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Literarische Ästhetik

2020
978-3-8385-5481-5
UTB 
Peter V. Zima

Literarische Ästhetik ist eine Rekonstruktion der philosophisch-ästhetischen Grundlagen moderner Literaturtheorien. Vom New Criticism bis zur Dekonstruktion werden Theorien der Literatur auf ihre Ursprünge in den Philosophien Kants, Hegels und Nietzsches bezogen und im historischen Kontext anhand von Beispielen und Modellanalysen erläutert. Die Neuausgabe wurde um ein 10. Kapitel erweitert, in dem die Wechselbeziehungen von Ästhetik und Soziologie bei Luhmann und Bourdieu untersucht werden. Die Darstellung der Literaturwissenschaft im philosophischen und gesellschaftlichen Zusammenhang ist nicht nur ein wissenschaftliches Desiderat, sondern erfüllt auch eine didaktische Funktion, weil sie ein besseres Verständnis der Theorien im Verhältnis zur Philosophie und zur sozialen Welt ermöglicht.

Peter V. Zima Literarische Ästhetik Methoden und Modelle der Literaturwissenschaft 3. Auflage Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn Narr Francke Attempto Verlag / expert verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München Ferdinand Schöningh · Paderborn transcript Verlag · Bielefeld Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlag · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld utb 1590 Prof. Dr. Peter V. Zima war bis 2012 ordentlicher Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Alpen-Adria-Universität in Klagenfurt. Er ist seit 1998 korr. Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien, seit 2010 Mitglied der Academia Europaea in London und seit 2014 Honorarprofessor der East China Normal University in Schanghai. Peter V. Zima Literarische Ästhetik Methoden und Modelle der Literaturwissenschaft 3., überarbeitete und erweiterte Auflage Narr Francke Attempto Verlag Tübingen © 2020 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart CPI books GmbH, Leck utb-Nr. 1590 ISBN 978-3-8252-5481-0 (Print) ISBN 978-3-8385-5481-5 (ePDF) ISBN 978-3-8463-5481-0 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® 9 15 1. 15 2. 19 3. 24 I. 29 1. 31 2. 37 3. 45 4. 55 5. 62 II. 75 1. 77 2. 83 3. 92 4. 97 5. 103 III. 115 1. 118 2. 124 Inhalt Vorwort zur dritten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ästhetik und Literaturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhaltsebene und Ausdrucksebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literarische Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ästhetik und Dialektik: Zwischen Kant, Hegel und Nietzsche . . Von Baumgarten zu Kant: Begriff und Begriffslosigkeit der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dialektik und Ästhetik bei Hegel: Die Herrschaft des Begriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Zerfall der Hegelschen Ästhetik bei den Junghegelianern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nietzsche: Ambivalenz und Ausdrucksebene . . . . . . . . . . Von Croce zum New Criticism . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Marxismus zum Formalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Literatur- und Kunstbegriff bei Marx und Engels . . . Georg Lukácsʼ Theorie der Widerspiegelung . . . . . . . . . . Exkurs zum sozialistischen Realismus . . . . . . . . . . . . . . . . Lucien Goldmanns genetischer Strukturalismus . . . . . . . Formalismus, Futurismus und Ausdrucksebene . . . . . . . . Michail Bachtins „junghegelianische“ Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . Bachtins Kritik am Formalismus in Linguistik und Literaturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bachtins Kritik des Hegelianismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. 130 4. 141 IV. 147 1. 149 2. 157 3. 164 4. 174 5. 185 V. 191 1. 194 2. 201 3. 208 4. 220 5. 227 VI. 235 1. 238 2. 245 3. 258 4. 269 5. 279 VII. 285 1. 288 2. 304 Bachtins „junghegelianische“ Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . Ausdrucksebene und Inhaltsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Ästhetik der Kritischen Theorie: Von Benjamin zu Adorno . . Walter Benjamins „Dialektik im Stillstand“ . . . . . . . . . . . Eine Ästhetik des „Schocks“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Negative Dialektik: Ratio und Mimesis . . . . . . . . . . . . . . . Negative Ästhetik: Zwischen Begriffslosigkeit und Wahrheitsgehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bemerkungen zu Hans Robert Jaußʼ Kritik an Adorno . . . Die literarische Ästhetik des Prager Strukturalismus . . . . . . . . . Der Prager Strukturalismus zwischen Formalismus, Philosophie und Linguistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autonomieästhetik: Jakobson, Mukařovský und die Thesen von 1929 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jan Mukařovskýs avantgardistische Ästhetik . . . . . . . . . . Evolution und Rezeption: Von Mukařovský zu Vodička . Neuere Entwicklungen: Chvatík und Červenka . . . . . . . . Die Rezeptionsästhetik zwischen Hermeneutik und Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von Gadamer zu Jauß: Hermeneutik und Ästhetik . . . . . Jaußʼ Rezeptionsästhetik als literarische Hermeneutik . . Von Husserl zu Ingarden: Phänomenologie und Wirkungsästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Isers Wirkungsästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Auseinandersetzung zwischen Konstanzer Rezeptionsästhetik und marxistisch-leninistischer Rezeptionstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Ästhetiken der Semiotik: Drei Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . Roland Barthesʼ nietzscheanische Ästhetik des Signifikanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Umberto Eco: Von der Avantgarde zur „Postmoderne“ . . Inhalt 6 3. 318 4. 335 VIII. 339 1. 342 2. 363 3. 370 4. 380 IX. 389 1. 392 2. 406 3. 418 X. 433 I. 436 1. 437 2. 441 3. 447 II. 451 4. 454 5. 457 Algirdas J. Greimasʼ Ästhetik der Inhaltsebene . . . . . . . . . Greimas in der Nouvelle Critique und in der Rezeptionsästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dekonstruktion: Theorie und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jacques Derrida zwischen Hegel und Nietzsche . . . . . . . . Derrida, Jean-Pierre Richard und Mallarmé: Dekonstruktion oder Dialektik der Totalität? . . . . . . . . . . Dekonstruktion in Yale 1: Paul de Man . . . . . . . . . . . . . . . Dekonstruktion in Yale II: Geoffrey H. Hartman . . . . . . . Kritische Literaturwissenschaft als Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturwissenschaft zwischen Kant und Hegel: Polysemie und Monosemie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kritische Literaturwissenschaft: Ideologiekritik . . . . . . . . Kritische Literaturwissenschaft: Theorie . . . . . . . . . . . . . Ästhetik der Soziologie / Soziologie der Ästhetik: Von Luhmann zu Bourdieu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autonomie und „Autopoiesis“: Niklas Luhmanns Theorie des Kunstsystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziologie der Ästhetik: Die soziale Ausdifferenzierung des Kunstsystems . . . . . . . . . . Ästhetik der Soziologie: Luhmann, Calvino und die Formalisten als Verfechter einer Autonomieästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kritisches Intermezzo: Die Abwesenheit kollektiver Akteure in Luhmanns Theorie . . . . . . . Der Kampf um das Feld als Heteronomie: Pierre Bourdieus Kunstsoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwei Modelle der Differenzierung: Von Luhmann zu Bourdieu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziologie der Ästhetik: Die Entstehung der Autonomieästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 7 6. 461 7. 468 475 501 Ästhetik der Soziologie: Der Kampf um das Feld als Heteronomie und Habitus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Feldstrategie oder Kritik und Wahrheitsgehalt? Bourdieu und Adorno . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswahlbibliographien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 8 1 Vgl. Vf., The Philosophy of Modern Literary Theory, London-New York, Athlone-Con‐ tinuum, 1999; Vf., „The Subject, the Beautiful and the Sublime. Adorno between Modernism and Postmodernism“, in: A. Eysteinsson, V. Liska (Hrsg.), Modernism, Amsterdam-Atlanta, J. Benjamins, 2007 sowie Vf., Critique littéraire et esthétique. Les Fondements esthétiques des théories de la littérature, Paris, L’Harmattan, 2004. 2 Vgl. N. Luhmann, Schriften zu Kunst und Literatur, Frankfurt, Suhrkamp, 2008. 3 Vgl. P. Bourdieu, Kunst und Kultur. Kultur und kulturelle Praxis. Schriften zur Kulturso‐ ziologie 4, Berlin, Suhrkamp, 2015. 4 Vgl. z. B. J.-P. Martin (Hrsg.), Bourdieu et la littérature. Suivi d’un entretien avec Pierre Bourdieu, Nantes, Ed. Cécile Defaut, 2010. Vorwort zur dritten Auflage Das Hauptanliegen dieses Buches, die philosophisch-ästhetischen Grundla‐ gen literaturwissenschaftlicher Theorien zu rekonstruieren, ist nach wie vor aktuell. Mit dieser Rekonstruktion hat sich der Autor auch in englischen und französischen Publikationen befaßt, in denen er dem New Criticism sowie den Theorien Jean-Fançois Lyotards und Charles Maurons mehr Aufmerksamkeit widmete. 1 Später hat er immer wieder bedauert, daß er weder in der Literarischen Ästhetik noch in diesen Veröffentlichungen auf das Verhältnis von Ästhetik und Soziologie bei Pierre Bourdieu und Niklas Luhmann einging. Allerdings wäre es in den Jahren 1991 und 1995, als die ersten beiden Auflagen der Literarischen Ästhetik erschienen, kaum möglich gewesen, dieser Thematik in dem sich heute abzeichnenden Umfang gerecht zu werden. Denn Bourdieus wichtigster Kommentar zur Literatur- und Kunstsozio‐ logie - Les Règles de l’art - erschien im Jahre 1992, also ein Jahr nach der ersten Auflage der Literarischen Ästhetik, und die Erstveröffentlichung von Luhmanns Die Kunst der Gesellschaft (1995) fiel mit der Publikation der zweiten Auflage zusammen. Luhmanns Schriften zu Kunst und Literatur sind erst seit 2008 in Buch‐ form erhältlich 2 , und erst seit dem Erscheinen von Bourdieus Kunst und Kultur im Jahre 2015 3 ist es relativ leicht, sich eine Übersicht über die kunstsoziologischen Kernargumente der beiden Autoren zu verschaffen. Es kommt hinzu, daß nach der Jahrtausendwende die Auseinandersetzung mit Bourdieu und Luhmann im literaturwissenschaftlichen Bereich an Intensität zunahm 4 , so daß nun auch kritische Kommentare zu den beiden Soziologien berücksichtigt werden können. Beide Soziologien erheben den Anspruch, die Ästhetiken vergangener Jahrhunderte, vor allem aber die Ästhetiken der Moderne, im sozialen Kontext zu erklären. Auf dieser metadiskursiven Ebene muß sich die Äs‐ thetik nicht mit der Rolle des objektivierten Diskurses zufrieden geben, sondern kann versuchen, den diskursiven Spieß umzudrehen und nach den Ästhetiken der Kunstsoziologien fragen. Dabei zeigt sich, daß Luhmann und Bourdieu im Rahmen von soziologi‐ schen Differenzierungstheorien die Entstehung künstlerischer und ästheti‐ scher Autonomie erklären, zugleich aber zwei unvereinbaren Ästhetiken das Wort reden. Während Luhmann eine Autonomieästhetik entwickelt, die frappierende Ähnlichkeiten mit der des Russischen Formalismus aufweist, kritisiert Bourdieu die Autonomieästhetiken der New Critics und der For‐ malisten, deren Vertretern er vorwirft, nicht über die sozio-historischen Voraussetzungen der Kunstautonomie und der sie begleitenden Ästhetiken nachzudenken. Im Gegensatz zu Luhmann, der das Kunstsystem als autono‐ men Bereich betrachtet, faßt er das literarisch-künstlerische Feld als eine Kampfarena auf, in der Literatur und Kunst von einzelnen Künstlern und Künstlergruppen für den Kampf um die Vorherrschaft im Feld instrumenta‐ lisiert werden. So entsteht eine tendenziell heteronome Ästhetik, die Kunst eher als soziale Tatsache oder als fait social denn als autonome und kritische Instanz im Sinne von Adorno betrachtet. Im letzten Abschnitt des zehnten Kapitels fällt Licht auf das Spannungsverhältnis von fait social und autonomer Kritik in einer Konfrontation zwischen Adorno und Bourdieu, die in mancher Hinsicht als eine Rückkehr zum vierten Kapitel zu lesen ist. Mit der Wechselbeziehung zwischen Ästhetik und Soziologie, die das zehnte Kapitel inszeniert, soll einerseits im Rahmen des hier entworfenen Gesamtkonzepts gezeigt werden, welche ästhetische Theorien Kunst- und Literatursoziologien zugrunde liegen, andererseits soll deutlich werden, daß die Ästhetik keinen Monopolanspruch auf die Metaebene als Metadiskurs erheben darf. Denn sie soll ihrerseits - etwa als Autonomieästhetik - in einem sich wandelnden gesellschaftlichen Kontext erklärt und konkreter verstanden werden. Vorwort zur dritten Auflage 10 Vorwort zur zweiten Auflage Die spontane Frage „Wozu Theorie? “, die seit Jahren die literaturwissen‐ schaftliche Diskussion begleitet und manche Theoretiker in Verlegenheit bringt, ist nicht für die Literaturwissenschaft spezifisch. Auch in der Sozio‐ logie und der Politikwissenschaft werden sporadisch Stimmen laut, die das Theoretisieren als überflüssigen Luxus abqualifizieren. Sie sind allesamt Symptome einer arbeitsteiligen Entwicklung, die die philosophische Her‐ kunft literaturwissenschaftlicher, linguistischer oder soziologischer Theo‐ rien in Vergessenheit geraten und den Nexus von Theorie und Empirie zerfallen läßt. Denn eine Theorie, deren Fragestellungen und Begriffe dem histo‐ risch-philosophischen Kontext, aus dem sie hervorging, entfremdet werden, wirkt abstrakt, und ihre konkrete Anwendung fällt schwer. Georg Lukácsʼ Typusbegriff und Roland Barthesʼ leidenschaftliches Plädoyer für das offene Zusammenspiel der Signifikanten werden nur halb verstanden, solange das „Typische“ nicht als ein Aspekt der Hegelschen Totalität erkannt und Barthesʼ Semiologie nicht als eine Erneuerung von Nietzsches „fröhlicher Wissenschaft“ gelesen wird. Abstrakt und unerquicklich bleibt schließlich die Anwendung von Greimasʼ Isotopiebegriff, solange nicht klar ist, daß er eine rationalistisch-hegelianische Textauffassung voraussetzt, die auf Hierarchisierung und Monosemierung aus ist. Theorie wirkt lebendig, sobald klar wird, daß sie ein Versuch ist, Fragen, die sich einem jeden aufdrängen, der sich mit Literatur, Kultur und Gesell‐ schaft befaßt, partiell zu beantworten. Allerdings können solche Fragen nur dann als theoretische Fragen gestellt werden, wenn der historische, philosophische und ästhetische Kontext der Theorien vergegenwärtigt wird. Eine Vergegenwärtigung dieser Art bereitet Mühe. Das Zustandekommen einer Neuauflage der Literarischen Ästhetik zeigt indessen, daß viele diese Mühe für lohnend halten. Der Autor hat in allen Kapiteln versucht, ihnen die Lektüre durch Korrekturen, klärende Zusätze und Erläuterungen zu erleichtern. Auch die Bibliographie wurde an einigen Stellen ergänzt. Vorwort zur zweiten Auflage 11 Vorwort zur ersten Auflage Angesichts der Fülle von Publikationen zur literaturwissenschaftlichen Methodologie drängt sich die Frage auf, ob es notwendig sei, eine weitere Einführung vorzulegen, deren Untertitel den Verdacht erregt, daß die Me‐ thodendiskussionen der 1960er, 70er und 80er Jahre abermals aufgearbeitet werden sollen. Auf diese zweifellos berechtigte Frage antwortet - stellver‐ tretend für den Gesamttext - der Titel Literarische Ästhetik. Es geht nicht nur darum, moderne Theorien und Methoden der Literaturwissenschaft darzustellen und aufeinander zu beziehen, sondern auch darum, ihre philo‐ sophischen und ästhetischen Grundlagen zu rekonstruieren. Dieser Rekonstruktionsversuch erfüllt eine klärende und eine kritische Funktion: Wer in den 70er oder 80er Jahren an einer europäischen Univer‐ sität eine „Einführung in die Allgemeine Literaturwissenschaft“ angeboten hat, der wird festgestellt haben, daß es sehr schwierig, möglicherweise für alle Beteiligten auch unbefriedigend ist, Schlüsselbegriffe wie „Erwar‐ tungshorizont“, „Isotopie“, „Unbestimmtheitsstelle“ oder „Weltanschauung“ auf abstrakte Art, d. h. unabhängig vom politischen, philosophischen und ästhetischen Kontext zu erklären. Weshalb betont Barthes die Vieldeutigkeit des literarischen Signifikanten, während Greimas den Isotopie-Begriff verwendet, um den Text auf eine Be‐ deutung festzulegen? Was hat Jaußʼ (Mannheims) Begriff des „Erwartungs‐ horizonts“ mit Gadamers Hermeneutik und Mannheims Wissenssoziologie zu tun? Solche Fragen werden nicht von jemandem aufgeworfen, der die Komple‐ xität des Faches ins Endlose zu steigern beabsichtigt, sondern von einer kri‐ tischen Hörerschaft oder Leserschaft, die erfahren möchte, weshalb Barthes Nietzsche, Jauß hingegen immer wieder Gadamer und Mannheim zitiert. Daher lautet eine der Hauptthesen dieses Buches: Literaturwissenschaftliche Ansätze und ihre Terminologien sind nur dann konkret zu verstehen, wenn der philosophische, ästhetische und gesellschaftliche Kontext rekonstruiert wird, in dem sie entstanden sind. Es versteht sich von selbst, daß hier nur Ansätze erörtert werden, die ästhetische Komponenten aufweisen, und daß literaturwissenschaftliche Methoden wie die empirische Literatursoziologie, deren Vertreter ausdrück‐ lich auf ästhetische Wertung verzichten (A. Silbermann, H. N. Fügen), unberücksichtigt bleiben. Dies bedeutet jedoch nicht, daß solche Methoden „wertfrei“ sind und keine ästhetischen bzw. ideologischen Positionen arti‐ Vorwort zur dritten Auflage 12 kulieren; sie sind aber in dem hier entworfenen Zusammenhang weniger interessant. Rekonstruktion ist zugleich Reflexion im hermeneutischen Sinne und konkreter: im Sinne der Kritischen Theorie. Denn nur in einem Zusammen‐ hang, in dem die sozialen, philosophischen und ästhetischen Bedingungen reflektiert werden, in denen eine bestimmte literaturwissenschaftliche Ter‐ minologie entstanden ist, zergeht die ideologische Illusion, ein bestimmter theoretischer Diskurs sei als natürlich und selbstverständlich - als der einzig mögliche - zu akzeptieren. Denn gerade in einer Gesellschaft, deren medien- und marktkonforme Diskurse bestimmte Denkweisen als selbstverständlich und natürlich ein‐ üben - von „schlank ist schön“ und einer „vollwirtschaftlich organisierten Küchenarbeitsweise“ bis zum dernier cri der „Postmoderne“ - tut Reflexion not: nachdenken über die diskursiven Verfahren von Werbung und Ideolo‐ gie; nachdenken über die diskursiven Besonderheiten oder die philosophi‐ schen und ästhetischen Entstehungszusammenhänge der Wissenschaften und Pseudowissenschaften. Nur kritische Reflexion kann den Verblendungszusammenhang durch‐ brechen, der u. a. dadurch zustande kommt, daß Individuen in bestimmte Sprachstrukturen hineinwachsen und im Rahmen dieser Strukturen zu unmündigen Subjekten (sub-iectum: das Unterworfene) sozialisiert werden. Das vorliegende Buch möchte nicht nur einen Beitrag zur kritischen Refle‐ xion leisten, sondern vor allem im vorletzten Kapitel auch erklären, wie Reflexion als sprachlicher (diskursiver) Prozeß aufzufassen sei. Das Buch ist nicht nur chronologisch aufgebaut (vom New Criticism und dem russischen Formalismus bis zur Kunstsoziologie Bourdieus und Luhmanns), sondern folgt auch einer immanenten philosophischen Logik, die u. a. erklärt, weshalb der anglo-amerikanische New Criticism im ersten Kapitel im Zusammenhang mit Croces Philosophie behandelt wird und weshalb Bachtin (Kap. III) als „Junghegelianer“ zum geistigen Nachbarn Benjamins und Adornos wird, während der Prager Strukturalismus, dessen Vertreter sich - ebenso wie Adorno und Gadamer - zwischen Kant und Hegel bewegen, den Übergang vom vierten zum sechsten Kapitel bildet. Im siebenten und achten Kapitel wird der Gegensatz zwischen Kants autonomer und Hegels heteronomer Position allmählich vom Spannungsverhältnis zwi‐ schen Hegel und Nietzsche abgelöst. (Zweifellos wäre auch eine „kryptische“ Lektüre dieses Buches denkbar, die die Peripetien der nachhegelianischen Vorwort zur ersten Auflage 13 Philosophien - Vischers, Stirners, Rosenkranzʼ - in der zeitgenössischen Ästhetik und Literaturwissenschaft verfolgt.) Die Struktur des Gesamttextes ist auch aus dessen dialogischem Charak‐ ter ableitbar: Formal betrachtet mag es auf den ersten Blick sinnvoller erscheinen, den New Criticism und den russischen Formalismus in einem Kapitel oder in zwei benachbarten Kapiteln unterzubringen. Aus dialogischer Sicht erscheint eine „lineare“ Darstellung dieser Art nicht sinnvoll; denn es kann unschwer gezeigt werden, daß Bachtins, Benjamins und Ador‐ nos „junghegelianische“ Ästhetiken unmittelbar (Bachtin) und mittelbar (Benjamin, Adorno) aus der Kollision zwischen hegelianischen (marxisti‐ schen) und kantianischen (formalistischen) Theorien hervorgegangen sind. Dies ist der Grund, weshalb hier Bachtins dialogische Literaturwissen‐ schaft aus der Diskussion zwischen Marxisten und Formalisten hervorgeht; weshalb das achte Kapitel, das Derridas Position zwischen Hegel und Nietzsche zu bestimmen sucht, dem siebenten angeschlossen wird, in dem Barthesʼ nietzscheanische Ästhetik mit Greimasʼ Rationalismus und Hegelianismus der Tiefenstruktur zusammenstößt. In allen Fällen ging es mir darum, heterogene theoretische und ästhetische Positionen dialogisch aufeinander zu beziehen, miteinander zu verknüpfen. Außer der Reflexion und dem Dialog erfüllt hier auch das Modell, von dem Adorno sagt, es „treffe das Spezifische“, eine wichtige methodologische Funktion: Eine pauschale Darstellung des Marxismus, des Strukturalismus oder der Semiotik ist sinnlos, weil sie der Abstraktion verfällt und „das Grau‐ enhafte des bloß Schematischen“ evoziert, das Kafka in seinen Tagebüchern (Mai 1914) kritisiert. So ist es zu erklären, warum sich meine Darstellungen nicht nur auf die Theorien als Ästhetiken konzentrieren, sondern oft auch „Modellanalysen“ enthalten (etwa Benjamins Baudelaire-Studien oder Bar‐ thesʼ S/ Z), die die theoretische Argumentation veranschaulichen sollen. Vorwort zur dritten Auflage 14 Einleitung 1. Ästhetik und Literaturwissenschaft Das Hauptanliegen dieses Buches kann in wenigen Worten zusammenge‐ faßt werden: In den meisten zeitgenössischen Darstellungen der Literatur‐ wissenschaft und ihrer Methoden werden die ästhetischen Grundlagen dieser Wissenschaft vernachlässigt, so daß häufig der Eindruck entsteht, als sei der Literatur- oder Kunstbegriff gegeben oder unproblematisch. Im Gegenzug zu dieser Entwicklung, die dazu führt, daß Literaturtheorien aus ihrem philosophischen und ästhetischen Zusammenhang herausgelöst werden, wird hier die These aufgestellt, daß die wichtigsten Gegensätze innerhalb der modernen Literaturwissenschaft als Auseinandersetzungen im ästhetisch-philosophischen Spannungsverhältnis zwischen Kant, Hegel und Nietzsche aufzufassen sind. Diese These ist nur dann akzeptabel, wenn beispielsweise die Bezeich‐ nung „hegelianische Ästhetik“ so weit gefaßt wird, daß sie auf alle Theorien angewandt werden kann, die literarische Werke als Kunstwerke auf den Begriff bringen, sie mit einer bestimmten Begrifflichkeit identifizieren, wäh‐ rend sich von Kant und Nietzsche beeinflußte Theorien der begrifflichen Reduktion widersetzen. Im Verlauf dieser Darstellung wird sich zeigen, daß hegelianische Theorien nicht nur von Hegel und seinen Nachfolgern, sondern auch im Marxismus und in der Semiotik entwickelt wurden. Mit einer „hegelianischen Theorie“ ist somit nicht nur eine Theorie gemeint, deren Autor sich ausdrücklich auf Hegel beruft, sondern jede Theorie, die versucht, das (literarische) Kunstwerk mit einem begrifflichen Äquivalent (Weltanschauung, Ideologie) zu identifizieren. Im folgenden wird vor allem der Gegensatz zwischen Kant und Hegel eine zentrale Rolle spielen, weil er zwei extreme Positionen zum Ausdruck bringt, zwischen denen sich die moderne Literaturwissenschaft bewegt: zwischen der Begrifflichkeit und der Nichtbegrifflichkeit des Schönen. Im Zusammenhang mit Barthes und Derrida wird sich zeigen, wie nietzschea‐ nische Ästhetiken die Nichtbegrifflichkeit der Kunst ins Extreme treiben. Dieses Oszillieren zwischen Begrifflichkeit und ihrer Negation als noch nicht überwundenes methodologisches Dilemma zu beschreiben ist eine der 1 R. Wellek, A. Warren, Theorie der Literatur, Frankfurt/ Main, Athenäum-Fischer, 1972, S. 23. (Theory of Literature, 1949, Harmondsworth, Penguin, 1968, S. 25.) Hauptaufgaben dieses Buches: Es gilt, zwischen Begriff und Form, Signifikat und Signifikant, Inhaltsebene und Ausdrucksebene (im Sinne von Hjelmslev: siehe weiter unten) zu vermitteln und zu zeigen, daß Vieldeutigkeit oder Polysemie nicht Beliebigkeit bedeutet und daß Offenheit und Geschlossen‐ heit (Eco) einander nicht ausschließen, sondern dialektisch aufeinander zu beziehen sind. Es geht hier also nicht darum, dem Anachronismus das Wort zu reden und die zerfallene philosophische Ästhetik als umfassende Theorie der schönen Künste zu restaurieren, sondern darum, die wichtigsten Probleme der Lite‐ raturwissenschaft im ästhetischen und philosophischen Kontext zu erklären. Daß es einer solchen Klärung an der Basis bedarf, zeigen ältere und neue, bekannte und weniger bekannte Einführungen in die Literaturwissenschaft, deren Autoren es versäumen, auf die ästhetischen Grundlagen und den historischen Ursprung der von ihnen behandelten Literaturbegriffe einzu‐ gehen. Sie suggerieren der Leserschaft, der von ihnen implizit eingeführte Literatur- und Kunstbegriff sei der einzig mögliche, der „natürliche“. In ihrem bekannten Buch Theory of Literature (1949), das bisweilen noch als Einführung in die Materie verwendet wird, erwecken René Wellek und Austin Warren den Eindruck, als gäbe es nicht konkurrierende ästhetische Theorien, sondern eine homogene und unproblematische ästhetische Termi‐ nologie: „In unsere semantische Analyse können wir darum einige Begriffe der Ästhetik wieder einführen: ‚interesseloses Wohlgefallen‘, ‚ästhetische Distanz‘, ‚Rahmen‘.“ („Into our semantic analysis we thus can reintroduce some of the common conceptions of aesthetics: ‚disinterested contempla‐ tion‘, ‚aesthetic distance‘, ‚framing‘.”) 1 Unreflektiert werden hier kantianische Begriffe eingeführt, die zwar eine brauchbare Grundlage für die Autonomieästhetik der beiden Autoren abgeben, weil sie den von ihnen kritisierten „fallacies“, den Reduktionen literarischer Texte auf soziale und psychische Faktoren oder auf begriffliche Strukturen, entgegenwirken, die jedoch zugleich die Tatsache verdecken, daß es konkurrierende ästhetische Modelle gibt. In hegelianischen Modellen beispielsweise erscheint das Kunstwerk nicht als „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ oder als keinem „Begriff adäquates“ Gebilde (Kant), sondern als auflösbar im begrifflichen Denken. Es erscheint nicht aus der Sicht eines vom „interesselosen Wohlgefallen“ (Kant) beseelten Betrachters, sondern Einleitung 16 2 Siehe: R. Wellek, A. Warren, Theorie der Literatur, op. cit., S. 115-118, S. 122-125, S. 312. 3 Zur historischen Dimension der Ästhetik vgl. R. Reschke, „Klio, Chronos und Ästhetik. Zur historischen Dimension ästhetischen Denkens“, in: R. Reschke (Hrsg.), Ästhetik. Ephemeres und Historisches. Beiträge zur Diskussion, Hamburg, Vlg. Dr. Kovač, 2002, S. 11-18. 4 J. Schulte-Sasse, R. Werner, Einführung in die Literaturwissenschaft, München, Fink, 1977, S. 22. in historischer Perspektive: als eindeutiger Ausdruck eines historischen Be‐ wußtseins. Anders gesagt: Wellek und Warren setzen - trotz ihrer kritischen Bemer‐ kungen zu Hegel, Schelling und Marx 2 - eine bestimmte Ästhetik (die kantianische) voraus und versäumen es, den eigenen ästhetischen Standort in einem dialogischen Kontext zu problematisieren. 3 Sie verlieren auch die Entstehung ihrer kantianischen Ästhetik in einem besonderen sozialen Kontext aus dem Blickfeld. Nach dieser Entstehung fragt Pierre Bourdieu, dessen Kunstsoziologie hier im letzten Kapitel kommentiert wird. Auf ganz andere Art entledigen sich die beiden Autoren Jochen Schulte- Sasse und Renate Werner der ästhetischen Problematik in ihrer Einführung in die Literaturwissenschaft (1977). Sie versuchen, die Literaturwissenschaft semiotisch und soziologisch zu begründen: „Den Gegenstand der Literatur‐ wissenschaft fassen wir dabei vorläufig als solche Zeichensysteme zweiter Ordnung. Wir wollen diesen Gegenstandsbereich nicht durch qualitative Überlegungen einengen, sondern von der tatsächlich stattfindenden Kom‐ munikation mittels solcher Zeichensysteme ausgehen.“ 4 In dieser zweifel‐ los brauchbaren sozio-semiotischen Definition des Objektbereichs bleibt jedoch unberücksichtigt, daß auch die semiotische Theorie von Algirdas Julien Greimas, deren Terminologie die Autoren verwenden, eine auch von Greimas und seinen Schülern nie explizierte Ästhetik enthält, die eher logozentrisch auf die Monosemierung des literarischen Textes abhebt. (Siehe Kap. 7.) Diese Herauslösung der Literaturwissenschaft aus dem ästhetischen Kontext ist zweifellos auf die Tatsache zurückzuführen, daß die Sozialwis‐ senschaften (Soziologie, Semiotik) sich aufgrund des arbeitsteiligen Prinzips verselbständigt und von Philosophie und Ästhetik entfernt haben. Nun ist aber die literarische Semiotik eines Algirdas J. Greimas, eines Roland Barthes oder eines Umberto Eco nicht unabhängig von der philosophisch-ästheti‐ schen Problematik zu verstehen: ebensowenig wie die Kunstsoziologien 1. Ästhetik und Literaturwissenschaft 17 5 H. Hauptmeier, S. J. Schmidt, Einführung in die empirische Literaturwissenschaft, Braunschweig, Vieweg, 1985, S. 3-6. 6 Siehe: J.-Y. Tadié, La Critique 1ittéraire au XX e siècle, Paris, Belfond, 1987, Kap. 6. 7 T. Eagleton, Einführung in die Literaturtheorie, Stuttgart, Metzler, 1988. von Bourdieu und Luhmann, deren ästhetische Grundlagen hier im letzten Kapitel rekonstruiert werden. Über diese Tatsache setzen sich allzu dezisionistisch Helmut Hauptmeier und Siegfried J. Schmidt hinweg, wenn sie in ihrer Einführung in die empirische Literaturwissenschaft (1985) den Bereich der Disziplin auf eine empirische Kommunikationstheorie einengen und dabei nicht nur philoso‐ phische und ästhetische Aspekte, sondern alle konkurrierenden Theorien (Semiotik, Soziologie, Phänomenologie) monologisch ausgrenzen. 5 Daß sich die Unterschlagung der ästhetischen Problematik auf theoreti‐ scher Ebene rächen kann, zeigt schließlich Jean-Yves Tadiés La Critique littéraire au XX e siècle (1987): ein Buch, das zwar als Einführung gedacht war, durch seine Inkohärenz jedoch eher Verwirrung stiftet. Wenn z. B. Tadiés Darstellung der literatursoziologischen Ansätze zu einem Konglomerat widersprüchlicher Aussagen verkommt, so deshalb, weil die ästhetischen Komponenten, die diese Ansätze (Lukácsʼ, Goldmanns, Adornos) voneinan‐ der unterscheiden und trennen, schlicht übergangen werden. 6 Als philosophisch fundierter Entwurf ist Terry Eagletons Einführung in die Literaturtheorie (1983, dt. 1988) in jeder Hinsicht ergiebiger und homo‐ gener, da der Autor die Beziehungen zwischen Husserls Phänomenologie und Gadamers Hermeneutik zum Ausgangspunkt nimmt (Kap. II). Um so erstaunlicher ist sein Verzicht auf eine Analyse der ästhetischen Prämissen moderner Literaturtheorien, die er noch in Criticism and Ideology (1976) mit den „aesthetic ideologies“ (Kap. II) verknüpfte: In der Einführung wird Kant nur einmal erwähnt, Hegel und Nietzsche überhaupt nicht. 7 Mein Vorschlag, die literaturwissenschaftliche Problematik auf ästheti‐ scher Grundlage zu rekonstruieren, sollte daher als ein Versuch aufgefaßt werden, eine Kohärenz wiederherzustellen, die zerfallen ist. Diese Art von Rekonstruktion hat nichts mit Restauration zu tun; wohl aber mit Reflexion: Es geht nicht darum, die Literaturwissenschaft einer alten oder neuen Ästhetik einzuverleiben, sondern darum, den ästhetischen Ursprung und Hintergrund ihrer Fragestellungen zu reflektieren. Einleitung 18 8 Zum Problem der philosophischen Grundlegung der Wissenschaften siehe: J. Mukařovský, „Strukturalismus v estetice a ve vědě o literatuře“ („Der Strukturalismus in Ästhetik und Literaturwissenschaft“) in: ders., Kapitoly z české poetiky, Bd. 1, Prag, Melantrich, 1941, S. 13: „Die wissenschaftliche Lehre, die von dieser ununterbrochenen Wechselwirkung zwischen Wissenschaft und Philosophie ausgeht und auf ihr gründet, ist der Strukturalismus.“ - Für eine philosophische Wissenschaft im Sinne der kritischen Rationalisten plädiert z. B. K. R. Popper, in: „Wie ich die Philosophie sehe“, in: ders., Auf der Suche nach einer besseren Welt. Vorträge und Aufsätze aus dreißig Jahren, München, Piper, 1984, S. 207: „So wie ich die Philosophie sehe, sollte sie niemals - und kann sie auch nicht - von den Einzelwissenschaften getrennt werden.“ - Für philosophische Reflexion setzen sich im Anschluß an Adorno und Horkheimer Jürgen Habermas und Rüdiger Bubner ein: J. Habermas, Erkenntnis und Interesse (1968), Frankfurt, Suhrkamp, 1973, S. 262-300 und R. Bubner, Dialektik und Wissenschaft, Frankfurt, Suhrkamp, 1973, S. 106. 2. Inhaltsebene und Ausdrucksebene Die Problematik der modernen Literaturwissenschaft ist nur im Zusammen‐ hang mit der Entwicklung der Sozialwissenschaften (Soziologie, Semiotik, Sprachwissenschaft) zu verstehen, die - vor allem in den 60er und 70er Jahren - die literaturwissenschaftliche Methodendiskussion nachhaltig geprägt haben. Anachronistisch und sinnlos wäre daher jeder Versuch, die Probleme zeitge‐ nössischer Literaturtheorien ausschließlich im Rahmen der philosophischen Ästhetik darstellen zu wollen, deren Terminologie der sozialwissenschaftlichen Arbeitsteilung in den Fachsprachen nicht Rechnung trägt. Es gilt allerdings auch, die durch Arbeitsteilung bedingte Einseitigkeit zu vermeiden, die darin besteht, daß der Diskurs der Fachsprache (der Soziologie, der Linguistik) von der philosophischen Reflexion abgekoppelt wird. Es kommt vielmehr darauf an, philosophische und ästhetische Aus‐ sagen fachsprachlich zu präzisieren, zu verdeutlichen, und umgekehrt, fachsprachliche Theoreme philosophisch-kritisch zu reflektieren. Dieses wissenschaftsphilosophische Vorhaben ist kein unzeitgemäßes oder gar unerreichbares Ideal, sondern verbindet so heterogene theoretische Ansätze miteinander wie den Prager Strukturalismus Jan Mukařovskýs, den Kritischen Rationalismus Karl R. Poppers oder Hans Alberts und die Kritische Theorie Theodor W. Adornos, Max Horkheimers und Jürgen Habermasʼ. 8 Im folgenden soll daher versucht werden, die ästhetische Frage nach dem Verhältnis von „Form“ und „Inhalt“ mit Hilfe einer semiotischen und linguistischen Terminologie (Hjelmslevs, Martinets) neu zu stellen. Zugleich soll aber die ästhetische und philosophische Bedeutung der neuen Fragestellung reflektiert werden. 2. Inhaltsebene und Ausdrucksebene 19 9 F. de Saussure, Cours de linguistique générale, Paris, Payot, 1972, S. 100; Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin, De Gruyter, 1967 (2. Aufl.), S. 79. 10 Siehe: F. de Saussure, Cours de linguistique générale, op. cit., S. 101. 11 A. J. Greimas, J. Courtés, Sémiotique. Dictionnaire raisonné de la théorie du langage, Paris, Hachette, 1979, S. 66. Seit Ferdinand de Saussures Cours de linguistique générale (1916) betont die Sprachwissenschaft den willkürlichen oder relativ willkürlichen Charakter des sprachlichen Zeichens. Die Beziehung zwischen Signifikant und Signifi‐ kat, zwischen der phonetischen und der semantischen Ebene ist willkürlich und hängt von einer sich wandelnden gesellschaftlichen Konvention ab: „Le lien unissant le signifiant au signifié est arbitraire (…)“; „das Band, welches das Bezeichnete mit der Bezeichnung verknüpft, ist beliebig (…)“ 9 , heißt es wörtlich in Saussures Cours. Dadurch unterscheidet sich das sprachliche Zeichen vom Symbol, das nie ganz willkürlich, sondern stets mit einem bestimmten „Inhalt“ erfüllt ist: Während die Signifikanten Haus, maison, casa, kuća im Hinblick auf das ihnen gemeinsame Signifikat indifferent sind, kann die Waage als Symbol für Gerechtigkeit nicht durch irgendeinen anderen Gegenstand - etwa durch einen Wagen - ersetzt werden. 10 Einen Schritt weiter geht der dänische Linguist Louis Hjelmslev, wenn er im Anschluß an Saussure einen autonomen Bereich der Signifikanten mit einem ebenso autonomen Bereich der Signifikate verknüpft: Während Hjelmslevs Ausdrucksebene Saussures Signifikanten entspricht, ohne mit ihnen identisch zu sein, entspricht seine Bezeichnung Inhaltsebene den Signifikaten. Anders ausgedrückt: Die Ausdrucksebene Hjelmslevs ist dem Saussureschen Signifikanten in der Gesamtheit seiner Erscheinungsformen analog und steht in ständiger Wechselbeziehung zur Inhaltsebene. Die Verknüpfung der beiden Ebenen in der sprachlichen Kommunikation er‐ möglicht den semiotischen Prozeß, die Semiosis. Diese grundsätzliche Unterscheidung zwischen einer Ausdsrucks- und einer Inhaltsebene wird durch die Einführung der beiden Begriffe Form und Substanz weiter nuanciert: Es handelt sich nicht um Synonyme von „Ausdruck“ und „Inhalt“; vielmehr weist jede der beiden Ebenen einen Form- und einen Substanzausdruck auf. Ganz zu Recht stellen daher Grei‐ mas und Courtés fest, daß Hjelmslev „auf jeder der beiden sprachlichen Ebenen eine autonome Form und eine autonome Substanz unterscheidet: Die Verknüpfung von Ausdrucksform und Inhaltsform ist es - und nicht die von zwei Substanzen -‚ die seiner Ansicht nach die semiotische Form ausmacht.“ 11 Anders gesagt: Auch die phonetische Ebene der Signifikanten Einleitung 20 12 Siehe: L. Hjelmslev, Prolegomena zu einer Sprachtheorie, München, Hueber, 1974, S. 56: „Der Sinn (mening) ist jedesmal Substanz für eine neue Form und hat keine mögliche Existenz außer der, Substanz für die eine oder andere Form zu sein.“ 13 Ibid., S. 55. 14 Ibid., S. 59. (die Ausdrucksebene) hat Substanz, während die semantische Ebene der Signifikate (die Inhaltsebene) ohne Formen und Formierungsprozesse nicht denkbar ist. (Die Ausdrucksebene ist somit Gegenstand der Phonologie und der Phonetik, während die Inhaltsebene Gegenstand der Semantik und der Syntax ist.) In diesem Zusammenhang ist es wichtig, darauf hinzuweisen, daß es bei Hjelmslev keine ungeformte Substanz gibt: Sowohl auf der Ausdrucksals auch auf der Inhaltsebene sind Substanzen nur als geformte denkbar. 12 Die ungeformte „Wirklichkeit“, die auf der Ausdrucksebene von phonetischen und auf der Inhaltsebene von semantisch-syntaktischen Formen zu Substan‐ zen gemacht wird, nennt Hjelmslev Sinn (dän. „mening“, engl. „purport“) und umschreibt sie als „amorphe Masse“ 13 auf der Inhaltsebene und als „phonetische Sinnzonen“ („meningszone“) 14 auf der Ausdrucksebene. Wichtig ist hier der Gedanke, daß auf beiden Ebenen bestimmte Eigenge‐ setzlichkeiten herrschen, die von Sprache zu Sprache verschieden sind und die für die stets spezifische Formung der phonetischen und semantischen („gedanklichen“) Masse verantwortlich sind. Diese Eigengesetzlichkeiten dürfen nicht übergangen werden, denn die Gesetzmäßigkeiten der einen Ebene sind nicht auf die der anderen zu reduzieren. Einer der Kerngedanken von Hjelmslevs Semiotik ist somit die Autonomie der beiden Ebenen. Um das bisher Gesagte ein wenig zu konkretisieren, möchte ich die Formierungsprozesse im inhaltlichen und im phonetischen Bereich anhand von Beispielen veranschaulichen. Die besonderen phonetischen Gesetzmä‐ ßigkeiten treten dann klar in Erscheinung wenn der Name Berlin im Englischen, Deutschen, Dänischen und Japanischen verschieden ausgespro‐ chen wird (Hjelmslevs Beispiel) oder wenn unser französischsprachiger Gesprächspartner darauf besteht, daß der Name des Psychoanalytikers Freud als Fröd und der des Soziologen Durkheim als Dürk-em auszusprechen ist. Ein anderer Aspekt dieser Problematik wird sichtbar, wenn jemand die „phonetische Masse“ einer Fremdsprache in Übereinstimmung mit den Gesetzmäßigkeiten seiner Muttersprache formt: Man sagt dann, daß er einen „Akzent hat“. Wichtig ist hier die Überlegung, daß die Phonetik einer natürlichen Sprache ein Systemganzes bildet und daß die Aussprache eines 2. Inhaltsebene und Ausdrucksebene 21 15 Ibid., S. 54-55. 16 A. Martinet, La Linguistique synchronique. Etudes et recherches, Paris, PUF, 1968, S. 27. 17 Ibid., S. 28. bestimmten Wortes sowie ein besonderer Akzent nicht Zufallserscheinun‐ gen, sondern systembedingt sind. Auf der Inhaltsebene (im semantisch-syntaktischen Bereich) treten sol‐ che Eigengesetzlichkeiten zutage, sobald klar wird, daß ein und derselbe „Gedanke“ (Hjelmslev, S. 55) mit Hilfe von sehr verschiedenen Formen artikuliert werden muß. Das deutsche „ich weiß nicht“ nimmt in anderen Sprachen andere Formen an: Das französische „je ne sais pas“ weist eine an‐ dere Reihenfolge auf und enthält die für das Französische charakteristische doppelte Verneinung; auch der englische Satz „I do not know“ weicht vom deutschen ab durch eine andere Wortstellung und durch die Verwendung des Hilfsverbs „do“; das lateinische Ein-Wort-Syntagma „nescio“ stimmt formal mit den slawischen Formen „ne znam“ (serbokroatisch) und „nevím“ (tschechisch) überein und unterscheidet sich von den germanischen und französischen Konstruktionen durch die Präfigierung der Negation. (Mit Recht weist Hjelmslev darauf hin, daß auch innerhalb eines und desselben Sprachsystems verschiedene Formen möglich sind; im vorliegenden Fall z.B.: „je lʼignore“ oder das elisabethanische „I know not“.) 15 Allen diesen Beispielen liegt der bereits erwähnte Gedanke zugrunde, daß das Zusammenwirken von Inhaltsebene und Ausdrucksebene für die sprachliche Kommunikation zwar unentbehrlich ist, daß die Vorgänge auf diesen Ebenen jedoch besonderen Gesetzmäßigkeiten gehorchen: daß Inhalt und Ausdruck, Signifikat und Signifikant autonome Bereiche sind. Diesen Gedanken bestätigt in einem anderen Zusammenhang der zeitge‐ nössische französische Linguist André Martinet, wenn er seine bekannte These über die „doppelte Artikulation der Sprache“ („la double articula‐ tion du langage“) erläutert und die Autonomie der Signifikanten-Ebene beschreibt. Seine Frage lautet, „wie sie (die Sprache) ihre eigenen Werte begründet und wie sie den Phonemen, also Einheiten ohne Signifikate, die Bildung ihrer Signifikanten anvertraut und diese dadurch der Sinnge‐ bung entzieht“. 16 Komplementär dazu heißt es an einer anderen Stelle: „Aus der zweiten sprachlichen Artikulation hervorgegangen, erscheinen die Phoneme somit als die Garanten der willkürlichen Beschaffenheit des Zeichens.“ 17 Die Signifikanten sind also von den Signifikaten relativ unab‐ hängig; und diese Überlegung gilt nicht nur für die Signifikanten als einzelne Einleitung 22 18 J. Lyons, Semantics, Bd. 1, Cambridge, Cambridge Univ. Press, 1977, S. 71. phonetische Einheiten, sondern für die Gesamtheit der Signifikanten als Ausdrucksebene im Sinne von Hjelmslev. Welche Bedeutung haben diese Ausführungen nun für die Ästhetik-Dis‐ kussion? Vor allem die Erkenntnis, daß die beiden Ebenen autonom sind, weil sie spezifischen Gesetzmäßigkeiten gehorchen, hat weitreichende Folgen im Bereich der Literatur- und Kunsttheorie. Sie stellt sich allen Versuchen in den Weg, den Ausdruck auf den Inhalt, den Signifikanten auf das Signifikat und das „Wie“ auf das „Was“ zu reduzieren. Sie zieht die jahrtausendealte Platonische und hegelianische These in Zweifel, daß sich in jeder Erscheinung ein Wesen, in jeder Form eine Idee manifestiert. Sie erschwert die Reduktion des vieldeutigen Signifikanten auf ein Signifikat, des vieldeutigen Kunstwerks auf ein begriffliches System, eine Weltanschauung oder eine Ideologie. Sie stellt einen gewissen Dualismus zwischen Ausdruck und Inhalt her, den man mit Vorbehalt als „kantianisch“ bezeichnen könnte. Daß sowohl bei Hjelmslev als auch bei Martinet eine dualistische, also nicht-reduktionisti‐ sche Denkart den Ausgangspunkt bildet, ist John Lyons aufgefallen, der im ersten Band seiner Semantics schreibt: „Dualität. Was Hockett als Dualität (…) bezeichnet, wird in der Literatur auch mit Hilfe von Termini wie ‚double articulation‘ (cf. Martinet, 1949) umschrieben; und es wird allgemein als eines der Universalcharakteristika der Sprache anerkannt. Einige Gelehrte (vor allem Hjelmslev, 1953) schlugen sogar vor, es sollte aus philosophischen Gründen zu einer wesentlichen und definierenden Eigenschaft der Sprache erhoben werden.“ 18 Freilich geht es in dieser Passage nicht um die philosophische und erkenntnistheoretische Dualität im Sinne von Kant. Es kann allerdings mit einigem Recht behauptet werden, daß der philosophische Dualismus, der besagt, daß das Objekt mit der Begrifflichkeit des Subjekts nie identisch ist, von den Thesen der modernen Sprachwissenschaft in jeder Hinsicht gestärkt wird: Das vieldeutige literarische Werk geht in der begrifflichen Definition nicht auf, weil die einzelnen Signifikanten mit verschiedenen Signifikaten und die Ausdrucksebene in ihrer Gesamtheit mit verschiedenen, auch unvereinbaren begrifflichen Systemen verknüpft werden können. Mit anderen Worten: Das Kunstwerk bedeutet stets von neuem und entzieht sich dadurch der Definition. - Dies behaupten zumindest Vertreter von Theorien, die implizit oder explizit von Kants Ästhetik ausgehen 2. Inhaltsebene und Ausdrucksebene 23 19 P. Francastel, Etudes de sociologie de l‘art, Paris, Denoël-Gonthier, 1979, S. 12. Vgl. Dazu auch : O. Pächt, Methodisches zur kunsthistorischen Praxis. Ausgewählte Schriften, Wien, Prestel, 1986 (2. Aufl.), S. 234. und die bewußt, unbewußt, wohl auch halbbewußt, die Ergebnisse der Sprachwissenschaft aufgenommen haben. Die Überlegung, daß die Dualitätsthese der Sprachwissenschaftler den Dualismus der Ästhetiker und Literaturwissenschaftler bestätigt, reicht natürlich als Erklärung der Kritik an der hegelianischen Ästhetik im 20. Jahr‐ hundert nicht aus. Diese Kritik hat auch gesellschaftliche, politische und philosophische Gründe, auf die ich in nahezu allen Kapiteln eingehen will. Dennoch hat die Dualitätsthese nachhaltig auf die ästhetische Diskussion eingewirkt: Das läßt nicht nur die ästhetisierende Sprachphilosophie Derri‐ das, sondern auch die Semiotik eines Roland Barthes oder eines Umberto Eco erkennen. Sie zeigen, daß die ästhetischen Probleme der Literaturwissen‐ schaft und der Kunst allgemein nicht mehr jenseits der Sozialwissenschaften erörtert werden können. Sie bestätigen allerdings auch, daß semiotische und sprachwissenschaftliche Theorien ästhetische Dimensionen aufweisen, die nicht immer wahrgenommen werden. 3. Literarische Ästhetik Bisher war recht undifferenziert von „Literatur“ und „Kunst“ die Rede. Dies ist nicht nur für skeptische Leserinnen und Leser unbefriedigend, die erfahren möchten, wie sich Literatur von anderen Kunstformen unterscheidet, sondern auch für Semiotiker und andere Sozialwissenschaftler, die sich dessen bewußt sind, daß jede Kunstform nur als spezifisches Zeichensystem zu untersuchen ist. Mit Recht wendet sich der französische Kunstsoziologe Pierre Francastel gegen Versuche, die bildenden Künste mit einer sprachwissenschaftlichen Terminologie (Metaphorik) anzugehen und so zu tun, als wären sie den sprachlichen Kunstwerken irgendwie analog. Über unsere Epoche, die immer wieder semiotische, soziologische oder psychoanalytische Begriffe zu Modeer‐ scheinungen macht, schreibt er: „Aber sie lehnt es strikt ab, den Gedanken zu akzeptieren, daß das künstlerische Zeichen anderer Art ist als das sprachliche, das geschriebene oder gesprochene.“ 19 Der spezifische Charakter musikalischer, künstlerischer und literarischer Zeichen ist der Grund, weshalb hier die ästhetische Diskussion auf den Einleitung 24 20 Siehe z. B. R. Barthes: Mythologies, Paris, Seuil, 1957: In einem Abschnitt mit dem Titel „Le Mythe aujourdʼhui“ versucht Barthes, Hjelmslevs Semiotik (vor allem den Konnotationsbegriff) auch auf nichtverbale Kommunikationsformen - etwa auf Bilder als Mythen - anzuwenden. Die Ergebnisse lassen allerdings vermuten, daß sie auch ohne semiotische Hilfsmittel zu haben wären. 21 Siehe: M. Bense, Aesthetica, Stuttgart, Agis, 1965. 22 Siehe: Ch. Metz, Semiologie des Films, München, Fink, 1968 und ders., Essais sur la signification au cinéma, 2 Bde., Paris, Klincksieck, 1972. 23 Was Bense als „numerische“, „statistische“ oder „materiale Analyse“ bezeichnet, fällt hinter die Leistungen der zeitgenössischen Textsemiotik und Textlinguistik zurück, weil die „statistisch-materiale“ Betrachtung eher lexikologischen Charakter hat und den semantischen und narrativen Strukturen nicht Rechnung trägt. Siehe M. Bense, Die Realität der Literatur, Köln, Kiepenheuer und Witsch, 1971, S. 117. sprachlichen, den literarischen Bereich eingegrenzt wird. Zwar sind die semiotischen (semiologischen) Terminologien Saussures und Hjelmslevs häufig auf die bildenden Künste, die Werbung und andere nichtsprachliche Erscheinungen angewandt worden 20 ; ihre Anwendung hatte jedoch eher metaphorischen Charakter und führte nicht zu konkreten Ergebnissen. Daß die Anwendung sprachwissenschaftlich fundierter semiotischer Theorien (Hjelmslevs, Greimasʼ) auf die Musik oder die bildenden Künste nicht zielführend ist, zeigt die Überlegung, daß sich ein sprachliches Lexem auf phonetischer Ebene aus Phonemen, auf semantischer Ebene aus Semen zusammensetzt. Nun sind aber Töne keine Phoneme im linguistischen Sinne; sie sind auch nicht als Phoneme darstellbar: ebensowenig wie die vom Maler dargestellten Gesten oder Formen (etwa bei Piet Mondriaan) in Seme zerlegt werden können. Um zu erkennen, daß auf bestimmten Gemälden helle Farbtöne Hoffnung, Freude, Glück oder Jugend und dunkle Farbtöne Hoffnungslosigkeit, Trauer, Unglück oder Tod „konnotieren“, bedarf es keiner avancierten Semiotik. Dies bedeutet nicht, daß es eine Semiotik der bildenden Künste, des Films oder der Musik nicht geben kann. In Anlehnung an die amerikanische Semiotik von Charles S. Peirce und Charles Morris hat im deutschen Sprach‐ bereich vor allem Max Bense eine solche Kunstsemiotik entwickelt. 21 In Frankreich hat Christian Metz wesentlich zur Entfaltung einer Filmsemiotik beigetragen. 22 Gerade Benses Ansatz zeigt indessen, wie schwierig es ist, eine Terminologie zu entwickeln, die sowohl auf sprachliche als auch auf nichtsprachliche Kunstwerke anwendbar ist. 23 Denn es genügt nicht, von der Annahme auszugehen, daß ein literarischer Text ein Zeichen oder ein Zeichensystem ist, weil der Zeichenbegriff nicht geeignet ist, die Wechsel‐ 3. Literarische Ästhetik 25 24 Siehe Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S. 250, 258 und M. Bense, Aesthetica, op. cit., S. 317. Während Adorno versucht, die verdinglichenden Folgen der Arbeitsteilung im ästhetischen Bereich zu überwinden, akzeptiert Bense beziehung zwischen phonetischen, semantischen, syntaktischen und narra‐ tiven Ebenen zu erklären. Wird aber ein semiotisches Modell entwickelt, das - wie Greimasʼ strukturale Semiotik - diese Ebenen aufeinander bezieht, dann ist es aufgrund seines spezifisch sprachlichen Charakters für die Analyse von Gemälden, Radierungen oder musikalischen Kompositionen völlig ungeeignet: Der Malerei fehlen Phonetik, Syntax und Erzählstruktur im Sinne der Sprachwissenschaft und der Narrativik; ihre Semantik ist nicht die des Wortes, so daß der Semiotiker, der mit sprachwissenschaftlichen Modellen an sie herangeht, gezwungen ist, nichtverbale Zeichen in verbale zu übersetzen, und Gefahr läuft, sich in eine vage Metaphorik zu verstricken. Nur auf metaphorischer Ebene ist es möglich, von einer „musikalischen Syntax“ zu sprechen, da die zeitliche Abfolge musikalischer Kompositionen mit der phrastischen und transphrastischen (diskursiven) Syntax der Spra‐ che recht wenig zu tun hat. Dies sind die Gründe, weshalb im folgenden die ästhetische Problematik auf den literarischen Bereich eingegrenzt und der Ausdruck „literarische Ästhetik“ verwendet wird. Dieser Ausdruck trägt dem sich durchsetzen‐ den arbeitsteiligen Prinzip Rechnung sowie der Schwierigkeit, angesichts der sozialwissenschaftlichen Arbeitsteilung eine umfassende Theorie aller Kunstgattungen zu entwickeln. Gemieden wird die von Aristoteles stammende Bezeichnung „Poetik“, da die hier behandelte Problematik weit über den Bereich der „poetischen Sprache“ hinausgeht: etwa wenn es im ersten Kapitel gilt, die Beziehungen zwischen Ästhetik und Erkenntnistheorie darzustellen oder die Bedeutung der Musik für Adornos und Barthesʼ Kunsttheorien zu berücksichtigen. Der Entwurf einer umfassenden oder vergleichenden Theorie der Künste wird in diesem Buch jedoch nicht angestrebt. Daß in der gegenwärtigen Situation eine solche Theorie unmöglich ist, mußte implizit sogar der vom Totalitätsprinzip beseelte Hegel-Schüler Georg Lukács zugeben: Wer seine große Ästhetik kennt, weiß, daß es sich im Gegensatz zu den ästhetischen Systemen der Vergangenheit um eine vorwiegend literarische Ästhetik handelt, die dem arbeitsteiligen Prinzip gehorcht, ohne sich wie Adorno oder Bense explizit mit ihm auseinander‐ zusetzen. 24 Im Unterschied zu Adorno, der zumindest von zwei Kunstformen Einleitung 26 das arbeitsteilige Prinzip und plädiert für eine „fachwissenschaftliche, nicht nur philo‐ sophisch fundierte Ästhetik“. 25 G. Lukács, Ästhetik, Bd. 3, Neuwied, Darmstadt und Berlin, Luchterhand, 1972, S. 137. (der Literatur und der Musik) ausgeht, orientiert sich Lukács in seinen Argumentationen ausschließlich am literarischen Modell und neigt deshalb dazu, die Zeichensysteme der Musik oder der bildenden Künste auf das der Sprachkunst zu reduzieren. Es ist wohl kein Zufall, daß er in einem Kapitel über die moderne Musik weder auf Schönbergs Dodekaphonie noch auf Alban Berg eingeht (auch der Name Eisler wird nicht genannt), sondern nur auf Thomas Manns Adrian Leverkühn. Ihm, dem fiktiven Komponisten, stellt er Bartóks „volksnahe“ Kunst gegenüber. „Hier“, schreibt er, „wird der Gegensatz Bartóks zur modernen Leverkühnschen Art künstlerisch faßbar, zusammen mit dem Appell an Volk und Natur, der seinem Schaffen zugrunde liegt.“ 25 Fragwürdige Vergleiche dieser Art werden vermieden, wenn der Theo‐ retiker bewußt für ein bestimmtes Zeichensystem (hier das literarische, sprachliche) und die ihm entsprechenden sozialwissenschaftlichen Theorien optiert: Anthropologie, Soziologie, Semiotik etc. Deshalb wurde im vorigen Abschnitt eines der Hauptthemen dieses Buches auf semiotischer Ebene formuliert: Konkret geht es um die Frage, welche Bedeutung die sprachliche Autonomie von Ausdrucksebene und Inhaltsebene für die zeitgenössische ästhetische und literaturwissenschaftliche Diskussion hat. Zugleich läßt diese Fragestellung jedoch erkennen, daß Literaturwis‐ senschaft nicht empiristisch und positivistisch auf eine Fachwissenschaft („empirische Literaturwissenschaft“, „Kommunikationstheorie“) eingeengt werden soll: Der Ausdruck „literarische Ästhetik“ deutet zwar an, daß der Autor die sozialwissenschaftliche Arbeitsteilung und die Fachsprache ernst nimmt; er läßt aber auch erkennen, daß er nicht gewillt ist, auf philosophi‐ sche, d. h. ästhetische Reflexion zu verzichten. In diesem Zusammenhang ist die komplementäre Frage zu verstehen, die das zweite Hauptthema des Buches bildet: Welche Rolle spielt die Sprachproblematik in der Kritik an Hegels Ästhetik, die die Inhaltsebene privilegiert, und wie wirkt sie sich in kantianischen oder nietzscheanischen Ästhetiken aus? Die Verflechtung dieser beiden Fragen, die roten Fäden gleich die Argu‐ mentation durchziehen werden, soll die Darstellung einer Vielzahl von heterogenen Ansätzen (Marxismus, Formalismus, Strukturalismus, Dekon‐ struktion, Literatursoziologie) ermöglichen. Es geht hier also nicht um eine 3. Literarische Ästhetik 27 globale Analyse aller literaturwissenschaftlichen Methoden, die nur Verwir‐ rung stiften würde, sondern um die Projektion heterogener Theorien auf eine gemeinsame Problematik, die in den beiden Kernfragen zum Ausdruck kommt. So ist es beispielsweise zu erklären, daß der russische Formalismus zunächst im Zusammenhang mit dem Marxismus, anschließend im Ka‐ pitel über Bachtin und später als Vorläufer des Prager Strukturalismus behandelt wird: Es geht nicht um den Formalismus als solchen, sondern um die Einstellung der Formalisten zur Sprachproblematik und um ihre Auseinandersetzungen mit Marxismus und Hegelianismus. Theoretische Auseinandersetzung, Kritik und Polemik stehen im Mittelpunkt, und daraus ergibt sich der dialogische Charakter dieses Buches, das in den letzten beiden Kapiteln mit Entwürfen zu einer kritisch-dialogischen Literaturwissenschaft endet. Einleitung 28 I. Ästhetik und Dialektik: Zwischen Kant, Hegel und Nietzsche Ein wesentlicher Aspekt der Hegelschen Ästhetik ist ihre Heteronomie, die in Hegels Versuch zum Ausdruck kommt, die Kunst als sekundäre Erscheinung aus dem begrifflichen Denken der Philosophie abzuleiten. Dieser Versuch wurde später von europäischen und sowjetischen Marxisten wiederholt, jedoch stets von neuem von russischen Formalisten, Prager Strukturalisten, Vertretern des anglo-amerikanischen New Criticism und sogar von den Begründern der Kritischen Theorie, die in mancher Hinsicht Hegelianer geblieben waren, in Frage gestellt. Die Polemiken der Formalisten gegen den ästhetischen Hegelianismus wurden nach dem Zweiten Weltkrieg von Anhängern der französischen Semiotik, der Konstanzer Rezeptionsästhetik und der Dekonstruktion vor dem Hintergrund eines wachsenden Agnostizismus fortgesetzt und führten dazu, daß die Frage nach der Bedeutung eines literarischen Textes oder eines Kunstwerkes mit ratlosem Schulterzucken oder gar mit Irritation beantwor‐ tet wurde. Viele haben sich an den Gedanken gewöhnt, daß Kunstwerke vieldeutige Gebilde sind und daß ihre Bedeutungen bestenfalls im Verlauf der Rezeption - als nur mögliche Interpretationen oder „Konkretisationen“ - dingfest gemacht werden können. In einer Zeit, in der sich vielerorts die Dekonstruktion (nach Soziologie und Semiotik) als kommerzialisierte Mode auf institutioneller Ebene durch‐ gesetzt hat, wird die Frage nach der Bedeutung oder der Weltanschauung ei‐ nes Kunstwerks häufig als Ausdruck von Naivität gewertet. Das Wissen um Vieldeutigkeit, Bedeutungswandel und Funktionswandel der Kunstwerke wird zu einem der Gemeinplätze der Literaturwissenschaft, von denen eine beruhigende Wirkung ausgeht. Das Problem, das in seiner Radikalität gerade Jacques Derrida aufgezeigt hat, besteht jedoch darin, daß auch philosophische und wissenschaftliche Texte vieldeutig sind: daß auch sie einen Bedeutungswandel durchmachen. Da auch die Kommentare von Rezipienten und Interpretationen vieldeutig sein können (man denke an Heideggers Hölderlin-Analysen), scheint alles in Fluß zu geraten, so daß die Frage des Sozialwissenschaftlers oder Historikers nach Bedeutung und Funktion einer Verfassung oder der amerikanischen „Declaration of Independence“ gegenstandslos zu werden droht. Lassen nicht viele juristische Texte divergierende Auslegungen zu? Kon‐ kurrieren nicht zahlreiche Plato-, Kant-, Hegel- und Marx-Interpretationen miteinander? Werden die Begriffe von Parsonsʼ funktionalistischer Soziolo‐ gie nicht stets von neuem gedeutet? Wurden mit Hilfe von Marxʼ Schriften nicht Anarchie und staatlicher Totalitarismus gerechtfertigt? Angesichts solcher Fragen kann sich der Wissenschaftler, der seine Wissenschaft nicht einem dekonstruierenden Essayismus opfern will, bei Begriffen wie „Vieldeutigkeit“ und „Bedeutungswandel“ nicht beruhigen. Er möchte wissen, weshalb auch Kommentare zu vieldeutigen literarischen Texten - zu Trakls Gedichten, Sartres La Nausée oder Kafkas Der Prozeß - einander in wesentlichen Punkten bestätigen und weshalb ein Autor wie Kafka von bestimmten politischen Gruppierungen als dekadent abgelehnt, von anderen hingegen als Realist, Gesellschaftskritiker oder Prophet gefeiert wird. Wenn die punktuelle Übereinstimmung heterogener Interpretationen und die politischen Reaktionen auf Kunst und Literatur nicht als rätselhafte Zufälle schlicht übergangen werden sollen, dann stellt sich die Frage nach der Grundstruktur der Texte, auf die sich alle divergierenden Interpretationen und politischen Reaktionen beziehen. Diese Frage, die sowohl die Inhaltsals auch die Ausdrucksebene betrifft - sowie das Zusammenspiel von beiden -‚ scheint allen dekonstruktivisti‐ schen Versuchen, das Problem der Bedeutung als theoretischen Anachro‐ nismus zu verabschieden, im Wege zu stehen. Es handelt sich um ein Problem, das in abgewandelter, vorsemiotischer Form auch die Begrün‐ der der philosophischen Ästhetik (Baumgarten, Kant, Hegel) beschäftigt: Werden im Schönen bestimmte Bedeutungen artikuliert? Und: Können diese Bedeutungen vom philosophischen Diskurs auf den Begriff gebracht, begrifflich definiert werden? Während Kant diese beiden wesentlichen Fragen verneint und dadurch eine Ästhetik der künstlerischen Autonomie entwirft, meint Hegel, sie bejahen zu können. Sein Plädoyer für eine Auflösung künstlerischer Formen im begrifflichen Denken begründet eine heteronome Ästhetik, deren Kritik in allen Auseinandersetzungen um die marxistische Kunsttheorie in den Vordergrund tritt. Sowohl die russischen Formalisten als auch die Prager Strukturalisten, die New Critics und die Vertreter der deutschen Rezeption‐ sästhetik machen sich Kants zentrales Argument zu eigen, daß Kunstwerke I. Ästhetik und Dialektik: Zwischen Kant, Hegel und Nietzsche 30 1 A. G. Baumgarten, zit. nach: H. G. Peters, Die Ästhetik Alexander Gottlieb Baumgartens und ihre Beziehungen zum Ethischen, Berlin, Junker und Dünnhaupt, 1934, S. 35. 2 A. Bäumler, Kants Kritik der Urteilskraft, Bd. 1: Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts, Halle, 1923, S. 191. (Zitiert nach: H. G. Peters, op. cit., S. 33.) Siehe auch: A. Nivelle, Les Théories esthétiques en Allemagne. De Baumgarten à Kant, Paris, Société dʼEdition „Les Belles Lettres“, 1955, S. 11-13. im begrifflichen Diskurs nicht aufgehen: Sie lehnen die Hegelsche und hegelianische Heteronomie ab. Um ihre Ablehnung und Kritik konkret, d. h. im historisch-philosophi‐ schen Kontext darstellen zu können, will ich im folgenden in aller Knappheit Kants und Hegels Positionen rekonstruieren und den Zerfall der Hegelschen Position bei den Junghegelianern nachzeichnen. Aus ihm gehen agnosti‐ sche Ästhetiken hervor, die den Anspruch des begrifflich-systematischen Denkens zurückweisen und dazu neigen, die Ausdrucksebene von der In‐ haltsebene abzulösen. Ihr Agnostizismus bereitet nicht nur die Rückkehr zu Kant (etwa in Croces Ästhetik) vor, sondern antizipiert zugleich die extreme Skepsis zeitgenössischer Ansätze, deren Vertreter Begriffe wie „Wahrheits‐ gehalt“, „Sinn“ und „Bedeutung“ als metaphysisch verabschieden. 1. Von Baumgarten zu Kant: Begriff und Begriffslosigkeit der Kunst Als Schüler Christian Wolffs (1679-1754) und Philosoph der Aufklärung entwickelte Alexander Gottlieb Baumgarten (1714-1762) eine ästhetische Theorie, die in ihrem Frühstadium auf der Prämisse gründet, daß die Ästhetik eine „niedere Logik“ ist: eine Logik der sinnlichen Wahrnehmung, die der Philosoph der Aufklärung der begrifflichen Logik unterordnet. Es geht ihm darum, eine Wissenschaft zu entwerfen, die der „Verbesserung sinnlicher Erkenntnis“ 1 dient. Man würde allerdings unzulässig vereinfachen, wollte man auch das Spätwerk Baumgartens, vor allem die Aesthetica (1750), mit dieser Prämisse identifizieren. Dies versucht beispielsweise Alfred Bäumler, wenn er be‐ merkt: „Die Ästhetik ist die praktisch gewordene Logik, d. h. die Logik der Erfahrung, die Logik der unteren Vermögen.“ 2 Solchen Ansichten hält Albert Riemann entgegen, daß es in der Aesthetica nicht mehr primär - wie im Frühwerk - um die „rationale Durchdringung des Irrationalen“ geht, „weil die Forderung der Vollkommenheit der sensitiven 1. Von Baumgarten zu Kant: Begriff und Begriffslosigkeit der Kunst 31 3 A. Riemann, „Die Ästhetik A. G. Baumgartens unter besonderer Berücksichtigung der Meditationes philosophicae de nonnullis ad Poema pertinentibus nebst einer Übersetzung dieser Schrift“, Erlangen, Bausteine zur Geschichte der deutschen Literatur, Bd. 23, 1928, S. 34. 4 A. G. Baumgarten, Aesthetica, Hildesheim/ New York, Georg Olms, 1970, S. 1. Siehe auch S. 7, wo die „cognitio sensitiva“ definiert und auf die „Schönheit“ bezogen wird. 5 Meine Übersetzung. 6 Zur Entstehung des Ästhetik-Begriffs im 18. Jahrhundert und zu seinem Bedeutungs‐ wandel bei Baumgarten und Kant äußert sich ausführlich Serge Trottein: „Renaissance de l’esthétique: de Baumgarten à Kant“, in: S. Trottein (Hrsg.), L’Esthétique naît-elle au XVIII e siècle? , Paris, PUF, 2000, S. 123-129. Erkenntnis hier verknüpft ist mit dem Begriffe des Schönen, der zwar in den Meditationes noch keine Rolle spielt, der aber schon im Begriffe des Poetischen in ihnen angelegt ist“. 3 Das Schöne erscheint somit als ein Aspekt der Wirklichkeit, der dem begrifflichen Denken nicht ohne weiteres subsumierbar ist. Wie so manche andere philosophische Theorie ist die Ästhetik Baumgartens nicht auf eine Position festzulegen. Trotz dieser Akzentverschiebung, die Riemann wohl zu Recht betont, kann die Aesthetica durchaus noch als ein Text der rationalistischen Tra‐ dition gelesen werden, zumal der erste Absatz der „Prolegomena“ lautet: „Aesthetica (theoria liberalium artium, gnoseologia inferior, ars pulcre cogitandi, ars analogi rationis,) est scientia cognitionis sensitivae.“ 4 („Die Ästhetik [Theorie der schönen Künste, niedere Erkenntnislehre, die Kunst des schönen Räsonierens, die Kunst der analogisierenden Vernunft] ist die Wissenschaft des sinnlichen Erkennens.“) 5 Obwohl Baumgarten sich in seinen späteren Ausführungen die in Klam‐ mern zitierte aufklärerische Definition der Ästhetik als „niederer Erkennt‐ nislehre“ nicht zu eigen macht, hält er an der These seiner Frühschriften fest, daß das Schöne der begrifflichen Erkenntnis zugänglich ist und zum Gegenstand eines wissenschaftlichen Diskurses gemacht werden kann, da es ja selbst Mittel der cognitio sensitiva, der sinnlichen Erkenntnis, ist. In diesem entscheidenden Punkt weicht Immanuel Kant (1724-1804), der Baumgartens Begriffe des „Zwecks“ und des „Schönen“ weiterentwickelt, von Baumgarten ab. 6 In einem Abschnitt der Kritik der reinen Vernunft (1781, 1787), der die Überschrift „Die transzendentale Ästhetik“ trägt, bezweifelt Kant, daß das Schöne - er meint vor allem das Naturschöne - jemals zum Gegenstand einer „Wissenschaft“ werden kann: „Die Deutschen sind die einzigen, welche sich jetzt des Worts Ästhetik bedienen, um dadurch das zu bezeichnen, was andre Kritik des Geschmacks heißen. Es liegt hier eine I. Ästhetik und Dialektik: Zwischen Kant, Hegel und Nietzsche 32 7 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (Hrsg. W. Weischedel), Frankfurt, Suhrkamp, Werke Bd. 3, 1968, S. 70. 8 I. Kant, Kritik der Urteilskraft, (Hrsg. W. Weischedel), Frankfurt, Suhrkamp, Werke, Bd. 10, 1968, S. 281. verfehlte Hoffnung zum Grunde, die der vortreffliche Analyst Baumgarten faßte, die kritische Beurteilung des Schönen unter Vernunftprinzipien zu bringen, und die Regeln derselben zur Wissenschaft zu erheben. Allein diese Bemühung ist vergeblich. Denn gedachte Regeln, oder Kriterien, sind ihren vornehmsten Quellen nach bloß empirisch, und können also niemals zu bestimmten Gesetzen a priori dienen, wonach sich unser Geschmacksurteil richten müßte, vielmehr macht das letztere den eigentlichen Probierstein der Richtigkeit der ersteren aus.“ 7 Kant geht also nicht von der begrifflichen Erkenntnis des Schönen aus, sondern vom Problem des Geschmacksurteils, dem auf den ersten Blick eine Antinomie zugrunde liegt: Ästhetische Werturteile weisen widersprüchliche Aspekte auf, weil sie einerseits mit dem partikularen Geschmack verquickt sind, andererseits jedoch Allgemeingültigkeit beanspruchen. De gustibus non est disputandum ist zwar ein Gemeinplatz des Alltags, der von fast allen anerkannt wird; fast alle sind sich aber in ihrer Bewunderung von Cervantesʼ Don Quijote oder von Beethovens Neunter Symphonie einig. Aus dieser Tatsache ergibt sich für Kant die vielzitierte „Antinomie des ästhetischen Urteils“. Während die These besagt, daß ästhetische Geschmacksurteile nicht auf Begriffen gründen, da sie sonst beweisbar oder widerlegbar wären, lautet die Antithese, daß Geschmacksurteile sehr wohl auf Begriffen gründen, da es andernfalls weder Widersprüche noch Übereinstimmungen zwischen ihnen geben könnte: Es wäre nicht einmal möglich, Geschmacksurteile aufeinander zu beziehen. Bekanntlich löst Kant diese Antinomie auf, indem er in der Kritik der Ur‐ teilskraft (1790) die These aufstellt, daß die Begrifflichkeit des Geschmacks‐ urteils eine unbestimmte Begrifflichkeit ist, weil das Schöne nicht mit bestimmten, definierbaren Begriffen zu identifizieren ist: „Nun fällt aber aller Widerspruch weg, wenn ich sage: das Geschmacksurteil gründet sich auf einem Begriffe (…), aus dem aber nichts in Ansehung des Objekts erkannt und bewiesen werden kann, weil er an sich unbestimmbar und zur Erkenntnis untauglich ist; es bekommt aber durch eben denselben doch zugleich Gültigkeit für jedermann (…).“ 8 Die Antinomie kann also 1. Von Baumgarten zu Kant: Begriff und Begriffslosigkeit der Kunst 33 9 Ibid., S. 115. 10 Siehe: R. Wiehl, „Prozesse und Kontraste“ in: Kant oder Hegel? - Über Formen der Begründung in der Philosophie (Hrsg. D. Henrich), Stuttgart, Klett-Cotta, 1983, S. 562: „Es ist gut, sich hier zu erinnern, daß Kants Lehre von der reflektierenden Urteilskraft die Möglichkeit einer Wissenschaft vom Schönen ausdrücklich verneint (…).“ Siehe auch: A. Model, Metaphysik und reflektierende Urteilskraft bei Kant. Untersuchungen zur Transformierung des leibnizschen Monadenbegrjffs in der „Kritik der Urteilskraft“, Frankfurt, Athenäum, 1987, S. 249, wo der Autor den Gegensatz zwischen Kants Ästhetik und der des Rationalismus hervorhebt: „Kants Beharren auf dem Sinnlichen als einem notwendigen, unverzichtbaren Bestandteil des Schönen kompromittiert zuallererst den Rationalismus der Leibniz-Wolffischen Schule und deren unpräzisen Begriff von Sinnlichkeit (…).“ 11 I. Kant, Kritik der Urteilskraft, op. cit., S. 249-250. als Scheinwiderspruch aufgelöst werden, weil These und Antithese koexis‐ tieren können: Das ästhetische Urteil kann zwar nicht die Form einer spezifischen Begrifflichkeit (einer Definition) annehmen; es erhebt aber den Anspruch auf Allgemeingültigkeit und nimmt dadurch begrifflichen Charakter an. Kant ist weit vom frühen Baumgarten entfernt, wenn er gleich zu Be‐ ginn seiner Kritik der Urteilskraft einen Gegensatz zwischen logischer und ästhetischer Erkenntnis postuliert: „Das Geschmacksurteil ist also kein Erkenntnisurteil, mithin nicht logisch, sondern ästhetisch, worunter man dasjenige versteht, dessen Bestimmungsgrund nicht anders als subjektiv sein kann.“ 9 Die Ästhetik kann deshalb keine „niedere Form der Logik“ sein, weil ihr Gegenstand sich von dem der Logik qualitativ unterscheidet: Er liegt jenseits der begrifflichen Erkenntnis und ist schon aus diesem Grunde gegen den didaktischen Utilitarismus der Aufklärung (etwa Gottscheds) als Zweckmäßigkeit ohne Zweck aufzufassen und als Gegenstand eines interesselosen Wohlgefallens zu bestimmen. 