. Hier wird insbesondere der Naturraum als Erinnerungsraum einer vergangenen Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 76 Zeit eingesetzt. Samartische Zeit, so der Titel von Bobrowskis Gedichtband von 1961, ruft sowohl einen mythischen Raum als auch eine mythische Zeit auf, die aber an eine konkrete Landschaft gebunden werden und als ‚vergessene‘ und ‚verlorene‘ Raum-Zeit in den Gedichten ‚gesucht‘ und ‚erinnert‘ wird. Die Gedichte in Samartische Zeit sind aber geprägt vom Scheitern dieser Such- und Erinnerungsbewegung. Insofern manifestiert sich in Bobrowskis Gedichten das Bewusstsein, „dass ein autonomer Natur‐ raum als poetische Gegenwart nichts anders als eine trügerische Illusion“ ist (K O R T E 2004, 39). Trost ist in der Naturerfahrung nicht mehr zu finden. Nach 1945 wird die Natur vor allem als ambiger Erfahrungsraum thematisiert. Die Natur fungiert als Zeichen innerer und emotiver Gestimmtheiten (Huchel). Allerdings sind die Zeichen der Natur für den Dichter nur noch bedingt lesbar. Kombiniert wird diese Ambivalenz mit kollektiv anschlussfähigen Entfremdungserfahrungen und einer Kritik an der naturmagischen Schule (Krolow). Gleichzeitig bleibt die Naturerfahrung weiterhin der Katalysator, um eine zeit- und raumübergreifende Geschichtserfahrung zu artikulieren, wenngleich sie zum Scheitern verurteilt scheint (Bobrowski). 2.2. Peter Huchel: Melancholische Naturerfahrung Bereits 1925 veröffentlicht Peter Huchel erste Gedichte. Anfang der 1930er Jahre bereitet er einen ersten Gedichtband unter dem Titel Der Knabenteich zur Drucklegung vor. Geplant ist eine Veröffentlichung im Jess-Verlag (Dresden). Huchel unterbindet den Druck jedoch und zieht den Band zurück. Die Gründe hierfür sind nicht eindeutig geklärt. Möglicherweise wollte es Huchel vermeiden, dass der Gedichtband mit seinen Kindheits- und Landschaftsgedichten von der Blut-und-Boden-Ideologie der Nationalsozia‐ listen vereinnahmt wird, wie Axel Vieregg argumentiert (vgl. V I E R E G G 2009, 621-624). Man hätte die Publikation als Akt der Affirmation, so Vieregg, missverstehen können. Allerdings vollzieht Huchel damit keinen Rückzug aus dem literarischen Leben Deutschlands (vgl. P A R K E R 1998, 162 f.). Denn er publiziert nach 1933 weiter: Einzelne Gedichte und kleinere Prosatexte werden in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften untergebracht (u. a. in Der weiße Rabe, Die Dame, Das Innere Reich, Die literarische Welt), dazu schreibt Huchel 19 Hörspiele. 1941 wird er eingezogen. Im April 1945 setzt er sich von seiner Flak-Einheit in Berlin ab und gerät in sowjetische Kriegsge‐ fangenschaft. Noch während seiner Gefangenschaft wird er beauftragt, eine Hörspielabteilung im Berliner Haus des Rundfunks einzurichten. Huchel 2. Naturerfahrung 77 wird Sendeleiter und künstlerischer Direktor des sowjetisch lizensierten Berliner Rundfunks und 1949 dann Chefredakteur der von Johannes R. Be‐ cher (1891-1958) gegründeten Zeitschrift Sinn und Form, die er maßgeblich prägt. Wegen der Texte, die er in der Zeitschrift aufnimmt und die oft nicht der ideologischen Linie der DDR entsprechen, gerät er immer wieder unter Druck. So muss Bertolt Brecht 1953 gegen eine Absetzung Huchels intervenieren. Als Huchel nicht bereit ist, den Fontane-Preis West-Berlins abzulehnen (den Fontane-Preis Ost-Berlins hat er bereits 1955 erhalten), wird er 1962 als Chefredakteur geschasst und erhält ein Publikations- und Reiseverbot. Erst 1971 wird ihm nach Intervention des Internationalen PEN-Zentrums die Ausreise erlaubt. Nach einem Jahr in der Villa Massimo in Rom kommt Huchel nach Westdeutschland, wo er 1981 in Staufen stirbt. Huchel hat zu Lebzeiten nur fünf Gedichtbände veröffentlicht. Manu‐ skripte wurden von ihm in der Regel vernichtet. Den ersten eigenständigen Gedichtband publiziert er erst 1948. Auffällig ist, dass Huchel einzelne Gedichte mehrfach ‚nutzt‘ und beständig überarbeitet. Dies gilt insbeson‐ dere für die frühen Gedichte, mit denen er sich immer wieder befasst. Sein Band Gedichte (1948) enthält Gedichte, deren Entstehung teilweise bis in die 1920er Jahre zurückgeht. Aus dem vom Druck zurückgezogenen Band Der Knabenteich übernimmt Huchel 17 Gedichte und arbeitet sie teilweise um; zehn weitere Gedichte wurden zwischen 1930 und 1941 bereits in Zeitschriften und Zeitungen publiziert. In diesen frühen Gedichten sind die zentralen Motive angelegt, die sich durch Huchels Gesamtwerk ziehen. Von besonderer Bedeutung sind dabei seine Kindheitserinnerungen und ihre lyrische Überformung. Aufgrund einer Lungenerkrankung seiner Mutter kommt Huchel 1907 mit vier Jahren auf den landwirtschaftlichen Hof seiner Großeltern in Alt-Langerwisch bei Potsdam. Die Magd Anna übernimmt bei der Betreuung des Enkels die Hauptaufgaben. Die Jahre auf dem Hof prägen Huchel auch poetisch. Neben zahlreichen Gedichten, die das dörflich-bäuerliche Leben thematisieren, finden sich auch programmatische Titel (Kindheit in Alt-Langerwisch oder Herkunft). Auf diese biografische Situation wurde Huchels Naturlyrik auch von ihm selbst zurückgeführt. Im Interview mit Karl Corino sagte Huchel: Ich kann nicht [sic! ] dafür, diese Naturmetaphern drängen sich mir immer wieder auf, selbst wenn ich Stoffe wähle, die eine Konfrontation mit der Gesellschaft bedeuten. Für mich sind sie legitim. Ich habe eine Kindheit auf dem Lande verlebt, und die Natur war für mich nicht mehr die heile, die absolute Natur, sondern Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 78 es war für mich die vom Menschen veränderte Natur, in der er leben konnte. (H U C H E L 1984, II, 393) Huchel hat sich nur äußerst spärlich zu seiner Poetik geäußert. Als Wer‐ bemaßnahmen zu Der Knabenteich wurden allerdings Selbstanzeigen veröf‐ fentlicht, die einen poetologischen Einblick erlauben. Huchel fordert, dass man sich den Versen „ohne jede Programmforderung“ nähern solle (H U CH E L 1984, II, 243). Dabei macht er bereits auf die Verschränkung von persönlichen Kindheitserinnerungen, historischen Ereignissen und Naturlandschaften aufmerksam: „Denn zeitnah sind die Gedichte nur zum Teil, nämlich sofern es ihnen gelungen ist, die vergangene Zeit wieder gegenwärtig zu machen.“ (H U CHE L 1984, II, 243) Weniger relevant sei die visuelle Wahrnehmung; die Gedichte zielen vielmehr auf akustische und olfaktorische Reize: Die Gedichte sind „nicht so sehr gesehen“, sie sind vielmehr „gehört“, „gerochen“ und „geschmeckt“ (H U CH E L 1984, II, 245). Erst so könne in den Texten die „Kindheit wieder sichtbar werden“, als ein „Stück Natur“ (H U CHE L 1984, II, 243 f.). Dass es ihm nicht um eine dokumentarische Darstellung der persönlichen Kindheitserfahrungen geht, wird von Huchel deutlich heraus‐ gestrichen. Zwar greift er auf persönliche Erinnerungen und Erfahrungen zurück, die er auf dem Hof seiner Großeltern machen konnte, doch werden sie naturbildlich überformt und durch ‚mythische‘ Elemente ergänzt. Eine in seiner Dichtung wiederkehrende Figur ist die Magd, die man nicht einfach mit der historischen Person seiner Kindheit gleichsetzen kann. Vielmehr überlagern sich in der lyrischen Bildlichkeit auch Mutterfigurationen, wie sie Johann Jakob Bachofen (1815-87) in Das Mutterrecht (1861) schilderte (vgl. V I E R E G G 1976, 94-102). In Huchels Gedichten geht es nicht nur um die Zeit, die man erinnert, sondern auch um „die Zeit davor, die nicht mehr so hell im Bewußtsein“ vorhanden ist (H U CH E L 1984, II, 246). Die lyrischen Texte entfalten ein Eigenleben, wenn in ihnen die „vorhandene und doch einmal gelebte Welt“ aufscheint, „die erste Kindheit, die ‚mutternackte Frühe‘, in die die Gedichte, wenn auch sehr dunkel, hindurch vorzustoßen suchen. […] [D]enn nicht wir rufen das Vergangene an, das Vergangene ruft uns an.“ (H U CH E L 1984, II, 246) Insofern ist Fabian Lampart zuzustimmen, wenn er konstatiert, dass Huchel die „ahistorisch-mythologische Kindheitslandschaft“ in die geschichtliche Erfahrung integriert habe (vgl. L AM PA R T 2013, 181). Es geht nicht darum, die Natur akribisch darzustellen, sondern Kunstbilder zu erzeugen, „die auf den Menschen eindring[en] und ihn in sich hineinzieh[en]“ (H U CH E L 1984, 2. Naturerfahrung 79 II, 249). Huchels Lyrik ist eine Kunstsprache, die über die Verwendung bestimmter Naturbilder, mythologischer und literarischer Bezüge wohl auf eine „Privatmythologie“ zurückzuführen ist, die ihrerseits auf der mysti‐ schen Tradition Jakob Böhmes (1575-1624) gründet (vgl. V I E R E G G 1976). Die Natur, als Zeichen der äußeren sichtbaren Welt, wäre als Veräußerung einer innerlich-geistigen Welt zu deuten (vgl. A LLK EM P E R 1994, 471). Gleichzeitig sind Huchels Gedichte stets mit einer historischen Signatur versehen, worauf er selbst immer wieder hingewiesen hat. Besonders deut‐ lich wird dies im Band Gedichte an Texten wie Der polnische Schnitter: Bei diesem Rollengedicht, das die Sicht eines polnischen Wanderarbeiters einnimmt, wird die Situation des Besitzlosen geschildert: „Acker um Acker mähte ich, / kein Halm war mein eigen.“ (H U CH E L 1984, I, 54) Der Ich-Spre‐ cher, der auf der Suche nach Arbeit seine Heimat verlassen hat, befindet sich auf dem Heimweg. Ein Leitmotiv ist hierbei die ‚Chaussee‘, die zweimal im Gedicht erwähnt wird und verdeutlicht, wie eng gespannt das lyrische Netz von Huchel ist, denn schließlich sind die „Chausseen“ für seinen zweiten Gedichtband titelgebend. Die Heimatverbundenheit und die Sehnsucht des polnischen Schnitters werden über die verwendeten Naturbilder nachdrück‐ lich erzeugt. Huchel hat dieses Gedicht dafür genutzt, um sich als linker Dichter zu positionieren (vgl. H U CH E L 1984, II, 376). Mit dieser Positionierung ist eine deutliche Distanzierung vom Kolonne-Kreis und von der naturmagischen Schule verbunden. Fritz Erpel (1929-2010), Redakteur der Zeitschrift Sinn und Form unter Huchel, stellte fest: „Es ließe sich leicht nachweisen, daß er nicht zu der Reihe Wilhelm Lehmann bis Karl Krolow gehört […]“ (H U CH E L 1984, II, 348). Im Gedicht Oktoberlicht, das zwar in Huchels Gedichtband aus dem Jahr 1948 aufgenommen wurde, doch bereits 1932 in der Zeitschrift Die Kolonne veröffentlicht wurde, wird deutlich, dass Huchel gleichwohl ästhetisch an der naturmagischen Schule partizipierte. Auch wenn das Gedicht nicht nach 1945 entstanden ist, wirkt es doch auf das literarische Feld dieser Zeit. Oktoberlicht Oktober, und die letzte Honigbirne hat nun zum Fallen ihr Gewicht, die Mücke im Altweiberzwirne schmeckt noch wie Blut das letzte Licht, 5 das langsam saugt das Grün des Ahorns aus, Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 80 als ob der Baum von Spinnen stürbe, mit Blättern, zackig wie die Fledermaus, gesiedet von der Sonne mürbe. Durchsüßt ist jedes Sterben von der Luft, 10 vom roten Rauch der Gladiolen, bis in den Schlaf der Schwalben wird der Duft die Traurigkeit des Lichts einholen, bis in den Schlaf der satten Ackermäuse poltert die letzte Walnuß ein, 15 die braun aus schwarzgrünem Gehäuse ans Licht sprang als ein süßer Stein. Oktober, und den Bastkorb voll und pfündig die Magd in Spind und Kammer trägt, der Garten, nur von ihrem Pflücken windig, 20 hat sich ins müde Laub gelegt, und was noch zuckt im weißen Spinnenzwirne, es flöge gern zurück ins Licht, das sich vom Ast die letzte Birne, den süßen Gröps des Herbstes bricht. (H U C H E L 1984, I, 60) Auffällig ist die exakte Naturbeschreibung, die verschiedene Wahrneh‐ mungskanäle anspricht. Die visuelle Dimension wird über den Titel des Gedichts aufgerufen. Die folgenden Naturbilder verweisen dagegen auf gustatorische, taktile und olfaktorische Wahrnehmungen. Der Zeitpunkt des Sprechens ist ebenfalls über den Titel und die locker anaphorische Struktur der ersten und dritten Strophe konkretisiert: Es ist Oktober, die Obsternte steht an. Die Kommunikationssituation ist eher unterbestimmt. Es spricht kein Ich, vielmehr wird eine Art Momentaufnahme eines be‐ stimmten Zeitpunkts über Naturbilder von einer nicht näher konkretisier‐ ten Sprechinstanz evoziert. In der ersten Strophe sind es drei Bilder, die aufgerufen werden: Zum einen wird die Honigbirne im Endpunkt ihres Wachstumsprozesses geschildert. Sie „hat nun zum Fallen ihr Gewicht“ (v. 2), gefallen ist sie jedoch noch nicht. Thematisch werden damit das Hinscheiden und Vergehen angesprochen, die im lyrischen Motiv der Birne oft verhandelt werden. Theodor Fontane (1819-98) stellt in Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland (1889) im Birnen-Motiv den Prozess von Vergehen 2. Naturerfahrung 81 und Aufgehen dar. Friedrich Hölderlin (1770-1843) ist in Hälfte des Lebens (1804) weitaus pessimistischer, wenn die Birne zum Motiv der Erkenntnis der Vergänglichkeit im Moment der Schönheit wird: „Mit gelben Birnen hänget / Und voll mit wilden Rosen / Das Land in den See“ (H ÖLD E R LIN 1992, I, 320). Huchels Gedicht, dies sei an dieser Stelle bereits gesagt, führt eher die Linie von Hölderlin weiter. Das zweite Bild zeigt eine Mücke, die die letzten Sonnenstrahlen auskos‐ tet. Die Alliteration und der Vergleich (sie „schmeckt noch wie Blut das letzte Licht“, v. 4) deuten genau wie der „Altweiberzwirne“ (v. 3), den die Mücke trägt, auf die Vergänglichkeit und das bevorstehende Ende ihres Lebens hin. Möglicherweise rekurriert der Neologismus auch darauf, dass die Mücke in einem Spinnennetz gefangen ist. Denn „Altweiberzwirne“ verweist auf eine bestimmte Jahreszeit: Oktober als letzter Monat des ‚Altweibersommers‘. Die Bezeichnung ‚Altweibersommer‘, der einen milden Herbst mit stabiler Hochdruckphase meint, geht auf die durch die Luft segelnden Spinnfäden der Baldachinspinnen zurück: Die zahlreichen Spinnennetze, die sich in Bäumen und Büschen verfangen, würden an das graue Haar alter Frauen erinnern. Vielleicht ist die Mücke durch so einen schwebenden Faden geflogen und nun von diesem eingehüllt. Oder sie ist in einem Spinnennetz im Baum gefangen. Schließlich verweist die folgende ‚als-ob‘-Formulierung darauf, dass der Baum förmlich von Spinnennetzen eingehüllt zu sein scheint und diese die Lebenskraft des Baumes entziehen: „als ob der Baum von Spinnen stürbe“ (v. 6). Das dritte Bild verbindet sich insofern mit dem zweiten, als das „letzte Licht“ (v. 4) eine Verknüpfung zwischen Mücke und Ahornbaum bildet: Der Ahorn ist noch beblättert, wobei die Sonne bereits die grüne Farbe der Blätter „langsam“ (v. 5) aussaugt. Auch hier ist der Prozess des Verfalls schon ablesbar und wird von der Sprechinstanz in eine unheimlich anmutende Beschreibung überführt: Das charakteristische Laub des Ahorns wird mit Fledermäusen verglichen. Flora und Fauna stehen ein letztes Mal in voller Pracht, wobei ihre Vergänglichkeit deutlich erkennbar ist. Es scheint der letzte Altweibersommertag zu sein. Der Umschlag der Jahreszeiten steht unmittelbar bevor. Dass dies wiederum ein natürlicher Prozess ist, deutet der Schlussvers der ersten Strophe an (v. 8). In der ersten Strophe wird ein unabwendbarer Prozess geschildert, der die Hoffnung auf eine Wiederkehr des Lebens nicht explizit thematisiert. Die Sprechinstanz beschreibt ausschließlich das bevorstehende Ende des Sommers, das sich im Oktoberlicht wie in einem Spiegel bricht. Sowohl die Rahmung des Gedichts über die zentralen Motive (Oktober und Birne, die in Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 82 der letzten Strophe wieder aufgenommen werden) als auch die regelmäßige Struktur des Gedichts lassen allerdings nicht eindeutig auf eine immanente Zyklizität schließen. Die durchgängigen Kreuzreime und die vierhebigen Verse werden lediglich durch den Wechsel von Daktylen und Jamben und einer wechselnden Silbenzahl aufgelockert. Dabei bestehen die einzelnen Verse aus acht, neun, zehn oder elf Silben, die erst in der letzten Strophe eine annähernd regelmäßige Anordnung finden: Elf und acht Silben alternieren in den ersten vier Versen, der fünfte Vers der letzten Strophe beginnt erneut mit elf Silben, wobei sich die Verslänge dann plötzlich verkürzt. Der Schlussvers des Gedichts hat nur noch acht Silben. Nicht der Zyklus von Leben und Vergehen steht hier im Zentrum, sondern der Moment des Umschlags. Dies wird auch als Folgerung aus den drei Bildern der ersten Strophe in der zweiten Strophe expliziert, die eine Art Reflexions‐ moment der Sprechinstanz markiert. Das bevorstehende Sterben scheint omnipräsent zu sein und wird zunächst über olfaktorische Reize aufgerufen: „Durchsüßt ist jedes Sterben von der Luft, / vom roten Rauch der Gladiolen“ (v. 9 f.). Die Alliteration erzeugt einerseits eine Synästhesie. Andererseits werden so auch die erste und die zweite Strophe verbunden, da sich auch das Licht möglicherweise rot färbt - die Tage im Oktober sind kürzer und es kommt im Altweibersommer wesentlich früher zu den charakteristischen rotgefärbten Sonnenuntergängen. Insofern ist der Moment des Übergangs nicht nur auf der Ebene der Jahreszeiten und der Flora und Fauna, sondern auch auf der sinnbildlichen Ebene von Tag zu Nacht im Gedicht thematisiert. In diesem Kontext wäre auch die „Traurigkeit des Lichts“ (v. 12) zu erklären: Die Personifikation könnte die nachlassende Kraft des Lichts oder gar die Dämmerung poetisch beschreiben. Die Gladiole, die häufig als Symbol für Kraft und Sieg firmiert (wegen des aufrechten Wuchses und ihrer spitzen Blütenblätter wurde sie nach dem römischen Kurzschwert ‚Gladius‘ benannt), ist Ausgangspunkt des sich verbreitenden ‚süßen Dufts des Sterbens‘. Im Bild des todbringenden Gladiolendufts versteckt sich zudem der Krieg; ein Bild, das im Kontext der Publikationszeit sicherlich mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg verstanden werden konnte. Ferner deutet Gladiolenduft darauf hin, dass das Vergehen nicht nur unmittelbar bevorsteht, sondern auch zwingend ist. Verdeutlicht wird es durch die anaphorische Struktur der Verse 11 und 13. In dem „Schlaf der Schwalben“ (v. 11) ist der ‚Duft des Sterbens‘ wahrnehmbar und „in den Schlaf der satten Ackermäuse“ (v. 13), die sich für den bevorstehenden Winterschlaf satt gefressen haben, „poltert die letzte Walnuß“ (v. 14). Ist die 2. Naturerfahrung 83 Birne in der ersten Strophe noch nicht gefallen, schlägt die harte Walnuss als Zeichen des endgültigen Sommerendes in den Schlaf der Tiere hinein. Das Motiv des Schlafens, der Ruhe und des Ruhens wird dann in der dritten Strophe weitergeführt. Hier erfolgt zunächst ein Perspektivenwech‐ sel. Nicht die Natur steht im Mittelpunkt, sondern der Mensch, der die Ernte einbringt. Es ist die Magd (v. 18), die „den Bastkorb voll und pfündig“ (v. 17) „in Spind und Kammer trägt“ (v. 18). Die letzte Bewegung im Garten markiert die vollzogene Ernte. Lediglich die getane Arbeit der Magd bewegt noch das Gras. Das Bild des ‚müden Laubs‘ partizipiert am Themenkomplex des Ruhens, der in der dritten Strophe betont wird. Es liegt nahe, den Wechsel von Tag zu Nacht hier bebildert zu sehen. Gleichzeitig verweist die Formulierung möglicherweise darauf, dass das Laub langsam in sich zusammenfällt. Syntaktisch mehrdeutig scheinen die ersten vier Verse in Bezug auf das Subjekt, das „sich ins müde Laub gelegt“ (v. 20) hat. Durch die hypotaktische Satzstruktur erwägt man zunächst, dass sich die Magd ins Gras gelegt habe. Satzlogisch ist es aber „der Garten“ (v. 19), der als totum pro parte sowohl die Nachtruhe als auch das Vergehen alludiert. Am Ende des Gedichts werden die Bilder des Anfangs aufgenommen. Denn das, „was noch zuckt im weißen Spinnenzwirne“ (v. 21), ist möglicher‐ weise die Mücke, die „gern zurück ins Licht“ (v. 22) flöge. Während sich die Mücke aus dem Spinnennetz zu befreien sucht, fällt die „letzte Birne“ (v. 23) vom Ast. Dabei wird das Licht personifiziert und zum Agens des ‚Birnen-Brechens‘. Nicht die Magd hat die Birne geerntet, sondern der letzte Sommertag. Deutlich dürfte sein, dass das Gedicht eine Momentaufnahme in detailliert beschriebenen und symbolisch aufgeladenen Naturbildern prä‐ sentiert. Der Mensch ist Teil dieser kultivierten Natur, die auf der Schwelle zum Vergehen steht: Zu Beginn des Gedichts wird die kurz vor dem Fall stehende Birne beschrieben, die in den letzten beiden Versen des Gedichts dann tatsächlich fällt. Mit dem Bild der fallenden Birne endet das Gedicht. Aussicht auf einen Neubeginn und eine zyklische Wiederkehr von Aufgehen und Vergehen oder Leben und Tod, wie es Fontanes Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland lyrisch ausformuliert, wird nicht artikuliert. Vielmehr wird im gesamten Gedicht eine melancholische Atmosphäre erzeugt, die die Hoffnung auf die Rückkehr des Sommers nicht explizit ausspricht. Martin Raschke, der 1932 in Folge der Verleihung des Kolonne-Preises an Peter Huchel eine recht kritische Analyse der frühen Gedichte vorgelegt hat, gelangt zu der Einsicht, dass „die Welt Peter Huchels alles andere als gestrig“ sei, da „die Gedichte wie von einem Traume zu sprechen scheinen“, Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 84 der nicht direkt empfunden, sondern bereits als Illusion ausgestellt werde (R A S CHK E 1973, 159). Huchels Gedichte liefern keine simple Naturbeschrei‐ bung. Vielmehr konstruieren sie artifizielle Naturbilder, die auf eine innere Gestimmtheit von durchaus überindividueller Bedeutung verweisen. Hu‐ chels Naturerfahrung ist gebrochen: Wie der „Knabe eine bunte oder blakige Glasscherbe gegen den Horizont hält“, um das Licht zu brechen, werden die Naturbilder als Spiegel eingesetzt, um innere Gestimmtheiten lyrisch zu artikulieren (H U CH E L 1984, II, 245). Raschke sieht hierhin eine Gefahr der Huchel’schen Lyrik: Denn die Worte „erzeugen, richtig ausgesprochen, im Dichtenden und in dem gleichgestimmten Leser einen rauschartigen Zustand des Verbundenseins mit dem Urgrund aller Wesen, eingehüllt in einen dumpfen sinnlichen Geruch.“ (R A S CHK E 1973, 157) Huchels Gedichte werden diese Brechung der lyrischen Naturerfahrung weiterführen. Hat die Naturerfahrung in der Sammlung Gedichte noch eine gewisse poetische Autonomie, verliert sie sie im Folgeband Chausseen Chausseen (1963). Die Natur avanciert zum stummen Zeugen, der nicht mehr zu deuten ist. Die Ödnis und Leere, die am Ende von Oktoberlicht nur indirekt über das Ende des Altweibersommers in den Blick geraten, stehen fortan im Zentrum der Gedichte. So hebt das Eingangsgedicht von Chausseen Chausseen an: Baumkahler Hügel, Noch einmal flog Am Abend die Wildentenkette Durch wäßrige Herbstlust. War es das Zeichen? (H U C H E L 1984, I, 113) Die Natur repräsentiert nur noch eine Leerstelle und ist folglich unlesbar. Sie ist ein Zeichen, das zu deuten ist. Dies wird von Huchel über eine stärkere Einschreibung des Menschen in die Natur weiter ins Bild gesetzt, weswegen sich seine Gedichte immer weiter einer gewissen Hermetik annähern und die verwendeten Naturbilder zur Polysemie tendieren: Wer schrieb, Die warnende Schrift, Kaum zu entziffern? Ich fand sie am Pfahl, 2. Naturerfahrung 85 Dicht hinter dem See. War es das Zeichen? Erstarrt Im Schweigen des Schnees, Schlief blind Das Kreuzotterndickicht. (H U C H E L 1984, I, 114) 2.3. Karl Krolow: Natur als Bedrohung des Subjekts Für die unmittelbare Nachkriegszeit ist die Bedeutung Karl Krolows (1915- 99) kaum zu überschätzen. Er stammt aus einer Beamtenfamilie und wächst in Hannover auf. Nach dem Studium der Germanistik, Romanistik und Kunstgeschichte in Göttingen und Breslau arbeitet Krolow zielbewusst auf eine Schriftstellerlaufbahn hin und befasst sich mit literaturkritischen Schriften, Übersetzungen und mit dem Verfassen eigener Lyrik. Krolow feiert seinen literarischen Durchbruch unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Zwischen 1948 und 1959 werden insgesamt sieben Gedichtbände publiziert: Gedichte (1948), Heimsuchung (1948), Auf Erden (1949), Die Zeichen der Welt (1952), Wind und Zeit (1954), Tage und Nächte (1956), Fremde Körper (1959). Für seine lyrische Produktion erhält er 1956 den Georg-Büchner-Preis. Daneben ist er wegen seiner Übersetzungen ein wichtiger Literaturvermittler im Nachkriegsdeutschland. Er übersetzt Werke des spanischen und französischen Surrealismus und ist damit ein wesentlicher Antreiber einer deutschen Moderne-Rezeption, die aufgrund der nationalsozialistischen Kulturpolitik zeitversetzt stattfindet. Aus diesen Gründen rechnet Harald Hartung (*1932) Krolow noch 1985 zu den „füh‐ renden Vertretern der deutschen Nachkriegslyrik“ (H A R TUN G 1985, 163 f.). Lediglich Paul Celan (1920-70) sei in seiner literarischen Bedeutung mit Krolow vergleichbar. Aus heutiger Sicht ist Hartungs Einschätzung wohl überholt. Die Gedichte Krolows zählen gewiss nicht mehr zum Kanon der deutschsprachigen Nachkriegslyrik - ganz im Gegensatz zu den Texten Celans. Dies hat seine Gründe. Zum einen ist Krolows Involviertheit in den nationalsozialistischen Kulturapparat mittlerweile akribisch aufgearbeitet (vgl. D O NAHU E 2002). Krolow, der sich nach 1945 als apolitischer Artist inszenierte, tritt 1937 in Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 86 die NSDAP ein, publiziert in streng nationalsozialistischen Zeitschriften wie Das Reich und bemüht sich mehrfach um die Aufnahme in die Reichs‐ schrifttumskammer (vgl. S A R K OWICZ / M E NTZ E R 2000, 252). Zum anderen sind Krolows Gedichte nach 1945 oft betont ahistorisch und vage in ihrem Bedeutungsgehalt. Ein Beispiel für die aus heutiger Sicht irritierende Vagheit der Krolow’schen Gedichte bietet Die Kammer. Das Gedicht stammt aus seinem ersten eigenständigen Gedichtband, der nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erscheint, und wurde bereits 1943 geschrieben. Es ist Herbert Grünhagen (1897-1989) gewidmet. Grünhagen war ein mit Krolow bekannter Schriftsteller, der nach seiner frühzeitigen Pensionierung als Zollbeamter 1937 unter dem Pseudonym Peter Flambusch Gedichte veröffentlicht und sich in eigenständigen Schriften mit Wetter und Naturlandschaft auseinandersetzt. 1942 publiziert Grünhagen beispiels‐ weise eine Kleine Wetterpraktik. Vom Spähen und Schauen. Vom Wind und den Wolken und kurz darauf eine Wetterkunde für den Wanderer (1948). Er übersetzt Gedichte Walt Whitmans (1819-92) und ist maßgeblich durch die Wandervogelbewegung geprägt. Aus welchen Gründen Grünhagen mit knapp 40 Jahren pensioniert wurde, ist ebenso ungeklärt wie sein Verhältnis zu Krolow. Auch wenn Grünhagen heute sicherlich kein bekannter Schriftsteller mehr sein dürfte, ist die Widmung für den Band Gedichte (1948) aussage‐ kräftig. Denn bereits über diese soziale Konstellation wird die Naturlyrik aufgerufen. Hans Egon Holthusen (1913-97) erkennt in Krolow daher auch einen ‚Schüler Lehmanns‘ (H O LTHU S E N 1972, 11). Gleichzeitig markiert Holthusen eine Differenz zur Lyrik Lehmanns: Aber er [Krolow] hat sich, von den fantastischen Ereignissen der Zeitgeschichte erschüttert, sehr bald auf Gebiete vorgewagt, die Lehmann sein Leben lang ge‐ mieden hat und wohl niemals betreten wird. Die Erlebnisse Krieg und Nachkrieg sind in seine Verse eingedrungen, gewisse intellektuelle Schwindelerlebnisse, die dem Nur-Idylliker fremd sind, haben ihn überwältigt. (H O L T H U S E N 1972, 11) Diese Spannung von naturmagischer Tradition und ‚Kriegserlebnissen‘ wird von Krolow nun in besonderer Weise lyrisch realisiert. 2. Naturerfahrung 87 Die Kammer für Herbert Grünhagen Den Schlaf hab ich in ihr gesucht, Gesicht zur Wand gedreht. Den Wurm im Holz hab ich verflucht, Die Uhr, die Stunden mäht. 5 Ich nahm den Ruch vom Phlox herein Tagsüber, mir zur Lust. Im Fenster ward der Widerschein Der Wiese mir bewußt. Es gitterte das Walnußlaub 10 Sich grün ums Glas mit Milch. Ich wusch die Bank, ich trieb den Staub Vom Tisch und aus dem Zwilch. Der Schatten, der mir ins Gesicht Und auf die Hände fiel, 15 Verriet sich mir beim Kerzenlicht Im trüben Spiegelspiel. Ich las die Schrift, ich fand das Wort, Das ohne Sinn mir blieb, Und tat die dunklen Bücher fort 20 Und ging und hatte lieb. Ich strich das Laken mit der Hand Und griff in kühle Luft, Betastete den Tellerrand, Sog ein den sauren Duft 25 Von Brot und Schnaps, gemischt von fern Mit würzgem Fleisch vom Schöps. Ich streute listgen Vögeln gern Den süßen Birnengröps. Weich fühlte ich wie Gräserhaar 30 Den Nacken einer Frau. Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 88 Ich schmeckte Haut, die bitter war. Den Mond sah ich genau, Der böse an den Scheiben hing. Er war mir nicht geneigt. 35 Der groß durch meine Kammer ging, Hat Kummer mir gereicht. Er brannte meine Augen leer, Hat Bett und Stuhl bedroht, Ließ auf dem trocknen Tisch nichts mehr 40 Als harte Krumen Brot. (K R O L O W 1989, 48 f.) Mit der Sammlung Gedichte präsentiert Krolow lyrische Texte, die regelmä‐ ßig gebaut sind und sich an bestehenden lyrischen Traditionen orientieren. Die Gedichte besitzen geordnete Strophen- und Reimformen. Zumeist be‐ stehen die Strophen aus vier oder fünf Versen, die in der Regel im Kreuzreim gehalten sind. Zahlreiche Gedichte imitieren romantische Gedichtformen, die beispielsweise über die Volksliedstrophe Eingängigkeit, Sangbarkeit und Einfachheit erzeugen. Auch im vorliegenden Gedicht findet sich ein regelmäßiges und eingängiges Versmaß: Es handelt sich um alternierende jambische Vier- und Dreiheber. Die Kadenzen sind durchweg stumpf. Ab‐ weichungen sind nicht zu konstatieren, weswegen das Gedicht stark rhyth‐ misiert wirkt. Allerdings thematisieren die zehn Strophen eine ambivalente Ich-Situation, die im Spannungsverhältnis zu Einfachheit und Dynamik dieser lyrischen Form steht. Im Zentrum steht die Evokation einer subjektiv empfundenen Entfremdungs‐ erfahrung (vgl. B O Y K E N 2016, 145-163). Typisch für die frühen Gedichte Krolows ist, dass die Sprechsituation sehr konkret zu rekonstruieren ist. Ein Ich befindet sich in einer Kammer und versucht vergeblich zu schlafen (vgl. v. 1-4). Zunächst rücken die visuellen und akustischen Störmomente ins Zentrum. Können die visuellen Irritationen relativ einfach ausgeschaltet werden, indem sich das Ich mit dem Gesicht zur Wand dreht, ist es mit den akustischen Belästigungen ungleich schwerer: Das Ich wird vom Holzwurm und vom Ticken der Uhr wachgehalten. Insbesondere das Bild der tickenden Uhr, die „die Stunden mäht“ (v. 4), verweist bereits programmatisch auf das barocke Motiv des memento mori. Sowohl die tickende Uhr als auch der nagende Holzwurm stehen sinnbildlich für 2. Naturerfahrung 89 die verrinnende Lebenszeit des Ich-Sprechers. Mit dem sich ins Holz fressenden Wurm wird möglicherweise auch schon eine Art Schuldhaftigkeit angezeigt, wenn man beispielsweise an die stehende Wendung denkt, dass etwas am Gewissen ‚nagt‘. Ob der Ich-Sprecher jedoch Schuld auf sich geladen hat und welche Art von Schuld dies sein könnte, wird vom Gedicht nicht expliziert. Gleichwohl markieren Holzwurm und tickende Uhr eine gewisse Gereiztheit der wahrnehmenden Person. Beides sind eigentlich keine massiven Störquellen für den Schlaf. Woraus diese Gereiztheit resultiert, wird im Gedicht nicht erörtert. Sie ist vielmehr vorausgesetzt und lässt sich nur indirekt über die Schlaflosigkeit des Sprechers erschließen. Wichtig ist dabei, dass Holzkäfer und tickende Uhr in einem engen Bezugsverhältnis stehen: Der holzfressende Käfer korrespondiert in seiner Bewegung mit der Zeit ‚mähenden‘ Uhr. Der Käfer frisst sich ins Holz. Von außen bleibt das Bett unbeschadet, von innen wird es langsam ausgehöhlt. Dieses Verhältnis von Innen und Außen ist für das Gedicht strukturbildend. Denn das Ich im Inneren der Kammer wird durch von außen kommende olfaktorische Reize bedrängt. Die Sprechinstanz nimmt „den Ruch vom Phlox“ (v. 5) wahr, der tagsüber zwar Lust bereitet, nachts aber ablenkt und stört. Aufgrund des Geruchs der Flammenblumen imaginiert das Ich die Wiese außerhalb der Kammer. Allerdings ist es lediglich der „Widerschein / Der Wiese“ (v. 7 f.) im Fenster, der ins Bewusstsein des Ich dringt. Es handelt sich also um eine indirekte Wahrnehmung: Nicht die Wiese, sondern nur die Spiegelung der Wiese wird im Fenster sichtbar, was wiederum vom olfaktorischen Reiz ausgeht. Da im Gedicht vornehmlich ein Zeilenstil vorherrscht, Syntax- und Versstruktur also in der Regel kongruent sind, erhalten die Zeilen- und Strophensprünge als Irritations- und Störungsmarkierung ein besonderes Gewicht. Es handelt sich nicht um die wirkliche Wiese, sondern lediglich um die vom Geruch indizierte Vorstellung der Wiese außerhalb der Kammer. Der direkte Zugriff auf die Natur scheint nicht möglich. Das Enjambement macht auf das gebrochene Verhältnis zu dieser Naturvorstellung aufmerksam. Holzwurm, Uhr und Phloxgeruch halten das Ich wach. Während sich das Ich im Inneren der Kammer befindet, drängt von außen die Natur heran: Walnuss‐ laub rankt am Milchglas herauf. Über den Neologismus „gittern“ (v. 5) suggeriert die Rede, dass die Natur nicht nur die Ruhe und Zurückgezogenheit des Ich in der Nacht stört, sondern den Sprecher in seiner Kammer einzusperren scheint. Dass dies über ein Verb ins Bild gesetzt wird, betont die Dynamik dieses Prozesses. Ferner deutet das „Glas mit Milch“ (v. 10) an, dass die visuelle Wahrnehmung eigentlich auf das Innere der Kammer beschränkt bleiben muss. Der Sprecher Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 90 wendet sich in der Folge den häuslichen Verrichtungen zu und scheint jegliches Zeitgefühl zu verlieren, wie die vierte Strophe nahelegt. Bemerkenswert ist, dass der titelgebende Ort vom Ich-Sprecher zunächst bewohnbar gemacht werden muss: Auf dem Tisch und der aus Baumwolle angefertigten Tischdecke (Zwilch) muss zunächst der Staub gewischt werden. Die Kammer wurde offensichtlich vom Ich bislang nur für den misslingenden Versuch des Schlafens genutzt. In der Mitte des Gedichts findet sich in der fünften Strophe ein weiterer scheiternder Versuch: Das Ich liest „die Schrift“ (v. 17). Zwar sind die Wörter zu entziffern, allerdings bleiben sie „ohne Sinn“ (v. 18). Daraufhin legt das Ich die Bücher fort. Um welche Bücher es sich hierbei handelt, muss spekulativ bleiben. Das Gedicht gibt keine eindeutigen Indizien, dass es sich bei ‚der‘ Schrift um die Bibel handelt. Die scheiternde Lektüre ist jedoch möglicherweise metapoetisch zu deuten: So wie die Natur das Ich gefangen hält und vom Schlaf abhält, so bleibt der Sinn der Natur-Bücher dem Ich verschlossen. Ist das Gedicht eine kritische Reflexion der naturmagischen Schule? Wenn man dieser selbstreflexiven Lesart folgt, dann wären die Bilder des Eingesperrtseins in der zweiten Strophe zu erklären. Das For‐ meninventar der Naturlyrik ermöglicht keine angemessene Evokation der inneren Gestimmtheit. Es gelingt nicht, die vage Entfremdungserfahrung des Ich in Sprache zu fassen. Im Scheitern dieses Versuchs wird jedoch eben jene Entfremdung - auch gegenüber der traditionellen Form - ersichtlich. Insofern könnte Die Kammer eine latente Kritik an der naturmagischen Schule (Lehmann, Loerke) darstellen. Das Gedicht bedient sich dabei der Mittel surrealistischer Darstellungen. Die Fokussierung auf Dinge und Dunkelheit im Ausdruck schaffen eine Atmosphäre existenzieller Isolation. Während die Natur das Ich belagert, schirmt die Kultur den Sprecher ab. Nach diesem Wendepunkt des Gedichts kommt es zu einem eklatanten Wandel der Atmosphäre: Das Ich sucht nun keinen Schlaf mehr, worauf das Glattstreichen des Lakens verweist, sondern saugt den „sauren Duft / / Von Brot und Schnaps, gemischt von fern / Mit würzgem Fleisch vom Schöps“ (v. 24-26) ein. Kommt dieser Duft aus der Ferne in die Kammer, öffnet sie sich im Folgenden dem Außenraum, wenn das Ich Vögel mit Birnenresten füttert. Der Höhepunkt dieser Öffnung ist in einem Vergleich zu sehen, der auf taktiler Ebene Geschlechtsakt und Naturerfahrung verbindet: „Weich fühlte ich wie Gräserhaar / Den Nacken einer Frau.“ (v. 29 f.) Allerdings handelt es sich hierbei um einen prekären Akt. Denn einerseits bleibt die Frau über den unbestimmten Artikel im Ungefähren und erscheint somit austauschbar. Andererseits machen die folgenden Verse deutlich, dass es sich 2. Naturerfahrung 91 nur um einen kurzen Moment der Ruhe handelt. Fühlt sich das Nackenhaar noch weich wie Gras an, schmeckt die Haut der genannten Frau bitter. Der Umschlag wird mit einem Satz, der die achte und neunte Strophe verbindet, herbeigeführt. Hier wandert der Blick des Ich zum Mond, „der böse an den Scheiben hing“ (v. 31). Der Mond wird in der lyrischen Tradition eher selten als Bedrohungsfiguration eingesetzt. Zumeist bietet er Trost oder Orientierung. Sein Anblick erleichtert oder beruhigt den Einsamen, wie beispielsweise in Goethes (1749-1832) An den Mond (1777), Matthias Claudius’ (1740-1815) Abendlied (1778) oder Hölderlins Abbitte (1799). Er spendet nötiges Licht in der Nacht und ermöglicht somit die Orientierung. Bei Krolow bieten die Gestirne jedoch weder Trost noch Orientierung. Vielmehr gemahnt der Mond, der dem Ich „nicht geneigt“ (v. 34) ist, die Sprechinstanz an ihre isolierte Situation. Diese Funktionalisierung des Mondes steht auch konträr zu Huchels Gedicht Zunehmender Mond aus dem Band Gedichte (1948), das eine zunächst vergleichbare Konstellation beschreibt. Auch hier befindet sich ein Ich-Sprecher in einer Kammer: „Arm in meiner Kammer lebend / Und ein Knecht, der bitter front“ (H U CH E L 1984, I, 92). Doch bietet der Mond hier die Option einer imaginären Flucht aus der beengten Situation: „Manchmal aber, sichelschwebend, / Wär ich gerne nachts der Mond.“ (H U CH E L , 1984, I, 92) Während der Ich-Sprecher in Zunehmender Mond im Blick auf den Mond das Gefühl bekommt, dass sich seine „Kammer weit“ (H U CH E L 1984, I, 92) öffnet, führt der Blick auf den Mond in Krolows Gedicht Die Kammer den Ich-Sprecher zu einer nahezu gegenteiligen Erfahrung: Der durch das Fenster in die Schlafkammer scheinende Mond beschreibt hier die voranschreitende Zeit. Die Sprechinstanz kann ihren Blick nicht von diesem Widerschein abwenden. Die beinahe obsessive Beobachtung des Mondscheins wird als schmerzhafte Erfahrung beschrieben, nach der die Augen schließlich ausgebrannt sind. Dieses Bild verweist vielleicht auf die trockenen Augen als Effekt langen Starrens. Mit dem Bild der ausgebrannten Augen ist nicht nur eine praktische Schädigung der visuellen Wahrnehmung verbunden, sondern auch der Verlust der Erkenntnisfähigkeit. Schließlich fungiert das Sehen sinnbildlich als Modus der Erkenntnis (zu denken ist hier an den symbolischen Akt des Augenausstechens in Sophokles’ König Ödipus). Was am Ende dieser schlaflosen Nacht bleibt, sind die vertrockneten Brotkrumen auf dem Tisch, die mit den trockenen Augen der Sprechinstanz korrelieren. Dass individuelle Schuld in diesem Gedicht eine Rolle spielen könnte, legen die Schlussverse und das drastische Bild ausgebrannter Augen Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 92 nahe. Trost, Orientierung und Transzendenz kann der Ich-Sprecher nicht mehr in der Natur finden. Alles bleibt aber vage. Welche Gründe dazu führen, dass sich das Ich vom Mond bedroht fühlt oder warum es diese extreme Gereiztheit besitzt, wird weder erklärt noch angedeutet. Gleichzeitig manifestiert sich hier ein typi‐ sches Verfahren der Lyrik Krolows. Angedeutet und assoziiert werden die Themenkomplexe Vergessen, Verdrängen und Flucht (vgl. D ONAHU E 2002). Insofern bieten die Gedichte eine höchst anschlussfähige Projektionsfläche für die unmittelbare Nachkriegszeit, eben weil sie vage Angst- und Entfrem‐ dungszustände, Fluchtbewegungen und Verfolgungsängste thematisieren und dies in bekannten Formen präsentieren. Dass Krolows Lyrik sich als Projektionsfläche so gut eignet, hat auch mit der Gattung Lyrik und mit den lyrischen Rezeptionskonventionen nach 1945 zu tun: Es geht darum, die Leser emotional anzusprechen (vgl. K O R T E 2004, 17). Eine unkonkret geschilderte Entfremdungserfahrung, die mit Versatzstücken der Naturlyrik operiert, scheint diese Funktionspotenziale leserseitig aktiviert zu haben. Die Natur wird nicht mehr als Idylle oder mythischer Ort, sondern als ambivalenter Raum konzipiert (vgl. K L E S S IN G E R 2011, 80). Im einfachen jambischen Vier- und Dreiheber und dem konsequenten Kreuzreimschema kann sich das Gedicht nicht vom Volksliedton lösen. Im Volkslied selbst ist aber auch ‚der Wurm drin‘, denn es ist nur oberflächlich intakt: Die stumpfen Kadenzen und das nüchterne Schildern, das mit Aus‐ nahme von Vergleichen eigentlich gänzlich auf Wort-Bild-Tropen verzichtet, verhindern Esprit und Leichtigkeit. Das Verhältnis von Innen und Außen, das über Kammer und Natur in oppositioneller Spannung steht, lässt sich auf die innere Gestimmtheit des Ich-Sprechers zurückführen. Die Kammer ist dabei kein sicherer Zufluchtsort. Der literarische Traditionalismus vermag es nicht, den ‚unbehausten Menschen‘ existenziell aufzufangen. Es ist bemerkenswert, dass Krolow für die Zusammenstellung seiner Gesammelten Gedichte, die von 1965 bis 1997 in vier Bänden im Suhrkamp-Verlag erschie‐ nen, nur sporadisch auf die Gedichte zurückgegriffen hat, die in den 1940er Jahren entstanden sind. In dem ebenfalls bei Suhrkamp veröffentlichten Band Auf Erden, der 1989 die frühen Gedichte zusammenstellt, gibt Krolow im Nachwort Einblick in seine ambivalente Haltung zu den Texten dieser Zeit: „Was war übriggeblieben? Was blieb mir übrig? Auf-Erden-Sein als Illusion, Landschaft als besinnungslose Flucht, als Täuschung, als unsiche‐ rer, menschenleerer Winkel? Fassungslosigkeit ist ein großes Wort. Ich versuchte mich in Gedichten zu fassen.“ (K R O L OW 1989, 176) Die Kammer 2. Naturerfahrung 93 zeigt möglicherweise eben diesen Versuch des Sich-Fassens, der jedoch scheitert. 2.4. Johannes Bobrowski: Natur im Zeichen des Verlusts Bobrowski wird 1917 im ostpreußischen Tilsit geboren. Durch den Besuch eines humanistischen Gymnasiums in Königsberg befasst er sich intensiver mit den Werken Johann Gottfried Herders (1744-1803), Johann Georg Ha‐ manns (1730-88) und Friedrich Gottlieb Klopstocks (1724-1803). Bobrowski verbringt seine Ferien oft bei Verwandten in Litauen, was sowohl sein Werk als auch sein Leben beeinflusst. Die Naturerfahrungen nutzt er für sein poetisches Schaffen, gleichzeitig lernt er dort auch seine spätere Ehefrau kennen. Nach seiner Schulzeit absolviert Bobrowski seinen Wehr‐ pflichtdienst und wird zu Beginn des Zweiten Weltkriegs als Gefreiter im Nachrichtenregiment eingezogen. Während der Zeit des Krieges ist er in dieser Position in verschiedenen Gebieten in Osteuropa im Einsatz (u. a. beim Überfall auf Polen). Nur für ein Semester lässt er sich zum Studium der Kunstgeschichte beurlauben (1941/ 42). Ein zweites Studiensemester lehnt Bobrowski ab, da er dafür Mitglied der NSDAP hätte werden müssen. Hingegen tritt er noch während des Zweiten Weltkriegs der Bekennenden Kirche bei. Nach dem Krieg ist er bis 1949 in sowjetischer Kriegsgefangen‐ schaft. 1950 wird Bobrowski in der DDR Lektor des Kinderbuchverlags Lucie Groszer. Danach erhält er eine Stelle als Lektor im Ost-Berliner Union-Verlag. Er veröffentlicht einige Gedichte in Sinn und Form (z. B. Pruzzische Elegie). Erst 1961 erscheint sein erster Gedichtband Samartische Zeit. Es ist bemerkenswert, dass der Band zuerst in der BRD (Deutsche Verlags-Anstalt) und erst danach in der DDR (Union-Verlag) veröffentlicht wird. Zwischen beiden Ausgaben gibt es einen eklatanten Unterschied: In der westdeutschen Fassung fehlt die Pruzzische Elegie; die Gründe dafür sind unklar. In der Folge veröffentlicht Bobrowski zwei weitere Gedichtbände, Romane und kleinere Prosatexte. Im Oktober 1962 erhält er den Preis der Gruppe 47. 1965 stirbt Bobrowski im Alter von 48 Jahren an einer Blinddarmentzündung. Retrospektiv verknüpft Bobrowski seine Initiation zum Dichter mit sei‐ nen Erlebnissen im seit der Kindheit vertrauten Naturraum, den er im Zuge des Ostfeldzugs nur noch als Vergangenes und als Fremder erkennen konnte: Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 94 Zu schreiben habe ich begonnen am Ilmensee 1941, über russische Landschaft, aber als Fremder, als Deutscher. Daraus ist ein Thema geworden, ungefähr: die Deutschen und der europäische Osten. Weil ich um die Memel herum aufgewachsen bin, wo Polen, Litauer, Russen, Deutsche miteinander lebten, unter ihnen allen die Judenheit. Eine lange Geschichte aus Unglück und Verschuldung, seit den Tagen des deutschen Ordens, die meinem Volk zu Buch steht. Wohl nicht zu tilgen und zu sühnen, aber eine Hoffnung wert und einen redlichen Versuch in deutschen Gedichten. Zu Hilfe habe ich einen Zuchtmeister: Klopstock. (B O B R O W S K I 1976, 13) Zum einen positioniert sich Bobrowski mit dem Verweis auf Klopstock in der lyrischen Tradition des 18. Jahrhunderts. Tatsächlich orientiert er sich in der Formenwahl seiner Gedichte an Oden- und Elegienstrophen, die für die Lyrik nach 1945 eigentlich zutiefst unmodern schienen. Zeitgenössischen Lyrikern ging es eher um die Überwindung der deutschsprachigen Formen‐ tradition und um die Öffnung zum französischen und spanischen Surrealis‐ mus. Dass Bobrowski ein Kenner der Lyrik des 18. Jahrhunderts war, belegt auch seine Gedichtanthologie Wer mich und Ilse sieht im Grase (1964), in der er sich ganz bewusst auf die „Kleinmeister und sogar völlig vergessene[n]“ Dichter konzentriert (B O B R OW S KI [1964] 2007, 136). Zum anderen markiert Bobrowski mit dem oben zitierten biografischen Bezugspunkt ein zentrales Thema seiner Lyrik: Seine Dichtung speist sich aus dem Landschafts- und Kulturraum Osteuropas. Bobrowski hat dies programmatisch über den Titel seines ersten Gedichtbandes angezeigt: Samartische Zeit. ‚Samartien‘ kommt aus der spätantiken Kartografie und bezeichnete u. a. bei Herodot das Gebiet zwischen Weichsel und Wolga. Es handelt sich also um einen topografischen Begriff, der zu Lebzeiten Bobrowskis keinen faktisch existierenden Raum mehr beschrieb und aus der Zeit gefallen war. ‚Samartien‘ verweist damit auf eine vergangene Zeit und einen vergangenen Raum. Wie schon in der Lyrik Huchels erfolgt hier also eine Verschaltung von Erinnerung und Landschaft in lyrischer Naturerfahrung. Und wie bei Huchel handelt es sich weder um eine oberflächliche Naturbeschreibung noch um reine Erinnerungsarbeit. Denn bereits der Begriff ‚Samartische Zeit‘ verweist darauf, dass es sich um eine vergangene Raum-Zeit handelt, die nur noch in der Erinnerung rekonstruiert werden kann (vgl. L E R M E N / L O EWE N 1987, 200). Der westdeutsche Erstdruck von Samartische Zeit ist in drei Teile geglie‐ dert: Der erste Teil umfasst 22 Gedichte, der zweite Teil sieben Gedichte und der dritte Teil erneut 22 Gedichte. Der ostdeutsche Erstdruck ist um die 2. Naturerfahrung 95 Pruzzische Elegie als eigenständigen Teil ergänzt, weswegen diese Fassung aus vier Teilen besteht. Der erste Teil präsentiert lyrische Landschaftsschil‐ derungen. Der zweite Teil besteht in der ostdeutschen Fassung aus der Pruzzischen Elegie, im westdeutschen Druck umfasst er Widmungsgedichte an andere Poeten (z. B. Karoline von Günderrode [1780-1806], Joseph Conrad [1857-1924] und Dylan Thomas [1914-53]), die in der ostdeutschen Fassung den dritten Teil bilden. Laut Andreas Degen thematisiert der dritte Teil der westdeutschen bzw. der vierte Teil der ostdeutschen Fassung den „durch Zerstörung und Verfolgung gezeichneten samartischen Raum der Kriegszeit“ (D E G E N 2004, 387). Ob sich diese Trennung zwischen der Thema‐ tisierung der ‚Kindheitslandschaft‘ im ersten Teil und der Thematisierung der ‚zerstörten Landschaft‘ im dritten bzw. vierten Teil so präzisieren lässt, ist fraglich. Vielmehr scheint es, als sei den Naturerfahrungen des ersten Teils ihre spätere Zerstörung bereits inhärent. Gerahmt werden diese Texte von zwei poetologischen Gedichten: Anruf und Absage. Insbesondere das Abschlussgedicht streicht das Defizitäre des Dichtens heraus, wenn der pruzzische Gott Perkun als „Stotterer“ mit „wulstige[m] Mund[]“ (B O B R OWK S I 2017, 73) gezeichnet wird. Gedächtnis für einen Flußfischer Immer mit Flügen der Elstern dein weißes Gesicht in den Wälderschatten geschrieben. 5 Der mit dem Grundfisch zankt, laut, der Uferwind fragt: Wer stellt mir das Netz? Keiner. Der vogelfarbne Stichling schwimmt durch die Maschen, 10 baut ein Nest für die Brut, über dem Hechtmaul der Tiefe eine Laterne, leicht. Und wer teert meinen Boden, 15 sagt der Kahn, wer redet mir zu? Die Katze streicht um den Pfahl und ruft ihren Barsch. Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 96 Ja, wir vergessen dich schon. Doch der Wind noch gedenkt. 20 Und der alte Hecht ist ohne Glauben. Am Hang schreit der Kater lange: Der Himmel stürzt ein! (B O B R O W S K I 2017, 11) Vergangenes und Gegenwärtiges werden in Bobrowskis Dichtung im Na‐ turraum und der Naturerfahrung verschränkt. Deutlich wird dies im Gedicht Gedächtnis für einen Flußfischer. Das Gedicht steht im ersten Teil der Samar‐ tischen Zeit und wurde von Bobrowski am 29. Januar 1960 fertiggestellt; Bo‐ browski hat in seinen Belegexemplaren die Entstehungsdaten der einzelnen Gedichte notiert. Das Gedicht operiert mit dem Stilmittel der Inversion, was für Bobrowskis Dichtung typisch ist. Der Text besteht aus vier Versgruppen und aus insgesamt 24 Versen, die allerdings nicht gleichmäßig auf die Versgruppen verteilt sind. Auch wegen der freirhythmischen Struktur und Reimlosigkeit ist eine deutliche Anlehnung an die Klopstock’sche Odenform zu erkennen. Der Beginn des Gedichts mutet hermetisch an: Das Pronomen „dein“ (v. 3) verweist auf den im Titel genannten Flussfischer. Mit dem alleinstehenden „Immer“ des ersten Verses wird die Beständigkeit des „weiße[n] Gesicht[s]“ (v. 3) hervorgehoben, das vom Elsternflug „in den Wälderschatten geschrie‐ ben“ (v. 4) wird. Die ersten Verse verbinden also mehrere Oppositionen: Dunkel und Hell, Oben und Unten, Flüchtigkeit und Beständigkeit. Offen‐ sichtlich ist, dass es sich nicht um das faktische Gesicht des Fischers handelt. Vielmehr - so legt es das Verb „geschrieben“ nahe - handelt es sich um eine Form des Erinnerns im Naturraum. Die Schreibfeder fungiert in diesem Fall als tertium comparationis. Es wird deutlich, dass das Gedicht wohl das Verhältnis von Mensch und Natur zum Thema macht. Der Flussfischer scheint nicht mehr anwesend zu sein, worauf die Nachfragen des personi‐ fizierten Uferwindes (v. 7) und des Kahns (v. 15) hinweisen. Die Reihe der Oppositionen lässt sich also um den Gegensatz von Vergangenheit und Gegenwart ergänzen. Das Netz wird nicht mehr ins Wasser gestellt, der Boden des Kahns wird nicht mehr geteert. Insofern handelt das Gedicht offensichtlich von der Absenz des Fischers. Dies wird als Defizit oder Verlust artikuliert. 2. Naturerfahrung 97 Indem das Gedicht diesen Verlust im Naturraum spiegelt, wird der Text selbst zum „Gedächtnis für einen Flußfischer“. Dass der Flussfischer mit dem unbestimmten Artikel bezeichnet wird, deutet darauf hin, dass es sich hierbei um eine paradigmatische Konstellation handelt. Der Titel steht damit in Spannung zu Vers 19: „Ja, wir vergessen dich schon.“ Während das Gedicht ein relativ konkretes Bild einer verlassenen Fischerstelle poetisch aufruft, bleibt die Kommunikationssituation eher unbestimmt. Möglicherweise handelt es sich um eine kollektive Sprechinstanz oder um einen Sprecher, der für eine bestimmte Gruppe spricht. Das Wir taucht lediglich im Kontext des Vergessens auf. Insofern könnte man im Wir die Menschen im Hier und Jetzt erkennen, die sich an das Vergangene nicht mehr genau erinnern - das Vergangene ist dem menschlichen Vergessen anheimgegeben und wird auf absehbare Zeit verschwinden. Zwar sind die Spuren des Fischers noch sichtbar, doch verleibt sich die Natur die Artefakte ein: „Der vogelfarbne / Stichling schwimmt durch die Maschen, / baut ein Nest für die Brut“ (v. 8-10). Ob diese ‚Rückeroberung‘ der Natur konträr zum Gedenken an den Fischer steht oder ob sie die Erinnerung der Natur erst ermöglicht, ist nicht eindeutig. Im Gegensatz zum Wir erinnert die Natur jedoch den Flussfischer: „Doch der Wind noch gedenkt.“ (v. 20) Es sind also die Naturphänomene, wie der Flug der Elstern, in den sich das Gesicht des Fischers förmlich einschreibt, die Klage des Kahns und des Uferwindes, die die Absenz des Fischers in rhetorischen Fragen manifestieren, und das Gedenken des Windes. Das Vergessen des Wir steht der Bewahrung der Natur gegenüber. Allerdings kann die Natur das Andenken an den Flussfischer selbst nur zeichenhaft konservieren (vgl. D E G E N 2004, 48). Diese Zeichen sind für die Sprechinstanz noch zu lesen, während der Fischer ‚schon vergessen‘ wird. Das Gedicht endet mit einem Bild der Apokalypse. Es ist uneindeutig, ob der Kater - in einer Art von Anthropomorphisierung - tatsächlich ausspricht: „Der Himmel stürzt ein! “ (v. 20) oder ob der Schlussvers dem lyrischen Wir-Sprecher zuzuschreiben ist. Im zweiten Fall würde das Jam‐ mern des Katers parallel geführt mit dem Einsturz des Himmels. Da aber schon die Rede von Uferwind und Kahn ohne Anführungszeichen gesetzt wird, könnte man argumentieren, dass der Kater hier direkt spricht und damit das letzte Wort behält. Allerdings können weder Kater noch Uferwind sprechen, sondern nur der, der es dem Tier und dem Wind in den Mund legt. Insofern erscheint das Einstürzen des Himmels als Folge des (menschlichen) Vergessens. Die Exclamatio ist in sich wiederum uneindeutig: Handelt es sich um eine Prophezeiung oder um eine Zustandsbeschreibung? Wird Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 98 der Himmel einstürzen oder stürzt der Himmel mit Ende des Gedichts ein? Dass sich Bobrowski mit dem Bild des einstürzenden Himmels eines Märchenmotivs bedient, wäre ausführlicher zu erörtern (vgl. K O R T E 2004, 40). Möglicherweise deutet die Schlusswendung in ihrer Märchenhaftigkeit auf die Gegenweltlichkeit dieser vergangenen ‚Flussfischerlandschaft‘. Die Zeit des Flussfischers ist unwiederbringlich verloren. Die Gedichte Bobrowskis unternehmen den Versuch, diese verschütteten Erinnerungs‐ fermente poetisch wieder heraufzuholen. Mit Blick auf die Gedichte aus Samartische Zeit hat man von einer „Erinnerungslandschaft“ (L E I S TN E R 2005, 55) oder einer „poetische[n] Erinnerungstechnik“ (K O R T E 2013, 1139) gespro‐ chen. Andreas Degen sieht in Bobrowski daher einen „Dichter des Einge‐ denkens und Vergegenwärtigens“ (D E G E N 2006, 385). Typisch ist dabei, dass zahlreiche Gedichte zwischen Präteritum und Präsens wechseln, wodurch die Sprechergegenwart mit der Vergangenheit, die sich in der Landschaft manifestiert, kurzgeschlossen wird. Nahezu leitmotivisch durchziehen den Gedichtband die Motive des Flusses und des Fischens: Zahlreiche Gedichte tragen Flussnamen im Titel (Die Jura, Die Memel, Die Daubas oder Die Düna). Die Flüsse prägen die Landschaft und die Lebensweise der dort angesiedelten Menschen. Gedichte wie Die Frauen der Nehrungsfischer, Fischerhafen, Seeufer oder eben Gedächtnis für einen Flußfischer weisen darauf hin. Einerseits erscheint das Fischen als Lebensform der samartischen Vergangenheit. Die Sprechinstanz erinnert in lyrischer Überformung an diese vergangene Lebensform. Andererseits verweist das Fischen aber auch auf das Erinnern selbst. Der Fluss steht dann sinnbildlich für den ‚Fluss der Erinnerung‘ und der Flussfischer, der mit seiner Reuse im Fluss fischt, bringt die Erinnerung ans Tageslicht. Wenn der Flussfischer nun aus dieser Erinnerungslandschaft verschwindet, dann verschwindet die Erinnerung. Eine Gesellschaft ohne Vergangenheit erscheint mit Blick auf das Ende des Gedichts als ‚Weltenende‘. In einer solchen metaphorischen Lesart hat Bobrowski den Fluss wohl verstanden, wenn er in einem Brief an den österreichischen Dichter Max Hölzer (1915-84) konstatiert: [W]as wollen wir mehr tun: als über der Wirklichkeit wie über einer versunkenen Stadt kreisen, mit unseren Booten. Es ist nichts heraufzuholen, jeder Augenblick ist schon immer vergangen, so gibt es keine Gegenwart, und das Zukünftige beginnt nie. Wir halten einen Augenblick fest, aber die Gestaltung im Wort ist das Eingeständnis, daß er vorüber ist. (T G A R T H 1993, 440) 2. Naturerfahrung 99 Insofern thematisiert Gedächtnis für einen Flußfischer nicht nur etwas Vergangenes, das in Form des Gedichts erinnert wird. Vielmehr werden das Erinnern und seine Möglichkeiten lyrisch ausgelotet. Der Naturraum ist in Bobrowskis Naturlyrik ein Gesellschaftsraum, der vergangene Kultur(en) in sich aufnimmt. Im Sinne von Bobrowskis Poetik ist es die Aufgabe des Dichters, diese Vergangenheit wieder sprachlich zu fassen. Dass es sich hierbei um ein unmögliches Unterfangen handelt, legt das poetologische Gedicht Abgesang am Ende des Gedichtbandes nahe. In der dritten Versgruppe tritt der entstellte und stotternde pruzzische Gott Perkun auf. Die Pruzzen waren ein baltischer Volksstamm, der vom Deutschen Orden unterworfen wurde. Aufgrund der folgenden kulturellen Assimilation gingen die pruzzische Kultur und Sprache verloren. Dieser Gott steht stellvertretend für den Dichter als mnemopoetische Instanz, denn Perkun „fuhr auf den Strömen“ (B O B R OW S KI 2017, 73). In seinem Gefolge kommt die „Finsternis“ (B O B R OW S KI 2017, 73), die sinnbildlich für das Vergessen steht. In dieser intrikaten Verknüpfung von Natur, Kultur und letztlich scheiternder und unvollständiger Erinnerung liegt der Kern von Bobrowskis Naturlyrik. Entsprechend hatte er wenig übrig für eine ‚einfache‘, ‚schlichte‘ und ungebrochene Naturlyrik, wie er sie in der natur‐ magischen Schule repräsentiert sah. Natur ist nicht einfach nur Natur und schon gar nicht der Gegensatz zur Kultur. Entsprechend bissig fällt ein erst posthum publiziertes Doppeldistichon Bobrowskis über Wilhelm Lehmann aus, mit dem er Lehmann nicht nur ‚in Rente schickt‘, sondern vor allem seine - aus Bobrowskis Sicht - naiven Naturvorstellungen kritisiert: Naturdichter Lehmann Gründelnd immer im Grunde der tiefsten Natur, daß wir wähnten Alge geworden ihn schon, Ameise, Spinn’ oder Lurch, - da erscheint er, und just zum Monatsersten, zu welchem Zwecke denn? Freundlich quittiert, pünktlich er seine Pension. (B O B R O W S K I 2017, 242) Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 100 3. Schuldfragen 3.1. Poetologische Hinführung Während man sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit weniger um Fragen nach Schuld und Verantwortung kümmerte, sondern vielmehr mit der eigenen Notsituation befasst war, wird man im Zuge des Entnazifizierungs‐ prozesses jedoch schnell mit der eigenen Vergangenheit und der Frage nach der moralischen Schuld der deutschen Gesellschaft konfrontiert. Wer trägt die Verantwortung für die zahllosen Kriegsverbrechen und für den Mord an marginalisierten Bevölkerungsgruppen, ethnischen Minderheiten und Regimegegnern? Sichtbarstes Zeichen dieses spannungsvollen Diskurses waren die Nürnberger Prozesse, in deren Verlauf vom 20. November 1945 bis zum 14. April 1949 einige der bedeutendsten Funktionäre des NS-Re‐ gimes vor Gericht gestellt wurden. Auch wenn man in den Nürnberger Prozessen dezidiert die individuelle Schuld der ‚Hauptakteure‘ feststellen wollte, so wurden die Gerichtsverfahren im Laufe der Zeit von der deutschen Bevölkerung als Stellvertreterprozesse wahrgenommen (vgl. T AVAKO LIAN 2010, 65-87). Dass die Alliierten in der unmittelbaren Nachkriegszeit mit Bild- und Filmkampagnen die Strategie verfolgten, den Deutschen eine kollektive Schuld an den Verbrechen des NS-Regimes zuzuschreiben, ist mittlerweile in geschichtswissenschaftlichen Schriften gut aufgearbeitet (vgl. H E NT S CHK E 2001, 41-44; F R I E D E MANN / S PÄT E R 2002, 53-90; W O L B R IN G 2009, 325-364). Allerdings rückten die Alliierten schnell von der Idee einer ‚Kollektivschuldthese‘ ab. Dennoch belegt die „Kritik an den Nürnberger Prozessen und das starke Engagement von Kirchen, Parteien und Öffent‐ lichkeit für die Begnadigung verurteilter Kriegsverbrecher“, unter denen sich schwer belastete SS-Einsatztruppenleiter befanden, den Wunsch nach Verdrängung (B E R GMANN 2007, 18). Grundlage dieser Verdrängung war der rhetorische Umgang mit der Schuldfrage: Nicht das ‚deutsche Volk‘ sei an den Verbrechen schuldig, sondern eine unkontrollierbare Macht, die sich in den Handlungen der NS-Funktionäre manifestierte. So personifiziert Conrad Gröber (1872-1948), der Erzbischof von Freiburg, in seinem Hirtenbrief vom 21. September 1945 den Zweiten Weltkrieg als einen „erbarmungslose[n] Vernichter“, der das Land mit seinen „blutig-mörderischen Händen Haus für Haus und Seele für Seele“ gezeichnet und aus den „Augen ganze Ströme von Tränen“ gepresst 3. Schuldfragen 101 habe (G RÖB E R 1985, 47). Der Erzbischof stilisiert den Krieg zu einem eigen‐ ständigen Akteur und lässt dadurch unerwähnt, dass es doch Menschen waren, die den Krieg führten. Vielmehr seien auch die Deutschen von einer „teuflisch organisierte[n] Flüsterpropaganda“ „satanisch“ gequält worden (G RÖB E R 1985, 50 f.). Das NS-Regime und der allein auf die NS-Funktionäre zurückgehende Weltkrieg habe schließlich „das Elend über die halbe Welt […] wie eine verheerende Seuche“ (G RÖB E R 1985, 53) gebracht. Gegen die Argumentation des Erzbischofs ließe sich die Neujahrsbetrach‐ tung 1945/ 46 der Dichterin und Historikerin Ricarda Huch (1864-1947) stellen, in der „die Logik der Tatsachen“ eingefordert wird: Man müsse zu der „Einsicht“ gelangen, „daß ein Volk sich nicht als ein Haufen von Privatleuten abseits von der Regierung stellen und sie schalten lassen kann, ohne sich dafür verantwortlich zu fühlen.“ (H U CH 1990, 947) Allerdings konnte sich in der Öffentlichkeit diese Argumentationslinie nicht wirklich durchsetzen. Vielmehr dominierte eine Argumentationsstruktur, in der die Verantwortung des Einzelnen abgestritten wurde und die diese Phase deutscher Geschichte als unabwendbar erscheinen ließ: Die zwölf Jahre des nationalsozialistischen Deutschlands seien eine ‚Katastrophe‘, die über Deutschland hereinbrach, und damit ein ‚Schicksal‘, das man auszuhalten und durchzustehen hätte. Die Gräueltaten werden so der menschlichen Verfügbarkeit entzogen und mit religiösen Erklärungsmustern oder mithilfe literarischer Konzepte (‚Schicksal‘ und ‚Tragik‘) gefasst. Häufig werden auch Naturbilder genutzt: Man habe einen ‚Bergsturz‘ erlitten oder sei an einer ‚verheerenden Seuche‘ erkrankt, wie in der Argumentation des Erzbischofs von Freiburg. Die italienische Literaturwissenschaftlerin Elena Agazzi hat resümiert, dass diese Begriffe „allein dazu dienten, die kaum zu leugnende Unterstützung des Hitler-Regimes durch das deutsche Volk zu verwässern.“ (A GAZZI 2016, 282) Mit Begriffen wie ‚Katastrophe‘ oder ‚Dämonie‘ wird die deutsche Bevölkerung zudem zum ‚Opfer‘ der nationalsozialistischen Herrschaft gemacht. Die Schuld wird so den NS-Funktionären als Akteuren einer abstrakt-übermenschlichen ‚Schicksalsmacht‘ zugewiesen. In diese Kerbe schlagen auch die ersten größer angelegten Studien, die schon ab 1946 erscheinen. Man will Erklärungen für die Entstehung und den Erfolg des Nationalsozialismus in Deutschland rekonstruieren. Dabei stützt man sich aber auf allgemein-abstrakte Erklärungsmodelle, die den Einzelnen von jeglicher Verantwortung freisprechen. Der Historiker Gerhard Ritter (1888-1967) stellt beispielsweise die Volkssouveränität, wie sie sich in Folge der Französischen Revolution ausbildete, als Wurzel des Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 102 totalitären Staates heraus. Für Alexander Abusch (1902-82), der in der DDR als Kulturfunktionär Karriere machen wird, führt hingegen der preußische Staat unweigerlich zum Nationalsozialismus. Gleichfalls kursieren zeitge‐ schichtliche Erklärungsmodelle, die beispielsweise im Versailler Vertrag oder in der Übernahme des westeuropäischen Demokratiemodells in der Weimarer Republik einen ‚grundsätzlichen‘ Baufehler sehen, der wiederum zum Totalitarismus führen musste. Die Schuld für die Kriegsverbrechen und den Massenmord wurde so in abstrakte Geschichts- und Politikprozesse verlagert, von denen behauptet wurde, dass man sie nicht beeinflussen könne. Mit dem Wirtschaftsaufschwung der 1950er Jahre wird die Verdrängung der Schuldfrage sicherlich begünstigt. Dennoch stehen die ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik heute „unter dem Ruch der Verdrängung der Vergan‐ genheit; es ist bis heute ihr Stigma geblieben.“ (F R I E D R ICH 2007, 1) Diese Verdrängungsarbeit, die mit der Entstehungs- und Konsolidierungsphase eines neuen Staates einherging, lässt sich sowohl für die BRD als auch für die SBZ bzw. DDR nachweisen (vgl. S CHÜTZ 2016, 2). Die Lyrik der Nachkriegszeit hat dieser Verdrängungsarbeit mitunter Vorschub geleistet, wie es an den frühen Texten Karl Krolows (1915-99) gezeigt werden kann. Gleichzeitig gibt es zahlreiche Gedichte, die die indi‐ viduelle oder kollektive Schuldfrage ins Zentrum stellen und damit lyrisch eine Gegenposition formieren. In Susanne Kerckhoffs (1918-50) Gedicht Die Schuld, das sie dem Philosophen und Pädagogen Eduard Spranger (1882- 1963) gewidmet hat, wird das individuelle moralisch-ethische Versagen auf einer allgemeinen Ebene lyrisch ins Bild gesetzt: Wir können sie nicht erschlagen die Schuld, die uns zu schwer. Wir haben die Kraft nicht, zu sagen: wir tragen sie nicht mehr. Sie schmiedet uns die Ketten der Furcht, die uns umgibt, zertrümmert uns die Stätten, die wir zumeist geliebt. (K E R C K H O F F 1946, 210) Die ‚Ketten der Furcht‘, die jegliche Handlung verunmöglichen, sind die unmittelbare Folge der Schuld, die zu Beginn des Gedichts nur als leise 3. Schuldfragen 103 Ahnung den Wir-Sprecher anschleicht: „Nur manchmal kam ein Bangen: / da regte sie sich leis / im atmenden Verlangen, / daß man sie sieht und weiß.“ (K E R C KHO F F 1946, 210) Weil man die mögliche Schuld jedoch nicht angenommen hat, kann sie weiter ‚wachsen‘: Wir ließen sie im Lauen, wir wollten keinen Bund. Jetzt zieht sie unsre Brauen und zeichnet uns zu Grund, hat uns mit Blut verkettet in Schand und Schmach und Leid! (K E R C K H O F F 1946, 210) Erst die Anrufung Gottes ermöglicht dem Wir die Befreiung aus der Schuld‐ befangenheit: Gott möge die „Flammenzeichen / der schweren Sühne“ verkünden, damit aus der Schuld der kollektiven Sprechinstanz „der Segen / erneuter Menschheit dringt! “ (K E R C KHO F F 1946, 210) Die Anrufung Gottes stellt die Schuld nicht nur in einen religiösen Kontext, sondern bietet auch ein eminentes Sinnpotenzial: Aus der Schuld und den Verfehlungen des Wir solle die ganze Menschheit lernen. Das Gedicht operiert mit Bildern, die auf eine abstrakte und nicht näher konturierte Schuld verweisen. Die regelmä‐ ßigen jambischen Dreiheber werden zwar teilweise durch Senkungen im Rhythmus gebrochen, doch erscheint das Gedicht in seiner äußeren Form sehr regelmäßig. Das durchgängig gehaltene Kreuzreimschema steht dabei in seltsamem Kontrast zur Verzweiflung des Wir-Sprechers. Kerckhoff, die 1947 Mitglied der SED wurde, hat sich bis zu ihrem Suizid intensiv an den Schulddebatten im Nachkriegsdeutschland beteiligt. Sie galt als junge, aufstrebende Dichterin (vgl. G E I P E L 1999, 46 f.). Von Relevanz ist in diesem Kontext Kerckhoffs Dichterverständnis. Sie weist den Dichtern eine besondere Rolle zu, wie sie in ihrer Rede auf dem Ersten Deutschen Schrift‐ stellerkongress im Oktober 1947 in Berlin ausführt: Aus der historischen Schuld, die Stimme nicht gegen den Nationalsozialismus erhoben und sich in der Inneren Emigration eingerichtet zu haben, entstehe die Verantwortung, „heute auf jeden Fall wachsam sein [zu] müssen“ (K E R CKHO F F 1947, 171 f.). Auch in ihren Berliner Briefen (1948) wird die Verdrängungstendenz im Nachkriegsdeutschland thematisiert. Der Briefroman versammelt Briefe der Berlinerin Helene, die ihrem jüdischen Freund im Pariser Exil schreibt. Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 104 Die unaufgearbeiteten Schuldverstrickungen der Deutschen bilden dabei das Zentrum des Briefromans. Für Kerckhoff sind die Schuldaufarbeitung und das Bewusstwerden der Mitverantwortlichkeit notwendige Bestandteile einer Erneuerung Deutschlands (vgl. M E L CH E R T 2010, 391). Dass man nicht eingegriffen, sondern sich in die Privatheit zurückgezogen habe, wird auch in den Berliner Briefen kritisiert: „Es handelt sich um eine moralische Forde‐ rung, die nicht bezahlt wurde, die jetzt in kleinen Münzen der Verzweiflung bis zum Tode abgetragen wird.“ (K E R C KHO F F 1948, 25) Kerckhoffs Gedicht Schuld findet sich in der Anthologie De profundis, die 1946 von Gunter Groll (1914-82) herausgegeben wurde. Das erklärte Ziel des Herausgebers ist die Dokumentation von Gedichten, die im deut‐ schen NS-Staat entstanden sind und ‚heimlich‘ kursierten. Dabei spielt er die exilierten Dichterinnen und Dichter nicht gegen die Vertreter der sogenannten Inneren Emigration aus, sondern will das „Ausmaß des inneren Widerstandes“ gegen den Nationalsozialismus präsentieren (G R O LL 1946, 13). Grolls Anthologie ist gewiss ein „Dokument der Konsolidierung des Tra‐ ditionalismus und der Kontinuität in der Lyrik der ersten Nachkriegsjahre“ (L AM PA R T 2013, 67), doch belegen zahlreiche Gedichte, „wie beispielsweise das neu gestellte Problem der Schuld längst in die deutsche Dichtung ein‐ gegangen war, bevor sich die Welt-Diskussion über dieses Thema erhoben hatte“ (G R O LL 1946, 22). Dabei lassen sich drei Gedichtgruppen ausmachen, die den Schuldkomplex lyrisch fassen: (1) Schuld wird im Kontext der Individualschuld artikuliert, wobei dies häufig mit einer eher resignativen Haltung einhergeht. Das Schweigen ist ein oft gebrauchtes Signum dieser Resignation: Ringsum ihr seid so stumm geworden und starrt mich so an als sei ich der einzige Mann der noch blieb nach dem Morden. (E I G E N B R O D T 1946, 105) Die Erlebnisse haben eine ganze Generation zum Verstummen gebracht, die sich „ins Schweigen / hineinsinken“ (E I G E NB R ODT 1947, 105) lässt, wie Karl-Wilhelm Eigenbrodt (*1921) im ersten Terzett seines Sonetts Verstummt ausführt. Für den Sprecher besteht nur die Option des ‚Ausharrens‘ im „tiefsten Grund“, bis „einer im Höhersteigen / auftut seinen jungen Mund“ 3. Schuldfragen 105 (E IG E N B R ODT 1947, 105). Artikuliert wird hier auch das Trauma des Überle‐ benden, der sich nun gegenüber den Getöteten rechtfertigen muss. (2) Um aus dieser passiv-resignativen Haltung des Schuldiggewordenen auszubrechen, bietet sich die religiöse Aufladung an: Mithilfe religiöser Erklärungsmuster kann dem Schuldkomplex so zumindest retrospektiv ein Sinn verliehen werden. In Reinhold Schneiders (1903-58) Gedicht Am Rand der Schlacht wird diese Technik genutzt. Der Ich-Sprecher ist „wehrlos“ im Angesicht des aufziehenden Donners, der „Schlag um Schlag im Herzen widerhallt“ (S CHN E ID E R 1946, 361). Zwar verliert auch hier das Ich seine Sprachfähigkeit, doch wird die Sühne, für die es doch eigentlich keine Worte hat, im apokalyptischen Schlussbild des Gedichts wieder artikulierbar: Hier stirbt das Wort, hier ist mein Herz bezwungen. Schuld wohnt mit Schuld im nachtumtobten Haus Am Rand der Schlacht, die alles überflammt. (S C H N E I D E R 1946, 361) Die Hoffnung auf Erlösung im Jüngsten Gericht wird auch bei Elisabeth Langgässer (1899-1950) artikuliert, wenn sie in Fürchte Gott mit dem ambi‐ valenten Vers schließt: „Fürchtet mit Freuden das letzte Gericht! “ (L AN G GÄS ‐ S E R 1946, 233) Und auch Rudolf Hagelstanges (1912-84) Nachkriegssonette aus dem Band Venezianisches Credo (1945/ 46) präsentieren eine solche Hoffnung auf christliche Erlösung. (3) Ganz anders wird mit der Schuld und den Schuldigen aber in den Gedichten umgegangen, die den Hass auf die Täter in lyrischen Gewaltfanta‐ sien freien Lauf lassen. Angelehnt an die antiken Anrufungen der Erinnyen oder Furien wird hier der Wunsch nach Bestrafung unmissverständlich artikuliert. Ricarda Huch leitet mit der Personifikation ihres Herzens als Löwe ein, wobei Emotionalität und Affekt über das Aufrufen des Jagdmodus hervorgehoben werden: „Mein Herz, mein Löwe, hält seine Beute fest“ (H U CH 1946, 176). So wie das Herz zur Liebe fähig ist, kann es aber auch unbedingt hassen: Aber Gehaßtes gibt es auch, Das er [der Löwe] niemals entläßt Bis zum letzten Hauch, Was immer die Jahre verhängen: Es gibt Namen, die beflecken Die Lippen, die sie nennen, Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 106 Die Erde mag sie nicht decken, Die Flamme mag sie nicht brennen. (H U C H 1946, 176) Gehasst werden Personen, die sich so sehr versündigt haben, dass selbst Gott nicht mehr zur Vergebung fähig sei: Es handelt sich hierbei um Mord („blutrote Schuld“, H U CH 1946, 176). Der Hass wird dabei auch über die göttliche Gnade, die hier ohnehin nur im Konjunktiv geschildert wird, gestellt: Und hätte Gott selbst so viel Huld Zu waschen die blutrote Schuld, Bis der Schandfleck verblaßte - Mein Herz wird hassen, was es haßte […] (H U C H 1946, 176) Neben den hier kursorisch erwähnten Gedichten, die allesamt von Dichte‐ rinnen und Dichtern der Inneren Emigration stammen, wird die Schuldfrage aber auch von exilierten Dichterinnen und Dichtern forciert. Besondere Relevanz hat Thomas Manns (1875-1955) Artikel Die Lager, der in mehreren deutschen Zeitungen im Mai 1945 nach der deutschen Kapitulation erscheint und vor der Folie der deutschen Konzentrationslager die Schuldfrage stellt: „Es war nicht eine kleine Zahl von Verbrechern, es waren Hunderttausende einer sogenannten deutschen Elite, […] die unter dem Einfluß verrückter Lehren in kranker Lust diese Untaten begangen haben.“ (M ANN 1997, VI, 11) Er schließt sich also nicht der Kollektivschuldthese an, sondern sucht die Verantwortung bei einer „deutschen Elite“. Die Schande und Schuld bezieht Mann aber ausdrücklich auch auf die Exilierten, die ebenso Teil dieser „Elite“ sind. Manns Argumentationsstruktur ähnelt Huchs Ansatz, die die grassierende Schuldverdrängung rhetorisch geschickt aus den An‐ geln hebt: „Wenn wir sagen, eine Räuberbande habe uns überfallen, uns vergewaltigt und gezwungen, ihre Untaten mitzutun, so wird man lachen: Können viele Millionen sich nicht einer Räuberbande erwehren? “ (H U CH 1990, 947) Mit Thomas Manns und Ricarda Huchs Appellen an die allge‐ meine und individuelle Schuldhaftigkeit ist der Boden bereitet für eine brisante Kontroverse. Walter von Molo (1880-1958) verfasst in Reaktion auf Manns Artikel einen offenen Brief, in dem er Mann um die Rückkehr nach Deutschland bittet, damit der Exilierte das Leid der Zurückgebliebenen mit 3. Schuldfragen 107 eigenen Augen sehe. Problematisch ist von Molos offener Brief vor allem deswegen, weil er ausschließlich zwischen NS-Tätern und den Opfern des Regimes unterscheidet - und dabei auch ‚Mitläufer‘ zu Opfern macht. Mit diesem Argument wird aus jedem, dem nicht nachgewiesen werden kann, am NS-Apparat mitgewirkt zu haben, ein ‚Widerstandskämpfer‘. Zudem wird suggeriert, dass es gefährlicher, beschwerlicher und verzichtreicher gewesen sei, in Deutschland auszuharren. In diese Richtung argumentiert auch Frank Thiess (1890-1977). In seinem Artikel Abschied von Thomas Mann, der am 30. Oktober 1945 im Neuen Hannoverschen Kurier publiziert wird, wird das ‚Ausharren‘ im NS-Regime als gefährlicher und patriotischer stilisiert als die ‚Flucht‘ ins Ausland (vgl. G R UN E N B E R G 1994, 110-130; K U R Z 1996, 221-235; K R E NZLIN 1997, 7-25). In einer polemischen Argumentation spricht Thiess Thomas Mann die Legitimation ab, überhaupt Aussagen über Deutschland treffen zu dürfen, da er ja emigrierte und folglich gar nicht wissen könne, was in Deutschland vor sich ging. Der Streit zwischen den exilierten Schriftstellerinnen und Schriftstellern und den Vertretern der Inneren Emigration wird damit weiter befeuert. Und auch Gottfried Benn (1886-1956) schließt sich diesem Argument in seiner Autobiografie Doppel‐ leben (1950) an, wenn er seine Antwort an die literarischen Emigranten (1933) verteidigt und gegen Klaus Manns (1906-49) Brief vom Mai 1933, in dem Benn für seine pro-nationalsozialistischen Stellungnahmen kritisiert wird, rhetorisch geschickt polemisiert. Zunächst lobt Benn Klaus Mann in den höchsten Tönen, dessen persönlichen Brief er sogar in seiner Autobiografie abdruckt, um dann aber den ‚Gegenschlag‘ durchzuführen: Aber noch einen Gedanken muß ich aussprechen, er ist mir zu oft gekommen, wenn ich an 1933 zurückdachte: wenn die, die dann Deutschland verließen und noch heute so sehr auf uns herabsehen, so klug und weitsichtig waren, wie es Klaus Mann ja ohne Zweifel war und wie es viele von den anderen vielleicht auch waren - warum haben sie das Unheil nicht von sich und von uns abgewendet? Ihnen gehörte die Öffentlichkeit […]. (B E N N 2006, 411) Klaus Mann konnte darauf nichts erwidern - er hatte ein Jahr vor der Veröffentlichung von Benns Doppelleben Suizid begangen. Die Distanz zwischen den Dichterinnen und Dichtern, die ins Exil gingen, und denen, die in Deutschland geblieben sind, war im Nachkriegsdeutsch‐ land massiv. Selbst bis heute zeigen sich die Nachwirkungen dieser klaren Scheidung: So findet sich bis in den wissenschaftlichen Diskurs hinein eine Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 108 meist rigorose Trennung zwischen ‚Exilliteratur‘ und ‚Literatur der Inneren Emigration‘. Im Folgenden werden drei weitere Dimensionen, wie in der deutsch‐ sprachigen Nachkriegslyrik mit der Schuldfrage umgegangen wurde, exem‐ plarisch aufgezeigt. Die Gedichte von Mascha Kaléko (1907-75), Werner Bergengruen (1882-1964) und Wolfdietrich Schnurre (1920-89) schließen thematisch an die Gedichte der Anthologie De profundis an. Allerdings erweitern sie den lyrischen Umgang mit der Schuldfrage auf je individuelle Art und Weise. Mit Kaléko steht eine Dichterin am Anfang, die 1938 in die USA emigrierte; Bergengruen gilt hingegen als wichtiger Vertreter der Inneren Emigration. Schnurre wiederum debütierte erst nach 1945 und gehört einer jungen Generation im Nachkriegsdeutschland an, die sich einerseits von den literarischen Traditionen zu distanzieren versucht, andererseits aber auch ein Bewusstsein von der eigenen Schuld besitzt: Hier liegt auch ein besonderer Zug der Texte von Schnurre, der im Gegensatz zu anderen Dichtern seiner Generation (z. B. Günter Grass [1927-2015]) die eigene Schuldhaftigkeit immer wieder thematisiert und zum Ausgangspunkt seines Schreibens macht. Mascha Kalékos Gedicht Höre, Teutschland ist in seiner Drastik eine nicht nur für die Nachkriegsgesellschaft kaum zu ertragende Anklage der nationalsozialistischen Gräueltaten, da es selbst explizite Gewaltbilder nutzt, wenngleich der hier artikulierte Hass durchaus reflektiert wird. Besonders bemerkenswert ist an diesem Gedicht, dass es sich um eine Kommunikation nach außen handelt. Kaléko hatte das Gedicht am 14. März 1943 im New York Times Magazine vorab veröffentlicht. Es erschien dort in einer englischen Fassung unter dem Titel Hear, Germany! (vgl. K ALÉK O [2012] 2013, I, 185). 1945 wurde das Gedicht in deutscher Sprache im Band Verse für Zeitgenossen im amerikanischen Schoenhof-Verlag veröffentlicht. Der 1856 gegründete Verlag mit Sitz in Cambridge/ Massachusetts war auf deutsch- und französischsprachige Bücher spezialisiert und hat Kalékos Verse für Zeitgenossen wohl in einer äußerst kleinen Auflage veröffentlicht (vgl. K ALÉK O [2012] 2013, IV, 48 f.). Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nimmt Kaléko wieder Verbindung zum Rowohlt-Verlag auf, bei dem sie in der Weimarer Republik und vor ihrer Flucht vor den Nationalsozialisten zwei Gedichtbände veröffentlicht hat, die enorm erfolgreich waren. Mit Rowohlt vereinbart sie eine Neuauflage von Verse für Zeitgenossen, die 1958 gedruckt wird. Allerdings findet sich Höre, Teutschland in der Rowohlt-Fassung der Sammlung Verse für Zeitgenossen nicht. Offensichtlich war dieses Gedicht 3. Schuldfragen 109 nicht für die deutsche Leserschaft gedacht oder geeignet. Die Umstände dieser Unterdrückung werden im Folgenden ebenfalls thematisiert. Kontrastiert wird Kalékos lyrischer Umgang mit der Schuldfrage durch Werner Bergengruens Gedicht An die Völker der Erde. Hierbei handelt es sich um das Abschlussgedicht des 1945 veröffentlichten Gedichtbandes Dies Irae. Obwohl im Titel die ‚Völker der Erde‘ adressiert werden, richtet sich das Gedicht wohl eher an die deutschen Leserinnen und Leser. Es handelt sich also um eine Kommunikation nach innen, die vor der Folie christlicher Vorstellungen nicht nur die Schuldfrage relativiert, sondern sogar die ‚Völ‐ ker der Erde‘ davor warnt, den Deutschen die alleinige Schuld zuzuweisen. Während Kaléko im Nachkriegsdeutschland nicht mehr an ihre Erfolge der ausgehenden Weimarer Republik anknüpfen kann, werden Bergengruens Texte breit rezipiert. Dies liegt womöglich an ihren Rezeptionsangeboten: Bergengruen lädt die Zeit des Nationalsozialismus religiös auf und verleiht dem Schrecken und Leiden einen Sinn, der sich im Kontext von Sühne, Buße und Eschatologie bewegt. Dabei gerät Bergengruen - spätestens aus heutiger Sicht - in ein ethisch-moralisches Zwielicht. Als Mitglied einer unter Generalverdacht stehenden Gesellschaft tritt er als Mahner auf und strapaziert damit, was unter Anlehnung an die antike rhetorische Kategorie der Licentia als ‚Lizenz des Sagbaren‘ bezeichnet werden könnte. Kalékos Anklage hingegen bleibt in Deutschland ungehört und lange un‐ gedruckt. 2005 hat Jutta Rosenkranz das Gedicht in die historisch-kritische Gesamtausgabe aufgenommen. Erst vor dem Hintergrund einer solchen Konstellation ist Adornos (1903-69) in der Einleitung bereits erwähnte Schlussfolgerung nachvollziehbar. Nur wenn man Gedichte wie An die Völker der Erde kennt und um ihre Breitenwirksamkeit weiß, ist Adornos Position, dass es „barbarisch“ ist, „nach Auschwitz ein Gedicht zu schrei‐ ben“ (A DO R N O [1951] 2003, 30), nachvollziehbar. Wolfdietrich Schnurres Gedicht Denunziation, das auf enigmatische Art und Weise die Schuldfrage verhandelt und dabei auf keine eindeutige Antwort kommt, kann daher als kritischer Kommentar auf Adorno verstanden werden. Während Kalékos und Bergengruens Gedichte klare Positionen vertreten, hebt Schnurres Denunziation die Ambivalenz der Schuldfrage hervor. Dabei nutzt Schnurre poetische Bilder, die eine Verbindung zum lyrischen Traditionalismus eröff‐ nen. Der Mond als das zentrale Motiv des Gedichts wird in seiner Bedeutung jedoch durch Schnurres hermetische Neologismen verunklärt. Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 110 3.2. Mascha Kaléko: Kommunikation nach außen Mascha Kaléko erlebt ihren literarischen Durchbruch in der Weimarer Republik. Ende der 1920er Jahre veröffentlicht sie erste Gedichte in der Ta‐ gespresse, die in einem saloppen Stil den Alltag aufs Korn nehmen und dabei gleichzeitig eine verhaltene Melancholie erzeugen. Mit diesen Zeitungsge‐ dichten wird Kaléko populär. Ihr äußerst erfolgreicher Debütband Lyrisches Stenogrammheft, der erst 1933 veröffentlicht wird, enthält vor allem Groß‐ stadt- und Liebesgedichte, die Alltagssituationen mit leiser Ironie schildern (vgl. K O R T E 2003; B R ITTNACH E R 2006). 1934 folgt der Gedichtband Kleines Lesebuch für Große, der vor allem die Verspieltheit von Kalékos Lyrik belegt. Noch 1935 plant der Rowohlt-Verlag eine Neuauflage beider Bände. Bis 1935 scheint ihre Religionszugehörigkeit offensichtlich unbekannt geblieben zu sein. Dann interveniert allerdings die nationalsozialistische Kulturbehörde: Kaléko wird als Jüdin aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen und erhält Publikationsverbot. Ihr Verleger Ernst Rowohlt (1887-1960) erfährt wohl erst 1937 davon (vgl. K ALÉKO [2012] 2013, III, 35). 1938 emigriert Kaléko in die USA. Die Exilerfahrung ist der Biografie Kalékos von Beginn an eingeschrieben. Als Jüdin musste sie bereits im Kindesalter aus Galizien fliehen; aufgewach‐ sen ist sie in Berlin. Nachdem sie mehrere Jahre in New York lebte, ging sie nach Hollywood und schließlich mit ihrem zweiten Ehemann nach Jerusalem. Insbesondere die Flucht aus Deutschland hat sich auch in ihren Gedichten niedergeschlagen. Während die Gedichte vor ihrer Flucht betont unpolitisch sind, kreist ihre spätere Lyrik um Flucht, Exil und die Folgen des Nationalsozialismus. So bezieht sich auch das Gedicht Höre, Teutschland explizit auf den deutschen Nationalsozialismus, indem es die Gräueltaten anklagt, wie bereits der Untertitel mit Verweis auf die Konzentrationslager Majdanek und Buchenwald anzeigt. Bemerkenswert und aussagekräftig ist zunächst die Publikationsge‐ schichte des Gedichts. 1945 wird es im Band Verse für Zeitgenossen in den USA in deutscher Sprache verlegt. Laut Kaléko lag die Auflagenhöhe im Schoenhof-Verlag zwischen 2.000 bis 3.000 Exemplaren (vgl. K ALÉK O [2012] 2013, III, 1430 f.). Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bemüht sich Kaléko intensiv darum, im deutschen Sprachraum wieder Fuß zu fassen. Nachdem Kaléko 1952 den Kontakt zum Rowohlt-Verlag wieder aufgenommen hatte, kommt es 1956 zu einer Neuauflage der beiden ersten Gedichtbände Kalékos. In kurzer Folge kann Kaléko neue Gedichte auf dem 3. Schuldfragen 111 deutschen Markt positionieren und geht schließlich in Verhandlungen mit Rowohlts Sohn, der mittlerweile die Geschäfte führt, um eine Drucklegung der Verse für Zeitgenossen auszuhandeln. Obwohl Kalékos Gedichtbände bis 1935 und auch die Neuauflagen einen hohen Absatz bringen, kommt es zwischen der Dichterin und dem Verlag in verschiedenen Bereichen zu Problemen. Neben Verstimmungen über Presse- und Funkrechte bleibt die Gedichtauswahl für den Band Verse für Zeitgenossen ein Streitpunkt. Mit dem Lektor Wolfgang Weyrauch (1904-80) diskutiert Kaléko die Auswahl, den Umfang und den Stil der Gedichte. Weyrauch will maximal 50 Gedichte aufnehmen, worauf sich Kaléko schnell einlässt (vgl. S CHN E ID E R 2015, 205). Da die Dichterin aber auch neuere Gedichte platzieren will, muss man sich für die Veröffentlichung auf Streichungen einigen. Von den 54 Gedichten der amerikanischen Ausgabe werden lediglich 21 Gedichte in die Ausgabe von 1958 übernommen; ergänzt wird die Auswahl durch 33 neue Texte. Gedichte, in denen Kaléko Deutschland für den Zweiten Weltkrieg und die Shoah verantwortlich macht und in denen ihr Hass auf die Nationalsozialisten zum Ausdruck kommt, werden größtenteils gestrichen. Das hat möglicherweise marktstrategische Gründe: In ihrer früheren Heimat wäre ein Gedicht wie Höre, Teutschland dem Comeback vielleicht abträglich gewesen. Allerdings gibt es einige briefliche Äußerungen, die nahelegen, dass Kaléko gerade diese Gedichte für prädestiniert zur Publikation in Deutschland hält. So schreibt sie am 17. Februar 1957 dem jüdischen Verleger Felix Guggenheim (1904-76): „Das mein ‚hunch‘ [meine Ahnung] bezüglich der Emigrations‐ verse nicht falsch ist, dafür finde ich auch heute wieder einen Beweis, sahen Sie den heutigen NY Times Magazine-Artikel über den sensationellen Pu‐ blikumserfolg der deutschen ‚Anne Frank-Aufführungen? ‘“ (K ALÉKO [2012] 2013, II, 585 f.) Aus welchen Gründen Wolfgang Weyrauch diese Gedichte nicht aufneh‐ men wollte und warum sich Kaléko trotz anderer Publikationspläne so schnell darauf einließ, lässt sich anhand des Briefwechsels nicht rekonstru‐ ieren. Festzuhalten bleibt aber: Im Band von 1958, der in Deutschland unter demselben Titel wie in den USA veröffentlicht wurde, fehlt Höre, Teutschland. Höre, Teutschland (In memoriam Maidanek und Buchenwald) Der Tag wird kommen, und er ist nicht fern, Der Tag, da sie ans Hakenkreuz euch schlagen. Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 112 Da wird nicht eine Seele um euch klagen, Und nicht ein Hund beweinen seinen Herrn. 5 Umsäumt von Stacheldraht und Kerkermauern, Sind euch die frischen Gräber schon gerichtet, Voll feister Würmer, die auf Nahrung lauern. Habt ihr die Gier in ihnen doch gezüchtet. Geschändet habt ihr selbst die gute Erde. 10 Sie hat das Höllentreiben wohl gesehen. Und auch die Raben wissen, was geschehen, Als ihr wie Wölfe einfielt in die Herde. Sie werden kommen aus dem Land im Osten, Wo eure Panzertanks im Blute rosten. 15 Im Schlaf umzingeln werden euch die Scharen, Die eurer Mordlust stumme Opfer waren. Ihr Wimmern wird euch in den Ohren dröhnen, Wenn sie vereint der Massengruft entsteigen. Noch braust der Sturmwind, gegen euch zu zeugen. 20 Er hörte Nacht um Nacht das grause Stöhnen. Grell schreit von eurer Stirn das rote Zeichen. Verflucht auf ewig sei Germaniens Schwert! Verhasst ward mir der Anblick eurer Eichen, Die sich von meiner Brüder Blut genährt, 25 Verhasst die Äcker, die da blühn auf Leichen. Wie hass ich euch, die mich den Hass gelehrt … (K A L É K O [2012] 2013, I, 184) Dass Kaléko mit diesem Gedicht möglicherweise gar nicht die deutschen Leserinnen und Leser adressieren wollte, legt auch die Vorabpublikation im New York Times Magazine nahe. Das Gedicht richtet sich nicht an die deutsche Leserschaft, sondern an internationale Adressaten, wie Kalékos englische Fassung des Gedichts suggeriert. Ob die deutsche oder die engli‐ sche Fassung zuerst entstanden ist, ist nicht geklärt. Auch Jutta Rosenkranz macht in ihrem Kommentar zur historisch-kritischen Werkausgabe hierzu 3. Schuldfragen 113 keine Angaben (vgl. K ALÉKO [2012] 2013, IV, 58 f.). Sicher ist nur, dass Kalékos Hear, Germany! , das durch das Ausrufungszeichen in der englischen Fassung noch an Emphase gewinnt, bereits am 14. März 1943 veröffentlicht wurde, während sich Höre, Teutschland erst in der amerikanischen Ausgabe der Gedichtsammlung Verse für Zeitgenossen (1945) findet. Auch in der englischen Version legt Kaléko Wert auf eine ästhetische Faktur, wenn sie beispielsweise das alternierende Endreimschema beibehält: The day will come, it is not far ahead, When you will hang upon your crooked cross, And not a living soul will mourn your loss, And not a dog will howl his master, dead. (K A L É K O [2012] 2013, I, 185) Sowohl in der englischen als auch in der deutschen Fassung dominieren die drastischen Bilder der Vergeltung. Ein Ich-Sprecher klagt dabei eine Gruppe von Tätern an, die bereits im zweiten Vers als Nationalsozialisten ausgewiesen werden: „Der Tag wird kommen, und er ist nicht fern, / Der Tag, da sie ans Hakenkreuz euch schlagen.“ (v. 1 f.) Die Anapher stellt die Bedeutung des einen Tages als Tag der Vergeltung heraus, wobei im zweiten Vers eine explizite Verknüpfung von nationalsozialistischer und christlicher Symbolik erfolgt, wenn die Täter „ans Hakenkreuz“ geschlagen werden. Diese Täter, die über weitere nationalsozialistische Schlüsselbe‐ griffe („Germanien“, „Eichen“, v. 22 f.) als Deutsche gekennzeichnet werden, sind die Adressaten des sprechenden Ich. Über die zentralen Begriffe und Wendungen, wie „Hakenkreuz“ bzw. ‚Ans-Kreuz-Schlagen‘, „Germaniens Schwert“ oder „Eichen“, wird die Instrumentalisierung christlicher, mit‐ telalterlicher und romantischer Mythologie durch die Nationalsozialisten herausgestellt. Wie schon die Hakenkreuze nun am kurz bevorstehenden Tag der Vergeltung umfunktionalisiert werden, dominiert in den ersten drei Strophen die Umwertung nationalsozialistischer Begriffe, Symbole und Artefakte: Der ‚Herr‘ wird nicht einmal mehr von seinem „Hund“ beweint und „Stacheldraht“ und „Kerkermauern“ bezeichnen nicht mehr nur den Platz der von den Nationalsozialisten Ermordeten, sondern auch das eigene Grab. Der Modus der Umkehr wird dann besonders eindringlich in der vierten Strophe als Totenwiederkehr geschildert. Ein Umschwung wird hier auch durch die Ablösung des umarmenden Reims durch den Paarreim markiert (v. 13-16): Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 114 Sie werden kommen aus dem Land im Osten, Wo eure Panzertanks im Blute rosten. Im Schlaf umzingeln werden euch die Scharen, Die eurer Mordlust stumme Opfer waren. Einerseits verweist das Gedicht, das wohl im Frühjahr 1943 entstanden ist, auf den Zusammenbruch der Ostfront, der sich bereits 1942/ 43 in der Schlacht um Stalingrad abzeichnete und ab Sommer 1943 im Vorrücken der Roten Armee bis zum Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte im Sommer 1944 dann faktisch realisieren sollte. Dass es sich bei dem Angriff auf die Sowjetunion um einen Vernichtungskrieg handelte, wird auch im Gedicht deutlich, wenn die im Blut rostenden Panzer erwähnt werden. Andererseits verweist der Ich-Sprecher über das Bild der auferstehenden Toten auch auf den Schuldkomplex: Wenn die Ermordeten die hier Angesprochenen „[i]m Schlaf umzingeln“ (v. 15) und „[i]hr Wimmern […] euch in den Ohren dröhn[t]“ (v. 17), dann scheint es sich auch um Geistererscheinungen zu handeln, die die Sühne für begangene Gräueltaten einfordern. Die Wieder‐ kehr der Toten als Rächende ist jedoch in naher Zukunft situiert: „Noch braust der Sturmwind, gegen euch zu zeugen“ (v. 19), womit aber bereits eine übermenschliche Instanz als Ankläger aufgerufen wird. In der sechsten Strophe weisen die Schuldigen auch das äußere Zeichen der Schuld auf: „Grell schreit von eurer Stirn das rote Zeichen.“ (v. 21) Die Signalfarbe Rot stellt eine Verbindung zum vergossenen Blut her und korrespondiert mit dem Adjektiv, das den Vers einleitet: Das Mal der Schuld ist auffällig, es blendet förmlich („Grell“) und sticht in unangenehmer Weise hervor. Dies wird über das direkt folgende Verb ‚schreien‘ sogar gesteigert. Der offensichtlichen, ‚schreienden‘ Schuld gewahr werdend, stößt der Ich-Sprecher einen Fluch aus: „Verflucht auf ewig sei Germaniens Schwert! “ (v. 22) Dass das Ich durchaus von den Taten der hier Adressierten betroffen ist, wird schließlich auch deutlich: „Verhasst ward mir der Anblick eurer Eichen, / Die sich von meiner Brüder Blut genährt“ (v. 23 f.). Einerseits wird damit deutlich, dass „Teutschland“ zwar im Titel als Adressat genannt ist, faktisch aber Vertreter des Landes gemeint sein dürften. Andererseits gründet der Fluch auf einem unbedingten Hass, den das Ich aber reflektiert, worauf der isoliert stehende Schlussvers des Gedichts verweist: „Wie hass ich euch, die mich den Hass gelehrt …“ (v. 26). Damit wird eine Gruppenzuge‐ hörigkeit realisiert, die sich auch in der Struktur Opfer vs. Täter manifestiert. Die deutsche Fassung des Gedichts erweist sich aber als ambivalenter als 3. Schuldfragen 115 die englische Version. Zwar gehört der Ich-Sprecher der Gruppe der Opfer an, gleichwohl spricht das Gedicht die Sprache der Täter: Der deutsche Kriegswille und das deutsche Land, für das die Eichen stellvertretend stehen, werden zwar gehasst, doch gehört der Ich-Sprecher aufgrund der gesprochenen Sprache zur ‚Kultur‘ der hier Adressierten. Wenn „Eichen“ (v. 23) auf „Leichen“ (v. 25) gereimt wird, markiert dies aber eine gravierende Entfremdung von einem Land, das auf Leichen gebaut ist. Dass Kaléko mit dieser heftigen Anklage 1958 nicht an die deutsche Öffentlichkeit gehen konnte oder wollte, ist durchaus nachvollziehbar. Umso größere Bedeutung hat die englische Fassung, die belegt, dass dieses Gedicht, das Teil der Schuld-Konstellation der deutschen Nachkriegslyrik ist, als Kommunikation nach außen zu verstehen ist. Zwar wird Deutschland als Adressat im Titel angerufen, doch richtet sich der Ich-Sprecher nur vermeintlich an die Täter. Vielmehr scheint es sich um eine Selbstvergewisserung und Selbst‐ distanzierung zu handeln, worauf insbesondere der letzte, isoliert stehende Vers verweist. Dass damit gleichzeitig eine internationale Leserschaft - zumindest indirekt - adressiert wird, dürfte auf der Hand liegen. Der angesprochene Adressat, „Teutschland“, wäre also eine Apostrophe, aber nicht der eigentliche Adressat. Neben dieser Kommunikation nach außen bietet das Gedicht jedoch auch Anknüpfungspunkte für eine dritte Adressatengruppe: die exilierten deut‐ schen Juden. Jutta Rosenkranz erkennt im Kommentar zu Höre, Teutschland eine Anspielung auf das hebräische Gebet Schma Jisrael (Höre, Israel), das als jüdisches Glaubensbekenntnis im Morgen- und Abendgebet und bei Begräbnissen eine große Rolle spielt. Es hebt die Einzigartigkeit und Einheit Gottes hervor (vgl. K ALÉK O [2012] 2013, IV, 58). Welche Bedeutung dieser intertextuelle Bezug, der die drastische Anklage in einen religiösen Kontext stellt, für das vorliegende Gedicht hat, wird leider nicht ausgeführt. Aber möglicherweise handelt es sich bei Höre, Teutschland um ein invertiertes Glaubensbekenntnis, das den Hass als zentrales und vielleicht verbindendes Glied einer Gemeinschaft herausstellt. Im Schma Jisrael wird zu Beginn der Tagesanbruch begrüßt, dann die Liebe zu Gott und zum Volk Israel besungen und danach das Glaubensbekenntnis (also: die Anerkennung der göttlichen Autorität) bekräftigt. Kaléko kehrt diese Operationen in ihrem Gedicht um: ‚Teutschland‘ ist darin Anti-Israel. Der intertextuelle Bezug importiert einen tradierten Adressatenkreis. Mit Blick auf den Titel des Gedichts scheint noch ein weiterer intertextueller Bezug naheliegend: Kalékos Gedicht weist einige Ähnlichkeiten mit dem 1641 in Amsterdam veröffentlichten Sonett Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 116 An das Teutschland von Georg Rodolf Weckherlin (1584-1653) auf. In beiden Gedichten wird Deutschland in einem Moment des Ausnahmezustands angesprochen: Weckherlins Gedicht thematisiert den Dreißigjährigen Krieg, während es bei Kaléko um das nahe Ende des Zweiten Weltkriegs geht. Beide Dichter lebten zum Zeitpunkt der Gedichtproduktion zudem im Ausland (Kaléko lebte in New York, Weckherlin war seit 1620 in England), und beide Gedichte wurden im Erstdruck außerhalb des deutschsprachigen Gebiets publiziert. Aber auch strukturell ähnelt An das Teutschland Kalékos Höre, Teutschland, wenngleich bei Weckherlin ein Deutschland angerufen wird, das sich gegen die Gewalt und die Schrecknisse des Dreißigjährigen Kriegs erheben solle: ZErbrich das schwere Joch / darunter du gebunden / O Teutschland / wach doch auff / faß wider einen muht (W E C K H E R L I N 1641, 515, alle weiteren Zitate ebd.) Gleichzeitig wird auch hier die Rache an den Feinden beschworen, wenn die „glut“ mit „dem boͤsen blut“ der Feinde und „falschen bruͤder“ gelöscht werden solle. Wenn man sich endlich gegen die Peiniger wehrt, so werde Gerechtigkeit für Deutschland herrschen: So laß nu alle forcht / vnd nicht die zeit, hinfahren / vnd got wird aller welt / daß nichts dan schand und schmach des feinds meynaid vnd stoltz gezeuget / offenbaren. Das Zeugma verweist an dieser Stelle auf das rasche Handeln, das nötig wäre, um Schuld und Schande von Deutschland abzuwenden. Insofern mutet Kalékos Gedicht wie eine Antwort auf Weckherlin an: Hoffnung auf Rückkehr in einen unschuldigen Zustand besteht nach 1945 nicht mehr; die Schuld kann nicht mehr abgewendet werden. In Kalékos Höre, Teutschland wird Zugehörigkeit mit den Mitteln der Li‐ teratur vorgeführt und verhandelt. Das Erkennen der intertextuellen Bezüge ist kultur- und gruppenspezifisch: Der ‚deutsche‘ Adressat liest das Gedicht als Anklage, das Ausland als Appell und der exilierte jüdische Adressat als Absage an seine Zugehörigkeit. Und doch ist ‚Teutschland‘ Kalékos ‚Lehrer‘, wenn auch ein ‚Lehrer des Hasses‘ - sie wird ihre Zugehörigkeit nicht los. 3. Schuldfragen 117 3.3. Werner Bergengruen: Kommunikation nach innen Werner Bergengruen gehört nach 1945 zu den etablierten Autoren, die sofort Publikationsmöglichkeiten erhalten. Mit seinen Gedichtbänden, Romanen und Erzählungen wurde er einer der bekanntesten und erfolgreichsten Autoren der Nachkriegszeit. Nach 1945 steigt die Auflagenzahl seines Werks auf mehrere Millionen (vgl. B ÄNZI G E R [1960] 1983, 27). Sein Gedichtband Die heile Welt erreichte von 1950 bis 1962 sechs Auflagen. Dies mag heute, da Bergengruens Texte in der Regel weder Schulnoch Universitätslektüre und aus dem literarischen Kanon nahezu vollständig verschwunden sind, irritie‐ ren. Mutmaßlich repräsentierte Bergengruen nicht nur die Sehnsucht nach Kontinuität - er war schließlich seit den 1920er Jahren und auch während des Nationalsozialismus ein viel publizierender Schriftsteller -, sondern seine Gedichte boten überdies eine ideale Projektions- und Identifikations‐ fläche für die deutsche Leserschaft. Ein wesentliches Charakteristikum ist dabei die Trostfunktion seiner Lyrik, die aus Bergengruens christlicher Verankerung resultiert. In seinem autobiografischen Text Schreibtischerin‐ nerungen (1961) fasst er sein lyrisches Trost-Konzept, das in enger Ausein‐ andersetzung mit Schuldfragen erwächst, zusammen: Je tiefer ich in die Welt der Bedrohten und Fürchtenden eintauchte und je unverkennbarer die Zeit um mich herum die Merkmale eines Furchtzeitalters annahm, um so deutlicher wurde es mir, daß das in dieser Zeit gesprochene Wort ein Wort des Trostes, der Aufrichtung, der Absage an die Furcht zu sein hatte. (B E R G E N G R U E N 1961, 129) Gleichzeitig unterlässt es Bergengruen sowohl in seinen Texten, die zwi‐ schen 1933 und 1945 entstanden sind, als auch in den Texten nach 1945, eine offene politische Positionierung vorzunehmen: Die Sujets seiner Erzählun‐ gen sind im Mittelalter und in der Renaissance situiert; die Lyrik bedient sich christlicher Themen. Die Kehrseite dieser apolitischen Trost-Lyrik hat Adorno bereits in Jargon der Eigentlichkeit (1964) erkannt, wo er sich in ideologiekritischer Weise gegen den zeitgenössischen Sprachgebrauch wendet. Insbesondere der Er‐ folg von Bergengruens Sammlung Die heile Welt wird von Adorno drastisch kritisiert. Im Zentrum steht dabei das in vielen Gedichten dieses Bandes zum Ausdruck kommende Gefühl dankbarer Zustimmung zum Dasein: „Der Band von Bergengruen ist nur ein paar Jahre jünger als die Zeit, da man Juden, die man nicht gründlich genug vergast hatte, lebend ins Feuer warf, Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 118 wo sie das Bewußtsein wiederfanden und schrien. Der Dichter, dem man bestimmt keinen billigen Optimismus nachsagen könnte, […] vernahm[] nichts als Lobgesang.“ (A DO R N O [1964] 1971, 23 f.) Bergengruen, der 1892 in Riga geboren wurde und mit seiner Familie aufgrund der Russifizierung exilieren musste, ist im Kontext der Inneren Emigration eine bedeutende Person. Er war weder NSDAP-Mitglied noch aktiver Unterstützer des Regimes, dennoch blieb er in Deutschland. Zwar wird er aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen, Publikationsver‐ bot erhält er jedoch nicht (vgl. B E R G E N G R U E N 1966, 115; B E R G E N G R U E N 2005, 279). Wegen der in Bergengruens Texten unterlegten Hochschätzung solda‐ tischer Tugenden sind sie für eine völkische Deutung durchaus anschluss‐ fähig, wenngleich man sich bei den NS-Kulturbehörden sicher ist, dass Bergengruen ‚politisch unzuverlässig‘ sei (vgl. S A R KOWICZ / M E NTZ E R 2000, 90). Dennoch schreibt er für die Krakauer Zeitung, die im von der Wehrmacht besetzten Polen klar auf Linie der NS-Ideologie war (vgl. O R ŁOW S KI 1999, 90). In seinen autobiografischen Schriften, wie den zu Lebzeiten publizierten Schreibtischerinnerungen (1961) oder dem Compendium Bergengruenianum, wird seine geistige Ablehnung des NS-Regimes deutlich. Diesen autobiogra‐ fischen und tagebuchartigen Texten steht der Vorwurf gegenüber, dass sich Bergengruen in seiner literarischen Produktion nach 1945 nur unzureichend mit dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt und die Zeit zwischen 1933 und 1945 marginalisiert habe (vgl. C ZA P LA 2008, 56). Während die Beschäftigung mit Zeitgeschichte in vielen Texten ostentativ verweigert wird, setzt sich Bergengruen in seinem Gedichtband Dies Irae dezidiert mit dem Nationalsozialismus und seinen Folgen auseinander. Der Band wird direkt nach Kriegsende publiziert und umfasst insgesamt 17 Gedichte. Laut der abschließenden Notiz entstanden die Texte „im Sommer 1944“ (B E R G E N G R U E N 1945, 47). Für das Schlussgedicht, das den Titel An die Völker der Erde trägt, kann dies jedoch nicht gelten - es muss nach dem Ausgang des Zweiten Weltkrieg verfasst worden sein, da das Gedicht bereits das Ende der zwölfjährigen NS-Herrschaft als Ausgangspunkt nimmt. Während die ersten 16 Gedichte das Leiden, das Deutsche während des Nationalsozialismus über andere gebracht haben, mitunter deutlich benen‐ nen (z. B. Die letzte Epiphanie), werden im Schlussgedicht Leid, Schrecken und Gewalt verallgemeinert. Hans Bänziger, der 1960 eine erste Monografie zu Leben und Werk Bergengruens vorlegt, erkennt die Problematik dieses Gedichts, wenn er noch recht freundlich feststellt: An die Völker der Erde konnte „im Nachkriegsdeutschland tatsächlich für Gegner Deutschlands 3. Schuldfragen 119 und Neutrale peinlich wirken“ (B ÄNZIG E R [1960] 1983, 44). Max Frisch (1911- 91) bringt in seiner Rezension im Januar 1946 in der Schweizer Rundschau zu diesem Gedicht nur die Frage heraus: „Geht das an? “ (F R I S CH 1976, 308) Das Problem dieses Gedichts liege „im Verhältnis zwischen Wort und Standort“ (F R I S CH 1976, 309). Bergengruen hat als deutscher Dichter der Inneren Emi‐ gration - schon im Blick der Zeitgenossen - eine begrenzte Lizenz des Sag‐ baren. Während Nelly Sachs (1891-1970) in ihrem Band In den Wohnungen des Todes (1947) das Leid des jüdischen Volks verallgemeinern und religiös aufladen kann, ohne dass sich Rezensenten daran stoßen - möglicherweise auch weil Sachs’ Gedichtband bei seinem Erscheinen weitgehend ignoriert wurde -, erscheint Bergengruens religiöse Verallgemeinerung und seine Mahnung an die Völker der Erde als Anmaßung. Die deutsche Schuld, so Frisch, könne sich nicht in eine religiöse Allgemeinschuld auflösen. Anknüpfend an den aus dem katholischen Ritus der Totenmesse stam‐ menden Bandtitel spielen religiöse Themen und Formen eine wesentliche Rolle für An die Völker der Erde. Das ist wenig verwunderlich, galt Bergen‐ gruen doch spätestens seit seiner Konversion zum Katholizismus 1936 als religiöser Dichter. Dies Irae ist ein mittelalterlicher Hymnus über das Jüngste Gericht, der noch bis 1970 im römischen Ritus präsent war. Diese eschatolo‐ gische Perspektive adaptiert Bergengruen nun für die Zeit nach 1945, indem er das Jüngste Gericht mit den anstehenden Prozessen über die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs und des Nationalsozialismus überblendet. Dabei kritisiert er keinesfalls, dass Gericht gehalten wird. Über die Gräuel war sich Bergengruen im Klaren; das belegen die übrigen Gedichte und auch Ber‐ gengruens Tagebuchaufzeichnungen geben entsprechende Auskunft. Umso irritierender mutet die Argumentations- und Kommunikationsstruktur des vorliegenden Gedichts an. An die Völker der Erde Zwölf, du äußerste Zahl und Maß der Vollkommenheiten, Zahl der Reife, der heilig gesetzten! Vollendung der Zeiten! Zwölfmal ist das schütternde Eis auf den Strömen geschwommen, zwölfmal das Jahr zu des Sommers glühendem Scheitel geklommen, 5 zwölfmal kehrten die Schwalben, weißbrüstige Pfeile, nach Norden, zwölfmal ist gesät und zwölfmal geerntet worden. Zwölfmal grünten die Weiden und haben die Bäche beschattet, Kinder wuchsen heran und Alte wurden bestattet. Viertausend Tage, viertausend unendliche Nächte, Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 120 10 Stunde um Stunde befragt, ob eine das Zeichen brächte! Völker, ihr zählt, was an Frevel in diesem Jahrzwölft geschehen. Was gelitten wurde, hat keiner von euch gesehen, keiner die Taufe, darin wir getauft, die Buße, zu der wir erwählt, und der Engel allein hat Striemen und Tränen gezählt. 15 Er nur vernahm durch Fanfarengeschmetter, Festrufe und Glockendröhnen der Gefolterten Schreien, Angstseufzer und Todesstöhnen, er nur den flatternden Herzschlag aus nächtlichen Höllenstunden, er nur das Wimmern der Frau’n, denen die Männer verschwunden, er nur den lauernden Schleichschritt um Fenster und Pforten, 20 er nur das Haßgelächter der Richter und Häftlingseskorten - - Völker der Welt, die der Ordnung des Schöpfers entglitt, Völker, wir litten für euch und für eure Verschuldungen mit. Litten, behaust auf Europas uralter Schicksalsbühne, litten stellvertretend für alle ein Leiden der Sühne. 25 Völker der Welt, der Abfall war allen gemein: Gott hatte jedem gesetzt, des Bruders Hüter zu sein. Völker der Welt, die mit uns dem nämlichen Urgrund entstammen: Zwei Jahrtausende stürzten vor euren Grenzen zusammen. Alle Schrecknis geschah vor euren Ohren und Blicken, 30 und nur ein Kleines war es, den frühen Brand zu ersticken. Neugierig wittert ihr den erregenden Atem des Brandes. Aber das Brennende war der Herzschild des Abendlandes! Sicher meintet ihr euch hinter Meeren und schirmendem Walle und vergaßt das Geheimnis: was einen trifft, das trifft alle. 35 Jeglicher ließ von der Trägheit des Herzens sich willig verführen, jeglicher dachte: „Was tut es … an mich wird das Schicksal nicht rühren … ja, vielleicht ist’s ein Vorteil … das Schicksal läßt mit sich reden …“ Bis das Schicksal zu reden begann, ja, zu reden mit einem jeden. Bis der Dämon, gemästet, von unsrem Blute geschwellt, 40 brüllend über die Grenzen hervorbrach, hinein in die Welt. Völker der Erde, ihr haltet euer Gericht. Völker der Erde, vergeßt das Eine nicht: Immer am lautesten hat sich der Unversuchte entrüstet, immer der Ungeprüfte mit seiner Stärke gebrüstet, 45 immer der Ungestoßne gerühmt, daß er niemals gefallen. Völker der Welt, der Ruf des Gerichts gilt uns allen. Alle verklagt das gemeinsam Verrat’ne, gemeinsam Entweihte. Völker, vernehmt mit uns allen das göttliche: Metanoeite! (B E R G E N G R U E N 1945, 41-43) 3. Schuldfragen 121 Die ersten sieben Verse, die über die anaphorische Struktur miteinander verbunden werden, pointieren die Kontinuität des Weltganzen. In zwölf Jahren vollzog sich regelmäßig und unaufgeregt der Jahreszeitenwechsel, Schwalben flogen nach Norden, der Winter wurde vom Sommer abgelöst und „Kinder wuchsen heran“, während „Alte“ starben (v. 8). Gleichzeitig stellt die Sprechinstanz direkt zu Beginn des Gedichts die mythische Be‐ deutung der Zahl Zwölf heraus: „Zwölf, du äußerste Zahl und Maß der Vollkommenheiten, / Zahl der Reife, der heilig gesetzten! Vollendung der Zeiten! “ (v. 1 f.) Die heilsgeschichtliche Perspektive, in die Bergengruen das Folgende eingliedert, wird somit in den ersten beiden Versen bereits eingeführt. Es folgt die Aufgliederung der zwölf Jahre in Tage (v. 9) und Stunden (v. 10). Dass die zwölf Jahre dabei eine Leidenszeit darstellen, wird über die Hoffnung auf ein „Zeichen“ (v. 10) nahegelegt. Über die Exclamatio erhält die Suche nach einem göttlichen Zeichen der Erlösung besonderen Nachdruck. Dass es sich bei den genannten zwölf Jahren um die Zeit des Nationalsozialismus handelt, wird über das Signalwort „Frevel“ (v. 11) deutlich. Hiernach folgt ein Perspektivwechsel, der über eine Apostrophe relativ unvermittelt hergestellt wird. Nun sind es die „Völker“, die die „Frevel in diesem Jahrzwölft“ zählen (v. 11). Die Kommunikationssituation gliedert sich ab Vers 11 in ein Wir und ein Ihr, wobei sich die Sprechinstanz der Wir-Gruppe zurechnet. In den folgenden Versen wird deutlich, dass das Wir das deutsche Volk und das Ihr die anderen Nationen der Erde bezeichnet. Diese Opposition strukturiert dann die folgenden Verse: „Was“ in dem „Jahrzwölft“ des Nationalsozialismus „gelitten wurde, hat keiner von euch gesehen, / keiner die Taufe, darin wir getauft, die Buße, zu der wir erwählt“ (v. 12 f.). Einzig die göttliche Macht, in Person des Engels, ist fähig, durch das „Fanfarengeschmetter“, die „Festrufe“ und das „Glockendröhnen“ das Schreien und den Jammer zu hören (v. 15). Das Enjambement verbindet dabei auf formaler Ebene das „Glockendröhnen“ mit dem „Schreien“ der Gefolterten. Dieser versteckte Schrecken wird in einer sechs Verse umfas‐ senden Enumeratio mit Nachdruck thematisiert (vgl. v. 15-20). Die diese Aufzählung abschließenden zwei Gedankenstriche markieren den Gedankenabbruch, ohne dass die Liste vollständig abgeschlossen wäre. Es folgt erneut die Anrede an die „Völker der Erde“ und der Vorwurf, dass ihnen die „Ordnung des Schöpfers entglitt“ (v. 21). Über die anaphorische Struktur dieser Verse entsteht eine nachdrückliche Ansprache, die den Vorwurf schuldhaften Handelns aller (! ) hervorhebt. Weil den übrigen Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 122 Völkern die göttliche Ordnung „entglitt“ (v. 21), stellt die Sprechinstanz die Legitimation der Völker als Richter in Frage. Damit wären zwei Argumente im Gedicht genannt, weswegen ‚die Völker der Erde‘ nicht über das Wir gerecht richten könnten: (1) Man hat nicht das gesamte Ausmaß der Schre‐ cken gesehen, da sich das Meiste für die Weltbevölkerung im Versteckten abspielte und (2) schließlich ist man selbst schuldig geworden, da man nicht eingriff. Diese beiden Argumente werden nun weiter vor dem religiösen Deutungsmuster ausgefaltet. Die Sprechinstanz, die sich als Teil des kollektiven Wir positioniert, hebt den stellvertretenden Charakter des erfahrenen Leids hervor: „Völker, wir litten für euch und für eure Verschuldungen mit.“ (v. 22) Die deutsche Schuld wird als gottgewollte Allgemeinschuld gedeutet und damit transzendiert. Die Jahre des Nationalsozialismus werden religiös aufgeladen, indem das deutsche Volk zum leidenden Volk stilisiert wird. Dabei wird auch die Verantwortung für die Machtübertragung verschoben. Das stellvertretende Leiden, das in Vers 24 wiederholt wird, steht zudem in der Tradition Jesu Christi, der am Kreuz für die Sünden der Menschen gelitten hat. Ähnlich verhält es sich nun mit dem Nationalsozialismus und den Deutschen: Aus Sicht der Sprechinstanz sei es ein „Dämon“ (v. 39) gewesen, der sich am Blut der Deutschen geweidet habe und gegen den man als einzelner Mensch nichts ausrichten konnte. Das „Jahrzwölft“ (v. 11) musste ertragen und durchlitten werden, da die Deutschen von einer dämonischen Macht heimgesucht wurden. Gleichzeitig, und das scheint ein Widerspruch zu der Vorstellung einer numinosen Macht zu sein, haben die übrigen Völker der Erde ihre Pflicht nicht erfüllt, frühzeitig zu intervenieren: „Alle Schrecknis geschah vor euren Ohren und Blicken“ (v. 29). Es wäre „nur ein Kleines“ gewesen, „den frühen Brand zu ersticken.“ (v. 30) Hier kommt Bergengruens religiöse Aufladung des Nationalsozialismus an ihre Grenzen. Die Eindringlichkeit der 48 Verse, die im Paarreim gehalten sind, wird vor allem über diverse Wiederholungsfiguren (wie z. B. Anaphern) erzeugt, wodurch auch eine Ähnlichkeit zu Kirchenliedern evoziert wird. Dabei spielt eine spezifische Vorstellung vom Abendland eine große Rolle, denn die Sprechinstanz richtet sich an die „Völker der Welt, die mit uns dem nämlichen Urgrund entstammen“ (v. 27). Hier wird eine christlich-abend‐ ländische Gemeinschaft beschworen, die ihren Zusammenhalt in zwei Jahr‐ tausenden Christentum besitzt. Dieser christlich-humanistische „Urgrund“ ist nun aber zusammengestürzt (v. 27). Auch aus dieser Erinnerung an die gemeinschaftliche Verantwortung eines abendländischen Europas bzw. 3. Schuldfragen 123 einer abendländisch geprägten (westlichen) Welt entspringt eine allgemeine Verantwortung, die aber von den Adressaten der Sprecherrede nicht ange‐ nommen wurde: „Sicher meintet ihr euch hinter Meeren und schirmendem Walle / und vergaßt das Geheimnis: was einen trifft, das trifft alle.“ (v. 33 f.) Allerdings verwendet die Sprechinstanz diese Verantwortung zur Entlas‐ tung für die eigene Schuld. Zwar ist der christlich-humanistische Impetus, der hinter der Rede des Wir-Sprechers steht, ethisch-moralisch nachvollziehbar: „Immer am lautes‐ ten hat sich der Unversuchte entrüstet, / immer der Ungeprüfte mit seiner Stärke gebrüstet, / immer der Ungestoßne gerühmt, daß er niemals gefallen.“ (v. 43-45) Der Parallelismus evoziert aber auf syntaktischer Ebene bereits die semantische Folgerung: Schuld ist geteilte Schuld. Nicht das deutsche Volk müsse angeklagt werden, sondern „das gemeinsam Verrat’ne, gemeinsam Entweihte“ klagt „Alle“ an (v. 46) - also auch die anderen „Völker der Erde“. In Kombination mit der religiösen Aufladung der NS-Herrschaft als Zeit der ‚Dämonie‘ erhält das hier vorgetragene Argument jedoch eine moralische Schieflage, da von der eigenen Schuld des Wir keine Rede ist. Das Wir erscheint vielmehr als Opfer. Als Schlussgedicht des Bandes gewinnt diese einseitige Perspektive besonderes Gewicht. Es handelt sich um eine dichterische Mahnung, dass auch das deutsche Volk gelitten habe. Damit schlägt Bergengruen einen Bogen zum Eingangsgedicht des Bandes: Wo ist das Volk, das dies schadlos an seiner Seele ertrüge? Jahre und Jahre war unsre tägliche Nahrung die Lüge. Festlich hoben sie an, bekränzten Maschinen und Pflüge, sprachen von Freiheit und Brot, und alles, alles war Lüge. (B E R G E N G R U E N 1945, 7) Die religiöse Aufladung, mit der die Rede in An die Völker der Erde als mah‐ nende Predigt präsentiert wird, findet im Schlussvers über den Verweis auf das Matthäusevangelium ihren Höhepunkt: „Völker, vernehmt mit uns allen das göttliche: Metanoeite! “ (v. 48) Im Gedichtband stellt Bergengruen sicher, dass die griechische Wendung auch von einer nicht sonderlich bibelfesten Leserschaft verstanden wird. Denn am Ende findet sich eine Anmerkung: „Zur Seite 43: Das griechische Wort Metanoeite ist der Predigt Johannes des Täufers entnommen. Es bedeutet im kirchlichen Sprachgebrauch: Tut Buße. Wörtlich übersetzt: Ändert euren Sinn.“ (B E R G E N G R U E N 1945, 47) Im Matthäusevangelium wird über Johannes den Täufer berichtet, wie er in Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 124 der Wüste seine Botschaft verkündet: „Kehrt um! Denn das Himmelreich ist nahe.