10 Das Spannungsverhältnis zwischen begrifflicher und nichtbegrifflicher Darstellung wird von Kant an einer anderen Stelle verdeutlicht, wo er zwischen ästhetischen Ideen und Vernunftideen unterscheidet und zeigt, daß die einen nicht in die Sprache der anderen übersetzbar sind: „(…) Unter einer ästhetischen Idee aber verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungs‐ kraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgendein Gedanke, d. i. Begriff, adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann.“ 11 Sie ist, sagt Kant, das Gegenstück zu einer Vernunftidee, die als Begriff durch keine Anschauung oder Vorstellung der Einbildungskraft zu ersetzen ist. Ein Farbenspiel kann nicht durch einen I. Ästhetik und Dialektik: Zwischen Kant, Hegel und Nietzsche 34 12 Ibid., S. 251. 13 Siehe: P. Laska, „Kant and Hegel on Practical Reason“, in: Hegel and the History of Philosophy (Proceedings of the 1972 Hegel Society of America Conference), Hrsg. J. J. OʼMalley, K. W. Algozin, F. G. Weiss, Den Haag, Nijhoff, 1974, S. 140. Begriff oder eine logische Formel wiedergegeben werden; eine logische Formel oder eine Ableitung aus der Integralrechnung ist wiederum nicht mit Hilfe von Farben oder Klängen darstellbar. Die ästhetische Darstellung geht laut Kant über die logisch-begriffliche hinaus, weil sie nicht eindeutig etwas bezeichnet, denotiert, sondern zahl‐ reiche miteinander „verwandte Vorstellungen“ evoziert, „die mehr denken lassen, als man in einem durch Worte bestimmten Begriff ausdrücken kann (…)“. 12 Der zeitgenössische Semiotiker würde sagen, daß die künstlerische Darstellung eher konnotativen als denotativen Charakter hat (vgl. Kap. 7) und daß Kants dualistische Erklärung der Tatsache Rechnung trägt, daß im ästhetischen Bereich die Ausdrucksebene nicht auf die Inhaltsebene reduziert werden kann. Kantianische Skepsis einer Kunsttheorie oder Kunstwissenschaft gegen‐ über, die Kunstwerke mit begrifflichen Äquivalenten identifiziert und die Kunst insgesamt als „niedere Erkenntnisform oder Logik“ zu einer ancilla philosophiae degradiert, ist nicht unabhängig von Kants Erkenntnistheorie zu verstehen. Auf sie, die alljährlich zum Gegenstand zahlreicher Abhand‐ lungen wird, kann ich hier nicht ausführlich eingehen. Es erscheint mir jedoch notwendig, darauf hinzuweisen, daß Kants - wie ich meine durchaus gerechtfertigter - Agnostizismus im ästhetischen Bereich aus der systema‐ tischen Skepsis seiner Erkenntnistheorie ableitbar ist. Es ist ganz zu Recht immer wieder betont worden, daß Kant insofern von der Autonomie des Objekts, der „empirischen Wirklichkeit“ 13 , ausgeht, als er sich weigert, die Gegenstände des menschlichen Denkens mit diesem zu identifizieren. Das subjektive Denken ist begrenzt, da es die Gegenstände nur als seine Gegenstände, d. h. als Erscheinungen, nicht jedoch als „Dinge an sich“ (als „Noumena“ im Sinne von Plato) erkennen kann. Sogar Raum und Zeit als a priori gegebene formale Bedingungen des Erkennens und als Grundlagen der transzendentalen Subjektivität können nicht in die Wirklichkeit hineinprojiziert werden; auch sie wohnen den Objekten nicht inne, sondern sind Universalbedingungen subjektiver Er‐ kenntnis. Dazu heißt es in der Kritik der reinen Vernunft, die als ein großangelegter Versuch gelesen werden könnte, die Grenzen menschlichen 1. Von Baumgarten zu Kant: Begriff und Begriffslosigkeit der Kunst 35 14 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, op. cit., S. 82. 15 J. E. Smith, „Hegelʼs Critique of Kant“, in: Hegel and the History of Philosophy, op. cit., S. 118. 16 Siehe: G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, Bd. 1, Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S. 84: „(…) Aber auch hier bleibt er wieder beim Gegensatz des Subjektiven und der Objektivität stehen (…).“ Denkens abzustecken: „Dagegen bestreiten wir der Zeit allen Anspruch auf absolute Realität, da sie nämlich, auch ohne auf die Form unserer sinnlichen Anschauung Rücksicht zu nehmen, schlechthin den Dingen als Bedingung oder Eigenschaft anhinge. Solche Eigenschaften, die den Dingen an sich zukommen, können uns durch die Sinne auch niemals gegeben werden. Hierin besteht also die transzendentale Idealität der Zeit (…).“ 14 Diese Überlegungen sind in dem hier entworfenen Kontext deshalb wich‐ tig, weil Hegel, wie sich zeigen wird, versucht, die Kantische Begrenzung der Erkenntnis sowie den Dualismus zwischen Subjekt und Objekt aufzuheben. Im Gegensatz zu Kant ist Hegel, wie John E. Smith zu Recht bemerkt, ein „Realist“, weil er von der Annahme ausgeht, daß subjektives Denken und objektive Beschaffenheit übereinstimmen: „Was wir erkennen, das sind die Dinge selbst, ihre Eigenschaften, Einheiten und Beziehungen.“ 15 Im ästhetischen Bereich hat dieser Gegensatz weitreichende Folgen: Denn in Übereinstimmung mit seiner Erkenntnistheorie und seiner Kritik an Kant 16 muß Hegel von dem Gedanken ausgehen, daß auch Kunstgegen‐ stände als solche, in ihrer objektiven Beschaffenheit, erkennbar, erfaßbar sind. Das Kantische Paradoxon, daß die Kunst „es sagt und doch nicht sagt“ (Adorno), daß Kunstwerke zum Nachdenken reizen, ohne im Gedanken aufzugehen, ohne begrifflich eindeutig bestimmbar zu sein, wird bei Hegel aufgelöst: Erkennen und Wirklichkeit, Denken und Sein, Subjekt und Objekt verschmelzen zu einer Einheit, werden identisch. Die Vorherrschaft des Begriffs hat schließlich zur Folge, daß das Schöne bei Hegel mit dem menschlichen Artefakt, dem Kunstwerk, identifiziert wird. Während Kant Schönheit noch weitgehend mit dem Naturschönen verknüpfte, wird dieses bei Hegel zu einer unselbständigen, weil aus der Kunst (d. h. der menschlichen Arbeit) ableitbaren Erscheinung. Auch darin kommt die Herrschaft des Subjekts über das Objekt, des Begriffs über die Natur zum Ausdruck. I. Ästhetik und Dialektik: Zwischen Kant, Hegel und Nietzsche 36 17 Siehe: G. W. F. Hegel, op. cit., S. 89, wo Hegel Schiller lobt, weil dieser versucht habe, zwischen künstlerischer Erscheinung und begrifflicher Wahrheit zu vermitteln. 18 V. Hösle, Hegels System. Der Idealismus der Subjektivität und das Problem der Intersub‐ jektivität, Bd. 1: Systementwicklung und Logik, Hamburg, Felix Meiner, 1987, S. 162-163. 19 Siehe: K. Marx, „Kritik der Hegelschen Staatsphilosophie“, in: ders., Die Frühschriften. Von 1837 bis zum Manifest der kommunistischen Partei 1848 (Hrsg. S. Landshut), Stuttgart, Kröner, 1971, S. 71-72. 2. Dialektik und Ästhetik bei Hegel: Die Herrschaft des Begriffs Zusammen mit dem „Ding an sich“ wird bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) der Kantische Hiatus zwischen Subjekt und Objekt historisch-dialektisch aufgehoben. 17 Die dialektische, die begriffliche Logik wird von ihm in die Wirklichkeit selbst, d. h. ins Objekt hineinprojiziert. Der dialektische Widerspruch, von dem er sowohl in der Phänomenologie des Geistes (1807) als auch in der Wissenschaft der Logik (1812-1816) aus‐ geht, ist nicht nur ein Charakteristikum des Denkens, sondern wohnt der Wirklichkeit selbst inne: Die Welt als solche ist widersprüchlich, so daß der dialektische Widerspruch nicht nur zum Motor des Denkens, sondern der gesamten historischen Entwicklung wird. Zu Recht bemerkt Vittorio Hösle im Zusammenhang mit dem Subjekt-Ob‐ jekt-Verhältnis und dem Widerspruchsproblem: „Aber Hegel vertritt dar‐ über hinaus die sicher ungewöhnliche Auffassung, daß nicht nur Theorien, sondern daß sich auch logische Kategorien und reale Gegenstände der natürlichen und geistigen Welt widersprechen, ja daß sich (fast) alles, was ist, widerspricht.“  18 Der Widerspruch existiert also nicht nur (wie bei Kant) in der Welt der subjektiven Erkenntnis, sondern ist im Objekt selbst angelegt und wird zu einer Eigenschaft des Realen. Wenn nun Hegel von der Annahme ausgeht, daß das Denken in der Wirklichkeit selbst zum Ausdruck kommt und daß die historische Ent‐ wicklung als Selbstverwirklichung der Idee aufzufassen ist, dann muß er auch annehmen, daß seine philosophisch-systematische Aufhebung der Widersprüche einer realen Bewältigung der historischen und sozialen An‐ tinomien gleichkommt. Anders ausgedrückt: Die systematische Darstellung der Wirklichkeit durch das hegelianische Subjekt ist mit dieser Wirklichkeit identisch. Später wird deutlich, wie sich dieses „Identitätsdenken“ (Adorno, Horkheimer), das Marx als einer der ersten Hegel zum Vorwurf machte 19 , auf die ästhetische Theorie auswirkt. 2. Dialektik und Ästhetik bei Hegel: Die Herrschaft des Begriffs 37 20 Siehe: G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, Bd. 1, Frankfurt, Suhrkamp, 1969, S. 42-43. 21 Ibid., S. 49. 22 Siehe: B. Russell, „Hegel“, in: ders., History of Western Philosophy, London, Allen & Unwin, 1946, S. 714. 23 Siehe: D. Dubarle, A. Doz, Logique et dialectique, Paris, Larousse, 1972, S. 82: „Ceci permet, semble-t-il, de comprendre quʼil nʼy a point opposition entre la reconnaissance dʼun caractère libre au Concept lui-même, à son développement dialectique ainsi quʼaux résultats de celui-ci, et lʼaffirmation dʼune possibilité de logique mathématique à son propos.“ Vorerst möchte ich in aller Knappheit auf Hegels Dialektik und Erkennt‐ nislehre eingehen, um zu zeigen, wie aus der Bewältigung oder Aufhebung des dialektischen Widerspruchs ein geschlossenes historisches System her‐ vorgeht, an dessen Ende die absolute Idee steht. Denn dieses System, das nichts außerhalb seiner selbst beläßt 20 , bildet nicht nur die Grundlage der mit sich selbst identischen Subjektivität, sondern liegt auch Hegels Ästhetik zugrunde, in der das Kunstwerk auf den Begriff gebracht und mit dem Geist identifiziert wird. Sofern sie über den Widerspruch hinausgeht, ihn in der Synthese aufhebt, kann Hegels Dialektik als positiv bezeichnet werden: Sie verharrt nicht in der Negativität der Antinomie, sondern verwendet diese für die Konstruk‐ tion des begrifflichen Systems. Denn der Widerspruch löst sich nicht im abstrakten Nichts auf; seine Terme heben sich nicht gegenseitig in einer extremen Ambivalenz oder gar Indifferenz auf, sondern negieren einander in ganz bestimmten Aspekten. Hegel spricht deshalb von einer bestimmten Negation, die einen Inhalt hat. Von ihr heißt es in der Wissenschaft der Logik: „Sie ist ein neuer Begriff, aber der höhere, reichere Begriff als der vorhergehende; denn sie ist um dessen Negation oder Entgegengesetztes reicher geworden, enthält ihn also, aber auch mehr als ihn, und ist die Einheit seiner und seines Entgegengesetz‐ ten. - In diesem Wege hat sich das System der Begriffe überhaupt zu bilden - und in unaufhaltsamem, reinem, von außen nichts hereinnehmendem Gange sich zu vollenden.“ 21 In dieser Passage wird auch dem Nichthegelianer klar, daß es sich nicht um eine propositionale, sondern um eine Begriffslogik handelt; daß also Hegels Dialektik nicht vom Standpunkt der formalen Logik, die den dialek‐ tischen Widerspruch nicht kennt, kritisiert oder gar widerlegt werden kann. Dies haben im Gegensatz zu Bertrand Russell 22 die beiden französischen Autoren Dominique Dubarle und André Doz deutlich erkannt. 23 I. Ästhetik und Dialektik: Zwischen Kant, Hegel und Nietzsche 38 24 Siehe: I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, op. cit., S. 83-84. 25 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S. 24. 26 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, Bd. 1, op. cit., S. 42. 27 Ibid., Bd. 2, S. 549. 28 Zum Problem der Antinomie bei Hegel siehe: Th. Kesselring, Die Produktivität der Antinomie. Hegels Dialektik im Lichte der genetischen Erkenntnistheorie und der formalen Logik, Frankfurt, Suhrkamp, 1984, S. 127. Mit Recht bemerkt Kesselring zur Hegelschen Antinomie: „Die neu entstehende gehört einer höheren Stufe an als die aufgelöste.“ (Schon dieser zeitlich-kumulative Charakter der dialektischen Antinomie unterscheidet Analog zum begrifflichen Widerspruch wird der Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt, den Kant sorgfältig bewahrt 24 , in stets neuen Synthesen aufgehoben, bis das totale, absolute Wissen erreicht ist und das Wesen erscheint. Wie sehr das absolute Wissen als mit sich selbst identisches Subjekt mit der Kategorie der Totalität zusammenhängt, wird in der be‐ kannten Passage aus der Phänomenologie des Geistes verdeutlicht, in der Hegel Totalität, Wahrheit und Absolutes miteinander verknüpft: „Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, daß es wesentlich Resultat, daß es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin eben besteht seine Natur, Wirkliches, Subjekt oder Sichselbstwerden zu sein.“ 25 Das Absolute oder die Wahrheit erscheint also erst als Abschluß des logischen, phänomenologischen oder historischen Prozesses, an dessen Ende auch das System vollendet ist (s. o.). In einem Kommentar zur Phänomenologie des Geistes faßt Hegel den Werdegang des Bewußtseins (der Subjektivität) und des Systems in einem Satz zusammen: „In der Phänomenologie des Geistes habe ich das Bewußtsein in seiner Fortbewegung von dem ersten unmittelbaren Gegensatz seiner und des Gegenstandes bis zum absoluten Wissen dargestellt.“ 26 Hier zeigt sich, daß der Grundwiderspruch, nämlich der Gegensatz zwi‐ schen Subjekt und Objekt, zwischen Bewußtsein und Sein, durch eine immer vollkommener werdende Erkenntnis überwunden werden soll, die in der absoluten Idee gipfelt. Über sie schreibt Hegel am Ende der Wissenschaft der Logik, ihr allein komme Wirklichkeit zu, sie allein sei „Sein, unvergängliches Leben, sich wissende Wahrheit und (…) alle Wahrheit“.  27 Aus diesem Kontext geht hervor, daß die absolute Idee durch die systematische Selbstreflexion des historischen Subjekts zustande kommt, das sich schließlich mit der Wirklichkeit identifiziert und versöhnt, nachdem es alle Antinomien und Entfremdungen hinter sich gelassen hat. 28 2. Dialektik und Ästhetik bei Hegel: Die Herrschaft des Begriffs 39 sie grundsätzlich vom logischen Widerspruch, der nicht aufzulösen ist und auch keine „höheren“ Widersprüche zeitigt.) 29 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, Bd. 2, op. cit., S. 549. 30 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, Bd. 1, op. cit., S. 456. Daß die absolute Idee primär philosophischen Charakter hat und sowohl Kunst als auch Religion als niedere Erkenntnisarten in sich aufnimmt, wird einige Zeilen später klar: „(…) Die Philosophie hat mit Kunst und Religion denselben Inhalt und denselben Zweck, aber sie ist die höchste Weise, die absolute Idee zu erfassen, weil ihre Weise, die höchste, der Begriff ist.“ 29 Dieses logozentrische Werturteil läßt die Haupttendenz der Hegelschen Philosophie und Ästhetik erkennen: Immer wieder soll nachgewiesen wer‐ den, daß das begrifflich-systematische Denken der Philosophie Religion und Kunst in sich aufgenommen und aufgehoben hat. So ist es zu erklären, daß Hegel in seinen Vorlesungen über die Ästhetik (1835) drei historische Entwicklungsstadien der Kunst unterscheidet: das symbolische, das griechisch-klassische und das christlich-romantische, von denen das dritte und höchste Stadium eine Annäherung der Kunst an die Philosophie, an das begriffliche Denken ankündigt. Ich möchte in einem ersten Schritt Hegels Darstellung dieser drei Stadien kommentieren, um anschließend auf seine Beschreibung des Verhältnisses von Philosophie und Kunst (von Philosophie und Literatur) einzugehen. Es wird sich zeigen, daß der Logozentrismus nicht nur den allgemeinen und spezifischen Definitionen des Kunstwerks, sondern auch dem historischen Schema zugrunde liegt, das im Gegensatz zur Kantschen Philosophie die Selbständigkeit der Natur und des Naturschönen negiert: Schönheit ist nur als geistige denkbar. Die „symbolische Kunstform“, die von Hegel vorwiegend mit der Archi‐ tektur der indischen, persischen und ägyptischen Antike identifiziert wird („Ägypten ist das Land des Symbols“) 30 , ist unvollkommen, weil in ihr Bild und Bedeutung noch auseinanderklaffen. Die Ornamente der indischen, persischen und ägyptischen Bauwerke drücken nicht eindeutig Gedanken aus, und ihre Vieldeutigkeit, Rätselhaftigkeit wird von Hegel als Mangel, als „Stummheit“ des Geistes gedeutet. Von den Kunstwerken der alten Ägypter, deren Welt noch stärker als die der Inder vom großen Bauwerk beherrscht wird, heißt es: „Ihre Werke aber bleiben geheimnisvoll und stumm, klanglos und unbewegt, weil hier der Geist selber noch sein eigenes inneres Leben I. Ästhetik und Dialektik: Zwischen Kant, Hegel und Nietzsche 40 31 Ibid., S. 457. 32 Ibid., S. 408. 33 Ibid., S. 401. 34 Ibid., S. 83-87. 35 Siehe: M. Jay, Marxism and Totality. The Adventures of a Concept from Lukács to Habermas, Berkeley-Los Angeles, University of California Press, 1984, S. 53-60 und S. 81-127. nicht wahrhaft gefunden hat und noch die klare und helle Sprache des Geistes nicht zu reden versteht.“ 31 Die Frage, ob die Einschätzung der ägyptischen Baukunst als „geheimnis‐ voll“ nicht auf Hegels mangelnde historische und archäologische Kenntnisse zurückzuführen sei, soll hier nicht erörtert werden. Für meine Argumenta‐ tion ist entscheidend, daß Hegel Kunstwerke, die nicht eindeutig Ideen ausdrücken und deshalb nicht auf Begriffe festlegbar sind, für unvollkommen hält. So ist es zu erklären, daß die symbolische Kunstform lediglich als Vorkunst  32 eingestuft wird, die an ihrem Grundwiderspruch, am Auseinan‐ dertreten von Inhalt und Form, von Begriff und Bild, zugrunde geht und in der klassischen Kunst der Griechen aufgehoben wird. Die Bedeutung der klassischen, der griechischen Kunst, in deren Mittel‐ punkt laut Hegel die Skulptur steht, ist in der Kongruenz von Erscheinung und Begriff zu suchen: „Klar nämlich ist das klassische Ideal dadurch, daß es den wahren Inhalt der Kunst, d. i. die substantielle Subjektivität erfaßt und damit eben auch die wahre Gestalt findet, die an sich selbst nichts anderes ausspricht als jenen echten Inhalt, so daß also der Sinn, die Bedeutung keine andere ist als diejenige, welche in der äußeren Gestalt wirklich liegt, indem sich beide Seiten vollendet entsprechen; während im Symbolischen, im Gleichnis usf. das Bild immer noch etwas anderes vorstellt als nur die Bedeutung, für welche es das Bild abgibt.“ 33 Diese wichtige Passage drückt nicht nur die Bewunderung und die Vor‐ urteile der deutschen Klassiker der griechischen Antike gegenüber, sondern auch die klassizistische Definition des Kunstwerks als einer harmonischen und eindeutig bestimmbaren (monosemen) Totalität aus. Die Definition ist in zweierlei Hinsicht wichtig: Einerseits läßt sie den Abstand zu Kants Ästhetik erkennen, der Hegel vorwirft, sie habe „Sinnlichkeit“ und „Begriff “ auseinanderfallen lassen 34 ; sie antizipiert andererseits die marxistischen Ästhetiken des 20. Jahrhunderts, von denen sich viele (nicht alle), wie Martin Jay richtig gesehen hat 35 , an Hegels Kategorie der Totalität und an seinem Eindeutigkeits- oder Monosemiepostulat orientieren. Im zweiten 2. Dialektik und Ästhetik bei Hegel: Die Herrschaft des Begriffs 41 36 Ibid., S. 140. 37 Ibid. 38 Zur Teleologie des Hegelschen Diskurses siehe: E. Bloch, „Hegel und die Gewalt des Systems“ in: ders., Über Methode und System bei Hegel, Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S. 82-83. 39 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, Bd. 2, op. cit., S. 142. Kapitel wird sich zeigen, daß im Marxismus und vor allem im sozialistischen Realismus dieses Postulat eine politisch-didaktische Funktion erfüllt. Zweideutig sind Hegels Darstellungen des dritten und letzten Entwick‐ lungsstadiums der Kunst, das er als „romantisch“ bezeichnet. Diese Bezeich‐ nung entspricht nicht der europäischen Romantik als literarisch-künstleri‐ scher Periode (etwa im Sinne der Literaturgeschichte), sondern bezieht sich auf die Kunst des gesamten christlichen Zeitalters: des „Mittelalters“ und der „Neuzeit“, der feudalen und der bürgerlichen Ära. In dieser Kunstform zerfällt zwar die klassische Einheit von geistigem Inhalt und materieller Form, die laut Hegel am klarsten in der griechischen Skulptur zum Ausdruck kommt; aber ihre Nähe zum wissenschaftlichen Geist der Philosophie, zum begrifflichen Denken, gestattet es ihm, im Zusammenhang mit der „Romantik“ von einer „Erhebung des Geistes zu sich“ zu sprechen. Diese „Erhebung“ als Vergeistigung der Kunst wird nicht nur durch ein Auseinandertreten von Inhalt und Form, sondern auch von Innerlichkeit und Äußerlichkeit erkauft: „Das äußerlich Erscheinende vermag die Inner‐ lichkeit nicht mehr auszudrücken (…).“ 36 Insofern geht die romantische Kunstform aus dem Zerfall des klassischen Ideals hervor, in dem „der Geist die empirische Erscheinung (…) durchdrang“. 37 Zugleich steht sie jedoch aufgrund ihrer Vergeistigung auf einer höheren historischen Entwicklungs‐ stufe als die symbolische oder die klassische Kunst. An dieser Stelle tritt nicht nur der teleologische Charakter des Hegelschen Diskurses zutage 38 , sondern es zeigt sich auch, daß der eigentliche histori‐ sche Auftrag der Kunst darin besteht, sich dem Geist, dem begrifflichen Denken, zu nähern, um schließlich in ihm aufzugehen. Hegel formuliert diesen Gedanken sehr klar: „Dadurch erhalten wir als Endpunkt des Roman‐ tischen überhaupt die Zufälligkeit des Äußeren wie des Inneren und ein Auseinanderfallen dieser Seiten, durch welches die Kunst selbst sich aufhebt und die Notwendigkeit für das Bewußtsein zeigt, sich höhere Formen, als die Kunst sie zu bieten imstande ist, für das Erfassen des Wahren zu erwerben.“ 39 Damit ist die Unterordnung der Kunst unter das begriffliche I. Ästhetik und Dialektik: Zwischen Kant, Hegel und Nietzsche 42 40 Zum Thema „Ende der Kunst“ vgl. G. Seubold, Das Ende der Kunst und der Paradigmen‐ wechsel in der Ästhetik, Freiburg-München, Alber, 1998 (2. Aufl.) sowie E. Geulen, Das Ende der Kunst. Lesarten eines Gerüchts nach Hegel, Frankfurt, Suhrkamp, 2002. 41 Ibid., S. 141. 42 Ibid., Bd. 3, S. 234. 43 K. Well, Die „schöne Seele“ und ihre „sittliche Wirklichkeit“. Überlegungen zum Verhältnis von Kunst und Staat bei Hegel, Frankfurt-Bern-New York, Peter Lang, 1986, S. 123. Denken vollzogen, und die bekannte These vom Ende der Kunst erscheint plausibel. 40 Diese Unterordnung tritt am deutlichsten in Hegels Abhandlungen über die Literatur in Erscheinung, in denen die Lyrik als wichtigste Gattung der romantischen Ära eine zentrale Stellung einnimmt: „Das Lyrische ist für die romantische Kunst gleichsam der elementarische Grundzug (…). 41 Gerade in der Dichtung löst sich nach Hegel die Kunst in der wissenschaftlichen Prosa auf, denn die Poesie wird in den Vorlesungen „als diejenige besondere Kunst“ definiert, „an welcher zugleich die Kunst selbst sich aufzulösen beginnt und für das philosophische Erkennen ihren Übergangspunkt zur religiösen Vorstellung als solcher sowie zur Prosa des wissenschaftlichen Denkens erhält“. 42 Selbst wenn man an dieser Stelle Dissens anmeldet, so sollte man dafür sorgen, daß die Kritik nicht auf Mißverständnissen gründet. Hegel hat natürlich recht, wenn er behauptet, das sprachliche Medium verbinde die Dichtung mit der Philosophie (der „wissenschaftlichen Prosa“) und unterscheide sie qualitativ von der Baukunst, der Skulptur, der Malerei und der Musik. Fragwürdig sind freilich seine gesamte Periodisierung sowie sein Versuch, einer jeden Epoche eine herrschende Kunstform (Baukunst, Skulptur, Dichtung) zuzuordnen. Ebenso fragwürdig scheint mir seine These zu sein, die Poesie weise über sich hinaus: auf die Sprache der Wissenschaft oder Philosophie. Mit Recht bemerkt in diesem Zusammenhang Karlheinz Well, „Kunst (werde) damit bestimmt als Vorform von wissenschaftlich-phi‐ losophischer Reflexion, in die sie sich endlich auflösen wird“. 43 Hegels These ist nur dann zu verteidigen, wenn man sich über die Autonomie der Ausdrucksebene (im Sinne von Hjelmslev) hinwegsetzt und die gesamte Problematik der Dichtung auf die Inhaltsebene, die Ebene der Signifikate, reduziert. Daß Hegel gerade dies tut, läßt recht eindeutig die folgende Passage aus den Vorlesungen erkennen: „Deshalb bleibt es auch für das eigentlich Poetische gleichgültig, ob ein Dichtwerk gelesen oder angehört wird, und es kann auch ohne wesentliche Verkümmerung seines 2. Dialektik und Ästhetik bei Hegel: Die Herrschaft des Begriffs 43 44 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, Bd. 3, op. cit., S. 229-230. 45 Ibid., S. 228. Wertes in andere Sprachen übersetzt, aus gebundener in ungebundene Rede übertragen und somit in ganz andere Verhältnisse des Tönens gebracht werden.“ 44 Auch dieser Satz, der die meisten zeitgenössischen Literaturwissenschaft‐ ler vor den Kopf stoßen würde, sollte im Kontext gelesen werden: Hegel unterscheidet die Dichtung von der Musik, der Skulptur und der Malerei und behauptet, daß dort, wo das sinnliche Material (Ton, Marmor, Farbe) durch Geistiges, durch Sprachliches ersetzt wird, die Kunst in begriffliches Denken übergeht. Hier zeigt sich, daß jeder Diskurs nur so klug ist wie die Definitionen und Klassifikationen, von denen er ausgeht: Vom Standpunkt der zeitge‐ nössischen Literaturwissenschaft, die sich auf den sprachlichen Bereich spezialisiert hat und sich nur in Ausnahmefällen auch mit anderen Kunst‐ formen befaßt, erscheint gerade der Unterschied zwischen der poetischen und der kommunikativen (oder wissenschaftlichen) Sprache als bedeutsam. Ihre Vertreter werden Hegel vorwerfen, daß er die Eigengesetzlichkeit der Ausdrucksebene außer acht läßt und die Wechselbeziehung zwischen Signifikanten und Signifikaten, die für die Vieldeutigkeit literarischer Texte verantwortlich ist, nicht versteht. Wie könnte er sonst annehmen, daß Gedichte keine Einbußen erleiden, wenn sie in andere Sprachen übersetzt oder in andere Diskurse übertragen werden? Am Ende dieses Kapitels wird sich zeigen, daß Benedetto Croce die Antithese aufstellt und behauptet, daß Gedichte überhaupt nicht übersetzt werden können: Nur den Ausdruck „Nachdichtung“ läßt er gelten. Der Gegensatz zwischen den beiden extremen Positionen Croces und Hegels läßt bereits vermuten, daß das ästhetische und literaturwissenschaft‐ liche Pendel unablässig zwischen dem Pol der Inhaltsebene und dem Pol der Ausdruckebene, zwischen begrifflicher Eindeutigkeit und der Vieldeutigkeit der Signifikanten schwingt. Deshalb schien es mir in diesem Abschnitt wichtig, auf Hegels umstrittene These einzugehen, der zufolge in der Dichtung - anders als in der Musik - der Klang sekundär ist und das Wort „zum bloß äußeren Zeichen der Mitteilung herabsink(t)“, d. h. „aus einem Selbstzwecke zu einem für sich selbständigkeitslosen Mittel geistiger Äußerung“ 45 wird. I. Ästhetik und Dialektik: Zwischen Kant, Hegel und Nietzsche 44 Diesen Ansichten widersprechen nicht nur Friedrich Schlegel, Croce und Nietzsche, sondern auch die russischen Formalisten, die Prager Struk‐ turalisten und zeitgenössische Vertreter der Dekonstruktion, die Schlegels Romantik und Nietzsches Destruktion der Metaphysik mit anderen Mitteln fortsetzen (vgl. Kap. VIII). Unzählige Male stießen sie in Diskussionen mit Marxisten, Vertretern der Kritischen Theorie und Semiotikern zusammen, die die Vieldeutigkeit (Polysemie) literarischer Texte für einen ideologischen Mangel (Lukács, Kofler), für eine Teilwahrheit (Adorno) oder für oberfläch‐ lichen Schein (Greimas) halten. Zur Zeit scheint das Pendel wieder zum Pol der Ausdrucksebene und zur Vieldeutigkeit hin auszuschlagen. Es kommt nicht darauf an, ihm zu folgen, sondern seine Bewegung zu erklären. 3. Der Zerfall der Hegelschen Ästhetik bei den Junghegelianern Die Erklärung der Pendelschwingung kann sich - soweit sie überhaupt möglich ist - nicht auf den ästhetischen Bereich beschränken. Sie kann nur in einem soziohistorischen und erkenntnistheoretischen Zusammenhang anvisiert werden, in dem die politischen Faktoren zutage treten, die nicht nur den Zerfall der Hegelschen Ästhetik, sondern des gesamten von Hegel konstruierten Systems bedingt haben. Da diese Faktoren von Autoren wie Ewald Volhard, Karl Löwith, Sidney Hook und Wolfgang Eßbach ausführlich untersucht wurden, will ich mich darauf beschränken, die soziohistorischen Befunde dieser Autoren auf das Hauptthema dieses Kapitels (und dieses Buches) zu beziehen: auf den Nexus von Ausdrucksebene und Inhaltsebene. Es soll gezeigt werden, daß die Aufwertung der Ausdrucksebene bei den Junghegelianern, vor allem bei Friedrich Theodor Vischer (1807-1887), auf politische Probleme, den Zerfall des bürgerlich-christlichen Wertsystems und den sich daraus ergebenden philosophischen Agnostizismus zurückzu‐ führen ist. Das den Nachhegelianern Friedrich Theodor Vischer, Arnold Ruge, Karl Rosenkranz u. a. gemeinsame Problem ist wohl die Unmöglichkeit des Hegelschen Systems in einer Zeit der Krise, in der die moralischen, politi‐ schen, religiösen und ästhetischen Werte, auf denen dieses System gründete, allmählich fragwürdig werden. Sein Zerfall, der noch bei Ernst Bloch und in der Kritischen Theorie nachwirkt, läßt gegenläufige Strömungen und rivalisierende Gruppen entstehen, von denen eine jede auf ihre Art Partei 3. Der Zerfall der Hegelschen Ästhetik bei den Junghegelianern 45 46 S. Hook, From Hegel to Marx: Studies in the Intellectual Development of Karl Marx, Ann Arbor, The University of Michigan Press, 1962, S. 147 47 Ibid., S. 152. 48 K. Löwith, „Philosophische Theorie und geschichtliche Praxis in der Philosophie der Linkshegelianer“, in: K. Löwith (Hrsg.), Die Hegelsche Linke, Stuttgart-Bad Cannstatt, F. Frommann, 1962, S. 29. Löwith bezieht die Spaltung der Hegelianer in eine „linke“ und eine „rechte“ Bewegung auf die Ambivalenz von Hegels System: „Die Spaltung der Hegelschen Schule in Rechts- und Linkshegelianer war sachlich ermöglicht durch die grundsätzliche Zweideutigkeit von Hegels dialektischen ‚Aufhebungen‘, die ebenso konservativ wie revolutionär ausgelegt werden konnten.“ (Op. cit., S. 14.) ergreift und gegen die anderen polemisiert. Ganz zu Recht hebt in diesem Zusammenhang Sidney Hook die Bedeutung der Parteilichkeit für die 40er und 50er Jahre des 19. Jahrhunderts hervor und spricht von den „sectarian tendencies in the Young-Hegelians“. 46 Anders als Hegel konnten seine Nachfolger die politischen und kulturel‐ len Widersprüche, die in ihrer Unversöhnlichkeit in den Revolutionen des Jahres 1848 ausbrachen, nicht mehr durch philosophische Spekulationen überwinden. Vielmehr traten diese Widersprüche innerhalb der hegeliani‐ schen Bewegung selbst zutage und spalteten sie (etwas schematisch ausge‐ drückt) in Links- und Rechtshegelianer. Nicht die alle Widersprüche inte‐ grierende Sittlichkeit des Staates im Sinne von Hegel war der Leitgedanke der Linken (Ruge, Stirner, Feuerbach, Marx), sondern die Parteilichkeit als Gesellschaftskritik, Religionskritik und Staatskritik. Der (preußische) Staat erschien den Kritikern nicht länger als eine Inkarnation der absoluten Idee, sondern als Ausdruck partikularer Interessen. „Er wußte“, schreibt Sidney Hook über Ruges Verhältnis zum preußischen Staat, „daß es ein klerikaler, romantischer Staat war, der auf der feudalen Klasse gründete“. 47 Dieser Gedanke wird weitgehend von Karl Löwith bestätigt: „Hegel - meint Ruge - konnte sich in seinem Verhältnis zum Staat noch ‚abstrakt‘ unter Absehen vom wirklichen Staat, einseitig, auf Seiten der Theorie, d. h. seiner Staatsphilosophie, behaupten, weil der wirkliche preußische Polizeistaat die Prinzipien seiner Philosophie anerkannt und nicht, wie im Fall von Kant, angefeindet hat.“ 48 Die Kritik der wirklichen Staatsmacht als Ausdruck partikularer Klassenin‐ teressen wird zu einem der Hauptthemen der junghegelianischen Bewegung, aus der Marxens Kritik der Politischen Ökonomie hervorging. Die kritische und oppositionelle Einstellung dieser innerlich zerstrittenen Gruppe erklärt Wolfgang Eßbach in seiner umfangreichen und gründlichen soziologischen Untersuchung über die Junghegelianer auf institutioneller Ebene, wenn er I. Ästhetik und Dialektik: Zwischen Kant, Hegel und Nietzsche 46 49 W. Eßbach, Die Junghegelianer. Soziologie einer Intellektuellengruppe, München, Fink, 1988, S. 136. 50 K. Löwith, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts, Hamburg, Felix Meiner, 1986 (9. Aufl.), S. 63. 51 Siehe: M. Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, Stuttgart, Frommann-Holzboog, 1972 sowie: ders., „Einiges Vorläufige vom Liebesstaat“, in: ders., Kleinere Schriften und seine Entgegnungen auf die Kritik seines Werkes „Der Einzige und sein Eigentum“, Stuttgart, Frommann-Holzboog, 1976, S. 269-277. Vgl. M. Quante, „Max Stirners Kreuzzug gegen die Heiligen oder: Die Selbstaufhebung des Antiperfektionismus“, in: M. Quante, A. Mohseni (Hrsg.), Die linken Hegelianer, Studien zum Verhältnis von Religion und Politik im Vormärz, Paderborn, Fink, 2015, S. 249-252. 52 Siehe: L. Feuerbach, Vorlesungen über das Wesen der Religion, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, Berlin, Akademie-Verlag, 1967, wo die Todesstrafe als Menschenopfer mit Staat und Religion verknüpft wird (S. 370) und wo die absolutistische Monarchie als partikulare Willkürherrschaft erscheint (S. 398). bemerkt, „daß die Spaltung der Hegelschule überwiegend zwischen denen verläuft, die keine akademische Laufbahn einschlagen können, und denen, die sich an der Universität durchsetzen. Die Entlassung der Philosophie aus dem Staatsdienst und die Spaltung der Schule greifen ineinander“. 49 Eßbachs institutionelle und Löwiths politologische Erklärungen treffen sicherlich zu; sie sind allerdings vor dem Hintergrund der eingangs erwähn‐ ten gesellschaftlichen und kulturellen Krise zu verstehen, die Karl Löwith in einer lapidaren Feststellung global skizziert: „Hegels Versöhnung der Vernunft mit dem Glauben und des Christentums mit dem Staat im Elemente der Philosophie war um 1840 zu Ende gekommen.“ 50 Trotz dieser Differenzen, die sie voneinander trennen, weisen Max Stirners anarchische Polemik gegen den Staat 51 , Ludwig Feuerbachs Re‐ ligionskritik 52 und Marxens Kritik des Kapitalismus einen gemeinsamen Nenner auf: die Ablehnung der Hegelschen Synthese von Staat, Religion und Philosophie. Der Zerfall dieser philosophisch-politischen Verbindung schlägt sich nicht nur auf gesellschaftlicher Ebene in Parteilichkeit und Parteienstreit nieder, sondern macht sich auch auf erkenntnistheoretischer und ästhetischer Ebene bemerkbar, wo die systematische Dialektik Hegels (s. o.) von der offenen Antinomie abgelöst und die Herrschaft des Begriffs über die Kunst in Frage gestellt wird. Einerseits fehlt es in den 1830er und 40er Jahren nicht an Versuchen, Hegels System gegen politisch und philosophisch motivierte Polemiken zu verteidigen: Das zeigt u. a. die im Jahre 1834 veröffentlichte Streitschrift des Hegelianers Karl Rosenkranz, die beweisen soll, daß Hegels Dialektik die Aristotelische Logik nicht ausschließt, sondern berücksichtigt und 3. Der Zerfall der Hegelschen Ästhetik bei den Junghegelianern 47 53 Siehe: K. Rosenkranz, Hegel. Sendschreiben an den Hofrath und Professor der Philosophie, Herrn Dr. Carl Friedrich Bachmann in Jena, Königsberg, August Wilhelm Unzer, 1834, S. 36-37. 54 E. Volhard, Zwischen Hegel und Nietzsche. Der Ästhetiker Friedrich Theodor Vischer, Frankfurt, Vittorio Klostermann, 1932, S. 155. (Siehe auch S. 147, wo es von Vischer heißt: „Nicht der Besitz der Wahrheit, sondern das ewige Suchen nach ihr wird ihm wieder, wie im späten Aufklärungszeitalter, das Kennzeichen philosophischen Denkens.“) „aufhebt“, und daß das System des Meisters die christliche Religion nicht unterwandert (wie der Hegel-Kritiker Carl Friedrich Bachmann behauptet), sondern ergänzt und bestätigt. 53 Andererseits mehren sich die junghegelianischen Abweichungen von Hegels Dialektik, und die ihnen gemeinsame Tendenz ist der Zweifel an der Möglichkeit, den Gegensatz in der Synthese, in der bestimmten Negation, aufzuheben und systematisch zu entfalten. Dieser Zweifel am System bringt schließlich eine negative Dialektik hervor, die bei der Einheit der Gegensätze ohne Synthese verharrt und dadurch zwei wesentliche Elemente der Hegelschen Philosophie preisgibt: die These, daß die Wahrheit aus der Aufhebung der Gegensätze hervorgeht, und die komplementäre These von der Identität zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Denken und Sein. Indem die Junghegelianer diese beiden Thesen in Frage stellen, antizipieren sie die Problematik des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts: die Problematik der Moderne. Über Friedrich Theodor Vischer, der sich - ähnlich wie Rosenkranz - als Erbe Hegels verstand und der hier als bedeutendster Ästhetiker der jung‐ hegelianischen Bewegung im Mittelpunkt der Betrachtung steht, schreibt Ewald Volhard: „Vischer hatte den Grundstein des Hegelschen Systems herausgebrochen: die Überzeugung von der Identität der dialektischen Bewegung des Geistes und der Weltbewegung, sodaß seine Ästhetik in ihren metaphysischen Teilen im Leeren hängt.“ Etwas weiter fügt er hinzu: „Im Negativen aber, in der Erkenntnis, daß es eine objektive und absolute Wahrheit als enträtselbaren Sinn des Lebens nicht gibt, - dessen noch Hegel versichert war, - ahnt Vischer die Problematik einer neuen Zeit voraus.“ 54 Liest man Vischers Werk in dieser Perspektive, so stellt sich an entschei‐ denden Stellen heraus, daß die Zersetzung des Wahrheitsbegriffs mit der Unmöglichkeit der Aufhebung, der bestimmten Negation und der Synthese zusammenhängt. Vischers Denken stellt sich häufig als eine offene, negative Dialektik dar, die über die Einheit der Gegensätze nicht hinausgelangt, weil die Aufhebung als bestimmte Negation nicht mehr denkbar ist. I. Ästhetik und Dialektik: Zwischen Kant, Hegel und Nietzsche 48 55 F. Th. Vischer, „Das Symbol“ in: ders., Kritische Gänge, Bd. 4 (Hrsg. R. Vischer), München, Meyer & Jessen, 1922, S. 434. 56 Siehe: F. Th. Vischer, Das Schöne und die Kunst. Zur Einführung in die Ästhetik, Stuttgart, Verlag der J. G. Cottaschen Buchhandlung, 1898 (2. Aufl.), S. 56-57. 57 Siehe: F. Th. Vischer, „Kritik meiner Ästhetik“, in: ders., Kritische Gänge, Bd. 4, op. cit., S. 313. 58 Ibid., S. 287. 59 Ibid., S. 288. Es ist wohl kein Zufall, daß er gerade in seiner Abhandlung über das Symbol und das symbolische Erkennen, in dem Bild und Begriff inein‐ andergreifen, eine Dialektik entwickelt, die bei der offenen Antinomie als radikaler Ambivalenz stehen bleibt. Täuschung und Wahrheit gehen ineinander über, ihre vielfältigen Verbindungen sind nicht zu entwirren. Über den Erkenntnismangel, der dem symbolischen Erkennen innewohnt, schreibt er: „Die Täuschung darin ist Wahrheit in höherem Sinn als die Wahrheit, worüber wir uns täuschen. (…) Hinter der Täuschung liegt und gibt ihr Recht die Wahrheit aller Wahrheiten, daß das Weltall, Natur und Geist in der Wurzel eines sein muß. - Also ein Widerspruch: symbolisch und doch in dem Sinn nicht symbolisch, daß die Täuschung über das bloß Symbolische im Verfahren die Wahrheit idealer Berechtigung hat, und dieser Widerspruch lebt, besteht.“ 55 Er ist unaufhebbar, und die Wahrheit als bestimmte Verneinung oder Synthese ist nicht mehr zu haben. Vischers Skepsis der begrifflichen Wahrheit gegenüber macht sich auch - und vielleicht vor allem - im ästhetischen Bereich bemerkbar, wo die Schwä‐ chung des Begriffs (des Signifikats) und der gesamten Inhaltsebene von einer Aufwertung der Signifikanten und der Ausdrucksebene begleitet wird. Obwohl Vischer immer wieder gegen die Formalisten der Herbart-Schule polemisiert, die die Ethik der Ästhetik subsumiert 56 , und Kants Definition des Schönen als Begriffs- und Interesselosigkeit von einem hegelianischen Standpunkt aus kritisiert 57 , wendet er sich vor allem in seinem Spätwerk (etwa in Kritik meiner Ästhetik, 1887) gegen eine Unterordnung der Kunst unter das begriffliche Denken. Vom Schönen heißt es beispielsweise in Kritik meiner Ästhetik: „Das allge‐ mein Wahre ist in ihm für die Anschauung da, ohne vorher in Begriffsform gedacht zu sein.“ 58 Freilich wird hier das Schöne in Übereinstimmung mit Hegel nicht als begriffslose Form, sondern als Ausdrucksform des Wahren aufgefaßt; es ist allerdings nicht mehr wie bei Hegel durch Begriffe aufzulösen. 59 3. Der Zerfall der Hegelschen Ästhetik bei den Junghegelianern 49 60 F. Th. Vischer, Das Schöne und die Kunst, op. cit., S. 43. 61 Ibid., S. 77. 62 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, Bd. 1, op. cit., S. 28. 63 M. Stirner, „Kunst und Religion“, in: ders., Kleinere Schriften‚ op. cit., S. 264. Von dieser Aufwertung der Ausdrucksebene zeugen auch die im Jahre 1898 erschienenen Vorträge über Das Schöne und die Kunst, in denen auf sehr unhegelianische Art das „theoretische Interesse“ aus dem ästhetischen Bereich verbannt wird: „Ausgeschlossen ist auch das theoretische Interesse, der Trieb unseres Geistes zur Erkenntnis der Wahrheit. Wenn wir uns betrachtend zum Schönen wenden, so wollen wir es nicht erst begreifen müssen.“ 60 Vischer entfernt sich an dieser Stelle nicht nur von Hegel, sondern auch von seiner in vieler Hinsicht hegelianischen Ästhetik (1847-1858). Wie sehr er sich in seinen Vorträgen durch die Aufwertung der Aus‐ drucksebene der Kantschen Position nähert (ohne es zuzugeben), zeigt eine andere Passage, in der er sich mit dem Verhältnis von „Form“ und „Inhalt“ befaßt: „Der Gehalt (…) ist bei einem guten Kunstwerk am allerwenigsten in Worten auszudrücken; er liegt eben ganz in der Form. Er steckt nicht dahinter, sondern er ist in der Form aufgegangen. Wir brauchen daher bei keinem schönen Gegenstand eine wissenschaftliche Analyse; wir wollen einfach Genuß.“ 61 Vergleicht man diese Thesen mit den ihnen entsprechenden Aussagen in Hegels Vorlesungen über die Ästhetik, so springt der Gegensatz in die Augen. Denn einer der bekanntesten Sätze aus Hegels „Einleitung“ lautet: „So gehört auch das Kunstwerk, in welchem der Gedanke sich selbst entäußert, zum Bereich des begreifenden Denkens, und der Geist, indem er es der wissenschaftlichen Betrachtung unterwirft, befriedigt darin nur das Bedürfnis seiner eigensten Natur.“ 62 Daß Vischers Entwicklung zur begrifflichen Skepsis und seine Abwei‐ chungen von Hegel nicht individuelle Zufälle, sondern für die junghegelia‐ nische Bewegung kennzeichnend sind, zeigen einige Bemerkungen Max Stirners zum Verhältnis von Kunst und Religion. Auch Stirner kann sich mit der Hegelschen Unterordnung der Kunst unter Philosophie und Religion nicht mehr abfinden und versucht, sie wenigstens der Religion gegenüber aufzuwerten: „(…) So ist die Kunst die Schöpferin der Religion und darf in einem philosophischen System, wie das Hegels ist, ihren Platz nicht hinter der Religion einnehmen.“ 63 Auch hier zeigt sich, daß aus dem Zerfall des begrifflichen Systems die Kunst „gestärkt“ oder „rehabilitiert“ hervorgeht: I. Ästhetik und Dialektik: Zwischen Kant, Hegel und Nietzsche 50 64 F. Th. Vischer, „Plan zu einer neuen Gliederung der Ästhetik“, in: ders., Kritische Gänge, Bd. 4, op. cit., S. 163. 65 E. Volhard, Zwischen Hegel und Nietzsche, op. cit., S. 193. wie die Natur, die Hegel im Gegensatz zu Kant dem Geist unterordnete und aus diesem abzuleiten suchte. Bei Vischer wird sie zusammen mit dem Traum und dem naturwüchsigen Zufall in ihre Rechte eingesetzt. (Siehe Kap. III.) Zugleich mit Kunst und Natur werden die Antinomie, die Dissonanz und der ästhetische Zufall aufgewertet, die sich ebenfalls der Vereinnahmung durch die begriffliche Totalität entziehen. So stellt beispielsweise Vischer sowohl in seiner Ästhetik als auch in anderen Schriften neben dem Erhabe‐ nen das Komische in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen. Hegel hingegen betrachtet das Komische lediglich als ein Zerfallsprodukt, das aus dem Niedergang der klassischen Kunstform hervorgeht. „Allein das Komische“, entgegnet Vischer, „ist ebenfalls eine Macht, die überall hervortritt, wo überhaupt das Schöne existiert.“ 64 Indem er das Komische immer wieder mit dem Erhabenen und Ernsten verknüpft, deckt er zumindest implizit die Ambivalenz des letzteren, die ihm innewohnende Antinomie, auf: Zu jedem Zeitpunkt kann der Ernst des Erhabenen in Komik umschlagen. Daß das Komische - in der Komödie, in der Satire oder der Parodie - von Widerspruch und Ambivalenz lebt und deshalb nicht der Idee als harmonischer Totalität subsumiert werden kann, fällt Volhard auf, wenn er zeigt, daß Vischers Theorie des Erhabenen in der hegelianischen Ästhetik aufgeht, nicht jedoch seine Analysen des Komischen: „Besteht das Erhabene nach Vischer in einem Überwiegen der Idee über das Bild, so das Komi‐ sche umgekehrt im Überwiegen des Bildes über die Idee, des indefinibel Individuellen über das Gattungsmäßige.“ 65 Diese Beziehung zwischen dem Komischen und dem nichtbegrifflichen Bild ist deshalb wichtig, weil sie den Nexus zwischen erkenntnistheoretischer Skepsis und der Aufwertung des vieldeutigen „Bildes“, d. h. der Ausdrucksebene, veranschaulicht. Vischers Entdeckung des Komischen hat auch einen politischen Aspekt, der diesen Junghegelianer mit den ästhetischen Theorien der Moderne und des 20. Jahrhunderts verbindet: eine demokratische Tendenz, die seine Äs‐ thetik vom Aristokratismus des Hegelschen Systems unterscheidet, das nur das Vollkommene als harmonische Totalität gelten läßt und das Komische mit seinen volkstümlichen und demokratischen Konnotationen ausgrenzt, 3. Der Zerfall der Hegelschen Ästhetik bei den Junghegelianern 51 66 F. Th. Vischer, Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Erster Teil: Die Metaphysik des Schönen, Reutlingen und Leipzig, Carl Mäckenʼs Verlag, 1846, S. 511. 67 Ibid., S. 40. 68 K. Rosenkranz, Ästhetik des Häßlichen, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1973, S. 37. denn: „Demokratisch, nicht bloß in diesem bestimmten, sondern im weites‐ ten Sinne, ist alles Komische.“ 66 Wer diesen Satz aus dem ersten Band von Vischers Ästhetik liest, so‐ wie den komplementären Vorwurf, Hegel „werde ungerecht gegen den Humor“ 67 , der gleich am Anfang dieses Werkes erhoben wird, kann nicht umhin, an Michail Bachtins Theorie zu denken, die hier im 3. Kapitel als He‐ gel-Kritik interpretiert wird. In ihr erscheinen das Komische und Groteske sowie das Karnevalslachen des frühen Romans (Cervantesʼ, Rabelaisʼ) als demokratische Alternativen zum Ernst des Feudaladels. Der Begriff des Grotesken deutet bereits an, daß in einer von der Antino‐ mie und der Ambivalenz beherrschten Welt das Komische und das Häßliche zusammengehören. Symptomatisch für den Zerfall des Hegelschen Systems ist nicht nur die Tatsache, daß extreme Erscheinungen wie Komik und Häßlichkeit, die nicht ohne weiteres in Hegels harmonische Totalität zu integrieren sind, von den Nachfolgern thematisiert werden, sondern auch der Umstand, daß jeder Nachfolger sich auf ein besonderes Zerfallsprodukt spezialisiert: Während Vischer sein Augenmerk vor allem auf das Komische und Zufällige (vgl. weiter unten) richtet, rückt sein Zeitgenosse Karl Rosen‐ kranz (1805-1879), einer der bedeutendsten Hegel-Schüler und Autor der politisch-philosophischen Komödie Das Centrum der Speculation (1840), das Häßliche in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen. Noch stärker als Vischer, gegen den er in seiner Ästhetik des Häßlichen (1853) immer wieder unterschwellig polemisiert, läßt Rosenkranz, der eher der Hegelschen „Rechten“ zuzurechnen ist, den unversöhnten Widerspruch als extreme Ambivalenz in Erscheinung treten. Zeitweise scheint sich in seiner Argumentation das Häßliche zu verselbständigen und in einer ambivalent gewordenen Kunst mit dem Schönen zu konkurrieren. „Wir müssen also die uneingeschränkte Geltung des Satzes, daß das Häßliche in der Kunst um des Schönen willen da sei, verwerfen“ 68 , folgert Rosenkranz in einem ersten Schritt. Als Hegelianer versucht er freilich, das Häßliche als Pendant des Schönen in der Totalität der Kunstidee aufzuheben. In ihrer Gesamtheit erfordere die Idee der Kunst die Zusammenführung der Extreme: „Aus diesem Grunde I. Ästhetik und Dialektik: Zwischen Kant, Hegel und Nietzsche 52 69 Ibid., S. 39. 70 Ibid., S. 40. 71 Ibid., S. 41. 72 Ibid., S. 52. 73 F. Th. Vischer, „Plan zu einer neuen Gliederung der Ästhetik“, in: ders., Kritische Gänge, Bd. 4, op. cit., S. 175. also, die Erscheinung der Idee in ihrer Totalität zu schildern, kann die Kunst die Bildung des Häßlichen nicht umgehen.“ 69 In der „Totalität der Weltanschauung“ erfülle das Häßliche allerdings eine nur sekundäre, unter‐ geordnete Funktion; nur in Verbindung mit dem Schönen sei es sinnvoll. 70 Rosenkranz versucht, diese Argumentation plausibel zu machen, indem er sich auf die Rezeption beruft: An Kunstwerken, die ausschließlich das Häßliche ausdrücken, könne sich niemand wirklich erfreuen. Mephisto sei nur als häßliches Pendant zum schönen Christus darstellbar; nicht als selb‐ ständige Erscheinung: „Für Zwecke der Belehrung isolieren wir natürlich auch das Häßliche, aber ein Künstler, der dasselbe noch so porträtartig treu wiedergäbe, würde niemals glauben, damit ein Kunstwerk geschaffen zu haben.“ 71 Sowohl der Kunstproduzent als auch der Kunstrezipient lehnen also die Verselbständigung des Häßlichen ab. Abgesehen davon, daß zahlreiche Gemälde Goyas sehr wohl das Häßliche isolieren, ohne als minderwertig eingestuft zu werden, tritt bei Rosenkranz selbst ein Widerspruch im Bereich der Rezeption zutage. Obwohl er einer‐ seits behauptet, niemand könne am isolierten Häßlichen seine Freude haben, kann er sich andererseits ein „physisch und moralisch verderbtes Zeitalter“ vorstellen, dem die harmonische Schönheit nichts mehr sagt: „Ein solches Zeitalter liebt die gemischten Empfindungen, die einen Widerspruch zum Inhalt haben. Um die abgestumpften Nerven aufzukitzeln, wird das Uner‐ hörteste, Disparateste und Widrigste zusammengebracht. Die Zerrissenheit der Geister weidet sich an dem Häßlichen, weil es für sie gleichsam das Ideal ihrer negativen Zustände wird.“ 72 Die Frage ist natürlich, ob diese Beschreibung nicht auf das Zeitalter der Nachhegelianer zutrifft: auf die vor ihren Augen anbrechende Moderne. In diesem Zusammenhang kann es nicht als Zufall erscheinen, daß der Hegelianer Vischer Hegels Periodisierung der Kunstzeitalter in Frage stellt und der christlich-romantischen Ära eine moderne folgen läßt. Seinen Ent‐ wurf versucht er in seinem „Plan zu einer neuen Gliederung der Ästhetik“ (1843) „mit Berufung auf die große Krisis, welche die moderne Zeit vom Mittelalter trennt“ 73 , plausibel zu machen. 3. Der Zerfall der Hegelschen Ästhetik bei den Junghegelianern 53 74 Ibid. 75 Siehe: E. Köhler, Der literarische Zufall, das Mögliche und die Notwendigkeit, München, Fink, 1973. 76 Siehe: E. Volhard, Zwischen Hegel und Nietzsche, op. cit., S. 202. 77 F. Th. Vischer, „Über das Erhabene und Komische“ in: ders., Kritische Gänge, Bd. 4, op. cit., S. 108. 78 Ibid., S. 129. Daß Vischer keineswegs „ganz auf Hegelschem Boden“ steht, zeigt auch sein Aufsatz „Noch ein Wort darüber, warum ich von der jetzigen Poesie nichts halte“, in: ders., Kritische Gänge, Bd. 2, op. cit., S. 141. An dieser Stelle stellt er die Kritik als Hauptcharakteristikum der modernen Zeit in den Vordergrund. 79 F. Th. Vischer, „Über das Erhabene und das Komische“, in: ders., Kritische Gänge, Bd. 4, op. cit., S. 129. Nirgendwo tritt der Abstand zwischen Hegel und Junghegelianer klarer in Erscheinung: Die triadische Einteilung des Diskurses, die Vischer zu retten sucht, indem er die Selbständigkeit der „orientalischen Phantasie“ negiert und sie dem antiken Ideal subsumiert, ist eher ein Akt der Pietät dem He‐ gelschen Erbe gegenüber und kann nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, daß der junghegelianische Diskurs das geschlossene System gesprengt hat. „Hier ist keine andere Lösung, als hoffnungsvoll in die Zukunft schauen“ 74 , schreibt Vischer, der Nichthegelianer, der Denker der Moderne. Wer von Zukunft spricht, spricht zugleich von Offenheit, Kontingenz und Zufall, den Erich Köhler zu Recht mit dem „Ende der Providenz“, der „entfremdeten Kausalität und der Kontingenz“ sowie der „Absurdität“ in Beziehung setzt. 75 Dieser Zufall als moderne, systematisch-historischer Notwendigkeit widersprechende Erscheinung spielt nicht nur in Vischers Leben eine entscheidende Rolle 76 , sondern auch in seiner Ästhetik, wo das zufällige Ereignis zu einem Charakteristikum des Komischen (bei Rosen‐ kranz des Häßlichen) wird, das laut Vischer „überhaupt keine Absicht (hat), zu keinem positiven Resultat führen (will).“ 77 Es ist deshalb gar nicht sicher, daß er in seinen Analysen des Komischen, das durch seine absurden Zufälle und seine Kontingenz die historischen Notwendigkeiten des Hegelschen Systems negiert, „ganz auf Hegelschem Boden“ 78 steht. Realistischer scheint mir Vischers Einschätzung seines Verhältnisses zu Hegel zu sein, wenn er über die Komik schreibt, „sie (sei) die in die Sprache des Zwerchfells übersetzte negative Seite der Hegelschen Methode“. 79 Aber ist diese Methode, die eine Inkarnation des Weltgeistes sein will, in die „Sprache des Zwerchfells“ zu übersetzen? Ist der Versuch einer solchen Übersetzung nicht an sich schon ambivalent, antinomisch im Sinne der Moderne? I. Ästhetik und Dialektik: Zwischen Kant, Hegel und Nietzsche 54 80 Vgl. F. Th. Vischer, Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft (2 Bde.), Tübingen, Schwäbische Verlagsgesellschaft (s. d. Reprint), Bd. 2, S. 450, wo von der „Diskreditierung der Philosophie durch die Systeme“ die Rede ist. 81 E. Volhard, Zwischen Hegel und Nietzsche, op. cit., S. 197. 82 W. Eßbach, Die Junghegelianer, op. cit., S. 54. Modern ist jedenfalls der vom komischen Zufall beherrschte satirische Roman Vischers Auch Einer (1879) 80 , der von der Ambivalenz als Einheit der Gegensätze ohne Synthese strukturiert wird: „Vischers Bestreben war stets, das kontradiktorische Entweder-Oder durch das noch viel mehr kontradiktorische Sowohl-Als-auch zu ersetzen. Dies Verfahren allein ist bei der Interpretation des Auch Einer anwendbar.“ 81 Der Ästhet und Romancier Vischer zeigt einerseits, daß die Ambivalenz als unauflösbare Antinomie das Hegelsche System gesprengt und das Vertrauen in die Herrschaft des Begriffs erschüttert hat; er zeigt andererseits in Theorie und Praxis, ähnlich wie Rosenkranz in seiner Komödie, daß dieser für die neue Zeit charakteristische Vertrauensschwund zu einer Aufwertung der Kunst und der Künstlergestalt führt. Nirgendwo ist sie stärker zu spüren als bei Nietzsche: dem Künstlerphilosophen und Denker der Ambivalenz. 4. Nietzsche: Ambivalenz und Ausdrucksebene Sicherlich kann Friedrich Nietzsche (1844-1900) nicht als Junghegelianer gedeutet werden: nicht nur weil dies seinem Selbstverständnis widerspricht, sondern auch deshalb, weil er als Hegel-Schüler oder Hegel-Epigone nicht zu verstehen ist. Dennoch hat Wolfgang Eßbach recht, wenn er - nach Volhard und Löwith - die geistige Verwandtschaft zwischen Nietzsche und den Junghegelianern betont. Über Max Stirner, dessen Buch Der Einzige und sein Eigentum (1845) ein Jahr nach Nietzsches Geburt erschien, schreibt er: „Er hat vor Nietzsche einen Typ radikaler Vernunftkritik entfaltet, der Anschlüsse nach verschiedenen Richtungen ermöglichte. Seine Konzeption des ‚Einzigen‘ hat nicht nur Nietzsche beeinflußt, sondern auch den euro‐ päischen Existentialismus und die moderne Sprachphilosophie.“ 82 Daß Nietzsches radikale Kritik des Christentums und der christlichen Moral nur im Zusammenhang mit den junghegelianischen Polemiken kon‐ kret zu verstehen ist, zeigt auch die umfangreiche Studie von Karl Löwith, der einen wesentlichen Aspekt der Verwandtschaft zwischen Nietzsche und den Hegel-Schülern hervortreten läßt, wenn er schreibt: „In der Kritik des 4. Nietzsche: Ambivalenz und Ausdrucksebene 55 83 K. Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, op. cit., S. 192-193. 84 Ibid., S. 205. 85 Siehe: W. Eßbach, Die Junghegeliner, op. cit., S. 59. 86 Siehe: F. Nietzsche, Götzen-Dämmerung, in: ders., Werke, Bd. 4 (Hrsg. K. Schlechta), München, Hanser, 1980, S. 957. Christentums begegnet er (Nietzsche) sich mit B. Bauer, dessen Religions‐ kritik aus der Religionsphilosophie von Hegel entsprang.“ 83 Zu Recht fügt er an anderer Stelle hinzu, daß „der Weg, der über die Junghegelianer von Hegel zu Nietzsche führt, (…) sich am deutlichsten mit Bezug auf die Idee vom Tode Gottes bezeichnen (läßt).“ 84 Sofern die Junghegelianer die moderne Ära antizipieren, sind sie, wie Eßbach richtig gesehen hat 85 , als Vorläufer Nietzsches zu verstehen: nicht nur im religionskritischen und ästhetischen, sondern auch im erkenntnis‐ theoretischen Bereich, in dem eine jede ästhetische Theorie verwurzelt ist. Im folgenden will ich weder auf Nietzsches Religionskritik noch auf seine Gesellschaftstheorie eingehen, sondern das bisherige Argumentationsmus‐ ter beibehalten und den Nexus zwischen Erkenntnistheorie und Ästhetik näher untersuchen. Nietzsches radikale Religionskritik sowie sein Versuch einer „Umwertung aller Werte“ führen nicht nur zu einem globalen Zweifel an der traditionellen Metaphysik, in der Wahrheit und Lüge, Gutes und Böses, Schönes und Häßliches einander ausschließen, sondern auch dazu, daß die Einheit der Gegensätze nicht mehr, wie noch bei Hegel, in Aufhebung und systemati‐ sche Synthese mündet. Wie schon die Dialektik der Junghegelianer ist auch die Dialektik Nietzsches negativ. Auch auf sie ist Volhards Bemerkung zu Vischers Roman anwendbar, dieser führe das extrem „kontradiktorische Sowohl-Als-auch“ ein. Nietzsche ist durchaus Hegelianer, wenn er mit Heraklit das Werden gegen die statischen Metaphysiken (Platons, Kants) verteidigt 86 und wenn er die Einheit der Gegensätze gegen den metaphysischen Dualismus (wahr/ falsch, gut/ böse etc.) ausspielt. Doch sein Werden gipfelt nicht im Absoluten, und seine Dialektik bringt keine Synthese, kein System hervor, sondern wirkt destruktiv. Ihr Charakteristikum ist die radikale Ambivalenz, die durch keine bestimmte Negation, durch keine systematische Aufhebung zu bändigen ist. Wie sehr diese Dialektik mit der Kritik der christlichen und vom Chris‐ tentum inspirierten Metaphysiken liiert ist, zeigt bereits das „Erste Haupt‐ stück“ von Jenseits von Gut und Böse, das die „Vorurteile der Philosophen“ bloßstellt. Zunächst wird der Zweifel am metaphysischen Dualismus laut: I. Ästhetik und Dialektik: Zwischen Kant, Hegel und Nietzsche 56 87 F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, in: ders., Werke, Bd. 4, op. cit., S. 568. 88 Ibid. 89 F. Nietzsche, Götzen-Dämmerung, op. cit., S. 958. Siehe auch: F. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, in: ders., Werke, Bd. 2, op. cit., S. 873: „Die Vernunft der Welt“. 90 Siehe: Vf., Roman und Ideologie. Zur Sozialgeschichte des modernen Romans, München, Fink, 1986; darin vor allem den 1. Teil: „Ambivalenz und Kritik“. Zur Fortsetzung dieser Argumentation vgl. Vf., Der europäische Künstlerroman. Von der romantischen Utopie „Der Grundglaube der Metaphysiker ist der Glaube an die Gegensätze der Werte.“  87 Was folgt, ist jedoch keine Aufhebung der Gegensätze im Sinne von Hegel, sondern ihre Zusammenführung in einer extremen Ambivalenz, die in Indifferenz als „Wesensgleichheit“ umschlagen kann: „Es wäre sogar noch möglich, daß was den Wert jener guten und verehrten Dinge ausmacht, gerade darin bestünde, mit jenen schlimmen, scheinbar entgegengesetzten Dingen auf verfängliche Weise verwandt, verknüpft, verhäkelt, vielleicht gar wesensgleich zu sein.“ 88 Hier werden nicht nur Wertgegensätze in Frage gestellt, sondern die „guten und verehrten Dinge“, allen voran die Wahrheit, werden restlos diskreditiert, zumal Nietzsche die Frage aufwirft, ob dem „Schein“, dem „Willen zur Täu‐ schung“ und dem „Eigennutz“ nicht ein „grundsätzlicherer Wert“ zukomme als der „Wahrheit“, der „Wahrhaftigkeit“ und der „Selbstlosigkeit“. Angesichts einer solchen Umwertung kann die Hegelsche Dialektik, die verschiedene Wahrheitsgrade kennt, keine Gültigkeit mehr beanspruchen, denn wenn der Wahrheitsbegriff als solcher radikal angezweifelt wird, dann wird auch Hegels bestimmte Negation sinnlos, denn: „Sie ist ein neuer Begriff, aber der höhere, reichere Begriff als der vorhergehende (…).“ (s. o.) Wo über die „Wesensgleichheit“ von Wahrheit und Schein spekuliert wird, dort werden auch der „höhere Begriff“ und die dialektische Begriffsbildung hinfällig. Konsequent verzichtet Nietzsche auf den Wahrheitsbegriff der klassischen deutschen Philosophie und tauscht ihn gegen den Schein ein: „Die ‚schein‐ bare‘ Welt ist die einzige: die ‚wahre Welt‘ ist nur hinzugelogen…“ 89 Die extreme Ambivalenz beherrscht auch seinen sprachlichen Duktus. Immer wieder erscheint am Ende seiner Ausführungen A als das Gegenteil von A: Wahrheit als Lüge, Sein als Schein, Moral als Unmoral, Güte als Boshaftig‐ keit. Darin antizipiert er die Romane der Jahrhundertwende und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die Romane Gides, Svevos, Prousts, Musils und Kafkas, in denen die Gegensätze zwar immer wieder miteinander verknüpft, niemals jedoch in einer „höheren Wahrheit“ zur Synthese gebracht werden. 90 4. Nietzsche: Ambivalenz und Ausdrucksebene 57 zur postmodernen Parodie, Tübingen, Francke, 2008, Kap. IV: „Thomas Manns Doktor Faustus: Die Reise an den Rand der Kunst“. 91 I. Svevo, Racconti, Saggi, Pagine sparse (Opere III), Milano, DallʼOglio, 1968, S. 586. 92 Siehe: Ch. Dresler-Brumme, Nietzsches Philosophie in Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Eine vergleichende Betrachtung als Beitrag zum Verständnis, Frankfurt, Athenäum, 1987, S. 91. Um den Vergleich mit dieser Romanliteratur ein wenig zu konkretisieren, sei hier eine Aufzeichnung Svevos zitiert, in der die Ambivalenz von Wahrheit und Wahrheitsliebe thematisiert wird: „Natürlich sind Wahrheit und Unwahrheit vertauschbar; aber indem man eine Behauptung liebt, die man als wahr bezeichnet, kann man beteuern, die Wahrheit zu lieben, und sich dabei täuschen.“ 91 Frappierend ist die Nähe zu Nietzsche nicht nur deshalb, weil Wahrheit und Täuschung jenseits aller metaphysischen Dualismen miteinander verquickt werden, sondern auch deshalb, weil im ersten Teil des Satzes die Möglichkeit der Vertauschbarkeit, der Indifferenz („Wesensgleichheit“, Nietzsche), anvisiert wird. Ähnliche Vergleiche sind zwischen Musil und Nietzsche angestellt worden. 92 Welche Folgen hat diese radikale Skepsis, diese nachhegelianische, nega‐ tive Dialektik ohne bestimmte Verneinung, für die Kunsttheorie? Nach dem bisher Gesagten kann die Antwort recht knapp ausfallen: Sie bewirkt eine Aufwertung der Kunst als Schein, genauer, d. h. auf den literarischen Text bezogen, eine Aufwertung der Ausdrucksebene der Inhaltsebene gegenüber. Auch in dieser Hinsicht ist Nietzsche ein Geistesverwandter der Junghege‐ lianer, die begannen, Hegels Logozentrismus in der Ästhetik anzuzweifeln. Nietzsche radikalisiert ihre Argumentation, indem er - lange vor Der‐ rida und Lacan - die Herrschaft des Begriffs durch ein Zusammenspiel vieldeutiger Signifikanten ersetzt. Grundlage menschlichen Denkens ist nicht länger der Hegelsche Geist als begriffliche Instanz, sondern ein „Trieb zur Metaphernbildung“, von dem Nietzsche in seinem wichtigen Text „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“ spricht. Da ich die folgende Passage für meine Darstellung für wesentlich halte, zitiere ich sie in extenso: „Jener Trieb zur Metapherbildung, jener Funda‐ mentaltrieb des Menschen, den man keinen Augenblick wegrechnen kann, weil man damit den Menschen selbst wegrechnen würde, ist dadurch, daß aus seinen verflüchtigten Erzeugnissen, den Begriffen, eine reguläre und starre neue Welt als eine Zwingburg für ihn gebaut wird, in Wahrheit nicht bezwungen und kaum gebändigt. Er sucht sich ein neues Bereich seines I. Ästhetik und Dialektik: Zwischen Kant, Hegel und Nietzsche 58 93 F. Nietzsche, „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“, in: ders., Werke, Bd. 5, op. cit., S. 319. 94 F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, in: ders., Werke, Bd. 3, op. cit., S. 113. Siehe auch: J. M. Werner, Erkenntnis und Wahrheit. Nietzsches Destruktion der Erkenntnistheorie als Konsequenz des Verlustes verbindlicher Wahrheit, Frankfurt Bern-NewYork, Peter Lang, 1986, S. 29: „Daß Nietzsche sich als Antipoden Hegels versteht, verweist auf die spekulative Kraft seiner Philosophie, daß er sie aber nicht als ein Ganzes zu denken versucht, das durch Vermittlung und Vermitteln-Können sich begreift, macht deutlich, daß er den Standpunkt des ungeschichtlichen, abstrakten Bewußtseins nicht verlassen will.“ 95 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, Bd. 1, op.cit., S. 22. 96 F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, op. cit., S. 73. 97 F. Nietzsche, Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre, in: ders., Werke, Bd. 6, op. cit., S. 625. Wirkens und ein anderes Flußbett und findet es im Mythus und überhaupt in der Kunst.“ 93 Diese Aufwertung von Metapher, Mythus und Kunst führt in der Fröh‐ lichen Wissenschaft zu einer Umkehrung des Hegelschen Verhältnisses zwischen Kunst und begrifflicher Wahrheit. Kunst wird dort als der „gute(n) Wille(n) zum Scheine“ 94 definiert. Daß Hegel hier auf den Kopf gestellt wird, zeigt kontrastiv ein Satz aus den Vorlesungen über die Ästhetik: „Den Schein und die Täuschung dieser schlechten, vergänglichen Welt nimmt die Kunst von jenem wahrhaften Gehalt der Erscheinungen fort und gibt ihnen eine höhere, geistgeborene Wirklichkeit.“ 95 Es ist sicherlich kein Zufall, daß Nietzsche das Wort „Erscheinung“ lieber meidet; es könnte ein „Wesen“ hinter den Erscheinungen evozieren, und gegen dieses Wesen, das die Philosophen seit Plato suchen, polemisiert er unablässig, denn: „Schein ist für mich das Wirkende und Lebende selber (…)“. 96 Kunst bringt dieses „Wirkende“ und „Lebende“ zum Ausdruck: jenseits aller Wahrheits- und Wesenssuche. Zugleich mit dem Wahrheitsgehalt der Kunst wird ihr moralischer Gehalt dem Schein, dem rein Dinghaften und Natürlichen, geopfert. In einer Pas‐ sage des Nachlasses aus den 80er Jahren tritt der für Nietzsches Philosophie wesentliche Nexus zwischen Kunst, Kulturkritik, Natur und dem Übermen‐ schen klar zutage: „Mit der Kunst gegen die Vermoralisierung kämpfen. - Kunst als Freiheit von der moralischen Verengung und Winkel-Optik; oder als Spott über sie. Die Flucht in die Natur, wo ihre Schönheit mit der Furchtbarkeit sich paart. Konzeption des großen Menschen.“ 97 Angesichts dieser programmatischen Bemerkungen, die den militanten Äs‐ thetizismus von Stefan George bis Gabriele DʼAnnunzio antizipieren, wirkt 4. Nietzsche: Ambivalenz und Ausdrucksebene 59 98 R.-R. Wuthenow, Muse, Maske, Meduse. Europäischer Ästhetizismus, Frankfurt, Suhrkamp, 1978, S. 38. 99 Ibid., S. 36, 112. 100 K. H. Bohrer, Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Suhrkamp. 1981, S. 138. 101 S. Mallarmé, Vers et prose (préface par H. Mondor), Paris, UGE, 1961, S. 169: „Le vers qui de plusieurs vocables refait un mot total, neuf, étranger à la langue et comme incantatoire, achève cet isolement de la parole (…).“ 102 Siehe: H. Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik, Hamburg, Rowohlt, 1956, S. 113: „Mallarmé führt jenen Prozeß weiter, der seit der Wende zum 19. Jahrhundert die Dichtung in den Widerstand gegen die kommerzialisierte Öffentlichkeit und gegen die wissenschaftliche Austreibung des Weltgeheimnisses geführt hat.“ 103 F. Nietzsche, „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“, op. cit., S. 313. 104 Ibid., S. 314. Ralph-Rainer Wuthenows Behauptung, Nietzsches Künstler sei „in einem wissenschaftlichen Zeitalter“ eine „anachronistische Erscheinung und deshalb die Kunst auch kein Heilmittel mehr“ 98 , nicht überzeugend. Es ist eher so, daß Nietzsche mit Hilfe der Kunst und der Ästhetisierung der philosophischen Schreibweise gegen Moral und Metaphysik kämpfen möchte. Recht hat Wuthenow, wenn er Nietzsche als einen Vorläufer des Ästhe‐ tizismus interpretiert. 99 Darin wird er wenige Jahre später von Karl Heinz Bohrer bestätigt, der die Bedeutung des „Scheins“ für den Ästhetizismus hervorhebt: „Der ‚Schein‘ (…) expandiert dabei zum aggressiven Symbol der als ‚Ästhetizismus‘ bekannten Bewegung.“ 100 Auch die Vertreter dieser Bewegung gehen eher vom „Trieb zur Metapherbildung“ aus als von einer metaphysisch oder ethisch motivierten Wahrheitssuche. Dabei betonen sie - wie etwa Mallarmé 101 - den vieldeutigen Signifikanten und werten das allgemein-abstrakte und daher vertauschbare Signifikat ab. Ihre Kritik am vertauschbaren Begriff 102 wird von Nietzsche vorweggenom‐ men, wenn er gegen die abstrakte Begrifflichkeit und für das Besondere, Ein‐ malige und Unvertauschbare plädiert: „Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nichtgleichen. (…) Das Übersehen des Individuellen und Wirklichen gibt uns den Begriff (…).“ 103 Wer aber das Individuelle und Wirkliche wahrnimmt, der wird die Wahrheit in schillernde Figuren zerlegen, von denen keine einzige auf den Begriff zu bringen ist: „Was also ist Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen (…).“ 104 Wo das „Gleichsetzen des Nichtgleichen“ als illegitim erscheint und die Wahrheit als eine auf vieldeutigen Figuren gründende Illusion entlarvt wird, dort kommt es zu einer drastischen Schwächung des Signifikats dem Signifikanten gegenüber. Die gesamte Inhaltsebene wird zu einem Derivat I. Ästhetik und Dialektik: Zwischen Kant, Hegel und Nietzsche 60 105 F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, op. cit., S. 249. 106 S. Stelzer, Der Zug der Zeit. Nietzsches Versuch der Philosophie, Meisenheim am Glan, Verlag Anton Hain, 1979, S. 5. 107 F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, op. cit., S. 249. 108 Die verschiedenen Aspekte von Nietzsches Rhetorik untersucht J. Goth in seiner Arbeit Nietzsche und die Rhetorik, Tübingen, Niemeyer, 1970 und kommt zu dem Ergebnis, daß Nietzsches positiver Rhetorik-Begriff dem der Antike verwandt ist. der Ausdrucksebene, auf der es weder eine „Wahrheit“ noch eine begriffliche Identität gibt, sondern nur Verschiebungen und Bewegungen zwischen viel‐ deutigen Figuren, zwischen Signifikanten, die auf kein Signifikat festzulegen sind. Ihr polymorpher Charakter läßt selbst den Gegensatz (Dualismus) zwischen Signifikant und Signifikat als dubios erscheinen. Es wird sich zeigen (Kap. VIII. 1), daß Jacques Derrida Nietzsches Kritik am „Gleichsetzen des Nichtgleichen“ zu einem Ausgangspunkt der Dekonstruktion macht. Immer wieder spielt Nietzsche die Vieldeutigkeit der Wirklichkeit und der Sprache gegen die Wahrheitsfindung und die begriffliche Definition aus. Vom Dasein, das die Mathematiker nach rationalistischer Manier vermessen möchten, sagt er: „Man soll es vor allem nicht seines vieldeutigen Charakters entkleiden wollen (…).“ 105 Dabei ist für ihn die „Verwobenheit von Musik und Sprache“ 106 , von der Steffen Stelzer im Zusammenhang mit Nietzsches Jugendschrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) spricht, ausschlaggebend. Indem die Musik sich als vieldeutige phoné der wissenschaftlichen Definition entzieht, weist sie den Weg, den Dichtung, Philosophie als „fröhliche Wissenschaft“ und philosophische Dichtung einschlagen sollten: den Weg der kühnen Metaphorik. Denn: „Wie absurd wäre eine (…) ‚wissenschaftliche‘ Abschätzung der Musik! Was hätte man von ihr begriffen, verstanden, erkannt! “ 107 In diesem Kontext ist Nietzsches eigene ästhetisierende, künstlerische Schreibweise zu verstehen: Wie die begriffslose Musik möchte sie sich dem Zugriff der wissenschaftlichen Definition, ja der Wissenschaft insgesamt, entziehen. Ihre Flucht in den Ausdrucksbereich (Hjelmslev), in die Welt der Signifikanten, hat in nahezu allen Texten Nietzsches Spuren hinterlassen: in Form von Analogien, Figuren (Metonymien, Metaphern) und Aphorismen; in Form von Rhythmik. 