“ (Mt 3,2) Gemeint ist damit eine Aufforderung zum Sinneswandel. Das Umkehren meint hier ein Umdenken. Metanoeite kommt im Matthäus‐ evangelium allerdings auch in einer Reich-Gottes-Verkündigung von Jesus Christus vor. Direkt im Anschluss an eine abgewehrte Versuchung durch den Teufel plädiert auch Christus, wie Johannes, für eine Umkehr. Hier meint metanoeite ein Umdenken, das auf Verhaltensänderung im Angesicht der drohenden teuflischen Verführung zielt (vgl. Mt 4,17). Auch Bergengruen nutzt metanoeite in diesem doppelten Sinn. Die Sprechinstanz mag sich in der Rolle des Bußpredigers erkennen, jedoch positioniert sie sich als Teil des Wir. Auch hier scheint das ‚Verhältnis von Wort und Standort‘ des Sprechenden vertrackt, denn der Sprecher spricht keineswegs aus einer ahistorischen Wüste, sondern aus dem vom Krieg zerstörten Deutschland. Insofern kann die abschließende Aufforde‐ rung, dass die anderen Völker ihren Sinn umkehren und ebenso wie das deutsche Volk Buße tun müssten, nicht ernsthaft an die Völker der Erde adressiert sein. Vielmehr bietet Bergengruen hier eine camouflierte Adres‐ sierung: Das Gedicht ist zwar über den Titel an die Weltgemeinschaft gerichtet. Da es aber ausschließlich in Deutschland und ausschließlich auf Deutsch publiziert wird, scheint es vor allem eine Kommunikation nach innen zu sein. Nicht die europäischen Nachbarn, die USA und die Sowjetunion sind hier angesprochen, sondern die deutsche Leserschaft. Die titelgebende Apostrophe verdeckt also die eigentlichen Adressaten. Erst vor der Folie dieser Kommunikation nach innen ist zu erklären, welche Funktionen mit der Verklärung des Nationalsozialismus als numi‐ nose, dämonische Macht verbunden sind. Bergengruens An die Völker der Erde schreibt der unmittelbaren Vergangenheit einen Sinn zu, der von den zeitgenössischen Leserinnen und Lesern dankend aufgenommen wurde. Das unzweifelhaft erfahrene Leid der Deutschen wird im Kontext der Heilsge‐ schichte als Stellvertreterleid für alle anderen Nationen stilisiert, während andere Bevölkerungsschichten und deren Verfolgung und Ermordung nicht explizit erwähnt werden. Bergengruen stellt mit seinen deutlichen Bezügen zur Heilsgeschichte den Deutschen gewissermaßen eine Belohnung in Aussicht und suggeriert, dass sie sogar durch ihre Verfehlungen den anderen Völkern überlegen seien. Das metanoeite gilt nicht den Deutschen, sondern den Völkern der Erde. Diese Argumentation wurde in der poetologischen Hinführung mit dem Hirtenbrief des Erzbischofs von Freiburg (1872-1948) herausgearbeitet. Auch die Apologeten der Inneren Emigration - Thiess 3. Schuldfragen 125 (1890-1977), von Molo (1880-1958) oder Benn (1886-1956) - standen dieser Argumentationsstruktur nahe. Die Wirkkraft dieser Stilisierung darf nicht unterschätzt werden. In seiner Laudatio anlässlich der Vergabe der Ehrendoktorwürde an Bergengruen am 24. Juni 1958 schließt Hermann Kunisch (1901-91), seit 1955 Professur für Neuere Deutsche Literatur an der Ludwig-Maximilians-Universität Mün‐ chen, mit den Worten: „Wir danken mit dieser Ehrung für ein Werk, in dem Trost angeboten ist, da es verweist auf Möglichkeit und Verheißung des Heilwerdens“ (K UNI S CH 1958, 33). Der Trost, der hier gemeint ist, bezieht sich aber auf eine bestimmte Gruppe, die im Nachkriegsdeutschland wohl die Mehrheit der Leserschaft ausmachte. Bergengruen bietet ein Lektüreange‐ bot, das die deutsche Schuld als eine Schuld aller Völker verallgemeinert und mittels religiöser Erklärungsmodelle sogar als christliches Märtyrertum verklärt. Für die unmittelbare Nachkriegszeit war das offensichtlich ein äußerst attraktives Angebot, das aber im Zuge der politischen und gesell‐ schaftlichen Umwälzungen ethisch-moralisch zunehmend problematischer wurde. 3.4. Wolfdietrich Schnurre: Warnung vor dem Vergessen Wolfdietrich Schnurre wurde in der Nachkriegszeit als „Meister der kurzen Form“ bezeichnet, da er als Verfasser von Kurzgeschichten in den 1950er Jahren bekannt wurde (H ÜF N E R 1991, 347). Dabei lehnen sich Schnurres Erzählungen an die amerikanische short story an. Er war Gründungsmitglied der Gruppe 47 und hat im Rahmen der ersten Diskussionsrunde auch den ersten literarischen Text vorgestellt, der von den Mitgliedern der Gruppe 47 besprochen wurde. Es handelt sich um seine Kurzgeschichte Das Begräbnis, die 1948 in der Zeitschrift Ja. Zeitung der jungen Generation veröffentlicht wurde. Die in parataktischer Syntax gehaltene Sprache der Kurzgeschichte orien‐ tiert sich in der Wortwahl an der Umgangssprache. Dabei führen zahlreiche Ellipsen zu einer ‚natürlich‘ anmutenden Alltagssprache. Inhaltlich geht es um den Tod Gottes: Ein namenloser Ich-Erzähler erhält plötzlich und unvermittelt die Nachricht, dass Gott gestorben sei. Er reagiert gleichgültig und kann sich später sogar gar nicht richtig an den Namen des Toten erinnern. Dennoch geht der Ich-Erzähler zum Begräbnis, bei dem aber nur ein Pfarrer und zwei Totengräber zugegen sind. Während der Pfarrer seine Trauerrede schon nach wenigen Sätzen im strömenden Regen abbricht, Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 126 weil die Totengräber noch mit ihrer Arbeit beschäftigt sind, findet der Ich-Erzähler noch einmal die Todesanzeige. Dabei hört er, wie die Maschinen in der Stickstoff-Fabrik rattern und beobachtet, wie der Pfarrer hinkend den Friedhof verlässt. In dieser Kurzgeschichte, die oftmals als Teil der Kahlschlags- und Trümmerliteratur zitiert wird, wird ein existenzieller Glaubensverlust ins Bild gesetzt, der auch den Verlust an Menschlichkeit bedeutet. Formal umgesetzt wird dies über Parataxen, Alltagssprache und zahlreiche Ellipsen (vgl. B AU E R 1996, 61). Die Aushandlung von Schuldfragen besitzt für Schnurres gesamtes Werk eine große Bedeutung (vgl. A D E LHO E F E R 1990, 4, 74). Dies ließe sich auch auf persönliche Erlebnisse zurückführen. So wird er 1939 zur Wehrmacht eingezogen, wobei er sich nach eigener Auskunft aktiv und kriegsbegeistert zeigte (vgl. S CHNU R R E 1991, 43). Erst in den späten Kriegsjahren beginnt Schnurre, an seiner Begeisterung für den Krieg zu zweifeln. Im Skorpion, dem projektierten Nachfolger der Zeitschrift Der Ruf, fasst Schnurre zusammen: „Meine ganze Schreiberei hat zur Wurzel die Gewißheit einer unaustilgbaren Lebensschuld. Schreiben ist für mich die einzig akzeptable Form der Sühne.“ (S CHNU R R E 1991, 45) Dabei geht es ihm beim Schreiben als Sühne nicht um eine Entlastung von Schuld - die Auseinandersetzung mit Schuld wird vielmehr zum modus operandi des Dichters: „Ich weiß, daß ich schuldig bin, tausendmal mehr schuldig, als alle Menschen, die sich dieses Gefühls nicht bewußt sind, sei es aus Unwissenheit oder bewußter Abkapselung dagegen. Ihre Schuld trage ich als Schreibender mit.“ (S CHNU R R E 1991, 45) Weil sich Schnurre seiner Schuld und der Schuld der anderen bewusst ist, fühlt er sich dazu verpflichtet, diese Schuld fortwährend zu thematisieren. Dass dies möglicherweise ein tiefer sitzender Impuls für seine Dichtung ist, belegt Schnurres Dankrede, die er anlässlich der Verleihung des Büchner-Preises 1983 hält: [I]ch bin während der sechseinhalb sinnlosen Jahre, die ich auf der falschen, nämlich der deutschen Seite Soldat sein mußte, immer so feige, will sagen: lebenshungrig wie möglich gewesen, und statt mich bis zum bitteren Ende mit meinen kämpfenden Kumpeln solidarisch zu fühlen, habe ich […] die Desertion vorgezogen. Die Folge: Jene sind draußen geblieben, ich stehe hier. (S C H N U R R E 1983) Poetologisch wird dies gewendet, indem es Schnurre um die Aktivierung des Lesers geht, weswegen er oftmals auch als ‚engagierter Schriftsteller‘ be‐ zeichnet wurde, wenngleich er sich aus den politischen Fragen heraushielt. 3. Schuldfragen 127 Im Gegensatz zu Grass war Schnurre niemals Mitglied einer politischen Partei. Nicht die politische Agitation steht für Schnurre im Vordergrund, sondern die moralisch-ethische Aktivierung der Lesenden, wie er in einem Interview ausführte: Ich versuche, meinen Leser unruhig zu machen. Ich bitte ihn, nachzudenken. Und ich glaube, schon sehr viel erreicht zu haben, wenn ich eine Denkschablone angeknackt habe, und wenn mein Leser […] zu einem neuen Denkanstoß kommt. Ob er ihn selber vollzieht, oder ob ich ihn vorgedacht habe, wäre mir nicht so wichtig dabei.“ (R U D O L P H 1971, 109 f.) Auch hier bildet der Schuldkomplex einen wichtigen Hintergrund, da es Schnurre nicht nur um das ‚Anknacken von Denkschablonen‘ geht, sondern auch um eine Mahnung gegen das Vergessen. Dieser hohe moralische Anspruch kann nur realisiert werden, wenn man die eigene Position des Sagbaren reflektiert: „Der deutsche Autor kann nach dem Krieg nur über die Schattenseiten des Krieges und der Nachkriegsjahre berichten. […] Historische Einsicht - um nicht Mitschuld sagen zu müssen - engt den Blickwinkel ein, erlegt thematische Beschränkungen auf.“ (S CHNU R R E 1993, 199) In seinem ersten Gedichtband Kassiber (1956) bildet der Umgang mit der Schuld das Zentrum der Gedichte. Allein in vier Gedichten werden die Harpyien, geflügelte Chimären der griechischen Mythologie, aufgerufen. Die Harpyien sind mit den Sturmwinden assoziiert und tragen die Toten in den Tartaros. Sie stehen häufig für grausame Qualen, die man zu erleiden hat; so auch in Androhung, wo der Ich-Sprecher „die unbegangenen Pfade / ins Dickicht der Furcht“ gehen will, weil „die Harpyien“ sie gehen (S CHNU R R E 1956, 51). Die Harpyien erscheinen im Band Kassiber als gerechte oder gar göttliche Strafe für meist nicht näher konturierte Verfehlungen: Gott hat die Harpyie zum Freund; die schärft sich die Krallen. (S C H N U R R E 1956, 66) Schuld und Schuldige werden bei Schnurre aber nicht so explizit genannt, wie in Kalékos Höre, Teutschland. Vielmehr nutzt Schnurre Konzepte der Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 128 Mythologie und Begriffe der Tierwelt, um Assoziationen der Entmenschli‐ chung herzustellen: Ich roch Hyänenbrunft in Bars. Ich traf in den Kneipen Schakale. Ich hörte Brüllaffenschrei auf den Rängen. […] doch ich sah keinen Menschen. (S C H N U R R E , 1956, 21) Ein weiteres Leitmotiv, das im Gedichtband mit dem Schuldkomplex ver‐ woben wird, bildet der Titel der Sammlung, der für sechs Gedichte als eigenständiger Titel fungiert. Kassiber sind heimlich verschickte schriftliche Nachrichten, die Häftlinge untereinander oder an Außenstehende versen‐ den. Ein Kassiber soll eine Geheimkommunikation ermöglichen. Etymolo‐ gisch geht das Wort ‚Kassiber‘ auf das Rotwelsch und einen hebräischen Wortstamm zurück. Wenn Schnurre seinen ersten Gedichtband mit Kassiber betitelt, dann scheint er damit eine Kommunikationssituation aufzumachen, die an einem bestimmten Personenkreis vorbei (den ‚Wachleuten‘) sich an einen anderen Personenkreis als Geheimbotschaft richtet (‚Häftlinge‘). Der Literaturwissenschaftler Hans-Georg Kemper sieht darin einen „nachgerade tollkühnen Versuch“, dieses Kommunikationsmittel „nun für die Schuld- und Vergangenheitsbewältigung sowie die Sprache der Täter“ zu usurpieren (K E M P E R 2009, 61). Wie passt dieser Versuch mit Schnurres eigener Reflexion zusammen, dass man als deutscher Autor - zumal als Autor, der sechs Jahre auf der ‚falschen Seite‘ kämpfte - nur eine begrenzte Lizenz des Sagbaren besitzt? Für Schnurre muss man sich der historischen Schuld als Lyriker bewusst werden. Es geht darum, „Auschwitz im Rücken“, gleichzeitig aber „den Men‐ schen vor Augen“ zu haben (S CHNU R R E 1978, 457). In Auseinandersetzung mit Adorno stellt Schnurre die Frage, ob es denn nicht „weit ärger ist“, wenn man „nach Auschwitz noch Schlaf “ findet, „als nach Auschwitz Gedichte zu schreiben“ (S CHNU R R E 1978, 457). Man muss also mit der Schuld, für die Auschwitz hier als Chiffre steht, umgehen: Nicht auf die Hereinnahme eines so unfaßbaren Themas wie Auschwitz kommt es an im Gedicht. Es kommt darauf an, daß der Gedichteverfertiger es sich klarmacht, nach Auschwitz zu dichten. Er kann schreiben, worüber er will. Auch über Bäume. 3. Schuldfragen 129 Aber seine Bäume müssen andere sein als die, die in den Gedichten rauschten, die vor Auschwitz entstanden. (S C H N U R R E 1978, 456) Umgesetzt wird diese poetologische Forderung in dem Gedicht Denunzia‐ tion. Die vermeintlich unschuldige Schönheit der Natur, hier versinnbildlicht durch den Mond, wird in Frage gestellt. Der Mond wird wie schon in Krolows (1915-99) Gedicht Die Kammer von seiner Trostfunktion entbunden. Der Wir-Sprecher klagt den Mond an, da er „Spionage getrieben“ (v. 6) habe. Insofern erscheint der Titel als Anklage des Mondes, der vom Wir-Sprecher direkt adressiert wird: Der Mond hat als Spion die Menschen denunziert. Denunziation Mond, Milchspinne der Frauen, Lästerer; Mond: 5 Wir klagen dich an. Du hast Spionage getrieben, das Weiß deiner Hände, es lügt. So weiß ist Chlor, so weiß ist Schnee; Chlor, das auf Erschossene rieselt, 10 Schnee, der die Erfrorenen wärmt. So weiß ist Nebel, so weiß ist Linnen; Nebel, der ins Pesttal sich senkt, Linnen, das die Ermordeten kühlt. Mond, 15 Heuschreckenmünze der Männer, Verhöhner; Mond: Du hast Spionage getrieben. Dein Auftraggeber ist uns bekannt; 20 er wohnt jenseits der Liebe. (S C H N U R R E 1956, 22) Die Attribute, die der Wir-Sprecher dem Mond zuschreibt, bestehen aus zwei Neologismen, die den Geschlechtern zugeordnet werden: Der Mond sei „Milchspinne der Frauen“ (v. 2) und „Heuschreckenmünze der Männer“ (v. 15). Beide Zuschreibungen muten irritierend an. Als botanischer Begriff existiert ‚Milchspinne‘ nicht, gleichwohl wird so eine Assonanz zwischen Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 130 dem ersten und zweiten Vers hergestellt. Der Neologismus scheint ein Oxymoron zu sein, das zwei gegensätzliche Begriffe verbindet. Während die Milch gemeinhin mit Leben assoziiert wird, ist die Spinne häufig mit Ängsten besetzt. Möglicherweise wird mit der Spinne auf Ovids Metamor‐ phosen und den Mythos um Arachne angespielt, was die Geschlechterzu‐ schreibung wiederum erklären könnte. Die begnadete Weberin Arachne forderte Athene zum Wettkampf heraus, in dem sie die Göttin so sehr brüskierte, dass sie sie schließlich in eine Spinne verwandelte. Arachne wird für ihre Hybris bestraft, die Göttin herauszufordern (vgl. O VID 2003, 281-289). Einen expliziten Textbeleg für diesen intertextuellen Bezug gibt es jedoch nicht. Der Neologismus ist nicht auflösbar. Dennoch erzeugt er vielfältige Assoziationen: Spinnen sind listige Fallensteller, die ihre Beute mit Netzen fangen. Hier könnte man eine Analogie zur Ideologie erkennen. Genauso könnte man die acht Augen der Spinne als gutes Bild für den Spion deuten; gleichzeitig sind Spinnen aber äußerst schlechte Seher, da sich ihre Augen im Laufe der Evolution zurückentwickelt haben. ‚Milchspinne‘ kann gleichfalls eine Katachrese sein, die ein gewisses Unheimlichkeitspotenzial entfaltet: Wer will von einer Spinne gestillt werden? Ferner kann die ‚Milch‐ spinne‘ auch ein poetisches Bild für das Mondlicht über einer nächtlichen Landschaft sein. Diese Assoziationsgruppen scheint Schnurre im Blick zu haben, wenn er den Neologismus an zentraler Stelle seines Gedichts einsetzt. Schnurre selbst hat auf diese poetologische Technik hingewiesen: „Absetzen. Flüssig schreiben gilt für die Milchmädchenrechnung. Den Sprunggelenken der Assoziationen vertrauen: Verbindungen finden, nicht suchen. […] Immer wenn ich nachts schreibe, und ich schreibe immer nachts, das Gefühl, mich mit zunehmender Unentschuldbarkeit an etwas Wesentlichem versündigt zu haben.“ (S CHNU R R E 1978, 53) Besser aufzuschlüsseln ist die Farbe Weiß, die leitmotivisch das Gedicht durchzieht. Dabei markiert die „Milchspinne“ (v. 2) bereits eine Aus- und Umdeutung der Farbe Weiß, die im Mittelteil des Gedichts an mehreren Beispielen exemplifiziert wird (vgl. v. 6-13). Im Gegensatz zur gängigen Symbolik steht die Farbe nicht mehr für Unschuld, wie die Beschreibung der weißen Mondhände nahelegt: „das Weiß deiner Hände, es lügt.“ (v. 7) Dass dem Mond Hände gegeben werden, deutet die Handlungsfähigkeit des Gestirns an: Der personifizierte Mond scheint nicht nur am Nachthimmel, sondern er handelt. Über die weiße Farbe wird ferner eine Verbindung zu den folgenden Versen hergestellt, die das Weiß als eine ‚Deckfarbe‘ konstruieren. Die weißen Hände des Mondes werden mit Elementen verglichen, die auf 3. Schuldfragen 131 vergleichbare Weise Schrecken und Leid verdecken: „So weiß ist Chlor, so weiß ist Schnee, / Chlor, das auf Erschossene rieselt, / Schnee, der die Erfrorenen wärmt.“ (v. 8-10) Es wird eine Motivumkehr evoziert: Das Weiße steht für Schuld - nur vordergründig halte es noch die unschuldige Fassade aufrecht, eigentlich „lügt“ es (v. 7). Dies wird durch die Parallelkonstruktion der Verse 11 bis 13 verstärkt: „So weiß ist Nebel, so weiß ist Linnen; / Nebel, der ins Pesttal sich senkt, / Linnen, das die Ermordeten kühlt.“ Die weißen Gegenstände (Leinengewebe, Chlor) und die mit Weiß assozi‐ ierten Naturereignisse (Nebel, Schnee) verschleiern vielmehr das Grauen: Das Säuremittel Chlor soll die Erschossenen verdecken, genauso wie der Schnee die Erfrorenen bedeckt. Auch der Nebel kaschiert die Schrecken, die sich im „Pesttal“ (v. 12) abspielen und das Linnen - das Leinengewebe - wärmt nicht die Toten, vielmehr kühlt sie das Leichentuch. Die Kälte, die hier über die verwendeten Wortfelder hergestellt wird, wird durch den zweiten Neologismus, der mit den ersten drei Versen einen Rahmen bildet, abgeschlossen. Den Männern sei der Mond eine „Heuschreckenmünze“ (v. 15). Auch dieses Kompositum stellt einen Neologismus dar, der nicht letztgültig aufgelöst werden kann. Zum einen verweist die Heuschrecke auf die sieben biblischen Plagen und gilt dort als Symbol für Gefräßigkeit und Zerstörung. Zum anderen wird auch in der Offenbarung des Johannes von Heuschrecken gesprochen, die beim Aufruf der fünften Posaune aus einem riesigen Abgrund auftauchen und die Menschen, die das Siegel Gottes nicht auf der Stirn tragen, über Monate quälen. Verbunden wird die Heuschrecke mit der Münze, die als Zeichen des Geldes und möglicherweise auch der Käuflichkeit fungiert. Der Mond wird in den Rahmungen jeweils negativ attribuiert und mit Insekten (Heuschrecken) bzw. Spinnen assoziiert. Insofern erscheint der Mond nicht mehr als Trost spendendes Objekt, wie es im Volkslied oder in der romantischen Lyrik ein gängiges Motiv war. Obwohl der Mond passiv bleibt, fungiert er doch als Projektionsfläche des Sprechers: Der Mond behaupte nur noch Unschuld, in Wirklichkeit sei er aber schuldig geworden. Diese Schuld ist nun jede Nacht am Firmament sichtbar. In den beiden Schlussversen spricht der Wir-Sprecher den Mond auf die ‚Hintermänner‘ seiner Spionage an: „Dein Auftraggeber ist uns bekannt; / er wohnt jenseits der Liebe.“ (v. 19 f.) Mit dieser überraschenden Wendung erhält der Titel des Gedichts eine weitere Bedeutungsebene: Ist vielleicht nicht der Mond der Denunziant, sondern der Wir-Sprecher? Wer ist eigent‐ lich der Auftraggeber des Mondes? Auch wenn das Gedicht selbst keine Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 132 Antwort auf diese Fragen bietet, so ließe sich mit Hans-Georg Kemper doch argumentieren, dass es sich hierbei eigentlich um eine Selbstanklage han‐ delt - nicht der Mond ist der Denunziant, sondern der zeitgenössische Leser, der seine eigenen Verfehlungen vorgeführt bekommt: Die „‚Auftraggeber‘ der ‚Spionage‘ und Verursacher der ganzen Katastrophen sind ‚uns bekannt‘, sind also ‚wir‘ selbst, die zeitgenössischen Adressaten des Gedichts, wenn sie sich zu der schmerzlichen Einsicht bringen lassen, dass sie ‚jenseits der Liebe‘ ‚wohnen‘. ‚Wir‘ projizieren unsere eigene Traumatisierung, unsere unbewältigten Schreckenserfahrungen und Schuldgefühle auf die Natur“ (K EM P E R 2009, 62). Der Mond steht möglicherweise stellvertretend für die Schuld. Das Ge‐ dicht selbst wäre dann die Bewusstmachung der eigenen Schuld. Auch wenn der Syllogismus, dass es sich bei dem ‚bekannten Auftraggeber‘ notwendi‐ gerweise um die zeitgenössischen Rezipientinnen und Rezipienten handelt, durchaus anfechtbar ist, ist es sich doch eine legitime und plausible Deutung. Denn mit der pathetischen Schlusswendung, die nicht so recht zu dem eher lakonischen Stil des Gedichts passt, wird ein Anderes und Verdrängtes bezeichnet, das aus der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen ist. Man kann argumentieren, dass Schnurre in Denunziation nicht den Mond als Spion und Denunziant anklagt, sondern auf die schuldhaften Verstrickungen der Deutschen im NS-Staat hinweist. Der Mond in diesem Gedicht wäre dann ein radikal anderer Mond als in den Gedichten vor Auschwitz. Die Auseinandersetzung mit der Schuldhaftigkeit seiner und der älteren Generation hat Schnurre immer wieder umgetrieben. Dass dies nicht immer einfach war, legt Schnurre in seinem autobiografischen Buch Der Schatten‐ fotograf (1978) nahe: „Schließlich, sechseinhalb Jahre lang (als Hitler-Soldat) auf der falschen Seite gestanden zu haben, ist, wenn man den Verzweif‐ lungsmut hat, es sich einzugestehen, eine Erkenntnis, mit der zu leben, gar: zu schreiben nicht ganz einfach ist.“ (S CHNU R R E 1978, 368) Das Gedicht Denunziation zielt auf das Nicht-Vergessen, wobei für Schnurre aber auch diejenigen, die sich im Nachkriegsdeutschland als vermeintlich schuldlos darstellten, schuldig geworden waren: „Es gibt keine ‚Innere Emigration‘, auch zwischen 1933 und 1945 hat es keine gegeben. Wer schweigt, wird schuldig.“ (S CHNU R R E 1964, 49) 3. Schuldfragen 133 4. Trauma 4.1. Poetologische Hinführung Der aus dem Griechischen stammende Begriff ‚Trauma‘ bezeichnet in der Medizin eine körperliche und in der Psychologie eine seelische Verletzung. Bereits in seiner Schrift Jenseits des Lustprinzips (1920) hat sich Sigmund Freud (1856-1939) mit diesen Formen der Versehrung auseinandergesetzt: Nach schweren mechanischen Erschütterungen, Eisenbahnzusammenstößen und anderen, mit Lebensgefahr verbundenen Unfällen ist seit langem ein Zustand beschrieben worden, dem dann der Name ‚traumatische Neurose‘ verblieben ist. Der schreckliche, eben jetzt abgelaufene Krieg hat eine große Anzahl solcher Erkrankungen entstehen lassen […]. (F R E U D 2000, III, 222) Freud thematisiert nicht nur verschiedene Katastrophenszenarien, um die Entstehung einer „traumatische[n] Neurose“ zu beschreiben, sondern ver‐ weist auch auf die gravierenden psychischen Nachwirkungen des Ersten Weltkriegs. Im Hinblick auf jene „Kriegsneurosen“ sei es „einerseits auf‐ klärend, aber doch wiederum verwirrend, daß dasselbe Krankheitsbild gelegentlich ohne Mithilfe einer groben mechanischen Gewalt zustande kam“ (F R E UD 2000, III, 222). Indem er die körperlichen und seelischen Ver‐ sehrungen analogisiert, verdeutlicht Freud, dass ein Trauma gleichermaßen aus einer psychischen Überforderung resultieren kann. Vor einer solchen Überforderung werde der Mensch grundsätzlich durch den „Reizschutz“ bewahrt: Für den lebenden Organismus ist der Reizschutz eine beinahe wichtigere Aufgabe als die Reizaufnahme; er ist mit einem eigenen Energievorrat ausgestattet und muß vor allem bestrebt sein, die besonderen Formen der Energieumsetzung, die in ihm spielen, vor dem gleichmachenden, also zerstörenden Einfluß der übergroßen, draußen arbeitenden Energien zu bewahren. (F R E U D 2000, III, 237) Sobald diese „draußen arbeitenden Energien“ Überhand gewinnen, durch‐ brechen sie den psychischen Schutzmechanismus und erzeugen ein Trauma. Das geschieht vor allem dann, wenn es nicht mehr gelingt, besonders intensive oder extreme Wahrnehmungen zu verarbeiten. In welchem Verhältnis stehen aber nun Trauma und Literatur zueinander? Grundsätzlich ist festzuhalten, dass die Literatur als ein Medium anzusehen Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 134 ist, das es ermöglicht, traumatische Erfahrungen zu artikulieren, im Prozess der Artikulation zu ‚verarbeiten‘ und durch die Darstellung intersubjektiv sichtbar zu machen (vgl. K ÖHN E N / S CHO LZ 2006, 7-16). Nach Cathy Caruth entsteht ein Trauma als Reaktion auf ein verstörendes Ereignis, das die bisherige Erlebnisfolge disruptiv unterbricht (vgl. C A R UTH 1995, 3-12). Trau‐ matisierend sei in diesem Zusammenhang weniger das Ereignis selbst als vielmehr die spezifische Ausprägung des individuellen Erlebens. Die daraus resultierende Erschütterung und Desorientierung habe zur Folge, dass man das Erlebte nicht mehr mit herkömmlichen sprachlichen Mitteln artiku‐ lieren könne. Ohnehin sei die traumatische Erfahrung nicht unmittelbar objektivierbar, sondern gerade durch ihre Unverfügbarkeit charakterisiert. Schon Freud hat darauf hingewiesen, dass die Betroffenen das verstörende Ereignis wiederholt in Form einer „traumatischen Rückführung“ (W E INB E R G 1999, 175; F R E UD 2000, III, 223) erleiden. Durch dieses „Hereinreichen der Vergangenheit in die Gegenwart [wird] die Nachträglichkeit des Traumas [sichtbar], welche die generelle Unabschließbarkeit der Erfahrung bedingt“ (N ICK E NI G 2011, 289). Da sich die traumatische Erfahrung zu plötzlich und zu unerwartet eingestellt habe, bedürfe sie der Wiederholung, um kenntlich zu werden als „the story of a wound that cries out, that addresses us in the attempt to tell us of a reality or truth is not otherwise available“ (C A R UTH 1995, 4). Bereits der Begriff der „story“ deutet an, dass Caruth das Trauma selbst als sprachlich verfasst begreift und es daher strukturanalog zur Literatur bestimmt. Trotz der kulturhistorischen Wirksamkeit dieses Traumakonzepts ist es für seine Tendenz zur Enthistorisierung und Entgren‐ zung kritisiert worden (vgl. K AN S T E IN E R 2004, 117). Im Horizont dieser Parallelisierung von Trauma und Literatur hat Ulrich Baer die Relation von Trauma und Lyrik in den Blick genommen: „Sowohl traumatische Erinnerungen als auch Gedichte erheben Anspruch auf abso‐ lute Singularität, die sich in dem Maß, wie sie sich zu erkennen gibt, auch zersetzt.“ (B AE R 2002, 26) In dieser postulierten Ähnlichkeit tritt zugleich eine Aporie zutage: Denn in dem Maße, in dem das Trauma bzw. das einzelne Gedicht ‚verstehbar‘ wird, d. h. in dem es sich jeweils „zu erkennen gibt“, geht seine Besonderheit verloren. Im Hinblick auf die Lyrik Paul Celans (1920-70) hat Baer festgehalten, dass dessen Gedichte von der Einsicht zeugen, dass „die Wahrheit eines bestimmten historischen Ereignisses in der Unmöglichkeit liegt, es nachzuvollziehen“ (B AE R 2002, 27). Gleichzeitig bestehe die dichterische Arbeit in dem Bemühen, jene „absolute Singularität“ literarisch zu kommunizieren. Vor allem lyrische Texte seien dazu geeignet, 4. Trauma 135 eine individuelle Symbol- und Formensprache zu entwickeln, um die trau‐ matischen Erfahrungen, die sich der Versprachlichung entziehen, zumindest näherungsweise zu vermitteln. In diesem Zusammenhang bleibt grundsätzlich zu beachten, dass Ge‐ dichte, die traumatische Erfahrungen thematisieren, reflektieren und pro‐ blematisieren, nicht als unvermittelter und ungebrochener Ausdruck eines vorgängigen Schmerzerlebens gewertet werden können. Vielmehr sind sie als „Produkte von Reflexions- und Ästhetisierungsprozessen“ (B O Y K E N / I MM E R 2016, 25) zu begreifen, die aufgrund ihrer künstlerischen Verfasstheit ana‐ lysiert und interpretiert werden können. So ist es durchaus möglich, ein Phänomen wie das der „traumatischen Rückführung“ in einen poetischen Vorgang zu überführen. Das lässt sich etwa in Celans Gedicht Dein vom Wachen aus der Sammlung Atemwende (1967) beobachten, in dem eine Sprechinstanz folgende Worte an ein nicht näher bezeichnetes Du richtet: „Dein vom Wachen stößiger Traum.“ (C E LAN 1986, II, 24) Dieser Traum erweist sich in der Folge als Handlungsträger, der in Gestalt eines Widders bzw. eines ähnlichen Wesens mit seinem Horn einen „letzte[n] Stoß“ (C E ‐ LAN 1986, II, 24) ausführt. Dieser Stoß, der sich als Reaktualisierung der traumatischen Erfahrung lesen lässt, wird anschließend in das Bild einer sich senkrecht bewegenden Fähre transponiert: Indem sie in der „senk- / rechten, schmalen / Tagschlucht nach oben“ stakt, setzt sie „Wundgelesenes über“ (C E LAN 1986, II, 24). Dabei wirkt das ‚Wundgelesene‘ wie eine „Konzentration früherer Versehrungen, die von der Fähre ans Licht geholt werden und dort die Gestalt eines Gedichts annehmen“ (B O Y K E N / I MM E R 2016, 8). In dieser Deutung gewinnt die Vertikalbewegung vom Innen zum Außen eine poetologische Qualität: Das Gedicht konturiert den - durchaus mühsamen - Übergang von der Vorsprachlichkeit der traumatischen Erfahrung zu ihrer sprachlichen Ausformung im Gedicht. Eines der zentralen Traumata, das in der deutschsprachigen Nachkriegs‐ lyrik behandelt wird, bildet die Shoah. Dabei lässt sich einerseits beobachten, wie sich zunehmend „Vermeidungsstrategien […] im sprachlichen Umgang mit der Shoah“ (A U E R O CH S 2013, 1039) auszuprägen beginnen. Gegenüber dieser Tendenz zur Tabuisierung verteidigt andererseits Celan die Position, dass die Shoah aufgrund ihrer Inkommensurabilität als menschheitsge‐ schichtliche Zäsur begriffen werden müsse und daher alle nachfolgende Dichtung von dieser Zäsur betroffen sei. In seiner am 26. Januar 1958 gehaltenen Bremer Literaturpreisrede hat Celan die poetologischen Konse‐ quenzen dieser Überlegung formuliert: Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 136 Sie, die Sprache, blieb unverloren, ja, trotz allem. Aber sie mußte nun hindurch‐ gehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede. Sie ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah; aber sie ging durch dieses Geschehen. Ging hindurch und durfte wieder zutage treten, „angereichert“ von all dem. (C E L A N 1986, III, 185 f.) Celan führt aus, dass sich die Sprache nach der Konfrontation mit ihren „Antwortlosigkeiten“, mit ihrem „Verstummen“ und mit „tausend Finster‐ nisse[n]“ entscheidend verändert habe. Sie könne im Grunde nicht mehr ‚unschuldig‘ gebraucht werden, da sie „angereichert“ sei vom Wissen um die nationalsozialistischen Verbrechen, die insbesondere am jüdischen Volk verübt wurden. Wenn Celan im Anschluss bekennt, dass er in dieser Sprache „Gedichte zu schreiben versucht“ habe, dann bestärkt seine Rede von der sprachlichen ‚Anreicherung‘ die nachfolgende Behauptung, dass ein Gedicht gerade nicht „zeitlos“ (C E LAN 1986, III, 186), sondern vielmehr zeitbewusst ist. Von dieser Zeitbewusstheit zeugt etwa sein Gedicht Eng‐ führung, dessen überraschende Kühnheit darin besteht, „das Geschehen in der Gaskammer mit der Entstehung von Poesie“ (A U E R O CH S 2013, 1049) zu überblenden. In seiner Deutung dieses Gedichts hat der Literaturwis‐ senschaftler Peter Szondi (1929-71) daher zu Recht das bekannte Diktum Theodor W. Adornos (1903-69) geistreich abgewandelt: „Nach Auschwitz ist kein Gedicht mehr möglich, es sei denn auf Grund von Auschwitz.“ (S ZONDI 1978, II, 383 f.) In den frühen 1950er Jahren wird diese Dimension von Celans Dichtung jedoch noch kaum wahrgenommen. So wirft ihm etwa der Literaturkritiker Hans Egon Holthusen (1913-97) in seiner Rezension der Gedichtsammlung Mohn und Gedächtnis (1952) vor, Celan praktiziere mit seiner Dichtung nur „ein reines Spiel der Sprache, die nichts will als sich selbst“ (H O LTHU S E N 1954b, 158). In diesem Zusammenhang ist zwingend zu berücksichtigen, dass Holthusen, der gut zehn Jahre zuvor seinen Sonettzyklus Totenklage (1943) veröffentlicht hatte (vgl. I MM E R 2016, 91-97), als ehemaliges SS-Mitglied zur ‚Tätergeneration‘ gehörte. Die Perfidie von Holthusens Besprechung liegt vor allem darin, über die Kritik von Celans vermeintlicher Selbstre‐ ferentialität die „Aberkennung des Wahrheits- und Wirklichkeitsgehalts seiner Gedichte“ (K L E INDI E N S T 2007, 74) vorzunehmen. Dieser Angriff dürfte für Celan auch deshalb überraschend erfolgt sein, weil Holthusen und Friedhelm Kemp (1914-2011) ein Jahr zuvor zwei Gedichte aus Mohn und 4. Trauma 137 Gedächtnis in ihrer Anthologie Ergriffenes Dasein. Deutsche Lyrik 1900-1950 publiziert hatten (vgl. H O LTHU S E N / K E M P 1953, 339 f.). Im Nachwort dieser Sammlung sprechen die Herausgeber nicht nur von der gegenwärtigen „nachsintflutliche[n] Atmosphäre“, sondern versuchen auch, die großen Erschütterungen der Nachkriegszeit zu erfassen, von denen die Gedichte der späten 1940er und frühen 1950er Jahre zeugen: Gewiß sind neue Themen und Motive hinzugekommen: die inkommensurablen Erfahrungen der modernen Katastrophenlandschaft, der zweite Krieg, Gefangen‐ schaft, die Unterwelt des politischen Terrors, das soziale und seelische Chaos der Nachkriegszeit, apokalyptische Bewußtseinskrisen […]. (H O L T H U S E N / K E M P 1953, 353 f.) Was Holthusen und Kemp anführen, ist im Grunde eine Aufzählung der zentralen Nachkriegstraumata: das Fundamentalerlebnis des Zweiten Welt‐ kriegs und der vielfach damit verbundenen Erfahrung der Gefangenschaft, die Wahrnehmung der aus den Kriegszerstörungen resultierenden „Kata‐ strophenlandschaft“ und die posttraumatischen Belastungsstörungen, die sich in „apokalyptische[n] Bewußtseinskrisen“ äußern. Während Holthusen und Kemp zwar anerkennend darauf hinweisen, dass sich insbesondere der junge Celan „um die Erweiterung des lyrischen Vokabulars und um eine Differenzierung und Potenzierung der metaphorischen Möglichkeiten beträchtliche Verdienste erworben“ habe, müsse jedoch grundsätzlich fest‐ gestellt werden, dass von den Dichterinnen und Dichtern vielfach „poetische Möglichkeiten genutzt [werden], die schon vor dreißig Jahren gestiftet wor‐ den sind“ (H O LTHU S E N / K E M P 1953, 353). Gegenüber diesem Urteil eines ästhe‐ tischen Innovationsmangels wird in poetologischen Gedichten wiederholt über die Möglichkeiten reflektiert, mit welcher Sprache jene von Holthusen und Kemp konstatierten „inkommensurablen Erfahrungen“ auszudrücken seien. So schreibt beispielsweise Marie Luise Kaschnitz (1901-74) in ihrem Gedicht Dann sei geübt im Traum … aus ihrer Sammlung Gedichte (1947): Und selbst das Wort. Der Dichter Lob und Klage, Des Geistes unermüdliche Erhebung, Es tönt nicht mehr im dumpfen Gang der Tage, Und spottet der unsäglichen Bestrebung. (K A S C H N I T Z 1947, 129) Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 138 Trotz dieser Einsicht in die Unmöglichkeit, das dichterische Wort in seiner ‚tönenden‘ Schönheit zu evozieren, bleibt es tauglich, um das anhaltende Leid zu vergegenwärtigen, das die traumatischen Erfahrungen verursachen. In ihrem Gedicht Im Schlafe werden metonymisch einzelne Körperteile benannt, die stellvertretend auf jene Menschen verweisen, die zur Nachtzeit mit ihren bedrückenden Erinnerungen konfrontiert werden. Das Nebenein‐ ander der Körperteile Hände, Füße, Lippen und Augen betont die Gleichran‐ gigkeit der je unterschiedlichen Leiderfahrungen, bei denen nicht zwischen Täter und Opfer unterschieden wird. Während einerseits von Händen die Rede ist, „die getötet haben“, werden andererseits Lippen angesprochen, „die Erbarmen schrieen“ (K A S CHNITZ 1947, 170). Wiederholt scheint das jeweils traumatisierende Ereignis auf, um sofort durch die Hoffnung auf eine friedliche Zukunft zurückgedrängt zu werden. Nachdrücklich wird in der abschließenden Strophe der Wunsch zum Ausdruck gebracht, endlich „Krieg und Not vergessen“ zu können: Augen, die den Tod ermessen, Wollen Krieg und Not vergessen, Bild um Bild der Lust beschwören, Tausendfach der Welt gehören, Heute Nacht, im Schlafe … (K A S C H N I T Z 1947, 170) Dass sich vor den Augen der Betroffenen geradezu apokalyptische Bild‐ welten entfalten können, hat Peter Huchel (1903-81) mit seinem Gedicht Chausseen (1950) demonstriert, das sich als „Versuch“ lesen lässt, „das [Kriegs-]Trauma sprachlich zu erfassen“ (L AM P IN G 2008, 35). In der zweiten Strophe wird die Kriegswirklichkeit nahezu expressionistisch konturiert: Nächte mit Lungen voll Rauch, Mit hartem Atem der Fliehenden, Wenn Schüsse Auf die Dämmerung schlugen. Aus zerbrochenem Tor Trat lautlos Asche und Wind, Ein Feuer, Das mürrisch das Dunkel kaute. (H U C H E L 1997, 141) 4. Trauma 139 Die Vergangenheitsform („schlugen“, „Trat“, „kaute“) verdeutlicht, dass ein zurückliegendes Ereignis erneut imaginiert wird. Das bedrohliche Szenario, das durch die „Fliehenden“, die „Schüsse“ und das „Feuer“ zunehmend an Intensität gewinnt, wird in der dritten Strophe noch dadurch gesteigert, dass auch die „Tote[n]“ (H U CH E L 1997, 141) in grausam entstellten Posen in den Blick geraten. Im Unterschied zu Kaschnitz wird bei Huchel zwar keine Hoffnung auf Vergessen formuliert, aber in einer späteren Fassung immerhin die abschließende Aussicht geboten, dass „[d]as Dröhnen des Todes weiterzog“ (H U CH E L 1997, 407). Dass damit freilich nur eine vorläufige Sicherheit geboten ist, macht Karl Krolow (1915-99) nahezu zeitgleich in seinem Gedicht In der Fremde geltend. Denn selbst im Gang durch die Natur können die Toten eine fast bedrohliche Präsenz gewinnen: Die Toten nehmen in der Dämm’rung zu. Sie schweben - Bast und Bärlapp in den Haaren. Wie sie mir dumpf im Blattlicht widerfahren, Streif ’ ich sie langsam mit dem flachen Schuh Und fühl’ sie nahe, die vergessen waren. (K R O L O W 1952, 33) Das Widerspiel zwischen der Unfähigkeit, vergessen zu können, dem Wunsch, vergessen zu wollen, und der Gefahr, sich dem Vergessen zu ergeben, bildet einen Fixpunkt der Nachkriegsgedichte, in denen trauma‐ tische Erfahrungen im Zentrum stehen. Die Frage nach den Möglichkei‐ ten und Bedingungen des Erinnerns wird vor allem in jenen Gedichten reflektiert, die von der Shoah bzw. vom Porrajmos handeln. Als Medien des kollektiven Gedächtnisses besitzen diese Gedichte selbst die eminent wichtige erinnerungspolitische Funktion, das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus im gesellschaftlichen Bewusstsein wachzuhalten. 4.2. Nelly Sachs: Poetik der ‚Durchschmerzung‘ Nelly (Leonie) Sachs wird am 10. Dezember 1891 in Berlin als einziges Kind einer jüdischen Fabrikantenfamilie geboren. Bereits in ihrer Jugend beginnt sie, erste Gedichte und Erzählungen zu schreiben, bleibt jedoch zunächst konventionalisierten literarischen Formen verpflichtet (vgl. T ÖLL E R 1998, 134). Nach ihrer begeisterten Lektüre von Selma Lagerlöfs (1858-1940) Debütroman Gösta Berling (1891) beginnt sie einen Briefwechsel mit der Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 140 schwedischen Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin, der sich über die Dauer von mehr als 35 Jahren erstrecken wird. Mit der Unterstützung von Stefan Zweig (1881-1942) veröffentlicht Sachs ihre erste Sammlung Legenden und Erzählungen (1921), die sie Lagerlöf übersendet und die kurz darauf mit ironischem Gestus antwortet: „Hätte es selbst nicht besser tun können.“ (zit. nach F IO R E TO S 2010, 38) Trotz dieses günstigen Eintritts in die dichterische Laufbahn hat Sachs in einer 1967 verfassten Kurzbiografie deutlich gemacht: „mein Leben [war] durch ein eigenes Schicksal mit tiefer Tragik verknüpft, die auch eine Quelle meines Werks geworden ist“ (zit. nach D IN E S E N 1994, 9). Diese „Tragik“ verweist zurück auf die einschneidende Erfahrung einer unglücklichen Liebe zu einem nichtjüdischen Mann, die Sachs im 17. Lebensjahr machen muss. Das Erlebnis mündet in eine „lange Krise“ (H O LMQVI S T 1977, 27) und avanciert gleichsam zu ihrem „Urtrauma“ (F IO R E T O S 2010, 17). Mit der nationalsozialistischen Herrschaft beginnen sich die Lebensum‐ stände für Sachs zunehmend zu verschlechtern. Sie ist nicht nur von Zwangsenteignungen betroffen, sondern muss auch mit ansehen, wie der in ihrer Jugend geliebte Mann vor ihren Augen „gemartert und schließlich umgebracht“ (zit. nach F R IT S CH -V IVIÉ 1993, 40) wird. Sachs selbst wird vor‐ übergehend von der Gestapo inhaftiert und erleidet daraufhin eine tempo‐ räre Stimmbandlähmung. Trotz dieser unmittelbaren Bedrohung engagiert sie sich in einem jüdischen Kulturbund, über den sie rückblickend schreibt: „Es kamen die Jahre in Berlin, wo wir, ein kleiner Kreis Schriftsteller, […] uns zusammenfanden, jedesmal in einem neuen Schauer der Angst, wen würde nun das Los treffen.“ (S ACH S 1984, 45) Mit dieser Bemerkung kennzeichnet Sachs die Anfang der 1940er Jahre gegenwärtige Bedrohung, jederzeit in ein Konzentrationslager deportiert werden zu können. Tatsächlich wird die Dichterin Gertrud Kolmar (1894-1943), die ebenfalls dem Kulturbund ange‐ hört, in dem Sachs tätig ist, Anfang März 1943 nach Auschwitz verbracht und vermutlich direkt nach der Ankunft ermordet. Nelly Sachs und ihrer Mutter gelingt es gewissermaßen im letzten Moment, am 16. Mai 1940 per Flugzeug nach Schweden auszureisen. Unterstützung erhält sie dabei sowohl von ihren Freundinnen (vgl. D ÄH ‐ N E R T 2009, 226-257) als auch von Lagerlöf, die kurz vor ihrem Tod ein Empfehlungsschreiben für Sachs verfasst hatte. Trotz der Unterstützung durch die jüdische Gemeinde in Stockholm muss Sachs als Wäscherin und Übersetzerin arbeiten, um sich und ihrer Mutter ein knappes Auskommen zu sichern. In dieser Zeit beginnt Sachs, sich intensiv mit der modernen 4. Trauma 141 schwedischen Lyrik zu beschäftigen (vgl. O L S S ON 2017, 55-63). Dazu gehören beispielsweise auch die Dichtungen Johannes Edfelts (1904-97), die sie unter anderem in der deutschen Auswahlausgabe Der Schattenfischer (1958) veröffentlicht. Edfelt schreibt 1947 über sie: „Auf schwedischem Boden, im Exil hat Nelly Sachs ihre schöne Meisterschaft als Lyrikerin erreicht.“ (zit. nach F IO R E T O S 2010, 123) Davon zeugt insbesondere ihre im gleichen Jahr publizierte Anthologie Von Welle und Granit, die - so der Untertitel - als Querschnitt durch die schwedische Lyrik des 20. Jahrhunderts angelegt ist. Die Arbeit als Übersetzerin ermöglicht Sachs nicht nur die „Begegnung mit der Moderne“ (B AH R 1980, 193), sondern gestattet es ihr auch, eigene Erfahrungen wie die des „Außer-Raum-geschleudert-[S]ein[s]“ (zit. nach F IO R E T O S 2010, 134) in den übersetzten Texten wiederzuerkennen. Die Auseinandersetzung mit der modernen Lyrik beeinflusst ihre eigene dichterische Arbeit derart nachhaltig, dass im Grunde von einer „künstleri‐ schen Neugeburt“ (D OMIN 1993, 114) gesprochen werden kann. Gleichzeitig gestaltet Sachs seit dem Sommer 1943 Gedichte, in denen sie den national‐ sozialistischen Völkermord an den europäischen Juden behandelt. Auf den Zyklus Grabschriften in die Luft geschrieben, der aus lyrischen Epitaphen besteht, folgen im Winter 1944/ 45 die Gebete für den toten Bräutigam (S ACH S 2010/ 11, I, 232). Beide Zyklen finden Eingang in ihre Sammlung In den Wohnungen des Todes (1947), die sie ausdrücklich ihren „toten Brüdern und Schwestern“ (S ACH S 2010/ 11, I, 10) widmet. Vierzehn Jahre später wird sie rückblickend schreiben, dass mit diesem Gedichtband „für so viele […] ein neuer Äon - ein Äon der Schmerzen“ (S ACH S 1984, 272) begonnen habe. Doch obwohl sie Druckausgaben von In den Wohnungen des Todes unter anderem an Schriftsteller wie Thomas Mann (1875-1955), Alfred Döblin (1878-1957) oder Hermann Hesse (1877-1962) verschickt, bleibt die unmittelbare öffentliche Resonanz recht gering (vgl. B E R E ND S OHN 1966, 227; D OMIN 1993, 135, Anm. 1). Ihr zweiter Gedichtband Sternverdunkelung (1949) findet sogar noch weniger Beachtung, so dass ein Teil der Auflage eingestampft werden muss (vgl. B R AUN 1998, 33). Als ihre Mutter 1950 verstirbt, erleidet Sachs einen schweren Nervenzu‐ sammenbruch. Trotz ihrer „Seelenqual“ (S ACH S 1984, 113) gelingt es ihr, die dichterische Arbeit fortzusetzen. Von den Elegien, die sie in Gedenken an ihre Mutter verfasst, finden fünf Eingang in ihre nächste Sammlung Und Niemand weiß weiter (1957). Darin greift sie Themen aus dem Alten Testament und dem kabbalistischen Sohar auf, den sie auszugsweise durch Gershom Scholems (1897-1982) Arbeit Die Geheimnisse der Schöpfung (1935) Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 142 kennengelernt hatte. Bald darauf schreibt ihr Paul Celan (1920-70) über den neuen Gedichtband: „er steht, mit den beiden anderen, neben den wahrsten Büchern in meiner Bibliothek“ (C E LAN / S ACH S 1996, 10). Zunehmend erhält Sachs Gelegenheit, ihre Dichtungen in Zeitschriften wie Sinn und Form, Akzente und Merkur zu publizieren. Im gleichen Jahr, in dem ihre nächste Sammlung Flucht und Verwandlung (1959) erscheint, veröffentlicht Hans Magnus Enzensberger (*1929) seinen Artikel Die Steine der Freiheit. Mit Bezug auf die Dichtungen von Nelly Sachs wendet er sich darin gegen Adornos sogenanntes ‚Lyrik-Verbot‘ (vgl. L AM P IN G 1991, 237-255): Ihrer [d. h. Nelly Sachs’] Sprache wohnt etwas Rettendes inne. Indem sie spricht, gibt sie uns selber zurück, Satz um Satz, was wir zu verlieren drohten: Sprache. Ihr Werk enthält kein einziges Wort des Hasses. […] Die Gedichte sprechen von dem, was Menschengesicht hat: von den Opfern. […] Die Erlösung der Sprache aus ihrer Verzauberung steht bei denen, die In den Wohnungen des Todes waren. (zit. nach K I E D AI S C H 1995, 73) Nach der Publikation von Flucht und Verwandlung wird die Dichterin „schlagartig in Deutschland bekannt“ (B R AUN 1998, 39). 1960 wird ihr der Meersburger Droste-Preis, 1965 der Friedenspreis des Deutschen Buchhan‐ dels und am 10. Dezember 1966 der Literaturnobelpreis (zusammen mit Samuel Joseph Agnon [1888-1970]) verliehen. Im Zuge ihrer Reise nach Meersburg trifft sie in Zürich auf Celan, der ihre denkwürdige Begegnung in seinem Gedicht Zürich, Zum Storchen festhält (vgl. A U E R O CH S 2006, 66-72). Aufgrund eines zunehmenden psychischen Leidens muss Sachs zu Beginn der 1960er Jahre längere Zeit in einer Nervenheilanstalt in Stockholm verbringen. Danach veröffentlicht sie die Gedichtbände Glühende Rätsel (1964) und Landschaft aus Schreien (1966). Nach ihrem Tod am 12. Mai 1970 erscheint die postume Sammlung Teile dich Nacht (1971), die ihr lyrisches Spätwerk enthält. Auch wenn Nelly Sachs gegenüber der Schriftstellerin Elisabeth Borchers (1926-2013) im Herbst 1959 behauptet hat, „kein literarischer Mensch“, ja „[n]iemals eine Dichterin“ (S ACH S 1984, 231) gewesen zu sein, belegen insbesondere ihre Briefe, wie intensiv sie die poetologischen Grundlagen ihrer Lyrik reflektiert. So hatte sie bereits zehn Jahre zuvor an Gudrun Dähnert (1907-76) geschrieben: „Wir können einfach nicht mehr die al‐ ten verbrauchten Stilmittel anwenden. In keiner Kunst ist das möglich.“ (S ACH S 1984, 110) Zu dieser Einsicht war Sachs auch im Zusammenhang mit der Übersetzung schwedischer Lyrik gelangt: „Sie wußte, daß sie aus 4. Trauma 143 dem verbrauchten Sprachschatz der Spätromantik, der ihre frühen Texte verpflichtet waren, zu einer neuen Sprache finden mußte, um in ihren künftigen Gedichten dem Schmerz über die Ermordeten der Shoah gerecht zu werden.“ (E ICHMANN -L E UT E N E G G E R 2008, 15) Doch wodurch ist jene „neue Sprache“ gekennzeichnet? Im Unterschied zu ihrer Jugendlyrik stellt Sachs in den Gedichten, die seit 1943 entstehen, gezielt Brüche, Diskontinuitäten und Dissonanzen aus. Die Verwendung freier Rhythmen und teilweise stark verknappter Verse erlaubt es, den Fokus auf isolierte Worte oder Wortgruppen zu lenken. „Gedankenstriche am Satzende lassen die Rede ins Offene laufen, Ellipsen verkürzen die Sprache bisweilen zu formelhafter Ausdrücklichkeit, und dunkle Metaphern generieren nicht festlegbare, polyseme Aussagen.“ (I MME R 2010, 108) Diese fundamentale Spracherneuerung ist kein ästhetischer Selbstzweck, sondern gewinnt für Sachs geradezu existentielle Bedeutung: „Hätte ich nicht schreiben können, hätte ich nicht überlebt.“ (H O LMQVI S T 1977, 28) Somit erweist sich die Dichtung einerseits als Medium zur Bewäl‐ tigung persönlicher Leiderfahrungen, andererseits besitzt sie ebenso die Funktion, „den unwiderruflich Verstummten“ (ebd., 14) eine Stimme zu geben. In der Verschränkung von individueller und kollektiver Perspektive wird das Trauma als eigentliche Konstante im lyrischen Werk von Sachs kenntlich (vgl. F IO R E TO S 2014, 18). In diesem Zusammenhang hat Sachs ein dichterisches Verfahren skizziert, das sich als ‚Poetik der Durchschmerzung‘ charakterisieren lässt. Anfang des Jahres 1959 greift sie brieflich den Gedanken auf, dass der „Rilkezeit“ mit ihren überladenen Versen inzwischen eine junge Dichtergeneration mit ihrer „kühnen, nackten Linie“ (S ACH S 1984, 199) entgegengetreten sei. Sachs betont zwar, dass sie sich mit diesen jungen Dichtern „in ihrer Bemühung, der Ehrlichkeit und dem Ernst der Aussage verwandt fühle“, setzt jedoch relativierend hinzu, dass ihre dichterische Bewegung der „schmerzgekrümmte[n] Laokoon-Linie“ (S ACH S 1984, 199) folge. Wie der römische Dichter Vergil in seiner Aeneis überliefert, war Laokoon ein trojanischer Priester, der zusammen mit seinen Söhnen von zwei Schlangen getötet wurde. Seit der Wiederentdeckung der griechischen Laokoon-Plas‐ tik gilt er als Repräsentant einer eminenten menschlichen Leiderfahrung. Indem Nelly Sachs ihre quälenden Erlebnisse mit dem Schicksal Laokoons in Beziehung setzt, prägt sie den Neologismus der „Durchschmerzung“: „Ich glaube an die Durchschmerzung, an die Durchseelung des Staubes als an eine Tätigkeit, wozu wir angetreten.“ (S ACH S 1984, 181) In einer Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 144 Stellungnahme für die Zeitschrift Le Monde wird Sachs dieses mythisch gefärbte Lebenskonzept später auf ihre poetische Produktion ausrichten: „Mein Glauben, daß der Mensch […] dazu geschaffen ist, diese Materie zu durchleben, zu durchschmerzen, liebend durchsichtig zu machen, zieht als Grundgedanke durch alles, was ich schreibe“ (S ACH S 1994, 328). Mit der „Materie“ ist jener weltliche Gegenstandsbereich bezeichnet, den sich das Subjekt im Akt der Durchdringung allmählich aneignet. Diese Erschließung, in deren Verlauf selbst „Materie […] durchsichtig“ wird, lässt sich im Grunde als Prozess einer „dichterischen Transformation“ (A LL EMANN 1977, 291) be‐ stimmen. Die offene Metapher des „Staubes“, die Sachs zunächst gebraucht, legt es außerdem nahe, den Referenzhorizont noch zu erweitern: Während in der „Durchschmerzung“ die Erinnerung an die traumatische Erfahrung der Judenvernichtung zum Ausdruck kommt, erscheint die „Durchseelung“ als jener Versuch, das Unaussprechliche mithilfe des dichterischen Worts fassbar zu machen. Diese Doppelung klingt noch an, wenn Sachs gegenüber Celan bekundet, dass beide über den „Meridian des Schmerzes und des Trostes“ (C E LAN / S ACH S 1996, 25) miteinander verbunden seien. Mit dem Gedicht O die Schornsteine … eröffnet Sachs ihre erste Lyrik‐ sammlung, die sie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs publiziert. Das Gedicht leitet zugleich in den Zyklus Dein Leib im Rauch durch die Luft ein, der in den Jahren 1945/ 46 entsteht und aus dem einige Texte am 12. Mai 1946 auf einer Veranstaltung des Freien Deutschen Kulturbunds in Stockholm vorgetragen werden (vgl. S ACH S 2010/ 11, I, 232). Nach längerer Suche erklärt sich der Ostberliner Aufbau-Verlag dank einer Empfehlung Johannes R. Bechers (1891-1958) bereit, den Gedichtband zu drucken, der im Frühjahr 1947 in einer Auflage von 20.000 Exemplaren und mit elf Zeichnungen von Rudi Stern erscheint. Die Sammlung enthält 50 Gedichte, die Sachs in vier Zyklen gegliedert hat: Dein Leib im Rauch durch die Luft (13), Gebete für den toten Bräutigam (10), Grabschriften in die Luft geschrieben (13) und Chöre nach Mitternacht (14). Im ersten Zyklus liegt der thematische Fokus auf dem Massenmord an den Juden: „die Ermordung in den Konzentrationslagern (A1), Hitler (A10), die Gesellschaft (A12), die Täter (A3, A4, A5, A8), die Opfer (A5, A6, A9), die Trauer und das Leid (A2, A13) und - trotz allem - die Hoffnung (A7 und A11)“ (O R TH 2016, 69). Auch wenn die öffentlichen Reaktionen auf den ersten Gedichtband überschaubar bleiben, avanciert O die Schornsteine … spätestens in den 1960er Jahren zum „meistanthologisierte[n] Gedicht von Sachs“ (S ACH S 2010/ 11, I, 210). Dem Gedicht ist ein Motto aus dem alttestamentarischen 4. Trauma 145 Buch Hiob vorangestellt, in dem die klassische Leidensfigur Hiob (hebräisch ‚Ijob‘: der Angefeindete) sich mit dem im alten Israel verbreiteten Vergel‐ tungsglauben auseinandersetzt. In mehreren Klagereden reflektiert er über die ihm widerfahrenen Heimsuchungen, bleibt aber aufgrund seines Gott‐ vertrauens grundsätzlich hoffnungsvoll. Seine Heilsgewissheit, am Ende seines Leidens Gott „schauen“ zu dürfen (H IO B 19,26), stellt Sachs ihrem Gedicht voran. Die Figur Hiobs greift Sachs, die selbst als „Schwester Hiobs“ (J E N S 1977, 388) bezeichnet werden wird, insbesondere in der Frühphase ihrer Nachkriegslyrik auf, in der die Gestalt eine „tragische Endposition“ (O B E R HÄN S LI -W IDM E R [2003] 2017, 262) bekleidet. In ihrem Gedicht Hiob, das Sachs in der Sammlung Sternverdunkelung veröffentlicht, charakterisiert sie den Propheten außerdem als „Windrose der Qualen“ (S ACH S 2010/ 11, I, 59). Im Kontext dieser dichterischen Gestaltung ist zum einen Margarete Susmans (1872-1966) Schrift Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes (1946) zu berücksichtigen, über das sich Sachs 1960 mit Celan in Zürich austauschen wird (vgl. F IO R E T O S 2010, 222). In der Einleitung zu ihrer Schrift hatte Susman mit Blick auf die „Weltkatastrophe“ der Juden‐ vernichtung geschrieben: „Wohl ist diesem Geschehen gegenüber jedes Wort ein Zuwenig und ein Zuviel; seine Wahrheit ist allein der Schrei aus den wortlosen Tiefen der menschlichen Existenz.“ (S U S MAN 1996, 23) Zum anderen ist es denkbar, dass sich Sachs an Martin Bubers (1878-1965) Schrift Die Legende des Baalschem (1908) und der darin entfalteten Mystik des Opfers orientiert hat (vgl. K I E F E R 1998, 313 f.). „Und wenn diese, meine Haut zerschlagen sein wird, so werde ich ohne mein Fleisch Gott schauen“ (Hiob) O die Schornsteine Auf den sinnreich erdachten Wohnungen des Todes, Als Israels Leib zog aufgelöst in Rauch Durch die Luft - 5 Als Essenkehrer ihn ein Stern empfing Der schwarz wurde Oder war es ein Sonnenstrahl? O die Schornsteine! Freiheitswege für Jeremias und Hiobs Staub - 10 Wer erdachte euch und baute Stein auf Stein Den Weg für Flüchtlinge aus Rauch? Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 146 O die Wohnungen des Todes, Einladend hergerichtet Für den Wirt des Hauses, der sonst Gast war - 15 O ihr Finger, Die Eingangsschwelle legend Wie ein Messer zwischen Leben und Tod - O ihr Schornsteine, O ihr Finger, 20 Und Israels Leib im Rauch durch die Luft! (S A C H S 2010/ 11, I, 11) Sachs hat das Gedicht O die Schornsteine … als einen Klagegesang gestaltet, der in vier Strophen gegliedert ist, die jeweils mit der elegischen Apostrophe „O“ beginnen. Bereits im Eingangsvers werden die leitmotivisch aufgeru‐ fenen „Schornsteine“ von einem anonymen Sprecher lokal bestimmt. Sie stehen auf jenen „sinnreich erdachten Wohnungen des Todes“ (v. 2), die als die Krematorien der Vernichtungslager identifiziert werden können. Ebenso lässt die Formulierung an die sogenannten ‚Gaswagen‘ denken, die seit 1939/ 40 zum Einsatz kamen und die tatsächlich „[e]inladend hergerichtet“ (v. 13) wurden (vgl. B E E R 1987, 404-406). Damit wird deutlich, dass die vermeintlich positive Rede von den „sinnreich erdachten“ Räumen zynisch gemeint ist: Indirekt kommt zur Sprache, dass die menschliche Schöpfungs‐ kraft missbraucht wurde, um eine effektive Tötungsmaschinerie zu konstru‐ ieren. Von dieser baulichen Anlage ausgehend, richtet der Sprecher den Blick auf die Opfer, deren Vernichtung dezidiert nicht in ihrer Drastik, sondern als fast schon neutraler Prozess der Transformation geschildert wird: „Als Israels Leib zog aufgelöst in Rauch / Durch die Luft -“ (v. 3 f.). Der Gedankenstrich, mit dem der Satz abbricht, markiert nicht nur ein stummes Innehalten, sondern scheint auch die Strömungsbewegung des Rauches zu visualisieren. Doch die angesprochene ‚Auflösung‘ ist kein Vorgang, der spurlos bleibt. Das verdeutlicht ein Stern, der als „Essenkehrer“ (v. 5) bzw. Schornsteinfeger tätig ist und sich aufgrund des heraufziehenden Rauchs „schwarz“ (v. 6) verfärbt. Auf diese Weise bleibt von der massenhaften Ermordung ein untilgbares Erinnerungszeichen am Himmel zurück. Mit diesem Bild korrespondiert die erste Illustration Rudi Sterns, die dem Erstdruck der Wohnungen des Todes beigegeben ist (S ACH S 1947, 11), insofern, als sie zwei Schornsteine eines Vernichtungslagers zeigt, aus denen eine 4. Trauma 147 anthropomorphisierte Rauchwolke steigt. Der Verweis auf die Shoah erfolgt somit auch über die paratextuelle Ebene der Illustrationen, die die Schorn‐ steine in eine deutliche Nähe zu den Konzentrationslagern setzen. Die sich im Gedicht anschließende Frage: „Oder war es ein Sonnenstrahl? “ (v. 7) bringt eine Unsicherheit zum Ausdruck, die wiederum vermuten lässt, dass der Sprecher schon nicht mehr zu unterscheiden vermag, ob der Rauch das Sternen- oder das Sonnenlicht verhüllt. Das Bild der Sternverdunkelung - das Sachs als Titel ihres zweiten Gedichtbands verwendet - verfestigt sich bei ihr zu einer Metapher für die Grausamkeit und Unmenschlichkeit des nationalsozialistischen Terrors. Obwohl die Schornsteine nicht von den „Wohnungen des Todes“ zu trennen sind, werden sie in der zweiten Strophe zu „Freiheitswege[n]“ (v. 9) stilisiert. Aber von welcher Freiheit kann hier die Rede sein, wenn nur „Flüchtlinge aus Rauch“ (v. 11) diesen Weg passieren? Möglicherweise ist die ‚Staubwerdung‘ der Propheten Jeremias und Hiob, die stellvertretend für das jüdische Volk genannt werden, im Sinne einer religiösen Verheißung zu verstehen: Denn die Zerstörung ihrer Physis ist die Bedingung - wie es das Motto ankündigt -, um „Gott schauen“ zu können. Dieser Gedanke wird jedoch nicht weiter vertieft, da über das Verb „erdachte“ (v. 10), das die erste mit der zweiten Strophe verklammert, der Blick erneut auf die Täter gelenkt wird. Dabei bezieht sich die rhetorische Frage nicht nur auf die Identität derjenigen, die die Vernichtungslager konstruiert und erbaut haben, sondern transportiert auch die Fassungslosigkeit des Sprechers darüber, dass diese Baupläne überhaupt ausgeführt werden konnten. Die Perfidie der Konstruk‐ teure zeigt sich ferner darin, dass die „Wohnungen des Todes“ (v. 12), wie es in der dritten Strophe heißt, „[e]inladend hergerichtet“ (v. 13) wurden. In der Darstellung des Sprechers gilt diese ‚Herrichtung‘ aber offenbar nicht den Gefangenen, sondern einer nur andeutungsweise umschriebenen Figur: nämlich „de[m] Wirt des Hauses, der sonst Gast war“ (v. 14). Wird diese Figur als der Tod identifiziert, dann markiert dieser Vers die eklatante Zunahme seiner Präsenz. War er früher nur gelegentlich als „Gast“ gegenwärtig, behauptet er nun als „Wirt“ eine Omnipräsenz, die jede Hoffnung auf ein Entkommen zunichte macht. Diese Annahme wird gestützt durch die Fokussierung auf die „Finger“, die eine „Eingangsschwelle“ (v. 15 f.) legen und damit einen Grenzbereich zwischen Leben und Tod eröffnen. Indem die „Finger“ synekdochisch auf den Akt der Selektion hinweisen (vgl. B AH R 1980, 81), wirken sie wie ein „Messer“ (v. 17), das potenziell zu töten vermag. Angesichts dieser unmittelbaren Bedrohung versagen dem Sprecher die Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 148 Worte, so dass die dritte Strophe mit einem Anakoluth endet. Durch den Verzicht auf Verben in der letzten Strophe wird die Rede elliptisch zu einer Klage über die Ermordung von „Israels Leib“ (v. 20) verdichtet, die durch die wiederholte „O“-Apostrophe an Beschwörungskraft gewinnt. Aufgrund der pathetischen Färbung dieser Klagerede hat Aris Fioretos die Frage gestellt, ob es sich bei diesem Gedicht nicht um „Holocaustkitsch“ (F IO R E TO S 2010, 147) handele: Deutet die Parallele zu den Propheten nicht an, daß die Vernichtung eine Prüfung war, für die es nicht nur eine Erklärung, sondern auch eine Rechtfertigung gab? Und was macht man mit dem Schornstein? Ist das Hauptsymbol des Gedichts nicht bedrückend überdeutlich? […] Vor allem: Was macht man mit dem Gedanken, daß industriell ermordete Gefangene „Flüchtlinge aus Rauch“ sind - als wäre der Tod kein grauenhaftes Unrecht, sondern eine sich selbst erfüllende Befreiung? (F I O R E T O S 2010, 148) Zunächst impliziert die Rede vom „Holocaustkitsch“ den Vorwurf künstle‐ rischer Inadäquatheit. Doch nach welchen Kriterien soll die ästhetische Angemessenheit bei einem Gedicht, in dem die Massenvernichtung der Ju‐ den thematisiert wird, beurteilt werden? Und würde mit der Kennzeichnung vermeintlich künstlerisch unzureichender Lyrik nicht Adornos Diktum reproduziert, solche Gedichte nach Auschwitz zu schreiben, sei barbarisch? Davon abgesehen, ist die textbezogene Kritik, die Fioretos vorsichtig in Fra‐ geform formuliert hat, freilich nicht einfach abzuweisen. Selbstverständlich lässt sich die Leiderfahrung der biblischen Propheten und die der Opfer der Shoah keinesfalls parallelisierend gleichsetzen. Und selbstverständlich erscheint es befremdlich, wenn die Schornsteine der Krematorien euphe‐ mistisch zu „Freiheitswege[n]“ umgedeutet werden, als hätten sie reelle Fluchtmöglichkeiten geboten. Schon Ehrhard Bahr hat angemerkt, dass somit „in der Metaphorisierung ein Trost gegeben [werde], der nur für den Gläubigen verbindlich sein kann“ (B AH R 1980, 81). Doch ist nicht schon die konsolatorische Ambition, die dem Gedicht eingeschrieben ist, eigens anzuerkennen? Liegt eine Qualität des Gedichts nicht darin, einen religiös aufgeladenen Gegenraum sichtbar zu machen, der zumindest spirituelle Freiheit verheißt? Kommt dem Gedicht nicht zuletzt deshalb eine exponierte Stellung zu, weil es eine Gedichtsammlung eröffnet, die „als umfassende sprachliche Reflexion unterschiedlicher, von der Shoah ausgehender, Trau‐ mata gedeutet werden kann“ (O R TH 2016, 63 f.)? Bei der Zusammenstellung ihrer Anthologie Fahrt ins Staublose (1961) wird Nelly Sachs noch einmal 4. Trauma 149 die Bedeutung der Wohnungen des Todes betonen: „Fahrt ins Staublose muß mit den Wohnungen beginnen und ihre Bahn durchschmerzen“ (S ACH S 1984, 272). 4.3. Stephan Hermlin: Zwischen Erinnern und Vergessen Stephan Hermlins (1915-97) Gedicht Die Asche von Birkenau entsteht nicht nur im gleichen Jahr (1949), in dem Theodor W. Adorno seinen Essay Kulturkritik und Gesellschaft verfasst, sondern wird auch im gleichen Jahr (1951) erstmals veröffentlicht. Ohne von Adornos wirkmächtigem Verdikt über Lyrik nach Auschwitz Kenntnis zu haben, veranschaulicht Hermlins behutsame und zugleich eindringliche Gestaltung die Statthaftigkeit einer lyrischen Thematisierung des größten deutschen Vernichtungslagers, das 1941 errichtet und am 27. Januar 1945 von der Roten Armee befreit wurde. Hermlin (eigentlich: Rudolf Leder) wird am 13. April 1915 in Chemnitz als Sohn des jüdischen Unternehmers David Leder geboren. Wie Hermlin rückblickend schildert, sei sein Vater „ein vorzüglicher Pianist“ gewesen, der zudem Gemälde „vorwiegend französische[r] und deutsche[r] Impressionis‐ ten“ (H E R MLIN 1971, 1280) gesammelt habe. Geprägt von dieser künstleri‐ schen Atmosphäre seines Elternhauses beginnt Hermlin schon frühzeitig, Gedichte und Kurzgeschichten zu schreiben. Nach seinem Eintritt in den kommunistischen Jugendverband engagiert er sich in den Jahren 1933 bis 1936 im Kampf gegen den Faschismus. Nach einem einjährigen Aufenthalt in Palästina gelangt Hermlin Anfang Oktober 1937 nach Frankreich und wird seit Mai 1940 als Arbeitssoldat in Südfrankreich eingesetzt. Er flüchtet im April 1943 in die Schweiz, wird aber sogleich in wechselnden Arbeitslagern interniert. Gleichwohl hat Hermlin dort Gelegenheit, Gedichte Paul Éluards (1895-1952) zu übersetzen und an der Flüchtlingszeitschrift Über die Grenzen mitzuarbeiten. Außerdem verfasst er einen Zyklus von Balladen, die er 1945 als erste eigenständige Sammlung unter dem Titel Zwölf Balladen von den Großen Städten publiziert. In diesen Balladen, die der Literaturkritiker Max Rychner (1897-1965) als „moderne urbane Dichtung“ (R Y CHN E R 1945, 7) gewürdigt hat, entfaltet Hermlin eine Schmerzpoetik, „über die er die Erfahrung des kollektiv erlebten Kriegstraumas zu vergegenwärtigen ver‐ sucht“ (I MM E R 2017, 419). „Stephan Hermlin“, so hat der Literaturhistoriker Hans Mayer (1907-2001) rückblickend geschrieben, „war der Lyriker eines großen geschichtlichen Augenblicks: des antifaschistischen Kampfes und der Befreiung von der Barbarei.“ (M AY E R 1998, 247 f.) Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 150 1945 kehrt Hermlin nach Deutschland zurück, wo er als Rundfunkredakteur in Frankfurt am Main tätig wird. Ein Jahr später erscheint sein zweiter Gedichtband Die Straßen der Furcht (1946), mit dem er „noch einmal die Zeit des Exils“ (L E R M E N / L O EWE N 1987, 158) aufgreift. Mit der anschließenden Übersiedlung nach Ost-Berlin beginnt Hermlins steiler Aufstieg zu einem der einflussreichsten Schriftsteller der DDR. Das zeigt sich insbesondere an den zahlreichen Ämtern, die er bekleidet: „Vizepräsident des deutschen Schriftstel‐ lerverbandes, Redaktionsbeirat der Zeitschrift Aufbau, Delegierter auf Schrift‐ steller-, Friedens- und Völkerkongressen, Mitglied des Zentralrats der FDJ, Sekretär der Sektion Dichtkunst und Sprachpflege der Akademie der Künste und Mitglied des Pen-Clubs“ (L E R M E N / L O EWE N 1987, 159). Zugleich häufen sich die Preise, mit denen Hermlin für sein dichterisches Werk ausgezeichnet wird; so erhält er beispielsweise 1947 den Berliner Fontanepreis für seine erweiterte Sammlung Zweiundzwanzig Balladen (1947). Darüber hinaus tritt Hermlin wiederholt als Vermittler zeitgenössischer Literatur in Erscheinung: zum einen als Essayist, indem er gemeinsam mit Hans Mayer die Essaysammlung Ansichten über einige neue Schriftsteller und Bücher (1947) veröffentlicht; zum anderen als Übersetzer, indem er Gedichte von Paul Éluard, Pablo Neruda (1904-73), Attila Jozsef (1905-37) und Nazim Hikmet (1902-63) ins Deutsche überträgt. In diesem Zusammenhang darf nicht verschwiegen werden, dass Hermlin seine Vita in Interviews und Selbstdarstellungen zunehmend dem Lebenslauf eines idealtypischen Widerstandskämpfers anzupassen beginnt. Insbesondere mit seinem autobiografisch gefärbten Erzähltext Abendlicht (1979) suggeriert er, dass sein Vater im Konzentrationslager umgekommen sei, dass er selbst im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft habe und dass er als aktives Mitglied in der französischen Résistance tätig gewesen sei. Diese Behauptungen sind inzwischen allesamt als Legendenbildungen entlarvt worden (vgl. C O R INO 1996). Nach der Publikation seiner ersten zwei Lyrikbände beginnt sich Hermlin auch poetologisch mit der zeitgenössischen Dichtung auseinanderzusetzen. In seinen Bemerkungen zur Situation der zeitgenössischen Lyrik (1947) regis‐ triert er zunächst die erhebliche Menge an lyrischen Neuerscheinungen, um nach ihrer Durchsicht festzustellen: „Was es nicht gibt? Jene Gedichte, die uns erschrecken, an denen etwas ist, was wir nie ganz verstehen - Gedichte, die unser Leben ändern, die beim Weiterlesen von unbegreiflicher Neuheit sind“ (H E R MLIN 1947, 186). Diesen Mangel führt er zum einen auf die „unglückselige Spaltung in eine ‚innere‘ und ‚äußere‘ deutsche Dichtung“ (H E R MLIN 1947, 188) zurück, die sich seit 1933 intensiviert habe. Zum anderen 4. Trauma 151 orientiere sich die moderne Dichtung verstärkt am hohen Ton Friedrich Hölderlins (1770-1843) und Rainer Maria Rilkes (1875-1926), ohne selbst innovative Schreibweisen hervorzubringen. Im Besonderen wendet sich Hermlin gegen Johannes R. Becher (1891-1958), den ursprünglich expres‐ sionistischen Dichter und damaligen Präsidenten des am 8. August 1945 gegründeten „Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“. Hermlin ist der Meinung, dass Becher, der kurz zuvor seine Gedichtsamm‐ lung Heimkehr (1946) veröffentlicht hatte, sich zwar um einen „neuen Realismus“ in der Lyrik bemühe, aber längst „in neo-klassizistischer Glätte und konventioneller Verseschmiederei gelandet“ (H E R MLIN 1947, 191) sei. Am Ende seiner Bemerkungen fordert Hermlin die junge Dichtergeneration dazu auf, nicht nur ästhetische Wagnisse einzugehen, sondern auch die gegenwärtige internationale Dichtung produktiv zu rezipieren. Noch im gleichen Jahr hält Hermlin die Rede Wo bleibt die junge Dichtung? auf dem ersten deutschen Schriftstellerkongress, der vom 4. bis 8. Oktober 1947 in Berlin stattfindet. Darin greift er die allgemeine „Klage“ auf, derzufolge „die junge Dichtung […] unfähig [sei], die erlebte Epoche auch nur annähernd zu bewältigen“ (H E R MLIN [1947] 1983, 20). Auch wenn eigens diskutiert werden müsste, wie die Forderung, „die erlebte Epoche […] zu bewältigen“, konkret erfüllt werden sollte, verfolgt Hermlin die Frage, wie das skizzierte Defizit auszuräumen sei. Während er sich von „der Richtung eines vulgären Naturalismus“ und jener eines gekünstelten „Neoklassizismus“ distanziert, votiert er programmatisch für einen „progressiven Realismus“ und eine „praktisch-politische Literatur im weitesten Sinne“ (H E R MLIN [1947] 1983, 25). In diesen Horizont einer ästhetischen Neubestimmung ist Hermlins Gedicht Die Asche von Birkenau einzuordnen. Die Asche von Birkenau Leicht wie später Wind, wie die Kühle, Vorm Regen die Schwalbenbahn, Wie Gewölk nach getränkter Schwüle, Wie der Pollen vom Löwenzahn, 5 Leicht wie der Schnee auf den Lidern der Toten, Wie ein alter Kinderreihn, Wie Schmetterlingslast am roten Mund der Nelke, leicht wie ein Gericht, das die Kranken essen, 10 Wenn sie am Sterben sind, Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 152 So leicht ist das Vergessen, Wie Kühle und später Wind … Wo Tag sich und Nacht verflechten, Der Rost am Geleise frißt, 15 Ist die Asche der Gerechten, Ungerächten Am Mast der Winde gehißt. Birkenau ohne Birken Liegt abends ganz allein, Und die Disteln wirken 20 Zeichen über den Stein. Als auf den Feldern von Polen Die Mittagsdistel erblich, Hieß die Erde an meinen Sohlen Entsinnedich … 25 Schwer wie im Berg das Eisen, Wie das Schweigen vor dem Entschluß, Wie der Baumsturz an Nebelschneisen, Wie auf unsern Lippen der Ruß Von denen, die man verbrannte, 30 Schwer wie das letzte Fahrwohl, Die man ins Gas sandte, Waren des Lebens voll, Liebten die Dämmerung, die Liebe, Den Drosselschlag, waren jung. 35 Schwer wie vorm Sturm Wolkengeschiebe Ist die Erinnerung. Doch die sich entsinnen Sind da, sind viele, werden mehr. Kein Mörder wird entrinnen, 40 Kein Nebel fällt um ihn her. Wo er den Menschen angreift, Da wird er gestellt. Saat von eisernen Sonnen, Fliegt die Asche über die Welt. 45 Allen, Alten und Jungen, Wird die Asche zum Wurf gereicht, Schwer wie Erinnerungen Und wie Vergessen leicht. 4. Trauma 153 Die da Frieden sagen 50 Millionenfach, Werden die Herren verjagen, Bieten dem Tode Schach, Die an die Hoffnung glauben, Sehen die Birken grün, 55 Wenn die Schatten der Tauben Über die Asche fliehn: Lied des Todes, verklungen, Das jäh dem Leben gleicht: Schwer wie Erinnerungen 60 Und wie Vergessen leicht. Auschwitz-Birkenau, Sommer 1949 (H E R M L I N 1951, 91 f.) Das Gedicht gliedert sich in fünf Strophen, die jeweils aus zwölf kreuz‐ gereimten Versen bestehen. Eine einzige Ausnahme findet sich in der vierten Strophe, in der das Reimschema an einer Stelle durchbrochen ist („angreift“ / „Sonnen“, v. 41, 43). Die drei- und vierhebigen Verse weisen keine einheitliche metrische Form auf. Die in unregelmäßigem Wechsel trochäisch, jambisch und bisweilen daktylisch gestalteten Verse enthalten zahlreiche freie Füllungen. Die erste Strophe des Gedichts besteht aus einer einzigen hypotaktischen Satzkonstruktion, die mit einer Reihung mehrerer Vergleiche einsetzt. Diesen Vergleichen kommt die Funktion zu, eine spezifische Gewichtslo‐ sigkeit bildhaft zu veranschaulichen. Referieren diese Analogiebildungen zunächst auf den Gegenstandsbereich der Natur („Wind“, „Schwalbenbahn“, „Gewölk“, „Pollen“, v. 1-4), ist bereits im fünften Vers von anonymen „Toten“ die Rede. Die Fokussierung auf die menschliche Vergänglichkeit findet ihre Fortsetzung, wenn im Anschluss jene Speise thematisiert wird, die „die Kranken essen, / Wenn sie am Sterben sind“ (v. 9 f.). Diese Pa‐ rallelisierung von Vergleichsbildern aus unterschiedlichen semantischen Bereichen erzeugt den Eindruck einer assoziativen Reihung, die aufgrund ihrer quantitativen Ausdehnung die Spannungssteigerung befördert. Erst am Ende der ersten Strophe wird kenntlich, dass es darum geht, primär die Leichtigkeit und sekundär die Nicht-Verhinderbarkeit des Vergessens zu konturieren. Indem mit der „Kühle“ und dem „Wind“ (v. 12) auf den Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 154 Eingangsvers zurückverwiesen wird, entsteht eine Wiederholungsstruktur, die auch die nachfolgenden Strophen kennzeichnet. Im Unterschied zur Reflexion über das Vergessen erfolgt in der zweiten Strophe eine Annäherung an den Gedenkort Auschwitz. Viereinhalb Jahre nach der Befreiung des Vernichtungslagers werden dort bereits Zeichen einer einsetzenden ‚Erosion‘ sichtbar: Während der „Rost am Geleise frißt“ (v. 14), wuchern die sich ausbreitenden Disteln „über den Stein“ (v. 20). Dieser natürliche Verfallsprozess korrespondiert einerseits mit der Leich‐ tigkeit des menschlichen Vergessens, kontrastiert aber andererseits mit dem Erinnerungszeichen der ‚Totenasche‘ (v. 15), die noch immer in der Atmosphäre präsent ist und von der Gegenwart der ermordeten Opfer zeugt. Über die auffällige Homophonie „Gerechten, Ungerächten“ (v. 15) wird explizit das Rachemotiv und implizit die Schuld der Täter angesprochen, die in der vierten Strophe erneut zur Sprache kommt. Das Possessivpronomen „meinen“ (v. 23) zeigt schließlich die Subjektivierung des retrospektiven Vorgangs an: Der Besuch von Auschwitz wird als persönliche Erfahrung eines lyrischen Sprechers kenntlich, der sich seinerseits von dem Gedenkort zu einer aktiven Erinnerungsleistung herausgefordert fühlt: „Hieß die Erde an meinen Sohlen / Entsinnedich …“ (v. 23 f.). Auffällig ist im Erstdruck das fehlende Spatium zwischen dem Imperativ „Entsinne“ und dem Posses‐ sivpronomen „dich“, das beim Wiederabdruck des Gedichts an dieser Stelle eingefügt wird (H E R MLIN 1952, 8). Die Verschmelzung von „Entsinne“ und „dich“ lässt den Eindruck entstehen, als würde der Sprecher ein undeutliches Raunen vernehmen, dem ein Gedenkimpuls eingeschrieben ist, der erst ‚entziffert‘ werden muss. Darüber hinaus verweist der komprimierte Begriff „Entsinnedich“ auf den analogen Pflanzennamen ‚Vergißmeinnicht‘, dem auch das Gedenken inhärent ist. Die dritte Strophe ist komplementär auf die erste Strophe bezogen: Nach‐ dem eingangs das leichte Vergessen thematisiert wurde, liegt der Akzent nun auf dem schweren Erinnern. Erneut wird das Stilmittel des Vergleichs genutzt, um die Qualität des Gedächtnisvorgangs zu kennzeichnen. Auch wenn dabei mehrmals auf den Gegenstandsbereich der Natur rekurriert wird („im Berg das Eisen“, „Baumsturz“, „vorm Sturm Wolkengeschiebe“, v. 25, 27, 35), geht es in dieser Strophe vorwiegend um die Opfer des Vernichtungslagers. Mit der Fokussierung auf jene, „die man verbrannte“ (v. 29), verbindet sich die Erfahrung der gleichsam haptischen Präsenz ihrer durch das Feuer zerstörten Körper. Denn der „Ruß“, der von diesem Akt der Auslöschung zeugt, setze sich nun auf „unsern Lippen“ (v. 29) ab. Damit 4. Trauma 155 wird das Motiv der Totenasche aus der zweiten Strophe erneut aufgegriffen. Darüber hinaus erstreckt sich das Gedenken auch auf jene Opfer, die „man ins Gas sandte“ (v. 31). Das Ausmaß dieser Vernichtung wird anhand der abrupten Tilgung menschlicher Lebenspotenziale kenntlich gemacht: Die Ermordeten „Waren des Lebens voll / Liebten die Dämmerung, die Liebe, / Den Drosselschlag, waren jung“ (v. 32-34). Dieser einschneidende Verlust verdeutlicht, warum das Erinnern als derart schwer eingestuft wird: Das Gedenken löst nicht nur Schmerz und Trauer aus, sondern bringt auch die - freilich im Gedicht nicht ausdrücklich artikulierte - Erfahrung mit sich, dass mit wachsendem zeitlichen Abstand allmählich das Vermögen zu schwinden beginnt, sich differenziert und detailliert der Opfer zu erinnern. Einer solchen nachlassenden Rekonstruktionsleistung ungeachtet wird eingangs der vierten Strophe emphatisch behauptet, dass sich die Zahl derjenigen, „die sich entsinnen“ (v. 37), stetig vergrößere. Der intersubjek‐ tive Blick auf die jüngste Vergangenheit geht mit einer Reflexion über die Schuldverhältnisse einher. Den Tätern wird in Aussicht gestellt, dass sie für ihre Verbrechen haften müssen: „Kein Mörder wird entrinnen, / Kein Nebel fällt um ihn her.“ (v. 39 f.) Der optimistische Absolutheitsanspruch, aller Täter habhaft zu werden, wird in eine allgemeine anthropologische Maxime von gerechter Koexistenz überführt: „Wo er den Menschen angreift, / Da wird er gestellt.“ (v. 41 f.) Zwar ließe sich das Personalpronomen „er“ grammatisch auch auf den zuvor genannten „Nebel“ beziehen. Da jedoch ausdrücklich vom ‚Angreifen‘ die Rede ist, erscheint es plausibler, eine Relation zu den „Mörder[n]“ herzustellen, deren Vergehen nicht ungesühnt bleiben. Die thematische Zäsur, die im Anschluss erfolgt, wird durch die fehlende Reimbindung „angreift“ / „Sonnen“ (v. 41, 43) noch verstärkt. Während die Asche der Ermordeten einerseits auf die genannten „Mörder“ zurückverweist, avanciert sie andererseits zu einer „Saat“ (v. 44), die sich über die gesamte Welt zu verteilen beginnt. Indem sie „Allen, Alten und Jungen, / […] zum Wurf gereicht“ (v. 45 f.) wird, gewinnt die Asche die Qualität eines universalen Erinnerungssymbols. Zugleich alludiert das Dar‐ bieten der Asche „zum Wurf “ den Gestus des Erdewerfens bei Beerdigungen. In der nachgestellten Erläuterung, in der das eigentümliche Gewicht der Asche zur Sprache kommt, werden erste und dritte Strophe synthetisiert: „Schwer wie Erinnerungen / Und wie Vergessen leicht.“ (v. 47 f.) Mit dem typographisch hervorgehobenen Signalwort „Frieden“ (v. 49), das die abschließende fünfte Strophe einleitet, wird ein optimistischer Ausblick auf die Zukunft geboten. Der Friedenswunsch wird von einer Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 156 Gemeinschaft artikuliert, die sich aktiv für die Realisierung dieses Ziels einsetzt: indem sie ihn „millionenfach“ (v. 50) und folglich mit höchster Dringlichkeit einfordert; indem sie die alten „Herren verjag[t]“ (v. 51) und Raum für eine menschliche Nachkriegsordnung schafft; und indem sie sich nachdrücklich dem Leben zuwendet und „dem Tode Schach“ (v. 52) bietet. Angesichts dieser Aussicht kann den Bildern der Vergänglichkeit aus der zweiten Strophe nun ein Bild der Vitalität entgegengesetzt werden: „Die an die Hoffnung glauben, / Sehen die Birken grün“ (v. 53 f.). Über das im gleichen Satz genannte Motiv der fliegenden Tauben wird eine semanti‐ sche Beziehung zum zuvor thematisierten „Drosselschlag“ (v. 34) gestiftet. Zugleich bewegen sich die „Schatten der Tauben“ über das nach wie vor präsente Erinnerungszeichen der „Asche“ (v. 56). Mit dem anschließenden Doppelpunkt setzt ein Wechsel von der visuellen zur akustischen Ebene ein: Das „Lied des Todes“, das das Gedicht ‚hörbar‘ gemacht hat, ist zwar inzwischen „verklungen“, gleiche aber nun „jäh dem Leben“ (v. 57 f.). Diese Überlagerung von Mortalität und Vitalität, die im bildlichen Nebeneinander von mahnender Asche und grünenden Birken zur Geltung kommt, erzeugt die Vorstellung einer Kopräsenz von Vergangenheit und Zukunft. Über die „Figur der wiederholenden Wiederkehr“ (L E R M E N / L O EWE N 1987, 188) werden die Schlussverse der vierten Strophe erneut aufgerufen, in denen eine Warnung anklingt: Während es ausgesprochen schwer bleibe, die Erinnerung an die Getöteten zu bewahren, sei es verführerisch leicht, sich künftig dem Vergessen hinzugeben. Die Hoffnung auf den Frieden, den die Taube symbolisch anzeigt, muss daher mit der Verpflichtung einhergehen, das Andenken an die Opfer von Auschwitz lebendig zu erhalten. Ein Jahr nach dem Erstdruck hat Hermlin das Gedicht Terzinen gemeinsam mit Die Asche von Birkenau unter dem Titel Erinnerungen zu Beginn seiner dritten Gedichtsammlung abgedruckt (H E R MLIN 1952, 5-11). Diese Sammlung, auf deren Umschlag eine Taube abgebildet ist, trägt bezeichnenderweise den Titel Der Flug der Taube. 