108 Nietzsches Wahrheit ist nicht die begriffliche der Wissenschaft oder der systematischen Philosophie, sondern die ästhetische der Dichtung. Dies hat Karl Löwith klar erkannt, als er schrieb: „Im Kampf zwischen ‚Weisheit und Wissenschaft‘ erinnert sich Nietzsche wieder der ursprünglichen Einheit 4. Nietzsche: Ambivalenz und Ausdrucksebene 61 109 K. Löwith, Nietzsche, in: ders., Sämtliche Schriften, Bd. 6, Stuttgart, Metzler, 1987, S. 120. 110 Siehe: B. Croce, Il concetto della storia. Antologia a cura di Alfredo Parente, Bari, Laterza, 1966, darin vor allem den Kommentar Parentes zu Croces späteren Schriften: „Qui ormai il Croce svela già a chiarissime note il carattere sinteticologico (sintesi dʼintuizione e concetto), e non più ingenuamente intuitivo e narrativo della storia.“ (S. 39) von Wahrheit und Dichtung in der lehrhaften Sprache des philosophischen Weisheitsspruchs. Diese Einheit hat seine Modernität jedoch nur in der zweideutigen Form eines Systems von ausgedachten Metaphern zustande gebracht, in denen sich künstliches Wortspiel und geistreicher Witz mit dem Ernst und Pathos des Ganzen vermengen.“ 109 Das bisher Gesagte sollte zeigen, daß das „Wortspiel“ bei Nietzsche alles andere als sekundär oder gar aufgepfropft ist, sondern daß es die Grundten‐ denz seines Denkens ausdrückt: die Ästhetisierung der Sprache jenseits von traditioneller Metaphysik und Ethik. Diese Ästhetisierung wird - semiotisch ausgedrückt - durch eine Akzentverschiebung von der Inhaltsebene zur Aus‐ drucksebene, von begrifflicher Eindeutigkeit („Wahrheit“) zur Vieldeutigkeit der Signifikanten bewirkt. Kein anderer Text faßt diesen Prozeß so anschaulich zusammen wie Nietzsches bekannte Verse aus den Dionysos-Dithyramben, deren privativer Charakter („verbannt“, „nur“) von der Einsicht des Subjekts zeugt, daß die überlieferten Werte und Wahrheiten unglaubwürdig geworden sind: daß ich verbannt sei von aller Wahrheit! Nur Narr! Nur Dichter! … 5. Von Croce zum New Criticism Eine ausführliche Darstellung der Ästhetik Benedetto Croces (1866-1952) würde sicherlich den Rahmen dieses Kapitels, dessen Hauptproblem die Beziehung zwischen Kants Autonomie und Hegels Heteronomie ist, spren‐ gen. Noch vermessener wäre an dieser Stelle der Versuch, die Beziehung zwischen Logik, Geschichtsphilosophie und Ästhetik bei Croce untersuchen zu wollen, zumal Croce diese Beziehung in seiner großen Estetica come scienza dellʼespressione e linguistica generale (1902) ganz anders definiert als in späteren Schriften zur Geschichtsphilosophie. 110 Deshalb will ich mich I. Ästhetik und Dialektik: Zwischen Kant, Hegel und Nietzsche 62 111 B. Croce, Lebendiges und Totes in Hegels Philosophie (Übers. K. Blücher), Heidelberg, Carl Winterʼs Universitätsbuchhandlung, 1909, S. 174. 112 Ibid., S. 172. 113 Ibid., S. 98-101. 114 Ibid., S. 16. 115 Siehe: A. Gramsci, „Die Philosophie von Benedetto Croce“, in: ders., Philosophie der Praxis. Eine Auswahl, Frankfurt, Fischer, 1967, S. 248-249. hier auf einige wesentliche Punkte beschränken, in denen der „Hegelianer“ Croce als Kunsttheoretiker von Hegel abweicht. Einige generelle Bemerkungen zu Croces Hegelianismus sind allerdings aus Kohärenzgründen unerläßlich. In seiner für diesen Kontext besonders wichtigen Schrift Lebendiges und Totes in Hegels Philosophie (1907), die im selben Zeitraum entstand wie die Estetica, stellt der Autor unmißverständ‐ lich fest: „Ich bin Hegelianer und glaube, daß man es sein muß (…).“ 111 Seine Philosophie wird in den meisten Nachschlagewerken zu der Hegels in Beziehung gesetzt; nicht zu Unrecht, denn in vieler Hinsicht setzt Croce die hegelianische Tradition fort. Einerseits nimmt er in der hier genannten Schrift Hegels System gegen Angriffe rechter und linker Hegelianer (Michelets, Rosenkranzʼ, Engelsʼ) in Schutz, andererseits unternimmt er einen großangelegten Versuch, ein eigenes System zu entwerfen, in dem die Selbständigkeit der Natur negiert und die uneingeschränkte Realität des Geistes postuliert wird: „Jeden Tag wird es klarer, daß die Natur ihrem Begriff nach ein praktisches Erzeugnis (Hilfsmittel) des Menschen ist (…).“ 112 Trotz seiner Kritik an Hegels Dialektik 113 betrachtet er die Wirklichkeit aus dialektischer Sicht und ist - ganz im Gegensatz zu Nietzsche - von der Einheit der Gegensätze in der Synthese überzeugt: „Die Gegensätze sind Gegensätze unter sich, sind aber nicht Gegensätze gegen die Einheit, da die wahre und konkrete Einheit nichts anderes ist als Einheit oder Synthese der Gegensätze.“ 114 Wie Hegel huldigt er in Übereinstimmung mit dem liberalen Bürgertum, dem er als Vorsitzender der Liberalen Partei, als Senator und Unterrichtsminister diente, einem recht zuversichtlichen Historismus, den Antonio Gramsci ausführlich kritisiert 115 : Die Wirklichkeit ist Geschichte und die historische Entwicklung verläuft vom Guten zum Besseren. Angesichts dieser hegelianischen Grundsätze ist es recht erstaunlich, daß der italienische Philosoph in seiner Estetica im entscheidenden Punkt von Hegel abweicht, indem er die künstlerische Intuition zur Grundlage des menschlichen Erkennens macht. Dabei kommt es zu einer Umkehrung der 5. Von Croce zum New Criticism 63 116 B. Croce, Lebendiges und Totes in Hegels Philosophie, op. cit., S. 23. 117 Ibid. 118 Ibid., S. 24. 119 Ibid., S. 164. Hegelschen Argumentation: Nicht das historische Ziel der geistigen Ent‐ wicklung, das begriffliche oder „wissenschaftliche“ Denken, ist maßgebend, sondern der Ursprung dieses Denkens: die lyrische Dichtung, die Poesie. Hegel, sagt Croce, habe den logischen Begriff „intuitiv“ aufgefaßt, „um zu bezeichnen (…), daß die Philosophie aus dem Schoße der göttlichen Poesie entspringen muß, matre pulchra, filia pulchrior“. 116 Diese Hegel-Deutung ist sicherlich anfechtbar und wäre von den meisten Hegelianern (von so verschiedenen Geistern wie Rosenkranz und Marx) abgelehnt worden. Unmittelbar nach dem lateinischen Zitat - „matre pulchra, filia pulchrior“ - stellt sich heraus, daß es sich bei Croce, wenn nicht um eine nietzschea‐ nische, so doch um eine lebensphilosophische Deutung der Hegelschen Philosophie handelt: „Derart in Beziehung und Freundschaft zu der Poesie gesetzt, tritt die Philosophie in jenen Zustand ein, den man zur Zeit nach der Mode der Nietzscheʼschen Ausdrucksweise ‚dionysisch‘ zu nennen pflegt, und welcher derart ist, schüchterne Denker zu erschrecken (…).“ 117 Trotz der ironischen Distanz zu Nietzsche wird hier Hegel ästhetisiert und in einem lebensphilosophischen Kontext gedeutet, in dem seine Philosophie „Abstraktionen zerbricht und dieses Leben mit dem Gedanken lebt“ 118 : in einem Kontext, in dem die lyrische Intuition als Erkenntnis des Individuellen und Einmaligen zur eigentlichen Triebfeder des Denkens wird. Angesichts dieser Umdeutung der Hegelschen Philosophie nimmt es nicht wunder, daß Croce eine der zentralen Kategorien dieser Philosophie fallen läßt, wenn er in seiner abschließenden Kritik an Hegels „Panlogismus“ und an „jede(r) spekulative(n) Konstruktion des Individuellen und des Empiri‐ schen“ von der „Selbständigkeit der verschiedenen Formen des Geistes“ spricht 119 und sich vornimmt, den eigentlichen Gedanken Hegels aus seiner falschen „Hülle“ herauszuschälen. Indem Croce aber die „Selbständigkeit der verschiedenen Formen des Geistes“ postuliert, bricht er einen der Eckpfeiler der Hegelschen (und der materialistischen) Dialektik heraus: die Kategorie der Vermittlung. Das dialektische Denken stellt Erscheinungen wie das Recht, das Schul‐ system, die Familie oder die Kunst nicht als selbständige Größen dar, sondern als menschliche Konstrukte, deren wirtschaftliche, gesellschaftliche I. Ästhetik und Dialektik: Zwischen Kant, Hegel und Nietzsche 64 120 Ibid., S. 169. 121 B. Croce, Estetica come scienza dellʼespressione e linguistica generale, Bari, Laterza, 1973 (12. Aufl.), S. 29. und historische Funktionen ihnen nicht äußerlich sind: Sie gehen in die Struktur, in die soziale Organisationsform selbst ein. So ist das römische Recht nicht unabhängig von der römischen Marktgesellschaft, das Drama der griechischen Antike nicht unabhängig von der Organisation der atti‐ schen Polis (Hegel) und das literarische Gattungssystem des französischen 17. Jahrhunderts nicht unabhängig von der absoluten Monarchie zu verste‐ hen: Wirtschaftliche, politische und ästhetische Faktoren greifen ineinander (nicht erst bei Marx und den Marxisten, sondern schon bei Hegel). Indem Croce auf diesen Kerngedanken der Dialektik verzichtet, verläßt er das dialektische Denken selbst und redet einem kantianischen Dualismus das Wort. Es ist sicherlich kein Zufall, daß er gerade diejenigen unter Hegels Erben lobt, die „ihren vorsichtigen und kritischen Geist“ dadurch kund taten, „daß sie Hegel in gewisser Art auf seine Kantschen Grundlagen zurück‐ führten“. 120 Dieses Programm einer Rückkehr zu Kant verwirklicht Croce auf vorbildliche Art in seiner Estetica, deren Plädoyer für die Autonomie der Kunst ihre Einwirkung auf den anglo-amerikanischen New Criticism erklärt. Schon der Titel von Croces Estetica come scienza dellʼespressione e lingu‐ istica generale (Ästhetik als Wissenschaft des Ausdrucks und allgemeine Sprachwissenschaft) läßt vermuten, daß der Autor sich eine Aufwertung der Ausdrucksebene vorgenommen hat - obwohl das Wort „espressione“, das Croce auf alle Kunstformen anwendet, natürlich recht wenig mit Hjelmslevs „Ausdrucksebene“ zu tun hat. Tatsächlich stellt sich vor allem im dritten Kapitel, das die Beziehung zwischen Kunst und Philosophie zum Gegenstand hat, heraus, daß die ästhetische Intuition zur Grundlage der Erkenntnis gemacht wird. Croce geht noch einen Schritt weiter - und weit über Kants Autonomieästhetik hinaus -‚ wenn er behauptet, daß Kunst und Wissenschaft auf ästhetischer Ebene miteinander kommunizieren und daß „jedes wissenschaftliche Werk zugleich Kunstwerk“ 121 sei. Der kantianische Dualismus kommt jedoch voll zum Tragen, und Croce widerspricht sich (s. o.), wenn er schreibt: „Die logische oder wissenschaft‐ liche Form schließt als solche die ästhetische Form aus. Wer sich anschickt, wissenschaftlich zu denken, der hat bereits aufgehört, ästhetisch zu betrach‐ 5. Von Croce zum New Criticism 65 122 Ibid., S. 41. 123 Ibid. 124 Ibid., S. 43. 125 Siehe: B. Croce, Il concetto della storia, op. cit., S. 163-167. 126 Zu diesem Thema vgl. P. Ricœur, Sur la traduction, Paris, Bayard, 2004, S. 53-69: „Un ‚passage‘: traduire l’intraduisible“. 127 B. Croce, Estetica, op. cit., S. 76. ten (…).“ 122 Etwas weiter drückt er klar seine Ablehnung der begrifflichen Vereinnahmung der Kunst aus: „Der Irrtum beginnt dort, wo man versucht, vom Begriff den Ausdruck (lʼespressione) abzuleiten (…).“ 123 Er spricht in diesem Zusammenhang von einem „intellektualistischen Irrtum“ („errore intellettualistico“), der in mancher Hinsicht die Kritik der begrifflichen und wissenschaftlichen Heteronomie im New Criticism - vor allem bei Ransom - antizipiert. Wie radikal, einseitig und unhegelianisch eine solche Überbetonung der Ausdrucksebene ist, zeigen die Anwendungen dieser Ästhetik auf die Lite‐ ratur. Wer „Vermittlung“ im dialektischen Sinne durch „Selbständigkeit“ er‐ setzt, der muß davon ausgehen, daß literarische Texte nicht im historischen, sozialen und kulturellen Kontext, sondern nur immanent zu verstehen sind. Konsequent lehnt Croce jede Art von Gattungstheorie ab, bezeichnet den Gattungsbegriff als „leere Phantasie“ 124 und plädiert für eine rigoros werkimmanente Analyse, die sich auf das einzelne Werk konzentriert und jede spekulative Verknüpfung mit einem Oberbegriff (einem Gattungs- oder Epochenbegriff) strikt ablehnt. Es gibt nur den einzelnen Roman - etwa Don Quijote - nicht die Romangattung. Parallel zu dieser These stellt Croce (in Estetica, nicht jedoch in seinen späteren Werken) 125 die Behauptung auf, daß auch historische Erkenntnis nur Erkenntnis des Individuellen und der Geschichtsbegriff daher dem Kunstbegriff subsumierbar sei. Daß dieser Partikularismus, der dem Vermittlungsbegriff Hegels diame‐ tral entgegengesetzt ist, weitreichende methodologische Folgen hat, zeigt das neunte Kapitel der Estetica, in dem der Autor die Möglichkeit literari‐ scher Übersetzungen in Frage stellt. 126 Er spricht dort von der „Unmöglich‐ keit der Übersetzung“ („lʼimpossibilità delle traduzioni“) und fügt hinzu: „Tatsächlich mindert oder zerstört jede Übersetzung die Qualität oder läßt eine neue Ausdrucksform („nuova espressione“) entstehen (…).“ 127 Die „gute“ Übersetzung ist nach Croce eine Nachdichtung mit „Originalwert“ („valore originale“). I. Ästhetik und Dialektik: Zwischen Kant, Hegel und Nietzsche 66 128 Ibid., S. 156. 129 Ibid. 130 J. Thomas, „Zur idealistischen ‚decadentismo‘-Kritik. Croces ‚industria del vuoto‘ und nachphilosophische Wahrheiten bei Pirandello und anderen Dekadenten“, in: Aufstieg und Krise der Vernunft. Festschrift für Hans Hinterhäuser (Hrsg. M. Rössner, B. Wagner), Wien-Köln-Graz, Böhlau, 1984, S. 402. Angesichts dieser drastischen Aufwertung der Ausdrucksebene, die auch die Ästhetik des späten Croce von der Hegels trennt, nimmt es nicht wunder, daß der Autor der Estetica schließlich Ästhetik und Linguistik identifiziert: „Sprachphilosophie und Kunstphilosophie sind ein- und dasselbe.“  128 Es ist hier nicht der Ort, diese sonderbare Gleichung, die sich über den nichtsprachlichen Charakter der Musik und der bildenden Künste hinwegsetzt, anzuzweifeln; auch die Ineinssetzung von „Linguistik“ („Linguistica gene‐ rale“), „Sprachphilosophie“ („Filosofia del linguaggio“) und „philosophischer Linguistik“ („Linguistica filosofica“) 129 , die jedem heutigen Sprachwissen‐ schaftler ein Dorn im Auge sein muß, soll nicht weiter kommentiert wer‐ den. Wichtig ist hier lediglich die extreme Position der Estetica, die eine Verselbständigung der Signifikanten und eine Abwertung der Inhaltsebene (des Begriffs) ermöglicht. Sie erklärt, weshalb der Autor der Ästhetik diese als „Wissenschaft des Ausdrucks“ und als „allgemeine Linguistik“ definiert. Wie sehr Croces extremer Autonomismus sowie sein Verzicht auf den dialektischen Begriff der Vermittlung seiner eigenen literaturkritischen Praxis, vor allem seinen moralischen Urteilen über „dekadente“ Autoren wie Pirandello und Fogazzaro, widersprechen, zeigt Johannes Thomas. Mit Recht weist er darauf hin, daß die Estetica für derlei heteronome Urteile („Pessi‐ mismus“, „Dekadenz“) keine Grundlage abgibt. Wer die Autonomie der Ausdrucksebene betont und den literarischen Text - in Übereinstimmung mit dem Ästhetizismus - aus dem sozialen und historischen Kontext her‐ auslöst, der kann die ästhetische Stufe nicht mit der moralisch-politischen, die intuitive nicht mit der begrifflichen vermitteln: „Wenn nun gelten soll, daß die einzelnen Stufen unverbunden und in sich autonom nebeneinander stehen oder schweben, dann müßte Croce schon genauer erläutern, wie er sich den Übergang vom intuitiv Erfahrenen in den begrifflichen Bereich denkt, und mit welchem Recht, bzw. aufgrund welcher Argumente er den ästhetischen Geschmacksurteilen moralische Überzeugungen zugrunde legt.“ 130 Der Verzicht auf den dialektischen Begriff der Vermittlung kann nur (nicht-dialektische) Widersprüche zeitigen. 5. Von Croce zum New Criticism 67 131 Siehe: B. Croce, Aesthetica in nuce, Bari, Laterza, 1985 (10. Aufl.), S. 18: „(…) Fondamento di ogni poesia è la coscienza morale.“ 132 Ibid., S. 46: „(…) La filosofia del linguaggio fa tuttʼuno con la filosofia della poesia e dellʼarte (…).“ 133 Ibid., S. 66. 134 U. Schulz-Buschhaus, „Benedetto Croce und die Krise der Literaturgeschichte“, in: B. Cerquiglini, H. U. Gumbrecht (Hrsg.), Der Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie, Frankfurt, Suhrkamp, 1983, S. 287. Schulz-Buschhaus weist auch auf Croces Bedeutung für die New Critics hin: S. 292. Mag sein, daß der Hegel-Schüler Croce sich dessen bewußt war, denn in seinem Spätwerk schränkte er die Radikalität seines Autonomiebegriffs wieder ein durch einen ethisch fundierten Historismus, in den in seiner „kleinen Ästhetik“ - Aesthetica in nuce (1946) - auch der ästhetische Bereich integriert wird. 131 Doch auch - und vielleicht gerade - in diesem Büchlein, in dem „Sprachphilosophie“ und Ästhetik noch immer eine Einheit bilden 132 , zeigt sich, daß der Ästhetiker Croce Kant schon immer näher stand als Hegel: „Aber was er (Kant) verband, bleibt für immer verbunden“, schreibt er über den Nexus von Autonomiebegriff und Kunstbegriff und fährt fort: „Nach der Kritik der Urteilskraft ist die Rückkehr zu hedonistischen und utilitaristischen Erklärungen der Kunst und der Schönheit natürlich möglich, und solche Erklärungen sind auch vorgelegt worden: jedoch nur aus Unkenntnis und Unverständnis der Kantischen Ausführungen.“ 133 Einige Zeilen weiter wird Hegels Versuch, die Dichtung dem begrifflichen Denken der Philosophie unterzuordnen, abermals abgelehnt. Dieser Argumentation folgt der anglo-amerikanische New Criticism, dessen ästhetische Grundlagen von den Begründern zwar nie systematisch dargestellt wurden, die aber in jeder Hinsicht als kantianisch und crocea‐ nisch zu bezeichnen sind. Zum Abschluß möchte ich hier deshalb zeigen, daß die Einwände der New Critics gegen die ästhetische Heteronomie (gegen die sogenannten „fallacies“) aus Kants und Croces Philosophie stammen, aus einer Philosophie, von der Ulrich Schulz-Buschhaus schreibt: „Worum es Croce geht, ist folglich die ontologische Bewahrung der Dichtung vor allen kompromittierenden Verhältnissen, vorzüglich vor dem in Italien besonders peinlichen Kontakt mit der Gesellschaft und - was ja auf dasselbe hinauskommt - mit der Geschichte.“ 134 Es ist nicht einfach, vielleicht auch nicht legitim, den New Criticism, der nie eine Bewegung im Sinne des russischen Formalismus oder der Tel-Quel-Gruppe war, auf eine homogene Ästhetik festzulegen: zumal die I. Ästhetik und Dialektik: Zwischen Kant, Hegel und Nietzsche 68 135 Während W. K. Wimsatt in The Verbal Icon, New York, The Noonday Press, 1958, S. 244, Croces Position als „extrem“ bezeichnet („And Croceʼs idealism is indeed one plausible though extreme terminus of the cognitive tendency in criticism…“), schreibt er in einem später erschienenen Aufsatz: „(…) that the critic who wishes to retain his humanism and his identity as a literary critic will have to persevere in his allegiance to the party of Coleridge and Croce.“ (W. K. Wimsatt. „Battering the Object: The Ontological Approach“, in: Contemporary Criticism, London, Edward Arnold, 1970, S. 81.) 136 Siehe: I. A. Richards, Principles of Literary Criticism, London-Henley, Routledge and Kegan Paul, 1976, S. 201. 137 Siehe: J. E. Spingarn (Hrsg.), Critical Essays of the Seventeenth Century, Bd. 1, Oxford, University Press, 1908, S. XXXVIII. Vertreter dieser literaturwissenschaftlichen Richtung einander häufig wi‐ dersprechen und auch widersprüchliche Aussagen über Kant, Hegel oder Croce machen. 135 In ihrer Einschätzung von Croces Ästhetik sind sich jedenfalls I. A. Richards, der den Literaturbegriff der New Critics mitgeprägt hat, und J. E. Spingarn, der die Bezeichnung „New Criticism“ als erster verwendete, keineswegs einig: Während Richards sich immer wieder von Croce distan‐ ziert und ihm - etwa in Principles of Literary Criticism (1924) - vorwirft, Schlüsselbegriffe wie „Kunst“, „Intuition“, „Ausdruck“, „Einbildungskraft“ etc. als Synonyme zu verwenden 136 , stellt Spingarn in seinem Vortrag „The New Criticism“ (1910) die gesamte Literaturwissenschaft (Literaturkritik) aus der Sicht Croces dar, die er sich auch in anderen Arbeiten, etwa in der Einleitung zu seiner Anthologie Critical Essays of the Seventeenth Century (1908), zu eigen macht. 137 (Allerdings kann Spingarn nicht mit dem eigentlichen New Criticism identifiziert werden; seine Arbeiten zeigen jedoch, wie stark Croces Einfluß in den USA der Jahrhundertwende war.) Trotz Richardsʼ Kritik kann behauptet werden, daß sich die wesentlichen Theoreme der New Critics aus Kants und Croces Ästhetiken ableiten lassen. Nicht nur die Lektüre von Spingarns Schriften läßt den Einfluß dieser beiden Philosophen erkennen, sondern auch die Grundtendenz der Arbeiten von William K. Wimsatt, John Crowe Ransom und Cleanth Brooks, die drei Hauptcharakteristika aufweist: 1. Betonung der Ausdrucksebene und der Mehrdeutigkeit - auch in William Empsons Seven Types of Ambiguity (1930); 2. Plädoyer für eine werkimmanente Darstellung und 3. die These, daß Kunstwerke einmalige, unverwechselbare, d. h. individuelle Erscheinungen sind. Die beiden letzten Punkte setzen den ersten voraus: Wo die Ebene der Signifikanten in den Mittelpunkt gerückt wird, ist eine begriffliche, d. h. 5. Von Croce zum New Criticism 69 138 W. K. Wimsatt (zusammen mit M. C. Beardsley), The Verbal Icon. Studies in the Meaning of Poetry, New York, The Noonday Press, 1958, S. 222. 139 Siehe: ibid., S. 53: „The attempt to criticize poetry by ‚species‘ goes along with the Chicago interest in objects or things.“ 140 J. Löffler, „New Criticism“, in: A. Trebeß (Hrsg.), Metzler Lexikon Ästhetik, Stutt‐ gart-Weimar, Metzler, 2006, S. 279. 141 I. A. Richards, Principles of Literary Criticism, op. cit., S. 59. 142 C. Brooks, The Well Wrought Urn. Studies in the Structure of Poetry, San Diego-New York-London, Harcourt Brace Jovanovitch Publishers, 1949, S. 266. heteronome Reduktion des Textes auf etwas Andersartiges unmöglich. Der dritte Punkt wird von Wimsatt in The Verbal Icon (1958) explizit zu den ästhetischen Positionen Kants und Croces in Beziehung gesetzt: „Die hoch veranschlagte Individualität des Gedichts verdanken wir Kants ästhetischem Urteil ‚ohne Begriff ‘ sowie der ihm entsprechenden Intuition als Ausdruck bei Croce.“ 138 Dieses Beharren auf der Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit des literarischen Textes, der - ähnlich wie bei Croce - häufig mit dem lyrischen Gedicht identifiziert wird, erklärt den Antagonismus zwischen den New Critics und den von Aristoteles beeinflußten Chicago Critics (Ronald S. Crane, Richard McKeon u. a.), die nicht so sehr die Einmaligkeit, sondern die allgemeinen Gattungsmerkmale des Textes hervorheben. 139 Die werkimmanente Methode, die die New Critics mit Wolfgang Kayser (Das sprachliche Kunstwerk, 1948) und der französischen „critique univer‐ sitaire“ („explication de texte“) verbindet und auf einer „ahistorischen Werkästhetik“ 140 gründet, hängt eng mit der von Wimsatt postulierten „In‐ dividualität“ des Kunstwerks zusammen: Das Einmalige, Unverwechselbare kann nur als etwas sui generis untersucht werden; es ist nicht aus heterono‐ men Erscheinungen ableitbar. Dies meint Richards, wenn er feststellt: „Jedes Gedicht ist jedoch ein genau begrenzter Erfahrungsbereich, ein Bereich, der mehr oder weniger leicht zerfällt, wenn Fremdkörper eindringen.“ 141 Dieses werkimmanente Theorem wird immer wieder von Richardsʼ Schü‐ lern, etwa von William Empson in Seven Types of Ambiguity und von Cleanth Brooks in The Well Wrought Urn (1949), wo ein „reading of the poem itself “ 142 gefordert wird, bestätigt. Es ist ein close reading, das über den Rahmen des fiktionalen Textes nicht hinausgeht. Die werkimmanente Methode und das Postulat der dichterischen Einmalig‐ keit und Autonomie gründen beide auf der These, daß Literaturwissenschaft es primär mit der Ausdrucksebene zu tun hat. Ich sage primär, weil die New I. Ästhetik und Dialektik: Zwischen Kant, Hegel und Nietzsche 70 143 C. Brooks, R. P. Warren, Understanding Poetry, New York, Holt, Rinehart and Winston (1938), 1976, S. 6. 144 J. C. Ransom, The New Criticism, Norfolk (Conn.), New Directions, 1941, S. 280. 145 Ibid., S. 287. 146 Ibid., S. 291. 147 C. Brooks, The Well Wrought Urn, op. cit., S. 74. 148 lbid., S. 236. Critics keineswegs leugnen, daß literarische Texte metaphysische, ethische und religiöse Komponenten aufweisen: nur sind diese Komponenten sekun‐ där. Diese Rangordnung macht sich immer dann bemerkbar, wenn Vertreter des New Criticism betonen, daß die entscheidende Frage nicht lautet, was in der Literatur kommuniziert wird und warum, sondern wie kommuniziert wird. Die Hervorhebung des „Wie“ und der Ausdrucksebene verbindet alle New Critics miteinander: Cleanth Brooks und Robert Penn Warren sprechen von der Dichtung als einer „Art des Sagens“ („Poetry as a Way of saying“) und grenzen Literatur gegen Wissenschaft ab, die ihrer Ansicht nach darauf abzielt, „Behauptungen von absoluter Genauigkeit“ („statements of absolute precision“) 143 aufzustellen. Ihre Ansicht wird von John Crowe Ransom bestätigt, der die Dichtung jenseits des begrifflichen Denkens und der Wissenschaft ansiedelt: „Ich bin der Ansicht, daß Dichtung auf revolutionäre Art mit der Konvention der logischen Rede bricht (…).“ 144 Im Anschluß an den Semiotiker Charles W. Morris definiert er das sprachliche Kunstwerk als „ikonisches Zeichen“ („iconic sign“) 145 und fügt hinzu: „Das Ikon ist ein Partikulares. Das Parti‐ kulare ist undefinierbar, das heißt, es geht über die Definition hinaus.“ 146 Diesen Aussagen Ransoms, die aus seinem Standardwerk The New Criticism (1941) stammen, liegt der kantianische Gedanke zugrunde, daß das Gedicht oder der literarische Text als Ausdruck und Zusammenspiel vieldeutiger Signifikanten nicht mit Hilfe wissenschaftlicher Begriffe aufzulösen ist. Auf dieser These gründen alle Untersuchungen in Brooksʼ The Well Wrought Urn. Im Gegensatz zu Hegel, der behauptet, Dichtung könne ohne Verlust in andere Sprachen übersetzt oder begrifflich paraphrasiert werden, kommt Brooks zu dem Ergebnis, daß „das Gedicht das einzige Medium ist, welches das besondere ‚Was‘ mitteilt, das mitgeteilt wird“. 147 In Über‐ einstimmung mit Croce beurteilt Brooks die literarische Übersetzung mit großer Skepsis („the finer aspects of poetry elude translation“) 148 und spricht sich klar gegen alle philosophisch oder religiös, christlich oder marxistisch 5. Von Croce zum New Criticism 71 149 lbid., S. 239 und S. 246. 150 W. K. Wimsatt (M. C. Beardsley), The Verbal Icon, op. cit., S. 21. 151 Ibid. 152 W. K. Wimsatt, C. Brooks, Romantic Criticism (Literary Criticism, Bd. 3), London, Routledge and Kegan Paul, 1957, S. 508. motivierten Versuche aus, Dichtung aus heteronomen Prinzipien abzuleiten oder auf sie zu reduzieren. 149 In diesem Kontext sind die von den New Critics immer wieder aufgedeck‐ ten drei fallacies zu verstehen: die genetic, die intentional und die affective fallacy. Strenggenommen sind es ihrer nur zwei, weil die intentional fallacy dem Oberbegriff genetic fallacy untergeordnet werden kann: Es geht darum, daß der literarische Text nicht mit dem gesellschaftlichen Kontext, aus dem er hervorging („genetic“), oder mit der „Absicht“ (Biographie) des Autors verwechselt wird: „The Intentional Fallacy is a confusion between the poem and its origins, a special case of what is known to philosophers as the Genetic Fallacy.“ 150 Die affective fallacy verwechselt den Text mit dessen Rezeption, mit den psychologisch analysierbaren Reaktionen der Leser: „The Affective Fallacy is a confusion between the poem and its results (…).“ 151 Wie sehr diese Kritik der fallacies kantianischen und vor allem croceani‐ schen Ursprungs ist, zeigt das vierbändige Werk Literary Criticism. A Short History (1957), dessen Autoren Wimsatt und Brooks der Ästhetik Croces ein ganzes Kapitel widmen. Nach einer klaren Absage an die materialistischen Varianten der hegelianischen Ästhetik (Kap. 21: „The Real and the Social: Art as Propaganda“) zeigt die Auseinandersetzung mit Croce im 23. Kapitel („Expressionism: Benedetto Croce“), wie stark Croces Einfluß im New Criticism war. Dieser Einfluß erklärt sich u. a. aus der Tatsache, daß die Estetica (1902) recht bald von Douglas Ainslie ins Englische übersetzt und im Jahre 1907 unter dem Titel Aesthetic as a Science of Expression and General Linguistic veröffentlicht wurde. Zur Verstärkung seines Einflusses trug wesentlich Croces Ästhetik-Artikel („Aesthetic“) in der Encyclopaedia Britannica bei, zumal aufgrund dieses Artikels der Ästhetik-Begriff in der englischsprachi‐ gen Welt mit seinem Ansatz identifiziert oder zumindest assoziiert wurde. Vor diesem Hintergrund ist Brooksʼ und Wimsatts Kapitel zu lesen: Die Autoren berufen sich auf den italienischen Philosophen nicht nur, wenn es darum geht, die „affektiven Kunsttheorien“ („affective art theories“) als „fallacies“ abzulehnen 152 , sondern auch in ihrer Kritik des „Intentionalismus“ I. Ästhetik und Dialektik: Zwischen Kant, Hegel und Nietzsche 72 153 Ibid., S. 517. 154 Ibid., S. 518. 155 Ibid., S. 512. 156 R. Weimann, Literaturgeschichte und Mythologie. Methodologische und historische Stu‐ dien, Frankfurt, Suhrkamp, 1977, S. 64. Siehe auch R. Weimann, „New Criticism“ und die Entwicklung der bürgerlichen Litera‐ turwissenschaft, München, Beck, 1962, S. 132-133. 157 Siehe: S. Collini, Liberalism and Sociology. L. T. Hobhouse and the Political Argument in England 1880-1914, Cambridge, University Press, 1983. („intentional fallacy“), der didaktisch ausgerichteten Literaturwissenschaft („didactic criticism“) und des Biographismus. 153 Obwohl sie Croces intuitive und impressionistische Vorgehensweise tadeln und ihrerseits für eine Gesamtbetrachtung des literarischen Textes plädieren („literary works as integrated objects“) 154 , stimmen sie mit dem neapolitanischen Ästhetiker in einem springenden Punkt überein, der zu‐ gleich den ideologischen Nexus zwischen der Estetica und dem New Criti‐ cism bildet: in der Bejahung des sozialen und politischen Individualismus und in der Befürwortung einer individualistischen Methode in den Sozial- und Kulturwissenschaften, einer Methode, die sich auf das einzelne Werk konzentriert. Die Autoren teilen Croces Ansicht, daß das individuelle Werk nicht in abstrakten Gattungs- oder Epochenbegriffen aufzulösen ist: „Aber der unantastbaren allgemeinen Regel setzt Croce das unantastbare Individuelle gegenüber - das Individuelle, das nicht von der begrifflichen Abstraktion erfaßt werden darf, wenn es seine ästhetische Geltung bewahren soll.“ 155 Anders als Robert Weimann glaube ich daher, daß nicht der Konserva‐ tismus einiger amerikanischer New Critics sowie die „ideologischen Strö‐ mungen der imperialistischen Epoche“ 156 den Entstehungszusammenhang dieser Literaturwissenschaft bilden, sondern die von der imperialen Politik verursachte Krise des Liberalismus und des liberalen Individualismus. Aus dieser Krise gingen sowohl in der Literaturwissenschaft als auch in der Soziologie kritische Diskurse hervor, die für die individuelle Autonomie, die Autonomie der Kunst und eine Demokratisierung der Gesellschaft im liberalen Sinne plädierten. Die Essays der New Critics sind parallel zu den soziologischen Schriften der liberalen Individualisten Leonard T. Hobhouse und J. A. Hobson zu lesen. 157 Der liberale Individualismus dieser Autoren und der New Critics verbindet sie mit Kant und Croce - und trennt sie von Hegel und Marx. 5. Von Croce zum New Criticism 73 II. Vom Marxismus zum Formalismus Wie im vorigen Kapitel sollen auch hier heterogene Standpunkte zusam‐ mengeführt, dialogisch aufeinander bezogen werden. Denn ich meine, daß die ästhetischen Theorien Bachtins, Benjamins und Adornos, die in den folgenden Kapiteln besprochen werden, vor dem Hintergrund der formalis‐ tisch-marxistischen Auseinandersetzungen noch am ehesten zu verstehen sind. Vor allem Adorno und Bachtin können als „junghegelianische“ Kritiker der Hegelschen Heteronomie gelesen werden, die sie allerdings nicht - wie die russischen Formalisten - einseitig verwerfen, um jenseits von psy‐ chischen und sozialen Determinanten eine autonome Entfaltung der Kunst zu schildern. Beide versuchen, zwischen „autonomen“ und „heteronomen“ Positionen dialektisch zu vermitteln. Michail Bachtins, Pavel Medvedevs und Valentin Vološinovs Untersu‐ chungen, die z.T. aus den 1920er Jahren stammen, lassen vermuten, daß es vielleicht schon in der frühen Sowjetunion, in der sehr lebhafte Dis‐ kussionen zwischen Marxisten und Formalisten stattfanden, sowohl im formalistischen als auch im marxistischen Lager zu bedeutenden Vermitt‐ lungsversuchen und Synthesen gekommen wäre, wenn der nach Lenins Tod (1924) erstarkende Stalinismus die theoretische Diskussion nicht aus politischen Gründen abgewürgt hätte. Die politischen Eingriffe in die formalistisch-marxistische Debatte sollten jedoch nicht als Übergriffe einer totalitär werdenden Staatsmacht schlicht zur Kenntnis genommen oder bedauert werden. Denn sie zeigen, daß Theorie ebensowenig über den ge‐ sellschaftlichen Konflikten schwebt wie die Kunst und daß „Autonomie“ und „Heteronomie“, „Kantianismus“ und „Hegelianismus“, „Ausdrucksebene“ und „Inhaltsebene“ politische Komponenten aufweisen, über die sich die Literaturwissenschaft nicht hinwegsetzen sollte. Es nimmt nicht wunder, daß die Marxisten als Erben Hegels diese Komponenten stärker betonten als die Formalisten, die gegen den Biogra‐ phismus und Psychologismus der damaligen russischen Literaturkritiker aufbegehrten, sowie gegen die Metaphysik des Symbolismus. Im Gegensatz zu den hegelianischen Marxisten, die immer wieder den begrifflichen, ideologischen Charakter literarischer Werke hervorhoben, richteten die For‐ malisten ihr Augenmerk auf die Ausdrucksebene, die auch von den mit ihnen 1 Siehe: A. A. Hansen-Löve, Der russische Formalismus, Wien, Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 1978, S. 191: „Die einzige diskussionswürdige Paralleli‐ tät zwischen FI (der ersten Phase des Formalismus, P. V. Z.) und kantianischer Ästhetik liegt in der Definition des Form-Begriffs selbst (…).“ 2 Bachtin mag recht haben, wenn er historische Zusammenhänge zwischen dem For‐ malismus und Kants Ästhetik leugnet: „Es ist keineswegs überflüssig anzumerken, daß die sogenannte formale Methode mit der formalen Ästhetik (Kant, Herbart und anderer - im Gegensatz zur Inhalts-Ästhetik Schellings, Hegels und anderer) weder historisch noch systematisch in irgendeinem Zusammenhang steht, auch nicht auf ihrem Entwicklungsweg liegt; in der allgemein ästhetischen Schicht ist sie als eine der Spielarten - und es ist hinzuzufügen: als eine vereinfachte und primitive - der von uns angeführten Material-Ästhetik zu bestimmen, deren Geschichte die Geschichte der Kunstwissenschaften in ihrem Kampf um die Unabhängigkeit von der systematischen Philosophie ist.“ (M. M. Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, Frankfurt, Suhrkamp, 1979, S. 100.) Nicht zu leugnen ist - unabhängig von allen Spekulationen über Einflüsse - der typologisch-systematische Zusammenhang, den auch V. Erlich in seiner bekannten verbündeten Futuristen zum eigentlichen Anliegen der Literaturtheorie und der literarischen Avantgarde gemacht wurde. Anders als ihre marxistischen Kontrahenten, die vorwiegend, nicht je‐ doch ausschließlich, nach dem Was und dem Warum der Texte fragten (Warum ist ein literarisches Werk in einem bestimmten historischen Kon‐ text entstanden, und was drückt es aus? ), gingen Formalisten wie Viktor Šklovskij und Boris Ejchenbaum der für sie wesentlichen Frage nach, wie Cervantesʼ Don Quijote oder Gogols Der Mantel „gemacht sind“: „Wie Gogols Mantel gemacht ist“ („Kak sdjelana Šinelʼ Gogolʼja“) lautet der symptomati‐ sche Titel von Ejchenbaums Aufsatz. Es ist eines der wichtigsten Anliegen dieses Kapitels zu zeigen, daß die marxistische und die formalistische Frage einander nicht ausschließen, weil es nicht nur sinnvoll, sondern auch notwendig ist, nach dem Warum des Wie zu fragen und die Veränderungen auf der Ausdrucksebene nicht nur zu beschreiben, sondern auch soziologisch zu erklären. Parallel zur Beziehung zwischen Inhaltsebene und Ausdrucksebene ist die Beziehung zwischen dem Hegelianismus der Marxisten und dem „Kantianis‐ mus“ der Formalisten zu betrachten. Die Bezeichnung „Kantianismus“ setze ich hier in Anführungszeichen, weil die Ästhetik der Formalisten nicht ohne weiteres als kantianisch zu bezeichnen ist, wie Hansen-Löve richtig gesehen hat. 1 Dennoch weist sie kantianische Aspekte auf, die nur kontrastiv, d. h. im Rahmen einer Gegenüberstellung von Formalismus und hegelianischem Marxismus, in Erscheinung treten: Nicht nur der Formbegriff verbindet - trotz Bachtins vehementer Dementis - die Formalisten mit Kant 2 , son‐ II. Vom Marxismus zum Formalismus 76 Studie Russischer Formalismus, Frankfurt, Suhrkamp, 1973, S. 182 und S. 234 erkannt hat. 3 Siehe: K. Marx, „Kritik der Hegelschen Staatsphilosophie“, in: ders., Die Frühschriften. Von 1837 bis zum Manifest der kommunistischen Partei 1848 (Hrsg. S. Landshut), Stuttgart, Kröner, 1971. dern auch ihre These über die Begriffslosigkeit des Kunstwerks sowie ihre Aufwertung des Rezipienten, des Betrachters und Lesers, der in den hegelianischen Ästhetiken idealistischer und materialistischer Prägung stets eine untergeordnete Rolle gespielt hat. (Dies bedeutet jedoch keineswegs, daß im frühen oder späten Formalismus die literarische Produktion sekundär ist.) Abschließend noch eine Bemerkung zum Aufbau dieses Kapitels: Histo‐ risch betrachtet wäre es sicherlich sinnvoller gewesen, russische Marxisten wie Lev Trockij oder Anatolij Lunačarskij, die sich in den 1920er Jahren unmittelbar mit den Formalisten auseinandersetzten, ins Zentrum dieser Diskussion zu rücken. Es geht hier jedoch nicht primär um eine historische Aufarbeitung der Debatte, sondern um den zugleich ästhetischen und methodologischen Vergleich zweier gegensätzlicher Positionen, von denen die marxistische umfassender, genauer und zeitgemäßer von Autoren wie Georg Lukács und Lucien Goldmann vertreten wird als von Trockij oder Lunačarskij‚ die weder eine philosophische Ästhetik noch eine literaturwis‐ senschaftliche Methode ausgearbeitet haben. Auch Georgij Plechanovs Determinismus ist eher dazu angetan, den marxistischen Standpunkt zu diskreditieren, als ihn plausibel zu machen. Dies ist der Grund, weshalb ich hier nach einer kurzen Darstellung der Marxschen Kunstauffassung ausführlicher auf die hegelianischen Marxisten Lukács und Goldmann eingehe. Die russischen Marxisten kommen am Ende, in meiner Kritik der formalen Methode, zu Wort. 1. Der Literatur- und Kunstbegriff bei Marx und Engels Die These, Karl Marx (1818-1883) sei in allen Phasen seiner Entwicklung als materialistischer Hegelianer oder zumindest als ein kritischer Schüler Hegels zu verstehen, ist umstritten: Während Marxisten wie Henri Lefebvre, Lucien Goldmann und Georg Lukács von der Annahme ausgehen, daß Marxens materialistische Kritik an Hegel 3 nie zu einer völligen Abwendung von Hegels historischer Dialektik führte, stehen Louis Althusser und seine 1. Der Literatur- und Kunstbegriff bei Marx und Engels 77 4 Siehe: L. Althusser, Lénine et la philosophie, Paris, Maspero, 1972, S. 53. 5 Siehe: Vf., Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, Tübingen, Francke, 1989, Kap. 5. 6 K. Marx, Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie, in: ders., Werke, Artikel, literarische Versuche bis März 1843, in: K. Marx, F. Engels, Gesamtausgabe (MEGA), Berlin, Dietz Verlag, 1975, S. 13. 7 K. Marx, „Kritik der Hegelschen Staatsphilosophie“, in: ders., Die Frühschriften, op. cit., S. 74. Schüler (Michel Pêcheux, Pierre Macherey) auf dem Standpunkt, daß es in Marxens Entwicklung spätestens um 1857 zu einem radikalen Bruch mit den spekulativen Philosophien Kants, Fichtes und Hegels kam. Althusser geht noch einen Schritt weiter und behauptet, Marx sei außer in den Philosophisch-Ökonomischen Manuskripten von 1844 nie wirklich Hege‐ lianer gewesen. Das Kapital betrachtet er als Grundlage einer völlig neuen Geschichtswissenschaft, die als exakte, von metaphysischer Spekulation gereinigte Wissenschaft mit der Galileischen Physik zu vergleichen sei. 4 Es ist nicht meine Absicht, hier näher auf diese Diskussionen über Marxens Hegelianismus einzugehen; es ist aber wichtig, sie zu erwähnen, damit nicht der Eindruck entsteht, Marx könne nicht anders als im Zusam‐ menhang mit Hegels Philosophie rezipiert werden. Eine „hegelianische“ Deutung seiner Werke ist indessen keineswegs absurd, sondern scheint mir angemessener zu sein als die szientistische der Althusserianer, mit der ich mich an anderer Stelle ausführlich befaßt habe. 5 Schon in seiner Dissertation über die vorsokratischen Materialisten De‐ mokrit und Epikur zeigt Marx, daß er mit Hegels Schriften vertraut ist und daß er wesentliche Ansichten Hegels teilt: „Hegel hat (…) das Allgemeine der genannten Systeme (Demokrits, Epikurs, P.V.Z.) im Ganzen richtig bestimmt (…).“ 6 Wenige Jahre später folgt allerdings die materialistische Kritik der Hegelschen Rechts- und Staatsphilosophie, in der Marx u. a. bemerkt: „Hegel ist nicht zu tadeln, weil er das Wesen des modernen Staats schildert, wie es ist, sondern weil er das, was ist, für das Wesen des Staats ausgibt. Daß das Vernünftige wirklich ist, bewegt sich eben im Widerspruch der unvernünftigen Wirklichkeit (…).“ 7 Hegels idealistische Apologie des (preußischen) Staates gründet auf seiner Annahme, daß gesellschaftliche Widersprüche nur Scheinwidersprüche sind und auf ideeller Ebene, d. h. mit den Mitteln der Philosophie, überwunden werden können. Auf dieses Problem kommt Marx noch einmal in seinem Nachwort zur zweiten Auflage des Kapitals (1873) zu sprechen, wo in einer bekannten und vielzitierten Passage seine Einstellung zu Hegel klare Konturen annimmt. Er II. Vom Marxismus zum Formalismus 78 8 In der 2. Aufl. steht noch „untergeht“ statt „erleidet“. 9 K. Marx, Das Kapital 1. Der Produktionsprozeß des Kapitals, Frankfurt-Berlin-Wien, Ullstein, 1969, S. 12. 10 Siehe auch: ibid., S. 273, wo Hegels Theorem des Umschlagens von Quantität in Qualität zitiert wird: „Hier, wie in der Naturwissenschaft bewährt sich die Richtigkeit des von Hegel in seiner Logik entdeckten Gesetzes, daß bloß quantitative Veränderungen auf einem gewissen Punkt in qualitative Unterschiede umschlagen.“ (Mir ist unverständlich, wie sich Althusser und seine Schüler über solche Passagen hinwegsetzen können…) 11 Siehe: M. A. Rose, Marxʼs lost Aesthetic. Karl Marx and the Visual Arts, Cambridge, Cambridge Univ. Press, 1984, S. 86: „The Aesthetics of Vischer which Marx was to review in 1857 was, moreover, a neo-Hegelian work in which some of the Idealist ideas refunctioned by Marx in his Grundrisse Introduction had been discussed.“ wirft einigen seiner Zeitgenossen vor, daß sie Hegel als „toten Hund“ behan‐ deln und fährt fort: „Ich bekannte mich daher offen als Schüler jenes großen Denkers, und kokettierte sogar hier und da im Kapitel über die Werttheorie mit der ihm eigentümlichen Ausdrucksweise. Die Mystifikation, welche die Dialektik in Hegels Händen erleidet, 8 verhindert in keiner Weise, daß er ihre allgemeinen Bewegungsformen zuerst in umfassender und bewußter Weise dargestellt hat. Sie steht bei ihm auf dem Kopf. Man muß sie umstülpen, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken.“ 9 Der Autor des Kapitals kokettiert nicht nur im Kapitel über die Werttheorie mit Hegels Denkweise und Sprachduktus. 10 Angesichts dieser engen Beziehung zwischen Hegel und dem Junghegeli‐ aner Marx, der Friedrich Theodor Vischers Ästhetik (6 Bde., 1857) rezensie‐ ren sollte 11 , ist der Hegelianismus der Marxschen Kunstbetrachtung nichts Außergewöhnliches. In ihr werden drei wesentliche Komponenten der Vorlesungen über die Ästhetik weiterentwickelt: die historische Perspektive, die Hervorhebung des Produktionszusammenhangs und die Definition des Kunstwerks als sinnlicher Erscheinung der Idee („sinnliches Scheinen der Idee“, Hegel). Es versteht sich von selbst, daß in dem von Marx entworfenen materialistischen Kontext, der auf besonders prägnante Art in den „Thesen über Feuerbach“ zum Ausdruck kommt, alle drei Komponenten eine neue Bedeutung annehmen. Die ersten beiden treten in Marxens „Einleitung“ zu den Grundrissen (1857) in den Vordergrund, wo es um die Produktionsbedingungen der Kunst sowie um die ungleiche Entwicklung von Kunst (Kultur), Gesellschaft und Wirtschaft geht: „Die griechische Kunst setzt die griechische Mythologie voraus, d. h. die Natur und die gesellschaftlichen Formen selbst schon in einer unbewußt künstlerischen Weise verarbeitet durch die Volksphan‐ 1. Der Literatur- und Kunstbegriff bei Marx und Engels 79 12 K. Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie (Rohentwurf 1857-1858), Berlin, Dietz, 1974, S. 31. 13 Ibid. 14 M. A. Rose, Marxʼs lost Aesthetic, op. cit., S. 82. 15 K. Marx, Grundrisse, op. cit., S. 31. 16 Siehe: H. R. Jauß, Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt, Suhrkamp, 1997 (11. Aufl.), S. 159. tasie.“ 12 In der Frage, die Marx im Anschluß an diese Erklärung stellt, nämlich ob „Achilles mit Schießpulver und Blei“ 13 möglich sei, zeichnet sich seine materialistische Umdeutung von Hegels Produktionsbegriff ab: Es geht nicht mehr um die Selbstentfaltung der Idee, sondern um die Frage, welche kulturellen („geistigen“) Formen unter konkreten wirtschaftlichen, technischen und gesellschaftlichen Bedingungen entstehen. Neben der historischen Perspektive ist hier also die genetische oder produktionsästhetische Frage nach dem Entstehungszusammenhang entschei‐ dend: etwa die Frage, warum das Epos (z. B. das Rolandslied) in feudalen, die klassizistische französische Tragödie (z. B. Racines) in absolutistischen Verhältnissen entstanden ist. Eine andere für Marx und die Marxisten charakteristische Frage lautet: Warum, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen ist die europäische Avantgarde um die Jahrhundertwende in Italien (Marinetti) und Frankreich (Breton) entstanden? Margaret A. Rose hat jedenfalls recht, wenn sie über den methodologi‐ schen Aspekt des Marxschen Ansatzes schreibt: „Vor allem hat Marx die Aufmerksamkeit vom Kunstobjekt selbst gelöst und auf dessen Produkti‐ onsprozeß gelenkt (…).“ 14 Unbeantwortet bleibt bei ihm allerdings die später berühmt gewordene und von Vertretern der „Rezeptionsästhetik“ aufgegrif‐ fene Frage aus der „Einleitung“ zu den Grundrissen, weshalb Kunstgebilde der griechischen Antike, die unter archaischen Bedingungen entstanden sind, Angehörigen von Industriegesellschaften immer „noch Kunstgenuß gewähren“. 15 (Diese Frage, an die H. R. Jauß anknüpft, um seine rezeptionsästhetische Argumentation zu stützen 16 , gründet allerdings auf der nicht hinterfragten Annahme, daß sie in der modernen Industriegesellschaft immer noch als „unerreichbare Ideale“ gelten und mit Begeisterung rezipiert werden. Indessen ist jedem klar, daß die Begeisterung für Homers Ilias aus dem 19. Jahrhundert nicht in das Jahrhundert der Popkultur herübergerettet werden konnte und daß die Vertreter avantgardistischer Bewegungen von Marinetti bis Warhol weit davon entfernt waren, klassische Kunstwerke als unerreichbare Ideale zu genießen oder gar zu verehren.) II. Vom Marxismus zum Formalismus 80 17 K. Marx, F. Engels, Über Kunst und Literatur (2 Bde.), Berlin, Dietz, 1967, Bd. 1, S. 181. 18 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, Bd. 1, Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S. 25. 19 K. Marx, F. Engels, Über Kunst und Literatur, op. cit., Bd. 2, S. 322. Marxens Hegelianismus tritt auch dort zutage, wo Marx von literarischen Texten eine „sinnliche“ Darstellung begrifflich faßbarer, erkennbarer Zu‐ sammenhänge fordert. So wirft er beispielsweise im Verlauf der sogenannten „Sickingen-Debatte“ Ferdinand Lassalle vor, dieser habe die Protagonisten seines Dramas Franz von Sickingen (1859) zu Sprachrohren seiner eigenen Gesellschaftstheorie gemacht, statt sie als konkret-sinnliche Gestalten in Szene zu setzen, deren Charaktere und Handlungen für sich sprechen und dadurch den Gesamtzusammenhang erhellen: „Du hättest dann von selbst mehr shakespearisieren müssen, während ich Dir das Schillern, das Verwandeln von Individuen in bloße Sprachröhren des Zeitgeistes, als bedeutendsten Fehler anrechne.“ 17 Vom Helden des Dramas, von Franz von Sickingen, sagt Marx, er sei „viel zu abstrakt“. Diese Art von schlechter Abstraktion lehnte schon Hegel ab, als er in den Vorlesungen über die Ästhetik schrieb: „Für das Kunstinteresse aber wie für die Kunstproduktion fordern wir im allgemeinen mehr eine Lebendigkeit, in welcher das Allgemeine nicht als Gesetz und Maxime vorhanden sei, sondern als mit dem Gemüte und der Empfindung identisch wirke, wie auch in der Phantasie das Allgemeine und Vernünftige als mit einer konkreten sinnlichen Erscheinung in Einheit gebracht enthalten ist.“ 18 Entscheidend ist also - bei Hegel wie bei Marx - die Einheit von allgemeiner, vernünftiger Maxime und sinnlicher Erscheinung. Auf das Vernünftige, das Begriffliche, hat keiner der Hegelianer verzich‐ tet, auch Friedrich Engels (1820-1895) nicht, der in einem Brief an Minna Kautsky (26. 11. 1885), in dem er ihren Roman Die Alten und die Neuen kommentiert, die gelungene Synthese von Bild und Begriff, sinnlicher Erscheinung und vernünftigem Allgemeinem, lobt: „Auf beiden Gebieten finde ich auch die gewohnte scharfe Individualisierung der Charaktere; jeder ist ein Typus, aber auch zugleich ein bestimmter Einzelmensch, ein ‚Dieser‘‚ wie der alte Hegel sich ausdrückt, und so muß es sein.“ 19 An dieser Stelle wird deutlich, daß die Theorie des Typischen, des sinnlich-konkre‐ ten Allgemeinen, die Georg Lukács später systematisch entwickelt (vgl. Abschn. 2), von Hegel stammt und daß sie nicht - wie es bisher häufig geschah - unabhängig von den Vorlesungen über die Ästhetik erörtert werden sollte. 1. Der Literatur- und Kunstbegriff bei Marx und Engels 81 20 Ibid., S. 82. 21 S. S. Prawer, Karl Marx and World Literature, Oxford, Clarendon Press, 1976, S. 96. Siehe auch S. 97, wo Prawer die Bedeutung des Typus-Begriffes bei Marx hervorhebt: „Above all: the critic must ask himself whether a given fictional character is at once individual and representative.“ 22 P. Demetz, Marx, Engels und die Dichter, Stuttgart, DVA, 1959, S. 107. 23 Ibid., S. 102. Ähnlich wie Engels äußert sich auch Marx: nicht nur in seiner Kritik an Lassalles Drama, sondern auch in seiner Polemik gegen Franz Zychlins (alias Szeligas) Interpretation von Eugène Sues Les Mystères de Paris (1842), über deren moralisierende Abstraktheit er sich lustig macht. Gerade die Person des Pariser Notars Jacques Ferrand, die Sue als konkreten Typus darstellt (und dadurch die Vereinigung der französischen Notare und die Zensur gegen sich aufbringt), wird vom Moralisten Zychlin-Szeliga völlig verkannt, weil er mit der Bezeichnung „Notar“ auf abstrakte Art „Religion, Moral, Rechtschaffenheit und Frömmigkeit“ verbindet. Marx jedoch weist auf die gesellschaftliche Funktion dieser Romanfigur hin: „Die Stellung, welche der Notar in dem Roman Eugen Sues behauptet, hängt genau mit seiner offiziellen Stellung zusammen.“ 20 Als Ideologiekritik, als Kritik eines abstrakten Idealismus mag Marxens Polemik noch so bestechend sein; sie läßt jedoch zugleich die wichtigste Schwachstelle der materialistisch-hegelianischen Literaturauffassung er‐ kennen: die Neigung, literarische Texte zunächst in begriffliche Aussagen zu übersetzen, um sie dann auf ihre denotative, dokumentarische Funktion zu reduzieren. „Marx“, bemerkt S. S. Prawer, „richtet sein Augenmerk nicht so sehr auf Form und Struktur, sondern viel eher auf die Charakterdarstellungen des Roman- oder Dramenschriftstellers.“ 21 Diese Einschätzung wird von Peter Demetz in Marx, Engels und die Dichter bestätigt. 22 Demetz geht in seiner Kritik weiter als Prawer und wirft Marx dessen Ökonomismus vor: „Zwi‐ schen den Felsen ökonomischer Notwendigkeit und dem schattenhaften Chaos des intellektuellen Überbaues erscheint der Geist des Menschen zu einer passiven Apparatur erniedrigt.“ 23 Obwohl ich nicht meine, daß dieser (z.T. ideologisch motivierte) Ökono‐ mismus-Vorwurf wirklich ins Schwarze trifft, da Marx ja immer wieder auf die ungleiche Entwicklung von Wirtschaft und Kultur zu sprechen kommt, glaube ich, daß die Reduktion des literarischen Textes auf dessen begriffliche Komponenten und auf dessen denotative, referentielle Funktion II. Vom Marxismus zum Formalismus 82 24 K. Marx, Das Kapital, Bd. 3, op. cit., S. 38. 25 Siehe: S. S. Prawer, Karl Marx and World Literature, op. cit., S. 22. 26 K. Marx, in: S. S. Prawer, op. cit., S. 22. die entscheidende, stets von neuem kritisierte Schwäche der materialis‐ tisch-hegelianischen Ästhetik ist. Man braucht nur Marxens oder Engelsʼ Kommentare zu Balzacs Comédie humaine zu lesen, um zu verstehen, was gemeint ist: „In seinem letzten Roman, den Paysans, stellt Balzac, überhaupt ausgezeichnet durch tiefe Auffassung der realen Verhältnisse, treffend dar, wie der kleine Bauer, um das Wohlwollen seines Wucherers zu bewahren, diesem allerlei Arbeiten umsonst leistet und ihm damit nichts zu schenken glaubt, weil seine eigne Arbeit ihm selbst keine bare Auslage kostet.“ 24 Es wäre sicherlich unfair, diese Passage, die aus dem dritten Band des Kapitals stammt, von ihrem ursprünglichen Kontext zu isolieren und Marx vorzuwerfen, er sei einer referentiellen „fallacy“ im Sinne der New Critics aufgesessen. Natürlich war es Marx um die Analyse des Kapitals und nicht um eine Neubestimmung der Romangattung zu tun. Seine Argumentationen zeigen indessen, daß es von der begrifflichen zur referentiellen Reduktion des literarischen Werkes nur ein Schritt ist und daß beide Reduktionen von Hegels Ästhetik, in der Kunstwerke auf sinnliche Art Ideen ausdrücken und historische Zustände widerspiegeln, antizipiert werden. Die Frage, die sowohl M. Lifschitz als auch S. S. Prawer beschäftigt: ob Marx Hegels Vorlesungen (1835) wirklich gelesen hat, ist nicht entscheidend; entscheidend scheint mir Prawers Bemerkung zu sein, daß Marx - wie so viele seiner Zeitgenossen - Terminologie und Argumentation dieses Werkes recht gut kannte. 25 Davon zeugen die folgenden Verse, mit denen er sich - wenn auch auf ironische Art - zu Hegels Ästhetik bekennt: Verzeiht uns Epigrammendingen, Wenn wir fatale Weisen singen, Wir haben uns nach Hegel einstudiert, Und seinʼ Ästhetik noch nicht - abgeführt. 26 2. Georg Lukácsʼ Theorie der Widerspiegelung Von Georg Lukács (1885-1971) kann behauptet werden, er habe Hegels Ästhetik nicht nur „nicht abgeführt“, sondern mit materialistischen Mitteln sowohl im terminologischen als auch im methodologischen Bereich weiter‐ 2. Georg Lukácsʼ Theorie der Widerspiegelung 83 27 H. Arvon, LʼEsthétique marxiste, Paris, PUF, 1970, S. 9. 28 G. Lukács, Die Theorie des Romans, Neuwied-Berlin, Luchterhand, 1971, S. 9. entwickelt. Henri Arvon mag zwar recht haben, wenn er diese Ästhetik als eine „Propädeutik zur marxistischen Ästhetik“ („propédeutique à lʼes‐ thétique marxiste“) 27 auffaßt; seine Erklärung dieses Zusammenhangs, die auf der Überlegung gründet, daß schon Hegels Ästhetik die „Entwicklung der menschlichen Gesellschaften“ einbezieht, ist allerdings recht schwach: Denn der Hegelianismus eines Lukács ist nicht schlicht aus Hegels Interesse für die historische Entwicklung der Gesellschaften abzuleiten, sondern aus der Tatsache, daß Marx und seine Schüler Grundbegriffe der Hegelschen Philosophie übernommen und auf den ästhetischen Bereich angewandt haben. Ihr Hegelianismus, der einen bald latenten, bald offenen Gegensatz zu Kant einschließt, weist eine politische Dimension auf, die am klarsten in den Auseinandersetzungen mit dem Formalismus (vgl. Abschn. 5) in Erscheinung tritt. Bevor ich Lukácsʼ Theorie der Widerspiegelung und ihre Terminologie näher untersuche, will ich daher kurz auf seinen Hegelianis‐ mus und seine Kant-Kritik eingehen. Es wird sich zeigen, daß die Kant-Kritik den Hegelianismus in jeder Hinsicht bestätigt und ergänzt. Lukácsʼ wichtigstes Jugendwerk, Die Theorie des Romans (1920), zeugt von einem durch Kant- und Kierkegaard-Lektüren vermittelten, skeptischen Hegelianismus, der den Bruch zwischen Subjekt und Objekt, Bewußtsein und Sein zum Hauptthema werden läßt. Lukács selbst charakterisiert diese unvollendete Studie als „das erste geisteswissenschaftliche Werk, in dem die Ergebnisse der Hegelschen Philosophie konkret angewendet wurden“. 28 Die Anwendung mutet allerdings eher begrifflich-abstrakt als konkret an, weil der Autor die wichtigsten Romantypen mit Bewußtseinsformen oder Welt‐ anschauungen identifiziert und sich über die Vieldeutigkeit eines Romans wie Cervantesʼ Don Quijote hinwegsetzt. Sein Streben nach umfassender, totaler Bedeutungszuordnung im Sinne von Hegel verstellt ihm den Ausblick auf den historischen Bedeutungswandel der Texte. Auch in den Vorarbeiten zu seiner ersten marxistischen Buchveröffentli‐ chung Geschichte und Klassenbewußtsein (1923) definiert Lukács die für sein Gesamtwerk zentrale Kategorie der Totalität in Übereinstimmung mit Hegel. Dabei wird die Beziehung zwischen dem Ganzen und den Teilen, die auch für Lukácsʼ Schüler Lucien Goldmann wesentlich ist, in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt: „Hieraus wird der folgende Fundamentalsatz der II. Vom Marxismus zum Formalismus 84 29 G. Lukács, „Was ist orthodoxer Marxismus? “ (1. Fassung), in: ders., Taktik und Ethik, Budapest, 1919, Raubdruck, S. 65. 30 L. Goldmann, Le Dieu caché, Paris, Gallimard, 1955, S. 15. 31 Siehe: G. Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein, Darmstadt-Neuwied, Luchterhand 1968, S. 25: „Das Proletariat als identisches Subjekt-Objekt der wirklichen Mensch‐ heitsgeschichte ist also keine materialistische Verwirklichung, die die idealistischen Gedankenkonstruktionen überwindet, sondern weit eher ein Überhegeln Hegels (…).“ 32 G. Lukács, Der junge Hegel, Bd. 2, Frankfurt, Suhrkamp, 1973, S. 460. 33 Ibid., S. 461. dialektischen Methode, die Theorie des Hegelschen konkreten Begriffs, verständlich. Kurz gesagt bedeutet sie, daß das Ganze den Teilen gegenüber den Vorrang hat, daß man aus dem Ganzen die Teile und nicht aus den Teilen das Ganze zu deuten habe.“ 29 Den Logozentrismus dieser Aussagen schwächt Goldmann später in Le Dieu caché mit dem Hinweis ab, daß „die Teile und das Ganze einander wechselseitig erhellen sollen“. 30 Lukács hat später den Hegelianismus von Geschichte und Klassenbewußt‐ sein selbstkritisch relativiert. 31 Jeder, der seinen philosophischen Werdegang kennt, weiß indessen, daß Hegel - nach Marx - sein liebster Bürge war: auch in einer Zeit, als die Parteidisziplin, der Lukács immer wieder Konzessionen machte, hegelianisch-idealistische Abweichungen erheblich erschwerte. In dieser Zeit - in den späten 1930er Jahren - entstand seine umfangreiche Arbeit Der junge Hegel, die von einem ungebrochenen Hegelianismus des Autors zeugt. Dieser Hegelianismus hat u. a. zur Folge (und dies ist hier der springende Punkt), daß Lukács in regelmäßigen Abständen Hegel gegen Kant ausspielt, vor allem wenn es darum geht, den erkenntnistheoretischen und ethischen Dualismus Kants zu überwinden: „Zweitens bekämpft Hegel hier wie überall das Kant-Fichtesche schroffe Einander-Gegenüberstellen von Innerem und Äußerem in der Moral, das Gegenüberstellen von Legalität und Moralität.“ 32 Im Gegensatz zu Kants Ethik, die aufgrund ihres Dualismus „den wirkli‐ chen lebendigen Menschen zerstückelt, vergewaltigt, tyrannisiert“, ist nach Hegel der lebendige Mensch „der Mensch in einer konkreten Gesellschaft, und seine menschliche Totalität und Lebendigkeit kann nur im Zusammen‐ hang mit dieser Gesellschaft zum Ausdruck kommen“. 33 Es wird sich zeigen, daß die hegelianische Kritik an Kants Dualismus in abgewandelter Form nicht nur von Vertretern des sozialistischen Realismus, sondern auch von Lucien Goldmann (vgl. weiter unten) aufgegriffen und weiterentwickelt wird. 2. Georg Lukácsʼ Theorie der Widerspiegelung 85 34 G. Lukács, Ästhetik, Neuwied und Berlin, Luchterhand, 1972, Bd. 2, S. 138. 35 Ibid., S. 142-143. 36 I. Kant, Kritik der Urteilskraft, Werkausgabe, Bd. 10, Frankfurt, Suhrkamp, 1977, S. 221. Für meinen Argumentationszusammenhang ist entscheidend, daß diese Kritik auch Lukács‘ große Ästhetik (Die Eigenart des Ästhetischen, 1963) durchzieht und dort im Rahmen des globalen Gegensatzes zwischen Kant und Hegel (Nietzsche und Hegel), dem in meiner Darstellung eine struktu‐ rierende Funktion zukommt, gelesen werden sollte. In Übereinstimmung mit Hegels Vorlesungen kritisiert Lukács nicht nur den Subjekt-Objekt-Dua‐ lismus (vgl. Kap. 1), sondern auch die „Begriffslosigkeit“ des ästhetischen Urteils bei Kant. Er sieht die „Eigenart der Kantschen Philosophie“ darin, „daß sie (…) - mit der Konzeption ‚ohne Begriff ‘ - aus der Ästhetik jede Ratio austreibt (…)“. 34 Für ihn ist entscheidend, daß das ästhetische Urteil im Sinne von Kant kein unzerlegbares Urphänomen ist, sondern vom Begriff abgeleitet werden kann: „Wir haben z. B. gesehen, daß Kant im ästhetischen Urteil das ‚Urphänomen‘ des ästhetischen Verhaltens erblickt, wo es doch bei unbefangener Betrachtung evident sein muß, daß solche Urteile nur ein Begrifflichmachen der ursprünglich ästhetischen Erlebnisse sind.“ 35 Gegen eine solche Reduktion auf den Begriff hat Kant sich stets gewehrt, „denn Schönheit ist kein Begriff vom Objekt, und das Geschmacksurteil ist kein Erkenntnisurteil“. 36 Lukács selbst geht nun wie alle Hegelianer von der historizistischen These aus, daß Kunst und Wissenschaft auf verschiedene Arten die sich wandelnde Wirklichkeit widerspiegeln. Anders jedoch als die Wissenschaft, die - wie schon bei Hegel und Marx - mit Hilfe von Begriffen die konkrete Totalität darstellt, richtet sich Kunst nicht primär an die Ratio, sondern an die sinnliche Wahrnehmung, indem sie die Wirklichkeit auf anthropomor‐ phe Art wiedergibt und nicht mittels abstrakter Maximen. Lukács spricht in diesem Zusammenhang von der anthropomorphisierenden (sinnlichen) Tendenz der Kunst und der desanthropomorphisierenden (entsinnlichenden, begrifflichen) Tendenz der Wissenschaft. Aus historischer Sicht scheint sich die Kluft zwischen Wissenschaft und Kunst zu vertiefen, weil die Abstraktion der Wissenschaft im Zusam‐ menhang mit Arbeitsteilung, Quantifizierung und Formalisierung zunimmt und von der Kunstproduktion nicht nachvollzogen werden kann. Anders als Hegel, der diesen Gegensatz durch die Auflösung der Kunst in der II. Vom Marxismus zum Formalismus 86 37 Siehe: G. Lukács, Heidelberger Ästhetik (1916-1918), hrsg. von G. Markus und F. Benseler, Werke, Bd. 17, Neuwied-Berlin, Luchterhand, 1974, S. 99-100: „Der neue Mensch, der als normatives Subjekt der Ästhetik, als Genie beziehungsweise reiner Rezeptive am Ende dieses Ganges erreicht wird, kann im Gegensatz zum ‚ganzen Menschen‘ der Erlebniswirklichkeit als ‚der Mensch ganz‘ (…) bezeichnet werden.“ 38 G. Lukács, Ästhetik, op. cit., Bd. 1, S. 198. 39 D. Schlenstedt, „Problemfeld Widerspiegelung“, in: D. Schlenstedt (Hrsg.), Literari‐ sche Widerspiegelung. Geschichtliche und theoretische Dimensionen eines Problems, Ber‐ lin-Weimar, Aufbau Verlag, 1981, S. 72. 40 Siehe: H.-J. Schmitt (Hrsg.), Die Expressionismus-Debatte, Frankfurt, Suhrkamp, 1973, S. 302-336. Wissenschaft aufhebt, erblickt Lukács in der anthropomorphen Gestalt des Kunstwerks gerade dessen humanistische Funktion: In einer fragmentier‐ ten, von Arbeitsteilung und Quantifizierung geprägten Gesellschaft soll das Kunstwerk zum Hüter des „ganzen Menschen“ werden, der schon in der idealistischen Heidelberger Ästhetik (1916-1918) des jungen Lukács im Mittelpunkt stand. 37 „In diesem Selbstbewußtsein der Menschheit“, schreibt Lukács Jahrzehnte später, „ist der tiefe Humanismus des Ästhetischen mitenthalten.“ 38 Die Kunst erscheint hier als Hüterin der menschlichen Totalität, die seit der Renaissance von der wirtschaftlichen Arbeitsteilung unablässig in Frage gestellt wird. Es fragt sich natürlich, ob in der Kunst etwas bewahrt werden kann, was in Wirtschaft und Gesellschaft längst zerfallen ist. Ostdeutschen Autoren wie Dieter Schlenstedt ist daher recht zu geben, wenn sie Lukács dessen nie wirklich überwundenen Idealismus und eine Apologie des „schönen Scheins“ vorwerfen. Realisten wie Brecht können - laut Schlenstedt - Lukácsʼ Vorschlägen nicht folgen: „Der Wirklichkeit des entmenschten Menschen, des verwüsteten Innenlebens, der Hetze des Lebens, das die Menschen ‚tatsächlich verkrüppelt, einseitig macht, ent‐ leert‘‚ wollte er (Brecht, P. V. Z.) nicht mit dem schönen Schein begegnen.“ 39 Auf die bekannten Kontroversen zwischen Brecht und Lukács 40 will ich hier nicht eingehen, da sie nicht unmittelbar meine Thematik berühren. Entscheidend ist die Tatsache, daß Lukács im Anschluß an Hegel Kunst und Literatur als sinnliche, d. h. die Sinne ansprechende Erkenntnismodi de‐ finiert und sie im Rahmen des Gegensatzes Anthropomorphisierung/ Desanth‐ ropomorphisierung von der Wissenschaft unterscheidet. Die griechischen Termini sollten nicht darüber hinwegtäuschen, daß hier die tradierte und recht banale Ansicht geäußert wird, der Künstler habe es mit Charakteren, 2. Georg Lukácsʼ Theorie der Widerspiegelung 87 41 G. Lukács, Ästhetik, op. cit., Bd. 2, S. 34. Handlungen, Gesten, Dialogen usw., die Wissenschaft hingegen mit Begrif‐ fen zu tun. Es ist sicherlich kein Zufall, daß diese Ansicht vor allem in der Avantgarde (von der experimentellen Dichtung und der abstrakten Malerei bis zur Zwölf‐ tontechnik) schon immer umstritten war: Wie wenn der Unterschied zwischen dem fiktionalen und dem wissenschaftlichen Text vor allem darin bestünde, daß Fiktion auf der Ausdrucksebene mit Signifikanten experimentiert, während die - stets übersetzbare - Wissenschaft die Inhaltsebene erforscht? Während ich Lukácsʼ Definition der Wissenschaft (in diesem Zusammen‐ hang, versteht sich) zustimmen kann, zweifle ich an der Brauchbarkeit seiner Definition der Literatur, weil die These über deren anthropomorphen Charakter das Spezifische einer Schreibweise vernachlässigt, die sich auf der Ausdrucksebene bewegt und nicht auf die Formen der Inhaltsebene zu reduzieren ist. (Siehe Einleitung.) Lukácsʼ gesamte Ästhetik zeigt allerdings, daß er immer dann eine solche Reduktion inszeniert, wenn er - wie Hegel - zu entscheiden versucht, ob ein Kunstwerk „die Wirklichkeit“ adäquat, d. h. realistisch widerspiegelt, mimt. Wie schon Hegel und Marx geht er von der These aus, daß Kunst Wirk‐ lichkeit mit sinnlichen Mitteln darstellt und daher primär eine mimetische Funktion erfüllt: Deshalb spricht er von der „unlösbaren Zusammengehö‐ rigkeit der evokativen Mimesis mit dem künstlerischen Realismus“. 41 Die Begriffe „Mimesis“ und „Realismus“ implizieren - ebenso wie der verwandte Begriff „Widerspiegelung“ oder „realistische Widerspiegelung“ - die Übersetzbarkeit der Kunstwerke in begriffliche Sprachen. Denn wenn ich erfahren will, ob ein Roman oder ein Gedicht die Wirklichkeit adäquat darstellt oder realistisch widerspiegelt, brauche ich die begriffliche Überset‐ zung des fiktionalen Textes, die - wie das bekannte Lackmuspapier des Chemikers - darüber entscheidet, ob ein Text realistisch ist oder nicht. Steht eine solche Übersetzung nicht zur Verfügung, dann werden auch Begriffe wie „realistisch“ und „Widerspiegelung“ hinfällig. Dies ist der Grund, weshalb nicht nur Lukács, sondern auch sein Schüler Leo Kofler und die Vertreter des sozialistischen Realismus gegen vieldeutige Texte des Ästhetizismus und der Avantgarde allergisch sind, weil sie sich dem Zugriff des begrifflichen Diskurses entziehen. Ein Vers von Mallarmé oder das Ende von Paul Celans Gedicht Fadensonnen „Es sind noch Lieder zu singen jenseits der Menschen“ ist, wenn eine Gewalttour vermieden werden II. Vom Marxismus zum Formalismus 88 42 Ibid., Bd. 4, S. 169. 43 G. Lukács, „Kunst und objektive Wahrheit“, in: ders., Probleme des Realismus, Bd. 1, Werke, Bd. 4, Neuwied-Berlin, Luchterhand, 1971, S. 616. 44 Ibid. soll, nicht auf ein begriffliches Analogon festzulegen. Ein solches braucht Lukács jedoch, wenn er entscheiden will, ob ein Gedicht realistisch ist oder ob es überhaupt die Wirklichkeit widerspiegelt. Das Analogon wird in jedem Fall das des Interpreten (Lukácsʼ‚ Koflers, des sozialistischen Realisten) sein, der seinen Diskurs implizit oder explizit mit der Wirklichkeit identifiziert und dadurch die Kantsche Differenzierung von Subjekt und Objekt einem hegelianischen Identitätsdenken opfert. (Siehe Kap. I.) Daß Lukács ein solches begriffliches Analogon des Kunstwerks vorschwebt, zeigt seine Theorie des Typischen, die die Grundlage seines ästhetischen Realis‐ mus als künstlerischer Mimesis bildet. Es ist die Aufgabe des Künstlers, des Schriftstellers, typische Charaktere, Handlungen und Situationen darzustellen, in denen das Einzelne auf sinnfällige Art mit dem Allgemeinen (mit der „allge‐ meinen Maxime“, Hegel) verschmilzt und das Besondere erscheinen läßt: „Denn nur indem das Detail einen symptomatischen, auf das Wesen weisenden, eine Wesenhaftigkeit offenbarenden Charakter erhält, erhebt sich der Gegenstand, als vernünftig organisierte, in vernünftigen Beziehungen befindliche Totalität der Details ins Besondere, ins Typische.“ 42 Diese Passage ist selbst symptomatisch, weil sie zeigt, daß es Lukács - in völliger Übereinstimmung mit Hegel - um das Wesen „hinter“ der Erscheinung zu tun ist. Die kognitive Aufgabe der Kunst besteht darin, hinter den zufallsbedingten Erscheinungen des Alltags das Wesen zu suchen und darzustellen. Was Philosophie und Wissenschaft mit Hilfe von Begriffen leisten, das leistet Kunst mit Hilfe anthropomorpher Verfahren, die auf Typisierung ausgerichtet sind. „Die künstlerische Widerspiegelung der Wirklichkeit geht von denselben Gegensätzen aus wie jede andere Widerspiegelung der Wirklichkeit“ 43 , schreibt Lukács in seinem Aufsatz über „Kunst und objektive Wahrheit“. Die künstlerische Synthese läßt Erscheinung und Wesen, Zufall und Notwendig‐ keit, Unmittelbarkeit und Begriff zu einer sinnlich wahrnehmbaren Totalität verschmelzen, die den Rezipienten als „Menschen ganz“ anspricht: „Das Allgemeine erscheint als Eigenschaft des Einzelnen und des Besonderen, das Wesen wird sichtbar und erlebbar in der Erscheinung, das Gesetz zeigt sich als spezifisch bewegende Ursache des speziell dargestellten Einzelfalles.“ 44 2. Georg Lukácsʼ Theorie der Widerspiegelung 89 45 Ibid. 46 Siehe: H.-J. Schmitt (Hrsg.) Die Expressionismusdebatte, op. cit., S. 209-212. 47 Siehe: L. Kofler, Abstrakte Kunst und absurde Literatur, Wien, Europa-Verlag, 1970, S. 26, wo der Autor in einem Kommentar zum Werk des Schweizer Malers Erwin Stählin, das „im letzten undeutbar“ sei, die abstrakte Malerei dennoch des Nihilismus zeiht. 48 Siehe: G. Lukács, „Franz Kafka oder Thomas Mann? “, in: ders., Probleme des Realismus, Bd. 1, op. cit., S. 550: „Gerade darum kann der bürgerliche Schriftsteller sein eigenes Dilemma: Franz Kafka oder Thomas Mann? , artistisch interessante Dekadenz oder lebenswahrer kritischer Realismus? heute leichter positiv beantworten, als es ihm noch gestern möglich war.