4.4. Ceija Stojka: Die geraubte Kindheit Ceija Stojka (eigentlich Margarete Horvath-Stojka, 1933-2013) stammt aus einer österreichischen Roma-Familie, die mehrheitlich dem Holocaust zum Opfer gefallen ist (vgl. Z AND E R 2017, 290). Im Alter von neun bis elf Jahren gelingt es ihr, zwei Jahre in den Konzentrationslagern Auschwitz, Ravens‐ brück und Bergen-Belsen zu überleben. Erst gegen Ende der 1980er Jahre 4. Trauma 157 beginnt sie, ihren traumatischen Erfahrungen sprachlichen und bildlichen Ausdruck zu verleihen. Neben den autobiografischen Schriften Wir leben im Verborgenen (1988) und Reisende auf dieser Welt (1992) entstehen zunehmend auch Gedichte und Gemälde, in denen sie sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzt. Eine zweisprachige Sammelausgabe von Stojkas Lyrik erscheint unter dem Doppeltitel Meine Wahl zu schreiben - ich kann es nicht / O fallo de isgri - me tschischanaf les (2003). Somit stellen die Gedichte einen Sonderfall dar: Sie sind nicht in direkter zeitlicher Nähe zum Porrajmos - d. h. zum Völkermord an den europäischen Roma - verfasst worden, zeugen aber unmittelbar von dessen verheerenden Auswirkungen. Dabei wird die grausame Lageratmosphäre vielfach aus einer kindlich-staunenden, gleichsam ‚naiv‘ wirkenden Perspektive dargeboten. Ceija Stojka wird am 23. Mai 1933 in Krautbath, einem Dorf in der Steiermark, geboren. Zusätzlich zu dem Namen Margarete, auf den sie getauft wird, erhält sie den Roma-Namen Ceija (‚Mädchen‘; R AHE 2019, 233). Sie gehört zum Stamm der Lovara, der traditionell vom Pferdehandel lebt. Nach dem ‚Anschluss‘ von Österreich im März 1938 beginnen sich die Lebensumstände für die Familie zusehends zu verschlechtern. Nachdem den Roma-Kindern ab Mai 1938 der Schulbesuch verboten worden ist, untersagt man den Roma durch den sogenannten Festsetzungserlass gut ein Jahr später, ihren Aufenthaltsort zu verlassen (vgl. R AH E 2019, 234). 1941 wird Stojkas Vater von der Gestapo verhaftet und nach Dachau gebracht; erst 2003 erfährt sie, dass er „1942 von Dachau in die Euthanasieanstalt Hartheim deportiert wurde und dort der Tötungsaktion T4 zum Opfer fiel“ (S TO J KA 2008, 128). Am 31. März 1943 werden Stojka, ihre Mutter und ihre Geschwis‐ ter verhaftet und bald darauf ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau gebracht. Über ihre dortige Ankunft schreibt Stojka aus der Erinnerung: „So sind wir angekommen in Auschwitz-Birkenau. Ein verfluchtes Stück Erde, ein gottvergessenes Stück Erde. An einem Tag haben sie dort sechstausend Menschen ermordet.“ (S TO J KA 2008, 22) Am Tag nach der Ankunft werden ihr „der Name genommen“ und die Gefangenennummer ‚Z 6399‘ (‚Z‘ für ‚Zigeuner‘) zugewiesen: „Auschwitz war die Hölle. Wir sahen jeden Tag Menschen sterben, kleine Kinder, Säuglinge, alte Menschen.“ (S T O J KA 2008, 24) Den Torturen des Lageralltags mit „Appellstehen, Hunger und Gewalt durch die SS“ (R AH E 2019, 237) ist die damals neunbzw. zehnjährige Stojka ca. 17 Monate ausgesetzt. Kurz bevor die in Auschwitz verbliebenen 3.000 Sinti und Roma in der Nacht vom 2. zum 3. August 1944 in den Gaskammern ermordet werden, erfolgt die Überstellung von Stojka, ihrer Mutter und Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 158 ihrer Tante ins Frauenlager Ravensbrück. In den fünf Monaten, die sie dort durchleben muss, entgeht sie nur knapp einer Zwangssterilisierung (S T O J KA [1988] 1995, 52). Gemeinsam mit ihrer Mutter gelangt sie im Januar 1945 in das Vernichtungslager Bergen-Belsen, wo sie unter katastrophalen Bedingungen mehrere Monate zubringen muss, bis das Lager am 15. April 1945 von den britischen Truppen befreit wird. Thomas Rahe hat bilanziert, dass „von den etwa 200 Mitgliedern der Großfamilie […] neben Ceija, ihrer Mutter und ihren vier Geschwistern nur einige wenige Angehörige die NS-Verfolgung überlebt“ (R AH E 2019, 238) haben. In ihrer autobiografischen Schrift Reisende auf dieser Welt schildert Stojka den Verlauf ihres weiteren Lebens nach der Befreiung. Während das österreichische Innenministerium Ende der 1940er Jahre schon wieder gegen vermeintlich „lästige Zigeuner“ (zit. nach S TO J KA [1988] 1995, 12) vorzugehen beginnt, ist Stojka nicht zuletzt aufgrund ihrer frühen Mutterschaft zur „Flucht in die Normalität“ (Z AND E R 2017, 308) gezwungen. Ihr damit einhergehender Verzicht, in der frühen Nachkriegszeit die Gräuel der Vernichtungslager zu thematisieren, ist jedoch auch auf die Roma-Tradition zurückzuführen, „sich unauffällig zu verhalten und innerfamiliäre Erfahrungen nicht in die Öffentlichkeit der Gadje, der Nicht-Roma, gelangen zu lassen“ (K ANNIN G 2016, 111). Erst der Austausch mit der Regisseurin Karin Berger gibt Stojka den entscheidenden Impuls, ihre autobiografischen und dichterischen Texte zu publizieren. Ihr hat Stojka außerdem die traumatisierende Wirkung der kindlichen Erlebnisse anvertraut: „Ich träum immer davon. Vom Stacheldraht, vom Gestöhne und vom Schreien der Menschen. Alpträume. […] Ich hab es ja echt erlebt, und mit großer Angst, jeden Tag.“ (S T O J KA [1988] 1995, 105) Angesichts dieses „perennierende[n] Leiden[s]“ (A DO R NO [1966] 2013, 355) hat Stojka die existenzielle Dringlichkeit ihrer künstlerischen Betäti‐ gung geltend gemacht: „Es vergeht kein Tag, wo ich mich nicht mit meinem Bleistift oder mit dem Pinsel hinsetze.“ (S T O J KA 2008, 32) Dabei entfalte das Schreiben eine geradezu therapeutische Qualität: „Wenn ich etwas geschrieben habe, habe ich mich davon gelöst. Dann liegt eine Geschichte vor mir oder ein Gedicht […], und ich weiß, ich bin jetzt ein bisschen erlöst.“ (S T O J KA 2008, 32) Krista Hauser hat festgehalten, dass die Texte, die im Zuge dieser Schreibprozesse entstehen, recht vielfältig sein können: Neben „Sprachspielen“ und „poetische[n] Miniaturen“ finden sich auch „immer wieder beängstigende [lyrische] Rückblenden“ (S T O J KA 2003, 8) in ihrem Werk. Ihr Gedicht Noch hängen die Tränen … stellt ein exemplarisches Beispiel dieser Form der Erinnerungslyrik dar: 4. Trauma 159 Noch hängen die Tränen im Augenwinkel fest Ein Schleier der Erinnerungen hält sie und lässt sie nicht los Doch wehe wenn eine aus dem Augenwinkel rollt dann ist niemand im Stande sie aufzuhalten (S T O J K A 2003, 50) Während sich das ausgestellte Tränenmotiv im Horizont der Tränenpoetik lesen lässt, die in Paul Celans (1920-70) Gedicht Stimmen Kontur gewinnt, hat Stojka die Frage nach ihren lyrischen Vorbildern weitgehend abgewie‐ sen: „Alles, was ich schreibe, schreibe ich für mich, alles, was mir gefällt, was mir einfällt.“ (S TO J KA 2003, 8) Mit Verweis auf Stojkas fehlende Schulbildung hat Susan Tebbutt kenntlich gemacht, dass Stojka kaum „in a particular literary tradition“ (T E B B UTT 2005, 48) zu sehen sei. Gleichwohl zeuge ihre Lyriksammlung Meine Wahl zu schreiben von einem originären künstleri‐ schen Gestaltungsbewusstsein. Das belegt vor allem die Kombination aus den mehrheitlich zweisprachigen (deutsch/ romanes) Gedichten und Stojkas Gemälden und Zeichnungen, auf denen mitunter die Ursprungsfassungen der Gedichte notiert sind (vgl. z. B. Das was wir suchen …; S T O J KA 2003, 20 f.). Die Gedichte selbst sind von Gerald Kurdoğlu Nitsche, dem Herausgeber der Lyriksammlung, vor der Drucklegung lektoriert und „rektifizier[t]“ (S TO J KA 2003, 10) - d. h. ‚berichtigt‘ - worden. Wie noch zu zeigen ist, steht das Gedicht Auschwitz 1944 in enger thema‐ tischer Beziehung mit dem Folgegedicht Stacheldraht … (S TO J KA 2003, 17; vgl. K ANNIN G 2016, 112). Gleichwohl bildet es mit diesem keine formale Einheit, wie Tebbutt angenommen hat (vgl. T E B B UTT 2005, 48, 60). Es ist denkbar, dass Stojka mit der Jahresanzeige des Titels an die Massenvernichtung der Sinti und Roma in Auschwitz Anfang August 1944 erinnert. In Wir leben im Verborgenen schreibt sie über die Vorbereitung dieses Verbrechens: Es war ganz fürchterlich, die Kinder schrien und auch die Kranken, wir hatten alle große Angst. […] Unsere Mama sagte zu uns: „Agana awillas o zeito, igren ame anen dumaro.“ ( Jetzt ist es soweit, ihr müßt mir alle die Hand geben und Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 160 euch an meinem Rock festhalten.) […] Wir marschierten zum Krematorium. Der Boden unter unseren Füßen war sehr heiß und schwarz, Menschenstaub. (S T O J K A [1988] 1995, 30 f.) Auschwitz 1944 Ein Gedränge ist hier Wir müssen gehen Doch dürfen wir Unsre Kinder 5 Nicht verlieren Vorbei ist es bald Ihr werdet sehen Und drüben ist es schön Nun meine Kinder 10 Wir haben es geschafft Kommt her zu mir Denn auf dem Schornstein Ist noch Platz Und seht hinunter auf die Armen 15 Die sich noch durch das Leben plagen Und zu uns Arme Seelen sagen (S T O J K A 2003, 16) Stojkas Gedicht, das aus sechzehn Kurzversen besteht, die der Alltagsspra‐ che angenähert sind, enthält - vom Titel abgesehen - keine zeitlichen und räumlichen Konkretisierungen. Ein Kollektivsprecher, der eingangs über das „Wir“ (v. 2) markiert wird, gibt sich als ein Elternteil zu erkennen, das um seine „Kinder“ (v. 4) besorgt ist. Seine Rede vom „Gedränge“ (v. 1) lässt an eine große Menschenmenge denken, der offenbar auch zahlreiche Eltern oder Elternteile angehören, die wiederum auf ihre Kinder achtgeben. Ihre Fürsorge kommt in dem anschließenden Appell zum Ausdruck: „Doch dürfen wir / Unsre Kinder / Nicht verlieren“ (v. 3-5). Darüber hinaus sind sie darum bemüht, ihren Nachkommen Hoffnung zu machen: „Vorbei ist es bald“ (v. 6). Auch wenn unausgesprochen bleibt, worauf sich das „es“ bezieht, lässt sich mit Rekurs auf den Titel erschließen, dass damit die qualvollen Lebensumstände im Vernichtungslager Auschwitz indirekt zur Sprache kommen. Angesichts dieser Situierung wirkt der Ausblick auf eine gleichsam paradiesische Zukunft eher wie eine utopische Hoffnung: „Ihr 4. Trauma 161 werdet sehen / Und drüben ist es schön“ (v. 7 f.). Dass jenes „drüben“ als euphemistische Anspielung auf den Bereich des Todes zu verstehen ist, verdeutlicht der zweite Teil des Gedichts. Das Signalwort „Schornstein“ (v. 12) verweist metonymisch auf die Krematorien und symbolisch auf die Verbrennung der gefangenen Lagerin‐ sassen. Das Temporaladverb „Nun“ (v. 9) markiert eine zeitliche Sukzession: Nachdem die Sprecherfigur zunächst ihre Kinder beschützt und ihnen eine harmonische Zukunft angekündigt hat, ist sie gemeinsam mit ihren Nachkommen am erhofften Ziel angekommen. Während in der Aussage „Wir haben es geschafft“ (v. 10) die Erleichterung darüber anklingt, Ausch‐ witz endlich entflohen zu sein, legt ihre räumliche Position nahe, dass die Familie nicht mehr am Leben ist. Denn die Sprecherfigur, die sich „auf dem Schornstein“ (Hervorhebung nicht im Original, v. 12) niedergelassen hat, kann dort nur durch den Schornstein hingelangt sein. Die neue Existenzform bietet den Getöteten die Möglichkeit, das Geschehen gleichsam aus der Vo‐ gelperspektive zu beobachten. Anteilnehmend schauen sie auf jene „Armen [herab] / Die sich noch durch das Leben plagen / Und zu uns Arme Seelen sagen“ (v. 14-16). Der veränderte Blickpunkt führt zur Umkehrung der Wahrnehmung: Nicht mehr die Toten sind die „Arme[n] Seelen“, sondern diejenigen, die noch immer in Auschwitz ausharren müssen. Wie im Falle von Nelly Sachs’ Gedicht O die Schornsteine … bleibt auch hier anzumerken, dass der Gewaltakt, Menschen im Krematorium zu vernichten, zu einer Fluchthoffnung verklärt wird. Wird Stojkas Gedicht Auschwitz 1944 nun in Verbindung mit dem Fol‐ gegedicht Stacheldraht gelesen, kann festgehalten werden, dass sich „die Perspektiven des erinnernden Kollektivs der erwachsenen Überlebenden, die im Lager Kinder waren, mit den imaginierten Blicken der ermordeten Eltern“ (K ANNIN G 2016, 112) durchdringen. Während es in Auschwitz 1944 die Toten sind, denen Stojka eine Stimme verleiht, wird in Stacheldraht die Lageratmosphäre aus kindlicher Perspektive geschildert. Durch die Kombination dieser Blickwinkel erzeugt sie „den dialogischen Effekt eines Gesprächs der Toten mit den Lebenden“ (K ANNIN G 2016, 113). Zugleich avancieren die Gedichte zu Erinnerungsmedien, die den Massenmord an den Roma und Sinti sichtbar machen und im kollektiven Gedächtnis bewahren. Dass sich Stojka immer wieder mit dem Zentralthema ‚Auschwitz‘ ausein‐ andergesetzt hat, belegt beispielsweise ihr Ende Mai 1995 verfasstes Gedicht Ich Ceja sage … (S T O J KA 2003, 24). Das einleitende persönliche Bekenntnis legt die andauernde und nicht endende Nachwirkung ihres Lebenstraumas Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 162 offen: „Ich / Ceja / sage / Auschwitz lebt / und atmet / noch heute in mir“ (S TO J KA 2003, 24). In diesen Versen deutet sich an, welche Präsenz der einstige Ort der Massenvernichtung beansprucht: Er „lebt und atmet“ als gleichsam eigenständige Entität, wodurch die Anmutung eines ungeborenen Kindes entsteht, das die Sprecherfigur in sich trägt. Doch im Gegensatz zu dieser lebensbejahenden Vorstellung wird Auschwitz erneut als Ort der radikalen Lebensverneinung gekennzeichnet. Die Erinnerung an das Erlebte bleibt nicht nur unauslöschbar, sondern überformt auch die Gegenwart: „Ich habe gesehen / alles ist wieder da / alles ist wieder nah“ (S T O J KA 2003, 24). In ihrem autobiografischen Gedicht auschwitz ist mein mantel, das als ein „ent‐ scheidende[r] Schlüsseltext zu Ceijas Umgang mit dem KZ-Trauma gedeutet werden kann“ (Z AND E R 2017, 311), hat Stojka mittels der Metapher der Klei‐ dung kenntlich gemacht, wie sehr die Kindheitserlebnisse sie umschließen: „auschwitz ist mein mantel, / bergen-belsen mein kleid / und ravensbrück mein unterhemd.“ (S T O J KA 2008, 5) Der gewählte Bildbereich wirkt auf den ersten Blick irritierend, dient doch die Kleidung üblicherweise dazu, Wärme zu spenden und den persönlichen Modegeschmack anzuzeigen. Bezogen auf Stojkas Vergangenheit handelt es sich hierbei offenbar um textile Schichten, die nicht abstreifbar sind und Lebenswärme zu nehmen scheinen. Zugleich veräußerlichen sie die traumatischen Kindheitserlebnisse als Zeichen ihres persönlichen Schicksals. Wird der Blick auf Stojkas weiteres künstlerisches Schaffen gerichtet, lässt sich feststellen, dass auch in ihren Gemälden und Zeichnungen das Vernichtungslager und die damit verbundenen Gewalter‐ fahrungen immer wieder auftauchen. Am eindrücklichsten vergegenwärtigt das vielleicht ihr Zyklus Sogar der Tod hat Angst vor Auschwitz, der aus etwa 180 Blättern besteht (R AH E 2019, 239; auszugsweise S TO J KA 2008, 102-115). 5. Gesellschaftskritik 5.1. Poetologische Hinführung „Ich habe mich eigentlich, wenn ich von meiner eigenen Produktion ab‐ sehe (was ohne weiteres geschehen kann), niemals besonders für Lyrik interessiert“ (B R E CHT 1977a, 7). Dies behauptet Bertolt Brecht (1898-1956) gleich zu Beginn seines Aufsatzes Kurzer Bericht über 400 (vierhundert) junge Lyriker, den er in der Literaturzeitschrift Die Literarische Welt 1927 veröffentlicht. Anlass ist ein von dem Magazin ausgelobter Wettbewerb für 5. Gesellschaftskritik 163 junge Dichter. Der damals 29-jährige Brecht war als Preisrichter für genau jenes Genre vorgesehen, für das ihm angeblich jedwede Begeisterung und tieferes Verständnis fehlte. Während Alfred Döblin (1878-1957) und Herbert Ihering (1888-1977) Preisträger in den Kategorien ‚Roman‘ und ‚Drama‘ küren, lehnt Brecht alle eingesandten Gedichte ab und lässt stattdessen ein Lied von Hannes Küpper (1897-1955) über den australischen Bahnrad‐ rennfahrer Reginald McNamara abdrucken (vgl. K ITT S T E IN 2012, 5). Kein zeitgenössischer Lyriker scheint Brecht preiswürdig. Dass der Preis in der Kategorie ‚Dichtung‘ nicht vergeben wird, führt zu einer heftigen Debatte. Brecht erscheint als enfant terrible dieses kleinen Literaturskandals. Denn mit den jungen Dichtern verwirft Brecht gleichzeitig deren Vorbilder: Rainer Maria Rilke (1875-1926), Stefan George (1868-1933) und Franz Werfel (1890-1940). An diesem Literaturpreisskandal lässt sich gleichzeitig eine markante Wende im deutschen Lyrikverständnis des 20. Jahrhunderts erkennen. Brechts polemische Haltung darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass er durchaus eine alternative Lyrikvorstellung vertritt. Sein Kokettieren mit dem Status, ein vermeintlich lyrisch Uninteressierter zu sein, gehört zu einer Selbstinszenierungsstrategie, die Ausdruck eines neuen lyrischen Funktionsprofils ist: Brecht hebt die politische Dimension des Gedichts und sein gesellschaftskritisches Potenzial nachdrücklich hervor. So betont er im Aufsatz Weder nützlich noch schön (1927), mit dem er auf die Kritik an seiner Entscheidung reagiert, „den Ernst des Aspektes“ (B R E CHT 1977b, 13). Keineswegs geht es Brecht darum, die deutschsprachige Lyrik in Bausch und Bogen lächerlich zu machen. Vielmehr nutzt er die Polemik, um seine eigene Auffassung gegenüber der etablierten Lyrikvorstellung zu behaup‐ ten. Gleichzeitig präsentiert er so einen Gegenentwurf zu den Lyrikern seiner Generation und hält fest, dass Gedichte einen „Gebrauchswert“, nämlich „den Wert von Dokumenten“ bzw. einen „dokumentarischen Wert“ haben müssen (B R E CHT 1977a, 8 f.). Lyrik habe eine Funktion für die Gesell‐ schaft und dürfe sich nicht im Ästhetizismus erschöpfen. In Weder nützlich noch schön korrespondieren mit dem „Gebrauchswert“ unterschiedliche Varianten des Lexems ‚Nutzen‘, die insgesamt sechsmal erwähnt werden. Kurz gesagt: Der „Gebrauchswert“ eines Gedichts ergibt sich aus seinem gesellschaftlichen Nutzen. Gedichte, „deren Inhalt aus hübschen Bildern und aromatischen Wörtern“ besteht, lehnt Brecht kategorisch ab (B R E CHT 1977a, 8). Der „Gebrauchswert“ von Lyrik steht somit einer elitären Ästhetik gegenüber, die vor allem das Schöne und Verspielte der Lyrik betont (vgl. Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 164 L AM PA R T 2013, 121). Vielmehr solle sich Lyrik an der Realität orientieren. Ein Gedicht müsse laut Brecht etwas „beweisen“ (B R E CHT 1977d, 50). Damit positioniert er sich beispielsweise gegen die Naturlyrik seiner Epoche. Weil sich die zeitgenössische Gesellschaft an einem Krisenpunkt befinde, sei es Zeit für eine „‚handelnde‘ Lyrik“ - die vermeintlich „zeitlose Schönheit einer Landschaft“ sei daher nicht mehr „der gebotene Gegenstand für Dichtung“ (H INC K 1994, 254). In Brechts Verständnis besitzt Lyrik eine eminent politi‐ sche Dimension: „Was nützt es, mehrere Generationen schädlicher alter Leute totzuschlagen oder, was besser ist, totzuwünschen, wenn die jüngere Generation nichts ist als harmlos? “ (B R E CHT 1977a, 9) Hier agiert Brecht als engagierter Dichter: Während sich in der Dichtung das Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft manifestiert, steht der Dichter mit seiner Lyrik im Dienst der Gesellschaft. Er muss eine Haltung haben und diese vertreten, um damit seine Rezipientinnen und Rezipienten zu ‚erziehen‘. Der Dichter darf nicht abseits stehen und Unrecht geschehen lassen, indem er sich in eine wirklichkeitsferne Ästhetik flüchtet. Diese Forderung nach einem politischen „Gebrauchswert“ korreliert mit der Zunahme eines marxistisch geprägten Impetus, der die politische Dimension um eine soziale erweitert. In der Schrift Über die ‚Svendborger Gedichte‘ (1938) vollzieht Brecht seine Entwicklung zum politisch engagier‐ ten, marxistischen Autor. Der Dichter sei Handelnder, der „unter Polizisten“ wandele: „Der Kapitalismus hat uns zum Kampf gezwungen. […] Ich gehe nicht mehr ‚im Walde so für mich hin‘, sondern unter Polizisten.“ (B R E CHT 1977e, 74 f.) Damit verbunden ist eine dezidierte Hinwendung zu den Lesenden: „Die Wahrheit aber kann man nicht eben schreiben; man muß sie durchaus jemandem schreiben, der damit etwas anfangen kann. Die Erkenntnis der Wahrheit ist ein den Schreibern und Lesern gemeinsamer Vorgang.“ (B R E CHT 1997, 171) Lyrik ist kein zweckfreier Ausdruck, sondern Handlungsanweisung für eine bestimmte soziale Gruppe. Gedichte sind Teil einer Moraldidaxe, die eine Bevölkerungsgruppe zum Adressaten hat. Brecht sieht als Zielgruppe seiner Dichtung das Proletariat. Die formalen und stilistischen Konsequenzen aus dieser Lyrikvorstellung führt Brecht in Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen und dem ergänzenden Nachtrag in der Zeitschrift Das Wort 1939 aus (B R E CHT 1977 f, 77-87; B R E CHT 1977g, 87 f.). Brechts Lyrik orientiert sich an freien Rhythmen, gibt dem Vers eine wesentliche Strukturierungsfunktion und imitiert die gesprochene Sprache. Damit wird die Integration alltäglicher Ausdrücke im „Tonfall der direkten, momentanen Rede“ ermöglicht und die 5. Gesellschaftskritik 165 „Sprechweise des Alltags“ nachgeahmt (B R E CHT 1977g, 88). Brechts Lyrik‐ theorie fordert eine Abkehr vom traditionell Lyrischen. Er bestimmt sowohl den Lyrikbegriff als auch seine Grundlagen neu: Brechts Lyrik liegt eine ‚politische Gebrauchsästhetik‘ zugrunde, die inhaltliche und formal-ästheti‐ sche Implikationen besitzt. Diese Neubestimmung deduziert Brecht aus den gesellschaftlichen Zeitumständen der ausgehenden Weimarer Republik und des erstarkenden Nationalsozialismus. Seine ‚politische Gebrauchsästhetik‘ führt er sowohl im Exil als auch in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und in der DDR weiter. Die Lyrik soll zwar auf die Gesellschaft wirken, allerdings eine direkte politische Stellungnahme meiden: Flach, leer, platt werden Gedichte, wenn sie ihrem Stoff seine Widersprüche nehmen, wenn die Dinge, von denen sie handeln, nicht in ihrer lebendigen, d. h. allseitigen, nicht zu Ende gekommenen und nicht zu Ende zu formulierenden Form auftreten. Geht es um Politik, so entsteht dann die schlechte Tendenzlyrik. (B R E C H T 1977c, 25) Die spezifische Dialektik seiner ‚Gebrauchsästhetik‘ liegt darin, simplifizie‐ rende politische Stellungnahmen zu vermeiden. Vielmehr gehe es darum, die gesellschaftlichen Problemlagen in ihrer Komplexität lyrisch transparent zu machen. Nach 1945 avanciert Brecht zum Vertreter einer politischen Lyrik, die sich an den herrschenden Gesellschaftsstrukturen reibt. Dabei wird seine lakonische Dichtung im Zeichen eines politischen ‚Gebrauchswerts‘ für die Nachkriegslyrik in Ost und West stilbildend. Den Gegenpol bildet Gottfried Benn (1886-1956), der als Vertreter eines apolitischen Ästhetizismus gilt. Benn, der zu Beginn der 1930er Jahre mit dem Nationalsozialismus sympa‐ thisierte, konnte in den späten 1940er Jahren erstaunlich schnell wieder publizieren und war mit seinen Gedichten insbesondere in Westdeutschland enorm erfolgreich. In der Marburger Rede Probleme der Lyrik (1951) vertritt Benn dezidiert die Auffassung, dass Lyrik weder einen Zeitindex besitze noch in irgendeiner Form politisch sein könne: Lyrik sei monologisch und absolut (vgl. B E NN [1951] 1954). Benn verteidigt das Konzept einer ‚artistischen‘ Poesie, die überzeitlich wirke. Die Opposition zwischen diesen beiden Positionen und Personen wurde durch die Teilung in BRD und DDR sicherlich forciert. Dieser Antagonismus wurde dann nochmals bestärkt durch den Zufall, dass Benn und Brecht im selben Jahr sterben: Benn stirbt am 7. Juli 1956, Brecht fünf Wochen später am 14. August 1956. In diese vermeintliche Lücke, die in der zeitgenössischen Wahrnehmung durch den Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 166 Tod des politischen Dichters Brecht und den des artistisch-ästhetischen Dichters Benn entstand, stößt 1957 Hans Magnus Enzensberger (*1929) mit seinem Debütband die verteidigung der wölfe, der als Beginn eines Revisionsprozesses bezeichnet wurde, in dem die Ansätze einer politisch engagierten Literatur mit den Mitteln des Ästhetizismus verbunden wurden (vgl. D I E T S CH R E IT / H E INZ E -D I E T S CH R E IT 1986, 13). Die gesellschaftskritische Lyrik nach 1945 darf größtenteils in der Folge Brechts betrachtet werden. So wäre das Programm der Dortmunder Gruppe 61 um den Bibliotheksdirektor Fritz Hüser (1908-79) und den Dichter Max von der Grün (1926-2005) als politische ‚Gebrauchsästhetik‘ im Sinne Brechts zu deuten. Ziel der Gruppe 61 war es, schriftstellerisch tätigen Ar‐ beitern Publikationsmöglichkeiten zu verschaffen. Man wollte also ‚Arbei‐ terliteratur‘ entstehen sehen, die nicht nur von Arbeitern handelt, sondern aus diesem Milieu stammt. In der DDR wiederum wird der sogenannte Bitterfelder Weg beschlossen (1959), der den Zugang der Arbeiter zur künst‐ lerischen Tätigkeit erleichtern und zu einer Aufhebung von ‚Berufs- und Laienkunst‘ führen sollte. Aber auch schon die poetologischen Konzepte des Kahlschlags und der Trümmerliteratur, die im Westen Deutschlands Verbreitung finden, bauen ästhetisch auf Brechts Ansatz eines ‚politischen Gebrauchswerts‘ auf. In dieser Traditionslinie positioniert sich der Dichter als politischer Akteur: Das „Dichterwort“ erscheint als „gesellschaftlicher Akt“ (B I R K E NHAU E R 1971, 90). Deutlich wird dies in Wolfgang Borcherts (1921-47) Schrift Das ist unser Manifest (1947), wenn er in der geistigen Folge Brechts gegen Traditionalis‐ mus und ästhetische Überformung argumentierte: Wir brauchen keine Dichter mit guter Grammatik. Zu guter Grammatik fehlt uns Geduld. Wir brauchen die[, die] zu Baum Baum und zu Weib Weib sagen und ja sagen und nein sagen: laut und deutlich und dreifach und ohne Konjunktiv. […] Denn unser Schlaf ist voll Schlacht. Unsere Nacht ist im Traumtod voller Gefechtslärm. […] Und unser Morgen ist voller Alleinsein. (B O R C H E R T 1984, 310) Und auch Wolfgang Weyrauch (1904-80) knüpft im Nachwort zu seiner Sammlung Tausend Gramm (1949), die neue deutschsprachige Prosa versam‐ melt, an Brecht an. Die spröde, schroffe und alltägliche Sprache der jungen Dichterinnen und Dichter nach 1945 sei, so Weyrauch, kein Zeichen des Unvermögens, sondern Signum einer neuen Poetik. Man nutze bewusst „die Methode der Bestandsaufnahme“ (W E Y R AU CH 1989, 181). Erklärtes Ziel ist es, die Welt lyrisch so darzustellen, wie sie vermeintlich sei. Allerdings 5. Gesellschaftskritik 167 kann die ‚Wahrheit‘ durch Bestandsaufnahme nur „um den Preis der Poesie“ errungen werden (W E Y R AU CH 1989, 181). Wie schon Brecht spielt Weyrauch die ‚Wahrheit‘ gegen die ‚Schönheit‘ aus und sieht in der traditionellen Poesie den Ausdruck der ‚Schönheit‘, die aber den Blick auf die ‚Wahrheit‘ verstelle. Nimmt man die ‚Wahrheit‘ als Ziel der Literatur an, kommt man nicht um die ‚Methode der Bestandsaufnahme‘ herum. Wenn man ‚Wahrheit‘ schreiben will, dann dürfe man nichts beschönigen: „Wenn der Wind durchs Haus geht, muß man sich danach erkundigen, warum es so ist. Die Schönheit ist ein gutes Ding. Aber Schönheit ohne Wahrheit ist böse. Wahrheit ohne Schönheit ist besser.“ (W E Y R AU CH 1989, 181) Weyrauchs Position ist zum einen als Reflex auf die Erfahrung zu deuten, dass weder die deutschsprachige Hochliteratur noch die deutsche Kunst ihr Versprechen auf Humanität und Humanismus halten konnten. Insofern lässt sich die Forderung nach einer neuen Sprache in der Literatur nur aus der Vergangenheit heraus begreifen. Zum anderen führt Weyrauchs ‚Kahlschlagforderung‘, die er an Günter Eichs (1907-72) Gedicht Inventur entwickelt, zur Vorstellung einer deutschen Sprache, die seit der Sprach‐ verwendung im Nationalsozialismus kontaminiert sei. Jede Ästhetisierung steht in dieser Perspektive unter Ideologieverdacht. Stattdessen wird die nicht minder problematische Sichtweise vertreten, dass man Wirklichkeit tatsächlich dokumentarisch festhalten könne. Damit geht ein auf die soziale und politische Gesellschaft bezogenes Ziel einher: „Die Dichtung, die nur für sich selbst da ist, ist keine Dichtung. Die Dichtung ist für den andern da.“ (W E Y R AU CH 1989, 175) Weyrauch pointiert die gesellschaftskritische Funktion von Literatur, wenn er behauptet, die Schriftstellerinnen und Schriftsteller des Kahlschlags würden das „schreiben […], was ist“ (W E Y ‐ R AU CH 1989, 181). Dass sich Gesellschaftskritik und Sprachkritik verbinden, sieht man auch an den Positionen von Hans Magnus Enzensberger. Im Essay Poesie und Politik (1962) beschreibt er das Verhältnis von Dichtung und Politik als „ein immer leidiges, zuweilen blutiges Thema, getrübt von Ressentiment und Untertanengeist, Verdächtigung und schlechtem Gewissen“ (E NZ E N S B E R G E R 2009, 265). Enzensberger selbst nimmt dann eine Zwischenposition ein, indem er Lyrik zwar grundsätzlich eine gesellschaftskritische Funktion zuweist, doch einräumt, dass ihr dieses Potenzial nicht selbstverständlich oder absolut eingeschrieben sei (vgl. U R VÁL E K 2015, 142). Dieser Vorbehalt ist erst später in Enzensbergers poetologischen Überlegungen aufgekommen. Noch bis in die 1960er Jahre hinein hält er alles Poetische per se für subversiv. Enzensbergers Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 168 Positionsänderungen lassen sich an seinen Vor- und Nachworten zu der von ihm herausgegebenen Anthologie Museum der modernen Poesie beobachten. Der politische Beitrag von Lyrik sei nicht durch eine inhaltliche Beteiligung an politischen Diskursen gegeben, sondern durch die Art und Weise, wie im Gedicht mit der Sprache umgegangen wird. Enzensberger fordert folglich keine engagierte Lyrik, da man diese schließlich auch zur politischen Instrumentali‐ sierung missbrauchen könne. Vielmehr liege der politische Gehalt des Gedichts gerade im Ausweis, dass die Politik nicht über Lyrik verfügen könne, da der „politische Aspekt der Poesie […] ihr selber immanent“ sei (E NZ E N S B E R G E R 2009, 277). Eine autonome Kunst sei unabhängig von Machtstrukturen und subvertiere diese durch ihre bloße Existenz. Ein „Gedicht ist in den Augen der Herrschaft […] anarchisch; unerträglich, weil sie darüber nicht verfügen kann“ (E NZ E N S B E R G E R 2009, 286). Auch wenn Alfred Andersch (1914-80), Mentor und Freund Enzensbergers, den Gedichtband verteidigung der wölfe in der Brecht-Nachfolge sieht, handelt es sich doch eher um eine freie Aneignung des Brecht’schen ‚Gebrauchsgedichts‘. In den teilweise äußerst polemischen und provokativen Gedichten aus verteidigung der wölfe werden sowohl Täter als auch Opfer zur Rechenschaft gezogen. Die Gedichte attackieren grosso modo die Verhältnisse in der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft. Wie Brecht geht es Enzensberger aber um eine indirekte politische Wirkung. Er vertritt den Standpunkt, dass die Lyrik Politisches niemals direkt ansprechen dürfe. Am Beispiel von Brechts Gedicht Der Radwechsel (1953) stellt Enzensber‐ ger fest, dass es sich hierbei um ein eminent politisches Gedicht handele: „Bedeutet Politik den Gebrauch der Macht zu den Zwecken derer, die sie innehaben, so hat Brechts Text, so hat Poesie nichts mit ihr zu schaffen. Das Gedicht spricht mustergültig aus, daß Politik nicht über es verfügen kann: das ist sein politischer Gehalt.“ (E NZ E N S B E R G E R 2009, 282) Seine politische Wirkung entfalte das Gedicht über sein utopisches Potenzial, aus dem sich sein gesellschaftskritischer Gehalt ergebe: „Poesie tradiert Zukunft. Im An‐ gesicht des gegenwärtig Installierten erinnert sie an das Selbstverständliche, das unverwirklicht ist.“ (E NZ E N S B E R G E R 2009, 286) Gesellschaftskritische und politische Lyrik nach 1945 zeichnet sich durch ihre Arbeit an der Sprache aus. Besonders deutlich wird dies an den Gedichten Hannah Arendts (1906-75), die erst 2015 in einer vollständigen Edition erschienen sind (vgl. A R E NDT 2015). Arendts Gedichte wurden zu ihren Lebzeiten nicht veröffentlicht. Vielmehr sind sie Teil ihrer Notizhefte, die 2002 als Denktagebücher - Arendt bezeichnete ihre Notizhefte selbst so - 5. Gesellschaftskritik 169 publiziert wurden (vgl. A R E NDT 2002). Darin sind Dichten und Gedankenar‐ beit aufs engste verwoben. Dichtung strukturiert in Arendts Notizheften ihr philosophisches Denken und geht damit eine enge Verbindung mit den gesellschaftskritischen Reflexionen ein (vgl. B E R TH EAU 2016, 203 f.). Denn nach 1945 könne die Welt „mit den bestehenden und überlieferten Vorstellungen von Welt und Mensch nicht mehr begriffen werden“ (H AHN / K NO TT 2007, 15). Das traditionelle Denken passt laut Arendt nicht mehr in die Welt nach 1945. Arendt schließt sich Adorno (1903-69) an, wenn sie in den Gräueltaten des Nationalsozialismus einen gesellschaftlichen und kulturellen Bruch erkennt, der sich auch in die Sprache einschreibt: „[D]enn in der Sprache sitzt das Vergangene unausrottbar, an ihr scheitern alle Versuche es endgültig loszuwerden.“ (A R E NDT 2002, II, 723) Nach 1945 finden sich zahlreiche Gedichte in den Denktagebüchern, die nahelegen, dass die Dichtung der ‚Grundzug‘ von Arendts Denken war (vgl. W E I G E L 2004, 120). Sie selbst reflektiert in ihrem philosophischen Hauptwerk Vita activa: Dichtung ist gewissermaßen die menschlichste und umweltlichste der Künste. Von allen Gedankendingen der Kunst bleibt sie dem Denken selbst am nächsten […]. Es ist, als wäre ein in Dichtung gesprochenes Sprechen bereits dichterisch. Beide, Dichter und Denker, stellen nichts her, und der Status der greifbaren Dinge, der von beiden in der Welt zeugt und materialisierter in der Sprache existiert, ist ein gleich ursprünglicher und für das Gedächtnis der Menschheit gleich existenzieller. (A R E N D T 2013, 157) Wie sich eine solche philosophisch-gesellschaftskritische Lyrik manifestiert, belegen insbesondere die Gedichte, die vor 1950 entstanden sind und leider nicht in die Edition der Denktagebücher aufgenommen wurden: Unaufhörlich führt uns der Tag hinweg von dem Einen Das in gesammelter Kraft eben noch stand in der Tür. Unaufhörlich schlagen Türen ins Schloss und Brücken versinken in den strömenden Strom, hat sie dein Fuss kaum berührt. (A R E N D T 2015, 45) Dieses titellose Gedicht stammt aus den frühen, unveröffentlichten Notizen Arendts und ist mit dem Datum „September 1948“ versehen. Es ist reim‐ los und in zwei parallele Sätze unterteilt. Der erste Satz wirkt mit dem Relativsatz noch klarer, hat aber bereits durch Inversionen einen von der Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 170 Alltagssprache unterschiedenen Klang. Während die ersten beiden Verse syntaktisch nachvollziehbar in Haupt- und Nebensatz gegliedert sind, wirkt der Satzbau in den beiden Schlussversen irritierender. In Vers 3 werden zwei Hauptsätze über die Konjunktion „und“ verbunden, wobei der zweite Hauptsatz in Vers 4 übergeht. Hier schließt ein dritter Hauptsatz an, der durch die Inversion eher an eine Frage erinnert, obwohl der Vers mit einem Punkt und nicht mit einem Fragezeichen schließt. Möglicherweise handelt es sich hier um eine syntaktische Zerlegung, die ihre Entsprechung auf der Bildebene findet: Die zuschlagenden Türen und die versinkenden Brücken versinnbildlichen einen Abbruch von Verbindungen. Mit der Anapher „Un‐ aufhörlich“ (v. 1, 3) wird nicht nur die Machtlosigkeit des Sprechinstanz, diese Vorgänge in irgendeiner Form zu beeinflussen, deutlich, sondern auch die Zyklizität der Ereignisse suggeriert. Über das Reflexivpronomen „uns“ (v. 1) erhält das Gedicht zudem einen allgemeingültigen Bezugsrahmen. Es wird eine gemeinschaftliche Verlusterfahrung artikuliert: Das „Eine[]“ (v. 1), das „eben noch stand in der Tür“ (v. 2), ist jetzt nicht mehr ansprechbar. Es ist unverfügbar geworden. Es ist hier der personifizierte Tag, der das Wir von „dem Einen“, das aber nicht näher spezifiziert wird, trennt. Diese latente Gewalt wird im Bild der zuschlagenden Türen und der versinkenden Brücken forciert. Das tautologische Bild des „strömenden Stroms“ (v. 4) betont abschließend die ‚Strömung‘, aus der sich das Wir nicht selbsttätig lösen kann. Dagegen ruft der Fuß, der die Brücke nur „kaum berührt“ (v. 4), die Zartheit und Präsenz des Einzelnen hervor. Die Bilder der zuschlagenden Türen, der versinkenden Brücken und des „strömenden Strom[s]“ (v. 4) or‐ ganisieren das Gedicht und legen nahe, dass es sich hierbei um eine lyrische Artikulation erfahrener Machtlosigkeit handelt. Wie stark dieses lyrische Motivnetz auch Arendts philosophisches Denken bestimmt, erkennt man daran, dass in ihren Denktagebüchern die hier verwendeten Bilder (Türen, Brücken, Strom) immer wieder auftauchen und in ihre philosophischen und gesellschaftskritischen Gedanken eingebettet werden. Insofern stoßen diese lyrischen Versuche Arendts Denken maßgeblich an und bilden den Ausgangspunkt ihrer Gesellschaftskritik. In den folgenden drei Fallanalysen rücken Böser Morgen (1953) von Bertolt Brecht, lock lied (1957) von Hans Magnus Enzensberger und Askese (1960) von Günter Grass (1927-2015) in den Fokus. Am Beispiel von Böser Morgen wird diskutiert, ob in diesem Gedicht Brechts ‚politische Gebrauchs‐ ästhetik‘ hinterfragt wird. Aufbauend auf Brechts politischer Lyrik werden Enzensberger und Grass als zwei wichtige Vertreter politisch-intellektueller 5. Gesellschaftskritik 171 Positionen ausführlicher gewürdigt. Im Gegensatz zu Enzensberger, der, wie bereits oben ausgeführt, eine Vereinbarung von politischem Engage‐ ment und forciert ästhetischer Darstellungsweise anstrebt, setzt Grass Zweifel und Skepsis als Grundhaltungen seiner Gedichte ein. Grass bricht wegen seiner anti-ideologischen Position mit der lyrischen Tradition, da ihr nach seiner Auffassung eine apolitische Haltung eingeschrieben sei. Insofern nähern sich Grass’ Gedichte stärker als Enzensbergers Lyrik den Brecht’schen Vorbildern an, wenngleich Grass nicht gänzlich auf lyrische Stilmittel verzichtet. Vielmehr nutzt er alltägliche Gegenstände, Figuren und Erfahrungen, um sie in einen neuen Kontext zu setzen und so tendenziell hermetische Bilder zu erzeugen. Problematisch mag an Grass’ kategorischer Ablehnung der lyrischen Tradition und jeder politischen Ideologie ihre Radikalität sein: In seinem anti-ideologischen Impetus sind Grass’ Gedichte mitunter selbst ideologisch. 