“ Es folgt der weiter oben bereits zitierte Satz aus Engelsʼ Brief an Minna Kautsky, der klar erkennen läßt, wie sehr Marx, Engels und Lukács - trotz Materialismus und Hegel-Kritik - im ästhetischen Bereich Hegelianer geblieben sind. Die Ansicht, realistische Literatur solle mit Hilfe von typischen Gestalten, Situationen und Handlungen die Wahrheit über die Wirklichkeit ausdrücken, gipfelt in der Vorstellung eines nach harmonischer Totalität strebenden klas‐ sischen Kunstwerks, in dem Dichtung und Wahrheit in Einklang gebracht werden: „Daraus folgt, daß jedes Kunstwerk einen geschlossenen, in sich abgerundeten, in sich vollendeten Zusammenhang bieten muß (…).“ 45 Daraus folgt auch, daß literarische Werke, die nicht „in sich abgerun‐ det“ sind und keine typischen Elemente enthalten, die Wirklichkeit nicht „richtig“ widerspiegeln und das Prädikat „realistisch“ nicht verdienen. Zu ihnen gehören nicht nur die Romane Zolas, die nach Lukács nicht unter die Oberfläche der Empirie und der zufälligen Erscheinung dringen, sondern auch die Werke Kafkas, Prousts, Musils, der Expressionisten 46 oder der europäischen Avantgarden, die in Lukácsʼ und Koflers präskriptiver Ästhetik allesamt dem Verdikt des „Naturalismus“, d. h. der „abstrakten Wi‐ derspiegelung“, verfallen. 47 Besonders charakteristisch für dieses ästhetische Werturteil ist Lukácsʼ manichäische Abhandlung „Franz Kafka oder Thomas Mann? “, die Thomas Mann als „kritischen Realisten“ teleologisch für den Sozialismus reklamiert. 48 (Siehe meine Kritik in Kap. IX.) Außer Thomas Mann werden von Lukács Schriftsteller wie Goethe, Balzac, Walter Scott, W. und Tolstoi kanonisiert und zu Modellen einer präskriptiven Ästhetik gemacht. Anders als Marx und Engels, die Balzac referentiell lasen, indem sie seine Texte unmittelbar auf soziohistorische Begebenheiten bezogen, versucht Lukács zu zeigen, daß Balzac in seinen Romanen durch typisierende Darstellungen von Situationen und Gestalten die Wirklichkeit transparent macht, die Wahrheit über sie ausspricht. II. Vom Marxismus zum Formalismus 90 49 G. Lukács, „Balzac und der französische Realismus“, in: ders., Probleme des Realismus, Bd. 3, op. cit., S. 477. 50 G. Lukács, „Erzählen oder beschreiben? “, in: ders., Probleme des Realismus, Bd. 1, op. cit., S. 199. 51 Hier kann eine Verbindung zwischen Hegels Logozentrismus und dem einer zeitge‐ nössischen Narrativik aufgezeigt werden, die sich vorwiegend an Tiefenstrukturen orientiert. Dazu siehe: T. A. van Dijk, J. Ihwe u. a., „Prolegomena zu einer Theorie des Narrativen“, in: J. Ihwe (Hrsg.) Literaturwissenschaft und Linguistik, Bd. 2, Frankfurt, Fischer-Athenäum, 1973, S. 51 und S. 55. Ähnlich wie Adrian Leverkühn in Thomas Manns Roman Doktor Faustus, ist Lucien de Rubempré in Balzacs Illusions perdues die typische Gestalt einer Zeit, für die - wie Lukács sagt - „das Zur-Ware-Werden der Literatur“ cha‐ rakteristisch ist: „Mit großer Feinfühligkeit und Kühnheit gestaltet Balzac hier den neuen, spezifisch-bürgerlichen Typus des Dichters: den Dichter als Äolsharfe für die verschiedenen Winde und Stürme der Gesellschaft, ein haltloses und richtungsloses, überempfindliches Nervenbündel; einen Typus des Dichters, der in dieser Periode nur vereinzelt auftaucht, der aber für die spätere Entwicklung der bürgerlichen Dichtung (von Verlaine bis Rilke) außerordentlich typisch wird (…).“ 49 Außer der Darstellung des Typischen in diesem Roman ist für Lukács wesentlich, daß er Illusions perdues auf eine begriffliche Aussage festlegen kann: „das Zur-Ware-Werden der Literatur“, das in den Protagonisten des Romans (David Séchard, Lucien de Rubempré) konkret zum Ausdruck kommt. Die Frage ist allerdings, ob der vieldeutige Text nicht wesentlich mehr ausdrückt als Lukácsʼ Konzept… Daß die begriffliche Reduktion eng mit einem klassizistischen Plädoyer für die narrative Syntax zusammenhängt, zeigt Lukácsʼ bekannter Aufsatz „Erzählen oder beschreiben? “, in dem die Realisten Balzac, Scott und Tolstoi gegen den Naturalisten Zola ausgespielt werden. Im Gegensatz zu Zola, der nicht über die zufallsbedingte Erscheinung, über das zufällig Vereinzelte hinausgeht, weil er es lediglich beschreibend reproduziert, integrieren Balzac und Tolstoi das scheinbar Zufällige in den Gesamtzusammenhang einer Erzählung, die den Zufall in der gesellschaftlichen und historischen Notwendigkeit aufhebt: „Kein Schriftsteller kann etwas Lebendiges gestal‐ ten, wenn er das Zufällige vollständig vermeidet. Andererseits muß er in der Gestaltung über das brutal und nackt Zufällige hinausgehen, das Zufäl‐ lige in die Notwendigkeit aufheben.“ 50 Unüberhörbar ist der hegelianische Sprachduktus dieser Passage: Die Erzählung als System und „Logos“ 51 , als 2. Georg Lukácsʼ Theorie der Widerspiegelung 91 52 G. Lukács, Ontologie-Marx, Darmstadt-Neuwied, Luchterhand, 1972, S. 108. 53 Siehe: N. Tertulian, Georges Lukács. Etapes de sa pensée esthétique, Paris, Le Sycomore, 1980, S. 207: „(…) Lukács ne sʼéloigne donc guère des exemples limites choisis par Kant pour asseoir lʼautonomie radicale du Beau.“ 54 Siehe: K. Batt, „Erlebnis des Umbruchs und harmonische Gestalt. Der Dialog zwischen Anna Seghers und Georg Lukács“, in: H.-J. Schmitt (Hrsg.), Der Streit mit Georg Lukács, Frankfurt, Suhrkamp, 1978, S. 35. 55 Siehe u.a.: G. Fehn, „Georg Lukács: Erkenntnistheorie und Kunst“, in: J. Matzner (Hrsg.), Lehrstück Lukács, Frankfurt, Suhrkamp, 1974, S. 237. narratives Syntagma, macht den begrifflichen Raster des Romans aus. Wo sie fehlt - etwa bei Kafka, Musil oder Joyce -, dort kann von richtiger, realistischer Widerspiegelung nicht die Rede sein. Lukácsʼ Bemerkungen über den Zufall zeigen, daß er Hegel viel nähersteht als dem Junghegelianer Vischer, der den nichtintegrierbaren, den ungezähmten und absurden Zufall zum Hauptthema seines Romans Auch Einer gemacht hat. Der Hegelianer Lukács hingegen läßt auch als Ontologe nur die „Rolle des Zufalls innerhalb der Notwendigkeit“ 52 gelten. Nur wer seinem Hegelianismus Rechnung trägt und diesen nicht wie Nicolas Tertulian durch eine Annäherung an Kant abschwächt 53 , wird Lukácsʼ Auseinandersetzungen mit Anna Seghers 54 , der Avantgarde und Bertolt Brecht verstehen. Denn Brecht und einigen Vertretern der Avantgarde ist das Bestreben gemeinsam, eine materialistische Ästhetik jenseits von Hegel zu entwerfen. 3. Exkurs zum sozialistischen Realismus Einerseits konnte sich Georg Lukács nie mit der literarischen Praxis des sozialistischen Realismus versöhnen, weil diese unmittelbar Thesen oder Maximen verkündet und den Protagonisten in ein Sprachrohr der Ideologie verwandelt. 55 Andererseits haben ostdeutsche Vertreter des sozialistischen Realismus und der marxistisch-leninistischen Ästhetik Lukácsʼ ästhetische Theorie, wie bereits angedeutet, kritisch rezipiert und sich eher mit Brecht und Anna Seghers als mit dem Budapester Philosophen identifiziert. Deshalb erscheint die Frage legitim, weshalb gerade an dieser Stelle ein Exkurs zum sozialistischen Realismus eingeschoben wird, der zudem Lukács von seinem Pariser Schüler Lucien Goldmann trennt. Der Exkurs ist mit dem Argument zu rechtfertigen, daß der sozialistische Realismus, der in der ehemaligen Sowjetunion, der Tschechoslowakei, der II. Vom Marxismus zum Formalismus 92 56 Zur Differenzierung von Ideologie und Theorie siehe: Vf., Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, op. cit. 57 H.-J. Schmitt, „Die Realismuskonzeptionen in den kulturpolitischen Debatten der dreißiger Jahre. Zur Theorie der sozialistischen Literatur“, in: H.-J. Schmitt (Hrsg.), Einführung in Theorie, Geschichte und Funktion der DDR-Literatur, Stuttgart, Metzler, 1975, S. 7. 58 Siehe Lenins Kritik an der Ästhetik der Proletkult-Bewegung, V. I. Lenin, „Über proletarische Kultur: Resolutionsentwurf “, in: H. Ch. Buch (Hrsg.), Parteilichkeit der Literatur oder Parteiliteratur? , Reinbek, Rowohlt, 1972, S. 106: „Der Marxismus hat seine weltgeschichtliche Bedeutung als Ideologie des revolutionären Proletariats dadurch er‐ langt, daß er die wertvollsten Errungenschaften des bürgerlichen Zeitalters keineswegs ablehnte (…).“ (Welcher französische „citoyen“ des Jahres 1789 wäre auf den Gedanken gekommen, so vom Adel zu sprechen? ) 59 P. Nell, „Über den Begriff des Typischen“, in: E. Schubbe (Hrsg.), Dokumente zur Kunst-, Literatur- und Kulturpolitik der SED, Stuttgart, Seewald, 1972, S. 276. DDR und anderen osteuropäischen Ländern eher eine Ideologie als eine Theorie war 56 , vor allem in der DDR nachhaltig von Lukácsʼ klassizistischer Ästhetik geprägt wurde. Dies, erklärt im Jahre 1975 Hans-Jürgen Schmitt, sei „ein Grund, warum man trotz Lukácsʼ Verdammung nach 1956 in der DDR über seine Literaturkonzeption noch nicht hinausgekommen ist und seine Termini selbst von seinen Gegnern nach wie vor verwendet werden“. 57 Diese paradoxe Affinität als Haßliebe kann noch am ehesten im ideologie‐ kritischen Kontext erklärt werden: Das stalinistische Bürgertum, das nach 1917 aus den politischen Erdrutschen in Osteuropa hervorging, kann sich auf Dauer weder mit der Ästhetik der Proletkult-Bewegung 58 noch mit den Sprachexperimenten der Futuristen, noch mit den Verfremdungseffekten des Epischen Theaters identifizieren. Seine Sympathie gilt dem hegeliani‐ schen Klassizismus, dem ‚klassischen Erbe‘, dem auch Lukács das Wort redet; nicht der „junghegelianischen“ Kritik, die Nietzsche, Kierkegaard, Adorno und Bachtin auf die Spitze treiben. Daß Lukács’ hegelianische Terminologie (vor allem der Gegensatz zwi‐ schen Erscheinung und Wesen) auch in den Parteidiskurs eindringt, zeigt der folgende Kommentar von Peter Nell in der Neuen Deutschen Literatur aus dem Jahre 1953: „Denn, so sagt Malenkow, ‚nach marxistisch-leninistischer Auffassung bedeutet das Typische keineswegs irgendeinen statistischen Durchschnitt‘‚ und er unterstreicht noch einmal: ‚Typisch ist, was dem Wesen der gegebenen sozialen und historischen Erscheinung entspricht und nicht einfach das am häufigsten Verbreitete, das oft Wiederkehrende, Gewöhnliche‘.“ 59 Dies ist zweifellos auch Lukácsʼ Auffassung, und es kann 3. Exkurs zum sozialistischen Realismus 93 60 D. Schlenstedt, „Problemfeld Widerspiegelung“, op. cit., S. 117. 61 Zur Theorie des sozialistischen Realismus (Autorenkollektiv), Berlin, Dietz, 1974, S. 380. ohne Übertreibung behauptet werden, daß der sozialistische Realismus sich ohne Lukács terminologisch anders entwickelt hätte. Man würde allerdings unzulässig vereinfachen, wollte man den sozialis‐ tischen Realismus, der hauptsächlich in der DDR weiterentwickelt wurde (in anderen osteuropäischen Ländern, etwa in Polen und Ungarn, hatten sich die meisten Intellektuellen von ihm in den 1970er Jahren abgewandt), als ein Derivat von Lukácsʼ Ästhetik behandeln. So stellt beispielsweise D. Schlenstedt in dem umfangreichen Werk über Literarische Widerspiegelung (1981) mitten in seiner gründlichen Analyse der Widerspiegelungstheorien unmißverständlich fest: „Die Synthese realistischer Kunst wird nicht mehr im Typischen, sondern in der realistischen Funktion gesehen. Dabei wurde die Bindung von Realismus an stiltypologische, formästhetische Kriterien aufgegeben, beibehalten aber wurde der mit Realismus verknüpfte Wert einer Kunst, die Realität erkennbar macht und im Menschheitsprozeß produktive Wirkungen erlangen kann.“ 60 Man mag es begrüßen, daß Vertreter sozialistisch-realistischer Ansätze die für den Hegelianismus charakteristische produktionsästhetische Perspektive durch funktionale und leserorientierte Analysen ergänzen. Dem aufmerksamen Leser der zitierten Passage wird jedoch nicht entgehen, daß weiterhin die kognitive Funktion der Literatur hervorgehoben wird: Fiktion soll „Realität erkennbar“ machen. Wer aber definiert Realität? Welcher Diskurs, welches Aussagesubjekt ist für die Definition von „Wirklichkeit“ verantwortlich? (Denn an dieser Definition und nicht an „Wirklichkeit“ als vieldeutigem Zeichen soll Literatur gemessen werden.) Wer entscheidet darüber, welche Wirkungen im „Menschheitsprozeß“ (was immer das auch sein mag) „produktiv“ sind? Auch jenseits der Typustheorie zeichnet sich hier also das zentrale Problem einer jeden hegelianischen Ästhetik ab: die implizite oder explizite Forderung nach Übersetzbarkeit von Fiktion in begriffliche Rede. „Aus dem Was ergibt sich das Wie“ 61 , behaupten unbeirrt die Autoren des voluminösen Bandes Zur Theorie des sozialistischen Realismus (1974). Konsequent fordern sie von der Literatur, sie solle (semiotisch ausgedrückt) auf Polysemie verzichten und die Ausdrucksebene der Inhaltsebene unterordnen. Diese logozentrische Unterordnung führt - wie schon bei Lukács und Kofler - dazu, daß die polyphone und polyseme avantgardistische Kunst der „bürgerlichen Moderne“ in Bausch und Bogen verurteilt wird: „Mit Möglich‐ II. Vom Marxismus zum Formalismus 94 62 Ibid., S. 495. 63 Siehe: Vf., „Der Mythos der Monosemie“, in: H.-J. Schmitt (Hrsg.), Einführung in Theorie, Geschichte und Funktion der DDR-Literatur, op. cit., S. 98-105. 64 M. Naumann (Hrsg.), Gesellschaft. Literatur. Lesen. Literaturrezeption in theoretischer Sicht, Berlin-Weimar, Aufbau Verlag, 1973, S. 368. 65 Ibid., S. 74. 66 Ibid., S. 372. keiten und Varianten von Möglichkeiten zu ‚spielen‘ ist gebräuchliche Praxis der bürgerlichen Moderne. Offen zu lassen, ob eine Möglichkeit zur Realität wird oder werden kann, was sich ‚wirklich‘ ereignet oder nicht ereignet hat, entspricht einem ästhetisch-ideologischen Konzept des Zweifels an der Erkennbarkeit von Realität, deren beziehungslose Bruchstücke oft genug in der ‚modernen Kunst‘ vorgeführt werden.“ 62 Diese präskriptive Ästhetik, deren repressive Aspekte ich in einem älteren Aufsatz mit dem Titel „Der Mythos der Monosemie“ (1975) 63 ausführlich kommentiert habe, tritt auch im Bereich der literarischen Rezeption recht autoritär auf. In ihren Auseinandersetzungen mit der Konstanzer Rezeptionsästhetik und der westeuropäischen Semiotik nehmen die Autoren des von Manfred Naumann edierten Sammelbandes Gesellschaft. Literatur. Lesen (1973) die Ansichten aus Zur Theorie des sozialistischen Realismus vorweg, wenn sie gegen die „Unbestimmtheit“ (im Sinne von Ingarden und Iser) polemisieren: „Modernistische Versuche, Texte zu produzieren, die sich auf verschiedene Weise der Sinnfindung verweigern, zeigen nur, daß auf diesem vom Irrationalismus begleiteten Wege Literatur als Medium gesellschaftlicher Bewußtseinsbildung nicht entstehen kann.“ 64 Solche Versuche sind geradezu gemeingefährlich, denn vom parteilichen, vom sozialistischen Schriftsteller wird erwartet, daß er nicht mit Möglich‐ keiten und Zweideutigkeiten spielt, sondern den Lesern die „Wahrheit“ vermittelt. Von der Einstellung des „revolutionären Schriftstellers“ zur Lektüre heißt es gleich im ersten Kapitel: „(…) Er will, daß sie ihn zur richtigen Wahrnehmung der Dinge nötigt.“ 65 Wer aber definiert die richtige Wahrnehmung der Dinge und die richtige Deutung des polysemen Textes? Konsequent wird dessen Polysemie von den Autoren in Frage gestellt. Sie gehen von einer recht einfachen „Methode der Kopplung von Bild und Urteil“  66 aus und argumentieren gegen das Theorem der fiktionalen Polysemie mit der Behauptung, daß die Zeichen literarischer Texte „als Zeichen für 3. Exkurs zum sozialistischen Realismus 95 67 Ibid., S. 337. 68 Siehe: D. Schlenstedt, „Beispiel einer Rezeptionsvorgabe: Brechts Gedicht ‚Der Rauch‘“, in: M. Naumann (Hrsg.), Gesellschaft. Literatur. Lesen, op. cit., S. 364-365. 69 Siehe: „Semasiologie“, in: W. Nöth, Handbuch der Semiotik, Stuttgart, Metzler, 1985, S. 20. 70 R. Robin, „The Figures of Socialist Realism: The Fictional Constraints of the ‚Positive Hero‘“, in: Sociocriticism, Oktober, 1986, S. 111. 71 Ibid., S. 91. 72 Eine Übersicht über die Peripetien dieser Politik vermittelt der von E. Schubbe heraus‐ gegebene Band Dokumente zur Kunst-, Literatur- und Kulturpolitik der SED, op. cit. bestimmte Begriffsinhalte fungieren, daß ihnen durch und für Menschen eine gegenständlich bezogene Bedeutung zugeordnet ist“. 67 Man braucht kein fanatischer Anhänger der Dekonstruktion zu sein, um den hier postulierten Eindeutigkeitsnexus zwischen Signifikant und Signifikat anzuzweifeln: Können die Signifikanten in Brechts Gedicht Der Rauch, das Dieter Schlenstedt interpretiert, tatsächlich auf korrespondie‐ rende Signifikate festgelegt werden? 68 Lebt nicht die gesamte Literatur von Goethe bis Brecht von den graduellen Verschiebungen zwischen Si‐ gnifikanten und Signifikaten, die im Laufe der Jahre immer zahlreicher werden und Gegenstand der Semasiologie sind? 69 Es kommt hinzu, daß die Redewendung „durch und für Menschen“ die Vermutung bestätigt, daß in der sozialistisch-realistischen Kommunikationstheorie das Monosemiepostulat eine vorwiegend ideologische Funktion erfüllt: Es soll die politisch akzeptable, die systemkonforme Rezeption gewährleisten. In ihren Arbeiten über den sozialistischen Realismus in der ehemaligen Sowjetunion zeigt Régine Robin, daß auch er sich die Forderung nach Eindeutigkeit zu eigen macht. Sie spricht im Zusammenhang mit dem positiven Helden dieser Literatur von „univocation and ideological clarity“ 70 und erläutert an anderer Stelle die kognitive Funktion ihrer Texte: „Vor allem im Erziehungsroman stellt sich diese Klarheit ein, wenn der Held durch Handlung wahres Wissen erlangt.“ 71 Damit kehre ich zum Anfang dieser kurzen Darstellung zurück: Die Theorie des sozialistischen Realismus - so wie sie von sowjetischen und vor allem ostdeutschen Marxisten entwickelt wurde - enthält wertvolle Einsichten, auf die ich im Zusammenhang mit der Kritik der Konstanzer Rezeptionstheorien näher eingehen will (vgl. Kap. VI. 5); sie zeigt jedoch, daß sich der künstlerische und theoretische Impuls nicht wirklich durchsetzen kann, solange er von ideologischen Faktoren gelähmt wird: von Rücksichten auf die fluktuierende Kulturpolitik der SED und der KPdSU 72 , auf das „Erbe“, II. Vom Marxismus zum Formalismus 96 73 Siehe: Vf., „Lucien Goldmanns hegelianische Ästhetik“, in: Vf., Kritik der Literatursozi‐ ologie, Frankfurt, Suhrkamp, 1978. 74 Siehe: L. Goldmann, Recherches dialectiques, Paris, Gallimard, 1959 und ders., Marxisme et sciences humaines, Paris, Gallimard, 1970. 75 Siehe: L. Goldmann, „Introduction aux premiers écrits de Lukács“, in: G. Lukács, La théorie du roman, Paris, Gonthier, 1963. auf Lenin (der im Gegensatz zu Trockij von Ästhetik wenig verstand), auf die Bitterfelder Experimente und noch einiges mehr… Es ist jedoch vorstellbar, daß nach 1989, nach dem Zerfall des repressiven Staatsapparats, neue theoretische Impulse von den ostdeutschen Marxisten ausgehen werden - und nicht nur von ihnen. 4. Lucien Goldmanns genetischer Strukturalismus In zwei wesentlichen Punkten bricht Lucien Goldmanns (1913-1970) Theo‐ rie, die ich schon vor Jahren als „hegelianische Ästhetik“ kritisiert habe 73 , mit Hegel und Lukács: Sie lehnt es einerseits ab, klassizistische Kriterien (Harmonie, abgerundete Komposition) zur Grundlage ihrer Kritik zu ma‐ chen, und akzeptiert uneingeschränkt die literarische Avantgarde: Genet, Gombrowicz, Robbe-Grillet; sie will andererseits keine präskriptive Ästhetik sein und wird von Goldmann in Übereinstimmung mit dem arbeitsteiligen Trend als Literatursoziologie/ sociologie de la littérature (Gegenstand) und als genetischer Strukturalismus (Methode) definiert. Auch diese komplementären Definitionen zeugen von der in der Ein‐ leitung thematisierten Krise der Ästhetik. Stärker als Lukács war sich Goldmann der Tatsache bewußt, daß der von ihm und Lukács anvisierte Objektbereich auf Literatur und Philosophie zusammengeschrumpft war, so daß die Bezeichnung „Ästhetik“ nicht mehr gerechtfertigt werden konnte. Die Auseinandersetzungen mit den Sozialwissenschaften der 1950er und 60er Jahre, mit der Soziologie, der genetischen Psychologie Jean Piagets und der französischen Semiotik 74 , trugen entscheidend dazu bei, daß dieser geschrumpfte Objektbereich nicht nur mit den Mitteln der spekulativen Philosophie, sondern auch mit dem damals zur Verfügung stehenden wis‐ senschaftlichen Instrumentarium angegangen wurde. Für den Übergang von Lukács zu Goldmann scheint im Rückblick nicht so sehr die von Goldmann und seinen Schülern immer wieder betonte Wiederentdeckung des „jungen Lukács“ wesentlich zu sein 75 , sondern der 4. Lucien Goldmanns genetischer Strukturalismus 97 76 M. Bense, Aesthetica, Stuttgart, Agis, 1965, S. 317. 77 Ibid., S. 262. 78 Ibid., S. 317. Umstand, daß Gegenstand und Methode nicht mehr auf ästhetischer, son‐ dern auf sozialwissenschaftlicher Ebene definiert wurden. Daß Goldmanns Entwicklung keine Zufallserscheinung ist, sondern im Zusammenhang mit dem arbeitsteiligen Zerfall der Ästhetik verstanden werden sollte, zeigen Jan Mukařovskýs semiotisch fundierte Ästhetik der Zwischenkriegszeit (vgl. Kap. V), Max Benses „numerische Ästhetik“, die sich an der amerikanischen Semiotik und der Mathematik orientiert, sowie die literarische Ästhetik Wolfgang Isers, der ein phänomenologisch-semiotisches Konzept zugrunde liegt. Charakteristisch für den gesamten Trend ist Benses Absage an die philo‐ sophisch-metaphysische Ästhetik der Vergangenheit in Aesthetica (1965): „Wir haben also nicht nur eine moderne Kunst, sondern auch eine moderne Ästhetik, und der Ausdruck ‚modern‘ soll bedeuten, daß es sich um eine fachwissenschaftliche, nicht nur philosophisch fundierte Ästhetik handelt (…).“ 76 - „Aber wie die Physik so stellt auch die Ästhetik eine technische Wissenschaft dar“ 77 , heißt es an anderer Stelle in Benses Buch, das mit Hegel bricht und der Hegelschen Ästhetik eine Galileische (mathematisch, fachwissenschaftlich fundierte) gegenüberstellt. 78 Bei Bense entspricht zwar noch der Gegenstand dem der traditionellen Ästhetik (bildende Künste, Musik, Literatur), die Methode hingegen nicht mehr: In diesem Punkt über‐ schneidet sie sich trotz ihrer analytischen und szientistischen Ausrichtung mit der marxistischen Theorie Goldmanns. Letztere ist freilich - und dies ist das scheinbar paradoxe Hauptargument dieses Buches - nicht unabhängig von ihren ästhetischen Grundlagen, Werturteilen und Kriterien zu verstehen: ebensowenig wie die Semiologie Jan Mukařovskýs oder die Semiotik eines Greimas, dessen Leser spontan annehmen könnten, es handle sich tatsächlich um eine rein technische Wissenschaft… Denn schon die von Goldmann gewählte Bezeichnung „genetischer Strukturalismus“ drückt aus, worum es im wesentlichen geht: um eine Produktionsästhetik, die primär der hegelianisch-marxistischen Frage nachgeht, warum, unter welchen historischen Bedingungen ein literarischer Text entstanden ist und was er ausdrückt. Selbstverständlich hatte Goldmann, als er diese Bezeichnung prägte, in erster Linie eine Abgrenzung gegen die von Saussures synchroner Linguistik II. Vom Marxismus zum Formalismus 98 79 L. Goldmann, „Die strukturalistisch-genetische Methode in der Literaturgeschichte“, in: ders., Soziologie des Romans, Frankfurt, Suhrkamp, 1984, S. 235. 80 L. Goldmann, Mensch, Gemeinschaft und Welt in der Philosophie Immanuel Kants, Zürich, Europa-Verlag, 1945, S. 60. beeinflußten strukturalen Ansätze der 1960er Jahre (Lévi-Strauss, Foucault, Althusser) im Sinn. Im Gegensatz zu ihnen wollte er zeigen, daß Struktur und Prozeß (Genese) nicht zu trennen sind und daß für die Entstehung neuer Strukturen soziale Gruppen oder Kollektivsubjekte verantwortlich sind, deren Existenz von Foucault und vor allem Althusser in den Bereich der metaphysischen und ideologischen Spekulation relegiert wurde. Im Gegensatz zu diesen Autoren hält Goldmann unbeirrt am Begriff des Kollektivsubjekts fest: „Der genetische Strukturalismus geht von der Hypothese aus, daß jedes menschliche Verhalten ein Versuch ist, auf eine besondere Situation eine sinnvolle Antwort zu geben, und daß dieses Ver‐ halten dem Gleichgewicht zwischen dem Subjekt der Handlung und dem Objekt, auf das sie sich bezieht, d. h. der umgebenden Welt, zustrebt.“ 79 Diese Passage, die an Goldmanns Kommentare zu Jean Piaget erinnert, könnte die Vermutung aufkommen lassen, daß wir es hier lediglich mit einer Anwendung moderner sozialwissenschaftlicher Methoden in der Literatur‐ wissenschaft zu tun haben. Wer sich allerdings die Mühe gibt, Goldmanns Arbeiten systematisch zu lesen, der entdeckt bald, daß sein Sinnbegriff eng mit Hegels und Lukácsʼ Kategorie der Totalität zusammenhängt. Die histo‐ rische, der gesellschaftlichen Entwicklung immanente Totalität verteidigt er bereits in seiner Dissertation gegen die „abstrakte Allgemeinheit“ Immanuel Kants. Seine Kant-Kritik erinnert an die Georg Lukácsʼ in Der junge Hegel. Obwohl Kant versucht, die konkrete Totalität zu denken, scheitert er - nach Goldmann - an seinem Dualismus: an dem von ihm nie überwundenen Gegensatz zwischen Wirklichkeit und Begriff. Die historische Totalität als Immanenz des Gedankens hat seit Heraklit kein Philosoph ins Auge gefaßt. „Erst Hegel wird es von neuem tun und damit den entscheidenden Schritt zur dialektischen Methode vollführen. - Kant aber schrak noch davor zurück. Er erkannte, daß eine konsequente Totalitätsbetrachtung zur Immanenz und diese vom Pantheismus Spinozas zum veränderlichen Gott, zur Dialektik führt, und eben darum lehnte er sie ab.“ 80 Diese dialektische Kritik an Kant läßt nicht nur den Hegelschen Ursprung von Goldmanns Totalitätsbegriff erkennen, der durch die Ausrichtung des genetischen Strukturalismus auf Lukácsʼ Geschichte und Klassenbewußtsein 4. Lucien Goldmanns genetischer Strukturalismus 99 81 Siehe: L. Goldmann, „Conscience réelle et conscience possible, conscience adéquate et fausse conscience“, in: ders., Marxisme et sciences humaines, op. cit., S. 126. 82 L. Goldmann, Kultur in der Mediengesellschaft, Frankfurt, Fischer, 1973, S. 103. 83 L. Goldmann, Der verborgene Gott, Neuwied-Darmstadt, Luchterhand, 1973, S. 30. 84 L. Goldmann, Kultur in der Mediengesellschaft, op. cit., S. 103. in einem materialistischen Kontext weiter hegelianisiert wird 81 , sondern läßt auch vermuten, daß in Goldmanns Literaturtheorie dieser Schlüsselbegriff der Monosemierung der Texte dienen wird. Tatsächlich stellt sich heraus, daß die beiden anderen Begriffe, Bedeutungsstruktur (structure significative) und Weltanschauung (vision du monde), die in Goldmanns Theorie von der Kategorie der Totalität ableitbar sind, die begriffliche Definition der Texte ermöglichen sollen. Wie schon bei Hegel und Lukács unterscheiden sich literarische von theoretischen (wissenschaftlichen) Texten nicht durch die Verlagerung der Zeichenproduktion in den Ausdrucksbereich, sondern durch die sinnliche und anthropomorphe Darstellungsweise. Daher wird kein unüberbrückbarer Hiatus zwischen begrifflichen und fiktionalen Texten sichtbar; daher kann auch jedem literarischen Text ein begriffliches Äquivalent zugeordnet werden: „Sowohl ein begriffliches System als auch ein literarisches Werk, welches eine Welt von Menschen und Dingen darstellt, besitzt eine innere Kohärenz und bildet daher eine Totalität, deren Einzelteile sich gegenseitig erklären und nur von der Gesamtstruktur her verstehen lassen.“ 82 Am Ende dieser Darstellung will ich zeigen, daß Goldmann im Ernst glaubt, solche Aussagen seien auch auf avantgardistische Texte anwendbar. Seine Interpretationsmethode, die er optimal in seinem Buch über die tragische Weltanschauung bei Pascal und Racine exemplifiziert (Le Dieu caché, 1955), ist eine recht einfache Hermeneutik, in der es primär darum geht, einzelne Textelemente zunächst immanent zu verstehen, um sie dann in immer größeren Zusammenhängen erklären zu können: „Der Sinn eines Elements hängt vom kohärenten Ganzen des gesamten Werkes ab.“ 83 Die einzelnen Schritte seiner Analyse stellt Goldmann anschaulich in einem Kommentar zu Le Dieu caché dar: „Es gibt auch einen grundlegenden Unterschied zwischen Verstehen und Erklären. Wenn ich eine Pensée von Pascal erklären will, muß ich sämtliche andere Pensées mit einbeziehen. Wenn ich alle Pensées untersuche, verstehe ich sie auch. Es gilt jedoch, ihr Entstehen zu erklären, und dazu muß ich den Jansenismus mit einbeziehen; und den Jansenismus wiederum kann ich nur verstehen, wenn ich den Amtsadel mit einbeziehe, usf.“ 84 II. Vom Marxismus zum Formalismus 100 85 Siehe: Ch. Bouazis, „La Théorie des structures dʼœuvres: Problèmes de lʼanalyse du système et de la causalité sociologique“, in: R. Escarpit (Hrsg.), Le Littéraire et le social, Paris, Flammarion, 1970, S. 84, wo von einem „simple parallélisme des structures“ die Rede ist. 86 Siehe: Vf., „Lucien Goldmanns hegelianische Ästhetik“, op. cit. sowie Vf., Goldmann. Dialectique de l‘immanence, Paris, Ed. Universitaires, 1973, S. 52. Diese Passage führt mitten in die Problematik von Goldmanns Hauptwerk Le Dieu caché. In dieser Arbeit geht es, wie von Goldmann selbst bereits angedeutet, darum, die tragische Bedeutungsstruktur von Pascals Pensées und Racines Tragödien verstehend zu beschreiben und in einem zugleich gesellschaftlichen und historischen Kontext zu erklären. Den gesellschaftlichen Kontext bildet die jansenistische Weltanschauung des Beamtenadels (noblesse de robe), den historischen die absolutistische Monarchie Ludwigs XIV, in der der Beamtenadel seiner politischen Funktion in den Provinzparlamenten beraubt und an den Rand der Gesellschaft abge‐ drängt wird. Er reagiert - als Kollektivsubjekt (s. o.) - auf diese Niederlage, indem er das gesamte politische Geschehen im Zeichen der Sünde interpre‐ tiert und sich extremen Formen der jansenistischen Theologie zuwendet. Goldmann geht nun von der Annahme aus, daß sich wesentliche Elemente dieser Theologie, die von den Jansenisten im Kloster von Port Royal weiter‐ entwickelt wird, in Pascals Pensées und Racines Tragödien niederschlagen, und er versucht, die Peripetien des Jansenismus in diesen Texten nachzu‐ zeichnen. Dabei fällt dem Homologie-Begriff eine zentrale Rolle zu. Sofern der Jansenismus für den Beamtenadel als Kollektivsubjekt eine wichtige Funktion erfüllt und der gesellschaftlichen Lage dieser Gruppe homolog ist, kann auch von einer funktionalen Homologie - also keiner einfachen Analogie, wie Charles Bouazis meint 85 - zwischen Racines Tragödien und dem Jansenismus (und indirekt der „noblesse de robe“) die Rede sein. Um den Rahmen dieses Kapitels nicht zu sprengen, will ich hier nicht auf Einzelheiten dieser Homologie, die ich an anderer Stelle ausführlich besprochen habe 86 , eingehen. Entscheidend ist, daß Goldmann meint, die Wendepunkte des Jansenismus, der sich zwischen zwei Extremen, zwischen dem politischen Kompromiß und der radikalen Ablehnung der absolutisti‐ schen Institutionen bewegt, in Racines Tragödien wiederfinden zu können: Während Tragödien wie Andromaque, Britannicus und Bérénice die radikale Ablehnung ausdrücken, spricht aus Bajazet, Mithridate und Iphigénie die Kompromißbereitschaft. In Esther und Athalie vollzieht sich schließlich ein Übergang zum immanenten Bewußtsein, das die Tragik, die „innerweltliche 4. Lucien Goldmanns genetischer Strukturalismus 101 87 L. Goldmann, Der verborgene Gott, op. cit., S. 581. 88 L. Goldmann, Structures mentales et création culturelle, Paris, Anthropos, 1970, S. 15. Ablehnung“, wie Goldmann sagt, der diese beiden Stücke als „drames sacrés“ bezeichnet, überwindet. Auch die beiden „drames sacrés“ meint er eindeutig auf eine theologische (philosophische) Position festlegen zu können: „Insofern sie sich dennoch, wie wir annehmen, der jansenistischen Bewegung anschließen, drücken sie die Ideologie und die Hoffnung der arnaldischen Zentristen aus (…).“ 87 Hier zeigt sich, daß die Überwindung des dualistischen, des tragischen Bewußtseins durch Dialektik und Immanenz, die schon in Goldmanns Deutung der Kantschen Philosophie wichtig war, auch das telos seiner Racine-Interpretation ist. Im Hinblick auf diese diskursive Teleologie sind auch seine Malraux- und Goethe-Interpretationen zu lesen, die immer wieder der Frage nachgehen, ob es dem Autor (seinen Protagonisten) gelingt, die individualistische Vereinsamung oder die tragische Zerrissenheit, die Goldmann als „vordia‐ lektisch“ bezeichnet, zu überwinden und sich der historischen Immanenz, der Dialektik, der Revolution und dem Ziel der menschlichen Gemeinschaft zuzuwenden. Während die Werke Pascals und Racines die tragische Weltanschauung, den Bruch zwischen Mensch und Welt, artikulieren, wird Goethes Faust als Buch der Tat, der Praxis, auf die dialektische Weltanschauung festgelegt: „Das Thema des Dramas ist der Übergang Fausts vom mutigen und kritischen Wissenschaftler zum Menschen, der den wahren Sinn des Lebens entdeckt, und diesen Sinn verknüpfte Goethe, der Dichter der dialektischen Weltan‐ schauung, mit der Tat.“ 88 Wichtig ist, daß hier - wie schon bei Hegel und Lukács - die literarischen Texte ohne Rücksicht auf ihre Mehrdeutigkeit einem historischen Diskurs (einer „Erzählung“ als „récit“) einverleibt werden. Ihre Bedeutung entsteht in einem begrifflichen Drei-Phasen-Schema, in dem das individualistische und rationalistische Bewußtsein (der Aufklärung) durch das tragische Be‐ wußtsein (Kants, Pascals) und dieses durch das dialektische Bewußtsein (Hegels, Goethes, Marxens, Lukácsʼ) überwunden, aufgehoben wird. Auch die Romane Malrauxʼ und die Dramen Sartres werden im Rahmen dieses Erzählschemas gedeutet und - wie schon bei Hegel - der Herrschaft des monosemierenden Begriffs unterworfen. II. Vom Marxismus zum Formalismus 102 89 L. Goldmann, Th. W. Adorno, „Deuxième colloque international sur la Sociologie de la Littérature, Royaumont. Discussion extraite des actes du colloque“, in: Revue de lʼInstitut de Sociologie (Brüssel), Nr. 3/ 4, 1973, S. 540. 90 Siehe: S. Naïr, M. Lowy, Goldmann ou la dialectique de la totalité, Paris, Seghers, 1973, S. 17 und S. 91. Zwei Fragen bleiben unbeantwortet: Weshalb Goethe nicht statt des Faust eine Abhandlung über Dialektik schrieb, und weshalb Racines Dramen im‐ mer von neuem inszeniert werden (etwa von Planchon) und auch Individuen und ganze Gruppen ansprechen, die von der jansenistischen Theologie noch nie etwas gehört haben. Sicherlich ist der Produktionszusammenhang von Literatur ebenso wich‐ tig wie der Kontext der Rezeption; seine Analyse darf jedoch nicht dazu führen, daß polyseme Texte auf eindeutige Aussagen (Weltanschauungen, Ideologien) festgelegt werden und daß der Hegelianer über einen avantgar‐ distischen Autor wie Beckett, der sich bewußt allen Monosemierungsversu‐ chen entzieht, sagt: „(…) Voraussichtlich wird es mir gelingen nachzuweisen, daß dieses Werk, wenn es ein großes Werk ist, die Widersprüche, Schwierig‐ keiten und Brüche dennoch in eine globale Weltanschauung integriert, die auf ein System reduziert werden kann (qui peut être réduite en système).“ 89 Der Hegelianismus dieser Passage liegt offen zutage: Das große ist das klassische Werk (das „klassische Ideal“), das alle Brüche in eine harmonische Totalität integriert, der ein begriffliches Äquivalent entspricht, welches der hegelianische Diskurs bereithält. Es zeigt sich auch, daß Goldmanns ästhetische Kriterien sich nicht so radikal von denen des alten Lukács unterscheiden, wie von manchen Goldmann-Schülern angenommen wird 90 : Wie, wenn sich herausstellt, daß Becketts Texte beim besten Willen nicht in Begriffe zu übertragen sind? Sind sie dann minderwertig, unrealistisch oder gar dekadent? Lukácsʼ Begriff des Typischen und Goldmanns Begriffe der Weltanschauung und der Bedeutungsstruktur sind nur verschiedene Aspekte einer und derselben hegelianischen Kategorie: der begrifflichen Totalität. 5. Formalismus, Futurismus und Ausdrucksebene Jeder Versuch, die Position der russischen Formalisten aus Kants Kritik der Urteilskraft abzuleiten, so wie ich einige zentrale Theoreme Marxens, Lukácsʼ und Goldmanns aus Hegels Ästhetik abgeleitet habe, ist vorab zum Scheitern verurteilt, weil die formalistischen Theorien eng mit der 5. Formalismus, Futurismus und Ausdrucksebene 103 91 N. Gorlov, „Quʼest-ce que le futurisme? “ in: G. Conio (Hrsg.), Le Formalisme et le futurisme russes devant le marxisme., Lausanne, Ed. 1‘Age dʼHomme, 1975, S. 170. 92 A. A. Hansen-Löve, Der russische Formalismus, op. cit., S. 490. 93 Ibid., S. 78. Praxis der futuristischen Avantgarde und bis zu einem gewissen Grad der LEF-Bewegung (Levyj front iskusstv/ Linke Kunstfront) liiert sind. Beide Gruppen lehnen die dem „interesselosen Wohlgefallen“ zugrundeliegende kontemplative Einstellung zur Kunst ab. Nirgendwo tritt das kulturrevolutionäre und sprachrevolutionäre Enga‐ gement der russischen Futuristen klarer zutage als bei Nikolaj Gorlov, der in einem polemischen Artikel über den Futurismus schreibt: „Die Futuristen, die die alte Lebensart haßten, haßten auch die alte Sprache.“ 91 Daß die äs‐ thetische Ausrichtung der Formalisten den bei Kant verpönten Utilitarismus (Nutzen und Engagement der Kunst) nicht ausschließt, ist Hansen-Löve aufgefallen: „Aus der Sicht des Formalismus (v. a. Šklovskijs) erscheint die Utilitarisierung der Kunst im Lef-Programm als primärer V-Akt (Verfrem‐ dungsakt, P.V.Z.) der Dekanonisierung herrschender ästhetischer Normen und Kommunikationsformen, als ‚Arbeit an einem neuen Weltempfinden‘ (…).“ 92 Die Avantgarde, so könnte man folgern, kann nicht kantianisch sein, weil sie durch ihr ästhetisch-politisches Engagement „Interesselosigkeit“ und Kontemplation ausschließt. Nun ist aber der Formalismus weder mit der LEF-Bewegung noch mit dem Futurismus, von dem er stark beeinflußt wurde, identisch. Es kommt hinzu, daß seine Theorien, die einander teilweise widersprechen, zwei Aspekte aufweisen, die als kantianisch zu bezeichnen sind und die Formalisten von ihren marxistischen Kontrahenten trennen: 1. die These, daß Kunst und Literatur spezifische, autonome Bereiche sind, die eine autonome Kunst- und Literaturwissenschaft erfordern; 2. die komplementäre These, die alle Formalisten unermüdlich verteidigen, daß literarische Texte „begriffslos“ sind, daß sie nicht begrifflichen Äquivalenten zugeordnet werden können. Dies ist der Grund, weshalb, wie Hansen-Löve erkannt hat, Kants Form-Begriff mit dem der frühen Formalisten vergleichbar ist: „Dieser im Sinne Kants als ausschließlich ‚ästhetische Kategorie‘ verstandene Form-Be‐ griff steht dem des frühen Formalismus eben deshalb so nahe, weil er in Opposition gesetzt ist zum Inhalt und zur individuellen Identifikation der Einfühlung.“ 93 In Übereinstimmung mit der Kritik der Urteilskraft betonen II. Vom Marxismus zum Formalismus 104 94 Einen systematischen Vergleich zwischen Formalismus und dem New Criticism stellt Ewa Thompson an: Russian Formalism and Anglo-American New Criticism, Den Haag, Mouton, 1971. Vgl. auch: Vf., The Philosophy of Modern Literary Theory, London, Athlone, 1999, S. 17-35. 95 Siehe: P. Steiner, Russian Formalism. A Metapoetics, Ithaca-New York, Cornell Univ. Press, 1984. 96 Siehe u. a., V. Žirmunskij, „Über das Fach Vergleichende Literaturwissenschaft“, in: G. R. Kaiser (Hrsg.), Vergleichende Literaturforschung in den sozialistischen Ländern 1963-1979, Stuttgart, Metzler, 1980. die Formalisten die Bedeutung der Ausdrucksebene und die Unmöglichkeit, literarische Diskurse auf eine bestimmte Begrifflichkeit festzulegen. Schon die Bezeichnung OPOJAZ (Opščestvo Izučennija Poetičeskogo Jazyka/ Gesellschaft zur Erforschung der poetischen Sprache), für die sich im Jahre 1916 die Petersburger Gruppe der Formalisten entschied, deutet darauf hin, daß sie, ähnlich wie die New Critics 94 , dazu neigten, den Objektbereich der Literaturwissenschaft mit dem lyrischen Text zu identifizieren. Lyrik war ihnen eine Art pars pro toto, eine Synekdoche für Literatur. Darin folgten sie den Futuristen, auf deren Sprachexperimente ich im Zusammenhang mit Alexej Kručonych noch zu sprechen komme. Freilich gilt diese erste skizzenhafte Charakteristik nicht für den gesamten Formalismus in allen seinen Ausprägungen und Phasen, sondern eher für die Strömung, die Peter Steiner treffend als „mechanistischen Formalismus“ bezeichnet, und deren Hauptvertreter Viktor Šklovskij (1893-1984) ist. Steiner weist mit Recht darauf hin, daß die beiden anderen Varianten des Formalismus, die „morphologische“ und die „systemische“, nicht minder wichtig sind. 95 Während die vorwiegend von Jurij Tynjanov (1894-1943) entwickelte systemische Richtung die Literatur als historisches System auffaßt, versu‐ chen Vertreter der morphologischen Variante wie Vladimir Propp (1895- 1970) und Viktor Žirmunskij (1891-1971), der später als Marxist wesentliche Beiträge zur Komparatistik lieferte 96 , in Anlehnung an Goethe und Cuvier eine strukturale Methode zu entwickeln, deren systematische Anwendung Propp in seiner Morphologie des Märchens (1928) erprobt. Dieses Buch ist nicht nur deshalb wichtig, weil es die französische Semiotik (vor allem die der Greimas-Gruppe) nachhaltig beeinflußt hat (vgl. Kap. 7), sondern auch deshalb, weil es als Suche nach Handlungsstrukturen und vor allem Tiefen‐ strukturen Kants Theorem der „Begriffslosigkeit“ eindeutig widerspricht. Hier zeigt sich, daß der Formalismus ebensowenig wie der New Criticism eine homogene theoretische Richtung war, obwohl seine Terminologie ein‐ 5. Formalismus, Futurismus und Ausdrucksebene 105 97 A. A. Hansen-Löve, Der russische Formalismus, op. cit., S. 227. 98 V. Šklovskij, „Der Zusammenhang zwischen den Verfahren der Sujetfügung und den allgemeinen Stilverfahren“, in: J. Striedter (Hrsg.), Russischer Formalismus, München, Fink, 1969, S. 51. heitlicher war und er eher den Charakter einer Schule oder Bewegung hatte. Denn es ist kein Zufall, daß Žirmunskij als Vertreter der morphologischen Richtung zum Marxismus überwechselte und daß Propp eine Richtung der Semiotik beeinflußte, die eher mit dem Hegelianismus als mit dem Kantianismus verwandt ist, zumal sie die Invarianten der Gattung und nicht den Text in seiner Einmaligkeit, Unverwechselbarkeit anvisiert. (Siehe Kap. VII. 3.) Eine Differenzierung in diachroner Perspektive führt Hansen-Löve durch, wenn er zeigt, daß der Formalismus in seiner ersten Phase vor allem die Literarizität (literaturnost) der Texte in einer paradigmatischen Perspektive untersucht, sich in der zweiten Phase auf „die syntagmatische Struktur des Kunstwerkes, auf seine konkreten Kompositionsregeln, auf das System von Verfahren bzw. Funktionen“ 97 konzentriert und sich schließlich in der dritten Phase literaturhistorischen und soziologischen Problemen zuwendet. Diese Darstellung überschneidet sich insofern mit der Steiners, als sie einen Trend zur Systematisierung und ein wachsendes Interesse der For‐ malisten an historischen und soziologischen Fragen erkennen läßt. Dieses Interesse zeigt, daß der Gegensatz zwischen Formalisten und Marxisten, der am Ende dieses Kapitels zur Sprache kommt, nicht verabsolutiert werden sollte und daß ein fruchtbarer Dialog möglich gewesen wäre, wenn die repressive Kulturpolitik der leninistischen Partei ihn nicht vereitelt hätte. Gegensätze gibt es dennoch, und ich meine nach wie vor, daß es hilfreich ist, sie im Rahmen des umfassenden Antagonismus zwischen Kant und Hegel, zwischen Ausdrucksebene und Inhaltsebene zu betrachten. Daß die Ausdrucksebene einseitig der Inhaltsebene gegenüber aufgewertet wer‐ den sollte, zeigt Šklovskijs programmatische Feststellung: „Eine neue Form entsteht nicht, um einen neuen Inhalt auszudrücken, sondern um eine alte Form abzulösen, die ihren Charakter als künstlerische Form bereits verloren hat.“  98 Um den Kontrast zu verstärken, sei hier an die Behauptung der sozialistischen Realisten aus dem dritten Abschnitt erinnert: „Aus dem Was ergibt sich das Wie“. Im Zusammenhang mit Šklovskijs These deutet sie darauf hin, daß die Methode nicht unabhängig von ihren ästhetischen Grundlagen zu verstehen ist. II. Vom Marxismus zum Formalismus 106 99 Dazu bemerkt Willem Weststeijn: „Zaum wurde ein Grundbegriff des F(uturismus) und der gesamten russ. Avantgarde und lag auch den Überlegungen von Malevič zum Suprematismus zugrunde.“ (W. Weststeijn, „Futurismus in Russland“, in: H. van den Berg, W. Fähnders [Hrsg.], Metzler Lexikon Avantgarde, Stuttgart-Weimar, Metzler, 2009, S. 120.) 100 N. Gorlov, „Quʼest-ce que le futurisme? “, in: G. Conio (Hrsg.), Le Formalisme et le futurisme russes devant le marxisme, op. cit., S. 177. 101 Ibid., S. 171. 102 A. A. Hansen-Löve, Der russische Formalismus, op. cit., S. 101. Es sollte klar sein, daß Šklovskijs Formbegriff kein Synonym für „Aus‐ drucksebene“ ist, sondern sich mit diesem wesentlich genaueren semioti‐ schen Terminus nur überschneidet. Es kann jedoch gezeigt werden, daß es den Formalisten, vor allem in der ersten Phase ihrer Entwicklung (im „mechanischen“ Formalismus, würde Steiner sagen), primär um die Ebene der Signifikanten zu tun war, und zwar sowohl im Bereich der Lyrik als auch im Bereich der Prosa. Die transmentale Sprache (zaum) der futuristischen Dichter 99 zielte darauf ab, die Signifikanten so zu zerlegen oder zu manipulieren, daß es unmöglich wurde, sie auf irgendwelche Signifikate (Begriffe) zu beziehen. Alexej Kručonychs transmentale Experimente bewirken eine Verselbständigung der Signifikanten und lösen sie dadurch aus der „kollektiven Konvention“ (Saussure) heraus: „Indem Kručonych die Lilie - euy - nennt, zerrüttet er die organische Einheit der Sprache; er tötet die Sprache selbst als sozialen Ordnungsfaktor.“ 100 „Was ist ein phonisches Bild? “ - fragt an anderer Stelle der Futurist Nikolaj Gorlov und erklärt: „Es ist eine Kombination von Klangelementen des Wortes, die unabhängig vom semantischen Inhalt auf unsere Psyche einwirken.“ 101 Spätestens hier wird klar, daß es im Futurismus tatsächlich um eine Abkoppelung der Ausdrucksebene von der Inhaltsebene ging: um eine Ablösung der Phoneme von den Semen. Wie in europäischen Avantgarde-Bewegungen (im italienischen Futurismus, im Dadaismus) werden die Wörter zu Wörter-Dingen, zu unab‐ hängigen Signifikanten: „Nach Malevič sind die ‚Bewegungen, Laute und Zeichen‘ dieser gegenstandslosen Sprache weder vom Standpunkt der Vernunft noch dem der konventionellen Schönheit abhängig, sondern es sind ‚Wort-Dinge‘ (slova-vešči), die nur für sich stehen.“ 102 Vor allem der futuristisch-formalistische Ausdruck zvuk-zaum (Klang-Zaum), dem die Wortverbindung sem-zaum (semantischer Zaum) entspricht, deutet auf eine Verselbständigung der phonetischen Einheiten. 5. Formalismus, Futurismus und Ausdrucksebene 107 103 B. Ejchenbaum, „Theorie der formalen Methode“, in: Kursbuch Nr. 10, 1967, S. 10. 104 J. Tynjanov, „Velimir Chlebnikov“, in: ders., Die literarischen Kunstmittel und die Evolution in der Literatur, Frankfurt, Suhrkamp, 1967, S. 64. In bezug auf die transmentale Sprache waren sich die Formalisten (vor allem Šklovskij, Tynjanov und Ejchenbaum) mit den Futuristen einig. Davon zeugt u. a. Boris Ejchenbaums (1886-1959) Aufsatz über „Die Theorie der formalen Methode“ (1925), in dem es darum geht, „das poetische Wort aus den Fesseln philosophischer und religiöser Tendenzen zu befreien“. 103 Der Autor beruft sich auf die sprachliche „Revolution“ der Futuristen Chlebnikov, Kručonych und Majakovskij; zugleich polemisiert er gegen die Kunstmetaphysik der Symbolisten, die auf eine Vereinnahmung der Dichtung durch Philosophie und Religion hinausläuft. Sein Plädoyer für den Futurismus wird drei Jahre später von Tynjanov wieder aufgenommen, wenn dieser die von Chlebnikov bewirkte „neue Sehweise“ lobt und die Sprachexperimente des Dichters der „sprachlosen“ Malerei annähert: „In diesem Sinne steht Chlebnikovs Poesie, obwohl sich die heutige Poesie stillschweigend von ihr nährt, dieser vielleicht weniger nahe als etwa der heutigen Malerei“. 104 Der Musik und der Malerei wird die Literatur eher angenähert als dem begrifflichen Denken der Philosophie. Vor allem Ejchenbaums Arbeiten über den skaz (das gesprochene Wort) in der Literatur zeugen davon, daß die Ausrichtung auf die Ausdrucksebene nicht nur im lyrischen Bereich, sondern auch in Analysen von Prosatexten von Bedeutung ist. In seinen bekannten Aufsätzen über Gogols Novellen hebt Ejchenbaum die Bedeutung des gesprochenen Wortes für die Textkon‐ struktion hervor; er zeigt, daß die Figuren nicht mit Hilfe von Kommentaren oder Erklärungen, sondern durch Sprach- und Klanggesten charakterisiert werden. In Gogols Novelle Der Mantel faßt der Name der Hauptperson Akakij Akakijevič auf phonetischer Ebene - gleichsam synekdochisch - den Charakter zusammen: Akakij ist ein kleiner, unbeholfener und eingeschüch‐ terter Beamter, dessen holprige Ausdrucksweise mehr über ihn aussagt als umständliche Erzählerkommentare. Aus Ejchenbaums Analyse geht hervor, daß nicht nur Lyrik, sondern auch Prosa eine Art Mimesis der Sprache ist, die nicht auf die Begrifflichkeit logischer Rede reduziert werden kann: „All das zusammen deutet daraufhin, daß die Grundlage des Gogolʼ-Textes der skaz ist, daß sich sein Text aus lebendigen Redevorstellungen und Sprechemotionen fügt. Mehr noch: ein solcher skaz will nicht bloß erzählen, nicht nur sprechen, sondern mimisch II. Vom Marxismus zum Formalismus 108 105 B. Ejchenbaum, „Wie Gogols Mantel gemacht ist“, in: J. Striedter (Hrsg.), Russischer Formalismus, op. cit., S. 129. 106 V. Šklovskij, „Der parodistische Roman. Sternes Tristram Shandy“, in: J. Striedter (Hrsg.), Russischer Formalismus, op. cit., S. 251. 107 P. Steiner, Russian Formalism, op. cit., S. 132. und artikulatorisch Worte reproduzieren, und Sätze werden nicht nur nach dem Prinzip logischer Rede ausgewählt und aneinandergekettet, sondern mehr nach dem Prinzip ausdrucksvoller Rede, in der der Artikulation, der Mimik, den lautlichen Gesten usw. eine besondere Rolle zufällt.“ 105 Methodologisch interessant ist hier die Redewendung „nicht nur … sondern mehr“, die durchblicken läßt, daß die Logik auch eine strukturierende Funktion erfüllt: Es fragt sich nur welche … In den Kapiteln über Semiotik und Dekonstruktion werde ich diese Frage im Zusammenhang mit der zeitgenössischen Diskussion wieder aufgreifen. Die Frage nach dem Wie, nach der Ausdrucksebene im weiteren Sinne, wohnt fast allen Schlüsselbegriffen des Formalismus inne. Die beiden Begriffe Innovation und Verfremdung, die im Mittelpunkt von Šk1ovskijs Arbeiten über Cervantesʼ Don Quijote und Laurence Sternes Tristram Shandy stehen, zeigen, daß die Aufmerksamkeit des Formalisten nicht dem „Logos“ der Erzählung, dem begrifflich definierbaren Gerüst, gilt, sondern der Art, wie erzählt wird, wie - etwa Laurence Sterne - das traditionelle Erzählen parodiert, verfremdet. Nicht die Fabel als Tiefenstruktur ist wichtig, sondern die Art, wie sie aufbereitet wird: die Sujetfügung. Bei Sterne, sagt Šklovskij, „wird das Bewußtwerden der Form mit Hilfe ihrer Auflösung zum Inhalt des Romans“. 106 Es ist natürlich legitim zu fragen, ob die Formalisten ihre Theorie nicht - ähnlich wie die Marxisten - auf einem literarischen Kanon gegründet haben, der sich in ihrem Fall nicht aus klassisch-realistischen, sondern aus parodistischen, innovativen und „avantgardistischen“ Texten zusammensetzt. Denn jeder theoretische Diskurs neigt dazu, sich mit Hilfe von Selektionen und Klassifikationen selbst am besten zu illustrieren. Die Hartnäckigkeit, mit der sich die Formalisten weigern, „Inhalte“ zu thematisieren, mit der sie versuchen, die Form selbst zum Inhalt zu machen, läßt ihr zentrales ästhetisches Ideologem zutage treten: die Autonomie der Kunst. Mit Recht spricht Steiner von „the Formalist belief in the autonomy of literature“. 107 Es ist durchaus möglich, daß diese Autonomieästhetik teilweise den revolutionären Anliegen der Futuristen zuwiderläuft; es ist sogar möglich, daß sie mit einigen Programmpunkten des Formalismus 5. Formalismus, Futurismus und Ausdrucksebene 109 108 V. Šklovskij, „Kunst als Verfahren“, in: J. Striedter (Hrsg.), Russischer Formalismus; op. cit., S. 15. 109 Zum Widerspruch zwischen Autonomie und Engagement in Formalismus und Struk‐ turalismus vgl. Vf., „Jan Mukařovskýʼs Aesthetics between Autonomy and the Avant-Garde“, in: V. Macura, H. Schmid (Hrsg.), Jan Mukařovský and the Prague School, Potsdam, Univ. Potsdam-Ústav pro českou literaturu, 1999. 110 L. Trockij, Literatur und Revolution, München, DTV, 1968, S. 137. 111 B. Ejchenbaum, „Zur Frage der ‚Formalisten‘ (Überblick und Antwort)“, in: H. Günther, K. Hielscher (Hrsg.), Marxismus und Formalismus, Frankfurt-Berlin-Wien, Ullstein, 1976, S. 72 und S. 71. kollidiert: etwa mit Šklovskijs Forderung, Literatur müsse ein „neues Sehen“ ermöglichen und ein „neues Empfinden des Lebens wiederherstellen“. 108 Sind das nicht schon Zielsetzungen einer engagierten Literatur, die ein Jenseits des ästhetischen Wirkungsbereichs anpeilt? 109 Unvereinbar ist die autonome Kunstauffassung jedenfalls mit der Hete‐ ronomie der Marxisten, die drei komplementäre Vorwürfe an die formalis‐ tische Adresse richten: 1. Die Formalisten vernachlässigen den Inhalt (das Was) der literarischen Werke; 2. sie versäumen es, die genetische Frage nach dem Warum zu stellen, und 3. sie isolieren die literarische Evolution von der Gesamtheit der historischen Prozesse. Im folgenden will ich auf diese drei Punkte der Reihe nach eingehen und den formalistisch-marxistischen Dialog in aller Knappheit (sofern er für ästhetische und methodologische Fragen wichtig ist) wiedergeben. Den ersten Punkt thematisiert Lev Trockij (1879-1940) in Literatur und Revolution (1924) und karikiert dabei die formale Methode, wenn er behaup‐ tet, ihr eigentlicher Gegenstand sei „die Analyse (…) der etymologischen und syntaktischen Eigenschaften poetischer Werke (…), das Zählen sich wiederholender Vokale und Konsonanten, Silben, Epitheta“. 110 Solche De‐ tailarbeit ist legitim, sagt er, unter der Voraussetzung, daß sie nicht zum Selbstzweck wird, sondern in einer umfassenden (sprich marxistischen) Literaturwissenschaft aufgeht. Demgegenüber beharrt Ejchenbaum auf dem spezifischen und autonomen Gegenstand von Literatur und Literaturwissenschaft. In seinem Artikel „Zur Frage der Formalisten“ (1924) betont er „die spezifische Form von sprachlichen Werken“ und spricht im Zusammenhang mit der formalen Methode vom „Bestreben nach einer Spezifizierung der Literaturwissenschaft“. 111 Zweifellos stimmt das Spezifische der Literatur weitgehend mit der Aus‐ drucksebene überein, während das Spezifische der Literaturwissenschaft der Frage nach dem Wie entspricht: „Wie Gogols Mantel gemacht ist“ II. Vom Marxismus zum Formalismus 110 112 V. Erlich, Russischer Formalismus, op. cit., S. 48. 113 L. Trockij, Literatur und Revolution, op. cit., S. 149-150. (Ejchenbaum), „Wie ist der Don Quijote gemacht? “ (Šklovskij). Victor Erlichs Bemerkungen über die Futuristen und Mallarmé gelten auch für die Formalisten: „Ferner läßt sich wohl das futuristische Wort vom ‚Durchschütteln der Syntax‘ mittelbar auf Mallarmés unermüdliche Versuche zurückverfolgen, die Regeln der Logik durch solche der poetischen Euphonie zu ersetzen.“ 112 Die Marxisten hingegen sind an Euphonie nicht interessiert; im Gegenteil, sie fragen nach dem begrifflichen Was der Texte, um anschließend die genetische Frage nach dem Warum stellen zu können: Was drücken die Tragödien Racines aus? Die Theologie des extremen Jansenismus. Warum sind sie in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts entstanden? Weil der Beamtenadel vom absoluten Königtum marginalisiert wurde und sich aus Enttäuschung dem Jansenismus zuwandte. Ich habe hier Goldmanns Fragestellung stark vereinfacht, um sie besser mit der Trockijs vergleichen zu können. In seiner Kritik des Formalismus behauptet Trockij: „Aber nur der Marxismus ist fähig zu erklären, warum und woher in einer gegebenen Epoche eine bestimmte Richtung in der Kunst entstanden ist, d. h. wer und warum das Verlangen nach solchen und nicht nach anderen künstlerischen Formen geäußert hat.“ 113 Im Gegensatz zu Goldmanns Subjekt, das als „sujet de la création“ im Bereich der literarischen Produktion beheimatet ist, ist Trockijs Subjekt („wer … das Verlangen … geäußert hat“) zweidimensional, weil es sowohl im Bereich der Produktion als auch im Bereich der Rezeption angesiedelt werden kann. Indessen trifft Trockijs Behauptung, nur der Marxismus sei fähig, das Auftreten einer neuen Kunstform zu erklären, einfach nicht zu. Denn auch die Formalisten haben - nicht ganz ohne Erfolg, wie ich meine - versucht, das Entstehen neuer Formen zu erklären. In seinem wichtigen Aufsatz über das literarische Faktum beschreibt Tynjanov die Evolution der Literatur in vier Etappen, wobei der Gegensatz zwischen Automatisierung (als Verschleiß von Stereotypen) und Entautomatisierung (als ästhetische Innovation) zur treibenden Kraft der Evolution wird: „1. In dialektischer Beziehung zum automatisierten Konstruktionsprinzip kündigt sich ein entgegengesetztes Konstruktionsprinzip an; 2. es vollzieht sich seine Anwendung, das Kon‐ struktionsprinzip sucht sich die leichteste Anwendungsmöglichkeit; 3. das Konstruktionsprinzip dehnt sich auf eine größtmögliche Zahl von Erschei‐ 5. Formalismus, Futurismus und Ausdrucksebene 111 114 J. Tynjanov, „Das literarische Faktum“, in: J. Striedter (Hrsg.), Russischer Formalismus, op. cit., S. 413. 115 Ibid., S. 457. 116 E. Köhler, „Principes historico-sociologiques et science littéraire“, in: TILAS, Universität Straßburg, 1973-1974, S. 7. 117 J. Tynjanov, „Über die literarische Evolution“, op. cit., S. 453. nungen aus; 4. es wird automatisiert und ruft entgegengesetzte Konstrukti‐ onsprinzipien hervor.“ 114 Wichtig ist hier vor allem der Gedanke, den Tynjanov auch in seinem Aufsatz „Über die literarische Evolution“ (1927) äußert, daß das einzelne Werk zunächst, d.h. bevor es auf entfernte Kontexte wie Religion, Politik oder Wissenschaft bezogen wird, innerhalb der literarischen Reihe zu orten ist: „Das einzelne Werk muß in Korrelation zur literarischen Reihe gestellt werden, bevor man von seiner Intention spricht.“ 115 Die Frage nach Entstehung und Beschaffenheit des Don Quijote kann konkret nur im Zusammenhang mit der literarischen Reihe beantwortet werden, in der er als Parodie des spanischen Ritterromans erklärt werden kann: Er sollte nicht unmittelbar (referentiell) auf die Zentralisierung Spaniens unter den Reyes Católicos bezogen werden. Aus formalistischer Sicht hätte Goldmann Racines Tragödien nicht unmit‐ telbar auf Jansenismus und Beamtenadel beziehen sollen; er hätte zunächst versuchen sollen, ihren Stellenwert innerhalb der Evolution des französischen Dramas (der französischen Literatur) zu bestimmen. Wie wichtig die litera‐ rische Reihe als Vermittlungsinstanz für die Frage nach dem Warum (für die „Erklärung“ des Textes) ist, fiel später dem bedeutenden Romanisten und Literatursoziologen Erich Köhler in seiner Kritik an Goldmann auf: „Sein genetischer Strukturalismus“, schreibt er, „vernachlässigt indessen die Bedeutung der Vermittlung durch die literarische Tradition.“ 116 Hier zeigt sich, daß die Marxisten ganz zu Unrecht die Frage nach dem Warum monopolisiert haben: Statt gegen die Formalisten zu polemisieren, hätten sie sich überlegen sollen, ob es nicht möglich wäre, ihre genetische Frage, die primär auf den sozialen Kontext abhebt, durch die literarische und die sprachliche Komponente zu konkretisieren. Denn Tynjanov, der konsequent die evolutionstheoretische Frage von der genetischen Frage nach der Beziehung von Literatur und Gesellschaft (Psyche) unterscheidet, hat auch recht, wenn er bemerkt: „Diese Korrelation von literarischen und außerliterarischen Reihen vollzieht sich auf der sprachlichen Linie (…).“ 117 II. Vom Marxismus zum Formalismus 112 118 Siehe: Vf., Textsoziologie. Eine kritische Einführung, Stuttgart, Metzler, 1980. 119 P. N. Medvedev, Die formale Methode in der Literaturwissenschaft, Stuttgart, Metzler, 1976, S. 210. 120 P. N. Medvedev, „Das Kunstwerk als außerhalb des Bewußtseins liegendes Faktum“, in: H. Günther, K. Hielscher (Hrsg.), Marxismus und Formalismus, op. cit., S. 130. Dieser für die Literatursoziologie zentrale Gedanke wurde später von Bachtin und Adorno aufgegriffen, deren Theorien in den nächsten beiden Kapiteln zur Sprache kommen. Mich hat er veranlaßt, eine Textsoziologie zu entwickeln, die nicht nur literarische, sondern auch politische und theore‐ tische Diskurse über sprachliche Instanzen mit der Gesellschaft korreliert. 118 Es ist auch nicht ganz richtig, wenn die Marxisten behaupten, die For‐ malisten hätten die literarische Reihe von den anderen Reihen isoliert (Punkt 3). Denn Tynjanov weist häufig darauf hin, daß die literarische Evolution parallel zur Entwicklung anderer Reihen - der politischen, der wissenschaftlichen, der religiösen - verläuft. Recht hat allerdings der Marxist Pavel Medvedev (1891-1938), wenn er Tynjanovs Darstellung der literarischen Evolution als „mechanistisch“ bezeichnet und die These aufstellt, daß im Rahmen des Gegensatzes von Automatisierung und Entautomatisierung die Vielfalt literarischer Formen nicht zu erklären ist: „Tatsächlich verlangt das formalistische Gesetz der immanenten Entwicklung der Literatur keineswegs die Erfindung neuer Formen. Das formalistische Schema setzt zu seinem Funktionieren lediglich die Existenz zweier zueinander in Kontrast stehender künstlerischer Rich‐ tungen voraus (…). Wenn neue Formen auftreten, dann aus Gründen, die vom Standpunkt der literarischen Entwicklung selbst völlig zufällig sind.“ 119 Dies ist insofern richtig, als die Formalisten es versäumen, literarische Formen als soziale Fakten zu denken und zu zeigen, wie sich gesellschaft‐ liche Standpunkte und Wertungen in Einzeltexten und Gattungen nieder‐ schlagen. Wenn Tynjanov die verschiedenen Reihen miteinander korreliert, so bleiben die außerliterarischen Reihen der literarischen Reihe äußerlich. Dies meint Medvedev, wenn er bemerkt, „daß der soziale Faktor (bei den Formalisten, P.V.Z.) der Literatur fremd ist“. 120 Noch präziser drückt es der Marxist Kurt Konrad (1908-1941) aus, wenn er in seiner Kritik des tschecho‐ slowakischen Strukturalismus schreibt: „Aus der schlechten Totalität folgt, daß der Strukturalismus (gemeint ist der Strukturalismus Mukařovskýs und Jakobsons, P.V.Z.) das Wirken außerliterarischer Kräfte nur als ‚Einwirkung 5. Formalismus, Futurismus und Ausdrucksebene 113 121 K. Konrad, „Der Streit um Inhalt und Form. Marxistische Bemerkungen zum neuen Formalismus“, in: H. Günther, K. Hielscher (Hrsg.), Marxismus und Formalismus, op. cit., S. 140-141. 122 A. V. Lunačarskijs, „Der Formalismus in der Kunstwissenschaft“, in: H. Günther, K. Hielscher (Hrsg.), Marxismus und Formalismus, op. cit., S. 89. von außen‘ zugesteht, nicht als lebendigen Boden, als Medium, das erst dem literarischen Faktum Leben verleiht.“ 121 Unüberhörbar klingt hier Hegels Theorem der dialektischen Vermittlung an: Literatur wird nicht - gleichsam von außen - von Wirtschaft und Ge‐ sellschaft beeinflußt, sondern ist durch ökonomische und soziale Strukturen vermittelt. Dem Trivialroman wohnt die Vermittlung durch den Tauschwert inne: von den einleitenden Stereotypen bis zum kommerzialisierbaren Happy End; vom Umfang, den der Verlag nach kommerziellen Kriterien festlegt, bis zur leuchtenden Aufmachung. Während ich diesem Hegelschen Theorem der Marxisten uneinge‐ schränkt zustimme, halte ich eine andere Hegelsche These, die sie stets von neuem gegen die Formalisten ins Feld führen, für falsch: für eine der Hauptquellen der in der formalistisch-marxistischen Diskussion auftreten‐ den Mißverständnisse. Es ist der Gedanke, daß das Spezifische der Literatur ihr sinnlicher, ihr affektiver Charakter sei. Dieser Gedanke tritt in nahezu allen marxistischen Argumentationen auf. Ich gebe hier nur eine Passage aus Lunačarskijs Formalismus-Kritik wieder, die besonders typisch ist: „Wie muß die Idee in der Kunst aussehen, um, ohne nur abstrakter Gedanke zu sein, dem ideologischen Bereich zuzugehören? - Es ist evident, daß sie den Charakter des Gefühls tragen muß.“ 122 Dieser hegelianische Gedanke par excellence (man achte auf die Unter‐ scheidung von Idee und Begriff bzw. Gedanke) ist keineswegs evident; ja er ist sogar außerordentlich fragwürdig, weil er voraussetzt, daß Gefühls‐ regungen begriffliche Äquivalente haben, und vor allem deshalb, weil er die Ebene ausklammert, auf der sich Literatur gegen die Auflösung im Begrifflichen sperrt: die Ausdrucksebene. Klarer als die unterliegenden und mundtot gemachten Formalisten haben Bachtin, Adorno und die Prager Strukturalisten dieses Problem erkannt. II. Vom Marxismus zum Formalismus 114 1 Siehe: Lʼimmagine riflessa, Dezember-Januar 1984, Saggi su Bachtin, darin vor allem die Beiträge von T. Eagleton („Carnevale e satira: Bachtin e Brecht“), G. C. Belletti („Bachtin-Freud. Motivi di un incontro“) und A. Ponzio („Il rapporto di alterità in Bachtin, Blanchot, Lévinas“). III. Michail Bachtins „junghegelianische“ Ästhetik Der Name Michail Michailovič Bachtins (1895-1975) wird immer wieder und manchmal nicht zu Unrecht mit Namen wie Freud, Brecht oder Joyce ver‐ knüpft. 1 Mein Hinweis auf die Junghegelianer könnte deshalb den Verdacht aufkommen lassen, daß hier eine weitere Wahlverwandtschaft postuliert werden soll, die der wachsenden Kette von Analogien ein neues Glied hinzufügt. Es geht hier jedoch um wesentlich mehr als um eine Analogie oder um den Nachweis von Einflüssen. Die Gesamtproblematik, von der Bachtin ausgeht und in der er schreibt, kann als zugleich nachhegelianisch und junghegelianisch bezeichnet wer‐ den: erstens, weil die Auseinandersetzungen zwischen Formalisten und Marxisten, die Bachtin, Medvedev und Vološinov, die drei bekanntesten Mitglieder des Bachtin-Kreises, gut kannten, den Hegelianismus der mar‐ xistischen Ästhetik in Frage stellten; zweitens, weil die in den 1920er und vor allem 30er Jahren herrschende marxistische Ästhetik (wie sich im vorigen Kapitel gezeigt hat) ein verflachter Hegelianismus war, gegen dessen mo‐ nologischen Herrschaftsanspruch Bachtin und seine Freunde aufbegehrten; drittens, weil Bachtin nicht nur mit der Philosophie Hegels, sondern auch mit der der Nachhegelianer Vischer, Feuerbach und Rosenkranz vertraut war, und schließlich deshalb, weil Dostoevskij, dessen Romane er zur Grundlage seiner polyphonen Ästhetik machte, von den Junghegelianern (etwa von Max Stirner) beeinflußt worden war. Es soll freilich nicht behauptet werden, andere Einflüsse und Zusam‐ menhänge seien für das Verständnis von Bachtins Literaturwissenschaft und Ästhetik nebensächlich: Vor allem sein Aufsatz „Zur Methodologie der Literaturwissenschaft“ (1940/ 1974) sowie die Aufzeichnungen aus den Jahren 1970 und 1971 („Iz zapisej 1970-1971 godov“) und sein Aufsatz „Zur Methodologie der Humanwissenschaft“ („K metodologii gumanitarnych 2 Siehe: M. M. Bachtin, „Iz zapisej 1970-1971 godov“ („Aus den Aufzeichnungen der Jahre 1970-1971“), ders., „K metodologii gumanitarnych nauk“ („Zur Methodologie der Humanwissenschaften“), in: ders., Estetika slovesnogo tvorčestva (Ästhetik der Wortkunst), Moskva, Iskusstvo, 1979. 3 M. M. Bachtin, „Iz zapisej 1970-1971 godov“, in: ders., Estetika slovesnogo tvorčestva, op. cit., S. 349. 4 W. Dilthey, Die Jugendgeschichte Hegels (Gesammelte Schriften, Bd. 4), Stuttgart-Göttin‐ gen, B. G. Teubner-Vandenhoeck & Ruprecht, 1968, S. 220. nauk“, 1979) zeugen von einer nachhaltigen Beeinflussung durch die deut‐ sche Hermeneutik Wilhelm Diltheys und Heinrich Rickerts. 2 Ihr verdankt Bachtin nicht nur den Begriff der „Einfühlung“, sondern auch seine Überzeugung, daß sich die Geistes- oder Sozialwissenschaften durch die Besonderheit ihres Objekts, das zugleich Subjekt ist, qualitativ von den Naturwissenschaften unterscheiden: „Scharfe Trennung von Verstehen und wissenschaftlichem Erkennen“ 3 , heißt es in den Aufzeichnungen aus den frühen 1970er Jahren im Zusammenhang mit den Naturwissenschaften. Doch dieser hermeneutische Einschlag, der das gesamte Werk Bachtins prägt, widerspricht in keiner Weise dem Versuch, es im junghegelianischen Kontext zu deuten. Die hermeneutische Auffassung einer Dialektik von Subjekt und Objekt war schon immer Bestandteil der hegelianisch-marxis‐ tischen Problematik und verbindet so verschiedene Geister wie Bachtin, Lukács, Goldmann, Adorno und Habermas miteinander. Es kommt hinzu, daß Bachtin in seinen Versuchen, Natur- und Geisteswissenschaften zu un‐ terscheiden, eher Hegelianer als Schüler Diltheys ist. „Durch alle Schriften Hegels“, bemerkt Dilthey polemisch, „zieht sich der vergebliche Streit gegen die Wissenschaften der Natur, des Menschen und der Geschichte.“ 4 Diese Kritik an Hegel hat Bachtin sich nirgends zu eigen gemacht - ebensowenig wie die hegelianischen Marxisten und die Autoren der Kritischen Theorie. Bachtins Kritik an Hegel und am Hegelianismus richtet sich weder ge‐ gen die Subjekt-Objekt-Hermeneutik noch gegen den dialektischen Begriff der Vermittlung (vgl. weiter unten), sondern verfolgt ganz andere, man könnte sagen junghegelianische, Ziele. Es geht darum, die Synthese als bestimmte Verneinung (vgl. Kap. I. 2) durch die unaufhebbare Ambivalenz, das geschlossene System durch den offenen Dialog und das mit sich selbst identische Subjekt des Monologs durch die Vielfalt der Stimmen oder die Polyphonie zu ersetzen. Wie schon bei den Junghegelianern und Nietzsche führt diese Kritik am systematischen Logos nicht nur zur Erkenntnis der Polyphonie, sondern III. Michail Bachtins „junghegelianische“ Ästhetik 116 5 Siehe: H. Günther, „Michail Bachtins theoretische Alternative zum sozialistischen Rea‐ lismus“, in: ders., Die Verstaatlichung der Literatur. Entstehung und Funktionsweise des sozialistisch-realistischen Kanons in der sowjetischen Literatur der 30er Jahre, Stuttgart, Metzler, 1984. 6 A. Shukman, „Between Marxism and Formalism: The Stylistics of Mikhail Bakhtin“, in: Comparative Criticism: A Yearbook, 2, Cambridge, Cambridge Univ. Press, 1980, S. 230. Vgl. auch: W. G. Walton, „V. N. Voloshinov: A Marriage of Formalism and Marxism“, auch zu der komplementären Entdeckung der Polysemie und zur Betonung der Ausdrucksebene der Inhaltsebene gegenüber. Doch anders als bei den Formalisten wird bei Bachtin, Medvedev und Vološinov letztere nicht einseitig abgewertet, sondern dialektisch mit der Ausdrucksebene vermittelt. Dadurch unterscheiden sich die „Junghegelianer“ der Bachtin-Gruppe von den dualis‐ tisch denkenden Autoren der OPOJAZ-Bewegung, die sie kritisieren. Ein weiterer Faktor, der Bachtin mit Junghegelianern wie Vischer, Feu‐ erbach und Nietzsche (auch mit Marx) verbindet, ist die Aufwertung der Natur dem Geist gegenüber. Da ich im folgenden näher auf sie eingehen will, mag an dieser Stelle der Hinweis genügen, daß die „Wiederentdeckung“ der Natur bei Bachtin (ähnlich wie bei Vischer) die Aufmerksamkeit auf das Unbewußte, die Sexualität, das Groteske, den Traum und den Zufall lenkt. In dem hier skizzierten Kontext ist Bachtins versteckte Kritik am sozialistischen Realismus, mit der sich Hans Günther ausführlich befaßt 5 , zu lesen: Es ist die Kritik eines Junghegelianers an einer repressiven hegelianischen Ideologie. In diesem Kontext ist auch die leidige Frage nach Bachtins Marxismus zu stellen: Seine materialistische Dialektik, die auf Offenheit und Polyphonie aus ist, ist mit dem hegelianischen Systemdenken des offiziellen Sowjetmarxismus der 20er und 30er Jahre nicht vereinbar. Sie ist mit der materialistischen Dialektik Walter Benjamins zu verglei‐ chen, die ebenfalls von der radikalen Ambivalenz, dem demokratischen Impuls, der Systemkritik und dem Traumerlebnis ausgeht (vgl. Kap. IV. 1). Bachtins Dialektik ist kein politisches Alibi, auch keine beschönigende Zutat, wie Ann Shukman meint, wenn sie zu der strapazierten Frage nach dem Autor von Marxismus und Sprachphilosophie (M. M. Bachtin/ V. N. Vološinov, Marksizm i filosofija jazyka, Leningrad, 1930) Stellung nimmt: „Wenn Marxismus und Sprachphilosophie auch nur teilweise Bachtin zuge‐ schrieben werden soll, dann kann man grob geschätzt (at a rough guess) davon ausgehen, daß Vološinov für den Marxismus und Bachtin für die Sprachphilosophie verantwortlich ist.“ 6 Ein solcher Trennungsversuch ist III. Michail Bachtins „junghegelianische“ Ästhetik 117 in: P. V. Zima (Hrsg.), Semiotics and Dialectics. Ideology and the Text, Amsterdam, John Benjamins, 1981. 7 M. M. Bachtin, „Formy vremeni i chronotopa v romane“, in: ders., Literaturnokritičeskie stati (Literaturkritische Aufsätze), Moskva, Chudožestvennaja literatura, 1986, S. 122. deshalb absurd, weil nicht nur Vološinov, sondern auch Bachtin - etwa in Rabelais und seine Welt (S. 516), - zu zeigen versucht, wie Sprachgebrauch und Sprachwandel mit Klassen- und Gruppeninteressen zusammenhängen. 1. Bachtins Kritik am Formalismus in Linguistik und Literaturwissenschaft Diese Bemerkungen führen mitten in die Problematik von Bachtins Kritik an der synchronen Linguistik Saussures und der formalen Methode in der Literaturwissenschaft. Sie ist nur dann konkret zu verstehen, wenn man von dem Gedanken ausgeht, daß Bachtin - ähnlich wie Pavel N. Medvedev (1891-1938) und Valentin N. Vološinov (1895-1930) - den Hegelschen Gedanken der dialektischen Vermittlung akzeptiert und den Kantschen Dua‐ lismus in allen seinen Varianten ablehnt. Daß sich Bachtin Kants Trennung von Subjekt und Objekt aus der Kritik der reinen Vernunft nicht zu eigen macht, zeigt eine Anmerkung in seinem wichtigen Aufsatz „Formen der Zeit und des Chronotops im Roman“: „In seiner ‚Transzendentalen Ästhetik‘ (…) definiert Kant Raum und Zeit als unvermeidliche Formen einer jeden Erkenntnis, schon der elementaren Wahrnehmungen und Vorstellungen. Wir akzeptieren Kants Einschätzung der Bedeutung dieser Formen im Erkenntnisprozeß, aber im Gegensatz zu Kant fassen wir sie nicht als ‚transzendental‘ auf, sondern als Formen der Wirklichkeit selbst.“ 7 Dies ist der springende Punkt: Die transzendentale Betrachtungsweise weicht - wie schon bei Hegel und den Marxisten - einer immanenten, und die subjektiven Erkenntnismodi werden der Wirklichkeit, dem Objekt selbst, zugerechnet. Der Kantsche Subjekt-Objekt-Dualismus wird durch die dialektische Ver‐ mittlung aufgehoben. In Übereinstimmung mit dieser wesentlichen Abweichung von Kant kritisieren Bachtin und Vološinov den cartesianischen Dualismus der syn‐ chronen Linguistik Saussures, deren Vertreter dazu neigen, die Synchronie von der Diachronie, das System von der historischen Entwicklung und die langue als Universalsystem von der partikularen parole zu trennen. Die III. Michail Bachtins „junghegelianische“ Ästhetik 118 8 V. N. Vološinov, Marxismus und Sprachphilosophie, Frankfurt-Berlin-Wien, Ullstein, 1975, S. 120, S. 126. 9 Zu Bachtins Kritik an der formalen Linguistik siehe auch: A. Ponzio, Segni e con‐ traddizioni. Fra Marx e Bachtin, Verona, Bertani, 1981 und: S. Stewart, „Bakhtinʼs Anti-Linguistics“, in: Bakhtin. Essays and Dialogues on his work (Hrsg. G. S. Morson), Chicago-London, The Univ. of Chicago Press, 1986, S. 44-45. 10 M. M. Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Frankfurt, Suhrkamp, 1987, S. 516. historische Dynamik der Sprache, wenden die Autoren von Marxismus und Sprachphilosophie ein, ist nur im Zusammenhang mit den individuellen und kollektiven Sprachhandlungen (als actes de parole) zu verstehen, die im Laufe der Zeit die Bedeutungen von Wörtern und größeren semantischen Einheiten verändern. Zugleich weisen sie darauf hin, daß Kommunikationsteilnehmer nicht aus dem lexikalischen Repertoire einer ideologisch unbelasteten langue schöpfen, sondern es jederzeit mit sprachlichem Material zu tun haben, das ideologisch vermittelt ist: „So entspricht das synchronische System, vom objektiven Stand‐ punkt her betrachtet, keinem einzigen realen Faktor im Prozeß des historischen Werdens.“ Und sie fügen hinzu: „In der Tat, die sprachliche Form tritt dem Sprechenden, wie wir gerade gezeigt haben, nur im Kontext bestimmter Äußerungen, und folglich nur in einem bestimmten ideologischen Kontext gegenüber. Wir sprechen in Wirklichkeit keine Wörter aus und hören keine Wörter, sondern hören Wahrheit oder Lüge, Gutes oder Schlechtes, Angeneh‐ mes oder Unangenehmes usw. Das Wort ist immer mit ideologischem oder aus dem Leben genommenem Inhalt und Bedeutung erfüllt.“  8 Wichtig sind in dieser Passage die beiden Wörter „Inhalt“ und „erfüllt“, die als Metaphern für die dialektische „Vermittlung“ gelesen werden sollten: Die Ideologie ist der Sprache nicht äußerlich, sondern wirkt in ihr und durch sie; sie ist selbst als sprachliche, als semantisch-narrative Struktur darstellbar. 9 In der Einleitung zu diesem Kapitel deutete ich bereits an, daß Ann Shukmans Versuch, die beiden Autoren Bachtin und Vološinov auseinan‐ derzudividieren, nicht überzeugend ist. In seinem Buch Rabelais und seine Welt, für das noch niemand Vološinov signieren ließ, bestätigt und ergänzt Bachtin die Ansichten aus Marxismus und Sprachphilosophie, wenn er über die kollektiven Sprachen der französischen Renaissance schreibt: „Diese Sprachen waren Weltanschauungen und keineswegs abstrakte, sondern konkrete, soziale, von einem Wertsystem geprägt, nicht zu trennen von Lebenspraxis und Klassenkampf.“ 10 (Die Frage, ob Bachtin oder Vološinov 1. Bachtins Kritik am Formalismus in Linguistik und Literaturwissenschaft 119 11 G. Vinokur, „Poetik. Linguistik. Soziologie“, in: A. Flaker, V. Žmegač (Hrsg.), Formalismus, Strukturalismus und Geschichte, Königstein/ Ts., Scriptor, 1974, S. 46. 12 Ibid., S. 50. 13 Siehe: J. Kristeva, „Le Mot, le dialogue et le roman“, in: dies., Semeiotikè. Recherches pour une sémanalyse, Paris, Seuil, 1969, S. 144: „(…) Bakhtine situe le texte dans lʼhistoire et dans la société, envisagées elles-mêmes comme textes que lʼécrivain lit et dans lesquels il sʼinsère en les récrivant.“ politische Rücksichten nehmen mußten, ob sie meinten, was sie sagten, ist in diesem Fall irrelevant: ebenso wie Lukácsʼ Kritik der eigenen Frühschriften. Den Wissenschaftler interessiert ausschließlich der Text, den er in einem bestimmten Argumentationszusammenhang verwendet: nicht die geheimen Ansichten des Autors, die in den meisten Fällen ohnehin nicht zu ergründen sind.) Bachtins und Vološinovs Versuch, mit Hilfe des Vermittlungsbegriffs sprachliche Strukturen als gesellschaftliche und gesellschaftliche Strukturen als sprachliche zu denken, ist für die Entwicklung der Soziosemiotik und der Textsoziologie besonders wichtig, weil er über den Rahmen des forma‐ listischen Ansatzes hinausgeht. Während die Formalisten versuchten, die Beziehung zwischen Sprache (Literatur) und Gesellschaft als ein Verhältnis wechselseitiger Beeinflussung zu denken, antizipieren die Autoren von Marxismus und Sprachphilosophie Benjamins und Adornos These über den gesellschaftlichen Charakter der Sprache. Diese vermittelnde Betrachtungsweise unterscheidet sie wesentlich von einem den Formalisten nahestehenden Theoretiker wie Grigorij Vinokur, der meint, daß „die Linguistik als Wissenschaft von der sozialen Sprache, die vor allem Verbindung, Kommunikation, gegenseitiges Verstehen voraussetzt, das Sprechen mit vollem Recht ignoriert (…).“ 11 In Übereinstimmung mit dieser Trennung von langue und parole trennt er Linguistik und Literaturwissenschaft von der Soziologie und behauptet im Sinne des kantianischen Dualismus: „Natürlich ist das empirisch-konkrete Sprechen, darunter auch das poetische Sprechen, für sich genommen, ein nichtsoziales Faktum.“ 12 Wichtig ist in diesem Zusammenhang nicht nur die Behauptung als ganze, sondern vor allem die für alle dualistischen (isolierenden) Theorien charakteristische Redewendung „als solche“. Bachtin und Vološinov gehen - wie Kristeva richtig gesehen hat - gerade von der Annahme aus, daß das „konkrete“ oder das „poetische Sprechen“ nicht „für sich“ existiert und daher auch nicht „für sich“ betrachtet werden kann. 13 III. Michail Bachtins „junghegelianische“ Ästhetik 120 14 Siehe: I. R. Titunik, „The Formal Method and the Sociological Method (M. M. Baxtin, P. N. Medvedev, V. N. Vološinov) in Russian Theory and Study of Literature“, in: V. N. Vološinov, Marxism and the Philosophy of Language, London-New York, Seminar Press, 1973, S. 199. 15 G. S. Morson, „The Heresiarch of META“, in: PTL Nr. 3, 1978, S. 412. Siehe auch: G. S. Morsons neueren Beitrag: „Dialogue, Monologue and the Social: A Reply to Ken Hirschkop“, in: Bakhtin. Essays and Dialogues on his work (Hrsg. G. S. Morson), Chicago-London, The Univ. of Chicago Press, 1986, S. 85. 16 Siehe auch: M. M. Bachtin, „Das Problem von Inhalt, Material und Form im Wortkunstschaf‐ fen“, in: ders., Die Ästhetik des Wortes (Hrsg. R. Grübel), Frankfurt, Suhrkamp, 1979, S. 128: „Die einzelne konkrete Äußerung steht immer in einem wertmäßig-sinnhaften kulturellen Kontext - einem wissenschaftlichen, einem künstlerischen, einem politischen oder einem anderen Kontext - oder im Kontext einer einmaligen Situation des individuellen Lebens; nur in diesen Kontexten hat die einzelne Äußerung Leben und Sinn: sie ist wahr oder falsch, schön oder häßlich, aufrichtig oder unaufrichtig, offen, zynisch, autoritär u. a. - neutrale Äußerungen gibt es nicht und kann es nicht geben (…).“ Der wesentliche Unterschied zwischen den dualistisch und mechanistisch denkenden Formalisten und den Dialektikern des Bachtin-Kreises scheint I. R. Titunik entgangen zu sein, wenn er in seinem Nachwort zur englischen Aus‐ gabe von Marksizm i filosofija jazyka eine Konvergenz zwischen Bachtins und Tynjanovs soziologischer Betrachtungsweise zu erkennen meint. 14 Obwohl auch ich Tynjanovs Beitrag zur Literatur- und Textsoziologie für wesentlich halte und Titunik recht gebe, wenn er die methodologischen Anliegen Bachtins und Tynjanovs vergleicht, so meine ich dennoch, daß die beiden Ansätze nicht auf einen Nenner zu bringen sind, weil Bachtin eher von der Hegelschen Vermittlung und Tynjanov vom Kantschen Dualismus ausgeht. Dieser Dualismus erklärt, weshalb er und die anderen Formalisten über den Gedanken an eine wechselseitige Beeinflussung der Reihen (der literarischen, politischen, wissenschaftlichen oder wirtschaftlichen) nicht hinausgelangt sind. Demgegenüber sieht Bachtin, wie Gary Saul Morson richtig bemerkt hat, in der Sprache „das subtilste Barometer des sozialen und historischen Wandels“ 15 und betrachtet das einzelne literarische Werk als ein sozio-linguistisches Konstrukt und die literarische Entwicklung als einen sozio-linguistischen Vorgang. Nur in diesem Zusammenhang ist seine Kritik der traditionellen Litera‐ turwissenschaft und Stilistik zu verstehen, die schriftliche und mündliche Äußerungen rein monologisch als regelgeleitete Prozesse analysiert, ohne auf den Gedanken zu kommen, daß jede Äußerung (russ. slovo) dialogisch als Replik und interessengeleitete Reaktion auf andere Äußerungen (slova) aufzufassen ist: Wir „hören Wahrheit oder Lüge, Gutes oder Schlechtes, Angenehmes oder Unangenehmes usw.“ (s. o.). 16 1. Bachtins Kritik am Formalismus in Linguistik und Literaturwissenschaft 121 17 M. M. Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, op. cit., S. 157. 18 M. M. Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, München, Hanser, 1971, S. 213. Für eine dialogische Auffassung des skaz spricht sich auch P. N. Medvedev in Die formale Methode in der Literaturwissenschaft, Stuttgart, Metzler, 1976, S. 168 aus: „Auch der skaz ist permanent auf die entsprechende Reaktion des Auditoriums ausgerichtet (…).“ 19 Siehe: T. Todorov, „Bakhtine et lʼaltérité“, in: Poétique Nr. 40, November, 1979, S. 503, S. 510. Zum Problem der Alterität oder otherness siehe auch: M. Holquist, Bakhtin and his World, London-New York, Routledge, 1990, S. 18. Der formalen und formalistischen Stilistik wirft Bachtin vor, daß sie diesen dialogischen und durchaus auch polemischen Charakter des Wortes nicht erkannt hat: „Diese Art der Kombination von Sprachen und Stilen zu einer höheren Einheit kennt die traditionelle Stilistik nicht, sie hat keinen Zugang zum besonderen sozialen Dialog der Sprachen im Roman.“ 17 Mit der „traditionellen Stilistik“ ist hier auch die der Formalisten gemeint, die versuchen, dialogische Elemente der Sprache monologisch zu erklären. So kritisiert Bachtin beispielsweise Boris Ejchenbaums Studien über den literarischen skaz (vgl. Kap. II. 5), weil dieser dort rein monologisch aufgefaßt und seine dialogische Dimension unterschlagen werde. Mit Ej‐ chenbaum stimmt Bachtin in der Ansicht überein, daß mündliche Rede und sprachliche Mimesis in den Novellen Gogols eine wichtige Funktion erfüllen; er glaubt aber, daß der skaz nur dialogisch zu verstehen ist: „Das Problem des skaz hat als erster B. M. Ejchenbaum zur Sprache gebracht. Er versteht den skaz ausschließlich als Ausrichtung auf die mündliche Form des Erzählens, als Ausrichtung auf die mündliche Rede und die entsprechenden sprachlichen Besonderheiten (…). Er stellt überhaupt nicht in Rechnung, daß der skaz in der Mehrzahl der Fälle vor allem Ausrichtung auf fremde Rede bedeutet und erst von daher, als Folge, auf die mündliche Rede.“ 18 Das für Bachtin wesentliche Element ist also das fremde Wort, das, was Tzvetan Todorov als altérité bezeichnet 19 und was von jeder monologischen Sprachauffassung ausgegrenzt wird. Bachtins Kritik wurde von den Mitgliedern der OPOJAZ-Bewegung zwar zur Kenntnis genommen, fiel aber nicht auf fruchtbaren Boden. Vor allem Viktor V. Vinogradov (1895-1969), der eine formale Stilistik entwickelte und sich zugleich um einen Brückenschlag zwischen Literatur und Gesellschaft bemühte, versuchte nachzuweisen, daß Bachtins Dialog in Monologe zerlegt werden könnte. Er argumentierte ähnlich wie die Kritiker der Dialektik, die behaupten, die Einheit der Gegensätze sei ein Mißverständnis, das auf analytischem Wege zu beseitigen sei: Der Gegenstand x sei nicht zugleich y III. Michail Bachtins „junghegelianische“ Ästhetik 122 20 N. Perlina, „Michail Bachtin dialoga con Victor Vinogradov: La filosofla dellʼespressione poetica nella retorica del linguaggio poetico“, in: Bachtin teorico del dialogo (a cura di Franco Corona), Milano, Franco Angeli, 1986, S. 316. 21 Ibid., S. 314. 22 In diesem Zusammenhang siehe auch P. N. Medvedevs Kritik der formalen Methode in: Die formale Methode in der Literaturwissenschaft, op. cit., S. 37: „Dieses Einwirken von Literatur auf Literatur hört aber nicht auf, soziologischen Charakter zu haben. Genauso wie jede andere Ideologie ist die Literatur eine durch und durch soziale Erscheinung.“ Siehe auch S. 42, wo er in seiner Kritik an P. N. Sakulin bemängelt, dieser begrenze „auch die soziologische Methode auf das Gebiet der Analyse kausaler Einwirkungen außerliterarischer Faktoren auf die Literatur“. 23 M.M. Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, op. cit., S. 117. und -y, sondern zum Zeitpunkt t 1 y und zum Zeitpunkt t 2 -y. „Vinogradov“, kommentiert Nina Perlina in dem von ihr inszenierten postumen Dialog zwischen Bachtin und Vinogradov, „zeigt, daß sich sogar ein Dialog des Alltags aus einer Reihe monologischer und klar unterscheidbarer Aussagen zusammensetzt“. 20 An dieser Stelle wird noch einmal deutlich, daß die Formalisten im Gegensatz zu den Dialektikern Bachtin, Vološinov und Medvedev vorwie‐ gend analytisch, d. h. kantianisch dachten: Konsequent versuchten sie, den Dialog in monologische Sequenzen zu zerlegen, und setzten sich über das dialektische Verhältnis von Sprache und Gesellschaft, von Literatur und Gesellschaft hinweg: „Für Vinogradov, der hier wirklich als Antipode Bachtins erscheint, ist die poetische Sprache kein ideologisches, sondern ein linguistisches Unternehmen (…).“ 21 Wie schon bei Vinokur wird hier die dialektische Vermittlung dem dualistischen Entweder/ Oder geopfert. Ich selbst halte gerade Bachtins und Vološinovs Gedanken, daß Gesellschaft und Ideologie in die sprachlichen Prozesse eingehen und ihrerseits als sprachli‐ che Konstruktionen darstellbar sind, für einen entscheidenden Fortschritt. 22 Berechtigt scheint mir schließlich auch Bachtins Vorwurf zu sein, die Formalisten hätten eine „Material-Ästhetik“ entworfen, ohne sich über die noetischen Grundlagen ihrer Ansätze Gedanken zu machen. Sie haben, erklärt Bachtin, die ästhetischen und philosophischen Voraussetzungen der formalen Methode nicht reflektiert: „Eine der wichtigsten Aufgaben der Ästhetik besteht darin, einen Zugang zu ästhetischen Philosophemen zu schaffen, eine Theorie der intuitiven Philosophie auf der Grundlage einer Theorie der Kunst zu errichten. Zur Erfüllung einer solchen Aufgabe ist die Material-Ästhetik am wenigsten geeignet; da sie den Inhalt ignoriert, hat sie nicht einmal Zugang zur künstlerischen Intuition in der Philosophie.“ 23 Wie 1. Bachtins Kritik am Formalismus in Linguistik und Literaturwissenschaft 123 24 Siehe: ibid., S. 117. 25 Siehe: ibid., S. 142: „Die Form ist also Ausdruck einer aktiven Wertbeziehung des Schöpfer-Autors und des (die Form mit-schaffenden) Rezipienten zum Inhalt (…).“ 26 Siehe: R. Grübel, „Zur Ästhetik des Wortes bei Michail M. Bachtin“, in: M. M. Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, op. cit., S. 25. Medvedev in seiner Kritik der „formalen Methode“ wirft auch Bachtin den Formalisten ihren Szientismus vor: ihre Idee, daß eine exakte Wissenschaft von der Kunst ohne philosophische, hermeneutische Reflexion möglich sei. 24 Er selbst hat zwar in seinem wichtigen Aufsatz über das „Problem von Inhalt, Material und Form im Wortkunstschaffen“ und anderen Schriften 25 seine ästhetische Position, die auf der Dialektik von Inhalt und Form gründet, umfassend dargestellt; es kann jedoch kaum behauptet werden, er habe sie im Zusammenhang mit den bestehenden Ästhetiken philosophisch reflektiert. Wie unterscheidet sich Bachtins dialektische Ästhetik von der Hegels? In welcher Hinsicht kann sie der „begriffslosen“ Ästhetik Kants und Nietzsches radikaler Ambivalenz angenähert werden? Mit diesen Fragen haben sich auch Bachtins Kommentatoren und Kritiker nicht systematisch befaßt. Sicherlich hat Rainer Grübel recht, wenn er Bachtins Ästhetik durch deren Praxisbezug von Hegels Kunstphilosophie unterscheidet. 26 Aber was macht den globalen Gegensatz zwischen Hegel und Bachtin aus? Auf diese Frage geht zumindest implizit Hans Günther ein, wenn er Bachtins Litera‐ turtheorie im Gegensatz zum sozialistischen Realismus darstellt. Von diesem Gegensatz möchte ich in den folgenden beiden Abschnitten ausgehen, um zu zeigen, daß aus Bachtins Kritik an den hegelianischen Doktrinen des sozialistischen Realismus ein rebellischer, radikal-demokratischer Diskurs hervorgeht, der als „junghegelianisch“ (im Sinne von Feuerbach, Stirner und Vischer) zu bezeichnen ist. 2. Bachtins Kritik des Hegelianismus Sooft man die deutsche, italienische, französische oder englische Sekundärli‐ teratur zu Bachtin zur Hand nimmt, wird man mit den bekannten Schlüssel‐ begriffen „Karneval“, „Dialog“, „Monolog“ und „Chronotopos“ konfrontiert. Nur selten wird nach dem Stellenwert dieser Begriffe in der modernen Ästhetik oder in der zeitgenössischen ästhetischen Diskussion gefragt. III. Michail Bachtins „junghegelianische“ Ästhetik 124 27 K. Chvatík, „Bachtins Ästhetik des Wortes und seine Dostoevskij-Interpretation“, in: ders., Mensch und Struktur. Kapitel aus der neostrukturalen Ästhetik und Poetik, Frankfurt, Suhrkamp, 1987, S. 228. 28 R. Lachmann, „Intertextualität als Sinnkonstitution. Andrej Belyjs Petersburg und die ‚frem‐ den‘ Texte“, in: Poetica Nr. 15, 1983, S. 70. Eine erfreuliche Ausnahme bildet Květoslav Chvatík, der in seinem Buch Mensch und Struktur (1987) bemerkt, daß der Gegensatz zwischen Monolog und Dialog die Grenzen der Terminologie sprengt, weil er auf unvereinbare ästhetische und philosophische Prämissen verweist: „Wir können deshalb zusammenfassen, daß Bachtins Gegensatz von Monolog und Dialog, von monotonem und polyphonem Prinzip, sich bei weitem nicht nur in der einen oder anderen Romanform und künstlerischen Komposition niederschlägt, sondern ein Gegensatz zwischen zwei verschiedenen Ästhetiken und letzten Endes zwischen zwei unterschiedlichen Philosophien ist.“ 27 Es fragt sich, zwischen welchen. Meine These lautet, daß Bachtin in seiner versteckten Kritik der mar‐ xistisch-leninistischen Ästhetik vor allem den grob vereinfachten Hegeli‐ anismus dieser Doktrin anvisiert, in vieler Hinsicht jedoch Dialektiker und Hegelianer bleibt, so daß eine theoretische Alternative entsteht, die junghegelianische (und folglich auch nietzscheanische und sogar existen‐ tialistische) Aspekte aufweist. Nun könnte jemand, der empirische Überprüfbarkeit für wesentlich hält, einwenden, meine Darstellung sei zu spekulativ, da sich Bachtin nie mit der offiziellen marxistischen Ästhetik befaßt hat, zumal die Doktrin des „sozialistischen Realismus“ erst auf dem Schriftstellerkongreß des Jahres 1934 von Ždanov und Bucharin formuliert wurde, also fünf Jahre nach der Veröffentlichung von Bachtins Dostoevskij-Buch (1929). Der Einwand zeigt nur, daß die berechtigte Forderung nach empirischer Überprüfung nicht in Empirismus ausarten sollte. So verschiedene Slawisten wie Hans Günther und Renate Lachmann vertre‐ ten die Ansicht, daß Bachtins Terminologie und Ästhetik nicht unabhängig vom herrschenden Marxismus-Leninismus und von der politischen Situation der 20er und 30er Jahre zu verstehen sind. Mit Recht weist letztere drauf hin, daß Ambivalenz bei Bachtin als kritischer Wert „positiviert“ und gegen die Monosemierungstendenzen im sozialistischen Realismus ausgespielt wird. Bachtins Konzept sei „als fundamentale Kritik am Herrschaftsanspruch auf die eine Wahrheit der sich seit Mitte der zwanziger Jahre auf den sozialistischen Realismus hinbewegenden russischen Literatur“ 28 zu verstehen. 2. Bachtins Kritik des Hegelianismus 125 29 H. Günther, Die Verstaatlichung der Literatur, op. cit., S. 135. Bachtins Antihegelianismus als implizite Kritik am Stalinismus und an seiner Ästhetik stellt Anton Simons dar: Vgl. A. Simons, Carneval en terreur. De ethische betekenis van Bachtins Rable, Diss. Univ. Utrecht, 1996, Kap. II: „Bachtins Rable en de stalinistische cultuur“. 30 H. Günther, Die Verstaatlichung der Literatur, op. cit., S. 136. Noch konkreter geht Hans Günther auf Bachtins polemisches Verhältnis zum sozialistischen Realismus ein, wenn er in Die Verstaatlichung der Literatur (1984) zeigt, wie die Grundbegriffe der sozialistisch-realistischen Ästhetik von Bachtins theoretischer Alternative systematisch herausgefor‐ dert werden. Neben dem autoritären Ernst, dem Monolog und der von oben verordneten Volkstümlichkeit wird auch der Begriff des Typischen in Frage gestellt: „Bachtins grotesker Realismus impliziert auch eine Ausein‐ andersetzung mit dem für den sozialistischen Realismus charakteristischen Begriff des Typischen, der zu Anfang der 30er Jahre unter Berufung auf den damals gerade veröffentlichten Brief von Friedrich Engels an Minna Kautsky kanonisiert wird.“ 29 Das Typische als hegelianische Kategorie ist, wie sich im vorigen Kapitel gezeigt hat, nicht unabhängig von der Dialektik zwischen Erscheinung und Wesen, zwischen den Teilen und dem Ganzen, der Totalität, zu verstehen. Gerade die Totalität als monosemierende Erkenntniskategorie, als ge‐ schlossene Einheit, stellt Bachtin mit dem Ambivalenz-Begriff in Frage: Wie die Junghegelianer, wie Nietzsche geht er von der offenen, durch keine bestimmte Verneinung oder Synthese zu bändigenden Ambivalenz aus. Dadurch zweifelt er Hegels systematische, auf totale Erkenntnis und absolute Idee ausgerichtete Dialektik an und entwickelt eine offene, negative Dialektik, die zwar die Einheit der Gegensätze und die Vermittlung, nicht jedoch die Aufhebung im Positiven kennt. Zugleich mit der Aufhebung wird der Monolog als systematischer, alle Widersprüche integrierender Diskurs destruiert. Auch im ästhetischen Bereich wirkt sich die extreme Ambivalenz de‐ struktiv aus: Sie sprengt die harmonische Totalität des hegelianischen Klassizismus und ersetzt sie durch die unauflösbare Antinomie, die Dis‐ sonanz, die Polyphonie. Wie sehr Bachtins antinomische und polyphone Ästhetik als Revolte gegen die forcierte Klassik des sozialistischen Realismus aufzufassen ist, fiel wiederum Hans Günther auf, der „Stalins Äußerung über die Notwendigkeit der Schaffung einer sowjetischen Klassik vom 17. Januar 1936“ 30 erwähnt und an anderer Stelle hinzufügt: „Die Etablierung des sozialistischen Realismus läßt sich als Versuch der Zentralisierung der III. Michail Bachtins „junghegelianische“ Ästhetik 126 31 Ibid., S. 138. 32 M. M. Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, op. cit., S. 285. 33 Ibid., S. 107. 34 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, Bd. 2, Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S. 127-128. Kultur und der Unifizierung, d. h. der Einführung einer ‚Einheitssprache‘ im Bereich der Kunst verstehen.“ 31 Daß Bachtins Kritik dieser Einheitssprache der Herrschenden zugleich eine Kritik an Hegels dialektischem Wahrheitsbegriff ist, zeigen seine Kom‐ mentare zu Dostoevskij. Während Hegel Dialektik und philosophischen Dialog (mit Spinoza, Hobbes, Hume oder Kant) lediglich als Etappen in einem monologischen Prozeß betrachtet, der sich teleologisch auf das absolute Wissen zubewegt, wird in Bachtins Dostoevskij-Interpretation der Dialog zum Selbstzweck: „Es ist völlig einsichtig, daß sich im Zentrum der künstlerischen Welt Dostoevskijs der Dialog befinden muß und zwar nicht als Mittel, sondern als Selbstzweck.“ 32 Wo der offene Dialog zum Selbstzweck wird, dort löst sich auch die Wahrheit als absolutes, monologisches Wissen auf: „Es muß unterstrichen werden, daß in der Welt Dostoevskijs auch die Zustimmung ihren dialo‐ gischen Charakter bewahrt, d. h. daß es nie zu einer Verschmelzung der Stimmen und Wahrheiten zu einer unpersönlichen Wahrheit kommt, wie es in der monologischen Welt geschieht.“ 33 Diese ist Hegels Welt, in der Vieldeutigkeit und Vielstimmigkeit als Mängel gelten, in der „die klassische Kunst die begriffsgemäße Darstellung des Ideals, die Vollendung des Reichs der Schönheit“ 34 ist. Bachtins Ästhetik klammert im Gegensatz zur formalistischen die Inhalts‐ ebene zwar nicht aus, sie stellt aber durch die Einführung von Ambivalenz und Polyphonie deren begriffliche Homogenität in Frage. An die Stelle der einen historischen Wahrheit, die bei Hegel das klassische oder romantische (christliche) Kunstwerk ausdrückt, tritt bei Dostoevskij und Bachtin die Vielstimmigkeit des Romans, die keine „unpersönliche“, d. h. umfassende oder synthetisierende Wahrheit zuläßt. In seiner langen Abhandlung über „Das Wort im Roman“ macht Bachtin klar, daß die Sprache dieser Gattung nicht nur Hegels homogenen Wahr‐ heitsbegriff, sondern auch seine Vorstellung von einer Identität zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Diskurs und Wirklichkeit in Frage stellt. Der Agnostizismus des Romans, der Agnostizismus Bachtins und Dostoevskijs, ersetzt diese Vorstellung durch ein hypothetisches Bewußtsein, das aus der 2. Bachtins Kritik des Hegelianismus 127 35 M. M. Bachtin, „Das Wort im Roman“, in: ders., Die Ästhetik des Wortes, op. cit., S. 255. 36 Siehe: M. M. Bachtin, Estetika slovesnogo tvorčestva, op. cit., S. 395: Zu Bachtins Ms. „Roman vospitanija i jego značenie v istorii realizma“ („Der Bildungsroman und seine Bedeutung in der Geschichte des Realismus“) heißt es dort: „Das Buch war abgeschlossen und lag dem Verlag vor, konnte aber nicht vor Ausbruch des Krieges erscheinen; im letzten Kriegsjahr ging das Manuskript verloren.“ 37 M. M. Bachtin, „Roman vospitanija i jego značenie v istorii realizma“, in: ders., Estetika slovesnogo tvorčestva, op. cit., S. 208. Krise und der Kritik des Hegelschen Systems hervorgeht: „Kurz, die Sprache wird von einer unanfechtbaren und einzigen Verkörperung von Sinn und Wahrheit zu einer von mehreren möglichen Hypothesen des Sinns.“ 35 Bachtins sprachliche Skepsis, die in mancher Hinsicht an die der Jung‐ hegelianer und Nietzsches erinnert (vgl. Kap. I. 3, 4), erklärt seine Kritik an Goethes Evolutionstheorie, die hegelianische Züge aufweist und auf dem Gedanken gründet, die historische Entwicklung sei als ein homogener Ablauf zu verstehen, in den auch die Ungereimtheiten und Widersprüche sinnvoll integriert werden können. In seiner Abhandlung über den Bil‐ dungs- oder Erziehungsroman („Roman vospitanija“, 1936-1938), die nur als Fragment erhalten ist, da das satzfertige Manuskript im Krieg verloren‐ ging 36 , stellt Bachtin Goethes Versuch dar, die heterogene Wirklichkeit als integrierten Evolutionsprozeß zu denken: „Hinter einer jeden statischen Vielfalt nahm er Zeitunterschiede wahr: Das Verschiedene ordnete sich in seinen Augen nach verschiedenen Graden (Epochen) der Entwicklung, d. h. es nahm zeitlichen Sinn an.“ 37 Goethes „Chronotopos“, meint Bachtin, ist kein beziehungsloses Nebeneinander gleichzeitiger Erscheinungen, sondern sinnerfüllte, historische Zeit, in der einige Erscheinungen noch der Vergan‐ genheit angehören, während andere bereits in die Zukunft weisen. Wichtig ist nun, daß Bachtin nach junghegelianischer Manier diesen Historismus Goethes ablehnt und in Dostoevskijs Weigerung, die Vielfalt der Erscheinungen in einen homogenen historischen Diskurs zu integrieren, eine Alternative erblickt. Komplementär zu den Bemerkungen aus „Roman vospitanija“ verhält sich die Kritik an Goethe im Dostoevskij-Buch: „Ein Künstler wie Goethe zum Beispiel neigt seinem Wesen nach zu einer evo‐ lutionären Reihe. Alle koexistierenden Widersprüche sucht er als verschie‐ dene Etappen einer einzigen Entwicklung aufzufassen, in jeder Erscheinung der Gegenwart eine Folge der Vergangenheit, den Höhepunkt der Zeit oder eine zukunftsweisende Tendenz zu sehen; infolgedessen liegt nichts für ihn III. Michail Bachtins „junghegelianische“ Ästhetik 128 38 M. M. Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, op. cit., S. 34. 39 Ibid., S. 34-35. 40 Siehe: J.-F. Lyotard, La Condition postmoderne, Paris, Minuit, 1979, Kap. 6-8. 41 Siehe: V. Žirmunskij, „Über das Fach Vergleichende Literaturwissenschaft“, in: G. R. Kaiser (Hrsg.), Vergleichende Literaturforschung in den sozialistischen Ländern, Stuttgart, Metzler, 1980, S. 83-84. auf derselben extensiven Ebene.“ 38 Im Gegensatz dazu versucht Dostoevskij, „die Etappen in ihrer Gleichzeitigkeit zu verstehen, sie dramatisch zu ver‐ gleichen und einander gegenüberzustellen und nicht zu einer evolutionären Reihe aufzulösen“. 39 Diese Kritik an Goethe, in der Bachtin Dostoevskijs Position einnimmt, weist drei für meinen Argumentationszusammenhang wesentliche Aspekte auf: 1. Ohne Goethes Evolutionstheorie mit Hegels Historismus zu ver‐ wechseln, kann man davon ausgehen, daß sein Versuch, die heterogene Wirklichkeit als sinnvollen historischen Prozeß zu denken, auch Hegels Grundintention entspricht; deshalb kann Bachtins Kritik an Goethes Evolu‐ tionismus zugleich als eine indirekte Kritik am Hegelschen Chronotopos gelesen werden, der mit dem Dostoevskijs (und Nietzsches) unvereinbar ist. 2. Diese Kritik richtet sich auch (und damit kehre ich zu meinem Ausgangspunkt zurück) gegen den Historismus der Marxisten-Leninisten und der Vertreter des sozialistischen Realismus, die noch bis vor kurzem glaubten, daß die historische Entwicklung trotz ihrer Heterogenität und Widersprüchlichkeit auf das telos der klassenlosen Gesellschaft ausgerichtet ist. Auch sie integrieren die Ambivalenzen, Dissonanzen und Antinomien in eine monologische Erzählung, die den „Junghegelianern“ Bachtin und Dostoevskij fremd ist. 3. Bachtins Kritik ist deshalb modern oder zeitgemäß (manche würden sagen „postmodern“), weil sie Jean-François Lyotards Kritik der „métarécits“, der großen metaphysischen Erzählungen, allen voran der Hegelschen, antizipiert. 40 Lange vor Lyotard zweifelt Bachtin die Legitimität solcher Erzählungen an und konfrontiert sie mit Dostoevskijs chaotischer Vielstimmigkeit. Da bisher die Kritik an Hegel und am sozialistischen Realismus im Mittelpunkt stand, habe ich Bachtins „Junghegelianismus“ lediglich postu‐ liert und darauf verzichtet, junghegelianische Einflüsse nachzuweisen oder typologische Analogien im Sinne von Viktor Žirmunskij 41 herzustellen. Im folgenden will ich Versäumtes nachholen und zeigen, daß Bachtin mit den Schriften der Junghegelianer vertraut war, daß seine Annäherung an die junghegelianischen Positionen auch über Dostoevskij zustande kam und daß 2. Bachtins Kritik des Hegelianismus 129 42 Vgl. Vf., Komparatistik. Einführung in die Vergleichende Literaturwissenschaft, Tübingen-Ba‐ sel, Francke-UTB, 2011 (2. Aufl.), S. 47-54 und S. 105-107. unabhängig von allen Einflüssen frappierende typologische Ähnlichkeiten zwischen ihm und den Junghegelianern nachgewiesen werden können. 3. Bachtins „junghegelianische“ Ästhetik Die Erfahrungen der Vergleichenden Literaturwissenschaft zeigen, daß Ar‐ beiten, die schlicht Kontakte nachweisen, oftmals nur triviale Erkenntnisse zeitigen, weil die Tatsache, daß X Y kannte, noch nichts über die Bedeutung von Y für X aussagt. Bekanntschaften oder Einflüsse werden erst dann bedeutsam, wenn eine globale typologische Übereinstimmung zwischen Autoren oder Autorengruppen aufgezeigt werden kann. In solchen Fällen sind persönliche Kontakte und Einflüsse nicht nur zufallsbedingt, sondern im Rahmen einer sprachlichen, ideologischen und kulturellen Affinität zu erklären. 42 Ein bekanntes Beispiel ist die Einwirkung der Psychoanalyse auf die Romane der Jahrhundertwende (Svevo, Musil, Hesse) und auf den fran‐ zösischen Surrealismus. In beiden Fällen wurde das psychoanalytische Vokabular z.T. ironisch oder parodistisch rezipiert, weil die Romanciers und die Surrealisten es mit ähnlichen Problemen zu tun hatten wie Freud und seine Schüler: mit dem „Unbehagen in der Kultur“, dem Irrationalen, dem Unbewußten, dem Traum und der Subjektproblematik. Ähnliches läßt sich vom Verhältnis zwischen den Junghegelianern und Bachtin sagen: Bachtin kannte nicht nur die Schriften F. Th. Vischers, Max Stirners, Sören Kierkegaards und Friedrich Nietzsches, sondern schrieb in einer sprachlichen und gesellschaftlichen Situation, in der die Problematik und die Kritik dieser Autoren hochaktuell waren. Im ersten Kapitel hat sich gezeigt, daß Vischer Hegels Ästhetik in einer demokratischen Perspektive kritisierte, in der die Aufwertung der Natur, des Humors und der Komik eine wichtige Rolle spielte. Es ist sicherlich kein Zufall, daß Bachtin in seinem Rabelais-Buch diese Kritik weiterführt und Vischers Verknüpfung des Grotesken mit der Lach‐ kultur des Volkes bestätigt: „Die bestimmende Rolle des Lachprinzips in der Groteske kennt er (Hegel) nicht, und er betrachtet die Groteske ohne jede Beziehung zum Komischen. F. Th. Vischer weicht in dieser Frage von Hegel ab. Das Wesen und die befreiende Kraft der Groteske liegen nach III. Michail Bachtins „junghegelianische“ Ästhetik 130 43 M. M. Bachtin, Rabelais und seine Welt, op. cit., S. 95 44 M. M. Bachtin, Tvorčestvo Fransua Rable i narodnaja kultura srednevekovʼja i renesansa, Moskva, Chudožestvennaja Literatura, 1965, S. 52. 45 Siehe: M. M. Bachtin, Estetika slovesnogo tvorčestva, op. cit., S. 56 (Vischer), S. 20 (Kierkegaard), S. 140, S. 345 (Nietzsche). 46 Siehe: z. B. M. M. Bachtin, Literaturno-kritičeskie statʼi, op. cit., S. 41, wo Nietzsches Denken als „halbwissenschaftlich“ („polunaučnoe“) bezeichnet wird. 47 R. Grübel, „Zur Ästhetik des Wortes bei Michail Bachtin“, in: M. M. Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, op. cit., S. 59. seiner Auffassung im Lachen, im Komischen.“ Und Bachtin zitiert Vischers Ästhetik (Bd. 3/ 4, 1857, S. 1438), wenn er über die Groteske sagt: „Sie ist ‚jenes Gegenbild des Mythischen in der Handlung, die wesentlich wunderbar komisch (…), also grotesk ist‘.“ 43 In der deutschen Übersetzung (Suhrkamp, 1987) fehlt leider der nächste Satz, der zeigt, wie wichtig Vischers Ästhetik für Bachtin war: „Diesen Definitionen fehlt es nicht an Tiefe“, lautet Bachtins Kommentar zu Vischers Begriffsbestimmung des Grotesken. („Eti opredeljenija Fischera ne lišeny izvěstnoj glubiny.“) 44 Die Kommentare Bachtins zu Hegels und Vischers Einstellung dem Grotesken und der Lachkultur gegenüber sind deshalb wichtig, weil sie die Stoßrichtung von Bachtins Argumentation erkennen lassen. Es ist die gleiche Richtung, die auch die Hegel-Kritiken der Junghegelianer Vischer, Feuerbach und Ruge einschlagen, wenn sie gegen den Herrschaftsanspruch, den Aristokratismus und den Ernst des Hegelschen Monologs den Humor und das Lachen (Vischer), den Materialismus und die geschlechtliche Liebe (Feuerbach) sowie die Parteilichkeit der Politik (Ruge) ins Feld führen. Diese Affinitäten, die nur im Gesamtzusammenhang zutage treten, sind entscheidend und nicht die Tatsache, daß Bachtin noch an anderen Stellen Vischer, Kierkegaard oder Nietzsche erwähnt. 45 Die Bedeutung Nietzsches für Bachtin sollte nicht wegen der eher abwei‐ senden Kommentare des russischen Autors 46 unterschätzt oder gar überse‐ hen werden. In seiner Einleitung zu Die Ästhetik des Wortes geht Rainer Grübel völlig zu Recht auf die Verwandtschaft zwischen den beiden Denkern ein und thematisiert vor allem die Ähnlichkeit zwischen dem Mythos der „ewigen Wiederkehr“ und Bachtins Vorstellung von der „Wiedergeburt“ im Karneval: „Das für die Ästhetik des Grotesken im Bachtinschen Verstande unabdingbare Moment der Wiedergeburt (…) gemahnt an das Prinzip der ‚ewigen Wiederkehr‘ bei Nietzsche (…).“ 47 Mit Recht weist er in diesem 3. Bachtins „junghegelianische“ Ästhetik 131 48 Ibid. 49 M. M. Bachtin, Rabelais und seine Welt, op. cit., S. 354. 50 K. Clark, M. Holquist, Mikhail Bakhtin, Cambridge (Mass.)-London, Harvard Univ. Press, 1984, S. 171-185. 51 M. M. Bachtin, Estetika slovesnogo tvorčestva, op. cit., S. 101. Zusammenhang auf die Ambivalenz des Grotesken bei Bachtin hin: „Als ästhetische Kategorie ist das Groteske durchaus nicht der Widerpart des Schönen, sondern die Aufhebung der Antithetik von Schönem und Häß‐ lichem ins ambivalente Häßlich-Schöne.“ 48 Im Zusammenhang mit der Ästhetik des Grotesken zeigt sich hier, daß die extreme, unaufhebbare Ambivalenz Bachtin mit Nietzsche und den Nachhegelianern (Vischer, Rosenkranz) verbindet. Wie sie geht er von der dialektischen Einheit der Gegensätze aus, glaubt jedoch nicht mehr an die Möglichkeit der Hegelschen Aufhebung und der aus ihr hervorgehenden Systemkonstruktion. Diese wird zusammen mit der Subjekt-Objekt-Identi‐ tät, dem Monolog und Hegels Wahrheitsbegriff als ein Relikt des Klassizis‐ mus verabschiedet. Mit Nietzsche und den Junghegelianern verbindet Bachtin schließlich die Entdeckung des Irrationalen, des Dionysischen, das nicht mehr wie bei Hegel als bedrohliche Naturgewalt gebändigt oder verleugnet, sondern als befreiendes Prinzip gefeiert wird; das in der Groteske (vor allem in der Rabelaisʼ) Bewußtes und Unbewußtes, Wachen und Traum miteinander ver‐ schmelzen läßt. Rabelaisʼ gesamter Chronotopos ist im Zusammenhang mit dieser dionysisch-onirischen Synthese zu verstehen, die die Vorstellung von einem phallischen Kirchturm hervorbringt, der eine Frau schwängert: „Der schwängernde Kirchturm hat, wie alle Motive dieser Art, topographische Bedeutung, der aufstrebende, in den Himmel ragende Turm wird zum Phallus (zum Unterleib), der Schatten fällt auf die Erde (nach unten) und befruchtet die Frau (den Unterleib).“ 49 In diesem junghegelianischen Kontext, in dem - wie sich im ersten Kapitel gezeigt hat - auch der Traum und der Zufall wichtige Funktionen erfüllen, wird klar, weshalb Freuds Psychoanalyse, die nach Katarina Clark und Michael Holquist in den frühen 20er Jahren „in der Luft hing“ 50 , Bachtin und vor allem Vološinov beeinflussen konnte. Man versteht auch, weshalb Bachtin in seinen Aufzeichnungen zum „Textproblem“ im Zusammenhang mit dem Freudschen Unbewußten vor allem auf die „Fehlleistungen“ („ogo‐ vorki i opiski“) 51 eingeht. Aus „junghegelianischer“ Sicht erscheint gerade das Triviale, Zufällige, Widersprüchliche und Absurde bedeutsam. III. Michail Bachtins „junghegelianische“ Ästhetik 132 52 M. M. Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, op. cit., S. 101. 53 R. Neuhäuser, Das Frühwerk Dostoevskijs. Literarische Tradition und gesellschaftlicher Anspruch, Heidelberg, Carl Winter, 1979, S. 28. 54 Ibid., S. 141. 55 Ibid., S. 98. Doch der „Junghegelianismus“ Bachtins sollte nicht auf das Problem der unmittelbaren Einflüsse Vischers, Kierkegaards oder Nietzsches beschränkt werden. Er ist auch im Zusammenhang mit der Wahlverwandtschaft zwischen Bachtin und Dostoevskij, dem Hauptvertreter des polyphonen Romans und der ästhetischen Polyphonie, zu betrachten. Dostoevskij (1821-1881) war nicht nur Zeitgenosse der Junghegelianer, die alle um die Jahrhundertwende zur Welt kamen, sondern lernte über den russischen Hegelianer Visarion Grigorjevič Belinskij (1811-1848) auch die Arbeiten von Ludwig Feuerbach, David Strauß und Max Stirner kennen. Die Bedeutung Stirners hebt Bachtin selbst in seinem Dostoevskij-Buch hervor: „So waren z. B. die Ideen Max Stirners aus dem Traktat Der Einzige und sein Eigentum und die Ideen Napoleons des III., die dieser in dem Buch Histoire de Jules César (1865) entwickelte, Prototypen für die Ideen Raskolʼnikovs (…).“ 52 Hier zeigt sich, daß Dostoevskij, der bis zu seiner endgültigen Bekehrung zum Christentum unter dem Einfluß von Belinskijs atheistischem ( Jung-) Hegelianismus stand, in einer sprachlichen und gesellschaftlichen Situation schrieb, die ohne Übertreibung als „junghegelianisch“ zu bezeichnen ist. Besonders aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang Rudolf Neuhäusers Studie über Das Frühwerk Dostoevskijs (1979), die vor allem Feuerbachs und Stirners Einflüsse auf den russischen Romancier thematisiert: „Ein Autor, der von Belinskij besonders geschätzt wurde und auch auf Dostoevskij eingewirkt haben dürfte, ist der Philosoph Ludwig Feuerbach (…).“ 53 Auch Dostoevskijs Religionsauffassung setzt Neuhäuser mit der der Tübinger Junghegelianer in Beziehung: „Wir finden bei Dostoevskij dieselbe freie Religiosität, die weder an Dogmen und Rituale, noch an kirchliche Autorität gebunden ist, wie bei den französischen Frühsozialisten und den deutschen liberalen Theologen der ‚Tübinger Schule‘ D. Strauss und Feuerbach.“ 54 An anderen Stellen seiner Studie unterstreicht Neuhäuser die Bedeutung Stirners für Belinskij, Dostoevskij und die damalige russische Intelligenz allgemein. 55 Hier schließt sich der historisch-hermeneutische Zirkel: Bachtins Revolte gegen den hegelianischen Marxismus-Leninismus der 20er und 30er Jahre weckte sein Interesse für die kritischen Schriften der Junghegelianer Vischer (Groteske), Feuerbach (Materialismus), Stirner (Anarchie) und Nietzsche (das 3. Bachtins „junghegelianische“ Ästhetik 133 56 M. M. Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, op. cit., S. 283. 57 Siehe: R. Neuhäuser, Das Frühwerk Dostoevskijs, op. cit., S. 164. 58 M. M. Bachtin, Rabelais und seine Welt, op. cit., S. 497. Dionysische) und machte ihn zu einem beredten Anwalt von Dostoevskijs polyphoner Ästhetik: „In keinem der Romane wird diese Vielfalt der Töne und Stile auf einen Nenner gebracht. Nirgends gibt es ein dominierendes Wort, sei es nun das des Autors oder das des Haupthelden. Die Einheit des Stils gibt es in diesem monologischen Sinne in den Romanen Dostoevskijs nicht.“ 56 Entscheidend ist hier nicht so sehr diese Interpretation von Dostoevskijs Roman, die durchaus in Frage gestellt werden kann 57 , sondern die Tatsache, daß sie zur Grundlage von Bachtins Ästhetik wird, daß sie sich angesichts der repressiven Politik des sozialistischen Realismus in ein Politikum ver‐ wandelt und zum Ausgangspunkt einer polyphonen Romantheorie wird, die mit der Ästhetik Bachtins fast koextensiv ist. Auf diese „Romanästhetik“ möchte ich nun kurz eingehen, um zu zeigen, daß sie - wie die meisten Ästhetiken - präskriptiven Charakter hat, da sie alle monologischen Texte (auch ganze Gattungen) ideologiekritisch abwer‐ tet. Dadurch unterscheidet sie sich wesentlich von der Ästhetik Lukácsʼ‚ die in der Theorie des Romans monologisch nach Einheit und Totalität strebt. Bachtins polyphone Romanpoetik könnte als unterschwellige Polemik ge‐ gen Lukácsʼ Hegelianismus, mit dem der russische Autor gründlich vertraut war, gelesen werden. Zugleich läßt sie erkennen, daß es so etwas wie eine „objektive“ oder „wissenschaftliche“ Ästhetik in absehbarer Zeit nicht geben wird. Denn sie gründet auf dem kritischen Werturteil, daß nur der polyphone Text, der gegen den monologischen Ernst der herrschenden Kultur oder Ideologie aufbegehrt, zukunftsweisend ist. Der Romancier Rabelais wird als ein Vertreter der Renaissance dargestellt, der sich gegen die feudale Hierarchie auflehnt, und mit dem Epitheton „fortschrittlich“ geschmückt: „In den Konflikten seiner Zeit nahm Rabelais die fortschrittlichsten Positionen ein.“ 58 Hier spricht der Hegelianer und Marxist, nicht der Goethe-Kritiker und Dostoevskij-Schüler Bachtin, der die Möglichkeit der historischen Erzählung anzweifelt. (Wie bei anderen Junghegelianern treten auch bei Bachtin Widersprüche zwischen Hegelia‐ nismus und Hegel-Kritik auf. Auf einen ähnlichen Widerspruch bei Marx hat Habermas hingewiesen: Marx redet bisweilen einem naturwissenschaft‐ III. Michail Bachtins „junghegelianische“ Ästhetik 134 59 Siehe: J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt, Suhrkamp, 1973 (2. Aufl.), S. 85. 60 Menippeische Satire: Antike Form der Satire, die Dichtung und Prosa kombiniert und nach dem altgriechischen Dichter Menippos von Gadara benannt wurde. In ihren dialogischen Texten werden Glaubenssätze, Doktrinen und philosophische Thesen lächerlich gemacht. 61 M. M. Bachtin, Rabelais und seine Welt, op. cit., S. 316. 62 M. M. Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, op. cit., S. 132. lichen Szientismus das Wort, der mit seinem hegelianischen Historismus unvereinbar ist.) 59 Bei Bachtin ist der Roman - per definitionem - fortschrittlich, herr‐ schaftsfeindlich und polyphon. Die Romangattung als ganze wird von ihm ihrem Ursprung nach der demokratisch-kritischen Subkultur des Volkes zugerechnet, die er dem monologischen Ernst der herrschenden Kulturen des Mittelalters und der Neuzeit gegenüberstellt. Diese Subkultur ist seit der Antike mit der karnevalistischen Tradition verquickt, die den herrschenden Dualismus und den Monolog durch die Einheit der Gegensätze und das Karnevalslachen, durch Groteske und Polyphonie in Frage stellt. Karneva‐ listische Elemente dringen unmittelbar oder über die menippeische Satire 60 und eine bestimmte literarische Tradition (Cervantes, Rabelais, Gogol) in den Romantext ein. Über den Karneval als kritische Subkultur des Volkes und als Herausfor‐ derung der feudalen Herrschaft heißt es in Bachtins Rabelais-Buch „Der Karneval (ich wiederhole, im weitesten Sinne des Wortes) befreite von der Macht der offiziellen Weltanschauung, erlaubte, die Welt auf seine Art zu sehen: ohne Angst und Andacht, sehr kritisch, aber positiv und ohne Nihilismus, denn er erschloß das reiche materielle Prinzip der Welt, das Werden und den Wechsel, die Unüberwindlichkeit und den ewigen Triumph des Neuen, die Unsterblichkeit des Volkes.“ 61 Wie die Karnevalskultur ist die menippeische Satire der Antike demokra‐ tisch, kritisch und polemisch. Sie steht im Gegensatz zu den offiziellen Gattungen des Epos und der Tragödie und stellt deren dualistischen und monologischen Ernst in Frage: denn sie „ist voll scharfer Kontraste und widersprüchlicher Verbindungen“ 62 Ihre Ambivalenzen und Antinomien sind denen des Karnevals homolog und werden im Laufe der Jahrhunderte zu Bestandteilen einer literarischen Strömung, deren Hauptmerkmale (Ambi‐ valenz, Groteske, Polyphonie) am prägnantesten in der Romangattung zum Ausdruck kommen. 3. Bachtins „junghegelianische“ Ästhetik 135 63 Siehe: A. Gramsci, „Intellektuelle, Literatur, Journalismus“, in: ders., Philosophie der Praxis. Eine Auswahl, Frankfurt, Fischer, 1967. 64 M. M. Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, op. cit., S. 166. 65 M. M. Bachtin, „Epos i roman“, in: ders., Literaturno-kritičeskie stati, op. cit., S. 396. Obwohl Bachtin immer wieder die Ambivalenz als Einheit der Gegensätze betont, ist seine Gattungstheorie letztlich dualistisch: Analog zur menippei‐ schen Satire, die in der Antike den tragischen Ernst in Frage stellt, fordert im Spätmittelalter und in der Neuzeit der Roman die monologisch-ernsten Gattungen, vor allem das Epos und die Lyrik, heraus. Der Antagonismus zwischen Herrschenden und Beherrschten, zwischen aristokratischem Monolog und demokratischer Polyphonie läßt in Bachtins Ästhetik auch die Welt der Gattungen in zwei Hälften zerfallen. Während Epos, Tragödie und Lyrik der herrschenden Kultur angehören, entwickelt sich der Roman am Rande der Gesellschaft, im Bereich der „subalternen Kul‐ tur“ 63 , würde Antonio Gramsci sagen: „Während sich die Hauptvarianten der poetischen Gattungen in der Bahn der vereinheitlichenden und zentralisie‐ renden Kräfte des verbal-ideologischen Lebens herausbildeten, entstanden der Roman und die ihm verwandten Gattungen der künstlerischen Prosa historisch im Rahmen der dezentralisierenden, zentrifugalen Kräfte.“ 64 Der Roman ist nicht nur eine kritische und demokratische, sondern zugleich eine avantgardistische Gattung. Wie für seine Zeitgenossen, die Formalisten und Futuristen, sind auch für Bachtin die avantgardistischen, zukunftsweisenden Züge der Literatur entscheidend. Sie werden in seinem Aufsatz über „Epos und Roman“ („Epos i roman“) hervorgehoben: „In vieler Hinsicht antizipierte der Roman und antizipiert noch heute die Entwicklung der gesamten Literatur.“ 65 Freilich trifft diese Aussage nur für bestimmte Romane zu: für die kritischen und polyphonen Texte, die im Brennpunkt von Bachtins Betrachtungen stehen. Hier wird deutlich, daß sein Roman nicht einfach eine Gattung ist, sondern synekdochisch eine avantgardistische Ästhetik zusammenfaßt, die sich gegen die monologische Ästhetik Hegels (des sozialistischen Realismus) und gegen alle monologischen Ästhetiken der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft richtet. Daß das Wort „Roman“ bei Bachtin ein Weltbild und eine Ästhetik beinhaltet, ist Michail Gasparov aufgefallen: „‚Roman‘ und ‚Epos‘ sind ihm nicht Begriffe für Gattungen, sondern für bestimmte Entwicklungsstadien literarischer Formen: Bachtin könnte formulieren, daß jede Gattung als III. Michail Bachtins „junghegelianische“ Ästhetik 136 66 M. Gasparov, „Michail Bachtins Stellung in der russischen Kultur des 20. Jahrhunderts“, in: Dialogizität (Hrsg. R. Lachmann), München, Fink, 1982, S. 258. 67 M. M. Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, op. cit., S. 41. 68 P. N. Medvedev, Die formale Methode in der Literaturwissenschaft, op. cit., S. 179. 69 Siehe z. B. M. M. Bachtin, Rabelais und seine Welt, op. cit., S. 191, S. 195. 70 Siehe meinen Kommentar zu Bachtin in: Vf., Kritik der Literatursoziologie, Frankfurt, Suhrkamp, 1978, S. 244-248. Roman beginnt und als Epos endet. Wenn man in seinen Arbeiten das Wort ‚Roman‘ durch ‚Anti-Roman‘ ersetzt (…), dann wird der Sinn seiner Thesen erheblich klarer und plausibler.“ 66 Diese kritisch-avantgardistische Deutung von Bachtins Romanbegriff, die erklärt, weshalb er mit den „monologischen“ Romanen Tolstojs (und auch Balzacs) 67 wenig anfangen kann, wird von Pavel Medvedev bestätigt, wenn dieser in seiner kritischen Analyse der „formalen Methode“ im Zusammen‐ hang mit Šklovskijs Kommentar zum Don Quijote über den Roman schreibt: „Hier ist der wirkliche Schauplatz des Kampfes um die neue Gattung. Der Roman befindet sich noch im Stadium seiner Entstehung. Aber ein neues Sehen und Verstehen der Wirklichkeit greift bereits Platz, und, gleichzeitig damit, eine neue Konzeption der Gattung.“ 68 Hier wird klar, daß der Roman von Bachtin und Medvedev primär als Antiroman aufgefaßt wird: denn der Don Quijote war - literaturgeschichtlich gesehen - eine parodistische Negation des etablierten Ritterromans. Eine der fundamentalen Schwächen dieser Romanästhetik scheint mir darin zu bestehen, daß sie sich über den ambivalenten Charakter des mo‐ dernen Romans hinwegsetzt: Dieser ist als herrschende Gattung nicht nur kritischer Antiroman (Dostoevskij, Joyce, Svevo, Musil), sondern auch - und quantitativ gesehen vor allem - eine ideologisierte und kommerzialisierte Textsorte und integraler Bestandteil der „Kulturindustrie“ (Adorno, Hork‐ heimer). Bachtin deutet hin und wieder an, daß der Karneval eng mit dem Marktleben und den Marktgesetzen liiert ist. 69 Er hätte bedenken sollen, daß die aus dem Karnevalsgeschehen hervorgehenden Gattungen nicht nur die demokratische Rebellion, sondern auch die destruktive Wirkung der Marktgesetze und der Vermittlung durch den Tauschwert in sich aufneh‐ men. 70 Daraus erklärt sich die strukturelle Aporie des modernen Romans: Während die kritischen, avantgardistischen Texte gegen die kommerziali‐ sierten und ideologischen Schemata aufbegehren und dadurch die narrative Grundstruktur des Romans in Frage stellen (Musil, Kafka, Joyce, Butor), 3. Bachtins „junghegelianische“ Ästhetik 137 71 Zu Ian Flemings Romantechnik siehe: U. Eco, „Erzählstrukturen bei Ian Fleming“, in: P. V. Zima (Hrsg.), Textsemiotik als Ideologiekritik, Frankfurt, Suhrkamp, 1977. 72 V. N. Vološinov, in: T. Todorov, Mikhaïl Bakhtine. Le principe dialogique-suivi de Ecrits du Cercle de Bakhtine, Paris, Seuil, 1981, S. 297. praktizieren Erfolgsautoren wie Johannes Mario Simmel, Utta Danella oder Ian Fleming den ideologischen Monolog, der hohe Umsatzraten garantiert und die traditionelle Romanform am „Leben“ erhält. 71 Wie Walter Benjamin achtete Bachtin zu sehr auf die befreiende Polyphonie des Marktes und un‐ terschätzte - in Rußland lebend - die destruktive Wirkung des Tauschwerts. Die politische Kritik, auf die es Bachtin (wie Benjamin) ankam, ist nicht von der Krise der Kultur und des individuellen Subjekts zu trennen. Diese Krise führt seit der junghegelianischen Kritik an Hegel (bei Nietzsche, in den Romanen der Jahrhundertwende, in der Psychoanalyse und im Surrea‐ lismus) zur Entdeckung der Natur und der nicht-sozialen Komponenten des Subjekts. Dieses Problem hat Valentin Vološinov klar erkannt, als er angesichts der Kulturkrise seiner Zeit bemerkte: „Die Perioden der Krise und Dekadenz, die von tiefen Mutationen der wirtschaftlichen und politischen Beziehungen begleitet werden, kennen diesen Sieg des ‚Tiermenschen‘ über den ‚sozialen Menschen‘.“ 72 Es zeigt sich hier, daß die - durchaus reelle - Befreiung durch den demokratischen Markt in eine neue Unterjochung durch die Naturwüchsigkeit der Marktgesetze münden kann. Damit kehre ich zur „junghegelianischen“ Problematik zurück, denn auch die Junghegelianer stießen in ihrer demokratischen, materialistischen und anarchistischen Kritik an Hegel auf die Natur, das Unbewußte und den Traum. Die folgenden Gegensätze bilden nicht nur den semantischen Raster des Bachtinschen, sondern auch des junghegelianischen Diskurses: Herr‐ schaft/ Demokratie (Karneval); Ernst/ Lachen; Dualismus/ Ambivalenz; Mono‐ log/ Dialog (Polyphonie); Geschlossenheit/ Offenheit; Kultur/ Natur, Bewußtes/ Unbewußtes; Logos/ Traum; Identität/ Verdoppelung (des Subjekts); Notwen‐ digkeit/ Zufall etc. - Mir kommt es hier auf die „Charakteristik“, nicht auf eine vollständige Darstellung dieser Struktur an. Daß auch die Junghegelianer (im Gegensatz zu Hegel) im Rahmen dieser dis‐ kursiven Grundstruktur dachten, zeigt eine Passage aus Vischers Abhandlung über den Traum, die auf besonders prägnante Art die Problematik der Krise, der „Übergangszeit“ (wie Rosenkranz sagt: vgl. Kap. I) zusammenfaßt. Vischers Aufwertung der Natur führt zur Entdeckung des Zufalls und des Traums: „Er (Hegel) meint, in seiner Weltvernunft die Natur mit dem Begriff beisammen zu III. Michail Bachtins „junghegelianische“ Ästhetik 138 73 F. Th. Vischer, „Der Traum. Eine Studie zu der Schrift: Die Traumphantasie von Dr. Johann Volkelt“, in: ders., Kritische Gänge, Bd. 4, München, Meyer & Jessen, 1922, S. 482. 74 Siehe: S. Freud, Psychopathologie des Alltagslebens, Frankfurt, Fischer, 1954, S. 55. haben, aber er hat ihre scheinbar absolute Spaltung, ihre Diremtion, er hat aus der Idee das ‚Anderssein‘ nicht erklärt; daher, weil das Anderssein unerklärt daneben liegen bleibt, fallen sie doch auseinander und ist die Wesensfülle in seiner Vorstellung von der Weltvernunft nur seine ehrliche Vorstellung. Ist also die Natur nicht wirklich abgeleitet, so ist es auch der mit ihr gegebene Zufall nicht, und hieraus folgt zugleich, daß Hegel vom Zufall in der Naturseite des Geistes, also auch vom Traume, geringschätzig wie von allem Zufälligen, nur flüchtig und beiläufig redet.“ 73 Diese Passage ist nicht nur deshalb wichtig, weil sie Hegels Subjekt-Ob‐ jekt-Identität in Frage stellt („mit dem Begriff beisammen zu haben“) und den semantischen Raster des junghegelianischen Diskurses in komprimierter Form artikuliert, sondern auch deshalb, weil sie etwas über Ursprung und Struktur von Bachtins Denken aussagt. Diese Struktur ist antihegelianisch und junghegelianisch zugleich und in einem Satz zusammenzufassen: Die Natur als Objekt geht nicht im subjektiven Logos auf. In Diskursen, in denen sich diese kritische Erkenntnis durchsetzt (bei Vischer, Bachtin, Benjamin, Sartre u. a.), macht sich auch die für die ganze Moderne symptomatische Krise bemerkbar: Die Natur sprengt die Schranken der systematischen Erkenntnis und läßt das Unbewußte, die onirische Assoziation und den absurden Zufall zutage treten. Zugleich ertönt das Gelächter, das den Zusammenbruch der begrifflichen Herrschaft, des monologischen Ernstes und der Zensur durch das Über-Ich begleitet. Es ist ein befreiendes Lachen, das dem Geist einen eher bescheidenen Platz zuweist, weil es ihn daran erinnert, daß auch er selbst zumindest teilweise dem Naturbereich angehört und der natürlichen Kontingenz nicht entgeht. Nirgendwo ist diese Kontingenz so augenfällig wie in der Fehlleistung, die Freuds durchaus seriösen Redner sagen läßt, etwas sei „zum Vorschwein gekommen“. 74 Für die Moderne, die aus der Selbstkritik des hegelianischen Logos hervor‐ geht, ist diese Krise deshalb charakteristisch, weil sie zwei komplementäre Aspekte aufweist, die für die europäische Philosophie und Literatur seit 1850 immer wichtiger werden: Natur als Befreiung des Subjekts und Natur als Gefahr. Während die „Junghegelianer“ Nietzsche, Vischer und Feuerbach einige Romanciers des 20. Jahrhunderts (D. H. Lawrence, Hermann Hesse, 3. Bachtins „junghegelianische“ Ästhetik 139 75 Siehe z. B. Kafkas Erzählung „Der Landarzt“ sowie die scharfsinnige Interpretation von W. Falk in Leid und Verwandlung. Rilke, Kafka, Trakl und der Epochenstil des Impressionismus und Expressionismus, Salzburg, Otto Müller, 1961, S. 138. 76 M. M. Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, op. cit., S. 172. 77 M.M. Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, op. cit., S. 110. 78 Ibid., S. 352. Marcel Proust) und die avantgardistischen Bewegungen ankündigen, die in der Natur und im Unbewußten befreiende Prinzipien entdecken, kündigt Kierkegaards Kritik an Hegel philosophische und literarische Richtungen an, die in der natürlichen Kontingenz eine Bedrohung des Subjekts erblicken. Nicht nur Kafka stellt die Natur als Gefahr dar, die das Subjekt von „innen“ und von „außen“ bedroht 75 ; auch der junge Sartre faßt die Kontingenz und den naturbedingten Zufall als Gefahren für die individuelle Autonomie (Freiheit) auf. Der Erzähler seines Erstlingsromans La Nausée (1938) setzt alles daran, sie zu bannen und dem Gesetz der ästhetischen Notwendigkeit unterzuordnen. Im Zusammenhang mit diesen beiden Entwicklungstendenzen der Mo‐ derne ist Bachtins Position nicht einseitig als „naturzugewandt“ oder „naturfeindlich“ zu definieren. Obwohl er eindeutig für die unterdrückte Natur, das Unbewußte und das Karnevalslachen Partei ergreift, ist er weit davon entfernt, einem seichten Irrationalismus das Wort zu reden. Einerseits verknüpft er in seiner Dostoevskij-Interpretation den Traum mit dem Lachen und der Utopie: „Im ‚Traum‘ selbst wird das utopische Thema eines irdischen Paradieses, das der ‚lächerliche Mensch‘ auf einem fernen, unbekannten Stern mit eigenen Augen sieht und erlebt, ausführlich entwickelt.“ 76 Andererseits plädiert er für eine „systematisch philosophische Ästhetik“ 77 und spricht sich in seinem Aufsatz „Zur Methodologie der Literaturwissenschaft“ für eine „dialogische Erkenntnis“ aus, die sich vom „monologischen Erkennen“ der Naturwissenschaften unterscheidet: „Die dialogische Erkenntnis ist eine Begegnung.“ 78 Anders als Nietzsche, der die theoretische Erkenntnis ästhetisiert, indem er sie der Kunst unterwirft (vgl. Kap. I. 4), setzt sich Bachtin für eine hermeneutische Theorie ein, die vom Irrationalismus ebenso weit entfernt ist wie vom Monolog der Naturwissenschaften. Daß Bachtin in Übereinstimmung mit Freud und einigen Romanciers der Jahrhundertwende versuchte, das prekäre Gleichgewicht zwischen dem Irrationalen und der Ratio zu erhalten, ist auch Tzvetan Todorov aufgefallen. Mit Recht weist er darauf hin, daß Bachtin an einer Auflösung der Subjek‐ III. Michail Bachtins „junghegelianische“ Ästhetik 140 79 T. Todorov, Mikhail Bakhtine. Le principe dialogique, op. cit., S. 156. 80 M. M. Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, op. cit., S. 205. 81 Siehe: H. Hesse, Eigensinn, Frankfurt, Suhrkamp, 1972, S. 138: „Ich verlange von mir Zurückgehen hinter die Gegensatzpaare, Annehmen des Chaos. Dies ist dasselbe, was die Psychoanalyse verlangt, woher ich es ja zum Teil auch habe (…). Und erst von da aus, von diesem Nullpunkt aus sollen wir wieder versuchen fürs praktische Leben Werttafeln aufzustellen, Ja und Nein, Gut und Böse zu trennen, Gebote und Verbote aufzustellen.“ 82 Siehe: Vf., L‘Ambivalence romanesque. Proust, Kafka, Musil, Paris, LʼHarmattan, 2002 (2. Aufl.), Kap. 6: „LʼAporie dʼune écriture narcissique“. tivität im Unbewußten und in der Polyphonie nicht interessiert ist: „Bachtin wirft hier Dostoevskij vor, er habe die umfassende Exotopie, die Stabilität und die Zuverlässigkeit des Autorenbewußtseins, die dem Leser stets die Wahrheitsfindung ermöglichte, in Frage gestellt.“ 79 Tatsächlich spricht Bachtin von „der Präsenz des Autors und seiner letzten Sinninstanz“ 80 und zeigt, daß ihm die Auflösung des Subjekts, des Sinnes und der Wahrheit ebenso fremd war wie Freud, wie den Romanautoren Musil, Proust oder Hesse. Während Hesse versuchte, das „Ich“ durch ein Gleichgewicht zwischen Bewußtem und Unbewußtem zu retten 81 , strebten Proust und Musil ein ähnliches Gleichgewicht zwischen „intelligence“ und „instinct artistique“, zwischen „Ratio“ und „Mystik“ an. 82 Ein anderer Theoretiker, den ich ebenfalls der junghegelianischen Tra‐ dition zurechne, versuchte auch, im Spannungsverhältnis zwischen Ratio‐ nalem und Nichtrationalem, zwischen Logos und Natur eine Theorie zu konstruieren, die dem Objekt nicht Gewalt antat: Theodor W. Adorno, dessen Ästhetische Theorie im Mittelpunkt des nächsten Kapitels stehen wird. Wie bei Bachtin, so bewirkt auch bei Adorno die Kritik an Hegels systematischem Logozentrismus eine Annäherung an die Kantsche Position. Auf diese Annäherung möchte ich abschließend im Zusammenhang mit Bachtins Ästhetik eingehen, deren Hervorhebung der Ausdrucksebene durch radikale Kritik an der Naturbeherrschung und am Logozentrismus sie der Kritischen Theorie Adornos, Benjamins und Horkheimers vergleichbar macht. 4. Ausdrucksebene und Inhaltsebene Bachtins Kritik der „formalen Methode“ hat bereits gezeigt, daß seine Ästhetik nicht einseitig die Inhaltsebene gegen die Ausdrucksebene aus‐ 4. Ausdrucksebene und Inhaltsebene 141 83 Siehe: E. Sapir, in: B. L. Whorf, „The Relation of Habitual Thought and Behaviour to Language“, in: ders., Language, Thought and Reality, Cambridge (Mass.), The M. I. T. Press, 1956, S. 134: „The fact of the matter is that the ‚real world‘ is to a large extent unconsciously built up on the language habits of the group.“ 84 M. M. Bachtin, Rabelais und seine Welt, op. cit., S. 518. 85 M. M. Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, op. cit., S. 122. spielt oder umgekehrt. Sie erkennt die Autonomie beider Ebenen an und kann als ein Versuch aufgefaßt werden, Ausdruck und Inhalt dialektisch aufeinander zu beziehen. Ihre Aufwertung der Ausdrucksebene ist - anders als bei den Formalisten - nicht auf eine Ausblendung der Inhalts- und Wahrheitsproblematik zurückzuführen, sondern zeugt im Gegenteil von einer intensiven Auseinandersetzung mit der Begrifflichkeit der Kunst. Diese wird bei Bachtin - wie schon bei Kant und später bei Adorno - zwar nicht geleugnet, jedoch drastisch eingeschränkt. Die Sprache als solche erscheint Bachtin, ähnlich wie später den Anthro‐ pologen Sapir und Whorf 83 , als ein autonomes System, das nicht ohne weiteres auf begrifflichem Wege in andere Systeme zu übersetzen ist: „Eine zweite Sprache ist eine zweite Weltanschauung oder eine andere Kultur, und dies in einer konkreten und nie völlig übersetzbaren Form.“ 84 Dem Adverb „völlig“ kommt hier besondere Bedeutung zu: Jede Übersetzung, auch die Übersetzung nicht-literarischer Texte, hat es letztlich mit einem nicht-übersetzbaren Residuum zu tun, das kulturspezifisch und daher nicht in allgemeingültigen Begriffen aufzulösen ist. Wo an der sprachlichen Übersetzung im allgemeinen gezweifelt wird, dort werden noch größere Bedenken laut, wenn es um die literarische Übersetzung geht oder um die Möglichkeit, aus literarischen Texten begriff‐ liche Wahrheiten herauszudestillieren. Inhaltlichkeit oder Begrifflichkeit des literarischen Textes leugnet Bachtin keineswegs, er bestreitet allerdings die Möglichkeit, einen solchen Text auf einen eindeutigen Begriff, auf ein theoretisches Urteil festzulegen. Der ästhetische Erkenntnisprozeß ist nicht mit einer begrifflich faßbaren Wahrheit abzuschließen. „Es wäre völlig falsch“, schreibt Bachtin in seinen Kommentaren zum „Problem des Inhalts“, „sich den Inhalt als ein gnoseolo‐ gisches, theoretisches Ganzes, als einen Gedanken, als Idee vorzustellen.“ 85 Diese unterschwellige Kritik an Hegels und Lukácsʼ logozentrischer Ästhetik nimmt eine Seite weiter eine kantianische Wendung, wenn Bachtin erklärt: „Das gnoseologische Moment beleuchtet gleichsam das ästhetische Objekt von innen, wie ein nüchterner Strom Wassers dem Wein ethischer Spannung III. Michail Bachtins „junghegelianische“ Ästhetik 142 86 Ibid., S. 123. 87 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S. 91. 88 M. M. Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, op. cit., S. 103. 89 M. M. Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, op. cit., S. 38. 90 Ibid., S. 264. und künstlerischer Vervollkommnung beigemengt wird, doch verdichtet es sich keineswegs immer bis zum Rang eines bestimmten Urteils; alles wird erkannt, doch bei weitem nicht alles wird im adäquaten Begriff identi‐ fiziert.“ 86 Diese Darstellung erinnert an Adornos These aus der Ästhetischen Theorie, „daß keine Kunst wesentlich urteilt und wo sie es tut, aus ihrem Begriff ausbricht“. 87 Ähnlich wie Adorno weist Bachtin immer wieder darauf hin, daß die Be‐ griffslosigkeit der Kunst nicht als „Inhaltslosigkeit“ oder gar „Sinnlosigkeit“ aufgefaßt werden sollte, denn „Freiheit von der Bestimmtheit des Begriffs kommt nicht dem Freisein von Inhalt gleich, Ungegenständlichkeit ist nicht Inhaltslosigkeit (…)“. 88 Bachtins literaturwissenschaftliche Arbeiten zeigen, daß ihm Polyphonie und Polysemie als solche zu Wahrheitsmomenten wer‐ den: Beide opponieren der monologischen und ideologischen Reduktion des Textes auf ein Dogma. Die Offenheit des Textes selbst, die den herrschenden Kulturen vom Feudalismus bis zum Stalinismus Widerstand leistet, wird zu einem negativen Wahrheitsgehalt: zur Freiheit des Autors und des Lesers, jenseits des herrschenden Monologs zu denken und zu schreiben. Offenheit und Polyphonie sind keine Mängel wie bei Hegel, sondern wer‐ den von einem Autor wie Dostoevskij intendiert. Von der Welt Dostoevskijs heißt es bei Bachtin: „Nur ist es müßig, in ihr systematisch-monologische, wenn auch dialektische, philosophische Geschlossenheit zu suchen, und nicht deshalb, weil sie dem Autor nicht gelungen wäre, sondern weil sie gar nicht seinen Intentionen entsprach.“ 89 Auch dieser Satz kann als eine versteckte Polemik gegen den Hegelianismus der Marxisten-Leninisten und der Vertreter des sozialistischen Realismus gelesen werden. Die von Hegel ebenfalls bemängelte Polysemie ist als ein Aspekt der Polyphonie aufzufassen. Die einander widersprechenden Stimmen der Protagonisten machen jeden Versuch zunichte, Dostoevskijs Helden eindeutig zu definieren: „Die Möglichkeit zur Ausflucht macht den Helden auch für sich selbst zweideutig und unfaßbar.“ 90 Während die Polyphonie den Monolog scheitern läßt, entzieht die Polysemie den Text der eindeutigen Definition. Beide stellen die Hegelsche und hegelianische These in Frage, 4. Ausdrucksebene und Inhaltsebene 143 91 Siehe: H. van Gorp, „Polyfonie in de roman. Bakhtin vs. Westerse narratologie“, in: Dialogeren met Bakhtin. De uitdaging van het vreemde woord (Hrsg. H. van Gorp), ALW-Cahier Nr. 4, Leuven-Louvain, 1986, S. 48-49. 92 M. M. Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, op. cit., S. 216. 93 M. M. Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, op. cit., S. 295. 94 J. Kristeva, „Une Poétique ruinée“, in: M. Bakhtine, La Poétique de Dostoïevski, Paris, Seuil, 1970, S. 15. 95 Ibid., S. 18. der zufolge literarische Werke ohne Verlust in andere Sprachen sowie in die begriffliche Sprache der Philosophie übersetzt werden können. Polyphonie und Polysemie sind allerdings nicht unproblematisch: nicht nur weil sie, wie Hendrik van Gorp in seiner Kritik an Bachtin bemerkt, vom Leser nicht immer wahrgenommen werden 91 , sondern auch deshalb, weil in einer von Ambivalenz und Polyphonie geprägten sprachlichen Situation, in der das Wort „zur Kampfarena zweier Stimmen“ 92 wird, die „letzte Sinninstanz des Werkes“ 93 , von der Bachtin spricht, erschüttert wird. In dieser Situation können Begriffe wie „Sinn“ und „Wahrheit“ selbst der Polyphonie und Indifferenz zum Opfer fallen. Julia Kristeva akzeptiert zumindest implizit diese Indifferenz, wenn sie in ihrem Vorwort zur französischen Ausgabe des Dostoevskij-Buches bemerkt, „der Autor (sei) nicht die oberste Instanz, die für die Wahrheit dieses Gegenei‐ nanders von Diskursen bürge“ 94 , und hinzufügt, daß das zersplitterte Subjekt „das ideologische Prinzip der Identität auflöst“ („il dissout le principe idéologique dʼidentité“). 