5.2. Bertolt Brecht: Scheitern der ‚politischen Gebrauchsästhetik‘? Böser Morgen gehört zu einem Gedichtkonvolut, das Brecht im November 1953 an den Verleger Peter Suhrkamp (1891-1959) schickt und das er als ‚Buckowlische Elegien‘ bezeichnet (vgl. K ITT S T E IN 2012, 314). Die Zuordnung verweist zum einen auf den Ort ihrer Entstehung: Brecht schreibt den Großteil der Gedichte in seinem Landhaus in Buckow am Schermützelsee in der Märkischen Schweiz. Dieses Haus hatte Brecht gemietet, um in Ruhe und Abgeschiedenheit arbeiten zu können. Selbst für den wohl renommiertesten Dichter der jungen DDR war dies ein enormes Privileg. Zum anderen deutet der Titel schon klanglich auf die bukolische Dichtung hin, also auf die Schäfer-, Hirten- und idyllische Landschaftsdichtung, die seit der griechisch-römischen Antike das Bild eines einfachen, glücklichen und friedlichen Lebens in Einklang mit der Natur entwirft. Insbesondere zur Bukolik stehen Brechts Gedichte jedoch in einem Spannungsverhältnis, da sie eben keine geschichtsfreie Idylle bieten, sondern zeithistorische Konflikte in indirekter und verschlüsselter Form verarbeiten (vgl. K ITT S T E IN 2012, 314). Ebenfalls im November 1953 - also parallel zur privaten Sendung an Suhrkamp - werden einige Gedichte der Buckower Elegien in der Zeitschrift Sinn und Form veröffentlicht. Eine vollständige Publikation aller Gedichte erfolgt erst nach Brechts Tod. Brecht hat die Gesamtpublikation dieses Bandes möglicherweise bewusst zurückgehalten. Denn diese „Elegien rühr‐ Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 172 ten damals kräftig in den offenen Wunden des eigenen Staats“ (K N O P F 1996, 266). Mehrere Gedichte der Buckower Elegien positionieren sich gegen die politisch vorherrschende Meinung der DDR (vgl. K ITT S T E IN 2012, 304). Am bekanntesten dürfte Brechts Gedicht Die Lösung sein, in dem direkt auf den Aufstand vom 17. Juni 1953 Bezug genommen wird. Dieses historische Ereignis, das für das Selbstverständnis der DDR gravierende Auswirkungen hatte, bildet für viele Gedichte der Buckower Elegien einen Fixpunkt. Im Aufstand vom 17. Juni 1953 wendeten sich zahlreiche Arbeiter in mehreren Städten der DDR gegen eine von der SED vorgeschriebene Erhöhung der Arbeitsnormen ohne Lohnausgleich, die im Zuge der Sowjetisierung der DDR beschlossen worden war. Die SED wollte mit der Normerhöhung den wirtschaftlichen Schwierigkeiten der DDR begegnen. Bereits Anfang Juni 1953 kam es zu ersten Protesten der Arbeiterschaften, die sich dann am 17. Juni in landesweiten Protesten niederschlugen. Zahlreiche Belegschaften von großen Firmen traten am Morgen des 17. Juni in den Generalstreik. In ca. 500 Städten und Ortschaften kam es zu Arbeitsniederlegungen und Protesten. Die Ballungszentren waren Ost-Berlin, Halle, Magdeburg, Leipzig und Dresden. Die Forderung nach Rücknahme der Normerhöhung führte dann auch zu allgemeinen Forderungen, wie beispielsweise der Wiederver‐ einigung der beiden deutschen Staaten oder dem Recht auf freie Wahlen. Insbesondere in Ost-Berlin geriet das staatliche Gewaltmonopol dabei in Ge‐ fahr. Die Sowjetbehörden reagierten mit der Verhängung des Kriegsrechts und ließen die Armee aufmarschieren. Als diese Abschreckungsmaßnahmen nicht zur Auflösung der Streiks führten, ging man militärisch gegen die Aufständischen vor. Insgesamt kamen über 100 Menschen ums Leben, zahlreiche Personen wurden verletzt und in der Folge des Aufstands kam es zu Verhaftungen und Todesurteilen. Noch am Nachmittag des 17. Juni nahm die SED via Rundfunkerklärung die Normerhöhung zurück. Dabei wurde der Streik als vom Westen initiierte Destabilisierungsmaßnahme bezeichnet. Der Streik sei, so die staatliche Propaganda, eine Art Konterrevolution und ein Putschversuch von westlichen Provokateuren gewesen. Inwieweit dies zutrifft oder eine (bewusste) Falschinformation der DDR-Regierung war, ist bis heute nicht geklärt. Entbunden von diesem historischen Bezugspunkt firmieren die Buckower Elegien jahrelang als Brechts ‚Alterswerk‘, in dem er sich der Naturlyrik zugewandt habe (vgl. K N O P F 1996, 266 f.). Das Idyllische wird betont, da der politische Bezugspunkt des 17. Juni 1953 bereits gute zehn Jahre später kaum noch präsent ist. Und auch in dem Gedicht Böser Morgen, das tatsächlich 5. Gesellschaftskritik 173 am Morgen nach dem Aufstand entsteht, bildet es einen eher verdeckten Fixpunkt. Böser Morgen Die Silberpappel, eine ortsbekannte Schönheit Heut eine alte Vettel. Der See Eine Lache Abwaschwasser, nicht rühren! Die Fuchsien unter dem Löwenmaul billig und eitel. 5 Warum? Heut nacht im Traum sah ich Finger, auf mich deutend Wie auf einen Aussätzigen. Sie waren zerarbeitet und Sie waren gebrochen. Unwissende schrie ich 10 Schuldbewußt. (B R E C H T 1967, 1010) Das Gedicht thematisiert eine Wahrnehmungsveränderung, die über Nacht stattgefunden hat. Die schöne Natur des Vortags hat sich ins Gegenteil ver‐ kehrt. Ein Ich-Sprecher nimmt am Morgen die gravierenden Veränderungen wahr: Die Silberpappel war gestern noch „eine ortsbekannte Schönheit“ (v. 1), jetzt ist sie lediglich eine „alte Vettel“ (v. 2). Der See, auf den der Ich-Sprecher blickt, ist am Morgen nur noch eine „Lache Abwaschwasser“ (v. 3), und die pflegeleichten Fuchsien und Löwenmäulchen sind im Blick des Betrachtenden nur noch „billig und eitel“ (v. 4). Die Irritation, die sich aufgrund des plötzlichen Wandels einstellt, wird durch die harten Enjambements unterstützt. Die drei jeweils mit einer Determinansphrase beginnenden Ellipsen erzeugen dabei einen konfrontativen Charakter und deuten - da sie wie eine Aufzählung wirken - gleichermaßen an, dass die Natur als Ganzes ‚entzaubert‘ sei. Die elliptische Satzstruktur der ersten drei Verse evoziert im Zusammenspiel mit den Zeilenumbrüchen einen unregelmäßigen Rhythmus, der den Eindruck der Disharmonie verstärkt. Durch das Enjambement von Vers 1 auf Vers 2 wird das Temporaladverb „Heut“ (v. 2) hervorgehoben. Semantisch wird so die nächtliche Verände‐ rung betont, die eben ‚heute‘ sichtbar wird. Allerdings hat sich die Natur faktisch nicht über Nacht verändert; verändert hat sich die Perspektive des Ich-Sprechers, die nun keine idyllische Naturerfahrung mehr zulässt. Mit der Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 174 erneuten Verwendung des nun als Attribut fungierenden „Heut“ (v. 6) wird die Verbindung zwischen veränderter Wahrnehmung und Traum erzeugt. Ausgangspunkt des Wandels ist also ein Traum, in dem der Ich-Sprecher „Finger“ sah, „auf mich deutend / Wie auf einen Aussätzigen“ (v. 6 f.). Dass die anklagenden Finger „zerarbeitet“ (v. 7) sind, lässt auf die soziale Schicht der Personen schließen, die metonymisch über ihre Finger reprä‐ sentiert werden: Es handelt sich um Arbeiter (vgl. T HI E L E 1981, 197). Der Neologismus „zerarbeitet“ erzeugt durch das Präfix ebenso wie das Adjektiv „gebrochen“ (v. 8) nicht nur den Eindruck von schwerer körperlicher Arbeit, sondern auch den von einer enormen Überarbeitung. Das Enjambement verstärkt die Empfindung, dass es sich um gesprochene Alltagssprache handelt, und führt im Zusammenspiel mit dem anaphorischen Parallelismus zu einer größeren Eindringlichkeit: Die Finger waren nicht nur „zerarbeitet“, sondern auch „gebrochen“. Insofern handelt es sich hierbei auch um eine Klimax, die die prekären Lebensstandards der sozialen Schicht, die durch die Finger repräsentiert wird, nachdrücklich ins Bild setzt. Diese Arbeiterfinger deuten im Traum des Ich-Sprechers auf ihn und markieren ihn als „Aussätzigen“ (v. 7). Der Ich-Sprecher wird damit von der Masse der Arbeiter isoliert und als Kranker stigmatisiert. Es rückt der Gegensatz zwischen Ich-Sprecher und Arbeitern in den Blick. In diesem Zusammenhang ist es entscheidend, dass Letztere ausschließlich auf ihre körperliche Arbeit reduziert werden und die Sprechinstanz lediglich auf den Ort, von dem sie spricht (Natur), und die veränderte Wahrnehmung eben dieses Naturorts: Der Ich-Sprecher scheint über den Ort seines Sprechens als privilegiert gekennzeichnet. Bis „Heut“ (v. 2) konnte der Ich-Sprecher die Natur in ihrer Schönheit genießen. Erst der Traum scheint ihm die Arbeiter wieder in Erinnerung gerufen zu haben. Es ist diese Traum-Erinnerung, die die Naturwahrnehmung umkehrt. Der Gegensatz ist damit einer zwischen jenen, die körperlich bis zur Erschöpfung schuften, und dem Ich-Sprecher, der fern aller Arbeit Natur erfahren und genießen kann. Wenn man diese Opposition von Ich-Sprecher und Arbeitern akzeptiert, so liegt die Schluss‐ folgerung nahe, dass auch die Lebenssphären voneinander getrennt sind. Diese Trennung ist bereits auf der kommunikativen Ebene zu beobachten. So kann von einer wechselseitigen Kommunikation der Arbeiter mit dem Ich-Sprecher (oder vom Ich-Sprecher mit der Natur) keine Rede sein. Dies zeigt sich beispielsweise an dem Kommunikationsmodus, der die Trennung der beiden Sphären hervorhebt: Der anklagenden, körperlichen Gestik der Arbeiter setzt der Ich-Sprecher das Wort, d. h. eine verbale Äußerung, ent‐ 5. Gesellschaftskritik 175 gegen. Das Wort ermöglicht jedoch noch keine Kommunikation, denn der Ich-Sprecher hinterfragt oder erfragt nichts, sondern reagiert seinerseits mit einer Anklage: „Unwissende schrie ich“ (v. 9). Das Schreien betont wiederum das potenzielle Misslingen der Kommunikation. Der Abwehrreflex wird sogleich konterkariert, wenn der Ich-Sprecher seine Schuld abschließend - freilich nur für sich - eingesteht: „Schuldbewußt“ (v. 10) ist das letzte Wort des Gedichts und wird als einziges Wort des letzten Verses besonders hervorgehoben. Insofern ist in diesem Gedicht von einer individuellen Schuld die Rede, die sich mit einer Absage an den Topos der bukolischen Idylle verbindet. Will man die Opposition zwischen Ich-Sprecher und Arbeitern weiter forcieren, könnte man argumentieren, dass es sich beim Ich-Sprecher um jemanden handelt, der mit Worten umgeht. Im Gegensatz zu den stummen Arbeitern, die eben auch nur durch ihre Finger repräsentiert werden, besitzt der Ich-Sprecher Sprach- und Sprechfähigkeit. In Anbetracht der Tatsache, dass der Ort des Sprechens mit See und Naturlandschaft durchaus an Brechts Landhaus in Buckow erinnert, schlägt Ulrich Kittstein vor, dass Brecht in diesem Gedicht „Fragen seiner eigenen Existenz als Dichter reflektierte, mit denen er sich unter dem Eindruck der Juni-Ereignisse konfrontiert sah“ (K ITT S T E IN 2012, 327). Wenn der Ich-Sprecher den Arbeitern ‚Unwissenheit‘ vorwirft, dann bedeutet das, dass er, sofern es sich um einen Schriftsteller handeln sollte, das poetologische Programm Brechts nicht umsetzen konnte. Das ‚Schreien‘ scheint dabei Symptom dafür zu sein, dass er die Arbeiter nicht mehr erreicht. Oder es verweist auf die Angst des Ich-Sprechers, dass er seine Leserinnen und Leser nicht mehr erreichen kann, dass sie ihn nicht mehr hören. Ohne das Wechselverhältnis mit seinen Leserinnen und Lesern kann der Schriftsteller laut Brecht aber nicht mehr politisch agieren. Und wenn sich der Dichter nicht mehr mitteilen kann, „ist der ästhetischen Existenz des Dichters die soziale Grundlage entzogen. Sie verliert damit ihre Legitimation. Der isolierte Standort der ‚abgespaltenen‘ Existenz begründet kein Recht auf Kommunikation.“ (J O O S T 2001, 446 f.) An der Unwissenheit, die er den Arbeitern vorwirft, ist der Ich-Sprecher selbst schuld. Diese Paradoxie wird am Ende des Gedichts explizit. Führt das Gedicht also das Scheitern von Brechts ‚politischer Gebrauchs‐ ästhetik‘ vor? Schließlich kann der Dichter, der die Arbeiter nicht mehr erreicht, seine Rolle als Lehrer nicht mehr erfüllen (vgl. K ITT S T E IN 2012, 328). Dabei ist zu beachten, dass es sich bei diesem Gedicht weniger um ein allgemein-poetologisches Gedicht handelt, das die eigenen Positionen Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 176 der 1930er Jahre in Frage stellt. Vielmehr bietet der Bezugspunkt des Aufstands vom 17. Juni 1953 die entscheidende Folie, um den politischen ‚Gebrauchswert‘ auch dieses Gedichts herauszustreichen: Brecht setzt die persönlichen Freiheiten eines renommierten Dichters der DDR in Opposi‐ tion zu der Situation der Arbeiter. Allerdings solidarisiert sich Brecht mit der DDR-Führung und teilt auch die Einschätzung, dass es sich um eine neofaschistische Konterrevolution handelte, wie er in einem Brief vom 1. Juli 1953 an Peter Suhrkamp, der ihn um eine Stellungnahme zum Aufstand des 17. Juni bat, ausführt: Die Straße freilich mischte die Züge der Arbeiter und Arbeiterinnen des 17. Juni auf groteske Art mit allerlei deklassierten Jugendlichen, die durch das Brandenburger Tor, über den Potsdamer Platz, auf der Warschauer Brücke kolonnenweise eingeschleust wurden, aber auch mit den scharfen, brutalen Gestalten der Nazizeit, den hiesigen, die man seit Jahren nicht mehr in Haufen hatte auftreten sehen und die doch immer dagewesen waren. Die Parolen verwandelten sich rapide. Aus ‚Weg mit der Regierung! ‘ wurde ‚Hängt sie! ‘, und der Bürgersteig übernahm die Regie. […] Und den ganzen Tag kamen über den RIAS, der sein Programm kassiert hatte, anfeuernde Reden, das Wort Freiheit von eleganten Stimmen gesprochen. Überall waren ‚Kräfte‘ am Werk, die Tag und Nacht an das Wohlergehen der Arbeiter und der ‚kleinen Leute‘ denken und jenen hohen Lebensstandard versprechen, der am Ende dann immer zu einem hohen Todesstandard führt. […] Mehrere Stunden lang, bis zum Eingreifen der Besatzungsmacht, stand Berlin am Rand eines dritten Weltkriegs. […] Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands hat Fehler begangen, die für eine sozialistische Partei sehr schwerwiegend sind […]. Im Kampf gegen Krieg und Faschismus stand und stehe ich an ihrer Seite [der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands]. (B R E C H T 1998, 30, 184 f.) Brecht, der nie Parteimitglied der SED war, verteidigt die politische Füh‐ rung gegenüber Peter Suhrkamp. Seine Argumentation ist hier wesentlich differenzierter als in den ersten Reaktionen auf den Aufstand: Bereits am 17. Juni schreibt Brecht an Walter Ulbricht (1893-1973), dass er sich der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands verbunden fühle. Und Wladimir Semjonowitsch Semjonow (1911-92), dem Vorsitzenden der Hohen Kommis‐ sion der UdSSR in Deutschland und späteren Botschafter der Sowjetunion in der DDR, erklärt Brecht in einem Brief seine „unverbrüchliche Freundschaft zur Sowjetunion“ (B R E CHT 1998, 30, 178). Dieses uneindeutige Handeln Brechts, der sich zwar einerseits mit den Arbeitern solidarisiert, andererseits 5. Gesellschaftskritik 177 aber der SED-Führung eng verbunden bleibt, hat Günter Grass (1927-2015) in seinem Drama Die Plebejer proben den Aufstand (1966) konterkariert. In Brechts Böser Morgen erklärt der Vergleich der eigenen privilegierten Lebensumstände mit denen der Arbeiter möglicherweise die ‚Schuld‘. Die Beschreibung der eigenen Traumerfahrung und der sich deswegen verändern‐ den Naturerfahrung unterstreicht den subjektiven Charakter der Schilderun‐ gen. Die private und die politische Situation werden miteinander verknüpft. Die Natur wird in Böser Morgen „zum politischen Reflexionsraum“ (L AM P A R T 2013, 128). Die veränderte Naturerfahrung zeigt die Notwendigkeit von poli‐ tischer Veränderung an, um die sozialen Ungleichheiten zwischen Arbeitern und Intellektuellen aufzuheben. Gleichwohl bleibt das Kommunikationsver‐ hältnis zwischen Dichter und Arbeitern aufgebrochen. Der „gemeinsame Vorgang“, der zur „Erkenntnis der Wahrheit“ führt, ist gestört (B R E CHT 1997, 177). Vielleicht schreibt der Dichter noch die Wahrheit, vielleicht schreibt er sie auch noch für die Arbeiter, aber er erreicht seine Adressaten nicht mehr. Das Schuldbewusstsein ergibt sich sowohl aus dem Wissen über das eigene Versagen als auch aus der Erkenntnis über die eigenen, von den Arbeitern abgehobenen Lebensumständen. Böser Morgen präsentiert keine Lösung dieses Problems, sondern bietet vielmehr das Anschauungsmaterial, durch das die Struktur durchschimmert, die gesellschaftlich prekär ist. 5.3. Hans Magnus Enzensberger: Subversive Lyrik Hans Magnus Enzensberger (*1929), der den Zweiten Weltkrieg als Kind und als spät Einberufener erlebt, ist bis heute eine einflussreiche Person im Li‐ teraturbetrieb. Nach seinem Abitur 1949 studiert Enzensberger in Erlangen, Freiburg im Breisgau, Hamburg und an der Pariser Sorbonne. 1955 wird er mit einer Arbeit über die Poetik Clemens Brentanos (1778-1842) promoviert. Von 1955 bis 1957 arbeitet er gemeinsam mit Alfred Andersch (1914-80) als Rundfunkredakteur in Stuttgart. Aus den in dieser Zeit gesendeten Radio-Es‐ says resultieren die ersten breit rezipierten Essay-Bände Enzensbergers: Einzelheiten I und Einzelheiten II (1962). Bereits 1955 stößt er zur Gruppe 47 und kann dort einige Texte vorstellen. Mit seinem Debütband verteidigung der wölfe (1957) reüssiert Enzensberger als freier Schriftsteller. Es folgen mit landessprache (1959) und blindenschrift (1964) zwei weitere Gedichtbände, die das poetische Programm seines Debüts fortsetzen. Enzensberger ist Schriftsteller, Übersetzer und Herausgeber. Er gehört zu den wichtigsten und einflussreichsten Schriftstellern der letzten 60 Jahre. Dabei tritt er Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 178 immer wieder als kritischer Kommentator des politisch-gesellschaftlichen Geschehens in Erscheinung (vgl. S CHLÖS S E R 2009, 9; H I E B E L 1994, 785). Die Sammlung verteidigung der wölfe wird von der zeitgenössischen Kritik kontrovers diskutiert. Dass Enzensbergers Debüt zudem in eine span‐ nungsvolle Situation der noch jungen Bundesrepublik fällt, tut sicherlich sein Übriges zur heftigen Diskussion um diesen Gedichtband. Die inter‐ nationalen Spannungen des sich abzeichnenden Kalten Krieges schlagen sich in Deutschland nieder. Besonders heftig wird in der unmittelbaren Nachkriegszeit um die Wiederbewaffnung der BRD, die Gründung der Bundeswehr im Jahr 1955 und die Einführung der Wehrpflicht im Juli 1956 gerungen. Spätestens aber das Titelgedicht, das den Band beschließt, muss man 1957 als Provokation wahrnehmen, da es sich im Kontext des Zweiten Straffreiheitsgesetzes von 1954, in dessen Folge es zu zahlreichen Amnes‐ tierungen nationalsozialistischer Verbrecher kommt, sowohl auf aktuelles Zeitgeschehen als auch auf das nationalsozialistische Regime beziehen lässt: soll der geier vergißmeinnicht fressen? was verlangt ihr vom schakal, daß er sich häute, vom wolf ? soll er sich selber ziehen die zähne? (E N Z E N S B E R G E R 1957, 90) Die Wölfe sind Raubtiere; sie können nicht aus ihrer Haut. Eine Anklage der Wölfe unter moralischer Perspektive wird vom Gedicht daher als Kate‐ gorienfehler abgelehnt. Die Verantwortung liegt vielmehr bei den Opfern der Wölfe, die sich willfährig den Tätern hingeben. In der zweiten Strophe wird dies in einer Reihe rhetorischer Fragen nahegelegt. Gleichzeitig wird die Tiermetaphorik aufgedeckt: wer näht denn dem general den blutstreif an seine hose? wer zerlegt vor dem wucherer den kapaun? […] es gibt viel bestohlene, wenig diebe; wer applaudiert ihnen denn, wer steckt die abzeichen an, wer lechzt nach der lüge? (E N Z E N S B E R G E R 1957, 90) 5. Gesellschaftskritik 179 Die im Gedicht erwähnten Fabelfiguren (Wolf, Lamm), die an Brechts Tiermetaphern aus dem erst im Januar 1957 uraufgeführten Schauspiel Schweyk im Zweiten Weltkrieg (1943) erinnern, verweisen auf das Thema des Gedichts. Im Zentrum steht der Umgang mit politischer Macht, wobei das Zusammenspiel aus Missbrauchenden und Missbrauchten den Machtmiss‐ brauch erst ermögliche. Das Gedicht kulminiert in einem zynischen Lob der Verbrecher, für die die Wölfe stellvertretend stehen: gelobt sei’n die räuber: ihr, einladend zur vergewaltigung, werft euch aufs faule bett des gehorsams. winselnd noch lügt ihr. zerrissen wollt ihr werden. Ihr ändert die welt nicht. (E N Z E N S B E R G E R 1957, 91) Diese „sarkastisch-ironische Verteidigung der Mächtigen gegen die Ohn‐ mächtigen“ (Z IMM E R MANN 1977, 69) mag als Unzumutbarkeit aufgefasst wor‐ den sein. Der beißende Zynismus, der die vergewaltigte Person als eigentlich Schuldige an ihrer Vergewaltigung hinstellt, zielt an dieser Stelle auf eine Aktivierung: Wer in seiner Opferrolle aufgeht, „ändert die Welt nicht“. Alfred Andersch (1914-80), der Enzensbergers Debüt nahezu hymnisch bespricht, geht auf den Zynismus dieser Gedichte explizit ein. Enzensbergers gesellschaftspolitische Kritik richte sich, so Andersch, „ebenso gegen die Opfer der Macht wie gegen die Mächtigen selbst“ (A ND E R S CH 1985, 62). Auch wenn Andersch erkennt, dass im Gedicht verteidigung der wölfe gegen die lämmer „die Hinnahme des Mißbrauchs“ wohl deutlicher angeklagt wird als der „Mißbrauch selbst“, will er doch eindeutige Ironiesignale erkennen. Das Gedicht spreche die Missbrauchenden nicht von ihrer Schuld frei: „Enzensberger stellt sich nicht auf die Seite der Macht, nur weil er die sich ihr Beugenden verachtet. Gerade dieses Element seines Denkens verleiht seinen Gedichten den Ton revolutionärer Aufrufe.“ (A ND E R S CH 1984, 62) Die in vielen Gedichten forcierte Provokation wird von Andersch gou‐ tiert: „Endlich, endlich ist unter uns der zornige junge Mann erschienen, der junge Mann, der seine Worte nicht auf die Waagschale legt, es sei denn auf die der poetischen Qualität.“ (A ND E R S CH 1984, 62) Andersch verweist auf den Typus des angry young man, der in England ein journalistisches Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 180 Schlagwort der 1950er Jahre war, um Künstler zu bezeichnen, die vor allem soziale Missstände und Klassenkonflikte in ihren Texten verhandelten. Martin Walser (*1927) hat dieses Label für Enzensberger schon früh in Frage gestellt: „Mir ist es immer komisch zumute, wenn ich wieder einmal irgendwo lese, Enzensberger sei ein zorniger junger Mann.“ (W AL S E R 1984, 65) Zudem hätten die Kritiker nicht nur dieses unpassende Label für En‐ zensberger verbreitet, sondern „Enzensberger auch zum politischen Dichter und Muster-Non-Konformisten gestempelt.“ (W AL S E R 1984, 65) Während Walser die Gegensätzlichkeit der Enzensberger’schen Gedichte pointiert, sieht Andersch Enzensberger in der Folge von Brecht als politischen Dichter: Enzensberger „hat geschrieben, was es in Deutschland seit Brecht nicht mehr gegeben hat: das große politische Gedicht.“ (A ND E R S CH 1984, 62) Der Gedichtband verteidigung der wölfe gliedert sich in drei Abteilungen: „freundliche gedichte“, „traurige gedichte“ und „böse gedichte“. Diese Ein‐ ordnung geht womöglich auf Schillers (1759-1805) Aufsatz Ueber naive und sentimentalische Dichtung (1795) zurück, in dem eine Einteilung der Literatur nach ihrem Verhältnis zur Wirklichkeit in Idylle, Elegie und Satire vorgeschlagen wird; Enzensbergers Sammlung verteidigung der wölfe scheint Schillers Dichtungskategorien nun zu aktualisieren (vgl. S CHLÖS S E R 2009, 18). Die Gedichte unterscheiden sich aber vor allem im Ton bzw. im Grad ihrer Provokation. Alle Gedichte konzentrieren sich „auf die Sehnsucht nach dem einfachen erfüllten Leben in den Idyllen, auf die Klage über Sinn und Ausweglosigkeiten und schließlich auf die Anklage konkreter, zeitgebundener Mißstände“ (D I E T S CH R E IT / H E INZ E -D I E T S CH R E IT 1986, 15). Dass es sich bei diesem Gedichtband durchaus um Dichtung mit politischem und gesellschaftskritischem Anspruch handelt, macht der flugblattähnliche Zettel deutlich, der der ersten Auflage des Bandes beigefügt war. Dieser ‚Waschzettel‘ informiert die Leserinnen und Leser über die Intentionen des Autors und gibt damit gleichzeitig eine explizite und in ihrem Gestus betont objektive Leseanweisung: Hans Magnus Enzensberger will seine Gedichte verstanden wissen als Inschrif‐ ten, Plakate, Flugblätter, in eine Mauer geritzt, auf eine Mauer geklebt, vor einer Mauer verteilt; nicht im Raum sollen sie verklingen, in den Ohren des einen, geduldigen Lesers, sondern vor den Augen vieler, und gerade der Ungeduldigen, sollen sie stehen und leben, sollen sie wirken wie das Inserat in der Zeitung, das Plakat auf der Litfaßsäule, die Schrift am Himmel. Sie sollen Mitteilungen sein, hier und jetzt, an uns alle. (zit. nach D I E T S C H R E I T / H E I N Z E -D I E T S C H R E I T 1986, 14) 5. Gesellschaftskritik 181 Die „Gebrauchsanweisung“ lehnt sich poetologisch durchaus an Brechts ‚politische Gebrauchsästhetik‘ an (D I E T S CH R E IT / H E INZ E -D I E T S CH R E IT 1986, 14). Auch Enzensberger sieht seinen Gedichtband als politisch engagierte Literatur, die gesellschaftskritisch wirken soll. Der avisierte Adressat ist zudem nicht der elitäre Leser, sondern die breite Masse. Im Gegensatz zu Brecht wird das subversive Potenzial der Lyrik aber stärker betont: Wenn die Gedichte mit Einritzungen auf einer Mauer, mit Flugblättern oder mit der flüchtigen Schrift des Himmelsschreibers verglichen werden, dann wird zum einen der anarchisch-rebellische Impetus hervorgehoben. Zum anderen wird auch die Vergänglichkeit der medialen Fixiertheit pointiert. Wegen ihrer Flüchtigkeit ist hinter ihr gesellschaftsveränderndes Potenzial somit ein Fragezeichen zu setzen. lock lied meine weisheit ist eine binse schneide dich in den finger damit um ein rotes ideogramm zu pinseln auf meine schulter 5 ki wit ki wit meine Schulter ist ein schnelles schiff leg dich auf das sonnige deck um zu einer insel zu schaukeln aus glas aus rauch 10 ki wit meine stimme ist ein sanftes verlies laß dich nicht fangen meine binse ist ein seidener dolch hör nicht zu 15 ki wit ki wit ki wit (E N Z E N S B E R G E R 1957, 7) Programmatisch für den Band verteidigung der wölfe steht das Gedicht lock lied. Es wurde bereits 1955 gewissermaßen als eine erste Arbeitsprobe Enzensbergers in der Zeitschrift Akzente veröffentlicht (vgl. L AU 1999, 35). 1957 stellt es Enzensberger als Eröffnungsgedicht an den Anfang seiner Sammlung. Bemerkenswert ist dieser Vorgang, weil das Gedicht dezidiert Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 182 vor den Gefahren der Dichtung warnt. Ein Ich-Sprecher adressiert ein nicht näher bestimmtes Du. Die direkte Ansprache gilt nicht einer Gruppe oder einer anonymen Masse, sondern hebt die Bedeutung und Verantwortung des Individuums hervor. Dabei ist nicht zuletzt die Überlagerung des im Gedicht genannten Du mit den faktischen Leserinnen und Lesern intendiert. In drei parallel strukturierten Strophen von gleicher Länge geht es um die Verführungskraft der Sprache. Das adressierte Du wird vor der subtilen Manipulationskraft der Dichtung gewarnt. Man kann diese Warnung sicher‐ lich auf die folgenden Gedichte beziehen. Wenn man die programmatische Positionierung als Einleitungsgedicht ernst nimmt, warnt das Gedicht aber möglicherweise vor Dichtung im Allgemeinen. Dabei gibt die Sprechinstanz eine kritische Leseanweisung: Die Lesenden sollten sich im Klaren darüber sein, dass Dichtung ein eminentes Verführungspotenzial besitzt. Vor dieser Verführungs- und Manipulationskraft dichterischer Sprache wird einerseits gewarnt. Dies geschieht andererseits aber mit den Mitteln der dichterischen Sprache. Zwar wird lock lied ohne Endreim und in freien Rhythmen präsen‐ tiert, doch werden andere (lyrische) Stilmittel eingesetzt: Die visuelle Prä‐ sentation des Gedichts ohne Interpunktionszeichen erlaubt das Aufheben syntaktisch normativer Regeln: Bezüge werden uneindeutig und der Aussa‐ gegehalt wird so ambivalent. In der Originalausgabe von 1957 werden diese Uneindeutigkeiten durch die konsequente Kleinschreibung noch gesteigert. Die Enjambements forcieren ferner einen durchgehenden Lesefluss, der die lyrischen Äußerungen noch eingängiger macht. Es gibt zwar kein regelmä‐ ßiges Metrum oder Reimschema, doch werden über Assonanzen subtile Klangbilder erzeugt (z. B. v. 1-3, 8). Auffällig sind die onomatopoetischen Wendungen, die jede Strophe abschließen. Mit dem wiederholten „ki wit“ wird möglicherweise der Lockruf des Kiebitzes imitiert. Dass es sich hierbei um einen Kiebitz handeln könnte, wird auch über den Verweis auf die „Binsen“ (v. 1) gestärkt; Binsengräser sind der natürliche Lebensraum des Kiebitzes. Ferner unterstreichen die Alliterationen (z. B. v. 6) den unbewusst verführerischen Klang der poetischen Sprache. Ein intertextueller Bezug besteht auch zu dem niederdeutschen Märchen Van den Machandelboom, das Jacob (1785-1863) und Wilhelm Grimm (1786-1859) in ihre Kinder- und Hausmärchen von 1812/ 15 aufgenommen haben. Zuvor wurde es bereits 1808 von Achim von Arnim (1781-1831) veröffentlicht, wobei Clemens Brentano Arnim darüber informierte, dass er auch eine schwäbische Vari‐ ante dieses Märchens kenne. Enzensbergers Gedicht übernimmt von diesem Märchen möglicherweise das markante Erkennungszeichen des schönen 5. Gesellschaftskritik 183 Singvogels (‚Kiwitt‘), der eine Reinkarnation des von seiner Stiefmutter ermordeten Knaben ist und der seine Stiefmutter am Ende des Märchens mit einem Mühlstein erschlägt. Der Titel stellt durch seine Trennung des Kompositums selbst eine dieser Alliterationen dar, welche durch ihre klangliche Qualität den Rezipienten förmlich anlocken: lock lied. Darüber hinaus wird über die Getrenntschrei‐ bung ein Bezug zum englischen Wort ‚lock‘ hergestellt: Das Anlocken hat also das Gefangennehmen zum Ziel. Die dichterische Sprache erzeugt eine Illusion, die die Lesenden einschließt. Dass es sich um eine poetische Gefangennahme handelt, belegen die genutzten Wort-Bild-Tropen, wenn es beispielsweise heißt: „meine stimme ist ein sanftes verlies“ (v. 11). Die Stimme als Medium des Dichters wird in ihrer Ambivalenz und Gefährlich‐ keit ausgestellt. Es ist zwar ein „sanftes“ Gefängnis, aber die poetische Sprache neigt zur Entmündigung des Subjekts. Sprache wird dazu genutzt, jemanden in den Bann zu ziehen und so gefangen zu nehmen. Die Dichtung erweist sich als ein Gefängnis, aus dem es - wenn man gefangen wurde - kein Entrinnen mehr gibt. Die Verwendung des Imperativs zeigt dabei ein Machtgefälle zwischen der aktiven Sprechinstanz und dem passiven Adressaten in der Zuhörerrolle auf. Dieser wird in der ersten Strophe angewiesen, sich in den Finger zu schneiden, in der zweiten Strophe sich hinzulegen und in der dritten Strophe sich nicht fangen zu lassen und nicht zuzuhören. Über die Form der Verben kann über die Strophen hinweg eine Steigerung der Passivität des adressierten Du konstatiert werden. Während es in der ersten Strophe noch zu einer aktiven Handlung aufgefordert wird, wird ihm abschließend in der dritten Strophe das Zuhören verweigert. Insofern realisiert das vorliegende Gedicht genau das, wovor es zu warnen versucht. Es handelt sich um eine Art subversive Performanz oder performative Subversion. Dass es sich um ein poetologisches Gedicht handelt, wird bereits im ersten Vers deutlich, wenn es heißt: „meine weisheit ist eine binse“ (v. 1). Als Binse bzw. Binsenweisheiten gelten weithin bekannte Tatsachen, die sich als innovative Erkenntnis ausgeben. Sie haben als Wahrheit keinen Wert, da sie gemeinhin bekannt sind. Es handelt sich nicht um echte Er‐ kenntnisse, sondern um Gemeinplätze. Gleichzeitig wird mit der Binse eine poetologische Dimension dieses Gedichts angedeutet. Schließlich fungierten Binsen früher als Schreibwerkzeuge. Tatsächlich wird die Binse dann als Schreibwerkzeug eingesetzt, wenn der Ich-Sprecher das Du auffordert, sich in den Finger zu schneiden, um dann mit dem Blut ein „rotes ideogramm“ Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 184 (v. 3) auf die Schulter des Ich-Sprechers zu „pinseln“ (v. 3). Die reflexive Verwendung des Verbs ‚schneiden‘ zeigt an, dass das Du hier verantwortlich gemacht wird und nicht die Binse schuld daran ist, wenn der Adressat sich verletzt. Vielmehr befiehlt der Ich-Sprecher, dass das Du sich mit der Binse schneiden soll. Syntaktisch könnte hier jedoch auch eine Ellipse vorliegen. Dann wäre der Ich-Sprecher Agens des Schneidens. Enigmatisch mutet das „rote[] ideogramm“ (v. 3) an. Einerseits wird damit das Schreiben indirekt aufgenommen. Andererseits kann man im roten Bildzeichen einen intertextuellen Bezug zum Nibelungenlied erkennen (vgl. S CHLÖS S E R 2009, 19). Der Sprechinstanz würde damit die Rolle des heldenhaften Siegfrieds zugewiesen, dem Kriemhild ein Zeichen ins Gewand stickte, das Hagen von Tronje den Mord an Siegfried erst ermöglichte. Ferner wird mit der Hand‐ schrift die persönliche Involviertheit des Du angezeigt. Ich-Sprecher und adressiertes Du gehen mit diesem Schreib- oder Pinselakt in jedem Fall eine Beziehung ein. Ferner dürfte das Trägermedium von Bedeutung sein: Denn gezeichnet wird das Ideogramm nicht mit Tinte, sondern mit Blut. Mit Blut zu schreiben, kann bedeuten, dass man sich innerlich verausgabt hat. Diese existenzielle Metaphorik wird ergänzt durch den mit Blut unterschriebenen Vertrag, wie man es beispielsweise von Faust und Mephistopheles kennt. Das Zeichen, das auf die Schulter des Ich-Sprechers gepinselt werden soll, ist zudem ein Ideogramm. Hierbei handelt es sich um ein Schriftzeichen, das nicht eine bestimmte Lautung besitzt, sondern in der Regel einen ganzen Begriff repräsentiert, wie beispielsweise die ägyptischen Hieroglyphen oder die chinesischen Schriftzeichen. Was das Zeichen aber zu bedeuten hat, ist unklar. Möglicherweise markiert es den Vertragsabschluss zwischen Dichter und Zuhörenden. Das Schulter-Motiv stellt dann den Übergang von der ersten zur zweiten Strophe her. Die Schulter des Ich-Sprechers wird nun zu einem „schnelle[n] schiff “ (v. 6), auf dem es sich das Du bequem machen soll. Das ‚Schaukeln‘ des Schiffes verweist wiederum auf den Verführungscharakter. Prekär ist dabei das Ziel der Reise: eine „insel“ „aus glas“ und „aus rauch“ (v. 8 f.). Mit dieser Insel ist möglicherweise die poetische Illusion bezeichnet, die sich nicht aus festen Materialien, sondern aus zerbrechlichen (Glas) und flüchtigen Elementen (Rauch) zusammensetzt. In der dritten Strophe wird die Binse wieder aufgenommen und damit das Schreiben erneut thematisiert. Gleichzeitig wird der Bezug zum Nibe‐ lungenlied etwas deutlicher: Wenn die Binse als „seidener dolch“ (v. 13) bezeichnet wird, wird das Gefahrenpotenzial der Dichtung ausgestellt. 5. Gesellschaftskritik 185 Gleichzeitig wird die poetische Schrift mit dem heimtückisch handelnden Hagen von Tronje parallelisiert, der Siegfried unter falschem Vorwand mit einem Dolch ersticht. Irritieren mag hier das Paradoxon „seidener dolch“ (v. 13), womit aber die Sanftheit und die Manipulationskraft von Sprache ins Bild gesetzt werden. Dennoch ist Sprache gefährlich - sie kann sogar töten. Vor genau dieser Gefahr warnt der Ich-Sprecher: „laß dich nicht fangen“ (v. 12) und „hör nicht zu“ (v. 14) sind Imperativformulierungen, die einerseits das körperliche Gefangen-Sein, andererseits die akustische Verführung kennzeichnen. Damit werden die Lesenden in ein poetisch konstruiertes Dilemma gestellt: Wenn man sich jetzt vom Gedicht abwendet, muss man sich den Vorwurf machen lassen, im Sinne des Gedichts zu handeln. Wenn man aber weiterliest, dann bleibt man ebenfalls ‚gefangen‘ in der Poesie. An diesem Gedicht lassen sich die zentralen Merkmale von Enzensbergers Lyrik der 1950er und 1960er Jahre verdeutlichen. Enzensberger selbst hat im Vorwort zu seiner Anthologie Museum der modernen Poesie (1960) seine Techniken - in der Folge moderner Poesie - beschrieben: Montage und Ambiguität; Brechung und Umfunktionierung des Reimes; Disso‐ nanz und Absurdität; Dialektik von Wucherung und Reduktion; Verfremdung und Mathematisierung; Langverstechnik, unregelmäßige Rhythmen; Anspielung und Verdunkelung; Wechsel der Tonfälle; harte Fügung; Erfindung neuartiger metaphorischer Mechanismen; und Erprobung neuer syntaktischer Verfahren. (E N Z E N S B E R G E R 1960, 11) Der Effekt ist eine politisch-engagierte Lyrik, die subversive Performanz bietet. Dabei wird die Grenze von Provokation und Unzumutbarkeit mitun‐ ter überschritten. Ausgangs- und Bezugspunkt der verteidigung der wölfe ist die politische Gemengelage der ausgehenden 1950er Jahre in Deutschland. Angesichts einer ausbleibenden Aufarbeitung der Verbrechen während des Nationalsozialismus und des realpolitischen Agierens lässt sich die scharfe Polemik vieler Gedichte durchaus erklären. Die geforderte moralische In‐ tegrität erscheint als Zerrbild einer überzeichneten Zeitdiagnostik. Enzens‐ bergers politische Lyrik wurde daher immer wieder mit Heinrich Heines (1797-1856) Konzept des Zeitdichters, der quasi seismographisch auf die gesellschaftlichen Entwicklungen zu reagieren hat und gewitzte Satiren und beißende Anklagen zu liefern habe, in Verbindung gebracht. Inzwischen hat sich Enzensberger selbst allerdings von seinen frühen Gedichten distanziert. In einem Interview mit Alexander Kluge (*1932) lehnt Enzensberger das Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 186 Pathos und die Rhetorik seiner Debütgedichte ab, auch weil sie mitunter „schrille Töne“ angenommen hätten (E NZ E N S B E R G E R / K LU G E 2000). 5.4. Günter Grass: Lyrische Alternativen? Gegen Ideologie und Traditionalismus Wie Hans Magnus Enzensberger gehört Günter Grass (1927-2015) zu den einflussreichsten Intellektuellen der Bundesrepublik und des wiederverein‐ ten Deutschlands. Welche Rolle Grass als Schriftsteller des 20. Jahrhunderts spielt, dokumentiert der Literaturnobelpreis, den er 1999 für sein Lebens‐ werk erhält. Der im Vergleich zu Bertolt Brecht (1898-1956) und Gottfried Benn (1886-1956) um zwei Generationen jüngere Grass erlebt den Zweiten Weltkrieg als Jugendlicher. Von 1948 bis 1952 studiert er an der Kunstaka‐ demie Düsseldorf Graphik und Bildhauerei und von 1953 bis 1956 an der Hochschule der Künste in Berlin. Grass’ ‚Doppelbegabung‘ als bildender Künstler und Schriftsteller prägt bis heute die Rezeption seines literarischen Werks (vgl. N E UHAU S 2016, 33-36). Nachdem schon erste Plastiken und Graphiken ausgestellt wurden, debütiert Grass 1956 mit dem Band Die Vorzüge der Windhühner als Lyriker. Der Gedichtband findet aber kaum Absatz und bleibt vom breiten Lesepublikum weitestgehend unbeachtet (vgl. V O R MWE G 1996, 36). Die wenigen Kritiken heben die ‚Welthaltigkeit‘ der Gedichte hervor, die sich auf Details, Gegenstände und reale Sachverhalte beziehen. Bereits die Titel signalisieren dieses Interesse an alltäglichen Gegenständen und Erfahrungen: Die Mückenplage, Bohnen und Birnen, Die Klingel oder Polnische Fahne. Allerdings handelt es sich bei diesen Gedichten nicht um reine Alltagsminiaturen. Vielmehr wird im detaillierten Blick auf die Dinge die Engstirnigkeit der in der Wirklichkeit Handelnden aufgezeigt. Für Hermann Korte sind daher „das Gegenständliche“ und „die Realien“ bei Grass nie Selbstzweck, „sondern einbezogen in eine Diagnose von Verhaltens- und Denkmustern, in eine zum Teil satirisch zugespitzte Replik auf kleinbürgerliche Nachkriegsmentalität“ (K O R T E 2004, 114). Nach seinem Debütband wirkt Grass vor allem als Dramatiker, bis er mit Die Blechtrommel 1959 seinen ersten Roman vorlegt und schnell zu einem in‐ ternational angesehenen Schriftsteller avanciert. Die beiden zentralen Themen, die sowohl Die Blechtrommel als auch das Gesamtwerk von Grass bestimmen, sind der Verlust seiner Danziger Heimat und die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus (vgl. u. a. P R E E C E 2009, 10-23). Seit 1957 gehört Grass der Gruppe 47 an, wo er sich an Lesungen und Diskussionsrunden beteiligt, zu 5. Gesellschaftskritik 187 denen Hans Werner Richter (1908-93) bis 1967 einlud. Für das erste Kapitel der Blechtrommel erhält Grass den Preis der Gruppe 47. Trotz seines enormen Erfolgs, den er mit Die Blechtrommel hat, sieht sich Grass vor allem als Lyriker, und selbst seine Romane betrachtet er in gewisser Weise als Gedichte, die allerdings aus der Form geraten seien (vgl. L E E D E R 2009, 151). Korte sieht Grass als eine Art Vorläufer Enzensbergers: Grass habe ein diffuses Unbehagen an der deutschen Nachkriegsgesellschaft lyrisch artikuliert. Seine Gedichte kämen nur selten über den spöttisch-überlegenen Ton hinaus, während Enzensberger „seine poetische Form fand: als Mixtur aus Artistik und Engagement“ (K O R T E 2004, 115). Gleichwohl sind Grass’ und Enzensbergers Texte in ihrer teilweise heftigen Polemik und ihren Zynismen vergleichbar. In Grass’ Texten tendiert der provokative Stil mitunter ins Obszöne. Insbesondere die expliziten Episoden in den Romanen, die über Geschlechtsverkehr oder Masturbation handeln, wurden von der zeitgenös‐ sischen Kritik negativ bemerkt und sanktioniert (vgl. M EW S 2008, 77-81). Grass gehört zu den politisch engagierten Dichtern der Nachkriegszeit. Im Gegensatz zu Enzensberger ist Grass auch parteipolitisch tätig. So ist er mit Willy Brandt (1913-92) persönlich verbunden. Er schreibt für Brandt Reden und wirbt bei politischen Veranstaltungen für die SPD. Grass tritt 1982 in die SPD ein; 1993 gibt er das Parteibuch aber wieder zurück. Im Nachkriegsdeutschland avanciert er zum politischen Intellektuellen und moralischen Mahner, der sich regelmäßig zu innen- und außenpolitischen Sachverhalten positioniert. 