95 Doch wie sind diese Aussagen mit Bachtins Bemerkungen zur „letzten Sinninstanz des Werkes“ und „des Autors“ (s. o.) zu vereinbaren? Indem Kristeva nur die alles auflösende karnevalistische und polyphone Kritik Bachtins gelten läßt, übersieht sie, daß Bachtin gleichzeitig an be‐ stimmten Wahrheiten wie Demokratie, Volkskultur, Dialog und Hermeneu‐ tik festhält und die Indifferenz des Marktes, des Tauschwerts, der in letzter Instanz die Demokratisierung und Karnevalisierung der Gesellschaft ermög‐ licht, nicht restlos akzeptiert. Sie übersieht Bachtins eigene Ambivalenz, die zugleich seine Aporie ist. Aporetisch wird seine Theorie an dem Punkt, an dem deutlich wird, daß die Marktgesetze, die die demokratische Befreiung vom feudalen und stalinistischen Monolog ermöglichen, kulturelle Werte wie Kritik, Dialog (Interesse für den anderen) und Demokratie (Freiheit des Einzelnen und des Kollektivs) der Indifferenz des Tauschwerts überantworten. III. Michail Bachtins „junghegelianische“ Ästhetik 144 Nicht nur Bachtins Ansatz leidet an dieser Aporie: Im nächsten Kapitel wird sich zeigen, daß auch die Kritische Theorie ihr nicht entgeht und daß Adorno Walter Benjamins Entwürfe einer demokratischen, proletarischen Kultur als Konzessionen an die Marktgesetze der Kulturindustrie kritisiert. 4. Ausdrucksebene und Inhaltsebene 145 IV. Die Ästhetik der Kritischen Theorie: Von Benjamin zu Adorno Es soll nicht versucht werden, die Theoreme zweier Autoren, die oft divergierende Ansichten vertraten, auf einen Nenner zu bringen. Von einer „Ästhetik der Kritischen Theorie“ kann nur insofern die Rede sein, als Theodor W. Adorno (1903-1969) Walter Benjamins (1892-1940) philosophi‐ schen und ästhetischen Studien wesentliche Anregungen verdankt, die in gemeinsam verwendeten Begriffen wie „Wahrheitsgehalt“, „Konstellation“ und „Mimesis“ zum Ausdruck kommen. Die letzten beiden Begriffe verweisen auf eine gesellschaftliche und sprachliche Situation, in der Hegels historischer Logozentrismus unglaub‐ würdig wird, so daß die „mimetische Angleichung an das Objekt“ und die „Konstellation der Begriffe“ (vgl. weiter unten) als Alternativen zur Herrschaft des Begriffs und des identifizierenden Denkens erschienen. Als Kritiker dieses Denkens sowie eines hegelianischen Marxismus, der das historische Kontinuum einseitig als Fortschritt definiert, können Benjamin und Adorno im Zusammenhang mit den Junghegelianern gelesen werden, die in ihrer Kritik des systematischen Identitätsdenkens die Skepsis Kants wiederentdecken und Partei für das von Hegel identifizierte, im Begriff aufgelöste Objekt ergreifen. Vor allem Adornos Ästhetik wird hier im Spannungsfeld zwischen dem Kantschen und dem Hegelschen Pol, zwischen Ausdrucksebene und Inhalts‐ ebene dargestellt. Sofern sie sich bewußter als die anderen hier kommen‐ tierten Ansätze zwischen diesen beiden Polen bewegt und immer wieder zwischen Kants autonomer und Hegels heteronomer Betrachtungsweise dialektisch zu vermitteln sucht, bildet sie den Mittelpunkt dieses Buches, dessen zentrales Thema die Wechselbeziehung von Kantianismus und He‐ gelianismus, von Ausdrucksebene und Inhaltsebene ist. Es wird sich zeigen, daß die Rezeptionstheorien und die semiotischen Ansätze den von Adorno postulierten dialektischen Nexus lösen und die Einheit von Ausdrucksebene und Inhaltsebene, von „Form“ und „Wahrheits‐ gehalt“ preisgeben. Adornos „Junghegelianismus“ besteht u. a. darin, daß er an Hegels Gedanken des „ideellen Gehalts“, des „Wahrheitsgehalts“, festhält, ohne das Kunstwerk auf den Begriff zu bringen. 1 Siehe: W. Benjamin, „Programm eines proletarischen Kindertheaters“, in: ders., Gesam‐ melte Schriften, Bd. 11.2, Frankfurt, Suhrkamp, 1977. 2 Siehe: W. Benjamin, „Was ist das epische Theater? “, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 11. 2, op. cit., S. 519-539. Insbesondere die späte, materialistische Ästhetik Walter Benjamins läßt andere Aspekte der junghegelianischen Problematik zutage treten. Ausge‐ hend von einer Dialektik, die die Hegelsche Aufhebung als systembildende Synthese ablehnt, wendet sich Benjamin vom klassizistischen Kunstbegriff Hegels ab. Wie die „Dialektik im Stillstand“ (Benjamin), die die Einheit der Gegensätze ohne Synthese denkt, faßt seine Ästhetik das Kunstwerk als eine in sich widersprüchliche Einheit auf, die nicht homogener Ausdruck einer Idee ist, sondern von den gesellschaftlichen Antagonismen und den historischen Brüchen Zeugnis ablegt, aus denen sie selbst hervorgeht. Nicht die harmonische Totalität sucht Benjamin im literarischen Text, sondern die sprachlichen Brechungen und das gesellschaftliche Konfliktpo‐ tential, das in den Dissonanzen der Werke zum Ausdruck kommt. In dieser Hinsicht ist seine materialistische Theorie der Michail Bachtins verwandt, die im vorigen Kapitel als eine „junghegelianische“ Ästhetik des vielstim‐ migen, offenen Werkes beschrieben wurde. Ähnlich wie Bachtin wendet sich Benjamin vom Klassizismus des Bildungsbürgertums ab und versucht, eine Beziehung zwischen kritischer Literatur und demokratischer (prole‐ tarischer) Gegenkultur herzustellen. Davon zeugen nicht nur Schriften wie „Programm eines proletarischen Kindertheaters“ 1 , sondern auch seine Essays über Brecht 2 und seine Theorie einer reproduzierbaren Kunst für breite Bevölkerungsschichten, die geeignet wäre, die individuelle, private Rezeption des Bildungsbürgers abzulösen. Mit Bachtin verbindet Benjamin außerdem eine offene, negative Dialek‐ tik, die zwar die radikale Ambivalenz als Einheit der Gegensätze kennt, nicht jedoch die Aufhebung und die historische Synthese, die Hegels systematische „Erzählung“, seinen historischen Diskurs, ermöglicht. Es wird sich zeigen, daß Benjamin - ähnlich wie Bachtin - von der Zweideutigkeit und der Heterogenität des historischen „Chronotopos“ überzeugt ist und aufgrund dieser Überzeugung den Fortschrittsglauben hegelianischer Mar‐ xisten und marxistischer Hegelianer kritisiert. Insgesamt weist der „Junghegelianismus“ Benjamins und Adornos folgende wesentliche Aspekte auf: 1. Kritik des Hegelschen System- und Identitätsden‐ kens; 2. Plädoyer für eine offene, negative Dialektik ohne Aufhebung; 3. IV. Die Ästhetik der Kritischen Theorie: Von Benjamin zu Adorno 148 Verharren in der radikalen Ambivalenz, in der systemsprengenden Einheit der Gegensätze; 4. Aufwertung der Natur, des Naturschönen und des Objekts (in Übereinstimmung mit F. Th. Vischer); 5. Annäherung an die erkenntnistheo‐ retische und ästhetische Position Kants; 6. Aufwertung der Ausdrucksebene im literarischen Text. Da fast alle diese Aspekte in Adornos Theorie stärker ausgeprägt sind als bei Benjamin, wird diese hier ausführlicher behandelt, zumal die Negative Dialektik (1966) und die Ästhetische Theorie (1970) trotz des unabgeschlosse‐ nen Charakters der letzteren eher ein philosophisch-ästhetisches Gesamt‐ bild ergeben als Benjamins in literarischen Essays und im „Passagen-Werk“ verstreute Kommentare zur Dialektik und Ästhetik. Da Benjamins Ästhetik hier im „junghegelianischen“ Kontext eine Art Brückenfunktion zwischen Bachtin und Adorno erfüllt, will ich mich auf die materialistische Phase des Autors konzentrieren und auf seine metaphysi‐ schen und theologischen Betrachtungen nur dann eingehen, wenn sie für das Verständnis seiner materialistischen Dialektik unentbehrlich sind. Es versteht sich von selbst, daß eine solche Darstellung (Benjamin als „Junghe‐ gelianer“ zwischen Bachtin und Adorno) dazu angetan ist, den Autor anders erscheinen zu lassen als Betrachtungen, die das Trauerspiel-Buch oder den Aufsatz über Goethes Wahlverwandtschaften in den Mittelpunkt stellen. Insofern hat Saussure recht mit seiner Behauptung, in der Wissenschaft „mache der Standpunkt den Gegenstand“. 1. Walter Benjamins „Dialektik im Stillstand“ Ein wesentliches Charakteristikum Hegelscher und hegelianischer Dialektik ist ihre historische Dynamik: Aus den Widersprüchen der Gegenwart geht ein höheres historisches Stadium hervor, in dem die Gegensätze solange in einer Synthese aufgehoben werden, bis neue Widersprüche ausbrechen. So herrscht trotz aller Brüche und Verwerfungen eine historische Kontinuität, die durch die Begriffe der Aufhebung und der Synthese gewährleistet wird. Von diesem dialektischen Historismus Hegels wendet sich Benjamin in einem seiner wichtigsten Texte, den „Geschichtsphilosophischen Thesen“, ab. Er stellt dort eine „Dialektik im Stillstand“ dar, die zwar ihr Erkenntnispotential aus der Verknüpfung der Gegensätze oder aus der Zusammenführung der Extreme bezieht, die synthetisierende Aufhebung jedoch nicht anerkennt. In einer Kritik am Historismus und am „Kontinuum der Geschichte“ heißt es: „Zum 1. Walter Benjamins „Dialektik im Stillstand“ 149 3 W. Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I. 2, op. cit., S. 702-703. 4 Ibid., S. 703. 5 J. Habermas, „Bewußtmachende oder rettende Kritik - Die Aktualität Walter Benja‐ mins“, in: ders., Kultur und Kritik. Verstreute Aufsätze, Frankfurt, Suhrkamp, 1973, S. 318-319. Denken gehört nicht nur die Bewegung der Gedanken, sondern ebenso ihre Stillstellung. Wo das Denken in einer von Spannungen gesättigten Konstellation plötzlich einhält, da erteilt es derselben einen Chok, durch den es sich als Monade kristallisiert. Der historische Materialist geht an einen geschichtlichen Gegenstand einzig und allein heran, wo er ihm als Monade entgegentritt. In dieser Struktur erkennt er das Zeichen einer messianischen Stillstellung des Geschehens, anders gesagt, einer revolutionären Chance im Kampf für die unterdrückte Vergangenheit.“ 3 In dieser Passage geht es also nicht um eine Aufhebung im Höheren wie bei Hegel, sondern um eine Stillegung des Geschehens, die die schockartige Erkenntnis einer historischen „Konstellation“ ermöglicht. Diese kritische Erkenntnis hat nicht die höheren Zukunftsstadien zum Gegenstand, sondern die angehäuften Leiden der „unterdrückten Vergangenheit“. Anders gesagt: Der revolutionäre Gedanke Benjamins orientiert sich nicht an der besseren Zukunft, sondern am Eingedenken vergangener Unterdrückung, die in einer besonderen, von Widersprüchen geprägten Konstellation, die er als „Jetztzeit“ 4 bezeichnet, zutage tritt. Von einer „messianischen Stillegung des Geschehens“ ist hier in einem nach- und junghegelianischen Kontext die Rede, in dem die historische Zuversicht Hegels, sein Glaube an eine Befreiung des Menschen durch den historischen Prozeß, geschwunden ist. Wie schon bei den Junghegelianern hängt die Erschütterung dieses Glau‐ bens an den Weltgeist mit der Krise der bürgerlichen Kultur, spezifisch mit der Krise des deutschen Liberalismus der Zwischenkriegszeit, zusammen. Auf sie spielt Jürgen Habermas an, wenn er in seinem Aufsatz über Benjamin erklärt: „Diese Konstellation der bürgerlichen Kultur war keineswegs stabil; sie währte, wie der Liberalismus selber, sozusagen nur einen Moment und verfiel dann der Dialektik der Aufklärung (oder vielmehr dem Kapitalismus als deren unwiderstehlichem Vehikel).“ 5 In früheren Arbeiten über die Kritische Theorie habe ich bereits zu zeigen versucht, daß die Peripetien der offenen Dialektik Benjamins und der negativen Dialektik Adornos mit den Krisen des liberalen Individualismus IV. Die Ästhetik der Kritischen Theorie: Von Benjamin zu Adorno 150 6 Siehe: Vf., LʼEcole de Francfort. Dialectique de la particularité, Paris, L’Harmattan, 2005, erw. Neuauflage, Kap.1 und Textsoziologie. Eine kritische Einführung, Stuttgart, Metzler, 1980, Kap. 6. 7 W. Benjamin, „Über das Programm der kommenden Philosophie“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II. 1, op. cit., S. 20. 8 W. Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I.1, op. cit., S. 227. 9 Ibid., S. 215. nach dem Ersten Weltkrieg verquickt sind. 6 Wie einige Junghegelianer regredieren die Anhänger der Kritischen Theorie in die Enklave einer negativen Kritik, die zusammen mit Hegels Aufhebung die historische Perspektive (als historische Immanenz) preisgibt. Die Negativität dieser Dialektik tritt in einem anderen Text Walter Benjamins hervor, in dem er explizit den Hegelschen Begriff der Synthese (d. h. der Aufhebung) anzweifelt: „Jedoch wird außer dem Begriff der Synthesis auch der einer gewissen Nicht-Synthesis zweier Begriffe in einem anderen systematisch höchst wichtig werden, da außer der Synthesis noch eine andere Relation zwischen Thesis und Antithesis möglich ist.“ 7 Um was für eine Relation handelt es sich? Benjamin meint die coincidentia oppositorum ohne Aufhebung, die Einheit der Gegensätze als extreme Ambivalenz, in der zwei widersprüchliche Aspekte einer- und derselben Erscheinung zutage treten. Schon in seinem Buch über den Ursprung des deutschen Trauerspiels (1928), wo er dem systematischen Vorgehen der em‐ pirischen Wissenschaften eine Absage erteilt, fordert Benjamin vom Begriff, er solle die „Idee“ in ihren Extremen, d. h. als widersprüchliche Einheit, darstellen: „Die Darstellung einer Idee kann unter keinen Umständen als geglückt betrachtet werden, solange virtuell der Kreis der in ihr möglichen Extreme nicht abgeschritten ist.“ 8 Die Wahrheit ist demnach nicht im Begriff selbst zu suchen, der nur Mittel ist, sondern in der Idee, die der Autor des Trauerspiel-Buches im Anschluß an Platons Timaios definiert. Weit davon entfernt, ein Oberbegriff im Sinne des Rationalismus zu sein, eine Verallgemeinerung des Besonderen, bildet sie die Einheit zweier extremer Einzelerscheinungen: In ihr soll „das Einmalig-Extreme“ 9 gerettet werden. Obwohl Benjamins „Idee“ im Gegensatz zu der Hegels ahistorisch und statisch ist, enthält sie den hegelianischen Anspruch auf totale, dialektische Erkenntnis. Daher hat Hans Heinz Holz recht, wenn er bemerkt: „Insofern die Idee grundsätzlich auf Totalität zielt, also die Einstimmung der unendlichen 1. Walter Benjamins „Dialektik im Stillstand“ 151 10 H. H. Holz, „Prismatisches Denken“, in: Über Walter Benjamin, Frankfurt, Suhrkamp, 1968, S. 93. 11 W. Benjamin, „Zentralpark“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I. 2, op. cit., S. 682. 12 T. Meiffert, Die enteignete Erfahrung. Zu Walter Benjamins Konzept einer „Dialektik im Stillstand“, Bielefeld, Aisthesis Verlag, 1986, S. 139. 13 W. Benjamin, „Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. V. 1, op. cit., S. 56. 14 Ibid., S. 55. Vielfalt auf eine zentral gegliederte Ganzheit vornimmt, nennt Benjamin sie eine Monade.“ 10 Jede Idee, sagt Benjamin, enthält „das Bild der Welt“. Das Wort „Bild“ konnotiert den statischen Charakter der Idee und von Benjamins Dialektik insgesamt, die als ein Ensemble von Momentaufnah‐ men aufzufassen ist: „Das dialektische Bild ist ein aufblitzendes.“ 11 In ihm vereinigen sich die Extreme und lassen die Ambivalenz der Erscheinungen erkennen, die zu einem Kernthema von Benjamins Passagen-Arbeit wird. Mit Recht bemerkt Torsten Meiffert, „daß das Phänomen der Zweideutigkeit für das Passagen-Werk eine zentrale Rolle spielt“. 12 Im folgenden möchte ich zeigen, wie in diesem Werk Dialektik, Ambivalenz und Tauschwert (Warenfetischismus) zusammenhängen und wie Benjamin in einem mate‐ rialistischen Kontext die im Trauerspiel-Buch entworfene Dialektik als Theorie der extremen Ambivalenz weiterentwickelt. In „Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts“, kommt die dialektische Idee der Kunst dadurch zustande, daß zwei extreme, einander entgegenge‐ setzte Kunstformen, das lʼart pour lʼart und die Kunst als Ware, miteinander verknüpft werden. In Benjamins Darstellung erscheint die Ambivalenz des Kunstphänomens, das weder reine Kunst noch Ware, sondern beides zugleich ist: „Die Nonkonformisten rebellieren gegen die Auslieferung der Kunst an den Markt. Sie scharen sich um das Banner des ‚lʼart pour lʼart‘. Dieser Parole entspringt die Konzeption des Gesamtkunstwerks, das versucht, die Kunst gegen die Entwicklung der Technik abzudichten. Die Weihe, mit der es sich zelebriert, ist das Pendant der Zerstreuung, die die Ware verklärt.“ 13 Nur durch ein „Abschreiten der Extreme“ kommt diese dialektische - und durchaus materialistische - Idee der modernen Kunst zustande. Wie Zweideutigkeit, Dialektik und Marktgesetz zusammenhängen, erläu‐ tert Benjamin selbst in dem hier zitierten Text aus dem Passagen-Werk: „Zweideutigkeit ist die bildliche Erscheinung der Dialektik, das Gesetz der Dialektik im Stillstand. Dieser Stillstand ist Utopie und das dialektische Bild also Traumbild. Ein solches Bild stellt die Ware schlechthin: als Fetisch.“ 14 IV. Die Ästhetik der Kritischen Theorie: Von Benjamin zu Adorno 152 15 W. Benjamin, „Zentralpark“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I. 2, op. cit., S. 683. 16 W. Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I. 2, op. cit., S. 699. 17 B. Witte, Walter Benjamin - Der Intellektuelle als Kritiker. Untersuchungen zu seinem Frühwerk, Stuttgart, Metzler, 1976, S. 58-64. Bekannte Motive des junghegelianischen Denkens durchziehen diese Passage: Zweideutigkeit oder Ambivalenz, eine Dialektik ohne Aufhebung, Materialismus und Traum. Der Ausdruck „Dialektik im Stillstand“, den ich als Leitmotiv dieses Abschnitts gewählt habe, verweist auf das eingangs angeschnittene Problem des historischen Diskurses. Es gehört wohl zu den Paradoxien von Benja‐ mins Philosophie, daß dieser Diskurs, der bei Hegel alle Ambivalenzen und Antinomien integrieren sollte, schließlich selbst der extremen Ambivalenz zum Opfer fällt. Denn Geschichte erscheint in Benjamins Aufzeichnungen als ein zweideutiger Prozeß, in dem Fortschritt und Katastrophe Hand in Hand gehen: „Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren.“ 15 Dieser Satz ist dialektisch und antihegelianisch zugleich, weil aus dem Widerspruch zwischen Fortschritt und Katastrophe keine Synthese auf höherer Ebene hervorgeht. Auch in den „Geschichtsphilosophischen The‐ sen“ stellt Benjamin den historischen Prozeß als zweigleisige Bewegung dar, wenn er dem vulgärmarxistischen Begriff der Arbeit seine unkritische Einstellung zur Naturbeherrschung vorwirft und ihn schließlich mit dem der Faschisten verknüpft: „Er will nur die Fortschritte der Naturbeherrschung, nicht die Rückschritte der Gesellschaft wahrhaben. Er weist schon die technokratischen Züge auf, die später im Faschismus begegnen werden.“ 16 Wie bei Nietzsche und Kierkegaard wird hier gezeigt, daß die scheinbar guten Dinge mit den schlimmen „verknüpft, verhäkelt“ sind (Nietzsche) und daß sich aus dieser dialektischen Einheit der Gegensätze keine Synthese auf höherer Ebene bildet. Zu Recht spricht Bernd Witte von Benjamins „Kier‐ kegaardscher Wende“ 17 zur Subjektivität. Doch es handelt sich nicht nur um eine Wende zur Subjektivität, sondern auch und vielleicht vor allem um eine Abkehr von Hegels systematischer Dialektik, die den Junghegelianer Kierkegaard mit dem Erben der Junghegelianer Benjamin verbindet. Zum junghegelianischen Erbe von Benjamins Philosophie gehört neben der Kritik an der hegelianischen und vulgärmarxistischen Naturbeherr‐ schung die Aufwertung der Natur und des Objekts. Daß sich diese Aufwer‐ tung des Objekts bei Benjamin, der die Dinge beredt machen möchte und 1. Walter Benjamins „Dialektik im Stillstand“ 153 18 Siehe: R. Kager, Herrschaft und Versöhnung. Einführung in das Denken Theodor W. Adornos, Frankfurt-New York, Campus, 1988. Über die These, „daß die Dinge ihre eigene Sprache besitzen“, schreibt Kager: „Diese These wurde von Benjamin in einigen Aufsätzen entwickelt, die zunächst um die Überlegung kreisen, daß die Sprache nicht nur eine Darstellungsfunktion - was sie auf die Symbolik der Begrifflichkeit reduzierte -‚ sondern auch eine Ausdrucksfunktion besitze, die auch heute noch als Rest des mimetischen Vermögens anklinge: in der Körpersprache, im Tanz.“ (S. 205) 19 R. Tiedemann, Studien zur Philosophie Walter Benjamins, Frankfurt, Suhrkamp, 1973, S. 38. 20 Für einen herrschaftsfreien, „intentionslosen“ Wahrheitsbegriff spricht sich Benjamin aus, wenn er in einem idealistischen Kontext bemerkt: „Diese Sprache der intentionslo‐ sen Wahrheit (d. i. die Sache selbst) hat Autorität.“ An anderer Stelle erklärt er: „Im Wort liegt ‚Wahrheit‘(,) im Begriff intentio oder allenfalls Erkenntnis, Wahrheit keinesfalls.“ („Zur Sprachphilosophie und Erkenntniskritik“, in: Gesammelte Schriften, Bd. VI, op. cit., S. 50 und S. 15.) 21 W. Benjamin, „Über das Programm der kommenden Philosophie“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II. 1, op. cit., S. 160. von einer „Sprache der Dinge“ 18 spricht, implizit gegen Hegels Reduktion des Gegenstandes auf den Begriff richtet, ist schon Rolf Tiedemann aufgefallen: „Anders als Hegel, der Begriff und Ding als an sich identische auseinander entfaltet, besteht Benjamin auf der Dignität der Phänomene: allein ‚durch ihre Vermittlerrolle‘ fallen für ihn die Begriffe in den Prozeß der Wahrheit (…).“ 19 Wahre Erkenntnis ist „intentionslos“ 20 (herrschaftsfrei) und beläßt dem Gegenstand dessen Besonderheit. In diesem Zusammenhang nimmt es nicht wunder, daß sich Benjamin - ähnlich wie vor ihm Friedrich Theodor Vischer - Kants Position nähert, um das Verhältnis von Subjekt und Objekt jenseits des Identitätsdenkens neu zu definieren. In seinem Essay „Über das Programm der kommenden Philosophie“ geht es u. a. darum, durch eine Annäherung an Kant dem identifizierenden Logos zu entgehen und subjektive Erfahrung der Objekt‐ welt zu ermöglichen: „Damit ist die Hauptforderung an die gegenwärtige Philosophie aufgestellt und zugleich ihre Erfüllbarkeit behauptet: unter der Typik des Kantischen Denkens die erkenntnistheoretische Fundierung eines höheren Erfahrungsbegriffes vorzunehmen.“ 21 Der Bruch zwischen Subjekt und Objekt, von dem eine jede dialektische Philosophie ausgeht, soll nicht identifizierend getilgt, sondern mit Hilfe der Idee als Konstellation oder Konfiguration überbrückt werden. Diesen Vorgang stellt Marleen Stoessel anschaulich dar: „Der Bruch zwischen Subjekt und Objekt, Mensch und Natur, dem sich Geschichte verdankt (…), geht mimetisch-methodologisch in Sprache und Darstellung ein: in die IV. Die Ästhetik der Kritischen Theorie: Von Benjamin zu Adorno 154 22 M. Stoessel, Aura. Das vergessene Menschliche. Zur Sprache und Erfahrung bei Walter Benjamin, München, Hanser, 1983, S. 107. 23 W. Benjamin, „Zur Sprachphilosophie und Erkenntniskritik“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. VI, op. cit., S. 26. 24 Siehe: op. cit., S. 26-27. 25 Siehe: S. Mallarmé, Vers et prose, Paris, 10/ 18, 1961, S. 168-169: „(…) LʼEmploi élémentaire du discours dessert lʼuniversel reportage dont, la littérature exceptée, participe tout entre les genres dʼécrits contemporains.“ 26 Siehe: W. Benjamin, „Zur Sprachphilosophie und Erkenntniskritik“, in: ders., Gesam‐ melte Schriften, Bd. VI, op. cit., S. 50. Idee der Wahrheit als monadologische Konstellation ihrer Elemente, in die Sprachform des Denkbilds als allegorische Intention.“ 22 Die Kritik an Hegels identifizierendem Logos und die Annäherung an Kants Agnostizismus bringen nicht nur eine Aufwertung der Natur und des Objekts mit sich, sondern auch eine Akzentverschiebung von der In‐ haltszur Ausdrucksebene, vom vertauschbaren Signifikat zum einmaligen, vieldeutigen Signifikanten. Ein Denken in „Konstellationen“, „Konfiguratio‐ nen“, „Denkbildern“ und „Allegorien“, das (wie sich zeigen wird) Adorno nachhaltig beeinflußt hat, ist wohl das wichtigste Ergebnis dieser neuen kritisch-theoretischen Akzentsetzung. Daß die Ausrichtung des kritischen Diskurses auf die Ausdrucksebene unmittelbar aus Benjamins Auseinandersetzung mit Humboldts und Hegels sprachtheoretischem Logozentrismus hervorgeht, zeigen einige Bemerkun‐ gen aus seinen fragmentarischen Aufzeichnungen „Zur Sprachphilosophie und Erkenntniskritik“: „Humboldt übersieht selbstverständlich überall die magische Seite der Sprache. (…) Ihn beschäftigt an ihr nur das Objektiv- Geistige im Hegelschen Sinne.“ 23 Es ist sicherlich kein Zufall, daß Benjamin versucht, seinen Gedanken an eine „magische Seite der Sprache“ durch Hin‐ weise auf Mallarmé plausibel zu machen. 24 Denn kein anderer Dichter hat so kompromißlos gegen die Vertauschbarkeit des Wortes in der Alltagssprache, im „universel reportage“ 25 , gekämpft. Die magische Seite der Sprache, die bei Benjamin eine „Sprache der intentionslosen Wahrheit“ 26 ermöglichen soll, ist jenseits des abstrakten, vertauschbaren Begriffs anzusiedeln, in einem Bereich zwischen Inhalts- und Ausdrucksebene: im Denkbild, in der Konfiguration, in der Allegorie und im Namen, dessen einmaliger, unvertauschbarer Charakter Benjamins Sprachtheorie mit Prousts „poésie des noms“ verbindet. 1. Walter Benjamins „Dialektik im Stillstand“ 155 27 W. Benjamin, „Die Aufgabe des Übersetzers“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. IV. 1, op. cit., S. 14. 28 W. Benjamin, „Über das mimetische Vermögen“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II. 1, op. cit, S. 212. In diesem Zusammenhang ist auch Benjamins Aufsatz über „Die Aufgabe des Übersetzers“ zu lesen, in dem er für eine Übertragung der Wörter auf der Ausdrucksebene plädiert; für eine Übersetzung, die „die Art des Meinens“ zum Gegenstand hat: „In ‚Brot‘ und ‚pain‘ ist das Gemeinte zwar dasselbe, die Art, es zu meinen, dagegen nicht. In der Art des Meinens nämlich liegt es, daß beide Worte dem Deutschen und Franzosen je etwas Verschiedenes bedeuten, daß sie für beide nicht vertauschbar sind, ja sich letzten Endes auszuschließen streben (…).“ 27 Diese Sprach- und Übersetzungstheorie orientiert sich an sprachlicher Mimesis als Onomatopoese, und Benjamin stellt indirekt Saussures rationa‐ listisches Theorem vom „willkürlichen Charakter des Zeichens“ („lʼarbitraire du signe“) in Frage, wenn er in einem für ihn besonders wichtigen Fragment „Über das mimetische Vermögen“ erklärt: „Wenn nun die Sprache, wie es auf der Hand liegt, nicht ein verabredetes System von Zeichen ist, so wird man immer wieder auf den Gedanken zurückgreifen müssen, wie sie in ihrer primitivsten Form als onomatopoetische Erklärungsweise auftreten.“ 28 Zugleich mit „lʼarbitraire du signe“ wird hier indirekt auch Saussures These angezweifelt, die Sprache sei eine gesellschaftliche Konvention („habitude collective“). Die seit Hobbes in der rationalistischen Tradition gültige An‐ sicht, daß der Mensch mit Hilfe der Sprache (der Benennung) Natur und Objektwelt beherrscht, wird hier als Ideologem zurückgewiesen. Als Alternative stellt sich Benjamin eine Sprachtheorie vor, in der die Sprache des Menschen an den Dingen teilhat; deshalb nimmt die nichtrati‐ onalistische, onomatopoetische Auffassung des sprachlichen Zeichens für ihn eine besondere Bedeutung an. Das Wort hat am Gegenstand teil, wie der von Benjamin geschilderte Urmensch an ihm teilhat. Die Kunst des Steinzeitmenschen versucht Benjamin aus einer somatischen Mimesis, einer körperlichen Angleichung an das Objekt, zu erklären: „So sollte man sich fragen, ob die früheste Mimesis der Objekte in der tänzerischen und bildne‐ rischen Darstellung nicht weitgehend auf der Mimesis der Verrichtungen beruht, in denen der primitive Mensch zu diesen Objekten in Beziehung trat. Vielleicht zeichnet der Mensch der Steinzeit das Elentier nur darum so unvergleichlich, weil die Hand, die den Stift führte, sich noch des IV. Die Ästhetik der Kritischen Theorie: Von Benjamin zu Adorno 156 29 W. Benjamin, „Zur Ästhetik“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. VI, op. cit., S. 127. 30 W. Benjamin, „Lehre vom Ähnlichen“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II. 1, op. cit., S. 208. 31 Siehe z.B.: Paul Feyerabend, Wissenschaft als Kunst, Frankfurt, Suhrkamp, 1984, S. 76-78. 32 H. H. Holz, „Prismatisches Denken“, in: Über Walter Benjamin, op. cit., S. 74. Bogens erinnerte, mit dem sie das Tier erlegt hat.“ 29 Mimesis bedeutet hier also nicht - wie etwa bei Lukács - Nachahmung der Wirklichkeit oder Widerspiegelung, sondern Angleichung an das Objekt; deshalb spricht Benjamin von einer „Lehre vom Ähnlichen“. Um Mißverständnisse auszuschließen, sei zum Abschluß daran erinnert, daß weder Benjamin noch Adorno eine Auflösung der Theorie in der vor‐ rationalen Mimesis oder eine Verschmelzung des theoretischen Diskurses mit dem poetischen anstrebten. Die „magische Seite der Sprache“, von der Benjamin spricht, ist von der „semiotischen“ (der mitteilenden und begrifflichen) nicht zu trennen. Er selbst weist darauf hin, wenn er betont: „Diese, wenn man so will, magische Seite der Sprache wie der Schrift läuft aber nicht beziehungslos neben der anderen, der semiotischen, einher. Alles Mimetische der Sprache ist vielmehr eine fundierte Intention, die überhaupt nur an etwas Fremdem, eben dem Semiotischen, Mitteilenden der Sprache als ihrem Fundus in Erscheinung treten kann.“ 30 Diese Passage ist deshalb wichtig, weil sie klar erkennen läßt, daß Benjamin und Adorno trotz ihrer Versuche, den theoretischen Diskurs auf die Ausdrucksebene der Sprache auszurichten, nicht von irrationalistischen Ansätzen im Sinne von Paul Feyerabend 31 zu vereinnahmen sind, die Theorie und Wissenschaft in der Kunst aufgehen lassen. Hans Heinz Holz hat zwar recht, wenn er Benjamins Denken „auf der Grenzscheide von Literatur und Philosophie“ 32 ansiedelt; dieser Ausdruck sollte aber so verstanden werden, daß Benjamin versucht, zwischen Logos und Mimesis, Philosophie und Literatur dialektisch zu vermitteln. Er sollte nicht das gängige Vorurteil stärken, dem zufolge Benjamin und Adorno eine Ästhetisierung der Theorie oder gar deren Auflösung in Literatur, Kunst und Mimesis anstreben. 2. Eine Ästhetik des „Schocks“ Das Schockerlebnis, das in Benjamins Ästhetik zentral ist, ist der dialekti‐ schen Verknüpfung der Gegensätze und dem „Aufblitzen der Idee“ homolog: 2. Eine Ästhetik des „Schocks“ 157 33 W. Benjamin, „Das Paris des Second Empire bei Baudelaire“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1. 2, op. cit., S. 603. 34 Ibid. „Wo das Denken in einer von Spannungen gesättigten Konstellation plötz‐ lich einhält, da erteilt es derselben einen Chok.“ (s. o.) Analog zur kritischen Philosophie inszeniert kritische Literatur - etwa die Baudelaires, Brechts oder der Surrealisten - Schockerlebnisse, die den Leser wachrütteln und die harmonische Totalität des klassischen oder den homogenen Stil des romantischen Kunstwerks zerstören. Wie Bachtin stellt Benjamin die von Hegel gepriesene klassische Harmo‐ nie in Frage, indem er die Ambivalenz, die Antinomie und die Heterogenität des Kunstwerks in Erscheinung treten läßt. Der Dialektik im Stillstand, der Dialektik ohne Aufhebung und System entspricht eine antinomische Ästhe‐ tik, die sich wie die Kunsttheorien der Junghegelianer an der Ambivalenz, der Antinomie und dem Schockerlebnis orientiert. Rabelaisʼ unerwartete Verknüpfung von Lob und Tadel, von Ehrung und Beleidigung, die Bachtin in einem karnevalistischen Kontext kommentiert, ist mit Benjamins „Schock“ verwandt, der ebenfalls von der Zusammenfüh‐ rung zweier unvereinbarer Werte in der extremen Ambivalenz bewirkt wird. Sie gehört dem Repertoire der Avantgarde an, die darauf aus ist, die harmonische Totalität der Klassik durch Dissonanzen zu sprengen. In seinen Kommentaren zur Lyrik Baudelaires erklärt Benjamin den Schock als ein Erlebnis der „karnevalistischen“ (Bachtin) Kollision unverein‐ barer Werte, der unerwarteten, da von Ideologien verdeckten Vereinigung der Gegensätze: „Die Fleurs du mal sind das erste Buch, das Worte nicht allein prosaischer Provenienz, sondern städtischer in der Lyrik verwertet hat.“ 33 Benjamin zitiert Wörter wie „quinquet“, „wagon“ und „omnibus“. Die jähe coincidentia oppositorum soll Baudelaires Sprachduktus erklären. „Wenn der Sprachgeist von Baudelaire irgendwo dingfest zu machen ist, so in dieser brüsken Koinzidenz“, schreibt er in seinem Essay „Die Moderne“. 34 Die enge Beziehung zwischen „Koinzidenz“, „Schock“ und „Karneval“ wird in „Über einige Motive bei Baudelaire“ verdeutlicht. Dort werden die karnevalistischen Aspekte des Schockerlebnisses sichtbar sowie die Beziehung zwischen Benjamins und Bachtins Theoremen, die sich an der offenen, unaufhebbaren Antinomie orientieren und deren Verwandtschaft noch am ehesten im junghegelianischen Kontext zu verstehen ist. Über Poes und Ensors Einstellung zu den Massen bemerkt Benjamin: „Später ist James IV. Die Ästhetik der Kritischen Theorie: Von Benjamin zu Adorno 158 35 Ibid., S. 629. 36 Ch. Baudelaire, „Mon cœur mis à nu“, in: ders., Œuvres Complètes, Bd. I, Paris, Gallimard, Bibl. de la Pléiade, 1975, S. 678. Ensor nicht müde geworden, Disziplin und Wildheit in ihr (der Großstadt‐ menge) zu konfrontieren. Er baut mit Vorliebe Militärverbände in seine karnevalesken Banden ein. Beide vertragen sich miteinander vorbildlich. Nämlich als Vorbild der totalitären Staaten, in denen die Polizei mit den Plünderern geht.“ 35 Im Unterschied zu Bachtin, dessen Interpretationen sich zu sehr an der traditionellen Institution des Karnevals oder an der literarischen Kar‐ nevalstradition orientieren und die Modernität Poes, Ensors oder Baudelai‐ res nicht erklären können, stellt Benjamin eine Beziehung zwischen dem karnevalistischen Schockerlebnis und den Marktgesetzen her. Die Fähigkeit, die Gegenstände ihrem ursprünglichen Zusammenhang zu entfremden, ist für eine moderne Dichtung charakteristisch, die darauf abzielt, durch Schockwirkung die kontemplative, auratische Distanz zwischen Kunstwerk und Rezipient zu eliminieren und gegensätzliche Qualitäten miteinander zu verknüpfen. Die Schockwirkung, die von Baudelaires Gedichten ausgeht, kommt dadurch zustande, daß zusammengeführt wird, was die offizielle Kultur mit Hilfe ihrer Tabus getrennt hat. Indem Baudelaire die kulturellen und ideo‐ logischen Tabus zertrümmert, deckt er den Warencharakter der modernen Kultur auf. Bei ihm verschmelzen Religion und Prostitution, das Heilige und das Profane, Christentum und Heidentum, Wahrheit und Aberglaube in einer karnevalisierten Sprache: Analyse des contre-religions, exemple: la prostitution sacrée. Quʼest-ce que la prostitution sacrée? Excitation nerveuse. Mysticité du paganisme. Le mysticisme, trait dʼunion entre le paganisme et le christianisme. Le paganisme et le christianisme se prouvent réciproquement. La révolution et le culte de la Raison prouvent lʼidée du sacrifice. La superstition est le réservoir de toutes les vérités. 36 Baudelaire faßt den Schock wörtlich auf, wenn er die Schockerlebnisse des Flaneurs in der Großstadtmenge beschreibt. Der Flaneur, sagt Benjamin in seinen Baudelaire-Kommentaren, „ist ein Preisgegebener der Menge“; aber 2. Eine Ästhetik des „Schocks“ 159 37 W. Benjamin, „Das Paris des Second Empire bei Baudelaire“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I. 2, op. cit., S. 557. 38 Siehe: J.-P. Sartre, „LʼEngagement de Mallarmé“, in: Obliques Sartre, 1979, S. 177. 39 W. Benjamin, „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I. 2, op. cit., S. 479. diese Menge ist nicht die einsame Masse Riesmans oder die revoltierende Masse Ortegas; es ist die anonyme, vom Markt zusammengewürfelte Menge der Kunden, von denen ein jeder seine Ware sucht. Der Flaneur selbst verwandelt sich in eine Ware und macht ähnliche Metamorphosen durch wie die zur Ware gewordene Kunst: „Der Flaneur ist ein Preisgegebener der Menge. Damit teilt er die Situation der Ware.“ 37 An dieser Stelle formuliert Benjamin einen Gedanken, der bei Bachtin implizit bleibt: daß es eine enge Beziehung zwischen der anonymen Menge und dem Markt gibt, und parallel dazu eine Beziehung zwischen der karne‐ valistischen Ambivalenz (etwa den „cris de Paris“, die Rabelais in seine Texte aufnimmt) und der Vermittlung durch den Tauschwert. Ähnlich wie Bachtin wandelt er die Ambivalenz als Krisenprinzip in ein kritisches Instrument um, mit dessen Hilfe er in seinen Kommentaren kultu‐ relle Werte zusammenführt, deren Trennung die herrschenden Ideologien vorschreiben. Er zeigt beispielsweise, daß die Kommerzialisierung der Literatur die Doktrin des lʼart pour lʼart ergänzt (s. o.). Damit antizipiert er einige kritische Argumente aus Sartres Aufsatz „LʼEngagement de Mallarmé“. 38 Mehr noch als dem späteren Sartre geht es Benjamin darum, den gesellschaftlichen Kontext in seine Überlegungen einzubeziehen. Der Kontext der Moderne aber ist der des Marktes und des Tauschwerts; nur im Zusammenhang mit ihnen sind Ambivalenz und coincidentia oppositorum zu erklären. Sie bilden den Ausgangspunkt von Benjamins und Bachtins Kritik an der auratischen, traditionellen und monologischen Kunstform, die vom religiö‐ sen Kultzusammenhang und vom Ritual nicht zu trennen ist. Benjamins Kritik der Aura und der auratischen Kunst geht von dem karnevalistischen Gedanken aus, daß es in der modernen Gesellschaft unmöglich ist, die Distanz zu erhalten, die die kulturellen Werte voneinander trennt und für ihre Einmaligkeit oder Unvergleichbarkeit bürgt. Einmaligkeit und Distanz sind die zwei wesentlichen Komponenten der Aura: „Diese letztere definieren wir als einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag.“ 39 Man denke an eine heilige Stätte oder eine Ikone, der man sich nur nähern kann, indem man eine beschwerliche Pilgerfahrt auf sich nimmt, und noch am Ziel angelangt, eine unüberbrückbare Distanz IV. Die Ästhetik der Kritischen Theorie: Von Benjamin zu Adorno 160 40 Auch in neueren Kommentaren wird technische Reproduzierbarkeit der Kunst in den Medien für den Niedergang der Aura verantwortlich gemacht. Dabei wird die markt- und medienbedingte Karnevalisierung als destruktive Kraft übersehen: Vgl. H.-G. von Seggern, „Die Aura im Zeitalter ihrer theoretischen Beliebigkeit. Überlegungen zu einer untoten ästhetischen Kategorie“, in: R. Reschke (Hrsg.), Ästhetik. Ephemeres und Historisches. Beiträge zur Diskussion, Hamburg, Vlg. Dr. Kovač, 2002, S. 145: „Der Begriff des Originals verliert im Zeitalter massenhafter Reproduktion seinen Sinn und mit ihm die an ihn gekoppelte Vorstellung der Aura.“ 41 Ibid., S. 479-480. verspürt. Aber man sollte die von Benjamin vorgeschlagene räumliche Definition der Aura, die sich primär auf die bildenden Künste zu beziehen scheint, nicht wörtlich nehmen, sondern sie metaphorisch lesen: Einmalig‐ keit und Distanz sind nicht nur räumlich aufzufassen, sondern auch (und im literarischen Bereich vor allem) semantisch und ideologisch. In der Marktgesellschaft, in der die Kunst heteronomen Gesetzen ausge‐ liefert ist, werden Einmaligkeit und auratische Distanz vor allem durch die Verknüpfung der Kunst mit ihrem Anderen, mit ihrem Negat, zerstört. Die Übertragung des literarischen Textes in andere Medien etwa kommt der Reduktion auf ein heteronomes Prinzip gleich. 40 Die Verfilmung der Novelle Tod in Venedig verwandelt diese in ein kommerzialisierbares Klischee und hebt die Distanz auf, die einen Text Thomas Manns von den Mythen der Kulturindustrie trennt. „Die Entschälung des Gegenstandes aus seiner Hülle, die Zertrümmerung der Aura, ist die Signatur einer Wahrnehmung, deren Sinn für das Gleichartige in der Welt so gewachsen ist, daß sie es mittels der Reproduktion auch dem Einmaligen abgewinnt.“ 41 In der karnevalisierten Wahrnehmung, in der (wie Bachtin zeigte) Lob und Tadel, Leben und Tod, König und Narr schließlich miteinander verschmel‐ zen, bildet der Tauschwert den gemeinsamen Nenner aller Qualitäten. Er beschleunigt die Verknüpfung und Verwandlung unvereinbarer Werte und setzt sich über die Distanz, die Einmaligkeit und die vom Monolog verbürgte qualitative Differenz hinweg. Er ist dafür verantwortlich daß alle Qualitäten kommensurabel werden: in bezug auf die Quantität, die den Tauschvorgang ermöglicht. Bei Benjamin und Bachtin werden der Schock und das Lachen zu befreien‐ den, kritischen Elementen, und die Ambivalenz als coincidentia oppositorum wird zum movens des dialektischen und dialogischen Diskurses. Parallel zu Bachtin, der die karnevalistische Ambivalenz gegen den monologischen Ernst der herrschenden Kultur ausspielt, erblickt Benjamin im Ausstellungs‐ 2. Eine Ästhetik des „Schocks“ 161 42 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, Gesammelte Schriften, Bd. 7, Frankfurt, Suhrkamp 1970, S. 73. 43 W. Benjamin, „Über einige Motive bei Baudelaire“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I. 2, op. cit., S. 653. 44 Siehe: L. Wawrzyn, Walter Benjamins Kunsttheorie. Kritik einer Rezeption, Darm‐ stadt-Neuwied Luchterhand, 1973, S. 34. 45 W. Benjamin, „Kleine Geschichte der Photographie“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II. 1, op. cit., S. 378. wert, der aus der technischen Reproduzierbarkeit der Kunstwerke und der Angleichung der Werte hervorgeht, eine Alternative zum Kultwert, zum auratischen Wert, der von der absoluten Differenz und der Distanz der Werte nicht zu trennen ist. Als erster wies wohl Adorno auf die enge Beziehung zwischen Ausstel‐ lungswert und Marktgesetz hin: „Der ‚Ausstellungswert‘, der da den aurati‐ schen ‚Kultwert‘ ersetzen soll, ist eine imago des Tauschprozesses. Diesem ist Kunst, die dem Ausstellungswert nachhängt, zu Willen, ähnlich wie die Kategorien des sozialistischen Realismus dem Status quo der Kulturindustrie sich anbequemen.“ 42 Der Ausstellungswert, den Benjamin als Bestandteil einer demokrati‐ schen Ästhetik darstellt, als ein Mittel, dessen sich die moderne Kunst bedienen sollte, um sich bei den Massen Gehör zu verschaffen, erscheint aus Adornos Sicht als ein Produkt des Marktes. In seinen Baudelaire-Kom‐ mentaren muß Benjamin diese „List des Tauschwerts“ erkannt haben, als er schloß: „Das Einverständnis mit dieser Zertrümmerung (der Aura im Schockerlebnis, P. V. Z.) ist ihn teuer zu stehen gekommen.“ 43 Trotz einer gewissen Nostalgie, mit der Benjamin vor allem in seinen Bemerkungen zu Prousts „unwillkürlicher Erinnerung“ das Aura-Phänomen betrachtet (einer Nostalgie, die Autoren wie Lienhard Wawrzyn nicht wahrhaben wollen) 44 , könnte von seiner Komplizenschaft mit dem Ausstel‐ lungswert die Rede sein. Erwartet er nicht vom Film und von der Fotografie, daß sie die letzten auratischen Elemente im ästhetischen Bereich zerstören? Schreibt er nicht über Atget: „Er reinigt die Atmosphäre, ja bereinigt sie: er leitet die Befreiung des Objekts von der Aura ein, die das unbezweifelbarste Verdienst der jüngsten Photographenschule ist.“ 45 Dieses Verdienst spricht er bekanntlich auch den französischen Surrealisten zu, deren Textmontagen und Collagen die karnevalistische Ambivalenz ins Semantische projizieren. Die Synthese von Text und Fotografie (etwa in Bretons Nadja) macht das surrealistische Werk für die kontemplative IV. Die Ästhetik der Kritischen Theorie: Von Benjamin zu Adorno 162 46 W. Benjamin, „Der Surrealismus“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II. 1, op. cit., S. 301. 47 Siehe: W. Benjamin, „Was ist das epische Theater? “, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II. 2, op. cit., S. 524: „Für das epische Theater steht daher die Unterbrechung der Handlung im Vordergrund.“ Rezeption durch das Bürgertum ungeeignet: „Nadja ist ein Exponent dieser Massen und dessen, was sie revolutionär inspiriert.“ 46 Nicht die Integration des Surrealismus in die museale Kunst ist hier wichtig; auch nicht seine Ausbeutung durch die Werbung: sondern Benjamins Überzeugung, daß die Fotografie, die surrealistische Avantgarde und Brechts episches Theater mit seinen Unterbrechungen der Handlung und seinen Verfremdungseffekten 47 die Ära einer neuen, nicht-auratischen Kunst ankündigen, weil sie das Kollektivbewußtsein ansprechen und als Katalysatoren im revolutionären Prozeß wirken könnten. An dieser Stelle treten Affinitäten und Widersprüche zwischen Benjamins und Adornos ästhetischen Positionen in Erscheinung. Zugleich kristallisiert sich die globale Aporie heraus, die Benjamins Ästhetik zugrunde liegt: Einerseits wendet er sich als „Junghegelianer“, als Gegner der Hegelschen Aufhebung und der Synthese, gegen eine klassizistische Ästhetik hegeliani‐ scher Provenienz, die nur das vollendete, eindeutig bestimmbare Kunstwerk gelten läßt. - Darin stimmt er mit Adorno überein. Andererseits versucht er, die moderne Kunst der Avantgarde mit Hilfe des Ausstellungswerts zu legitimieren, der „den Sinn für das Gleichartige“ stärkt, den Trend zur ästhetischen Wertindifferenz beschleunigt und eine Konzession an die Kulturindustrie ist. - Darin weicht er von Adorno ab. In dem hier skizzierten Zusammenhang wird deutlich, daß Benjamins und Adornos Ästhetiken innerhalb der literarischen Evolution und Kanon‐ bildung zwei heterogene Modelle anvisieren, die zumindest teilweise die Meinungsverschiedenheiten erklären, die sporadisch zwischen den beiden Autoren ausbrachen. Während der messianische Materialist Benjamin sich auf den Standpunkt der französischen und deutschen Avantgarde stellt und die autonome Kunstform zusammen mit der kontemplativen Rezeption durch den Bildungsbürger radikal in Frage stellt, verteidigt Adorno trotz seiner Sympathie für die Surrealisten und Beckett den autonomen Kunstbe‐ griff Prousts, Valérys, Mallarmés und Georges. Im folgenden wird sich allerdings zeigen, daß er sich im Gegensatz zu den New Critics oder den russischen Formalisten nicht einseitig auf die Kantsche Position zurückzieht, sondern wie keiner vor oder nach ihm zwi‐ 2. Eine Ästhetik des „Schocks“ 163 48 Adornos Position zwischen Kant und Hegel stellt z. B. M. Zenck in Kunst als begriffslose Erkenntnis, München, Fink, 1977, S. 97-98 dar: „Wenn man will, so ist Adornos ‚Ästhe‐ tische Theorie‘ ein konsequent gegen Hegel gerichteter Kant.“ Noch konkreter stellt R. Kager Adornos Rekurs auf Kant in Herrschaft und Versöhnung. Einführung in das Denken Theodor W. Adornos, Frankfurt-New York, Campus, 1988, S. 212 dar: „Gegen die Emphase der Hegelschen Ästhetik auf die inhaltliche Seite des Kunstwerks restituiert Adorno also die Bedeutung ihrer formalen Komponenten, die in Kants ‚Kritik der Urteilskraft‘ noch wesentlich deren Bestimmung ausmachten, freilich mit der Einschränkung, daß ihm Kunstwerke im Gegensatz zur Kantischen Rezeptionsästhetik keineswegs nur als Wohlgefallen erregende Genußmittel erscheinen.“ schen Hegels Begrifflichkeit (Wahrheitsgehalt) und Kants Begriffslosigkeit (Sinn-Negation) dialektisch zu vermitteln sucht. 3. Negative Dialektik: Ratio und Mimesis Daß Adornos Philosophie als ständige Pendelschwingung zwischen dem Pol des Kantschen Agnostizismus und dem Pol der Hegelschen Totalitätser‐ kenntnis zu beschreiben ist, fiel in der Vergangenheit Autoren wie Martin Zenck (1977), Rüdiger Bubner (1979), Josef Früchtl (1986) und Reinhard Kager (1988) auf. 48 In den folgenden Abschnitten wird keine systematische Darstellung von Adornos Kant- und Hegelkritik angestrebt, die zum Ge‐ genstand einer umfangreichen Arbeit werden könnte; vielmehr kommt es darauf an zu zeigen, wie Adorno, von „junghegelianischen“ Prämissen ausgehend, das Hegelsche Identitätsdenken aufzubrechen sucht und wie er sich als Erbe Hegels wesentliche Gedanken der Kantschen Philosophie aneignet. Dabei spielt sein Verhältnis zu den Junghegelianern, zu Kierkegaard und Nietzsche eine wichtige Rolle. In der seit einigen Jahren ausufernden Sekundärliteratur scheint dieses Verhältnis noch nicht gebührend berück‐ sichtigt worden zu sein. In dem hier entworfenen Zusammenhang nimmt es jedoch eine besondere Bedeutung an. Schließlich könnte gezeigt werden, daß trotz der grundsätzlichen Unvereinbarkeit ihrer beiden philosophischen Standpunkte Adornos und Croces Kunstbegriffe Ähnlichkeiten aufweisen, die aus der Kritik an Hegels ästhetischem Logozentrismus ableitbar sind: Sowohl Adorno als auch Croce erscheint das Kunstwerk als etwas Einmaliges, das in keiner begrifflichen Abstraktion aufgeht. Rüdiger Bubner erinnert mit Recht daran, daß die gesamte erkenntnis‐ theoretische Problematik der Kritischen Theorie in dem eingangs erwähnten IV. Die Ästhetik der Kritischen Theorie: Von Benjamin zu Adorno 164 49 R. Bubner, „Kann Theorie ästhetisch werden? “, in: Materialien zur ästhetischen Theorie. Th. W. Adornos Konstruktion der Moderne (Hrsg. B. Lindner und W. M. Lüdke), Frankfurt, Suhrkamp, 1979, S. 119-120. 50 Siehe: O. K. Werckmeister, „Das Kunstwerk als Negation. Zur geschichtlichen Bestim‐ mung der Kunsttheorie Theodor W. Adornos“, in: ders., Ende der Ästhetik, Frankfurt, Fischer, 1971, S. 29; siehe auch: J. Früchtl., Mimesis. Konstellation eines Zentralbegriffs bei Adorno, Würzburg, Königshausen und Neumann, 1986, S. 244: „Da Adorno sich der Kritik an der schematisch subsumierenden Urteilskraft anschließt, nähert er sich einer Vermittlung, wie Hegel sie konzipiert hat, bleibt aber doch so weit Kantianer, wie er sie wiederum an die reflektierende Urteilskraft zurückbindet.“ 51 Th. W. Adorno, Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, op. cit., S. 49. Oszillieren zwischen Kants und Hegels Standpunkten besteht und jung‐ hegelianischen Ursprungs ist: „Das allgemeine Programm der kritischen Theorie bewegt sich innerhalb einer Spannung, deren Extreme durch Kants Lehre vom Ding an sich und Hegels absoluten Begriff gekennzeichnet sind, während das Feld der Austragung jener Spannung von Marx und den Junghegelianern bereitet ist.“ 49 Ähnlich beurteilen Werckmeister, Zenck und Früchtl die Ausgangsposition Adornos. 50 Diese soll im folgenden als eine dialektische und ästhetische Auseinan‐ dersetzung mit Hegel und Kant und als Vermittlungsversuch zwischen Inhaltsebene und Ausdrucksebene dargestellt werden. Obwohl ich mir keinen systematischen Vergleich zwischen Adornos ästhetischer Theorie und neueren semiotischen Ansätzen vornehmen kann, sollte - gleichsam am Rande der Betrachtung - klarwerden, wie Adorno die semiotische Pro‐ blematik antizipiert, die ebenfalls im Spannungsverhältnis von Inhaltsebene und Ausdrucksebene anzusiedeln ist, von einigen Semiotikern (von Bense bis Barthes) allerdings recht einseitig, reduktionistisch behandelt wird. Adornos Arbeit über Sören Kierkegaard, die Ende der 20er Jahre entstand, im Jahre 1931 von der Frankfurter Universität als Habilitationsschrift an‐ genommen wurde und im Jahre 1933 erschien, läßt die Bedeutung der junghegelianischen Kritik für den jungen Philosophen erkennen. Er nimmt sich vor, Kierkegaards mißglückte Kritik des Hegelschen Identitätsdenkens wieder aufzugreifen und zu vollenden: „Kierkegaard hat nicht das Hegelsche Identitätssystem ‚überwunden‘; Hegel ist bei ihm nach innen geschlagen, und Kierkegaard erreicht die Realität am ehesten, wo er an Hegels histori‐ scher Dialektik festhält.“ 51 In der Ablehnung des Systems und des Identitätsdenkens weiß sich Adorno mit dem Junghegelianer Kierkegaard einig; er lehnt jedoch dessen 3. Negative Dialektik: Ratio und Mimesis 165 52 Siehe: ibid., S. 60-69. 53 I. Wohlfarth, „Dialektischer Spleen. Zur Ortsbestimmung der Adornoschen Ästhetik“, in: Materialien zur ästhetischen Theorie, op. cit., S. 318. 54 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Gesammelte Schriften, Bd. 6, op. cit., S. 145. „Verinnerlichung“ der Dialektik und der Geschichte durch die Vorstellung einer „inneren Geschichte“ der Person, des Individuums, ab. Er hält an we‐ sentlichen Komponenten von Kierkegaards Hegel-Kritik fest und versucht zugleich, diese Kritik vom idealistischen und individualistischen Gehäuse der Innerlichkeit zu befreien und auf eine materialistische Ebene zu proji‐ zieren. 52 Daher scheint mir Irving Wohlfarths Frage, „ob Adorno nicht selber eine materialistische Reinkarnation des Kierkegaardschen Subjekts ist“ 53 , nicht unberechtigt zu sein. Isoliert betrachtet läuft sie jedoch auf eine unzulässige Reduktion des Zusammenhangs hinaus, denn Adorno ist kein „materialistischer Kierkegaard“, sondern jemand, der sich vornimmt, die gesamte junghegelianische (d. h. auch die Kierkegaardsche) Hegelkritik zu Ende zu führen. Aus dieser Kritik geht eine negative Dialektik hervor, die die Hegelsche Aufhebung als systembildendes positives Prinzip ausschließt: „Solche Dia‐ lektik ist negativ. Ihre Idee nennt die Differenz von Hegel. Bei diesem koinzidierten Identität und Positivität; der Einschluß alles Nichtidentischen und Objektiven in die zum absoluten Geist erweiterte und erhöhte Subjek‐ tivität sollte die Versöhnung leisten.“ 54 Hegels Kerngedanke, daß die Entfremdung in der modernen Gesellschaft als Bruch zwischen Subjekt und Objekt durch totales, absolutes Wissen zu überwinden sei, wird hier mit Marx, Feuerbach und Ruge in einem mate‐ rialistischen Kontext kritisiert. Hegels absolutes Wissen, seine Vorstellung von einem allwissenden Subjekt, das die Welt als eigene Selbstentäußerung (als eigenes Produkt) erkennt, ist Ideologie: Apologie der unversöhnten wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse, die den individuellen Subjek‐ ten ihre Freiheit vorenthalten. Daß Adorno eher als radikaler, materialistischer „Junghegelianer“ denn als „Marxist“ zu verstehen ist, zeigt seine Kritik an einigen hegelianischen Schlüsselbegriffen des marxistischen Diskurses, die diesen zu dem machen, was er ist. Gesellschaftliche Totalität und Geschichte, mit denen sich Marx und Engels hegelianisch identifizieren, statt sie als Herrschafts- und Ver‐ blendungszusammenhänge zu erkennen, werden in der Negativen Dialektik IV. Die Ästhetik der Kritischen Theorie: Von Benjamin zu Adorno 166 55 Ibid., S. 315. 56 Ibid., S. 146. 57 Ibid. 58 Siehe: z. B. L. Goldmann, „La Mort dʼAdorno“, in: La Quinzaine littéraire 1-15. Sept. 1969. (1966) im Namen der Nichtidentität und der Negativität in Frage gestellt: „Es ging um die Vergottung der Geschichte, auch bei den atheistischen He‐ gelianern Marx und Engels. Der Primat der Ökonomie soll mit historischer Stringenz das glückliche Ende als ihr immanent begründen (…).“ 55 Nicht nur der Ökonomismus wird hier zurückgewiesen, sondern auch die hegelianische Teleologie und die revolutionäre Immanenz: der Gedanke, daß bestehende Widersprüche über den status quo auf das telos der klassenlosen Gesellschaft hinausweisen. Als Alternative konzipiert Adorno eine negative, offene Dialektik, die nicht nur die Nichtidentität und die Zurückweisung der Immanenz (Geschichte als Selbstbefreiung des menschlichen Subjekts) kennzeichnen, sondern auch die Auflösung des marxistischen Nexus von Theorie und Praxis. Wie diese Auflösung mit dem kritischen Postulat der Nichtidentität zu‐ sammenhängt, wird in der Negativen Dialektik in einem junghegelianischen (linkshegelianischen) Kontext klar. Nichtidentität ist keine „unerhebliche Nuance“ oder gar Abweichung des Linkshegelianismus, sondern Ausgangs‐ punkt einer radikalen Kritik an Hegel und dem marxistischen Hegelianis‐ mus: „Karl Korsch zuerst, dann Funktionäre des Diamat haben eingewandt, die Wendung zur Nichtidentität sei, ihres immanent-kritischen und theore‐ tischen Charakters wegen, eine unerhebliche Nuance des Neohegelianismus oder der geschichtlich überholten Hegelschen Linken (…).“ 56 Gegen diesen Versuch, Nichtidentität auf ein „rein theoretisches Problem“ zu reduzieren, wendet Adorno ein: „Die Forderung der Einheit von Praxis und Theorie hat unaufhaltsam diese zur Dienerin erniedrigt; das an ihr beseitigt, was sie in jener Einheit hätte leisten sollen.“ 57 Festzuhalten ist an dem Gedanken, daß Adornos Hegelkritik in eine radikale Kritik am hegelianischen Marxismus mündet, der Begriffe wie „Identität“ (zwischen Subjekt und Objekt), „Totalität“ (der wahre Zusam‐ menhang) und „Immanenz“ (des kritisch-revolutionären Gedankens) zum Opfer fallen. Nur vor diesem Hintergrund ist die hegelianisch-marxistische Kritik Lukácsʼ und Goldmanns an Adorno zu verstehen 58 , die ihr Pendant in einer hegelianischen Ästhetik hat, welche letztlich den literarischen Text mit dem Begriff identifiziert. (Siehe Kap. II. 2, 4.) 3. Negative Dialektik: Ratio und Mimesis 167 59 Th. W. Adorno, Drei Studien zu Hegel, Gesammelte Schriften, Bd. 5, op. cit., S. 250. 60 Ibid., S. 250. In diesem Kontext wird auch Adornos junghegelianische Aktualisierung der Kantschen Philosophie verständlich, die im ästhetischen Bereich von Friedrich Theodor Vischer antizipiert wurde, den Adorno in der Ästhetische Theorie (1970) mehrmals erwähnt. (Siehe weiter unten.) Schon in den Aufsätzen über Hegel, die in den späten 1950er und frühen 60er Jahren entstanden sind und von denen der Autor selbst sagt, „Absicht des Ganzen (sei) die Vorbereitung eines veränderten Begriffs von Dialektik“ (1963) 59 , wird Kants Agnostizismus, sein Denken in „Schranken“ und „Brüchen“, gegen den Herrschaftsanspruch und den Logozentrismus von Hegels Iden‐ titätsphilosophie ausgespielt. Von Hegel, der die Überwindung des Kantschen Dualismus anstrebte, heißt es dort: „Ihm stieß nicht auf, daß die Kantischen Brüche eben jenes Moment der Nichtidentität verzeichnen, das zu Hegels eigener Fassung der Identitätsphilosophie unabdingbar hinzugehört.“ 60 Obwohl er es immer wieder zur Sprache bringt, setzt sich Hegel schließlich über das Besondere und Nichtidentische hinweg; dadurch wird sein eigenes System partikular wie jede Form von Herrschaft. Angesichts dieser identifizierenden Herrschaft des Begriffs, die in Hegels System die Naturbeherrschung und die Herrschaftsverhältnisse in der un‐ versöhnten Wirklichkeit reproduziert, wendet sich Adorno in der Negativen Dialektik Kants Vernunftkritik zu, die die Ansprüche des Subjekts, die objektive Wirklichkeit als solche zu erkennen, in die Schranken weist. Kants „Schranke“, seine Einschränkung des subjektiven Erkenntnisan‐ spruchs (vgl. Kap. I. 1), ist insofern für Adornos negative Dialektik konsti‐ tutiv, als sie es ihr gestattet, Hegels These von der Subjekt-Objekt-Identität grundsätzlich in Frage zu stellen; auf die Gefahr hin, daß das Totalitäts‐ prinzip verletzt wird, daß das Subjekt mit einem ihm fremden Residuum konfrontiert bleibt und daß Dialektik undialektisch wird: „Ohne Identitäts‐ these ist Dialektik nicht das Ganze; dann aber auch keine Kardinalsünde, sie in einem dialektischen Schritt zu verlassen. Es liegt in der Bestimmung negativer Dialektik, daß sie sich nicht bei sich beruhigt, als wäre sie total; das ist ihre Gestalt von Hoffnung. Kant hat in der Lehre vom transzendenten Ding an sich jenseits der Identifikationsmechanismen davon etwas aufge‐ IV. Die Ästhetik der Kritischen Theorie: Von Benjamin zu Adorno 168 61 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, op. cit., S. 398. 62 B. Scholze, Kunst als Kritik. Adornos Weg aus der Dialektik, Würzburg, Königshausen und Neumann, 2000, S. 7. 63 Siehe: Th. W. Adorno, Negative Dialektik, op. cit., S. 378-379. 64 M. Horkheimer, Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Gesammelte Schriften, Bd. 3, op. cit., S. 25. zeichnet.“ 61 In diesem Zusammenhang spricht Britta Scholze zu Recht von „Adornos Weg aus der Dialektik“. 62 Freilich sollten Adornos Rekurse auf Kant als einen Philosophen der Nichtidentität nicht seine Kantkritik verdecken, die durchaus dialektisch im Sinne von Hegel ist: Adorno stellt grundsätzlich Kants Denken in Dichotomien in Frage, insbesondere den Form-Inhalt-Dualismus, der allen Versuchen, die Entwicklung der Formen zu erklären, im Wege steht. 63 Nicht diese Kantkritik ist hier jedoch wesentlich, sondern Kants Zurückweisung des Identitätspostulats, sein Beharren auf der Subjektivität der Erkenntnis‐ kategorien. Beide sind für Adornos Ästhetik wesentlich, die sich - wie sich zeigen wird - mit Kant gegen Hegels Reduktion der Natur auf das Kunstschöne und gegen seine begriffliche Vereinnahmung des Kunstwerks (des Kunst-Objekts) wendet. Adornos Plädoyer für das Besondere und Nichtidentische im Rahmen einer negativen Dialektik mündet in den wahrscheinlich aporetischen Ver‐ such, eine mimetische Theorie im Sinne von Benjamin zu konzipieren (s. o.), eine Theorie, die den Gegenstand nicht begrifflich vereinnahmt, ihn nicht dem Begriff unterwirft: Statt dessen versucht sie, sich in ihn zu versenken, sich ihm anzugleichen. Wie Benjamin faßt Adorno Mimesis zunächst so‐ matisch auf: als körperliche Mimikry, als körperliche Angleichung an den Gegenstand. Wird der Begriff auf den sprachlichen Bereich ausgedehnt, so kann im Zusammenhang mit der Onomatopoese von einer sprachlichen Angleichung an das Objekt die Rede sein. In Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung (1947) soll gezeigt werden, wie sich das europäische Denken im Laufe der Jahrhunderte immer mehr von der in magischen Riten archaischer Gesellschaften verwurzelten Mimesis entfernt hat. Ihren Höhepunkt erreicht diese Entwicklung in der Aufklärung, deren Rationalismus alles Denken der technischen Verfügbar‐ keit und Manipulierbarkeit subsumiert: „Die Aufklärung verhält sich zu den Dingen wie der Diktator zu den Menschen. Er kennt sie, insofern er sie manipulieren kann. Der Mann der Wissenschaft kennt die Dinge, insofern er sie machen kann. Dadurch wird ihr An sich Für ihn.“ 64 3. Negative Dialektik: Ratio und Mimesis 169 65 Siehe: M. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt, Athenäum-Fi‐ scher, 1974, S. 163, wo Kants Kritik an Rationalismus und Empirismus bestätigt wird. 66 Siehe: ibid., S. 94: „Die totale Transformation wirklich jedes Seinsbereichs in ein Gebiet von Mitteln führt zur Liquidation des Subjekts, das sich ihrer bedienen soll.“ 67 Insofern ist U. Müller recht zu geben, wenn er in seinem Buch Erkenntniskritik und negative Metaphysik bei Adorno, Frankfurt, Athenäum, 1988, S. 192 schreibt: „Bei der theoretischen Rehabilitierung des Mimetischen geht es also weder um die ornamentale Ausgestaltung diskursiver Redeweisen, noch um eine Aufweichung terminologischer Klarheit.“ 68 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, op. cit., S. 202. 69 Ibid., S. 86. 70 Ibid., S. 87 71 Zur Spannung zwischen begrifflichem Denken (Vernunft) und Mimesis im Bereich der Subjektivität siehe: P. Jepsen, Adornos kritische Theorie der Selbstbestimmung, Würzburg, Königshausen und Neumann, 2012, S. 168: „Weder Vernunft noch Impuls an Diese Darstellung einer technizistischen und utilitaristischen Vernunft, die Horkheimer als „instrumentell“ 65 (weil manipulierend) bezeichnet, ver‐ hält sich in jeder Hinsicht komplementär zu Adornos und Horkheimers Kritik an Hegel: Trotz aller Unterschiede ordnet auch der Rationalismus der Aufklärung das Objekt dem Subjekt unter und entwickelt ein begriffliches Instrumentarium, nicht um die Natur besser zu verstehen, sondern um sie beherrschen, ausbeuten zu können. In diesem Prozeß fällt auch das menschliche Subjekt der Naturbeherrschung zum Opfer, weil es sich selbst als Teil der Natur asketisch verleugnen muß. 66 Adornos und Horkheimers Kritik ist kein Regreß in den Irrationalismus magischer Mimesis 67 , sondern visiert eine mimetische Vernunft an, die sich den beiden Philosophen zufolge in der modernen Gesellschaft nur noch in der Kunst erhalten hat. Theorie hat sich nach künstlerischer Mimesis zu richten, denn, so schreibt Adorno in der Ästhetischen Theorie: „In den Kunstwerken ist der Geist nicht länger der alte Feind der Natur. Er sänftigt sich zum Versöhnenden.“ 68 Solche Versöhnung geht jedoch nicht auf Kosten des Geistes, des begrifflichen Denkens, und Adorno, der von einer „Dialektik zwischen Rationalität und Mimesis“ 69 spricht, beschreibt das Oszillieren der Kunst zwischen magischer Mimesis und verdinglichter Rationalität: „Die Aporie der Kunst, zwischen der Regression auf buchstäbliche Magie, oder der Zession des mimetischen Impulses an dinghafte Rationalität, schreibt ihr das Bewegungsgesetz vor; nicht ist sie wegzuräumen.“ 70 Auch die Theorie hat nach Adorno an dieser Aporie teil; auch sie soll den mimetischen Impuls bewahren, ohne auf den begrifflichen Diskurs zu ver‐ zichten, ohne sich dem Irrationalen auszuliefern. 71 Doch was bedeutet genau IV. Die Ästhetik der Kritischen Theorie: Von Benjamin zu Adorno 170 sich, sondern einzig die Versöhnung der beiden kennzeichne also die Verfassung einer nicht länger widersprüchlichen Autonomie des Subjekts.“ 72 Siehe: W. M. Lüdke, Anmerkungen zu einer „Logik des Zerfalls“: Adorno - Beckett, Frankfurt, Suhrkamp, 1981, S. 68: „Was nun die Leistung der Mimesis ausmacht, stellt sich zugleich als Schwierigkeit ihrer adäquaten Beschreibung dar: denn das Besondere, Nichtidentische ist ja eben das, was sich festen Bestimmungen, Begriffen - der Identifikation - entzieht.“ 73 R. Kager, Herrschaft und Versöhnung, op. cit., S. 198. 74 G. Figal, Theodor W. Adorno. Das Naturschöne als spekulative Gedankenfigur. Zur Interpretation der „Ästhetischen Theorie“ im Kontext philosophischer Ästhetik, Bonn, Bouvier, 1977, S. 61. 75 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, op. cit., S. 86-87. 76 Th. W. Adorno, „Thesen über die Sprache des Philosophen“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, op. cit., S. 370. Mimesis im theoretischen Kontext, und wie kann sie in den begrifflichen Diskurs aufgenommen werden? Die erste Frage ist nicht leicht zu beantworten, zumal Autoren wie W. M. Lüdke meinen, daß ein „nichtbegrifflicher“ Begriff wie Mimesis nicht zu definieren sei. 72 Allzu sehr vereinfacht Kager, wenn er das Mimetische als „die gefühlsmäßige Erfassung der Realität“ 73 zu definieren sucht. Denn Adornos Mimesisbegriff hat nichts mit Intuition oder Einfühlung im Sinne von Dilthey zu tun. Sinnvoller erscheint Günter Figals Versuch, eine Ana‐ logie zwischen „Rationalität und Realitätsprinzip einerseits und Mimesis und Lustprinzip andererseits“ 74 herzustellen und Adornos Terminus in den psychoanalytischen Kontext zu projizieren. Die in der Ästhetischen Theorie vorgeschlagene negative Definition, in der von einer „nichtbegriffliche(n) Affinität des subjektiv Hervorgebrachten zu seinem Anderen“ 75 die Rede ist, kommt der Sache wohl am nächsten. Es geht um eine Annäherung an das Objekt, die diesem seine Besonderheit durch Aufnahme nichtbegrifflicher Elemente in den begrifflichen Diskurs beläßt. Adorno versuchte, dieses Ziel zu erreichen, indem er den theoretischen Diskurs nach ästhetischen Kriterien beurteilte, die das Nichtbegriffliche, Mimetische enthielten. Schon in seinen frühen Aufsätzen zur Sprachphilo‐ sophie, etwa in den „Thesen über die Sprache des Philosophen“ (die laut Tiedemann Anfang der 30er Jahre entstanden sind), fragt er nach der „ästhetischen Dignität der Worte“ 76 , die als letzte Chance der modernen Philosophie erscheint, sich herrschaftsfrei dem Objekt zu nähern. Komplementär zur ästhetischen Kritik der Sprache verhält sich beim frühen Adorno die von Benjamin stammende Bezeichnung „Konfigura‐ 3. Negative Dialektik: Ratio und Mimesis 171 77 Zu Walter Benjamins Einfluß auf Adornos Theorem der „Konfiguration“ oder „Kon‐ stellation“ siehe: S. Zenklusen, Adornos Nichtidentisches und Derridas différance. Für eine Resurrektion negativer Dialektik, Berlin, Wiss. Verlag Berlin, 2002, S. 57: „Der Einfluss der metaphysisch inspirierten Erkenntniskritik des frühen Benjamin ist hier bis in die Begrifflichkeit spürbar.“ 78 Th. W. Adorno, „Thesen über die Sprache des Philosophen, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1., op. cit., S. 369. 79 Ibid. 80 Th. W. Adorno, „Der Essay als Form“, in: ders., Noten zur Literatur I, Gesammelte Schriften, Bd. 2, op. cit., S. 17. 81 Zum Verhältnis von „Konfiguration“, „Konstellation“ und „Essay“ siehe: A. Bartonek, Philosophie im Konjunktiv. Nichtidentität als Möglichkeit des Utopischen in der negativen Dialektik Theodor W. Adornos, Würzburg, Königshausen und Neumann, 2011, S. 156-166. 82 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, op. cit., S. 27 tion“. 77 Das überlieferte Vokabular der Philosophie soll nicht preisgegeben werden; nur die Art, wie es im Diskurs verwendet wird, ist durch eine „kon‐ figurative“ Anordnung der Worte zu ändern. Dem Philosophen bleibt keine Hoffnung „als die, die Worte so um die neue Wahrheit zu stellen, daß deren bloße Konfiguration die neue Wahrheit ergibt“. 78 Konfiguratives Denken wird noch am ehesten der Sache gerecht: „(…) Es bedeutet konfigurative Sprache ein Drittes als dialektisch verschränkte und explikativ unauflösliche Einheit von Begriff und Sache.“ 79 Später hat Adorno immer wieder nach Sprachformen gesucht, die es dem Subjekt gestatten würden, sich dem Objekt in dessen Besonderheit und Unverwechselbarkeit zu nähern. Im ersten Band der Noten zur Literatur erscheint der Essay als eine ästhetische Sprachform, die geeignet ist, den mimetischen Impuls zu bewahren und aufgrund ihrer Offenheit, Unabge‐ schlossenheit das Einmalige, Singuläre ihrer Gegenstände zutage treten zu lassen: „Er trägt dem Bewußtsein der Nichtidentität Rechnung, ohne es auch nur auszusprechen; radikal im Nichtradikalismus, in der Enthaltung von aller Reduktion auf ein Prinzip, im Akzentuieren des Partiellen gegenüber der Totale, im Stückhaften.“ 80 Die Essays der Noten zur Literatur sind allesamt Versuche, besondere Aspekte von Prousts Werk, von Hölderlins Lyrik oder Becketts Theater hervortreten zu lassen, ohne die Texte dieser Dichter zu definieren, auf den Begriff zu bringen. 81 Der Autor der Negativen Dialektik entwickelt später ein „Denken in Modellen“, das ähnlich wie der Essay, nur mit anderen sprachlichen Mitteln, die Darstellung des Besonderen ermöglichen soll. Adornos philosophischer Versuch, „über den Begriff durch den Begriff hinauszugelangen“ 82 und eine IV. Die Ästhetik der Kritischen Theorie: Von Benjamin zu Adorno 172 83 Ibid., S. 39. 84 Ibid. 85 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, op. cit., S. 541. 86 M. Zenck, Kunst als begriffslose Erkenntnis, op. cit., S. 107. 87 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, op. cit., S. 489. theoretische „Verbindlichkeit ohne System“ 83 zu erreichen, geht vom Modell aus: „Das Modell trifft das Spezifische und mehr als das Spezifische, ohne es in seinen allgemeineren Oberbegriff zu verflüchtigen. Philosophisch denken ist soviel wie in Modellen denken; negative Dialektik ein Ensemble von Modellanalysen.“ 84 Doch auch die Modellanalyse ist noch zu sehr der Abstraktion des Logos verpflichtet und befriedigt Adorno nicht auf Dauer. In einem Briefkommen‐ tar zur postum veröffentlichten Ästhetischen Theorie erklärt er, weshalb er das „Denken in Modellen“ nicht weiterentwickelt, sondern nach einer (letzten) Alternative sucht. Über die Darstellungsschwierigkeiten, die sein letztes Werk mit sich bringt, schreibt er: „Sie bestehen (…) darin, daß die einem Buch fast unabdingbare Folge des Erst-Nachher sich mit der Sache als so unverträglich erweist, daß deswegen eine Disposition im traditionellen Sinn, wie ich sie bis jetzt noch verfolgt habe (auch in der Negativen Dialektik verfolgte), sich als undurchführbar erweist. Das Buch muß gleichsam konzentrisch in gleichgewichtigen, parataktischen Teilen geschrieben werden, die um einen Mittelpunkt angeordnet sind, den sie durch ihre Konstellation ausdrücken.“ 85 Diese Passage ist deshalb wesentlich, weil sie sowohl Diskontinuität als auch Kontinuität in Adornos Denken erkennen läßt: Seine theoretische Anwendung der Parataxis, die von seiner Hölderlin-Interpretation vorbereitet wird und mit seiner Abkehr von der Modellanalyse einhergeht, ist in mancher Hinsicht eine Rückkehr zur „Konfiguration“ der frühen 1930er Jahre, die auch Benjamin als Alternative zur begrifflichen Herrschaft ins Auge faßte. Bei keinem der beiden Denker kann von einer Apologie des Irrationalismus die Rede sein, auch nicht von Versuchen, Theorie in Kunst aufgehen zu lassen. In‐ sofern ist Martin Zenck recht zu geben, wenn er zum Verhältnis von Rationalität und Mimesis bei Adorno bemerkt: „Mimesis und Rationalität, Erkenntnis durch ästhetischen Ausdruck wie die begriffliche Erkenntnis bilden keine Dichoto‐ mien.“ 86 Im Gegenteil, es geht darum, das Irrationale eines auf Naturbeherrschung gründenden Logozentrismus mit Hilfe des mimetisch-ästhetischen Impulses aufzulösen. Der Autor der Ästhetischen Theorie faßt dieses Vorhaben in einem Satz prägnant zusammen: „Ratio ohne Mimesis negiert sich selbst.“ 87 3. Negative Dialektik: Ratio und Mimesis 173 88 Siehe: Vf., Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, Tübingen, Francke, 1989, Kap. VI. Siehe auch das letzte Kapitel dieses Buches. 89 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, op. cit., S. 305. 90 Ibid., S. 194. 91 Ibid., S. 153. 4. Negative Ästhetik: Zwischen Begriffslosigkeit und Wahrheitsgehalt In dieser Darstellung geht es nicht um die Frage, ob Parataxis als diskursives Verfahren für die Lösung moderner Theorieprobleme in Frage kommt. An anderer Stelle habe ich mich ausführlich mit dieser Frage befaßt und dort im Anschluß an Dubiel und Habermas die Brauchbarkeit der Parataxis für die Sozialwissenschaften angezweifelt. 88 In dem hier entworfenen Zusam‐ menhang geht es mir vor allem darum zu zeigen, wie Essayismus, Denken in Modellen und Parataxis im philosophisch-ästhetischen Spannungsfeld zwischen Kants Agnostizismus und Hegels Logozentrismus als Alternativen zum Identitätsdenken entwickelt werden. Wie die Negative Dialektik ist auch die Ästhetische Theorie als „junghege‐ lianische“ Kritik in diesem Spannungsfeld entstanden; denn sie treibt die Paradoxien auf die Spitze, die sich schon in Vischers Ästhetik ankündigen und die in der ambivalenten Erkenntnis gipfeln, daß die Wahrheit, die ein Kunstwerk ausdrückt, nicht begrifflich zu fassen ist: „Die Paradoxie, daß Kunst es sagt und doch nicht sagt, hat zum Grunde, daß jenes Mimetische, durch welches sie es sagt, als Opakes und Besonderes dem Sagen zugleich opponiert.“ 89 In dem hier konstruierten philosophischen Kontext kann es kaum als Zufall erscheinen, daß Adorno sich auch auf den Junghegelianer Friedrich Theodor Vischer beruft, um seine These zu stützen, daß Kunstwerke nicht auf Begriffe zu reduzieren sind: „Der Gehalt ist nicht in die Idee auflöslich sondern Extrapolation des Unauflöslichen; von den akademischen Ästheti‐ kern dürfte Friedrich Theodor Vischer allein das gespürt haben.“ 90 Die Tatsache, daß Adorno an einer anderen Stelle der Ästhetischen Theorie Vischer einen Mangel an Dialektik vorwirft und suggeriert, er sei „Hegels schon nicht mehr sicher“ 91 , bestätigt lediglich die junghegelianische Verwandtschaft der beiden Autoren, die beide jenseits von Hegels System die Natur, den Zufall, den Traum und die Ambiguität der Kunstwerke entdecken. IV. Die Ästhetik der Kritischen Theorie: Von Benjamin zu Adorno 174 92 Siehe: L. Goldmann, Th. W. Adorno, „Discussion extraite des actes du colloque“ (Deuxième colloque international sur la Sociologie de la Littérature, Royaumont), in: Revue de lʼInstitut de Sociologie Nr. 3/ 4, 1973, S. 540-541. 93 Siehe: Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, op. cit., S. 85: „Absehbar wird der Prospekt einer Absage an die Kunst um der Kunst willen. Er deutet sich an in denjenigen ihrer Gebilde, die verstummen oder verschwinden. Auch sozial sind sie richtiges Bewußtsein: lieber keine Kunst mehr als sozialistischer Realismus.“ 94 Ibid., S. 140. 95 Ibid., S. 176. 96 Ibid., S. 360. Anders als Hegel, dem Kunst „sinnliches Scheinen der Idee“ war und der meinte, vor allem die Wortkunst im Begriff eindeutig identifizieren zu kön‐ nen, faßt Adorno, ähnlich wie Benjamin, literarische Texte als vieldeutige und in sich widersprüchliche Gebilde auf, die weder auf Ideen (Hegel) noch auf Weltanschauungen (Goldmann), noch auf Ideologien (Lukács) festzule‐ gen sind. Seine Kritik an Hegel in der Ästhetischen Theorie erklärt seine Kontroversen mit Marxisten wie Goldmann, die Literatur ausschließlich auf der Inhaltsebene, auf der Ebene der Signifikate lasen 92 , sowie seine Aversion gegen den sozialistischen Realismus. 93 Konkret wirft Adorno Hegel vor, er habe sich über die Vieldeutigkeit der Kunstwerke hinweggesetzt, die die Kantsche Ästhetik zumindest implizit gelten ließ: „Bei Hegel war der Geist in der Kunst, als eine Stufe seiner Erscheinungsweisen, aus dem System deduzibel und gleichsam in jeder Kunstgattung, potentiell in jedem Kunstwerk, eindeutig, auf Kosten des ästhetischen Attributs der Vieldeutigkeit.“ 94 Adorno, der Hegel dessen „into‐ lerance of ambiguity“, dessen „Unduldsamkeit gegen das Ambivalente, nicht säuberlich Subsumierbare“ 95 vorhält, entwickelt wesentliche Gedanken Bachtins weiter und antizipiert die semiotische und rezeptionsästhetische Kritik an der hegelianisch-marxistischen Ästhetik, deren Allergie gegen Vieldeutigkeit und Widersprüchlichkeit er selbst in Brechts Epischem Thea‐ ter zu finden meint: „Sein didaktischer Gestus jedoch ist intolerant gegen die Mehrdeutigkeit, an der Denken sich entzündet: er ist autoritär.“ 96 Widersprüchlich und heterogen ist Kunst auch deshalb, weil sie das Häßliche nicht einem klassizistischen Schönheitsideal subsumiert, sondern in der Dissonanz gelten läßt. Es ist kein Zufall, daß Adorno in diesem Kontext zustimmend die Ästhetik des Häßlichen des Hegelianers Karl Rosenkranz (vgl. Kap. I. 3) zitiert. Anders als der Hegel-Schüler kann der Philosoph der Moderne allerdings nicht mehr an den abgeleiteten, „dienenden“ Charakter des Häßlichen glauben: „Das Gewicht dieses Elements wuchs in der Moderne 4. Negative Ästhetik: Zwischen Begriffslosigkeit und Wahrheitsgehalt 175 97 Ibid., S. 74. 98 Ibid., S. 167. Siehe auch S. 263: „Kunstwerke synthetisieren unvereinbare, unidentische, aneinander sich reibende Momente; sie wahrhaft suchen die Identität des Identischen und des Nichtidentischen prozessual, weil noch ihre Einheit Moment ist, und nicht die Zauberformel fürs Ganze.“ derart an, daß daraus eine neue Qualität entsprang.“ 97 Als Alternative zu Hegels Klassizismus kristallisiert sich im junghegelianischen Denken eine Ästhetik des Heterogenen, der Dissonanz heraus. Wie sieht diese Alternative in Adornos literaturkritischer Praxis aus? Wie ist es möglich, literarische Texte zu interpretieren, zu analysieren, ohne sie auf eindeutig bestimmbare begriffliche Strukturen festzulegen? In seinen Kommentaren zu Georges Lyrik zeigt er, wie ambivalent Georges Werk ist, wie abwegig jeder Versuch wäre, es auf eine sinnvolle, harmonische Totalität festzulegen, die er in der Ästhetischen Theorie kritisiert: “(…) Im Inneren alles dessen, was an Kunst mit Fug harmonisch kann genannt werden, überlebt das Disparate und einander Widersprechende.“ 98 Georges Dichtung erscheint ihm als eine widersprüchliche Einheit, als prekäres Gleichgewicht zwischen Ideologie und Gesellschaftskritik. In dem Maße, wie der Dichter ideologische Stereotypen in seinen Text aufnimmt, um „Reinheit“ oder „Adel“ zu evozieren, macht er der elitären Ideologie des „Kreises“ und dem eigenen Narzißmus Zugeständnisse, die sich beide fatal auf seinen Stil auswirken. In seinem in den Noten zur Literatur IV erschienenen Essay über George zitiert Adorno die folgenden Verse, um zu veranschaulichen, was er unter ideologischem Stil versteht: Du schlank und rein wie ein flamme Du wie der morgen zart und licht Du blühend reis vom edlen stamme Du wie ein quell geheim und schlicht… Diesen Versen, die nach Adorno den „Sturz in die Ideologie“ nicht überle‐ ben, stehen in Georges Werk andere Verse gegenüber, die aufgrund ihrer Schlichtheit und Vieldeutigkeit von der ideologischen Rhetorik nicht zu vereinnahmen sind. Adorno zitiert ein anderes Gedicht Georges, dessen Negativität mit seinem kritischen „Wahrheitsgehalt“ zusammenfällt: IV. Die Ästhetik der Kritischen Theorie: Von Benjamin zu Adorno 176 99 Th. W. Adorno, „George“, in: ders., Noten zur Literatur IV, Gesammelte Schriften, Bd. 2, op. cit., S. 529. 100 Zu Mallarmés, Valérys und Georges Einflüssen in Adornos Ästhetik siehe: Vf., Ästhe‐ tische Negation. Das Subjekt, das Schöne und das Erhabene von Mallarmé und Valéry zu Adorno und Lyotard, Würzburg, Königshausen und Neumann, 2018 (2., erw. Aufl.), S. 86-91: „Von Mallarmé und George zu Valéry“. 101 Th. W. Adorno, „George und Hofmannsthal“, in: ders., Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft, Gesammelte Schriften, Bd. 10-1, op. cit., S. 202. Ihr tratet zu dem herde Wo alle glut verstarb. Licht war nur an der erde Vom monde leichenfarb. Ihr tauchtet in die aschen Die bleichen finger ein. Mit suchen tasten haschen - Wird es noch einmal schein! Seht was mit trostgebärde Der mond auch rät: Tretet weg vom herde. Es ist worden spät. Trotz seiner Negation eines unmittelbaren Sinnes, sagt Adorno, deutet dieses Gedicht eine historische Situation an. Es drückt „das Gefühl eines Weltalters“ 99 aus, ohne sich auf ein bestimmtes historisches Ereignis zu beziehen. Zugleich meidet es die Allegorie, der eine eindeutige Aussage oder Idee zugrunde liegt. Demnach wären die besten Texte Georges die hermeti‐ schen Gedichte, deren Vieldeutigkeit sich gegen begriffliche Reduktionen sperrt. 100 Insgesamt ist Georges Lyrik antinomisch und ambivalent, weil in ihr Kultur und Barbarei auf engstem Raum zusammenwirken und einander wechselseitig bedingen: „In jedem Augenblick wird die Georgesche Kultur mit Barbarei erkauft.“ 101 Wie schon bei den Junghegelianern, vor allem bei Vischer, führen die Entdeckung der Ambivalenz und die Kritik am Logozentrismus zur Aufwer‐ tung der Natur, des Zufalls und der vieldeutigen Ausdrucksebene. Wie vor ihm Vischer setzt Adorno das Naturschöne in seine Rechte ein und nimmt es in seine Definition der Kunst auf, die nicht als Nachahmung der Natur, 4. Negative Ästhetik: Zwischen Begriffslosigkeit und Wahrheitsgehalt 177 102 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, op. cit., S. 111. 103 Ibid., S. 121. 104 Siehe: N. W. Bolz, „Nietzsches Spur in der Ästhetischen Theorie“, in: Materialien zur äs‐ thetischen Theorie. Th. W. Adornos Konstruktion der Moderne, op. cit., S. 376: „Gemeinsam ist ihnen die Konzeption einer Dialektik der Aufklärung, die sich im Verhältnis von Mythos und Genius ästhetisch konkretisiert“, heißt es von Adorno und Nietzsche. 105 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, op. cit., S. 329. sondern als „Nachahmung des Naturschönen“ 102 , nicht als „Imitation eines Wirklichen, sondern Vorwegnahme eines Ansichseins, das noch gar nicht ist“ 103 , beschrieben wird. Nur weil sie aus einer Symbiose von Mimesis und Ratio hervorgeht, vermag Kunst, trotz der ihr innewohnenden Naturbeherrschung, das Natur‐ schöne nachzuahmen und ein „Ansichsein der Natur“, eine von Herrschaft befreite Natur vorwegzunehmen. Durch diesen zugleich ästhetischen und utopischen Gedanken an eine von Herrschaft befreite Natur, deren Bild von der Kunst antizipiert wird, nähert sich Adorno, wie Norbert W. Bolz richtig gesehen hat 104 , dem Nachhegelianer Nietzsche: Auch dieser hat die Versöhnung von Mensch und Natur in den ästhetischen Bereich projiziert. Aus diesem Bereich kann das Zufällige nicht ausgeblendet werden, solange die Natur nicht wie bei Hegel dem Begriff und der Notwendigkeit subsumiert wird. Adornos Bemerkungen über den (natürlichen, naturwüch‐ sigen) Zufall erinnern an Vischers Kritik an Hegel (vgl. Kap. III. 3), etwa wenn er in der Ästhetischen Theorie polemisch gegen Hegel einwendet: „Kein Kunstwerk verdient seinen Namen, welches das seinem eigenen Gesetz gegenüber Zufällige von sich weghielte.“ 105 Das Zufällige ist weder in der Notwendigkeit des Begriffs noch im Begriff der Notwendigkeit aufzulösen. Wo die Herrschaft des Begriffs so radikal in Frage gestellt wird wie bei Adorno, dort nähert sich der theoretische Diskurs Kants Agnostizismus und verschiebt den Akzent der Argumentation auf die Ausdrucksebene. Wie schon in der Negativen Dialektik beruft sich Adorno auch in der Ästhetischen Theorie auf Kant, um dem hegelianischen (marxistischen) Versuch entgegen‐ zuwirken, Kunstwerke eindeutig auf begriffliche „Äquivalente“ festzulegen und einer heteronomen Ästhetik das Wort zu reden. Sein Oszillieren zwi‐ schen dem Kantschen und dem Hegelschen Pol findet seinen prägnantesten Ausdruck in der These über den „Doppelcharakter der Kunst“: Kunstwerke sind sowohl autonom als auch faits sociaux, gesellschaftliche Fakten. Allerdings nehmen bei Adorno „Autonomie“ und fait social ganz andere Bedeutungen an als bei Kant und in der positivistischen Soziologie Durk‐ IV. Die Ästhetik der Kritischen Theorie: Von Benjamin zu Adorno 178 106 Ibid., S. 312. 107 Ibid., S. 26. 108 Ibid. 109 Siehe: Ibid., S. 19-20. heims und seiner Schüler (Mauss, Fauconnet). Sie bilden einen dialektischen Gegensatz, in dem Autonomie selbst zum gesellschaftlichen und histori‐ schen Faktum wird. In der Ästhetischen Theorie ist vom Doppelcharakter der Kunst „als einem freilich noch in seiner Autonomie sozial determinierten Autonomen und einem Sozialen“ 106 die Rede. So ist es zu erklären, daß Adorno Kants idealistischen Autonomiebegriff ablehnt, weil dieser von den sozialen und historischen Bedingungen der Kunstentwicklung abstrahiert. Bei Adorno haben wir es mit einer negativen, kritischen, ja militanten Autonomie zu tun, die auf der Formebene den Antagonismus zwischen moderner Kunst und verdinglichter Gesellschaft festschreibt. Kunst ist nicht länger autonom, weil sie zum Gegenstand eines „interesselosen Wohlgefal‐ lens“ wird, sondern weil sie die bestehenden Verhältnisse negativ darstellt und dadurch negiert. Kafkas Schriften, sagt Adorno, wäre Kants Interesselosigkeit „grob inadäquat“: „Nachgerade erniedrigte sie Kunst zu dem, was Hegel verspot‐ tet, zum angenehmen oder nützlichen Spielwerk der Horazischen Ars Poetica.“ 107 Der Schriftsteller Kafka läßt sich jedoch weder von der Idee des delectare noch von der des prodesse leiten, sondern negiert das Glücksver‐ langen des Lesers durch Schock und Ekel. „Um des Glücks willen wird dem Glück abgesagt. So überlebt Begehren in der Kunst.“ 108 Dies ist der Grund, weshalb Kunstwerke auch nicht im Rahmen der Freudschen Heteronomie als Versuche, den Triebverzicht zu sublimieren, zu erklären sind. Auch Freud setzt sich über ihre Negativität hinweg, durch welche sie der Integration in die bestehende Ordnung widerstehen. Unverhofft treffen sich bei Adorno Kants Autonomieästhetik und Freuds heteronome Kunsttheorie in einem wesentlichen Punkt: in ihrer Absage an einen kritischen (negativen) Kunstbegriff, der sowohl idealistische In‐ teresselosigkeit als auch materialistische Sublimierung als Integration des Subjekts ausschließt. 109 An dieser Stelle, vor allem im Gegensatz zwischen Adornos und Kants Autonomiebegriff, tritt ein Problem in Erscheinung, auf das ich im letzten Abschnitt dieses Kapitels und im letzten Kapitel zurückkommen werde: der historische Charakter einer jeden Ästhetik und Literaturtheorie. Ähnlich 4. Negative Ästhetik: Zwischen Begriffslosigkeit und Wahrheitsgehalt 179 110 Ibid., S. 526-527. 111 Ibid., S. 213. 112 Ibid., S. 187. wie die Formalisten, die die futuristische Avantgarde theoretisch begleiteten, ähnlich wie Bachtin, der das Werk Dostoevskijs in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen stellte, interpretiert Adorno den Autonomiebegriff im Hin‐ blick auf moderne Autoren wie Kafka, Beckett und Celan um. Nur in diesem historischen Kontext ist ein anderer Aspekt seiner Autono‐ mieästhetik, die „Begriffslosigkeit“ der Kunst, zu verstehen. Diese weist drei komplementäre Komponenten auf, die auf Kants „begriffslose Erkenntnis“ und auf die Eigengesetzlichkeit der Ausdrucksebene im Sinne von Hjelmslev und Martinet zu beziehen sind: sprachliche Mimesis, Vieldeutigkeit („Rät‐ selcharakter“) und Nichtkommunikation. Zu Recht hebt Kant die formalen Aspekte der Kunst hervor, weil gerade sie für deren Wahrheitsgehalt verantwortlich sind: „Doch der Kantische Nachdruck auf seinen (des Kunstwerks, P. V. Z.) formalen Konstituentien, durch die es als Kunst überhaupt erst wird, tut dem Wahrheitsgehalt der Kunst mehr Ehre an als Hegel, der ihn von sich aus meint, aber nicht aus der Kunst selbst entwickelt.“ 110 Weshalb das Formgesetz gerade für den Wahrheitsgehalt, d. h. die kritische Dimension des Kunstwerks wesentlich ist, wird an einer anderen Stelle der Ästhetischen Theorie deutlich, die parallel zu den Bemerkungen über Kant gelesen werden sollte: „Der Formbegriff markiert die schroffe Antithese der Kunst zum empirischen Leben, in welchem ihr Daseinsrecht ungewiß ward. Kunst hat soviel Chance wie die Form, und nicht mehr.“ 111 Durch ihre formalen Verfahren, die zwischen der Inhalts- und der Aus‐ drucksebene vermitteln und die von Hjelmslev und Martinet thematisierte Autonomie der Signifikanten ausschöpfen, entziehen sich literarische Texte der ideologischen und kommerziellen Sinngebung. Adorno beschreibt einen semiotischen Prozeß, wenn er auf den Bedeutungswandel der Copula „ist“ bei Trakl eingeht, wenn er zeigt, wie das Gedicht die lexikalischen Einheiten der kommunikativen Sprache verwandelt, verfremdet: „Noch die bei Trakl omnipräsente Copula ‚ist‘ entfremdet im Kunstwerk sich ihrem begrifflichen Sinn: sie drückt kein Existentialurteil aus, sondern dessen verblaßtes, qualitativ bis zur Negation verändertes Nachbild; daß etwas sei, ist darin weniger und mehr, führt mit sich, daß es nicht sei.“ 112 IV. Die Ästhetik der Kritischen Theorie: Von Benjamin zu Adorno 180 113 Ibid., S. 171. 114 Ibid., S. 182. 115 Siehe: H. Scheible, „Geschichte im Stillstand. Zur Ästhetischen Theorie Theodor W. Adornos“, in: Theodor W. Adorno, Frankfurt, Edition Text und Kritik, 1977, S. 107: „Wie in Hegels Sprachgebrauch der Begriff Wissenschaft gleichbedeutend ist mit Philosophie, so ist, wo in Adornos ästhetischer Theorie von Kunst oder vom Kunstwerk die Rede ist, Musik gemeint; sofern nicht ausdrücklich auf eine andere Kunstgattung verwiesen wird.“ Fast die ganze Ästhetische Theorie könnte anhand dieser Passage entfaltet werden: denn sie bringt - zumindest andeutungsweise - den nichtbegriff‐ lichen, mimetischen Gestus der literarischen Texte, ihren Rätselcharakter und ihren Bruch mit der gesellschaftlichen Kommunikation zur Sprache. Durch eine Verlagerung der Verfahren von der Inhaltsebene auf die Aus‐ drucksebene werden die Signifikanten den Signifikaten gegenüber gestärkt, die begrifflichen Elemente treten in den Hintergrund, und der Text wird zu einem Rätsel, das sich der von Kommerz und Ideologie mißbrauchten Kommunikation entzieht. Adorno, der nicht nur an die Wortkunst, sondern an alle Kunstformen denkt, beschreibt den Bruch mit der Kommunikation als Verwandlung der kommunikativen Sprache in eine mimetische: „Die neue Kunst bemüht sich um die Verwandlung der kommunikativen Sprache in eine mimetische.“ 113 Obwohl der hier verwendete Mimesisbegriff nicht auf „Onomatopoese“ oder „Ebene der Signifikanten“ einzuengen ist, umfaßt er beide, weil er das Nichtbegriffliche bezeichnet: das, was auf der Inhaltsebene (Hjelmslev) nicht zu definieren und zu beschreiben ist. Nichtkommunikation und Mimesis hängen eng mit dem Rätselcharakter der Kunstwerke zusammen, über den sich Hegelianer idealistischer und materialistischer Provenienz (Lukács, Goldmann) allzu leichtfertig hinweg‐ setzen: „Alle Kunstwerke, und Kunst insgesamt, sind Rätsel; das hat von altersher die Theorie der Kunst irritiert. Daß Kunstwerke etwas sagen und mit dem gleichen Atemzug es verbergen, nennt den Rätselcharakter unterm Aspekt der Sprache.“ 114 Literarische Texte sind zwar nicht ohne weiteres mit musikalischen Kompositionen zu vergleichen, an denen sich Adornos Ästhetik häufig orientiert 115 , sie haben jedoch durch die Eigengesetzlichkeit der Ausdrucks‐ ebene an der phoné teil, die a priori an keine semantische Einheit gebunden ist. Als solche sind die Signifikanten der Sprache ebenso ungebunden wie die Töne der Musik: Das Phonem ja ist im Deutschen und Niederländischen 4. Negative Ästhetik: Zwischen Begriffslosigkeit und Wahrheitsgehalt 181 116 U. Müller, Erkenntniskritik und Negative Metaphysik bei Adorno. Eine Philosophie der dritten Reflektiertheit, Frankfurt, Athenäum, 1988, S. 195. 117 Siehe z.B.: C. Träger, „Zur Kritik der bürgerlichen Literaturwissenschaft“, in: Weimarer Beiträge Nr. 2, 1972. 118 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, op. cit., S. 193. eine Bejahung, im Spanischen bedeutet es schon (ya) und im Kroatischen und Schwedischen (ja, jag) ich. Es fragt sich natürlich, ob derlei Analogien zwischen Musik und Literatur ausreichen, um eine auf beide anwendbare Ästhetik zu begründen; ob Literatursemiotik und Musikwissenschaft nicht eigene, verschiedene Wege gehen sollten. Wichtiger als diese Frage ist hier die Tatsache, auf die einige Autoren bereits hingewiesen haben: daß die Formkonzeption Adornos nicht so sehr aus der Sprach- und Literaturwissenschaft stammt, sondern aus der Musik, die seine Vorstellung von einer „konfigurativen Anordnung“ oder von einer „Konstellation“ zu bestätigen scheint: „Diese Formkonzeption Schönbergs“, bemerkt Ulrich Müller, „überträgt Adorno nun nicht nur auf seine eigene ästhetische Idealvorstellung, derzufolge alle Momente eines Kunstwerks gleich nah zum Mittelpunkt sein sollen; er nimmt sie zudem als Formmodell auch für philosophische Texte.“ 116 Diese Verknüpfung von Sprache, Literatur und Musik hat zwar eine Betonung der Ausdrucksebene der Inhaltsebene gegenüber zur Folge; sie rechtfertigt aber keineswegs den von ostdeutschen Marxisten gegen Adorno erhobenen Vorwurf des Formalismus. 117 Wie ich weiter oben zu zeigen suchte, verbindet Adorno gerade das Formprinzip mit dem Wahrheitsgehalt, einem der wichtigsten Schlüsselbegriffe seiner Theorie. Unverbrüchlich hängt er mit dem Rätselcharakter der Werke zusammen, mit ihrem mimeti‐ schen (nichtbegrifflichen) Aspekt, ihrer Vieldeutigkeit und ihrer Resistenz gegen ideologische und kommerzialisierte Kommunikation: gegen die von der Kulturindustrie organisierten Kommunikationsprozesse. Daß der Rätselcharakter der Kunst keine unverbindliche Vieldeutigkeit ist, sondern die Frage nach dem Wahrheitsgehalt involviert, wird an ent‐ scheidenden Stellen der Ästhetischen Theorie klar: „Der Wahrheitsgehalt der Kunstwerke ist die objektive Auflösung des Rätsels eines jeden einzelnen. Indem es die Lösung verlangt, verweist es auf den Wahrheitsgehalt.“ 118 Obwohl sie die dialektische Beziehung zwischen Rätsel und Wahrheitsgehalt verdeutlicht, ist diese Passage nicht unproblematisch, weil sie nahelegt, daß es eine „objektive Auflösung“ der literarischen Vieldeutigkeit (der Polysemie) gibt. Im folgenden möchte ich deshalb zeigen, wie die Auflösung IV. Die Ästhetik der Kritischen Theorie: Von Benjamin zu Adorno 182 119 M. Jimenez, Vers une esthétique négative. Adorno et la modernité, Paris, Le Sycomore, 1983, S. 202. 120 Th. W. Adorno, Philosophie der neuen Musik, Gesammelte Schriften, Bd. 12, op. cit., S. 45. 121 Ibid. 122 Ibid., S. 46. des Rätsels und die Suche nach dem Wahrheitsgehalt bei Adorno konkret aussehen und welche Probleme sie mit sich bringen. Die Frage nach dem Wahrheitsgehalt stellt sich sowohl im Bereich der Werkstruktur als auch im Bereich der Rezeption: Viele Werke der Literatur und der Musik negieren nicht nur die gesellschaftliche Ordnung, aus der sie hervorgehen, sondern suggerieren durch das, was Adorno im Anschluß an Hegel als ästhetischen Schein bezeichnet, daß die von ihnen antizipierte Versöhnung von Subjekt und Objekt, von Gesellschaft und Natur ein Teil der Wirklichkeit sei. Im Gegensatz zu Bloch faßt Adorno jedoch, wie Marc Jimenez richtig bemerkt 119 , ästhetische Utopie ausschließlich negativ als „Bilderverbot“ auf. Ästhetischer Schein ist ihm suspekt, weil er sich im Verlauf der Rezeption als Schwachstelle erweist, in die Ideologien eindringen, um sich der Werke zu bemächtigen und sie für ihre Zwecke auszuschlachten. Dadurch geht der Wahrheitsgehalt verloren: Literarische Texte werden zu Ideologemen oder zu Stereotypen der Kulturindustrie. Dies ist der Grund, weshalb Adorno immer wieder zur Musik zurückkehrt, die „vor anderen Künsten durch die Absenz des Scheins, dadurch, daß sie kein Bild macht, privilegiert ist“. 120 Die in diesem Sinne reine Komposition ist die Schönbergs: „Seine Musik dementiert den Anspruch, Allgemeines und Besonderes seien versöhnt.“ 121 Von der Musik allgemein heißt es in der Philosophie der neuen Musik: „Mit der Negation von Schein und Spiel tendiert Musik zur Erkenntnis.“ 122 Literatur scheint für Ideologien anfälliger zu sein als die reine Musik Schönbergs, und die unter dem Titel Noten zur Literatur veröffentlichten Essays könnten allesamt als Versuche gelesen werden, den Wahrheitsgehalt der Texte vor dem Zugriff der Ideologen zu retten. In seinen Kommentaren zur Lyrik Eichendorffs versucht Adorno beispielsweise, den schlesischen Dichter gegen die Vereinnahmung durch konservative Ideologien zu vertei‐ digen, die aus jedem Gedicht eine Apologie der Vergangenheit herauslesen. Wie schon in den George-Kommentaren wendet Adorno auch in seinem Eichendorff-Essay die Ambivalenz des Textes gegen ideologische Monose‐ mierungsversuche: „(…) In seinem Sinne aber lag nicht nur die Restaura‐ tion der entsunkenen Ordnung, sondern auch der Widerstand gegen die 4. Negative Ästhetik: Zwischen Begriffslosigkeit und Wahrheitsgehalt 183 123 Th. W. Adorno, „Zum Gedächtnis Eichendorffs“, in: ders., Noten zur Literatur I, Gesam‐ melte Schriften, Bd. 2, op. cit., S. 74. 124 Th. W. Adorno, „Versuch, das Endspiel zu verstehen“, in: ders., Noten zur Literatur II, Gesammelte Schriften, Bd. 2, op. cit., S. 284. destruktive Tendenz des Bürgerlichen selber. Seine Überlegenheit über alle Reaktionäre, die heute die Hand nach ihm ausstrecken, bewährt sich daran, daß er, wie die große Philosophie seiner Epoche, die Notwendigkeit der Revolution begriff, vor der ihn schauderte (…).“ 123 Problematisch ist dieser Kommentar deshalb, weil er die Frage aufkom‐ men läßt, ob Eichendorffs Werk nicht allzusehr vom begrifflichen Diskurs der Kritischen Theorie beansprucht wird, der wie die kritisierten Ideologien doch wieder eine nur mögliche Interpretation ist. Von einer „objektiven Auflösung des Rätsels“ (s. o.) würde ich lieber nicht sprechen. Gegen den existentialistischen „Jargon der Eigentlichkeit“, eine der herr‐ schenden Ideologien der Nachkriegszeit, verteidigt Adorno den Wahrheits‐ gehalt von Becketts Endspiel und Hölderlins Lyrik. Becketts Theater ist nicht existentialistisch zu deuten, da es durch seine Negativität und Inhumanität zusammen mit den ästhetischen Kategorien der traditionellen dramatischen Dichtung (Held, Ereignis, Katastrophe) die gesamte individualistische Ideo‐ logie parodiert, die dem Existentialismus zugrunde liegt: „Parodiert ist der Existentialismus selber; von seinen Invarianten nichts übrig als das Existenzminimum.“ 124 Der nächste Satz hebt „die Opposition des Dramas gegen (die Heideggersche) Ontologie“ hervor. Wiederum drängt sich die Frage auf, ob hier nicht eine nur mögliche, plausible Lesart zum „Wahrheitsgehalt“, zur „objektiven Auflösung des Rätsels“ gemacht wird. Diese Frage begleitet auch die kritische Lektüre von Adornos „Para‐ taxis“-Essay über Hölderlin, der sich polemisch gegen Heideggers Inter‐ pretationen im Rahmen der Seinsphilosophie richtet. Mag sein, daß die ontologischen Extrapolationen Heideggers dem Erkenntnisinteresse einer konservativen, nationalistischen Ideologie dienen, wie Adorno meint. Seine eigenen Kommentare sind indessen alles andere als objektiv, denn sie lassen die semantischen Ebenen in Hölderlins Text hervortreten, die eine kritisch-theoretische Lektüre plausibel erscheinen lassen. Adornos Versuch, in der zweiten Hälfte des Kommentars Hölderlins parataktische (nicht-hypotaktische, nicht-hierarchische) Schreibweise für seinen eigenen kritischen Diskurs fruchtbar zu machen, veranschaulicht eher die Symbiose zwischen einer bestimmten Literatur und der Kritischen IV. Die Ästhetik der Kritischen Theorie: Von Benjamin zu Adorno 184 125 Th. W. Adorno, „Parataxis. Zur späten Lyrik Hölderlins“, in: ders., Noten zur Literatur III, Gesammelte Schriften, Bd. 2, op. cit., S. 471. 126 Siehe: Vf., Ideologie und Theorie, op. cit., Kap. VI: „Ideologie als Diskurs. Von Adorno zu Derrida“. 127 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, op. cit., S. 15. Theorie als eine „objektive Auflösung des Rätsels“ im Wahrheitsgehalt: „Mu‐ sikhaft ist die Verwandlung der Sprache in eine Reihung, deren Elemente anders sich verknüpfen als im Urteil.“ 125 Dieser Satz zeigt, von welchem Erkenntnisinteresse Adornos Diskurs geleitet wird und auf welches telos er sich zubewegt: auf die Konfiguration, auf die mimetische, parataktische Anordnung der Theorie, der Ästhetischen Theorie. Die durchaus legitime, ja unvermeidliche Einseitigkeit des Erkenntnisinter‐ esses, das sich hier artikuliert, steht meiner Meinung nach im Widerspruch zu Adornos metaphysischem Anspruch, das „Rätsel“ objektiv aufzulösen und die Wahrheit als „Wahrheitsgehalt“ über Eichendorffs, Becketts oder Hölderlins Texte auszusprechen. Dies ist der Grund, weshalb ich hier im vorletzten Kapitel vorschlage, die mimetische Angleichung der Theorie an die Kunst in Essay und Parataxis durch einen Dialog zwischen gleichberechtigten sozialwissenschaft‐ lichen Diskursen zu ersetzen, von denen keiner den gesamten Gegenstand (etwa Hölderlins Lyrik) und die Wahrheit über ihn für sich beansprucht, sondern den offenen Dialog ideologischer und theoretischer Sprachen als Mittel gemeinsamer Objektkonstruktion und Wahrheitsfindung akzeptiert. Es dürfte klar sein, daß ein solcher Dialog auf sozialwissenschaftlicher Grundlage sowohl den Absolutheitsanspruch der Heideggerschen Ontologie als auch den von Adornos negativer Ästhetik in Frage stellt. 126 5. Bemerkungen zu Hans Robert Jaußʼ Kritik an Adorno Adornos Versuch, Theorie durch eine ästhetische Wende, durch Ausrichtung auf Mimesis, Essay, Modell und Parataxis, zu retten, ist im Zusammenhang mit dem Scheitern der marxistischen Praxis in West- und Osteuropa („auch dort, wo sie gelang“, Adorno) zu verstehen. Auf dieses Scheitern verweist antizipierend der erste Satz der Negativen Dialektik: „Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirkli‐ chung versäumt ward.“ 127 Aus diesem Versäumnis geht ein negatives Denken hervor, welches das Bündnis mit der Praxis aufkündigt, sich beim kritischen Individuum 5. Bemerkungen zu Hans Robert Jaußʼ Kritik an Adorno 185 128 Siehe: Th. W. Adorno, „Individuum und Organisation“, in: ders., Soziologische Schriften I, Gesammelte Schriften, Bd. 8, op. cit., S. 455: „Gegenüber den kollektive Mächten, die in der gegenwärtigen Welt den Weltgeist usurpieren, kann das Allgemeine und Vernünf‐ tige beim isolierten Einzelnen besser überwintern, als bei den stärkeren Bataillonen, welche die Allgemeinheit der Vernunft gehorsam preisgegeben haben.“ 129 Th. W. Adorno, „Der Artist als Statthalter“, in: ders., Noten zur Literatur I, Gesammelte Schriften, Bd. 2, op. cit., S. 126. 130 Ibid., S. 123. 131 Ibid., S. 125. noch am besten aufgehoben wähnt 128 und das kritische, nicht-identische Kunstwerk zum Statthalter des integrierten revolutionären Subjekts macht. In diesem Kontext ist der erste Satz der Negativen Dialektik unmittelbar auf Adornos Essay über Valéry „Der Artist als Statthalter“ zu beziehen. Durch seine häufig als inhuman empfundene Ablehnung von Ideologie und Kulturkommerz wird der Künstler zum Statthalter des Gesamtsubjekts: „Der Künstler, der das Kunstwerk trägt, ist nicht der je Einzelne, der es hervor‐ bringt, sondern durch seine Arbeit, durch passive Aktivität wird er zum Statthalter des gesellschaftlichen Gesamtsubjekts.“ 129 So ist die revolutionäre Praxis bei Adorno im Ästhetischen aufgehoben. Diese Aufhebung ist zwar ein vorläufiger Verzicht auf Praxis, nicht jedoch eine Entschärfung der Kritik, die in der kompromißlosen Negativität der Kunst und der Kritischen Theorie aufbewahrt ist. Die von Adorno geschätzte Kunst verweigert sich der „sinnlichen Rezeptivität“ 130 und wendet sich gegen die Kulturindustrie, die mit ihren Genußmitteln „die Konsumenten zu Opfern psychotechnischer Behandlung macht“. 131 Es nimmt nicht wunder, daß eine solche Kunstauffassung Widerspruch hervorruft, zumal es in der Marktgesellschaft schon immer verlockend war, das anzupreisen, was sich mit dem Gesetz von Angebot und Nachfrage verträgt. Jaußʼ Kritik richtet sich nicht so sehr gegen dieses Gesetz, sondern gegen Adornos negativen, „asketischen“ Kunstbegriff. Er hat sicherlich nicht unrecht, wenn er in einem 1980 veröffentlichten und später in Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik (1982) ver‐ arbeiteten Aufsatz Adorno vorhält, dieser habe eine Ästhetik der modernen Kunst entwickelt, die auf andere Kunstepochen, etwa das Mittelalter, nicht anwendbar sei: „Geschichte der Kunst ist nicht auf den Generalnenner der Negativität zu bringen (…).“ Und: „(…) Die gesellschaftliche Funktion der Kunst ist auf ihren früheren, vorautonomen geschichtlichen Stufen mit IV. Die Ästhetik der Kritischen Theorie: Von Benjamin zu Adorno 186 132 H. R. Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt, Suhrkamp, 1982, S. 47 und S. 49. 133 Ibid., S. 65. dem Kategorienpaar von Negation und Affirmation nicht zulänglich zu erfassen.“ 132 Solche Argumente leuchten sofort ein, denn es ist klar, daß etwa Lope de Vegas im Siglo de Oro außerordentlich populäres Drama nicht mit Begriffen wie Negation und Nichtkommunikation zu beschreiben ist. Indessen zielen sie auch daneben, weil sie den Kontext verfehlen, in dem Adornos am Modell der Moderne ausgerichtete Ästhetik einen Sinn hat. Diese Ästhetik wollte nie Literaturwissenschaft („critique universitaire“) sein, die sich bemüht, alle denkbaren literarischen Gattungen unter einen philologischen Hut zu bringen. Wie die marxistischen Ästhetiken Lukácsʼ und Goldmanns, wie die ästhetischen Theorien Benjamins, Bachtins und Šklovskijs orientiert sie sich an einer bestimmten literarischen Praxis, um als kritische Theorie der Gesell‐ schaft die bestehenden Verhältnisse in Frage zu stellen. Jauß hingegen hat nie die Absicht bekundet, eine kritische Theorie der Gesellschaft (etwa als kritische Soziologie, Sprach- oder Literaturtheorie) zu entwickeln; deshalb unterscheiden sich seine theoretischen Anliegen grundsätzlich von denen der Kritiker Adorno, Benjamin, Bachtin, Šklovskij, Lukács und Goldmann. Das Kunstwerk ist ihm nicht Statthalter einer blockierten revolutionären Praxis, sondern philologischer Gegenstand. Der Leser seines Aufsatzes hat bisweilen den Eindruck, daß ihm im Gegensatz zu Benjamin und Adorno die Anliegen der Kulturindustrie gar nicht so fremd sind: etwa wenn er sich das kommerzialisierte Schlagwort „Normalverbraucher“ zu eigen macht und mit scheinbarer Naivität feststellt: „Die avantgardistische Malerei und Literatur nach dem zweiten Weltkrieg hat zweifellos das Ihrige dazu getan, die Kunst gegen die Üppigkeit der Konsumwelt wieder asketisch und damit für den Normalverbraucher unge‐ nießbar zu machen.“ 133 Jauß bezieht sich auf Autoren wie Beckett, Butor, Robbe-Grillet. Problematisch scheint mir in dieser Argumentation nicht so sehr die von ihm bemängelte Askese der Avantgarde zu sein, sondern der von ihm angelegte Maßstab des Normalverbrauchers: Kritische Literatur kann wie kritische Sozialwissenschaft und kritische Zeitungsprosa ein bestimmtes Sprachniveau nicht unterschreiten. Der Schriftsteller, der Jaußʼ „Apologie 5. Bemerkungen zu Hans Robert Jaußʼ Kritik an Adorno 187 134 Ibid. 135 H. R. Jauß, „Kleine Apologie der ästhetischen Erfahrung“, Konstanz, Universitätsverlag, 1972, S. 20-21. des ästhetischen Genusses“ 134 folgt, gleicht dem Soziologen oder Psycholo‐ gen, der Konzessionen an die diskursiven Verfahren der Ideologie macht (hier das Gute, dort das Böse), oder dem Journalisten, der seine Syntax zurechtstutzt, weil er erfährt, daß der Normalverbraucher die Satzgefüge anspruchsvoller Tageszeitungen nicht mehr zu bewältigen vermag. Vielen bietet nur die Bild-„Zeitung“ Genuß; Zeitungen wie die FAZ, Le Monde oder La Repubblica werden als ungenießbar zurückgewiesen. Sollen sie sich deshalb an der genießbaren und von breiten Bevölkerungsschichten ge‐ nossenen Boulevardpresse orientieren? Termini wie „Normalverbraucher“ brechen jeder kritischen Theorie ihre gegen die Kulturindustrie gerichtete Spitze ab. An dieser Tatsache ändert auch Jaußʼ Versuch nichts, zwischen ästheti‐ scher Negativität und dem Identifikations-, Katharsis- und Genußbedürfnis der Rezipienten zu vermitteln. Denn es versteht sich von selbst, daß er, der häufig den Ausdruck „ästhetische Distanz“ verwendet, nicht einseitig einer affirmativen Literaturtheorie das Wort reden möchte. Indessen sind die von ihm gegen Adorno gewendeten Begriffe so affirmativ-unverbindlich, daß sie problemlos in das Vokabular der Ideologien und der Kulturindustrie integriert werden können: „Insofern läßt die Ästhetik der Negativität, die Adorno als Therapie gegenüber der Kulturindustrie entwickelt, die Frage offen, wie der Abgrund zwischen der bisherigen Praxis und der Kunst als promesse de bonheur für die ästhetische Erfahrung überbrückt und der einsam betroffene Betrachter durch die kommunikative Erfahrung der Kunst in eine neue Solidarität des Handelns gebracht werden soll.“ 135 Was können aber „kommunikative Erfahrung“ und „Solidarität des Handelns“ in einer gesellschaftlichen und sprachlichen Situation bedeuten, die von kommerzialisierten Medien beherrscht wird? Hier rächt sich die Abwesenheit einer kritischen Gesellschaftstheorie in Jaußʼ Werk: Welcher Gesellschaftskritik sollen „ästhetische Distanz“ und „kommunikative Erfahrung“ konkret dienen? Wem, welchen Individuen oder welchem Kollektiv gilt die von Jauß beschworene „neue Solidarität des Handelns“? Im Gegensatz zu Adorno, der von einer Statthalterfunktion der Kunst sprechen kann, weil er von der Integration des revolutionären IV. Die Ästhetik der Kritischen Theorie: Von Benjamin zu Adorno 188 136 H. R. Jauß, Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt, Suhrkamp, 1998 (11. Aufl.), S. 207. 137 Siehe: H. R. Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, op. cit., S. 252. 138 L. Althusser, „Idéologie et appareils idéologiques dʼEtat“, in: ders., Positions, Paris, Editions sociales, 1976, S. 122. 139 Siehe: Vf., Roman und Ideologie. Zur Sozialgeschichte des modernen Romans, München, Fink, 1986, Kap. III, X, XI sowie Vf., Der europäische Künstlerroman. Von der romantischen Utopie zur postmodernen Parodie, Tübingen, Francke, 2008, Kap. VI: „Kunst als Funhouse, Spiel und Gimmick: John Barth, Italo Calvino und Joost Zwagerman“. 140 H. R. Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, op. cit., S. 48-49. Proletariats ausgeht, prägt Jauß mit Ausdrücken wie „Emanzipation“ 136 , „kommunikative Erfahrung“ und „Solidarität des Handelns“ lauter Leerfor‐ meln, die mit denen der Kulturindustrie im Einklang stehen: ebenso wie die von ihm beschriebenen assoziativen, admirativen, sympathetischen, kathar‐ tischen und ironischen Identifikationsmustert 137 , die von der Identifikation zwischen Leser und Held ausgehen. Sie beschreiben allesamt den von Louis Althusser und Michel Pêcheux kritisierten Identifikationsvorgang, der das Individuum zu einem ideologi‐ schen Subjekt (zum Helden oder Antihelden) macht: „Lʼidéologie interpelle les individus en sujets.“ 138 Jauß übersieht, daß schon die narrativen Schemata, in denen Helden und Antihelden interagieren, in jeder Hinsicht ideologisch sind. Dies ist der Grund, weshalb der moderne Roman und die Avantgarde das Erzählen als solches radikal in Frage stellen. 139 Versuche, traditionelle Erzählmuster zu restaurieren, sind als Konzessionen an kommerzialisierbare (weil konsumierbare) Ideologien zu werten. Erstaunlich ist schließlich ein globaler Vorwurf, den Jauß sowohl an die Adresse Adornos als auch an die der Tel-Quel-Gruppe richtet: sie hätten die Wechselbeziehung zwischen ästhetischer Negativität und Affirmation nicht berücksichtigt; sie hätten nicht gesehen, daß auch die unversöhnten, kritischen Werke mit der Zeit in die Tradition integriert und „klassisch“ werden: „Klassizität ist das ausgezeichnete Paradigma der Einverleibung von Negativität in Traditionen gesellschaftlicher Affirmation“. 140 Erstaunlich ist dieser Vorwurf deshalb, weil fast alle Essays der Noten zur Literatur sowie zahlreiche Arbeiten der Tel-Quel-Gruppe gegen diese „Einverleibung“ in Tradition, Ideologie und kommerzialisierte Kultur auf‐ begehren: Sowohl Adornos Essays über Eichendorff und Hölderlin (s. o.) als auch Kristevas Kommentare zu Mallarmé verfolgen die Absicht, Positionen der Negativität wiederherzustellen, zu stärken. Insofern verfehlt Jauß die Intention der Kritische Theorie und von Tel Quel, wenn er bemerkt: „Der 5. Bemerkungen zu Hans Robert Jaußʼ Kritik an Adorno 189 141 Ibid., S. 59. 142 H. R. Jauß, „Racines und Goethes Iphigenie“, in: R. Warning (Hrsg.), Rezeptionsästhetik, München, Fink, 1975, S. 360 Theorie der Tel-Quel-Gruppe fehlt offensichtlich die Einsicht in den Hori‐ zontwandel von ursprünglicher Negativität zu fortschreitender Positivität (…).“ 141 Adorno und Kristeva fehlt diese Einsicht keineswegs; sie paart sich viel‐ mehr mit dem Wissen um die Unentbehrlichkeit einer negativen Ästhetik (Literaturkritik), die Jauß, dem Autor von „Racines und Goethes Iphigenie“, der von der Notwendigkeit spricht, Goethes Iphigenie „von der Hülle des antikisierenden Klassizismus (zu) befreien“ 142 , gar nicht so fremd sein sollte. Freilich ist eine solche negative Ästhetik ohne eine entsprechend kritische Theorie der Gesellschaft sinnlos; eine solche Theorie fehlt jedoch in Jaußʼ Werk. IV. Die Ästhetik der Kritischen Theorie: Von Benjamin zu Adorno 190 V. Die literarische Ästhetik des Prager Strukturalismus Ähnlich wie der russische Formalismus, dessen Bemühungen um eine wissenschaftlich fundierte Literatur- und Kunsttheorie er fortsetzt, ist der Prager Strukturalismus nicht unabhängig von der Entwicklung der tschechi‐ schen und slowakischen Avantgarde der Zwischenkriegszeit zu verstehen. Wie der Literaturbegriff der Formalisten, der von den Sprachexperimenten der Futuristen nicht zu trennen ist, ist die Literaturauffassung der Struktu‐ ralisten aus dem Umgang mit Poetismus (Karel Teige) und Surrealismus (André Breton, Vítězslav Nezval) hervorgegangen. Davon zeugen u. a. Jan Mukařovskýs Aufsätze über Nezval, „Über die zeitgenössische Poetik“ (1929) sowie „Dialektische Widersprüche in der modernen Kunst“ (1935), in denen der begrifflich-kommunikative Charakter literarischer Werke ebenso in Frage gestellt wird wie die klassizistische Auffassung des Kunstwerks als harmonischer Totalität. Die Nähe des Strukturalismus zur Praxis der Avantgarde erklärt seine Ferne von den Positionen der Hegelschen Inhaltsästhetik sowie seine Verwandtschaft mit den Ästhetiken Adornos und Benjamins, auf die ich bereits in der Kritik der Literatursoziologie (1978) hingewiesen habe. Wie diesen beiden Autoren ging es Jan Mukařovský (1891-1975) und Felix Vodička (1909-1974), bis zu einem gewissen Grad auch Roman Jakobson (1896-1982), darum, eine Literatur- und Kunsttheorie zu entwickeln, die die Eigengesetzlichkeit und Autonomie der Werke berücksichtigt, ohne deren gesellschaftliche Genese und Wirkung zu vernachlässigen. Wie Adorno, obwohl in einem anderen theoretischen Kontext, war es den Prager Wissen‐ schaftlern um eine Auffassung der Werke als autonomer Erscheinungen und als „faits sociaux“ („faits historiques“) zu tun. Ähnlich wie Adorno strebten sie eine dialektische Vermittlung des Kant‐ schen und des Hegelschen Standpunktes an und faßten eine historische Strukturanalyse ins Auge, die, ausgehend von kantianischen und formalis‐ tischen Prämissen, Saussures Linguistik mit Husserls Phänomenologie und Durkheims Soziologie kombiniert. Im folgenden (Abschn. 1) sollen diese Einflüsse näher untersucht und aufeinander bezogen werden. 1 Zu Herbarts Abneigung gegen den spekulativen Idealismus Hegels und Fichtes sowie zu seinem Kantianismus schreibt W. Asmus in Herbart in seiner und in unserer Zeit, Essen, Neue Deutsche Verlagsgesellschaft, 1972, S. 13: „Diesem spekulativen Idealismus gegenüber (…) verstand Herbart sich als Kantianer, der an die realistische Seite der Philosophie Kants, an das ‚Ding an sich‘, an das Gegebensein eines Ansich-Seienden, anknüpfte.“ Zu Kants und Herbarts Einfluß auf O. Hostinský bemerkt M. Jůzl in seinem Buch Otakar Hostinský, Praha, Melantrich, 1980, S. 109: „(…) Hostinský wollte die Evidenz ästhetischer Urteile, mit der sich Kant und Herbart befaßten, empirisch nachweisen.“ 2 K. Chvatík, Strukturalismus und Avantgarde. Aufsätze zur Kunst und Avantgarde, München, Hanser, 1970, S. 133. 3 Siehe: J. Mukařovský, „Poznámky k sociologii básnického jazyka“ („Bemerkungen zur Soziologie der Dichtersprache“), in: ders., Kapitoly z české poetiky I, Praha, Melantrich, 1941, S. 242. Dabei wird sich zeigen, daß Kants Philosophie über den in der damali‐ gen tschechischen Ästhetik herrschenden Herbartismus ( Johann Friedrich Herbart, 1776-1841) 1 auf Mukařovskýs Ästhetik einwirkte und daß eine in‐ direkte Auseinandersetzung mit Hegel durch den Dialog mit tschechischen Marxisten wie Záviš Kalandra und Kurt Konrad herbeigeführt wurde. Mukařovskýs nach dem kommunistischen Staatsstreich vom Februar 1948 erzwungene Bekehrung zum Marxismus-Leninismus hat mit diesem Dialog freilich nichts zu tun. Květoslav Chvatík mag jedoch recht haben, wenn er auf seine Art Mukařovskýs Denken zwischen dem Kantschen und dem Hegelschen Pol ansiedelt: „Die Tradition des Herbartschen Formalis‐ mus wird hier durch die Hegelsche und Leninsche Dialektik fruchtbringend beeinflußt.“ 2 Im Gegensatz zu Adorno, der von der Hegelschen und der materialisti‐ schen Dialektik ausgeht und sie in Übereinstimmung mit Kants Erkenntnis‐ theorie in die Schranken weist, gehen Mukařovský und seine Vorgänger von Herbarts Kantianismus aus, den Mukařovský vor allem in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre im Dialog mit den Marxisten dialektisch korrigiert. In dieser Hinsicht ergänzt er Bachtins und Vološinovs Kritik am Formalismus. Es ist sicherlich kein Zufall, daß er gerade in seinem Aufsatz „Zur Soziologie der Dichtersprache“ (1935) Vološinov zustimmend zitiert. 3 Trotz dieser Verwandtschaft mit Adorno, Bachtin und Vološinov, die durch Einflüsse der Bachtin-Gruppe noch verstärkt wird, kann Mukařovskýs Ansatz nicht mehr im Rahmen einer wie auch immer gearteten junghegelianischen Problematik verstanden werden. Wie die russischen Formalisten, wie Roman Jakobson, auf dessen Poetik ich im zweiten Teil dieses Kapitels zu sprechen komme, geht er von einem kantianischen Kunstbegriff aus, der die Autonomie V. Die literarische Ästhetik des Prager Strukturalismus 192 4 J. Mukařovský, „Ästhetische Funktion, Norm und ästhetischer Wert als soziale Fakten“, in: ders., Kapitel aus der Ästhetik, Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S. 31-32. 5 J. Striedter, „Einleitung“ zu F. Vodička, Die Struktur der literarischen Entwicklung, München, Fink, 1976, S. LX. des literarischen Textes und des poetischen Sprachgebrauchs behauptet. Es geht primär darum, die Hegelsche Problematik kantianisch umzudeuten und zu nuancieren. Dies geht klar aus Mukařovskýs Aufsatz „Ästhetische Funktion, Norm und ästhetischer Wert als soziale Fakten“ (1936) hervor: „Die Kunst selbst weist, obwohl sie durch die Dominanz der ästhetischen Funktion und die daraus sich ergebende Autonomie von der Wirklichkeit isoliert und von der unmittelbaren aktiven Beziehung zu den Formen und Tendenzen des gesellschaftlichen Zusammenlebens ausgeschlossen ist (vgl. die bekannte Formel Kants: ‚das interesselose Wohlgefallen‘), eine Reihe von komplizierten soziologischen Problemen auf.“ 4 Kenner des tschechoslowakischen Strukturalismus, die mit den Schriften Bohuslav Havráneks, Vilém Mathesiusʼ oder Jiří Veltruskýs vertraut sind, könnten bereits an dieser Stelle einwenden, meine Darstellung sei zu einsei‐ tig auf das Werk Mukařovskýs ausgerichtet. Diese Einseitigkeit ist nicht nur mit der üblichen Floskel zu rechtfertigen, „es könne schließlich nicht alles behandelt werden“, sondern mit der auch von Chvatík und Jurij Striedter vorgebrachten These, die semiotische Ästhetik Mukařovskýs nehme in der literatur-und kunstwissenschaftlichen Produktion des Prager linguistischen Zirkels eine zentrale Stellung ein. Zu ihr bemerkt beispielsweise Striedter: „Sie ist das theoretische Kern‐ stück der ganzen Schule sowohl in entstehungsgeschichtlicher als auch in systematischer Hinsicht, sowohl für das Selbstverständnis als auch für die Rezeption und Beurteilung durch andere.“ 5 Im Laufe der Darstellung wird sich jedoch zeigen daß Jakobson und Vodička für die hier erörterte Ästhetik nicht minder bedeutsam, nicht minder charakteristisch sind als Mukařovský: für eine Autonomieästhetik Kantscher Provenienz, die ihre historische und soziologische Dimension sucht. V. Die literarische Ästhetik des Prager Strukturalismus 193 6 Siehe: H. Günther, Struktur als Prozeß. Studien zur Ästhetik und Literaturtheorie des tschechischen Strukturalismus, München, Fink, 1973, S. 11 und J. Striedter, „Einleitung“, op. cit., S. LI. 1. Der Prager Strukturalismus zwischen Formalismus, Philosophie und Linguistik Da längst nicht alle Arbeiten Mukařovskýs, Vodičkas und der anderen Mitglieder des Prager Kreises ins Deutsche übertragen wurden, konnten in der Vergangenheit zahlreiche vereinfachende Darstellungen entstehen, denen neben zeitgenössischen Vertretern des tschechoslowakischen Struk‐ turalismus (Chvatík, Sus, Červenka) vor allem Slawisten wie Hans Günther und Jurij Striedter entgegentraten. 6 Zu den populärsten Vereinfachungen gehört wohl die idée reçue, der tschechoslowakische Strukturalismus sei eine Fortsetzung des Formalismus mit anderen Mitteln und in einem anderen kulturellen und politischen Milieu. Diese Vorstellung erhält sich deshalb so hartnackig am Leben, weil sie wie alle Vorurteile und Halbwahrheiten einen wahren Kern enthält und daher schwer zu widerlegen ist. Schon die Tatsache daß Roman Jakobson, einer der wichtigsten Vertreter der formalen Methode, wesentliche Beiträge zur Entfaltung des Prager Strukturalismus leistete (er kam 1920 als Mitarbeiter der sowjetischen Handelsmission nach Prag und lehrte später als Professor an der Masaryk-Universität in Brünn), lassen den Strukturalismus bei ober‐ flächlicher Betrachtung als eine Fortsetzung des Formalismus erscheinen. Einer solchen Betrachtung entgeht neben der Tatsache, daß Jakobson und Mukařovský sich viel intensiver mit philosophischen und wissen‐ schaftstheoretischen Problemen befaßten als Šklovskij oder Ejchenbaum, die Kontinuität zwischen Mukařovskýs semiologischer Ästhetik und den ästhetischen Theorien Josef Durdíks (1837-1902), Otakar Hostinskýs (1847- 1910) und Otakar Zichs (1879-1934), die alle an Herbarts Kantianismus anknüpfen. In einer Diskussion aus dem Jahre 1934, in deren Verlauf der Marxist Záviš Kalandra den Vorwurf des „Formalismus“ an die Adresse der Prager Strukturalisten richtete, sprach Mukařovský von der historischen Berech‐ tigung des „Formalismus“ und ging dann auf den Unterschied zwischen diesem und dem Strukturalismus ein: „Was die wissenschaftliche Strömung angeht, die vom Prager linguistischen Zirkel vertreten wird, so ist sie - im Bereich der Literaturwissenschaft - sowohl aus lokalen Bedingungen V. Die literarische Ästhetik des Prager Strukturalismus 194 7 J. Mukařovský, R. Jakobson, „Formalisme russe, structuralisme tchèque (Conférences du cercle linguistique de Prague, Nov.-Dez., 1934)“, in: Change Nr. 3, 1969, S. 54. 8 Siehe: O. Sus, „Zwischen ‚Formalismus‘ und Strukturalismus“, in: Die Welt der Slaven, Jg. XXII, 2, N. F. I, 2, 1977, S. 402 und ders., „From the Pre-history of Czech Structuralism: F. X. Šalda, T. G. Masaryk, and the Genesis of Symbolist Aesthetics and Poetics in Bohemia“, in: P. Steiner, M. Červenka, R. Vroon, The Structure of the Literary Process. Studies Dedicated to the Memory of Felix Vodička, Amsterdam, Benjamins, 1982, vor allem S. 574-575. als auch aus Impulsen des Formalismus hervorgegangen. Sie gab sich selbst die Bezeichnung Strukturalismus, da ihr Grundbegriff die Struktur als dynamische Einheit ist.“ 7 Auf den qualitativen Unterschied zum Formalismus und das innovative Potential des Prager Strukturalismus weist auch Oleg Sus in einigen Pu‐ blikationen hin, etwa wenn er in „Zwischen ‚Formalismus‘ und Struktu‐ ralismus“ (1977) Viktor Erlich vorwirft, dieser fasse den Strukturalismus ganz zu Unrecht als einen „Ableger“ des Formalismus auf, oder wenn er in einer Studie über die Vorgeschichte des Strukturalismus die Einflüsse des Literaturkritikers F. X. Šalda (1867-1937) und T. G. Masaryks auf die tschechoslowakische Ästhetik und Poetik untersucht. 8 Obwohl Mukařovský und Vodička in Anlehnung an den Poetismus Teiges und den Surrealismus Toyens und Nezvals die avantgardistische Terminologie der Formalisten (Innovation, Verfremdung, Aktualisierung) weiterentwickelten, bildet nicht der Formalismus ihren philosophischen und wissenschaftlichen Ausgangspunkt, sondern die tschechische Ästhetik, die deutsche Philosophie (Kant, Hegel, Husserl) und Saussures Sprachwis‐ senschaft. Die Auseinandersetzung mit der letzteren sowie mit philosophischen und wissenschaftstheoretischen Fragen macht den qualitativen Unterschied zum Formalismus aus. Auf ihn geht indirekt Jan Mukařovský in „Der Strukturalismus in Ästhetik und Literaturwissenschaft“ ein. Seine Darstellung läßt erkennen, daß sich auch der Prager Strukturalismus im philosophischen Bereich zwischen dem Kantschen (Herbartismus) und dem Hegelschen (Marxismus) Pol bewegt. Sie läßt allerdings keine Zweifel am Primat des ersteren aufkommen: „Unter den ästhetischen Vorarbeiten ist an erster Stelle die Herbartsche Ästhetik zu nennen, deren tschechische Vertreter J. Durdík und O. Hostinský den Weg bereiteten, auf dem sich Hostinskýs Schüler O. Zich in seinen letzten Arbeiten der strukturalistischen Auffassung näherte; außerdem wurde diese eigen‐ ständige tschechische Entwicklung durch den Kontakt mit dem russischen 1. Der Prager Strukturalismus zwischen Formalismus, Philosophie und Linguistik 195 9 J. Mukařovský, „Strukturalismus v estetice a ve vĕdĕ o literatuře“ („Der Strukturalismus in der Ästhetik und in der Literaturwissenschaft“), in: ders., Kapitoly z české poetiky, Bd. 1, op. cit., S. 27. 10 Siehe: J. Mukařovský, „Otakar Zich“ in ders., Studie z estetiky, Praha, Odeon, 1966, S. 329: „O. Zich, der seine wissenschaftliche Laufbahn im Zeichen der psychologischen Ästhetik begann, erkannte immer deutlicher, daß die objektiven Eigenschaften des Kunstwerks von der individuellen Psychologie unabhängig sind und verwandelte sich in zunehmendem Maße in einen strukturalistischen Ästhetiker.“ (Hier zeigt sich, daß das strukturelle Denken bereits in der tschechischen Ästhetik angelegt war.) Siehe auch: O. Susʼ Vorwort zu: O. Zich, Estetika dramatického umĕní, Würzburg, Jal-Reprint, 1977, S. 1: „Auch später vergaß Mukařovský nie, Zich als einen der wichtigsten Wegbereiter des tschechischen Strukturalismus in der Heimat zu erwähnen.“ Eine Kurzdarstellung der Vorgeschichte des Prager Linguistenkreises findet der Leser in: L. Matejka, „Postscript. Prague School Semiotics“, in: Semiotics of Art. Prague School Contributions (Hrsg. L. Matejka, I. R. Titunik), Cambridge (Mass.), The MIT Press, 1976 und in: P. Steiner, B. Volek, „Semiotics in Bohemia in the 19th and Early 20th Centuries: Major Trends and Figures“, in: The Sign. Semiotics Around the World, Ann Arbor, Michigan Slavic Publications, 1978. Formalismus angeregt und methodologisch vertieft; über ihn ist sie jedoch vor allem mit ihrer Auffassung der Struktur als Gesamtheit von Zeichen hinausgelangt; aus der modernen deutschen Ästhetik wirkte B. Christiansen auf die Anfänge des Strukturalismus ein (…).“ Mukařovský geht anschließend auf die Bedeutung literarischer und anderer künstlerischer Strömungen für den Strukturalismus ein und fügt hinzu: „Philosophische Voraussetzungen lieferten vor allem die Philosophien Hegels (die dialektische Auffassung der inneren Widersprüche der Struktur und ihrer Entwicklung) und Husserls (die Gestaltung des Zeichens und sein Objektbezug) (…).“ 9 Er beschließt seine Darstellung mit Hinweisen auf die Bedeutung der Psychologie Bühlers, der Kunstgeschichte M. Dvořáks und der Linguistik Saussures und seiner Schüler. Im folgenden möchte ich die von Mukařovský skizzierte Vorgeschichte des Prager Strukturalismus kommentieren und da‐ bei vor allem auf die Rolle der tschechischen Ästhetik und der Saussureschen Linguistik sowie auf das Verhältnis von Kant, Hegel und Husserl in den Theorien des Prager linguistischen Zirkels näher eingehen. Von besonderer Bedeutung ist die ästhetische Theorie Otakar Zichs, des Schülers und Nachfolgers Hostinskýs, der die Ansätze seines Lehrers weiterentwickelte und später als Inhaber des Lehrstuhls für Ästhetik an der Karlsuniversität von Mukařovský abgelöst wurde. Zich ist nicht nur deshalb für den hier entworfenen Zusammenhang bedeutsam, weil er Mukařovskýs Werk unmittelbar beeinflußte 10 , sondern auch deshalb, weil er wohl als V. Die literarische Ästhetik des Prager Strukturalismus 196 11 Siehe: O. Sus, „Die Genese der semantischen Kunstauffassung in der modernen tsche‐ chischen Ästhetik“, in: Die Welt der Slaven, Jg. XVII, Heft 1, 1972, S. 203: „Den Begriff der Bedeutungsvorstellung mußte er (Zich) allerdings bei dem deutschen Ästhetiker Johannes Volkelt holen - bei Hostinský fand er ihn nicht.“ erster die Beziehung zwischen Form und Bedeutung systematisch unter‐ suchte. Drei wesentliche Gedanken aus Zichs Ästhetik, die später nachhaltig auf die Entwicklung des Prager Strukturalismus eingewirkt haben, können hier in aller Knappheit zusammengefaßt werden. Wie später Mukařovský und Jakobson geht Zich von dem Gedanken aus, daß das Kunstwerk (etwa das musikalische) eine Form sui generis ist, die nicht aus etwas anderem - aus einem anderen Zeichensystem, aus der Philosophie oder der Theologie - abgeleitet werden kann. Man sieht, wie hier unabhängig vom russischen Formalismus die These über die Autonomie des Kunstwerks vorgebracht und Kants Autonomieästhetik implizit gegen die heteronomen Auffassungen Hegels verteidigt wird. Trotz dieser Anerkennung der ästhetischen Autonomie hält Zich an dem Gedanken fest, daß die Beziehungen zwischen den verschiedenen Schichten des Kunstwerks - z. B. zwischen den Tonebenen in der Musik - nicht ohne Bedeutung sind. Er geht davon aus, daß ihre Einwirkung auf das Bewußtsein des Hörers oder Lesers das hervorbringt, was der Philosoph und Ästhetiker Johannes Volkelt (1848-1930) 11 als „Bedeutungsvorstellung“ bezeichnet hat. Ausgehend von der empirischen Psychologie versucht Zich, Volkelts idea‐ listischen Begriff zu konkretisieren und mit Hilfe von Experimenten im Bereich der Musikrezeption zu zeigen, wie Beziehungen zwischen Klängen von Hörern mit Bedeutungen verknüpft werden. Entscheidend ist, daß in Zichs Ansatz die „Bedeutungsvorstellung“ keine rein werkimmanente Erscheinung ist, sondern im Laufe der Rezeption zustande kommt. Dabei wird die hegelianische Frage nach der „Idee“ oder dem „Inhalt“ des Kunstwerks von der kantianischen Frage nach der Ein‐ stellung des Rezipienten abgelöst. (Vor allem dieser Gedanke wurde später von Mukařovský und der Konstanzer Rezeptionsästhetik aufgegriffen und weiterentwickelt.) Der dritte Gedanke kann als strukturalistisch par excellence bezeichnet werden. Als einer der ersten war sich Zich der Tatsache bewußt, daß in der Kunstwissenschaft nicht Einzelelemente eines Werks, sondern die Beziehungen zwischen diesen Elementen und deren Funktionen zum eigentli‐ chen Gegenstand der Betrachtung werden sollten. Miloš Jůzl faßt einen 1. Der Prager Strukturalismus zwischen Formalismus, Philosophie und Linguistik 197 12 M. Jůzl, „Místo Otakara Zicha v evropské estetice“ („Otakar Zichs Stellung in der europäischen Ästhetik“), in: ders., Vĕdecký odkaz Otakara Zicha, Brno, Česká Hudební Společnost, 1981, S. 30. 13 Siehe: J. Mukařovský, R. Jakobson, „Formalisme russe, structuralisme tchèque“, op. cit., S. 54. Siehe auch: K. Chvatík, Tschechoslowakischer Strukturalismus. Theorie und Geschichte, München, Fink, 1981, S. 48-58. 14 K. Chvatík, Tschechoslowakischer Strukturalismus, op. cit., S. 136. wesentlichen Teil des strukturalistischen Programms zusammen, wenn er über Zich schreibt: „Zich war sich dessen bewußt, daß das Kunstwerk nicht einfach die Summe seiner Teile ist, sondern das Ergebnis einer nuancierten Konstruktion, eines organisierten Systems.“ 12 An dieser Stelle wird klar, daß Hegels Begriff der dialektischen Totali‐ tät (des Systems von Wechselbeziehungen) über Volkelt, der von Kant, Hegel und Nietzsche beeinflußt worden war, in die tschechische Ästhetik Eingang fand. Insofern ist Mukařovskýs Hinweis auf Hegel in der weiter oben zitierten Passage durchaus ernst zu nehmen, zumal Mukařovský in zahlreichen Diskussionen mit Marxisten wie J. L. Fischer und Z. Kalandra seine Auffassung der Struktur als dialektischer Totalität weiter präzisierte. 13 Dennoch kann behauptet werden, daß Zichs und Mukařovskýs Ästhetik eine Autonomieästhetik im Sinne von Kant ist, weil sie primär nach der richtigen Einstellung dem Kunstwerk, dem literarischen Werk gegenüber fragt und nicht auf hegelianische Art dessen historische Bedeutung erforscht. Květoslav Chvatík, einer der bedeutendsten Vertreter des zeitgenössischen tschechoslo‐ wakischen Strukturalismus, erweist sich als Erbe dieser Ästhetik, wenn er Hans-Georg Gadamer dessen heteronome Kunstauffassung vorwirft und zur Besonderheit der ästhetischen Funktion bemerkt: „Trotzdem weist das Ding oder die Handlung, die Träger der ästhetischen Wirkung sind, eine bestimmte funktionale Struktur besonderen Charakters auf, die überwiegend als eine bestimmte absichtliche Anordnung der Form charakterisiert wird. Kant hat dieses Paradox in der Formel der Zweckmäßigkeit ohne Zweck erfaßt.“ 14 Es geht somit darum, daß im Bereich der Rezeption die Besonderheit der ästhetischen Funktion eines literarischen Textes - etwa von Cervantesʼ Don Quijote oder Goethes Werther - wahrgenommen wird. Dazu ist die von Mukařovský und den anderen Prager Strukturalisten geforderte ästhetische Einstellung vonnöten, ohne die der Werther-Roman auch als eine Apologie des Selbstmordes mißverstanden werden könnte. Der Begriff der Einstellung, der aus Edmund Husserls Phänomenologie stammt, ergänzt und konkreti‐ siert die kantianische Autonomieästhetik, in deren Mittelpunkt die Frage V. Die literarische Ästhetik des Prager Strukturalismus 198 15 E. Holenstein, Linguistik, Semiotik, Hermeneutik, Frankfurt, Suhrkamp 1976, S. 60 16 Ibid., S. 59. 17 J. Mukařovský, „K českému překladu Šklovského teorie prózy“ („Zur tschechischen Übersetzung von Šklovskijs Theorie der Prosa“), in: ders., Kapitoly z české poetiky, Bd. I, op. cit., S. 325. nach der richtigen Haltung des Betrachters, des Lesers steht (interesseloses Wohlgefallen, Gefallen ohne Begriff). Obwohl Husserls Phänomenologie keineswegs als kantianisch zu be‐ zeichnen ist, verstärkt ihr Begriff der Einstellung die kantianische Tendenz im Prager Strukturalismus: Er trägt wesentlich zur Stärkung der Betrachter- oder Rezipientenperspektive bei und richtet das Augenmerk auf die „Form“ oder die Ausdrucksebene. Mit Recht bemerkt Elmar Holenstein: „Der Begriff ‚Einstellung‘ verrät die Herkunft des methodologischen Rüstzeugs, mit dem Jakobson an die Aufklärung der Sprache herangeht. ‚Einstellung‘ (auch ‚Apperzeption‘) ist ein Begriff, der im Zentrum der phänomenologischen Philosophie steht.“ 15 Doch worauf richtet sich primär die Apperzeption? Holenstein ergänzt: „Was nach Jakobson und den russischen Formalisten die Poesie von der Prosa der Alltagssprache abhebt, ist ‚die Einstellung auf den Ausdruck‘.“ 16 Wie schon bei Kant geht die Wahl der Beobachter- oder Rezipientenperspektive einher mit einer Ausrichtung der Theorie auf die Ausdrucksebene, auf die „Form“. Es zeigt sich hier, daß der implizite Kantianismus der russischen Formalis‐ ten, der im zweiten Kapitel zur Sprache kam, von den Prager Strukturalisten expliziert und phänomenologisch vervollständigt wird: Er bildet den gemein‐ samen philosophischen Nenner der beiden theoretischen Strömungen. Er erklärt jenseits aller persönlichen Kontakte, die durch Jakobsons Emigration zustande kamen, weshalb die Strukturalisten die theoretischen Bemühungen der Formalisten fortsetzen konnten. Diese philosophisch-ästhetische Gemeinsamkeit hat Mukařovský und Vo‐ dička jedoch nicht daran gehindert, dialektisch über den Formalismus hin‐ auszugehen. In seinem Kommentar zur tschechischen Übersetzung (1934) von Viktor Šklovskijs Theorie der Prosa stellt Mukařovský programmatisch fest: „Eine bedingungslose Betonung des ‚Inhalts‘ mußte auf eine radikale Antithese stoßen, die die ‚Form‘ betonte, damit eine Synthese der beiden, nämlich der Strukturalismus, herbeigeführt werden konnte.“ Etwas weiter fügt er hinzu: „Wir sind uns dessen bewußt, daß die These ‚Alles in einem Werk ist Form‘ durch die Antithese ‚Alles in einem Werk ist Inhalt‘ ausgeglichen werden könnte, ja sollte (…).“ 17 1. Der Prager Strukturalismus zwischen Formalismus, Philosophie und Linguistik 199 18 K. Chvatík, Tschechoslowakischer Strukturalismus, op. cit., S. 14-15. Im folgenden wird sich allerdings zeigen, daß die Strukturalisten - unter ihnen vor allem Jakobson - sich stärker für die Ausdrucksebene als für die Inhaltsebene engagierten. Dabei machten sie noch intensiver und systematischer als die russischen Formalisten die Sprachwissenschaft Ferdinand de Saussures für ihre Ästhetik fruchtbar. Zwei Theoreme aus Saussures Linguistik waren für sie wesentlich: der Gedanke, daß die Beziehungen zwischen Signifikanten und Signifikaten willkürlich sind und ausschließlich durch gesellschaftliche Konventionen zustande kommen; der komplementäre Gedanke, daß die Sprache ein kon‐ ventionelles System von Ähnlichkeiten, Gegensätzen und Unterschieden ist, in dem jedem Element eine bestimmte Funktion zufällt. Der erste Gedanke schlägt sich in Jakobsons und Mukařovskýs Literatur‐ theorie nieder: einer Literaturtheorie, die auf der Überlegung gründet, daß Literatur neue Konventionen ins Leben ruft, wobei das sprachliche Zeichen auf eine neue, oft unkonventionelle und innovative Art verwendet wird, so daß der Nexus zwischen Signifikant und Signifikat anders gestaltet wird als in der kommunikativen Rede. Der zweite Gedanke wurde vor allem von Mukařovský in dessen Defini‐ tion des Strukturbegriffs weiterentwickelt (vgl. weiter unten). Seiner Ansicht nach soll nicht nur das Sprachsystem als funktionale Einheit von einander be‐ dingenden Elementen aufgefaßt werden, sondern auch das Kunstwerk. Man sieht, daß hier ein Versuch gemacht wird, Hegels dialektischen Totalitäts‐ begriff mit Saussures funktionalistischem Systembegriff zu kombinieren. Daher hat Chvatík recht, wenn er behauptet, „der funktionale Gesichts‐ punkt (sei) für die Prager Schule grundlegend“, und zugleich den histo‐ rischen Charakter des tschechischen Strukturalismus hervorhebt, durch den sich dieser von Saussures vorwiegend synchroner Betrachtung unter‐ scheidet: „Aber auch der Gesichtspunkt der Entwicklung der sprachlichen Erscheinungen wird nicht vernachlässigt; in dieser Einheit der Synchronie und Diachronie besteht der grundlegende Unterschied zwischen der Prager Schule und den Genfer Schülern de Saussures.“ 18 Für die literaturästhetische Problematik, die hier zentral ist, ist die Auf‐ nahme von Saussures Linguistik in das theoretische Repertoire des Struktu‐ ralismus deshalb von Bedeutung, weil sie dort - ähnlich wie Husserls Begriff der „Einstellung“ - die kantianische Tendenz verstärkt: die Ausrichtung des Rezipienten auf den „Ausdruck“, auf die Ausdrucksebene. Im Zusammenhang V. Die literarische Ästhetik des Prager Strukturalismus 200 19 Siehe: L. Goldmann, „Die strukturalistisch-genetische Methode in der Literaturge‐ schichte“, in: ders., Soziologie des Romans, Frankfurt, Suhrkamp, 1984. 20 Siehe: K. Chvatík, Tschechoslowakischer Strukturalismus, op. cit., S. 48-58. mit Jakobsons und Mukařovskýs Poetik soll im folgenden diese Ausrichtung näher erläutert werden. 2. Autonomieästhetik: Jakobson, Mukařovský und die Thesen von 1929 Die Thesen des Prager Linguistenkreises, die im Jahre 1929 dem internatio‐ nalen Slawistenkongreß in französischer Sprache vorgelegt wurden, haben nicht nur eine große historische Bedeutung für die Entwicklung des Struk‐ turalismus und der Linguistik, sondern können zugleich als Ausgangspunkt einer Ästhetik und Poetik aufgefaßt werden, die sich an der Ausdrucksebene (der Ebene der Signifikanten) orientiert und die Besonderheit des dichteri‐ schen (literarischen) Zeichens betont. Da ein ausführlicher Kommentar der Thesen, die einen vorwiegend linguistischen Charakter haben, den Rahmen dieser Darstellung sprengen würde, will ich mich auf zwei Grundgedanken beschränken: Der erste betrifft den sprachwissenschaftlichen Strukturalismus allgemein; der zweite bezieht sich auf den besonderen Charakter der poetischen Sprache. Die Vertreter der Prager Linguistik (R. Jakobson, N. Trubetzkoj, B. Havránek) waren weitgehend mit Saussures These einverstanden, daß die Sprache als ein Zusammenwirken von Funktionen, d. h. als System, aufzufassen ist. Doch dieses Einverständnis mit Saussure lief keineswegs auf eine mechanische Übernahme von dessen synchroner Linguistik hinaus. Denn die Prager Wissenschaftler faßten das Sprachsystem in diachroner Perspektive als historische Einheit auf und schufen dadurch die Grundlagen eines „genetischen Strukturalismus“, den lange vor Lucien Goldmann 19 und wohl unabhängig von Jean Piaget auch der tschechische Marxist Josef Ludvík Fischer, ein Zeitgenosse Jakobsons und Mukařovskýs, in seiner „dialektischen Strukturologie“ ins Auge faßte. 20 Historisch und strukturalistisch zugleich ist die erste These, in der es heißt: „Andererseits kann die synchrone Beschreibung die Idee der Evolution auch nicht ganz ausschließen, denn auch in einem Bereich, der in synchroner Perspektive untersucht wird, existiert das Bewußtsein des 2. Autonomieästhetik: Jakobson, Mukařovský und die Thesen von 1929 201 21 „Les Thèses de 1929“, in: Le Cercle de Prague, Change Nr. 3, Paris, 1969, S. 24. (Frz. Original in Travaux du Cercle linguistique de Prague I. Mélanges linguistiques dédiés au premier congrès des philologues slaves, Prague, 1929.) 22 Siehe: V. N. Vološinov, Marxismus und Sprachphilosophie, Frankfurt-Wien-Berlin, Ull‐ stein, 1975. 23 „Les Thèses de 1929“, op. cit., S. 36. 