2006 wird Grass’ Rolle heftig diskutiert, da er im autobiografischen Werk Beim Häuten der Zwiebel (2006) zum ersten Mal öffentlich bekannt macht, dass er mit 17 Jahren der Waffen-SS angehört hatte. Die folgende Debatte bezieht sich vor allem auf die Integrität des Dichters, der die nationalsozialistischen Verstrickungen anderer meist heftig kritisiert hatte. Mit seinem zweiten Gedichtband Gleisdreieck (1960), aus dem das Gedicht Askese stammt, hat Grass in der Folge der Blechtrommel weitaus mehr Erfolg als mit Die Vorzüge der Windhühner. Gleichwohl erkennt man eine enge Vernetzung der einzelnen Werke: In diesem Band finden sich einige Gedichte, die auf seinen Romanerfolg und auf den ersten Gedichtband anspielen und zentrale Motive weiterführen (z. B. Normandie, Geflügel auf dem Zentralfriedhof, In eigener Sache, Auf weißem Papier). Diese gattungs‐ übergreifende, auf ein Gesamtwerk zielende Schreibweise gilt auch für die bildenden Künste, denn dem Gedichtband sind diverse Kohlezeichnungen von Grass beigegeben, die die 55 Gedichte in eine düstere Atmosphäre tauchen. Gleisdreieck versammelt Gedichte, die bereits den stark politischen Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 188 Impuls der späteren Gedichte Grass’ vorwegnehmen. Gleichzeitig reflektie‐ ren sie auch immer wieder das Schreiben und die Schwierigkeit, sich in eine lyrische Tradition zu stellen. Exemplarisch lässt sich dies an Askese zeigen. Askese Die Katze spricht. Was spricht die Katze denn? Du sollst mit einem spitzen Blei die Bräute und den Schnee schattieren, 5 du sollst die graue Farbe lieben, unter bewölktem Himmel sein. Die Katze spricht. Was spricht die Katze denn? Du sollst dich mit dem Abendblatt, 10 in Sacktuch wie Kartoffeln kleiden und diesen Anzug immer wieder wenden und nie in neuem Anzug sein. Die Katze spricht. Was spricht die Katze denn? 15 Du solltest die Marine streichen, die Kirschen, Mohn und Nasenbluten, auch jene Fahne sollst du streichen und Asche auf Geranien streun. Du sollst, so spricht die Katze weiter, 20 nur noch von Nieren, Milz und Leber, von atemloser saurer Lunge, vom Seich der Nieren, ungewässert, von alter Milz und zäher Leber, aus grauem Topf: so sollst du leben. 25 Und an die Wand, wo früher pausenlos das grüne Bild das Grüne wiederkäute, sollst du mit deinem spitzen Blei Askese schreiben, schreib: Askese. So spricht die Katze: Schreib Askese. (G R A S S 2007, 90) 5. Gesellschaftskritik 189 Das Gedicht ist in freien Rhythmen und ohne Endreim gehalten. Während sich Enzensbergers lock lied anderer lyrischer Stilmittel (Alliteration, Asso‐ nanz etc.) bedient und Brechts Böser Morgen den Prosastil bevorzugt, ist Askese durch hermetisch anmutende Bilder bestimmt: Exemplarisch sei die sprechende Katze erwähnt, die keine einheitliche Motivtradition besitzt und deswegen als Motiv und Chiffre hermetisch bleibt, da ihre Bedeutung auch nicht aus dem Gedichtkontext rekonstruiert werden kann. Dies ist auch deswegen von besonderer Relevanz, weil die sprechende Katze für die ersten drei Strophen strukturbildend ist. So beginnen die jeweiligen Eingangsverse mit derselben Formulierung: „Die Katze spricht. / Was spricht die Katze denn? “ (v. 1 f., 7 f., 13 f.) Diese Verse dienen als Einleitung für unterschiedliche Imperative, die syntaktisch durch das Verb ‚sollen‘ angezeigt werden. Die Sprechinstanz des Gedichts tritt hinter die Gebote der sprechenden Katze zurück. Diese Struktur wurde u. a. von Werner Frizen als eine Art theologische Belehrung aufgefasst, da die syntaktische Form ‚du sollst‘ an biblische Formeln erinnere (F R IZ E N 1992, 36 f.). Folgt man Frizens Deutung, so handelt es sich bei der Katze um eine göttliche Instanz, die aber der Exegese bedarf. Denn das, was die Katze spricht, wird nicht direkt wiedergegeben, sondern von der Sprechinstanz des Gedichts paraphrasiert. Die strukturierende Frage: „Was spricht die Katze denn? “ markiere insofern die folgende Paraphrase und Exegese des göttlichen Wortes (vgl. M E TZ G E R -H I R T 1965, 285), die dann vor allem als Imperative formuliert werden. Die Befehle, die die Katze spricht, wenden sich an ein nicht näher bestimmtes Du, dem ein ‚einfaches‘ Leben angeordnet wird: „Du sollst dich mit dem Abendblatt, / in Sacktuch wie Kartoffeln kleiden“ (v. 9 f.), wie es in der zweiten Strophe heißt. Dieser Anzug darf weder gewaschen noch ausgetauscht werden. Das Du muss sein Leben lang im sprichwörtlichen Kartoffelsack umhergehen. Die titelgebende Askese kann an dieser Stelle also auf die Lebensführung bezogen werden: Es geht um die Disziplinierung des eigenen Verhaltens, die im freiwilligen Verzicht auf Annehmlichkeiten und Genüsse ihren Ausdruck findet. Auch die auf Innereien reduzierte Ernährung, die in der vierten Strophe ausgeführt wird, ließe sich in diesem Kontext verstehen. Zwei Dinge stehen dieser alltäglichen Auffassung der Askese aber gegen‐ über: Einerseits ist die Askese des adressierten Du wohl nicht freiwillig, schließlich hat es den Geboten der sprechenden Katze zu folgen. Anderer‐ seits ist die Askese gemeinhin auf die Erreichung höherer Ziele, meist Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 190 auf transzendentale oder religiöse Erfahrungen, gerichtet. Worin besteht also das Ziel der oktroyierten Entsagung? Einen ersten Hinweis geben vielleicht die in dieser Strophe angesprochenen Organe: Mit Niere, Milz, Leber und Lunge werden die zentralen Verdauungs- und Stoffwechselor‐ gane angesprochen. Möglicherweise wird mit dieser Bildgruppe auf das ‚Verarbeiten‘ von Schuld angespielt. Ferner stellt sich das Gedicht über die erste Strophe bereits in einen poetologischen Kontext: „Du sollst mit einem spitzen Blei / die Bräute und den Schnee schattieren“ (v. 3 f.). Verwiesen wird hier auf den Bleistift, der an dieser Stelle zum Malen oder Schreiben dient. Die mit Weiß assoziierten „Bräute“ und der „Schnee“ sollen mithilfe des Bleistifts „schattier[t]“ werden (v. 3). Welchen Zweck diese ‚Schattierungen‘ verfolgen, ist nicht klar. Vielmehr wird apodiktisch gefordert, dass das Du „die graue Farbe lieben“ soll (v. 5). Das Grau steht dabei in enger Verbindung mit dem Bleistift und wird auch in der vierten Strophe erneut aufgenommen. Ferner verweist auch die „Asche“, die „auf Geranien“ gestreut werden soll, auf die graue Farbe (v. 18). Grau ist in der Farbsymbolik des Gedichts also von zentraler Bedeutung und wird mit dem Schreib- und Zeichenwerk‐ zeug eng verknüpft. Der Bleistift ist zudem ein Schreibwerkzeug, das in weitaus höherem Maße den Prozesscharakter betont, da er im Gegensatz zum Kugelschreiber, Füllfederhalter oder zur Schreibmaschine die schnelle Korrektur ermöglicht. Die Bleistiftschrift kann radiert werden, womit der Schreibprozess als eine Art Handwerk hervorgehoben wird. Beim Bleistift handelt es sich ferner um ein altes Schreibgerät, dessen Verwendung bereits im 13. Jahrhundert nachgewiesen ist. Dass es sich bei der sprechenden Katze um eine poetologische Souffleuse handeln könnte, legt die letzte Strophe nahe. Während die ersten vier Strophen jeweils sechs Verse umfassen, ‚fehlt‘ in der letzten Strophe ein Vers: Das Gedicht schließt mit fünf Versen ab. Auch das „Blei“ (v. 27) wird hier wieder aufgenommen. Diesmal wird auch dezidiert auf das Schreiben eingegangen. Das Du soll auf einer „Wand, wo früher pausenlos / das grüne Bild das Grüne wiederkäute“ (v. 25 f.), mit dem Bleistift das Wort „Askese“ (v. 28) schreiben. Hier wird eine Redundanz gegen eine andere ausgetauscht (v. 27-29): sollst du mit deinem spitzen Blei Askese schreiben, schreib: Askese. So spricht die Katze: Schreib Askese. 5. Gesellschaftskritik 191 Der eigene Schreibakt erscheint als Palimpsest. Das „grüne Bild“ auf der Wand wird mit dem Grau des Bleistifts überschrieben, wobei nur das Wort ‚Askese‘ notiert wird. Möglicherweise tendiert das Schreiben dann auch ins Malen, da der graue Ton des Graphits bei wiederholter Schreibung des Wortes sich überlagert und das vormals „grüne Bild“ verdunkelt bzw. ‚schattiert‘. Es könnte sich hierbei auch um eine Anspielung auf die in der Renaissance etablierte Technik handeln, Gesichter in der Ölmalerei grün zu grundieren, damit sie nicht zu rot erscheinen und somit nicht zu sehr danach aussehen, dem Genuss zugeneigt zu sein. Mit dieser Ablehnung der Farbigkeit wendet sich das Gedicht gegen den lyrischen Traditionalismus, für den die Naturlyrik exemplarisch steht („das grüne Bild das Grüne wiederkäute“, v. 26). Schon in Die Vorzüge der Windhühner hat sich Grass gegen die Naturlyrik gewendet, wenn im Gedicht An alle Gärtner das Festhalten an traditionellen Motiven als defizitär und nicht mehr zumutbar abgewiesen wird: Jetzt kommt ihr mit Blumen, bereitet mir Astern zu, als bliebe vom Herbst nicht Nachgeschmack genug. (G R A S S 2007, 12) „Blumen“ und „Astern“ sind angesichts der gesellschaftlich-politischen Ent‐ wicklungen und der historischen Ereignisse nicht mehr angemessen: Die „Nelken“ solle man „im Garten“ lassen (G R A S S 2007, 12). Auf die historische Schuld verweist die (mögliche) Celan-Allusion, dass die „Mandeln“ „doch bitter“ (G R A S S 2007, 12) sind, weil Blausäure nach Bittermandeln riecht. Insofern proklamiert die sprechende Katze in Askese das poetologische Programm, das Grass seinen Gedichten unterlegt. Grass selbst hat diesen programma‐ tischen Charakter immer wieder betont, beispielsweise in den Frankfurter Poetikvorlesungen von 1990. Einerseits wird auf den handwerklichen Aspekt des Schreibens und Malens verwiesen und andererseits die Ablehnung tradi‐ tionell-lyrischer Motive gefordert. Die Privilegierung der Farbe Grau scheint das entscheidende Leitmotiv für diese Poetik zu sein. Dieses poetologische Programm fußt jedoch auf einem spezifisch politischen Programm, dessen Fluchtpunkt die deutsche Vergangenheit ist. Grass hat Askese interessanterweise als (indirekte) Antwort auf Adornos (1903-69) vermeintliches Lyrik-Verbot bezeichnet. Adornos Auschwitz-Ma‐ xime hat Grass aber weniger als Verbot, sondern vielmehr als Maßstab für Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 192 Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg verstanden. Er stellte die Aporie, die Adorno mit seinem provokativen Satz markiert, in der Retrospektive heraus. In den Frankfurter Poetikvorlesungen reflektiert er diesen Prozess, der sich in den Texten der 1950er Jahre niederschlägt: „Denn wenn ich auch mit vielen anderen Adornos Gebot als Verbot mißverstanden habe, blieb dessen neue, die Zäsur markierende Gesetzestafel dennoch in jeder Blickrichtung sichtbar.“ (G R A S S 1990, 17) Mit Adorno wird also auch das Aussprechen eines Verbots verbunden; die Katze aus Askese deswegen aber als Figuration Adornos zu deuten, scheint doch zu forciert (vgl. F R IZ E N 1992, 38). Ebenso wie für Adorno bedeutete ‚Auschwitz‘ (als Chiffre für die Shoah) für Grass einen gesellschaftlichen Riss, den man niemals wieder schließen könne. Grass benennt hier klar die ‚Lizenzen des Sagbaren‘, wenn er konstatiert: Wir alle, die damals jungen Lyriker der fünfziger Jahre […] waren uns deutlich bis verschwommen bewußt, daß wir zwar nicht als Täter, doch im Lager der Täter zur Auschwitz-Generation gehörten, daß also unserer Biographie, inmitten der üblichen Daten, das Datum der Wannsee-Konferenz eingeschrieben war (G R A S S 1990, 17 f.). Diese Zugehörigkeit zur ‚Täter-Generation‘ prägt Grass’ literarisches Werk. Dennoch besteht die Möglichkeit, lyrisch weiterzusprechen: „aber auch soviel war uns gewiß, daß das Adorno-Gebot - wenn überhaupt - nur schreibend zu widerlegen war.“ (G R A S S 1990, 18) Dabei muss man sich jedoch von der lyrischen Tradition emanzipieren und sich der Wirklichkeit zuwenden. Verbunden ist damit die unhintergehbare Prozesshaftigkeit des lyrischen und literarischen Arbeitens. Grass versucht, dies im Rahmen seiner Farbsymbolik darzustellen. Konnte die Kunst vor Auschwitz noch die gesamte Farbpalette bedienen, muss zeitgenössische Kunst sich auf die „unendlichen Abstufungen“ des Grau konzentrieren (G R A S S 1990, 18). Eine Scheidung in ‚Schwarz‘ und ‚Weiß‘ sei nicht mehr möglich. Aber nicht nur die Schwarzweißmalerei, die sinnbildlich wohl auch auf die klare Scheidung in ‚gute‘ und ‚böse‘ politische Lager bezogen werden muss, lehnt Grass ab. In Askese gilt nur das Grau in seinen unterschiedlichen Schattierungen (Bleistift, Kartoffelsack und der ‚graue Topf ‘; selbst die Innereien, die in der vierten Strophe als Nahrung aufgeführt werden, sind im ausgebluteten Zustand grau). Andere Farben werden abgelehnt, wie das Weiß („Bräute“, „Schnee“), das Blau („die Marine“), das Rot („Kirschen, Mohn und Nasenblu‐ 5. Gesellschaftskritik 193 ten“) und das Grün („das grüne Bild“). Folgt man dieser Farbsymbolik, dann handelt es sich um eine Absage an jegliche Form poetischer Artistik: Weg mit den sich blumig plusternden Genitivmetaphern, Verzicht auf eingerilkte Irgendwie-Stimmungen und den gepflegten literarischen Kammerton. Askese, das hieß Mißtrauen allem Klingklang gegenüber, jenen lyrischen Zeitlosigkeiten der Naturmystiker, die in den fünfziger Jahren ihre Kleingärten bestellten und - gereimt wie ungereimt - den Schullesebüchern zu wertneutraler Sinngebung verhalfen. (G R A S S 1990, 19) Grass nimmt hier dezidiert die Dichterinnen und Dichter, die in der Tradition der naturmagischen Schule stehen, aufs Korn. Angesichts der Schrecken des Nationalsozialismus könne ein lyrischer Traditionalismus eben nicht unge‐ brochen weitergeführt werden. Diese poetologische Dimension verbindet Grass mit einer politischen Ideologiekritik, die den Zweifel und die Skepsis zu Leitkategorien erhebt. Denn der Vorwurf, den Grass gegen die Naturlyrik erhebt, ist ihre apolitische Haltung. Zwar lehnt Grass das Vorbild, das die Brecht’sche Lyrik bietet, ab (wie er auch Benns Lyrik ablehnt), doch sieht man in ihrem dezidierten Weltbezug eine Familienähnlichkeit zwischen Grass’ ideologie- und gesellschaftskritischer Lyrik und Brechts politischer Gebrauchsästhetik. Mit der redundanten Forderung, nicht nur asketisch zu leben, sondern nur noch Askese zu schreiben, wird also auch der permanente Zweifel verbunden. Zweifeln kann der Entsagende, weil man glaubt, dass die Askese gegenüber den Verführungen immun mache. Der Fluchtpunkt der Gedichte in Gleisdreieck bleibt die Vergangenheit. Sowohl explizit als auch implizit werden der Nationalsozialismus und seine Folgen für die Gegenwart thematisiert. Ausgangspunkt des Schreibens ist der Zweifel, der hinter der Bequemlichkeit moralischen Zündstoff erkennt. Grass hat die Voraussetzungen und Folgen dieser „Schreibhaltung“ 1990 selbst reflektiert: „Eine so akzeptierte Schreibhaltung setzt voraus, daß sich der Autor nicht als abgehoben oder in Zeitlosigkeit verkapselt, sondern als Zeitgenosse sieht, mehr noch, daß er sich den Wechselfällen verstreichender Zeit aussetzt, sich einmischt und Partei ergreift.“ (G R A S S 1990, 36) Grass’ Lyrik rekonstruiert aus der Vergangenheit die gegenwärtigen Verstrickun‐ gen. Für Grass ist der Dichter „jemand, der gegen die verstreichende Zeit schreibt“ (G R A S S 1990, 36). Gleichzeitig soll die Dichtung aber auf die Ge‐ genwart wirken. Die Bundesrepublik und die unmittelbare Nachkriegszeit Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 194 werden dabei als heuchlerisch desavouiert, wie beispielsweise in Kleine Aufforderung zum großen Mundaufmachen - oder der Wasserspeier spricht: Wer jene Fäulnis, die lange hinter der Zahnpaste lebte, freigeben, ausatmen will, muß seinen Mund aufmachen. (G R A S S 2007, 112) Ein alltägliches Phänomen wird hier in seinen poetischen Bedeutungs‐ schichten ausgelotet. Das Öffnen des Mundes wird in der ersten Strophe auf die organisch-chemischen Prozesse, die im geschlossenen Mund stattfinden, reduziert. Wer den Mund nicht öffnet, bekommt schlechten Mundgeruch, da es zu bakteriell indizierten Zersetzungsprozessen kommt. Dieses Bild erhält aber eine dreifache Bedeutungsebene: (a) Der geöffnete Mund ist das Zeichen desjenigen, der widerspricht. (b) Das Öffnen des Mundes wird fer‐ ner mit dem Emanzipationsprozess von der Vätergeneration parallelgeführt (vgl. G R A S S 2007, 112). (c) Gleichzeitig stellt das Gedicht die Mundfäule als Signum einer historischen Schuld heraus: Wir wollen den Mund aufmachen, die schlimmen Goldzähne, die wir den Toten brachen und pflückten, auf Ämtern abliefern. (G R A S S 2007, 112) Dieter Stolz sieht in der Mundfäule daher den „mit den Verbrennungsöfen der Konzentrationslager assoziierten Gestank“ (S T O LZ 1999, 30). Es gehe in den Gedichten darum, die „[g]eschichtlichen Tatsachen, insbesondere die mit den kollektiven Schuldbekenntnissen, den sogenannten ‚Persilscheinen‘ und der fragwürdigen Gnade der späten Geburt bis heute oft verdrängten Greueltagen der Hitlerzeit“ poetisch zu benennen (S T O LZ 1999, 30). Freilich bleibt es bei der bloßen Absichtserklärung, die aus den Mundhöhlen der Toten herausgebrochenen Goldzähne zurückzugeben: „Wir wollen“ (G R A S S 2007, 112). Es zeigt sich die Ambivalenz von Grass’ welthaltiger Lyrik, denn ob die Absichtserklärung in die Tat umgesetzt wird, ist ungewiss. Grass’ zweiter Gedichtband und das Gedicht Askese präsentieren ein ästhetisch-politisches Programm, das im Kontext des ‚Schreibens nach Ausschwitz‘ zu betrachten ist (vgl. E N G E L S 2005, 20 f.). Bei Askese handelt sich 5. Gesellschaftskritik 195 sowohl um ein poetologisches als auch um ein politisches Gedicht, wenn es sich ästhetisch einerseits gegen den lyrischen Traditionalismus und politisch andererseits gegen jegliche Ideologie wendet. In seiner radikalen Ideologie‐ abwehr gerät Askese jedoch in Gefahr, selbst ideologisch zu werden. Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik 196 Zum Abschluss: ‚Nachkriegslyrik‘ und ‚Gedichtinterpretation‘ Wenn man einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht hat, wird man alles gefragt. Marcel Reich-Ranicki (1920-2013) hat dies in seiner Kolumne „Fragen Sie Reich-Ranicki“ im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonn‐ tagszeitung kultiviert. Von 2003 bis zu seinem Tod im Jahr 2013 hat der Literaturkritiker auf Leserfragen geantwortet, die in irgendeiner Form mit Literatur zu tun hatten. Auch berühmten Dichterinnen und Dichtern stellt man gerne Fragen, die im weitesten Sinne mit Literatur oder dem Literatur‐ betrieb zu tun haben. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde auch Thomas Mann (1875-1955) um eine Einschätzung zum gegenwärtigen Stand der Literatur gebeten. Die niederländische Kulturzeitschrift de Kim, litterair pamflet hat 1949 an verschiedene Kulturschaffende die Rundfrage gestellt: „Wie steht es mit der Nachkriegsdichtung? “ Neben Thomas Mann wurden auch Max Brod (1884-1968) oder Henry Miller (1891-1980) angeschrieben. Mann war mit seiner Antwort aber besonders schnell, weswegen sie in der ersten Ausgabe der Zeitschrift 1950 veröffentlicht wurde. Mann antwortete: Von einer Kulturkrise und Zeitenwende, mit allen Anpassungsschwierigkeiten und -Nöten, die eine solche begleiten, und in denen sie sich ausdrückt, kann man wohl sprechen. Sie liegt uns ja allen in den Gliedern, und wir alle haben Mühe, uns leidlich klug, gerecht und anständig dabei zu halten und zu stellen. Von einer ‚nivellierenden‘ Wirkung der umfassenden Krise auf die Literatur kann nicht die Rede sein: dazu malt sie sich zu verschieden und nach künstlerischen Persönlich‐ keiten abgestuft in einer Reihe von Werken, die eben dadurch ‚bedeutend‘ sind, dass sie ihre Spuren tragen und sich mehr oder weniger direkt mit ihr auseinan‐ dersetzen. Und zwar scheinen mir diese Werke ganz überwiegend von älteren und alten Autoren zu kommen, wahrscheinlich weil ihr Horizont weiter, ihre Bildung und Erfahrung reicher ist, als die der in die Auflösung hineingeborenen Jungen. Persönlich halte ich es für einen Vorteil, das letzte Viertel des neunzehnten, des bürgerlichen Jahrhunderts noch miterlebt zu haben. Brochs Vergil, meines Bruders Spät-Roman Der Atem, Hesses Glasperlenspiel, manches von Aldous Huxley, selbst mein eigener Faustus-Roman sind größer und als Dokumente der Zeit ausgiebiger, als was die Jungen bisher hervorgebracht. Mögen diese wachsen und erstarken und unser Erbe fortentwickeln. Die abendländische Kultur hat schon vieles durchgestanden und wird auch diesmal nicht untergehen. (M A N N 2009, 698) Thomas Mann konstatiert zunächst eine „Kulturkrise und Zeitenwende“. Das Ende des nationalsozialistischen Deutschlands, die Schrecken des Zweiten Weltkriegs und der Shoah werden zwar nicht benannt, doch bilden sie den Hintergrund seiner Diagnose. Trotz der existenziellen Kri‐ senerfahrung, die jeden Einzelnen betrifft, erkennt Thomas Mann keine negativen Auswirkungen auf die zeitgenössische Literatur. Dies liege, so Mann, zum einen an der Heterogenität eben dieser Literatur. Die Polyphonie der Nachkriegsliteratur erwecke nicht den Anschein, dass eine existenzielle Krisenerfahrung, wie sie für die Gesellschaft im Allgemeinen konstatiert wird, ihren Niederschlag auch in der Literatur nach 1945 gefunden hätte. Für die Literatur betont Mann also zum anderen die Kontinuitäten und nicht den plötzlichen Umbruch. Gleichwohl schreibt sich die existenzielle Krise auf einer symbolischen Ebene in einige Texte ein, die dann, so lässt es die Argu‐ mentation von Mann vermuten, literarisch besonders hochwertig seien. Mit nur rhetorischer Bescheidenheit hebt Thomas Mann schließlich die höhere Qualität seines Doktor Faustus (1947) gegenüber den Texten der „Jungen“ hervor. In seinen Romanen und in denen von Aldous Huxley (1894-1963), Heinrich Mann (1871-1950), Hermann Broch (1881-1951) oder Hermann Hesse (1877-1961) lasse sich die Krisenerfahrung zudem deutlicher ablesen als in den Texten der Autorinnen und Autoren, die „das letzte Viertel des neunzehnten, des bürgerlichen Jahrhunderts“ nicht „miterlebt“ haben. Insofern hebt Thomas Mann mit Blick auf das Generationenargument - alle von ihm genannten Dichter sind nicht nur Männer, sondern auch vor 1900 geboren - die Kontinuität und Tradition in der Nachkriegsliteratur hervor. Dass die literarischen Kontinuitäten auch nach 1945 dominieren, haben wir in den Textanalysekapiteln gezeigt. Gleichzeitig haben wir die entschei‐ denden Modifikationen herausgearbeitet, die die deutschsprachige Lyrik nach 1945 als ein eigenständiges, heterogenes und vielstimmiges Korpus auszeichnet. Die von uns vorgeschlagene Gliederung nach unterschiedli‐ chen thematischen Konstellationen erlaubt es, zwischen einzelnen Gedich‐ ten Vergleiche zu ziehen. Besonders aufschlussreich sind diese Vergleiche, wenn man die zeitgenössische Rezeption, die Stellung der Dichterin bzw. des Dichters im literarischen Feld und die Gedichtanalyse und -interpretation miteinander kombinieren kann. Wogegen sich Adorno (1903-69) mit seiner Aussage, dass es „barbarisch“ sei, „Gedichte nach Ausschwitz“ zu schreiben Zum Abschluss: ‚Nachkriegslyrik‘ und ‚Gedichtinterpretation‘ 198 (A DO R NO [1951] 2003, 30), wendet, wird im Horizont eines Vergleichs von Bergengruens (1892-1964) An die Völker der Erde mit Kalékos (1907-75) Höre, Teutschland besonders deutlich. Auch Stephan Hermlins (1915-97) Die Asche von Birkenau gehört zu dieser Konstellation von Texten, die aufeinander reagieren. Aus der Retrospektive haben wir im Rahmen dieses Studienbuchs eine vorsichtige (Neu-)Ordnung der Nachkriegslyrik vorgeschlagen. Dass die‐ ser Versuch nicht den Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, haben wir eingangs erwähnt. Allerdings war es uns ein Anliegen, zu zeigen, dass die deutschsprachige Nachkriegslyrik wesentlich heterogener, facetten- und themenreicher ist, als es aus heutiger Perspektive oftmals erscheint. Wie vielfältig die poetologischen Konstellationen ausfallen, dürften die fünf poetologischen Hinführungen deutlich gemacht haben, die die jeweils nachfolgenden drei Gedichtanalysen vorbereiten. Natürlich sind wir auf zahlreiche Dichterinnen und Dichter nicht eingegangen. In den Analysen haben wir beispielsweise die experimentelle Lyrik und Konkrete Poesie nicht ausführlich diskutiert. Beginnend mit Eugen Gomringers (*1925) konstellationen (1953) wäre hier eine weitere wichtige Linie der deutsch‐ sprachigen Nachkriegslyrik über Franz Mon (*1926), Hans Carl Artmann (1921-2000), Ernst Jandl (1925-2000) bis zu Helmut Heißenbüttel (1921-96) zu ziehen. Gomringers Positionsbestimmung der „neuen dichtung“ (G OM R IN G E R 1969, 277) zielt auf sprachliche Wandlungsprozesse ab. Die Sprache befindet sich „auf dem weg der formalen vereinfachung. es bilden sich reduzierte, knappe formen.“ (G OM R IN G E R 1969, 277) Ein Gedicht solle dementsprechend „einfach und überschaubar“ (G OM R IN G E R 1969, 280) komponiert sein. Statt Sätze in Versen zu ordnen, wird in den konstellationen auf das Wort fokus‐ siert. Gomringer betont so die typographisch-visuelle Dimension durch diese Formen der Reduktion und entwickelt eine experimentelle Poetik, die die Sprache als Material versteht. Verbunden ist damit eine konsequente Verschiebung der poetischen Leistung auf den Rezipienten: Erst in der Rezeption entsteht das sprachliche Kunstwerk. Auch Dichter der Konkreten Poesie knüpfen an Gomringers Avantgarde-Konzept an. So wendet Ernst Jandl Gomringers Ansatz ins Politische, wenn er in wien: heldenplatz (1966) durch „Wortneubildungen“, „Bastardisierungen von Worten“ und „Hybri‐ disierungen“ das Pathos von Hitlers 1938 auf dem Wiener Heldenplatz gehaltener Rede subvertiert (D R EW S 1982, 34 f.). Zum Abschluss: ‚Nachkriegslyrik‘ und ‚Gedichtinterpretation‘ 199 Über die Besonderheiten, die im Gegenstand ‚Nachkriegslyrik‘ begründet liegen, haben wir in der Einleitung hinlänglich gesprochen. Neben der Einführung in einen historischen Teilbereich der deutschsprachigen Litera‐ tur bietet das Studienbuch auch Anschauungsmaterial, wie man Gedichte interpretiert. Analyse und Interpretation von Lyrik mag hin und wieder selbst als Kunst erscheinen. Es gibt nicht wenige Literaturwissenschaftler‐ innen und Literaturwissenschaftler, die bei der Gedichtinterpretation von der ‚höchsten Kunst‘ der Interpretation sprechen. Gleichwohl sind auch die Analyse und Interpretation von Gedichten ein Handwerk, das man erlernen kann. Die Schwierigkeit beim Umgang mit Lyrik liegt möglicher‐ weise an der ‚dosierten‘ Informationsvergabe: Während Thomas Mann im Doktor Faustus auf nahezu 800 Seiten einen Erzählzusammenhang entfalten kann, reduziert sich der Lyriker meist auf wenige Worte und Verse. Wegen fehlender ‚Informationen‘ greift man in der Gedichtanalyse gern auf außertextuelle Wissensbestände zurück. Neben den historischen, politischen, gesellschaftlichen und epistemologischen Signaturen ist es oft auch die Biografie der Dichterin oder des Dichters, die herhalten muss, um Thesen und Deutungsvorschläge zu plausibilisieren. Zudem weichen Gedichte möglicherweise noch stärker als Prosa-Texte und Dramen von der Standardsprache ab, nutzen rhetorische Figuren intensiver und ent‐ wickeln so neue oder überraschende Assoziationsfelder. Die Grenze von der intersubjektiven Deutung zur spekulativen Assoziation ist daher beim Umgang mit Gedichten oft nicht leicht zu erkennen. Umso wichtiger ist die Ambiguitätstoleranz in der Analyse und Interpretation: Nicht jede Metapher, nicht jeder Neologismus und nicht jede Allegorie lassen sich eindeutig auflösen - jedenfalls nicht, ohne andere Deutungsmöglichkeiten zu ignorieren. Manche Passagen müssen in der Gedichtinterpretation mehr‐ deutig bleiben. Manchmal müssen Ambivalenzen ‚ausgehalten‘ werden. Das bedeutet freilich nicht, dass jede Interpretation ‚richtig‘ ist (vgl. Z AB KA 2010, 452-468). Denn auch unterschiedliche Deutungsansätze lassen sich nach Plausibilität und Wahrscheinlichkeit zumindest hierarchisieren. Eine gewisse Schwierigkeit des Umgangs mit Lyrik liegt auch im allgemei‐ nen Verständnis, das man von Gedichten hat, begründet. Unsere Vorstellung von Lyrik ist durch die Ansätze des ausgehenden 18. Jahrhunderts geprägt, wo Lyrik in der Folge Herders (1744-1803) und Goethes (1749-1832) eng an den subjektiven Ausdruck geknüpft ist. Gegen eine absolute Bestimmung der Lyrik als subjektiver Ausdruck haben bereits Hugo Friedrich und Dieter Lamping berechtigte Einwände erhoben (vgl. F R I E D R ICH [1956] 1961, Zum Abschluss: ‚Nachkriegslyrik‘ und ‚Gedichtinterpretation‘ 200 L AM P IN G [1989] 2000). Allerdings hält sich die Vorstellung der Dichtung als subjektiver Ausdruck einer Ich-Sprechinstanz bis heute beharrlich, auch in den Poetiken der im vorliegenden Studienbuch besprochenen Dichterinnen und Dichter. Um deutlich zu machen, dass die Sprechinstanz beispielsweise in Krolows (1915-99) Die Kammer nicht unreflektiert mit dem Dichter gleichzusetzen ist, haben wir daher den Begriff ‚Ich-Sprecher‘ verwendet. Von hier aus lässt sich die Kommunikationsstruktur eines Gedichtes dann auch plausibel und nachvollziehbar entwickeln: Wer spricht eigentlich zu wem? Lässt sich die Sprechinstanz in irgendeiner Form konkretisieren? Gibt es einen Adressaten des Gesagten? Wird die Leserin oder der Leser in die lyrische Kommunikationsstruktur integriert? Wichtig war es uns auch zu zeigen, dass Lyrik eine starke Formtradition aufweist. Weil die Informationsvergabe im Vergleich zu Prosa und Drama eher dosiert erfolgt, rücken andere Aspekte der literarischen Faktur in den Blick. Der Zeilenumbruch, der die lyrische Sprache von der Standardsprache unterscheidet (Versifikation), die Reimstruktur, die genutzten Stilmittel oder bestimmte Gedichtformen, die eine Systemreferenz erzeugen: Ein Sonett stellt sich möglicherweise in die Linie dieser Gedichtform und macht damit einen Bezugsrahmen zu anderen Sonetten auf. Der Gegenstand, den wir im vorliegenden Studienbuch präsentiert und aufgearbeitet haben, ist insofern ein doppelt ‚problematischer‘: Denn ei‐ nerseits befassen wir uns mit Lyrik, die sich oftmals einem eindeutigen Verständnis entzieht. Andererseits rücken wir mit der Nachkriegsliteratur einen Zeitraum in den Mittelpunkt, der ein offenes Ende hat: Wann endet die Nachkriegszeit eigentlich? Aber auch der Beginn der Nachkriegsliteratur ist prekär. Wir haben in der Analyse von Peter Huchels (1903-81) Oktoberlicht beispielsweise darauf hingewiesen, dass das Gedicht weit vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs entstanden ist. Trotzdem haben wir es zum Korpus der deutschsprachigen Lyrik nach 1945 gerechnet, da es von Huchel in seinen ersten Gedichtband nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aufgenommen wurde. Seit wann gibt es also Nachkriegsdichter? Der erste Dichter, der sich explizit als ‚Nachkriegsdichter‘ bezeichnet hat, war wohl Peter Rühmkorf (1929-2008). In der unter anderem von ihm betreuten Schülerzeitung Die Pestbeule hat er 1948 das Gedicht Kommt gebt mir was zu fressen! platziert. Mit wohl genauso wenig Untertreibung wie Thomas Mann sieht sich Rühmkorf schon in den ausgehenden 1940er Jahren als „der erste große Nachkriegsdichter“ (R ÜHMKO R F 2016, 550). Sein Problem ist allerdings, dass er nichts zu essen hat: „Nur fehlt mir Fett Zum Abschluss: ‚Nachkriegslyrik‘ und ‚Gedichtinterpretation‘ 201 und Eiweiß“ (R ÜHMKO R F 2016, 550). Die Notsituation wird hier deutlich: Verlangt der Ich-Sprecher doch nach den lebensnotwendigen Lipiden und Proteinen; der Genuss der Nahrungsaufnahme spielt hier keine Rolle. In Kenntnis seines Genies, das aber wegen dieser Hungersituation nicht zur Entfaltung kommen könne, artikuliert der Ich-Sprecher schließlich die Idee, in seine spätere Produktion und den notwendigen Erfolg zu investieren. Anleger sollen dem Ich-Sprecher bereits jetzt Geld für die noch kommende Lyrikproduktion geben, was erhebliche Rendite erwarten lässt: „Ich gebe Aktien auf meine Lyrik“ (R ÜHMK O R F 2016, 550). Freilich kokettiert das Gedicht mit der Rolle des mittellosen Genies, wobei die Drastik der Bilder die Ironisierung eigentlich aufhebt. Aber wäre Rühmkorfs Angebot ernst gemeint gewesen und hätte man 1948 in seine Lyrik investiert - es wäre zweifellos eine gute Investition gewesen. *** Wir danken Valeska Lembke vom Narr Francke Attempto Verlag sehr herzlich für ihre Geduld, Gelassenheit und Gründlichkeit bei der Betreuung dieses Studienbuchs. Ebenso danken wir den Tübinger Hilfskräften Bastian Böttcher und Julia Kitzmann sowie den Oldenburger Hilfskräften Lisa Ohl‐ hoff und Frederike Antonia Spahn, die uns bei der Recherche, Einrichtung und Redaktion des Buches tatkräftig unterstützt haben. Oldenburg und Trier, im Oktober 2020 Thomas Boyken und Nikolas Immer Zum Abschluss: ‚Nachkriegslyrik‘ und ‚Gedichtinterpretation‘ 202 Literaturverzeichnis Primärliteratur/ Quellen Adorno [1951] 2003 - Theodor W. Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft. In: Ders.: Gesammelte Schriften in zwanzig Bänden. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Bd. 10/ 1: Kulturkritik und Gesellschaft I: Prismen; Ohne Leitbild. 6. Aufl. Frankfurt a. M. [1951] 2003, 11-30. Adorno [1966] 2013 - Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Bd. 6: Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit. 6. Aufl. Frankfurt a. M. [1966] 2013. Adorno 1970 - Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt a. M. 1970. Adorno [1964] 1971 - Theodor W. Adorno: Der Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie. 6. Aufl. Frankfurt a. M. [1964] 1971. Adorno 1976 - Theodor W. Adorno: Engagement. In: Ders.: Noten zur Literatur III. Frankfurt a. M. 1976, 109-135. Andersch 1984 - Alfred Andersch: I (in Worten: ein) zorniger junger Mann. In: Reinhold Grimm (Hg.): Hans Magnus Enzensberger. Frankfurt a. M. 1984, 59-63. Arendt 2002 - Hannah Arendt: Denktagebuch. Hg. von Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann. 2. Bde. New York und München 2002. Arendt 2013 - Hannah Arendt: Vita activa. Oder vom tätigen Leben. 13. Aufl. München und Zürich 2013. Arendt 2015 - Hannah Arendt: Ich selbst, auch ich tanze. Die Gedichte. Hg. von Irmela von der Lühe. München und Berlin 2015. Ausländer 1984/ 90 - Rose Ausländer: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Hg. von Helmut Braun. Frankfurt a. M. 1984-90. Bachmann [1983] 1991 - Ingeborg Bachmann: Wir müssen wahre Sätze finden. Gespräche und Interviews. Hg. von Christine Koschel und Inge von Weidenbaum. 3. Aufl. München und Zürich [1983] 1991. Bachmann [1993] 2010 - Ingeborg Bachmann: Werke. 4 Bde. Hg. von Christine Koschel, Inge von Weidenbaum und Clemens Münster. 2. Aufl. München [1993] 2010. Bachmann/ Celan 2008 - Ingeborg Bachmann, Paul Celan: Herzzeit. Der Briefwech‐ sel. 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Brecht, Bertolt 8, 10, 14f., 26f., 54, 75, 78, 163-169, 171-173, 176-178, 180-182, 187, 190, 194 Brentano, Clemens 178, 183 Broch, Hermann 198 Brockes, Barthold Heinrich 67 Brod, Max 197 Buber, Martin 146 Celan, Paul 10, 13f., 26f., 34-46, 48-50, 53, 86, 135-138, 143, 145f., 160, 192 Chamisso, Adelbert von 44 Claudius, Matthias 32, 92 Conrad, Joseph 96 Curtius, Ernst Robert 23 Dehmel, Richard 32 Dempf, Alois 47 Döblin, Alfred 69, 142, 164 Edfelt, Johannes 142 Eggebrecht, Jürgen 57 Eich, Günter 10, 26f., 34f., 53, 56-66, 75f., 168 Eichendorff, Joseph von 44 Eigenbrodt, Karl-Wilhelm 105 Éluard, Paul 150f. Enzensberger, Hans Magnus 9, 13f., 26, 58, 143, 167-169, 171f., 178-183, 186- 188, 190 Fehse, Willi R. 56f., 60 Fontane, Theodor 81, 84 Freud, Sigmund 134f. Frisch, Max 49, 120 Geibel, Emanuel 17 George, Stefan 34, 43, 164 Goethe, Johann Wolfgang von 16, 18, 32, 92, 200 Goll, Claire 38, 40 Gomringer, Eugen 21, 199 Grass, Günter 109, 128, 171f., 178, 187- 189, 192-195 Grimm, Jacob 183 Grimm, Wilhelm 183 Gröber, Conrad 101f., 125 Grün, Max von der 167 Grünhagen, Herbert 87 Gryphius, Andreas 13 Günderrode, Karoline von 96 Haas, Willy 56 Hagelstange, Rudolf 10, 106 Hakel, Hermann 47 Haller, Albrecht von 67 Hamann, Johann Georg 94 Hartung, Harald 12, 86 Hauptmann, Gerhart 69 Heine, Heinrich 44, 186 Heißenbüttel, Helmut 31f., 199 Herder, Johann Gottfried 94, 200 Hermlin, Stephan 59, 150-152, 157, 199 Herodot 95 Hesse, Hermann 32, 142, 198 Hikmet, Nazim 151 Hölderlin, Friedrich 18, 63-66, 82, 92, 152 Höllerer, Walter 66 Holthusen, Hans Egon 7-9, 11, 15-18, 23, 26, 52, 87, 137f. Holz, Arno 32 Hölzer, Max 99 Horkheimer, Max 12 Huch, Ricarda 102, 106f. Huchel, Peter 8, 26, 28, 57, 76-82, 84-86, 92, 95, 139f., 201 Huxley, Aldous 197f. Ihering, Herbert 164 Jandl, Ernst 10, 199 Jené, Edgar 39, 41, 46 Jens, Walter 7f. Jozsef, Attila 151 Kaléko, Mascha 11, 27, 109-114, 116f., 128, 199 Kaschnitz, Marie Luise 138, 140 Kemp, Friedhelm 7f., 137f. Kerckhoff, Susanne 103-105 Kertécz, Imre 15 Klopstock, Friedrich Gottlieb 94f., 97 Kluge, Alexander 186 Koch, Willi August 40 Kolmar, Gertrud 141 Korn, Karl 23 Kraft, Victor 48 Krolow, Karl 9, 11, 15, 18, 26, 38, 70, 76f., 80, 86f., 89, 92f., 103, 130, 140, 201 Kuhnert, Adolf Karl Artur 75 Kunisch, Hermann 126 Küpper, Hannes 164 Lagerlöf, Selma 140f. Lange, Horst 57, 60 Langgässer, Elisabeth 76, 106 Lehmann, Wilhelm 15, 34, 57, 71f., 74- 76, 80, 87, 91, 100 Lestrange, Gisèle 40 Loerke, Oskar 34, 57, 67, 69-71, 75f., 91 Mallarmé, Stéphane 18 Mann, Klaus 56, 108 Mann, Thomas 69, 107f., 142, 197f., 200f. Margul-Sperber, Alfred 37, 39 Mayer, Hans 150f. Miller, Henry 197 Molo, Walter von 107f., 126 Mon, Franz 199 Moras, Joachim 22f. Mörike, Eduard 43 Mozart, Wolfgang Amadeus 73f. Musil, Robert 72 Personenregister 228 Neruda, Pablo 151 Niekisch, Ernst 72 Novalis 43 Ovid 131 Paeschke, Hans 22f. Piontek, Heinz 26 Platon 18 Poe, Edgar Allan 18, 42 Rahe, Thomas 159 Raschke, Martin 56f., 64f., 75, 84f. Reich-Ranicki, Marcel 197 Richter, Hans Werner 49, 58, 188 Rilke, Rainer Maria 34, 54, 152, 164 Rössing, Karl 60 Rückert, Friedrich 44 Rühmkorf, Peter 26, 201 Rychner, Max 39-41, 150 Sachs, Nelly 13f., 120, 140-149, 162 Schaefer, Oda 60, 74 Schiller, Friedrich 181 Schneider, Reinhold 106 Schnurre, Wolfdietrich 12-14, 27, 109f., 126-129, 131, 133 Schröder, Rudolf Alexander 8 Shakespeare, William 73f. Sieburg, Friedrich 23 Soupault, Philippe 57 Spiel, Hilde 54 Spranger, Eduard 103 Sternberger, Dolf 36 Stojka, Ceija 11, 28, 157-163 Susman, Margarete 146 Szondi, Peter 137 Thiess, Frank 108, 125 Thomas, Dylan 96 Trakl, Georg 34 Ungaretti, Giuseppe 34 Valéry, Paul 18 Vergil 144, 197 Walser, Martin 181 Weckherlin, Georg Rodolf 117 Weigel, Hans 48f. Weissglas, Immanuel 37f. Wellershoff, Dieter 64 Werfel, Franz 164 Weyrauch, Wolfgang 8, 31-33, 112, 167f. Whitman, Walt 87 Zweig, Stefan 56, 141 Personenregister 229 ,! 7ID8C5-cfeacf! ISBN 978-3-8252-5402-5 Thomas Boyken Nikolas Immer Nachkriegslyrik Poesie und Poetik zwischen 1945 und 1965 Das Studienbuch arbeitet die Heterogenität der deutschsprachigen Nachkriegslyrik zwischen 1945 und 1960 anhand von Fallanalysen heraus. Die Dichter orientieren sich an typisch deutschen Lyriktraditionen wie der Naturlyrik (z. B. Peter Huchel), favorisieren die Anverwandlung avantgardistischer Schreibweisen (z. B. Gottfried Benn), propagieren den sprachlichen ‚Kahlschlag‘ (z. B. Wolfdietrich Schnurre), orientieren sich an christlich-heilsgeschichtlichen Deutungsmustern (z. B. Werner Bergengruen) oder plädieren für das ‚Gebrauchsgedicht‘ mit politischem Impetus (z. B. Bertolt Brecht). Zugleich ist eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit der Formenvielfalt moderner Lyrikströmungen zu beobachten. Die systematische und didaktisch aufbereitete Einführung eröffnet den Zugang zu diesen unterschiedlichen Prozessen. Literaturwissenschaft Nachkriegslyrik Boyken | Immer Dies ist ein utb-Band aus dem Narr Francke Attempto Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel 54025 Boyken_M-5402.indd 1 54025 Boyken_M-5402.indd 1 29.10.20 09: 46 29.10.20 09: 46