24 Zur formalistischen und strukturalistischen Ästhetik und Poetik bemerkt A. A. Han‐ sen-Löve: daß „das Ästhetische bzw. Poetische in einer funktionalen Einstellung (ustanovka) bzw. Perspektive besteht, die sich (…) vornehmlich auf den Signifikanten richtet (nach der Formel: Die poetische Sprache reduziert sich auf die ‚Einstellung auf den Ausdruck‘ und damit auf ihre ‚ästhetische Funktion‘…) (…).“ (A. A. Hansen-Löve, „Randbemerkungen zur frühen Poetik Roman Jakobsons“, in: H. Birus, S. Donat, B. Meyer-Sickendieck [Hrsg.], Roman Jakobsons Gedichtanalysen. Eine Herausforderung an die Philologien, Göttingen, Wallstein, 2003, S. 91-92.) vergangenen Stadiums neben dem Bewußtsein des gegenwärtigen und des künftigen Stadiums.“ 21 Dieser Gedanke an eine historische Ungleichzeitig‐ keit des Gleichzeitigen verbindet die Strukturalisten nicht nur mit Hegel und Marx, sondern auch mit Bachtin und Vološinov, die sich ähnlich zur Dynamik des Sprachsystems geäußert haben. 22 Kantianisch hingegen ist der zweite Grundgedanke, der in der 3. These zum Ausdruck kommt und den Gegensatz zwischen der kommunikativen und der poetischen Sprache zum Gegenstand hat: „Aus der Theorie, die behauptet, daß die poetische Sprache dazu neigt, den autonomen Aspekt des Zeichens zu betonen, folgt, daß alle Ebenen des Zeichensystems, die in der kommunikativen Sprache ausschließlich als Mittel dienen, in der poetischen Sprache mehr oder weniger bedeutende autonome Werte annehmen.“  23 Sowohl in Jakobsons als auch in Mukařovskýs geistiger Entwicklung erfüllten die Thesen eine wichtige programmatische Funktion. Beide Wis‐ senschaftler gingen davon aus, daß literarische Texte nur als sinnvolle und zugleich autonome (eigenen Gesetzen gehorchende) Totalitäten zu verste‐ hen sind. Dabei verknüpfte Mukařovský die historisch-genetischen und die rezeptionstheoretischen Komponenten mit dem Autonomietheorem, während Jakobson wesentlich einseitiger die Autonomie der poetischen Ausdrucksweise hervorhob und zum Gegenstand seiner Analysen machte. 24 Doch auch Mukařovský wies vor allem in den 1930er Jahren auf den spezifi‐ schen Charakter der poetischen Sprache hin (die Lyrik stand im Mittelpunkt seiner Betrachtungen) und auf die Notwendigkeit, in Übereinstimmung mit der 3. These zwischen poetischem und kommunikativem Sprachgebrauch funktional zu unterscheiden. V. Die literarische Ästhetik des Prager Strukturalismus 202 25 Ibid., S. 39. 26 R. Jakobson, „Novejšaja russkaja poezija. Nabrosok pervyij: Podstupak k Chlebnikovu“ („Die neueste russische Dichtung. Erster Entwurf: Zu Chlebnikov“), in: ders., Selected Writings, Bd. 5, Den Haag, Mouton, 1979, S. 305. 27 R. Jakobson, K. Pomorska, Dialogues, Cambridge (Mass.), The MIT Press, 1983, S. 9. Ein Vergleich zwischen einer Passage aus der 3. These und einschlägigen Äußerungen Jakobsons und Mukařovskýs zeigt, welche Bedeutung das „Manifest“ des Jahres 1929 für die Kunstauffassung der beiden Theoretiker hatte. In der 3. These heißt es: „Das organisatorische Prinzip der Kunst, durch das sie sich von anderen semiologischen Strukturen unterscheidet, ist in der Tatsache zu suchen, daß die Kunst die Aufmerksamkeit nicht auf das Signifikat (signifié), sondern auf das Zeichen (signe) selbst richtet.“  25 Genau das meinte Jakobson, als er 1921 in einem Aufsatz über den futuristischen Dichter Velimir Chlebnikov und die neue russische Lyrik diese als eine Textsorte definierte, die „auf den Ausdruck ausgerichtet ist“ („vyskazyvanie s ustanovkoj na vyraženie“). 26 Die Hervorhebung der Ausdrucksebene ist bei Jakobson nicht nur als kantianisches Prinzip („ohne Begriff “) aufzufassen, sondern auch als avant‐ gardistisches Element, das den Moskauer und Prager Sprach- und Litera‐ turwissenschaftler mit der tschechischen und vor allem der russischen Avantgarde verbindet. In seinem in den frühen 1980er Jahren veröffentlich‐ ten Gespräch mit Krystina Pomorska stellt Jakobson die lyrischen Versuche seiner Jugendzeit in einem avantgardistisch-futuristischen Kontext dar: „(…) Hartnäckig suchte ich, sinnvolle Wörter zu vermeiden, um mich auf die elementaren Bestandteile des Wortes konzentrieren zu können.“ 27 Die transmentale Sprache der Futuristen Kručonych und Chlebnikov, die jenseits aller semantischen Zusammenhänge Phoneme kombinierte (vgl. Kap. 2), war also Jakobsons Leitbild. Wie stark der Futurismus auf den jungen Wissenschaftler einwirkte, zeigt einer der ersten Aufsätze Jakobsons, der den Titel „Futurizm“ („Futurismus“) trägt und im Sommer 1919 in der Zeitschrift Iskusstvo abgedruckt wurde. Uneingeschränkt bejaht dort der Autor die Hauptanliegen der russischen Avantgarde. Der „Futurismus“, erklärt er, „ist der Antipode des Klassizis‐ mus“, und fügt an anderer Stelle hinzu: „Die neue Kunst hat Schluß gemacht mit den statischen Formen, sie hat Schluß gemacht mit dem letzten Fetisch des Statischen - mit der Schönheit. In der Malerei ist nichts absolut. Was 2. Autonomieästhetik: Jakobson, Mukařovský und die Thesen von 1929 203 28 R. Jakobson, „Futurizm“ („Futurismus“), in: ders., Selected Writings, Bd. 3, Den Haag, Mouton, 1981, S. 718 und S. 719. 29 T. G. Winner, „Roman Jakobson and Avantgarde Art“, in: Roman Jakobson. Echoes of his Scholarship (Hrsg. D. Armstrong, C. Van Schoonveld), Lisse, Peter de Ridder, 1977, S. 512. 30 Siehe: K. H. Mácha, Máj, Praha, Nakladatelství Vilém Šmidt, 2008. 31 J. Mukařovský, „Jazyk, který básní“ („Sprache der Dichtung“), in: ders., Cestami poetiky a estetiky, Praha, Československý spisovatel, 1971, S. 178. für die Künstler von gestern die Wahrheit war, ist heute Lüge, sagt das futuristische Manifest.“ 28 Die avantgardistischen Erfahrungen der frühen Jahre haben in Jakob‐ sons Werk ihre Wirkung nie verloren und sollten als Ausgangspunkte seiner Ästhetik und Poetik aufgefaßt werden. Thomas G. Winner ist da‐ her zuzustimmen, wenn er in einem Aufsatz über „Roman Jakobson und avantgardistische Kunst“ bemerkt: „Die Grundgedanken, die Jakobson, den achtzehnjährigen Zaum-Dichter und Freund und Mitarbeiter Majakovskijs, Chlebnikovs, Kručonychs und Malevičs, beschäftigten, haben ihre Faszina‐ tion für ihn nie eingebüßt.“ 29 Diese Faszination betrifft u. a. den autonomen Ausdruck, der weder im Begriff noch in irgendwelchen Ideologemen oder Theologemen aufgeht. Gegen die begriffliche Reduktion auf die Inhaltsebene wendet sich auch Mukařovský in seinen Kommentaren zu Máchas Gedicht Mai (Máj). (Der ro‐ mantische Dichter Karel Hynek Mácha - 1810-1836 - verfaßte neben einem aufsehenerregenden Tagebuch, Erzählungen und Gedichten das lyrisch-epi‐ sche Gedicht Máj, das außer von Mukařovský auch von Jakobson, Vodička und Havránek analysiert wurde.) 30 Wie Jakobson versucht Mukařovský zu zeigen, daß die Ausdrucksebene in der Dichtung eigenen Gesetzen gehorcht, die nicht aus den Gesetzmäßigkeiten der Inhaltsebene ableitbar sind. Dabei spielt die Assonanz als Assoziation von Phonemen in den Wörtern máj (poetischer Terminus für květen = Mai) und láska (Liebe) eine wesent‐ liche Rolle: „Und die Worte ‚máj‘ und ‚láska‘ und keineswegs die Begriffe, die ihnen entsprechen, bilden gleich am Anfang des Gedichts dadurch einen magischen Zweiklang, daß der für sie charakteristische Selbstlaut auch in anderen Wörtern immer wiederkehrt (…).“ 31 Aber nicht nur der Vokal [á] bewirkt durch seine Wiederkehr eine für das Gedicht charakteristische phonetische Redundanz, sondern auch die Konsonanten [j] und [1], die in anderen Wörtern - etwa in slavík (Lerche) und tajný (geheim) - die Schlüs‐ sellexeme máj und láska auf phonetischer Ebene konnotieren. (Greimas und V. Die literarische Ästhetik des Prager Strukturalismus 204 32 M. Proust, A la recherche du temps perdu, Bd. I, Paris, Gallimard, Bibl. de la Pléiade, 1954, S. 389. 33 M. Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (In Swanns Welt 2), Frankfurt, Suhrkamp, 1974, S. 514. 34 R. Jakobson, „Language and Culture“, in: ders., Selected Writings, Bd. 7, op. cit., S. 111. 35 R. Jakobson, „Linguistik und Poetik“, in: J. Ihwe (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Linguistik, Bd. 1, Frankfurt, Athenäum-Fischer, 1972, S. 110. seine Mitarbeiter würden sagen, daß auf diese Weise phonetische „Ebenen“ oder phonetische Isotopien entstehen: siehe Kap. VII. 3.) Die phonetischen Einheiten sind nicht ohne weiteres zu übersetzen, denn die tschechische Assonanz geht verloren, sobald statt máj und láska Mai und Liebe, maggio und amore oder May und love eingesetzt werden. Ähnliches widerfährt der Wortsequenz „le doux Lamballe qui, dans son blanc, va du jaune coquille dʼœuf au gris perle“ 32 aus Marcel Prousts A la recherche du temps perdu. In der deutschen Übersetzung büßt sie nicht nur die Alliteration zwischen doux und dans sowie die Assonanz zwischen dans und blanc ein, sondern auch die dominierende Assonanz zwischen Lamballe und blanc: „das weiche Lamballe, dessen weißlicher Ton von Eierschalengelb zu Perlgrau übergeht“. 33 Die deutsche Alliteration zwischen weiche und weißlicher bringt etwas völlig Neues hervor (einen „neuen Ausdruck“, „espressione nuova“, würde Croce sagen: vgl. Kap I. 5). Dies ist der Hauptgrund, weshalb Jakobson an der Übersetzbarkeit von Dichtung zweifelt: „Die Frage der poetischen Sprache ist eine ganz andere. Man könnte sogar sagen, daß eine wortgetreue Übersetzung von Dichtung ein Widerspruch in sich sei (a contradiction in terms).“ 34 Damit greift er einen zentralen Gedanken Croces und der New Critics (Brooksʼ, Ransoms: vgl. Kap. I. 5) wieder auf. Im Unterschied zu den New Critics versucht er jedoch, das besondere Funktionieren der Dichtersprache sprachwissenschaftlich zu analysieren, und geht dabei von dem inzwischen bekannten Grundsatz aus, daß in der Dichtung das Äquivalenzprinzip dominiert, das paradigmatischen Charak‐ ter im Sinne von Saussure hat: „Die poetische Funktion projiziert das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination. Äquivalenz wird zum konstitutiven Verfahren einer Sequenz erhoben. In der Dichtung wird eine Silbe mit jeder anderen Silbe der gleichen Folge äquivalent; Wortakzente werden Wortakzenten gleichgesetzt, ebenso das Fehlen eines Akzentes einem Fehlen; prosodische Längen mit prosodischen Längen, Kürzen mit Kürzen (…).“ 35 2. Autonomieästhetik: Jakobson, Mukařovský und die Thesen von 1929 205 36 J. Mukařovský, „O současné poetice“ („Über die zeitgenössische Poetik“), in: ders., Cestami poetiky a estetiky, op. cit., S. 106. 37 R. Jakobson, „Linguistik und Poetik“, op. cit., S. 108. Mit anderen Worten, die syntagmatischen Kombinationen werden in der Lyrik durch die semantischen und phonetischen Selektionen auf paradig‐ matischer Ebene vorbestimmt: In Máchas Gedicht sind Worte wie máj, láska und háj (Hain) syntagmatisch kombinierbar, weil die langen Silben mit dem Selbstlaut [á] als Äquivalente aufgefaßt werden. (D.h., sie bilden eine phonetische Isotopie, die z.T. den syntaktischen Aufbau bestimmt.) Es leuchtet ein, daß die Projektion von phonetisch äquivalenten Einheiten „von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination“ in jeder Spra‐ che besonderen Gesetzen gehorcht, die die Besonderheit und Autonomie der Dichtung ausmachen. Deshalb ist nicht nur die Übersetzung von Gedichten in andere Sprachen problematisch, sondern auch ihre Übertragung in begriffliche Rede, die Hegel für möglich hielt. „Die dichterische Sprache“, bemerkt Mukařovský, „hat eine andere Funktion als die kommunikative Sprache: Die kommunikative Sprache lenkt unsere Aufmerksamkeit auf das, was ausgedrückt wird, die dichterische Sprache lenkt sie auf das Wie des Ausdrucks.“ 36 In seinem bekannten Aufsatz „Linguistik und Poetik“ (1960), in dem auch das poetische Äquivalenzprinzip erörtert wird, konkretisiert Jakobson Mukařovskýs Argumentation, indem er sechs Sprachfunktionen unterschei‐ det: die emotive, die vorwiegend auf den Sender selbst gerichtet ist; die konative, die sich an den Empfänger richtet, die metasprachliche, die den Kode thematisiert, die phatische, die sich auf den Kontakt oder das Kommu‐ nikationsmedium bezieht, die referentielle, die den Kontext zum Gegenstand hat, und schließlich die poetische Funktion, die zum Selbstzweck wird: „Die Einstellung auf die Nachricht als solche, die Zentrierung auf die Nachricht um ihrer selbst willen, ist die poetische Funktion der Sprache.“ 37 Hier werden Kants Theoreme „ohne Begriff “, „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ und „interesseloses Wohlgefallen“ im linguistischen Diskurs umfor‐ muliert und präzisiert: Die Sprache der Dichtung gefällt „ohne Begriff “, weil die phonetischen Einheiten der Ausdrucksebene eigenen Gesetzen gehorchen und zum wesentlichen Bestandteil dieser besonderen Sprache geworden sind. Diese ist als „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ aufzufassen, weil die poetische Funktion die anderen (mitteilenden) Funktionen zwar nicht verschwinden, aber zweitrangig werden läßt. Die richtige Einstellung V. Die literarische Ästhetik des Prager Strukturalismus 206 38 Zur Dominantsetzung der „poetischen Funktion“ bei Jakobson siehe auch: J. Užarević, „Problema poetičeskoj funkcii“, in: Contributions to the International Congress „Roman Jakobson Centennial“, Moscow, December 1996 / Materialy meždunardonovog kongressa „100 let R. O. Jakobson“, Moskva, Inst. „Otrkrytoje Obščestvo“, 1996, S. 119. 39 J. Mukařovský, „Jazyk spisovný a jazyk básnický“ („Schriftsprache und Dichterspra‐ che“), in: ders., Cestami poetiky a estetiky, op. cit., S. 119. ist schließlich die eines „interesselosen Wohlgefallens“, weil jede Art von utilitaristischer oder zweckrationaler Rezeption dazu tendiert, die poetische Nachricht und Funktion auf eine referentielle, kontextuelle, emotive oder phatische Heteronomie zu reduzieren. In Übereinstimmung mit den „intuitiven Kantianern“ Šklovskij, Ejchen‐ baum und Tynjanov bemühten sich die Prager Strukturalisten, allen diesen Varianten der Heteronomie entgegenzuwirken. Wie die Formalisten wand‐ ten sie sich gegen jede Art von Psychologismus und Soziologismus. „Das Kunstwerk“, schreibt Mukařovský, „hört auf, sobald es einmal fertiggestellt ist, ein einfacher Ausdruck der seelischen Verfassung seines Schöpfers zu sein, und wird zu einem Zeichen, d.h. zu einem sozialen Faktum sui generis, das der überindividuellen Kommunikation dient und abgetrennt ist von der subjektiven Psychologie seines Schöpfers.“ Analoge Aussagen findet man bei Jakobson in seinem 1933-1934 erschie‐ nenen Artikel „Co je poezie? “ („Was ist Dichtung? “), in dem es u. a. um die Beziehung zwischen Text und Psyche im Werk Máchas (s. o.) geht. Wie Mukařovský hebt er die Autonomie der dichterischen Signifikanten hervor und die Unmöglichkeit, die poetische Nachricht aus den Problemen der Künstlerpsyche abzuleiten. 38 In dieser Hinsicht stimmten die Prager Strukturalisten mit den russischen Formalisten überein; wie diese betonten sie die Autonomie der poetischen Sprache sowie deren Fähigkeit, die Wirklichkeitswahrnehmung der Rezipi‐ enten zu verfremden, zu aktualisieren und zu entautomatisieren. Formalistisch ist Mukařovskýs Sprachduktus, wenn er schreibt: „Die Funktion der poetischen Sprache besteht in der maximalen Aktualisierung der Spracher‐ scheinung. Aktualisierung ist das Gegenteil von Automatisierung, d. h. sie ist Entautomatisierung einer Handlung. Je stärker eine Handlung automatisiert ist, desto weniger wird sie bewußt ausgeführt; je stärker sie aktualisiert wird, desto vollständiger dringt sie ins Bewußtsein.“ 39 Angesichts dieser avantgardistischen Autonomieästhetik drängt sich die Frage auf, ob sie nicht an einem Grundwiderspruch leidet: Wie ist Mukařovskýs und Jakobsons kantianisches Plädoyer mit dem von der 2. Autonomieästhetik: Jakobson, Mukařovský und die Thesen von 1929 207 40 O. Sus, „Zwischen ‚Formismus‘ und Strukturalismus“, op. cit., S. 407. 41 Ibid., S. 427. surrealistischen und futuristischen Avantgarde geforderten Praxisbezug zu vereinbaren? Forderten Surrealisten und Futuristen nicht die Einheit von Politik und Ästhetik, das Engagement der Dichtung, ja deren Auflösung im Alltag? Pratiquer la poésie! Wie ist dieses surrealistische mot dʼordre mit dem Autonomiestatus der Dichtung, mit der praxisfernen Autoreflexivität der „poetischen Nachricht“ in Einklang zu bringen? Kann die von Surrealisten und Futuristen geforderte Kulturrevolution, können „Verfremdung“ und „neues Sehen“ (Šklovskij) im Rahmen einer Autonomieästhetik à la Jakobson verwirklicht werden? Es könnte sein, daß sowohl im Formalismus (vgl. Kap. II. 5) als auch im Strukturalismus ein latenter, aber unaufhebbarer Wider‐ spruch zwischen kantianischer Interesselosigkeit und avantgardistischem engagement, zwischen poetischer und praktischer Funktion schwelt. 3. Jan Mukařovskýs avantgardistische Ästhetik Avantgardismus und Kantianismus verbünden sich zeitweilig in Jan Mukařovskýs Argumentation, wenn es gilt, den hegelianischen Logozentrismus in die Schranken zu weisen. Daß die tschechische Ästhetik lange vor Mukařovský antihegelianische Züge aufwies, fällt auch Oleg Sus auf, der im Zusammenhang mit dem Gegensatz zwischen Herbartismus und Hegelianismus bemerkt: „Antipathien gegen Hegel, die Hegelsche Inhalts‐ ästhetik und den spekulativen Charakter des deutschen Idealismus zeigte auch Otakar Hostinský.“ 40 Sus erinnert daran, daß der Empiriker und Herbartianer Josef Durdík nicht nur die Hegelsche, sondern auch die Schellingsche „Inhaltsästhetik“ ablehnte, und schreibt über Zich: „Otakar Zich hat als erster im Bereich der tschechischen Ästhetik tiefergehend die Spezifik und Unübersetzbarkeit der Bedeutungskomponenten der einzelnen Künste begründet; die Haupt‐ voraussetzung lieferte ihm hierzu Hostinskýs Ästhetik (…).“ 41 Mukařovský setzt diese antihegelianische Tendenz der tschechischen Äs‐ thetik fort, wenn er den Begriff der Weltanschauung, den ein hegelianischer Marxist wie Goldmann mit Vorliebe auf Dramen und Dichtungen anwendet, mit Skepsis betrachtet. In „Kunst und Weltanschauung“ („Umění a světový názor“, 1947) stellt Mukařovský in einem ersten Schritt eine Verbindung V. Die literarische Ästhetik des Prager Strukturalismus 208 42 J. Mukařovský, „Umĕní a svĕtový názor“ („Kunst und Weltanschauung“), in: ders., Studie z estetiky, Praha, Odeon, 1966, S. 246. 43 Ibid., S. 247. zwischen Weltanschauung und begrifflichem System her. Er geht davon aus, daß der von verschiedenen Philosophen definierte Begriff der Weltan‐ schauung drei wesentliche Komponenten enthält: Er kann als „noetische Grundlage“ einer Gesellschaft, als „Ideologie“ einer Gruppe oder Klasse und als „philosophisches System“ aufgefaßt werden. Die Grenzen zwischen den letzten beiden Definitionen sind fließend, denn das philosophische System geht über die Ideologie lediglich durch seine Kohärenz und begriffliche Stringenz hinaus. Der gemeinsame Nenner dieser drei Auffassungen der Weltanschauung ist das begriffliche System als System von Signifikaten. Obwohl Mukařovský mit Lucien Goldmann in der Ansicht übereinstimmt, daß vor allem an‐ spruchsvolle Kunstwerke enge Beziehungen zu Weltanschauungen unter‐ halten und nicht unabhängig von diesen zu verstehen sind, beharrt er auf dem Grundtheorem des Prager Strukturalismus, daß literarische Texte und Kunstwerke allgemein nicht auf begriffliche Systeme als Weltanschauungen (Goldmann) oder Ideen (Hegel) zu reduzieren sind. Anders als Goldmann und andere Hegelianer stellt er sich auf den funktionalen Standpunkt und betont den stets offenen Rezeptionsprozeß li‐ terarischer Werke, in dessen Verlauf diese immer neue und z.T. widersprüch‐ liche Bedeutungen oder Funktionen annehmen können. Jeder hegelianische Versuch, das Werk mit einer eindeutig bestimmbaren Weltanschauung zu identifizieren, ist ein dubioser Vorgang, in dem „die Überlegungen zur sogenannten Philosophie bestimmter literarischer Werke in der Regel Erläuterungen zur Philosophie des Literaturwissenschaftlers sind, die dieser mit Zitaten aus dem analysierten Werk illustriert“. 42 Obwohl Mukařovský betont, daß Kunstwerke stets eine „lebendige Be‐ ziehung“ zu Weltanschauungen unterhalten, relativiert er diese These, die an Goldmanns „genetischen Strukturalismus“ erinnert, indem er betont, daß diese Beziehung zur Weltanschauung „nicht die einzige Funktion der Kunst ist, nicht einmal der hohen Kunst“. 43 Dies übersahen die Hegelianer Goldmann und Lukács, als sie literarische Texte auf eindeutig bestimmbare begriffliche Systeme festlegten: auf die Ideologie des aufstrebenden Bür‐ gertums oder die Theologie des radikalen Jansenismus (vgl. Kap. II. 4). Wie ist es im Kontext des „genetischen Strukturalismus“ zu erklären, daß 3. Jan Mukařovskýs avantgardistische Ästhetik 209 44 K. Chvatík, „Die ästhetische Einstellung“, in: ders., Mensch und Struktur. Kapitel aus der neostrukturalen Ästhetik und Poetik, Frankfurt, Suhrkamp, 1987, S. 33. 45 J. Mukařovský, „Die Ästhetik der Sprache“, in: ders., Studien zur strukturalistischen Ästhetik und Poetik, München, Hanser, 1974, S. 136. Racines Bérénice und Phèdre, Tragödien, die die Peripetien des extremen Jansenismus ausdrücken sollen, im 20. Jahrhundert von Planchon neu inszeniert wurden und auf gesellschaftliche Gruppen wirkten, die noch nie etwas vom Jansenismus gehört haben? Auf diese Frage antwortet Mukařovský mit dem Funktionsbegriff und mit dem aus ihm ableitbaren Begriff des Funktionswandels. Mit Recht bemerkt zu diesem Begriff K. Chvatík: „Den Ausgangspunkt für Mukařovskýs Auf‐ fassung des Ästhetischen bildete und bildet auch weiterhin die Problematik der ästhetischen Funktion.“ 44 Die Beziehung zu einer bestimmten Weltan‐ schauung ist nur ein Funktionszusammenhang, in den der literarische Text eingebettet ist. Andere Zusammenhänge, in denen aufgrund veränderter Rezeptionsbedingungen ästhetischer Genuß, didaktischer Nutzen oder äs‐ thetisch-poetische Innovation dominieren, sind als Alternativen denkbar. Entscheidend ist, daß in Mukařovskýs Kunstauffassung die ästhetische Funktion im Kunstwerk dominiert (als Dominante auftritt), während sie in der philosophischen oder politischen Rede oder in der Werbung der kognitiven, der sozialen oder der kommerziellen Funktion untergeordnet wird. „Die Vorherrschaft der ästhetischen Funktion in der Dichtersprache“, bemerkt Mukařovský in seinem Aufsatz „Die Ästhetik der Sprache“, „beruht also im Unterschied zur Mitteilungssprache auf der ästhetischen Relevanz der Äußerung als einer Ganzheit.“ 45 Hier tritt ein weiterer Aspekt der ästhetischen Autonomie zutage: Das Kunstwerk bedeutet nicht nur im kognitiven Zusammenhang mit der Welt‐ anschauung, aus der es hervorgegangen sein mag, sondern in vielen anderen funktionalen Zusammenhängen, in denen es dank seiner Vieldeutigkeit einen Bedeutungswandel durchmacht. So wurde beispielsweise das Werk Hermann Hesses in Nordamerika aus dem neuromantischen Kontext der Wanderbewegung herausgelöst und erfüllte im Bereich einer kritischen Subkultur, nämlich der amerikani‐ schen Jugend- und Protestbewegung der 1960er Jahre, eine völlig neue Funktion, die mit der deutschen romantischen Tradition kaum etwas zu tun hatte. Einen ähnlichen Funktionswandel machte im Laufe der Jahrhunderte Goethes Werther-Roman durch: Das Manifest einer revoltierenden Jugend V. Die literarische Ästhetik des Prager Strukturalismus 210 46 N. Trubetskoj, in: J. Fontaine, Le Cercle linguistique de Prague, Tours, Mâme, 1974, S. 28. 47 Siehe, J. Mukařovský, „K pojmosloví československé teorie umĕní“ („Zur Begriffsbil‐ dung der tschechoslowakischen Kunsttheorie“), in: ders., Studie z estetiky, op. cit., S. 117. wurde zum Gegenstand der internationalen Philologie, zum „Briefroman des 18. Jahrhunderts“, und die affektive Funktion, die kurz nach Erscheinen des Romans (1774) dominierte, wurde als Dominante von der ästhetischen Funktion abgelöst. Der Funktionsbegriff liegt auch Mukařovskýs Auffassung der Struktur zugrunde, die er in Anlehnung an Saussure und den im Prager Linguisten‐ kreis wirkenden russischen Phonologen Nikolaj Trubetzkoj definiert. Auf dem Slawistenkongreß des Jahres 1929, auf dem die bekannten „Thesen“ diskutiert wurden, erklärt Trubetzkoj : „Ihrem Charakter nach universalistisch, geht die Phonologie vom System als einem organischen Ganzen aus und untersucht die Struktur dieses Systems.“ 46 Der Ausdruck „organisches Ganzes“ bedeutet, daß „Struktur“ hier, ähn‐ lich wie Saussures „System“, als funktionale Totalität zu betrachten ist, deren Elemente nicht isoliert, sondern in ihren Wechselbeziehungen - d. h. funktional - zu untersuchen sind. In Übereinstimmung mit Hegel und den Marxisten, mit deren Schriften sie vertraut waren 47 , gingen Mukařovský und seine Mitarbeiter von der Annahme aus, daß die Elemente eines literatischen Textes (eines Kunstwerks) nur als funktionale Bestandteile eines Zeichensystems verstanden werden können. In der Literatur- und Kunstwissenschaft hat vor allem Mukařovský eine recht genaue Definition des Strukturbegriffs vorgeschlagen, wobei er versuchte, diesen gegen die komplementären Begriffe der Komposition und des Kontextes abzugrenzen. In seinem Aufsatz „Der Begriff des Ganzen in der Kunsttheorie“ (1929) unterscheidet er in einem ersten Schritt Komposition und Struktur. Die Komposition wird durch ihre Vollständigkeit gekennzeichnet. Eine lyrische Komposition, etwa ein Sonett, wird nicht als solche wahrgenommen, wenn sie nicht vollständig ist. Solange wir nicht einen Text vor uns haben, der sich aus vierzehn Versen zusammensetzt, sprechen wir nicht von einem Sonett. Der zweite Begriff, den Mukařovský gegen den Strukturbegriff abgrenzt, ist der Kontext, der im Gegensatz zur Komposition einen „inhaltlichen“, semantischen Charakter hat, jedoch wie diese durch Vollständigkeit gekenn‐ zeichnet wird. Wohl das einfachste Beispiel für den Kontext im Sinne von Mukařovský ist der Satz. Solange ein Satz nicht vollständig, abgeschlossen ist, wird er nicht als solcher wahrgenommen. Im fiktionalen Bereich kann 3. Jan Mukařovskýs avantgardistische Ästhetik 211 48 J. Mukařovský, „Pojem celku v teorii umĕní“ („Der Begriff des Ganzen in der Kunst‐ theorie“), in: ders., Cestami poetiky a estetiky, op. cit., S. 89. 49 Ibid., S. 91. 50 Siehe: Vf., Roman und Ideologie. Zur Sozialgeschichte des modernen Romans, München, Fink, 1986, Kap. 3. ähnliches vom Kriminalroman gesagt werden, der nur dann als sinnvolle Einheit wahrgenommen wird, wenn er abgeschlossen ist. „Die letzte Seite“, bemerkt Mukařovský, „kann die Bedeutung alles bisher Gesagten radikal verändern. Solange der Kontext nicht abgeschlossen ist, ist die Gesamtbe‐ deutung unsicher.“ 48 Auch der Kontext muß also vollständig sein, wenn er als Bedeutungseinheit wahrgenommen werden soll. Die Struktur hingegen ist ganz anders geartet; denn das Kriterium für Strukturiertheit ist nicht Vollständigkeit, sondern die funktionale Wechsel‐ beziehung zwischen Elementen (die es natürlich auch im Sonett und im Kriminalroman gibt). Ein Gedicht- oder ein Romanfragment (auch das Text‐ fragment eines Kriminalromans) weisen eine Struktur auf: die Interdepen‐ denz von phonetischen, semantischen und syntaktischen oder narrativen Einheiten. In dieser Hinsicht ähnelt Mukařovskýs Definition der Struktur dem Systembegriff Saussures: Um ein Sprachsystem zu verstehen, ist es nicht not‐ wendig, dessen empirische Totalität zu erfassen, denn auch eine unvollstän‐ dige, fragmentarische Kenntnis einer Sprache ermöglicht die Darstellung struktureller Regelmäßigkeiten, etwa der Tatsache, daß im Französischen der phonetische Gegensatz zwischen stimmhaftem und stimmlosem [s] relevant ist. Mukařovský faßt die Struktur nicht nur als eine offene, sondern zugleich als eine widersprüchliche Einheit auf, deren verschiedene Elemente mitein‐ ander in Konflikt geraten können, ja geraten sollen. Der avantgardistische und negative Charakter seines Strukturbegriffs tritt vor allem dann in Er‐ scheinung, wenn es im Aufsatz über den Ganzheitsbegriff heißt: „Je weniger Widersprüche eine künstlerische Struktur aufweist, desto geringer ihre Individualität, desto mehr nähert sie sich der allgemeinen, unpersönlichen Konvention.“ 49 Originalität und innovativer Charakter der Werkstruktur leben also vom Widerspruch: etwa in Robert Musils großem Roman Der Mann ohne Eigenschaften, der das kausale Gefüge der Gattung durch Parataxis und radikalen Essayismus in Frage stellt. 50 Den Nexus zwischen Strukturbegriff und Avantgarde bildet bei Mukařovský nicht nur das Spannungsverhältnis V. Die literarische Ästhetik des Prager Strukturalismus 212 51 J. Mukařovský, „Dialektische Widersprüche in der modernen Kunst“, in: ders., Studien zur strukturalistischen Ästhetik und Poetik, op. cit., S. 207. (Studie z estetiky, op. cit., S. 255.) 52 Ibid., S. 211. 53 K. Chvatík, Mensch und Struktur, op. cit., S. 13. 54 Siehe: ibid., S. 14. 55 Siehe: J. Mukařovský, „Pojem celku v teorii umĕní“ („Der Begriff des Ganzen in der Kunsttheorie“), in: ders., Cestami poetiky a estetiky, op. cit., S. 93. In diesem Text läßt Mukařovský erkennen, daß es ihm um eine Verknüpfung von Strukturalismus und Dialektik geht: Auf S. 94 spricht er von der „Verwandtschaft des strukturalen Denkens mit der dialektischen Logik“. von Tradition und Innovation, Künstler und Gesellschaft, Inhalt und Form, ästhetischen und außerästhetischen Funktionen etc., sondern auch der „Zerfall des Individuums“ („rozklad individua“) 51 , der dazu führt, daß die Struktur in ihrer Eigengesetzlichkeit von der gesellschaftlichen Tätigkeit der Individuen und Kollektive abgelöst wird. „Es ist kein Zufall“, erklärt Mukařovský, „daß parallel zur modernen Kunst auch die Kunsttheorie auf unterschiedlichen Wegen und auf verschiedenen Gebieten zum Begriff der künstlerischen Struktur als einer im Kollektivbe‐ wußtsein existierenden kontinuierlichen Entwicklungsreihe gelangt, die sich unter dem Einfluß der in ihr enthaltenen Widersprüche fortentwickelt. Die Struktur scheint aus der Abhängigkeit vom Individuum und von der materiellen Wirklichkeit gelöst, aber dadurch ist auch ihr Gleichgewicht gestört; die in der Kunst immer verdeckt wirkenden Antinomien treten sichtbar an die Oberfläche. Das Kunstwerk erscheint als Komplex von Gegensätzen.“ 52 Diese Darstellung ist deshalb wichtig, weil sie bestätigt, daß die Beziehung zwischen Avantgarde, Struktur und menschlicher Praxis von den Prager Strukturalisten bereits im Jahre 1935 thematisiert wurde. Dabei wurden, wie K. Chvatík zeigt, die Subjektproblematik und die „konkrete gesellschaftliche Tätigkeit“  53 keineswegs übergangen, sondern im Anschluß an J. L. Fischers „dialektische Strukturologie“ mit dem Strukturbegriff verknüpft. 54 Mukařovskýs Darstellung ist noch aus einem anderen Grunde wichtig: weil sie den avantgardistischen Einschlag des Prager Strukturbegriffes erkennen läßt, der im Gegensatz zu Hegels und Lukácsʼ Totalitätsbegriff keine harmonische, integrierte Einheit bezeichnet, sondern ein widersprüchliches Ganzes, das die Widersprüche der Gesellschaft - etwa den Widerspruch zwischen ästhetischen und außerästhetischen Normen im LʼArt pour lʼArt - verarbeitet. 55 Indem 3. Jan Mukařovskýs avantgardistische Ästhetik 213 56 J. Mukařovský, „Estetická norma“ („Die ästhetische Norm“), in: ders., Studie z estetiky, op. cit., S. 75. Mukařovský den offenen Widerspruch hervorhebt, entfernt er sich von Hegel und nähert sich den Junghegelianern, Bachtin und Adorno. An die Ästhetik des letzteren erinnert auch seine negative Bestimmung der ästhetischen Norm. Während die Nichteinhaltung außerästhetischer - juristischer, moralischer, religiöser oder pädagogischer - Normen mehr oder weniger streng geahndet wird, wird die Verletzung ästhetischer Nor‐ men häufig belohnt: „Zusammenfassend können wir behaupten, daß der spezifische Charakter der ästhetischen Norm darin besteht, daß sie eher verletzt als eingehalten wird.“ 56 Vom Künstler erwartet das an moderner Kunst und Avantgarde geschulte Publikum, daß er bestehende ästhetische Normen (etwa Gattungsnormen) verletzt und dadurch als Erneuerer wirkt, der eine neue Wahrnehmung der Wirklichkeit, ein „neues Sehen“ im Sinne von Šklovskij, ermöglicht. Durch Normverletzung im sprachlichen Bereich opponiert Dichtung allen Varianten der kommunikativen Sprache, die nicht nur festen Normen, sondern darüber hinaus kodifizierten grammatischen Regeln gehorcht. Der Gegensatz zwischen ästhetischer Norm, die verletzt werden soll, und gram‐ matischer Regel, die nicht verletzt werden darf, konkretisiert den grundsätz‐ lichen Unterschied zwischen kommunikativer und poetischer Sprache, in der sogar die Verletzung der grammatischen Regel zum ästhetischen Prinzip erhoben wird (etwa im Dadaismus). Freilich war sich Mukařovský der Tatsache bewußt, daß Normverletzung nicht immer das Hauptcharakteristikum der Kunstproduktion war. Im klassizistischen Zeitalter, etwa im Frankreich des 17. Jahrhunderts, wo die normativen Poetiken Chapelains und Boileaus das literarische Kommunika‐ tionssystem beherrschten, war das Schreiben viel strenger kodifiziert als in den letzten beiden Jahrhunderten. Deren Normensysteme wurden von Romantik und Avantgarde allmählich unterwandert und ausgehöhlt. Der Grund, weshalb Mukařovský und Vodička in ihren Beschreibungen der literarischen Evolution die Normverletzung in den Mittelpunkt rücken, ist in der Parallelentwicklung von Strukturalismus und europäischer Avantgarde zu suchen. Ähnlich wie die Formalisten, in deren Terminologie die Haupt‐ anliegen des russischen Futurismus zum Ausdruck kamen, orientierten sich die Prager Strukturalisten an den avantgardistischen Bewegungen ihrer V. Die literarische Ästhetik des Prager Strukturalismus 214 57 Siehe: K. Teige, „Poétisme“ (1924), „Manifeste du poétisme“ (1928) sowie: K. Chvatík, Z. Pešat, „Le Poétisme“ und J. Brabec „Du Poétisme à la création surréaliste“; alle Texte in: Change Nr. 10 („Prague poésie“), 1972. Siehe auch: J. Mukařovský, „O strukturalismu“ („Über den Strukturalismus“), in: ders., Studie z estetiky, op. cit., S. 115: „Der Strukturalismus entstand und lebt in unmittelbarer Wechselbeziehung zur künstlerischen Produktion, und zwar zu der unserer Zeit.“ Siehe auch Mukařovskýs Kommentare zu V. Nezval in: J. Mukařovský, „Sémantický rozbor básnického díla: Nezvalův ‚Absolutní hrobař‘“ („Semantische Analyse einer Dichtung: Nezvals ‚Der absolute Totengräber‘“), in: ders., Kapitoly z české poetiky, Bd. 2, op. cit., S. 385: „(…) Erst die moderne Linguistik und die moderne Philosophie, vor allem die Husserls, richten das theoretische Augenmerk wieder auf das Zeichen. In diesem Punkt trifft sich die Wissenschaft vom Zeichen mit der Kunst.“ (Gemeint ist natürlich die avantgardistische Kunst Nezvals und seiner Zeitgenossen.) Zeit: am tschechischen Poetismus 57 , am tschechischen und französischen Surrealismus (Nezval, Breton). Aus Mukařovskýs Überlegungen zur ästhetischen Funktion und zur ästhetischen Norm gehen seine Thesen über den ästhetischen Wert gleichsam von selbst hervor. Wo Norm und Funktion als Variablen erkannt wurden, kann auch der ästhetische Wert keine überzeitliche, transhistorische Größe sein. In Übereinstimmung mit dem sich wandelnden Normensystem ver‐ schiedener Gesellschaften wird ein und dasselbe Kunstwerk unterschiedlich und oft widersprüchlich beurteilt. Ein Werk, das in der Vergangenheit als „wichtig“, „bedeutend“ oder „groß“ eingestuft wurde, wird in einem späteren Kontext abgewertet: etwa das Werk des österreichischen Autors Anton Wildgans, das um die Jahrhun‐ dertwende von Kritikern gerühmt, heute jedoch eher der Trivialliteratur zugerechnet wird. Auch ein fremder kultureller Kontext kann zu Neubewer‐ tungen eines Werks führen: Die Romane und Erzählungen Alberto Moravias, die im deutschen Sprachraum von vielen als halbpornographisch eingestuft werden und zum Teil in entsprechender Aufmachung erscheinen, werden in Italien nicht zu Unrecht zusammen mit den Texten Sartres und Camusʼ in einem existentialistischen Zusammenhang rezipiert. Werturteile sind also nicht nur von Zeitalter zu Zeitalter, sondern auch von Kultur zu Kultur und von Gruppe zu Gruppe verschieden. Muß diese Erkenntnis zum Relativismus in der Literatur- und Kunstkritik führen? Einem solchen Relativismus beugt Mukařovský vor, indem er auf den nichtbegrifflichen, nichtreferentiellen und vieldeutigen Charakter des künstlerischen Zeichens hinweist, der es befähigt, in grundverschiedenen Normensystemen zu bedeuten und den Gesinnungswandel der Kritiker 3. Jan Mukařovskýs avantgardistische Ästhetik 215 58 J. Mukařovský, Kapitel aus der Ästhetik, op. cit., S. 108. 59 J. Mukařovský, „Může mít estetická hodnota v umĕní platnost všeobecnou? “ („Kann der ästhetische Wert in der Kunst Allgemeingültigkeit haben? “), in: ders., Studie z estetiky, op. cit., S. 82. 60 Ibid., S. 80. 61 Siehe: O. Sus, „Individuum - Struktur - anthropologische Konstante. Randbemerkun‐ gen zur Beziehung zwischen dem Strukturalismus und der ästhetisch-semiotischen Anthropologie“, in: P. V. Zima (Hrsg.), Semiotics and Dialectics. Ideology and the Text, Amsterdam, Benjamins, 1981, S. 270-273. und der gesamten Öffentlichkeit zu überdauern. „Man kann also sagen“, erklärt er in dem für Ästhetik und Literatursoziologie wichtigen Aufsatz „Ästhetische Funktion, Norm und ästhetischer Wert als soziale Fakten“ (1936), „daß der unabhängige ästhetische Wert eines Kunstgebildes um so höher und dauerhafter ist, je schwerer sich das Werk einer wörtlichen Interpretation aus der Sicht des allgemein angenommenen Wertsystems einer bestimmten Zeit und eines bestimmten Milieus unterwirft.“ Er fügt hinzu, „daß Werke mit starken inneren Widersprüchen - gerade wegen ihrer Spannung und der daraus sich ergebenden Bedeutungsvielfalt - eine weit weniger geeignete Grundlage für eine mechanische Anwendung des ganzen Systems der praktisch gültigen Werte bieten als Werke ohne innere Widersprüche oder mit schwachen Widersprüchen. Auch hier erweist sich also die Vielgestalt, die Differenzierung und die Bedeutungsvielfalt des materiellen Kunstgebildes als potentieller ästhetischer Vorzug“. 58 In einem Vortrag zum Problem der Allgemeingültigkeit des ästhetischen Wertes spricht Mukařovský von der „semantischen Fähigkeit“ 59 des Kunst‐ werks, in neuen Zusammenhängen zu bedeuten und neue „ästhetische Ob‐ jekte“ (vgl. weiter unten) hervorzubringen. Der ästhetische Wert erscheint ihm als „lebendige Energie“ 60 , die der Widersprüchlichkeit und Vieldeutig‐ keit des literarischen Textes innewohnt und die als „anthropologische Konstante“ 61 den Norm- und Bedeutungswandel überdauern kann. Freilich handelt es sich nicht um einen überzeitlichen Schönheitswert, sondern um das Bedeutungspotential des Textes, das in jeder sprachlichen und kulturellen Situation anders realisiert wird. Mit Recht unterscheidet daher K. Chvatík im Anschluß an Mukařovský einen „potentiellen“ von einem „aktuellen“ Wert: Während der potentielle Wert der „lebendigen Energie des Werkes“ entspricht, seiner Vieldeutigkeit und seiner Fähigkeit, in verschiedenen historischen Kontexten zu bedeuten, meint der aktuelle V. Die literarische Ästhetik des Prager Strukturalismus 216 62 K. Chvatík, Tschechoslowakischer Strukturalismus, op. cit., S. 149. 63 Ibid., S. 152. 64 Zum Spannungsverhältnis zwischen Kants Autonomieästhetik und der Heteronomie des avantgardistischen Engagement vgl. Vf., „Jan Mukarovský’s Aesthetics between Autonomy and the Avant-Garde“, in: V. Macura, H. Schmid (Hrsg.), Jan Mukařovský and the Prague School / Jan Mukařovský und die Prager Schule, Potsdam, Univ. Potsdam - Ústav pro českou literaturu, 1999, S. 73. 65 J. Mukařovský, „Význam estetiky“ („Die Bedeutung der Ästhetik“), in: ders., Studie z estetiky, op. cit., S. 60. Wert seine zeitlich und gesellschaftlich begrenzte Übereinstimmung „mit der aktuellen ästhetischen Norm“. 62 Diese Übereinstimmung hängt wiederum vom Zusammenwirken der ästhetischen mit außerästhetischen Werten im Werk ab und von der Frage, wie dieses Zusammenspiel ästhetisch gestaltet wird. In diesem Kontext unterscheidet Chvatík den ästhetischen vom künstlerischen Wert: „Wenn der künstlerische Wert des Werks die Zusammenfassung aller Werte ist, deren Träger das Werk ist, so ist der ästhetische Wert die Art und Weise der Organisierung dieser dynamischen Einheit (…).“ 63 Diese Ausführungen zeigen, wie weit die Ästhetik des Prager Struk‐ turalismus von der Hegels entfernt ist, in der Vieldeutigkeit und Wider‐ sprüchlichkeit als Zeichen der Unvollkommenheit oder gar Minderwertig‐ keit aufgefaßt wurden, und wie sehr sie ihre ästhetischen Kriterien den avantgardistischen Bewegungen der Zwischenkriegszeit verdankt. Wie bei Bachtin, wie in der Kritischen Theorie zeichnet sich auch hier ein globaler Gegensatz zwischen den klassizistischen Ästhetiken des Hegelianismus und einer avantgardistischen Kunstauffassung ab, die sich zwischen Kants Autonomiepostulat und dem engagement der Avantgarde bewegt. 64 Von der hegelianischen Ästhetik - etwa Lukácsʼ - unterscheidet sich Mukařovskýs ästhetische Theorie auch durch ihren semiotischen Zeichen‐ begriff und ihre Versuche, ästhetische Probleme mit Hilfe der Semiotik (Semiologie) als Fachwissenschaft zu lösen. Dieses grundsätzlichen Unter‐ schieds scheint sich Mukařovský nicht immer bewußt zu sein; vor allem dann nicht, wenn er Croce vorwirft, dieser habe die Ästhetik mit der Lingu‐ istik identifiziert, und voller Zuversicht behauptet: „Sie (die Ästhetik) ging aber jedesmal aus einer solchen scheinbar tödlichen Umarmung erneuert und in ihrer Autonomie bestätigt hervor.“ 65 Wurde sie nicht auch im Prager Strukturalismus (und stärker noch als bei Croce) zu einer semiotischen oder soziologisch-semiotischen Fach‐ 3. Jan Mukařovskýs avantgardistische Ästhetik 217 66 J. Mukařovský, Kapitel aus der Ästhetik, op. cit., S. 146. wissenschaft, die immer häufiger der modernen Semiotik zugeschlagen wird? Der Zeichenbegriff, mit dessen Hilfe Mukařovský versuchte, zwei wesentliche Aspekte des Kunstwerks - Artefakt und ästhetisches Objekt - zu unterscheiden, läßt vermuten, daß er, ohne es zu beabsichtigen, der fachwissenschaftlichen Vereinnahmung der philosophischen Ästhetik Vorschub leistete. In seinem bekannten Aufsatz „Die Kunst als semiologisches Faktum“ (1936) geht er von Saussures Zeichentheorie aus und vergleicht das Kunst‐ werk als materielles Symbol oder Artefakt mit Saussures signifiant. Dem signifié, das in seiner Darstellung implizit bleibt, entspricht die Bedeutung oder die Interpretation und Bewertung des Artefakts durch ein bestimmtes Kollektiv: „Jedes Kunstwerk ist ein autonomes Zeichen, das sich zusammen‐ setzt aus 1. dem ‚materiellen Werk‘, das die Bedeutung eines sinnlichen Symbols hat; 2. aus dem ‚ästhetischen Objekt‘‚ das im Kollektivbewußtsein wurzelt und die Stelle der ‚Bedeutung‘ innehat; 3. aus dem Verhältnis zur bezeichneten Sache, das nicht auf eine besondere unterschiedliche Existenz hindeutet (…), sondern auf den Gesamtkontext der sozialen Phänomene (…) einer bestimmten Umwelt.“ 66 Diese Darstellung sowie Mukařovskýs Vergleich von Artefakt und signi‐ fiant (und symmetrisch dazu von ästhetischem Objekt und signifié) sind des‐ halb mißverständlich, weil sie den Eindruck erwecken, als sei die Bedeutung ausschließlich im Bereich der Rezeption zu orten und als sei die Beziehung zwischen Artefakt und ästhetischem Objekt der zwischen Ausdrucksebene und Inhaltsebene analog und ebenso willkürlich wie in Saussures Theorie der Nexus zwischen Signifikant und Signifikat. Eine solche Willkür ist jedoch in Kunst und Literatur nicht gegeben, weil der Kunstproduktion und der Werkstruktur Bedeutungen innewohnen: Was Mukařovský als Artefakt oder materielles Symbol bezeichnet, ist eine Synthese von Ausdrucks- und Inhaltsebene im Sinne von Hjelmslev. Es kommt hinzu, daß der Gedanke, daß Rezipienten als Individuen oder Kol‐ lektive Kunstwerke mit Bedeutungen versehen, letztlich zu der Erkenntnis führt, daß der Autor oder Künstler nur dann zum Produzenten werden kann, wenn er zugleich Rezipient (z. B. Leser) ist und Bedeutungen oder ästhetische Objekte hervorbringt: etwa in der Literaturkritik (Schriftsteller als Literaturkritiker), im Zitat, in der Parodie oder im Pastiche. V. Die literarische Ästhetik des Prager Strukturalismus 218 67 J. Mukařovský, „Zámĕrnost a nezámĕrnost v umĕní“ („Absichtlichkeit und Unabsicht‐ lichkeit in der Kunst“), in: ders., Studie z estetiky, op. cit., S. 93. 68 Ibid., S. 91. 69 K. Chvatík, Mensch und Struktur, op. cit., S. 95. Siehe auch: J. Mukařovský, „Umĕlcova osobnost v zrcadle díla“ („Die Künstlerpersönlichkeit im Spiegel des Werks“), in: ders., Cestami poetiky a estetiky, op. cit., S. 145. Natürlich war sich Mukařovský dieser Tatsache bewußt; dies geht u. a. aus seinem Aufsatz „Absichtlichkeit und Unabsichtlichkeit in der Kunst“ (1943) hervor, in dem die „Absichtlichkeit“ oder „Bestimmtheit“ („záměrnost“) mit der „semantischen Energie“ 67 identifiziert wird. Aber auch in diesem Aufsatz neigt er dazu, das künstlerische Subjekt aus dem Bedeutungszusammenhang herauszulösen und die Bedeutungszuordnung im Bereich der Rezeption anzusiedeln. Die Produktion als bedeutungsstiftende Tätigkeit erscheint se‐ kundär: „Auch die Beziehung zum Subjekt ist in der Kunst eine andere, ist weniger bestimmt als in praktischen Handlungen; während dort das Subjekt, auf das es ankommt, einzig und eindeutig der Autor der Handlung oder des Konstrukts ist (sofern wir die Frage nach dem Autor überhaupt stellen), ist hier das grundsätzliche Subjekt keineswegs der Autor, sondern der, für den das künstlerische Konstrukt bestimmt ist, nämlich der Rezipient (vnímatel) (…).“ 68 Diese etwas einseitige Ausrichtung auf den Rezeptionsprozeß wird zwar in Aufsätzen wie „Die Persönlichkeit des Autors im Spiegel des Werkes“ (1931) oder „Das Individuum in der Kunst“ (1937) durch produktionsästhe‐ tische Überlegungen korrigiert. Es wird aber nicht klar, inwiefern literari‐ sche Produktion Bedeutungen hervorbringt, die im Text auf lexikalischer, semantischer, syntaktischer und narrativer Ebene darstellbar sind. Auch im erstgenannten Aufsatz wird die „überindividuelle Struktur“ mit dem „ästhe‐ tischen Gegenstand“, also mit dem Rezeptionsprozeß, identifiziert. Insofern ist K. Chvatík recht zu geben, wenn er in Mensch und Struktur im Anschluß an Červenka (1978) betont, man könne „die Polarität Artefakt-ästhetisches Objekt (…) nicht mechanisch mit der Polarität Bezeichnendes-Bezeichnetes gleichsetzen“. 69 Die globale - und durchaus kantianische - Tendenz, das Artefakt als vieldeutigen Signifikanten oder als Ausdruck von der Bedeutung oder der Inhaltsebene abzulösen („ohne Begriff ‘) und die Bedeutungszuordnung vorwiegend als Sache des Rezipienten aufzufassen, wird in Felix Vodičkas Arbeiten fortgesetzt, zumal Vodička den Begriff des ästhetischen Objekts zur Grundlage seiner Theorie der literarischen Evolution macht. Sie setzt sich 3. Jan Mukařovskýs avantgardistische Ästhetik 219 70 Siehe: F. Vodička, Die Struktur der literarischen Entwicklung, München, Fink, 1976, S. 34. 71 J. Tynjanov, „Über die literarische Evolution“, in: J. Striedter (Hrsg.), Russischer Forma‐ lismus, München, Fink, 1969, S. 441. schließlich in H. R. Jaußʼ Rezeptionstheorie durch, in der die Frage nach der Bedeutung der Produktion und der Werkstruktur ausgeblendet wird. Eine Korrektur dieser Einseitigkeit des Strukturalismus nahmen erst in letzter Zeit Miroslav Červenka und Květoslav Chvatík vor. Auf ihre Ansätze komme ich im letzten Abschnitt dieses Kapitels zu sprechen. 4. Evolution und Rezeption: Von Mukařovský zu Vodička Als Schüler Mukařovskýs und spätes Mitglied des Prager linguistischen Zirkels richtet Felix Vodička sein Augenmerk vor allem auf die literarische Evolution (literární vývoj) und versucht, Produktion und Rezeption literari‐ scher Werke im Rahmen eines historisch-evolutionären Entwurfs zu erklä‐ ren. Den Objektbereich der Literaturwissenschaft teilt er folgerichtig in drei Abschnitte ein, die vom Evolutionsbegriff eingefaßt und zusammengehalten werden: 1. das Studium literarischer Werke im Rahmen der literarischen Entwicklung ; 2. die Entstehung eines oder mehrerer Werke innerhalb der literarischen Evolution und der Eingriff außerliterarischer Tendenzen in die literarische Entwicklung; 3. Bedeutungs- und Funktionswandel literarischer Werke beim Publikum und die zeitlich und örtlich bedingte Konstitution ästhetischer Objekte. 70 In seinen Analysen der literarischen Evolution knüpft Vodička bei den russischen Formalisten und vor allem bei Jurij Tynjanov an, der den Ter‐ minus „literaturnaja evolucija“ geprägt hat (vgl. Kap. II. 5). Mit Tynjanov erklärt sich Vodička weitgehend einverstanden, wenn es gilt, eine Literatur‐ auffassung zu verabschieden, die isolierte Werke entweder aus sich selbst verstehen oder aus heteronomen Faktoren ableiten möchte. Er stimmt in jeder Hinsicht mit Tynjanov überein, wenn dieser bemerkt: „Untersuchen wir ein Werk isoliert, so können wir nicht sicher sein, daß wir in der richtigen Weise von seiner Konstruktion, der Konstruktion gerade dieses Werks, sprechen.“ 71 Es ist nicht möglich, die Konstruktion und Intention von Cervantesʼ Don Quijote zu verstehen, solange dieser Text nicht in den Prozeß der literari‐ schen Evolution eingegliedert und als Parodie des damaligen Ritterromans V. Die literarische Ästhetik des Prager Strukturalismus 220 72 F. Vodička, Die Struktur der literarischen Entwicklung, op. cit., S. 9. 73 Ibid., S. 7. erkannt wird. Zugleich distanziert sich Vodička vom formalistischen Erbe und vor allem vom frühen Formalismus, wenn er zustimmend Mukařovskýs Kritik an Šklovskij zitiert: „Der Irrtum der traditionellen Literaturgeschichte lag darin, daß sie nur mit äußeren Eingriffen rechnete und der Literatur die autonome Entwicklung absprach, die Einseitigkeit des Formalismus wiederum darin, daß er das literarische Geschehen in einen luftleeren Raum versetzte.“ 72 Diese Kritik trifft den Formalismus der „dritten Phase“ (vgl. Kap. II. 5), die von Tynjanovs soziologischem Konzept geprägt wurde, keineswegs; sie zeigt aber, welche Position der Prager Strukturalismus zwischen soziologi‐ scher und psychologischer Heteronomie einerseits und einer autonomisti‐ schen, literaturimmanenten Position andererseits einnahm. Vodičkas eigenes Problem scheint mir vor allem in seinem von den Formalisten (von Tynjanov) geerbten Unvermögen zu liegen, die literarische Entwicklung (oder Struktur, wie er manchmal sagt) als gesellschaftlichen Prozeß zu denken und die Textstrukturierung selbst als einen gesellschaft‐ lichen Vorgang aufzufassen. Wie bei Tynjanov bleibt auch bei Vodička die Gesellschaft der literarischen Evolution und der Struktur des Einzelwerks äußerlich. Davon zeugt eine besonders aufschlußreiche Passage aus Die Struktur der literarischen Entwicklung (1966, dt. 1976), in der sich außer einer berechtigten Abneigung gegen heteronome Reduktionen die Unfähigkeit zu einer dialek‐ tischen Vermittlung von fiktionalem Text und Gesellschaft bemerkbar macht. Das Verhältnis von Text und Kontext wird lediglich mechanisch als „Einfluß“, „Einwirkung“ oder „Eingriff‘ von außen aufgefaßt: „Die Erkenntnis, daß ein ‚äußerer Eingriff‘ zugestanden werden muß, sollte jedoch auf keinen Fall die Ergebnisse entwerten, zu welchen man durch die Rekonstruktion der Evolution der dichterischen Struktur gelangt war.“ 73 Die Ausdrücke „äußerer Eingriff “ und „zugestanden werden muß“ (wer zwingt den Autor zu solchen Zugeständnissen? ) haben symptomatischen Wert und zeigen, daß auch bei Vodička die kantianische Trennung, die ich im zweiten Kapitel den Formalisten vorgeworfen habe, der dialektischen, hegelianischen Vermittlung vorgezogen wird. Insofern hatte der Marxist Kurt Konrad recht, als er sowohl den Formalisten als auch den Prager 4. Evolution und Rezeption: Von Mukařovský zu Vodička 221 74 Siehe: K. Konrad, „Der Streit um Inhalt und Form. Marxistische Bemerkungen zum neuen Formalismus“, in: H. Günther und K. Hielscher (Hrsg.), Marxismus und Forma‐ lismus, Frankfurt-Berlin-Wien, Ullstein, 1976, S. 140-141. 75 F. Vodička, Die Struktur der literarischen Entwicklung, op. cit., S. 47. 76 Ibid. 77 Siehe: H. Günther, „Die Konzeption der literarischen Evolution im tschechischen Struktu‐ ralismus“, in: J. Ihwe (Hrsg.). Literaturwissenschaft und Linguistik, Bd. 1, op. cit., S. 296-297. Siehe auch: ders., Struktur als Prozeß, op. cit., S. 78: „In seinem Bestreben, die literarische Evolution in die gesellschaftliche Totalität einzugliedern, ohne sie aber zum Kommentar irgendeiner anderen Reihe herabzusetzen, stößt Mukařovský auf das Problem der Überde‐ terminierung einer Teilstruktur durch die übergeordnete Struktur. Nicht zuletzt unter dem Einfluß marxistischer Kritiker wie Kurt Konrad, Bedřich Václavek und Záviš Kalandra nähert er sich in entscheidenden Punkten dem dialektischen Materialismus an.“ Vor allem der letzte Teil dieses Satzes trifft ins Schwarze: Anders als Adorno, der von einer radikalen Kritik an Hegel ausging und sich Kant näherte, geht Mukařovský von Herbart und Kant aus und nähert sich im Laufe der Jahre den dialektischen Positionen Hegels und der Marxisten. Strukturalisten vorwarf, sie könnten sich die Beziehung zwischen Literatur und Gesellschaft nur als „Einwirkung von außen“ 74 vorstellen. Dieser Dualismus macht sich auch in dem von Vodička abgesteckten zweiten Aufgabenbereich der Literaturwissenschaft, in der Analyse der Genese literarischer Werke und der „Eingriffe außerliterarischer Tendenzen in die literarische Entwicklung“, bemerkbar. Solche „Eingriffe“ werden zwar zugestanden und auch untersucht, aber letztlich erscheint das einzelne Werk doch als ein Produkt der literarischen Entwicklung oder Struktur, deren Gesetzmäßigkeiten ein Autor gehorcht. In formalistischer Tradition verharrend, behauptet Vodička: „Die Ursachen von Wandel und Bewegung werden wir also nicht außerhalb der literarischen Struktur suchen, sondern vor allem in ihrer immanenten Entwicklung.“ 75 Ex‐ terne Faktoren können der Eigengesetzlichkeit der Evolutionsstruktur unter‐ geordnet werden, weil „äußere Eingriffe bei der Realisierung neuer literarischer Formen immer einen Ausgleich mit den Möglichkeiten suchen müssen, welche der jeweilige Strukturzustand bietet“. 76 Mit diesen Aussagen fällt Vodička hinter die Erkenntnisse des späteren Mukařovský zurück, der, wie Hans Günther bemerkt 77 , im Laufe der Ausein‐ andersetzung mit Marxisten wie Kalandra und Konrad um eine dialektische Vermittlung zwischen Literatur und Gesellschaft bemüht war. In seinem Aufsatz „Individuum und literarische Entwicklung“ (1943-1945) wird klar, daß die literarische Entwicklung ihre Veränderungen und ihren Identitätswandel gesellschaftlichen Faktoren verdankt: „Die Tendenz zur Identitätserhaltung ist in der sich entwickelnden Sache selbst angelegt; der Bereich, von dem Impulse V. Die literarische Ästhetik des Prager Strukturalismus 222 78 J. Mukařovský, „Individuum a literární vývoj“ („Individuum und literarische Entwicklung“), in: ders., Studie z estetiky, op. cit., S. 229. 79 E. Köhler, „Gattungssystem und Gesellschaftssystem“, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte, Heft 1, 1977, S. 14. 80 Ibid., S. 18-19. ausgehen, die die Identität stören, muß also außerhalb der sich entwickelnden Sache liegen.“ 78 Obwohl auch hier nicht deutlich wird, daß die literarische Entwicklung selbst ein gesellschaftlicher Prozeß ist, dessen Widersprüche gesellschaftlichen Ursprungs sind, wird jedenfalls der Gedanke an eine rein literaturimmanente Darstellung aufgegeben. Komplementär dazu haben Literatursoziologen wie Erich Köhler, die vom Primat der gesellschaftlichen Entwicklung ausgehen, ohne die Autonomie des Literarischen preiszugeben, gezeigt, wie das literarische Subsystem dem „Anpassungsdruck“ (Luhmann) anderer Subsysteme und des Gesellschafts‐ systems insgesamt ausgesetzt ist. Das feudale Epos verschwindet mit der Klasse, deren Heldentaten es zelebriert: „Jedoch vermag die nationalistische Ideologie (…) eine Gattung nicht zu retten, die nicht darauf verzichten kann, Krieg und heroische Existenz einer Klasse zu feiern, deren parasitäre Existenz und Funktionslosigkeit trotz ihres gesellschaftlichen Prestiges allzu offenkundig war.“ 79 Köhler zeigt, daß nicht nur einzelne Gattungen wie Epos oder Tragödie, sondern ganze Gattungssysteme durch gesellschaftliche Umwälzungen hinweggefegt werden können. 80 Auch die Entstehung von Einzelwerken ist literaturimmanent kaum zu erklären: Cervantesʼ Don Quijote ist zwar als Parodie des Ritterromans zu lesen. Aber weshalb parodiert Cervantes den Ritterroman? Weshalb kann er ihn in einer bestimmten gesellschaftlichen und sprachlichen Situation parodieren? Doch nur deshalb, weil die fahrenden Ritter im zentralisierten Spanien der Reyes Católicos zu einem sozialen Anachronismus verkommen sind. Hätten die caballeros andantes in Cervantesʼ Spanien nicht ihre poli‐ tische und moralische Autorität eingebüßt, wäre die Parodie der Gattung „Ritterroman“ gar nicht möglich gewesen. Marcel Prousts Roman sollte sicherlich nicht unabhängig von Prousts Kommentaren zu Balzacs Comédie humaine und Flauberts Education senti‐ mentale gelesen werden; er ist jedoch nicht konkret zu verstehen, solange er nicht auf die Pariser Salongesellschaft der Jahrhundertwende und deren kollektiven Sprachgebrauch, die mondäne Konversation, bezogen wird. In der Vergangenheit versuchte ich zu zeigen, daß sowohl Prousts Schreibweise als auch seine Kritik an Balzac nur im Hinblick auf seine Auseinanderset‐ 4. Evolution und Rezeption: Von Mukařovský zu Vodička 223 81 Siehe: Vf., LʼAmbivalence romanesque. Proust, Kafka, Musil, Paris, LʼHarmattan, 2. Aufl., 2002, Kap. 2 und 3. 82 Siehe: Vf., Textsoziologie. Eine kritische Einführung, Stuttgart, Metzler, 1980, S. 82- 83 sowie Vf., Manuel de sociocritique, Paris, L’Harmattan, 2000 (2. Aufl.). 83 F. Vodčika, Die Struktur der literarischen Entwicklung, op. cit., S. 18. Siehe auch: F. Vodička, „Response to Verbal Art“, in: Semiotics of Art. Prague School Contributions (Hrsg. L. Matejka, I. R. Titunik), Cambridge (Mass.), MIT-Press, 1976, S. 197-199. zung mit der Konversation als Soziolekt der mondänen Gesellschaft zu ver‐ stehen sind. 81 Als zugleich sprachliches und gesellschaftliches Faktum ist die Konversation unzertrennlich mit Prousts Schreibweise verwachsen, die als Kritik am mondänen Sprachgebrauch entstanden ist. Es wäre mißverständ‐ lich, in diesem Fall von einer „äußeren Einwirkung“ zu sprechen. Sinnvoller ist es, eine innerliterarische von einer außerliterarischen Intertextualität zu unterscheiden, um das Zusammenspiel fiktionaler und nicht-fiktionaler Texte im Roman oder Drama zu beschreiben. 82 Vodičkas größtes Verdienst ist nicht die Erklärung der literarischen Produktion, sondern seine historische Darstellung der Rezeptionsprozesse - also des dritten Aufgabenbereichs - im Zusammenhang mit Mukařovskýs Begriff des ästhetischen Objekts. An entscheidenden Stellen seines Werks wird klar, daß sowohl er als auch Mukařovský vor allem in ihren empirischen Untersuchungen implizit vom Primat der Rezeption ausgehen und sich dadurch Kants Betrachtungsweise zu eigen machen, die schon Zich von Herbart erbte. Im Zusammenhang mit Croces Ausdrucksästhetik, die eine Darstellung der Literatur im historischen Prozeß nicht gestattet (vgl. Kap. I. 5), bemerkt Vodička zu Mukařovskýs theoretischem Standort: „Daher erschien das Studium der Kunst vom Standpunkt des Rezipienten als tragfä‐ higer. Mukařovský konnte hier an Zich anknüpfen.“ 83 Anregend ist Vodičkas „Kantianismus“ deshalb, weil er den Rezeptions‐ vorgang als zugleich historisches und soziales Geschehen auffaßt. Vodička übernimmt zwar den Konkretisationsbegriff des polnischen Phänomenolo‐ gen Roman Ingarden (vgl. Kap. VI. 3), kritisiert jedoch dessen abstrakte und statische Auffassung der Konkretisation („Realisation“, „Interpretation“) literarischer Werke. Als Alternative schlägt er einen Konkretisationsbegriff vor, der den historischen Kontexten der literarischen Evolution und der sich wandelnden ästhetischen Norm Rechnung trägt: „Gerade deshalb ist es Aufgabe der Literaturgeschichte, jene Veränderungen der Konkretisationen in der Rezeption literarischer Werke und die Beziehungen zwischen der Struktur des Werkes und der sich entwickelnden literarischen Norm zu V. Die literarische Ästhetik des Prager Strukturalismus 224 84 F. Vodička, Die Struktur der literarischen Entwicklung, op. cit., S. 70. 85 B. Brecht, Über Lyrik, Frankfurt, Suhrkamp, 1964, S. 12. 86 P. Steiner, „The Conceptual Basis of Prague Structuralism“, in: Sound, Sign and Meaning. Quinquagenary of the Prague Linguistic Circle (Hrsg. L. Matejka), Ann Arbor, Univ. of Michigan Press, 1978, S. 363. 87 G. Čivikov, Das ästhetische Objekt. Subjekt und Zeichen in der Literaturwissenschaft anhand einer Kategorie des Prager Strukturalismus, Tübingen, Stauffenburg, 1987, S. 22. untersuchen, weil wir so unsere Aufmerksamkeit immer dem Werk als ästhetischem Objekt widmen und die gesellschaftliche Tragweite seiner ästhetischen Funktion verfolgen.“ 84 In seinen Studien befaßt sich Vodička sowohl mit dem Funktionswandel literarischer Werke als auch mit der Konkretisation im ästhetischen Objekt. Wie Mukařovský faßt er literarische Texte als Konstellationen von ästheti‐ schen und außerästhetischen Normen auf, die immer wieder miteinander in Konflikt um die herrschende Position, die Dominante, geraten können. Ein literarisches Werk wird nicht von allen sozialen Gruppen und zu jedem Zeitpunkt ausschließlich als „poetische Nachricht“ im Sinne von Jakobson wahrgenommen: In vielen Fällen können im Rezeptionsprozeß philosophische, moralische, religiöse oder politische Normen dominieren, so daß Goethes Werther nicht so sehr als Briefroman, sondern als eine „Apologie des Selbstmordes“ rezipiert wird und die Gedichte Rilkes, Georges und Werfels von Bertolt Brecht als „Manifeste des Klassenkampfes“ 85 gelesen werden. Die Tatsache, daß im literarischen Text die Spannungen zwischen ästhe‐ tischen und nicht-ästhetischen Normen in immer neuen Konstellationen erhalten bleiben, so daß, wie Peter Steiner bemerkt, „die außerästhetischen Funktionen aus dem ästhetischen Zeichen nicht verschwinden, sondern an seiner Bedeutung teilhaben“ 86 , erklärt, weshalb ein Text im Laufe der Rezeption immer anders konkretisiert („interpretiert“) werden kann und immer neue ästhetische Objekte zeitigt. Insofern ist Germinal Čivikov recht zu geben, wenn er von den Prager Strukturalisten sagt, sie hätten „die Suche nach der Quelle des Werks durch die Beobachtung des Werkes als Quelle“ 87 ersetzt. Vodička zeigt, wie fruchtbar der Begriff des ästhetischen Objekts in der empirischen Literaturforschung sein kann, wo er dazu beiträgt, die Funktion des Literaturkritikers zu erklären und zu veranschaulichen. Als Wortführer bestimmter Institutionen und Gruppen fällt dem Kritiker eine besondere Verantwortung für die Objektkonstitution zu: „Seine Pflicht ist es, sich über 4. Evolution und Rezeption: Von Mukařovský zu Vodička 225 88 F. Vodička, Die Struktur der literarischen Entwicklung, op. cit., S. 64. 89 Siehe: J. Mukařovský „Poznámky k sociologii básnického jazyka“ („Bemerkungen zur Soziologie der Dichtersprache“), in: ders., Kapitoly z české poetiky, Bd. 1, op. cit. und Vf., Textsoziologie, op. cit., Kap. 3. 90 J. Striedter, „Einleitung“ zu: F. Vodička, Die Struktur der literarischen Entwicklung, op. cit., S. LXXI. ein Werk als ästhetisches Objekt auszusprechen, die Konkretisation des Werks, d. h. seine Gestalt vom Standpunkt des ästhetischen und literarischen Empfindens seiner Zeit festzuhalten und sich über dessen Wert im System der gültigen literarischen Werte zu äußern, wobei er durch sein kritisches Urteil bestimmt, in welchem Maße das Werk die Forderungen der literari‐ schen Entwicklung erfüllt.“ 88 Obwohl ich mir einen weniger konformistischen Literaturkritiker wün‐ sche, der mehr Verständnis für die „Normverletzung“ (Mukařovský) und weniger Verständnis für das „Empfinden seiner Zeit“ aufbringt, meine ich, daß Mukařovský und Vodička durch die Historisierung von Begriffen wie Struktur, Norm und Konkretisation und durch die Einführung von soziologi‐ schen Begriffen wie Funktion und ästhetisches Objekt einen wesentlichen Beitrag zur Literatursoziologie und Literaturgeschichte geleistet haben. Daß sich dieser Beitrag nicht nur auf den Rezeptions-, sondern auch auf den Produktionsbereich erstreckt, zeigt Mukařovskýs Aufsatz „Bemerkungen zur Soziologie der Dichtersprache“ (1935), den ich für den Entwurf einer Textsoziologie verwendet habe. 89 Obwohl gerade in diesem Aufsatz nichtliterarische Sprachformen bei den tschechischen Schriftstellern Erben und Neruda als Vermittlungsinstanzen zwischen fiktionalem Text und gesellschaftlichem Kontext aufgefaßt wer‐ den, meine ich, daß der dialektische (hegelianische) Begriff der Vermittlung im Strukturalismus Vodičkas, Mukařovskýs und Jakobsons nicht gebührend berücksichtigt wurde. Dies ist einer der Gründe, weshalb in diesen Ansätzen die Frage, wie sich gesellschaftliche Positionen und Interessen in den seman‐ tischen, syntaktischen und narrativen Strukturen der Texte niederschlagen, offen bleibt. Diese Frage muß offen bleiben, solange nicht die komplemen‐ täre Frage beantwortet wird, „ob und in welcher Weise bereits der Artefakt über eine Strukturiertheit verfügt, die er als ‚Vorstrukturiertheit‘ in den Konkretisationsakt einbringt und die in diesem Akt Steuerungsfunktionen übernimmt“. 90 Anders ausgedrückt: Die Frage nach der Vermittlung von Text und sozialem Kontext ist von der Frage der Textsemantik nicht zu trennen. V. Die literarische Ästhetik des Prager Strukturalismus 226 91 Siehe z. B. K. Chvatík, Tschechoslowakischer Strukturalismus, op. cit., S. 137: „Im Gegen‐ satz zu Kant und seinen formalistischen und metaphysischen Interpreten begreifen wir die Beziehung zwischen dem Ästhetischen und anderen Aktivitäten des Menschen als eine Beziehung voll innerer Verbindungen, Spannungen und Übergänge, nicht als reine Abgrenzung und absoluten Gegensatz. Ebenfalls dialektisch verstehen wir die Beziehung der ästhetischen Funktion zu anderen Funktionen.“ Mit beiden Fragen befassen sich jüngere Vertreter des tschechoslowakischen Strukturalismus. 5. Neuere Entwicklungen: Chvatík und Červenka Eine Gesamtdarstellung der neueren Entwicklungen im tschechoslowaki‐ schen Strukturalismus ist am Ende eines Buchkapitels sicherlich nicht zu verwirklichen; sie könnte bestenfalls der Autor einer umfangreichen Studie ins Auge fassen. Deshalb beschränke ich mich hier auf zwei Theoretiker, deren Ansätze sich in die Thematik dieses Kapitels einfügen lassen und zugleich als Weiterentwicklung von Jakobsons, Mukařovskýs und Vodičkas Theorien gewertet werden können. Dabei stelle ich zwei Probleme in den Vordergrund, deren Rekurrenz in diesem Kapitel es sinnvoll erscheinen läßt, sie am Ende in abgewandelter Form noch einmal aufzugreifen: das Problem der Vermittlung von Literatur und Gesellschaft und das Problem der Textbedeutung. Beide Probleme befinden sich im Spannungsfeld zwischen Kants Dualismus-Autonomismus und Hegels Dialektik. Vor allem Kvĕtoslav Chvatík bewegt sich in diesem Spannungsfeld, da er einerseits eine hegelianisch-marxistische Reduktion literarischer Werke auf begriffliche Strukturen (Widerspiegelung, Ideologie) zu vermeiden sucht, andererseits jedoch den kantianischen Dualismus der russischen Formalisten überwinden möchte, in deren Theorien die Gesellschaft der Literatur äußerlich ist. 91 Dabei visiert er in Übereinstimmung mit dem tschechoslowakischen Marxisten Josef Ludvík Fischer (s. o.) eine „dialek‐ tische Strukturologie“ an, in der Gesellschaft und Text, Produktion und Rezeption, Eindeutigkeit und Vieldeutigkeit ineinandergreifen und einander wechselseitig erhellen. In einer neueren Publikation wird deutlich, daß seine Kritik an Hegel keinen Verzicht auf die Begriffe der Vermittlung, der gesellschaftlichen Praxis und der künstlerischen Produktion mit sich bringt. „Es ist bereits auf 5. Neuere Entwicklungen: Chvatík und Červenka 227 92 K. Chvatík, Mensch und Struktur, op. cit., S. 41. 93 Ibid. 94 K. Chvatík, Strukturalismus und Avantgarde, op. cit., S. 127. 95 K. Chvatík, Tschechoslowakischer Strukturalismus, op. cit., S. 217. den ersten Blick offensichtlich“, heißt es in „Die ästhetische Einstellung“, „daß unsere Auffassung in einem diametralen Gegensatz zur Platonschen Metaphysik des Schönen steht, die durch die Hegelsche These von dem Schönen als dem ‚sinnlichen Scheinen der Idee‘ und durch Heideggers For‐ mulierung von dem ‚Ins-Werk-Setzen‘ der Wahrheit des Seins im Kunstwerk bis in unsere Zeit hinüberwirkt.“ 92 Die Frage nach der Besonderheit des Ästhetischen beantwortet Chvatík jedoch nicht jenseits der materialistischen Dialektik, sondern in direkter Auseinandersetzung mit ihr, denn er sucht die Antwort „in der konkreten menschlichen Tätigkeit, in der spezifischen Beziehung des Menschen zur Welt, in der Praxis der ästhetischen Einstellung, der Praxis der ästhetischen Produktion und Rezeption“. 93 Freilich setzt er damit bestimmte Tendenzen des Prager Strukturalismus, vor allem der Theorie Jan Mukařovskýs, fort. Einer aufmerksamen Lektüre seiner Schriften wird jedoch nicht die Absicht entgehen, den Dualismus, der sich vor allem in Vodičkas Darstellung der literarischen Entwicklung bemerkbar macht, zu überwinden. Schon in seinen älteren Publikationen geht er von der These aus, daß es „keine Widersprüche zwischen Struktu‐ ralismus, Dialektik und Historismus gibt“. 94 Später führt er diese These überzeugend aus, wenn er Kunst und Kunst‐ entwicklung als historische und soziale Fakten auffaßt und zeigt, wie ein dia‐ lektischer Strukturalismus in der Literaturwissenschaft konkret aussehen könnte: „Die Kunst selbst entsteht historisch als Produkt des historischen Prozesses, als spezifische Form der historischen Aneignung der Welt im Prozeß der historischen Praxis des Menschen. (…) Im historischen Prozeß der gesellschaftlichen Praxis konstituieren sich allmählich auch die einzelnen Funktionen, Normen und Werte des Kunstwerks und bilden eine variable Struktur, die sich zusammen mit den Wandlungen der historischen Haltung des Menschen zur Welt und zu den Dingen dynamisch umgruppiert.“ 95 Wie Mukařovský und Vodička betont Chvatík den gesellschaftlichen und historischen Charakter der ästhetischen Norm, des ästhetischen Wertes und des Zusammenspiels ästhetischer und außerästhetischer Funktionen im literarischen Text (im Kunstwerk). Wie seine Vorgänger zeigt er, daß in V. Die literarische Ästhetik des Prager Strukturalismus 228 96 Siehe: ibid., S. 29-30: „Auf der Grundlage ein- und desselben Kunstwerks können zu verschiedenen Zeiten (gegebenenfalls in verschiedenen Milieus) nach und nach mehrere verschiedene Strukturen mit verschiedenen Dominanten und verschiedenen Hierarchien der Elemente realisiert werden.“ 97 K. Chvatík, Mensch und Struktur, op. cit., S. 27. 98 Zum Begriff der „semantischen Geste“ siehe: M. Jankovič, „Noch einmal zum Begriff der semantischen Geste“, in: V. Macura, H. Schmid (Hrsg.), Jan Mukařovský and the Prague School / Jan Mukařovský und die Prager Schule, op. cit., S. 149: „Schon die meta‐ phorische Benennung („Geste“) signalisiert eine gewisse anfechtbare Undeutlichkeit (…).“ In einer neueren Arbeit beanstandet auch W. F. Schwarz das Fehlen einer klaren Definition des Ausdrucks „semantische Geste“: W. F. Schwarz, „‚Sémantické gesto‘ - užitečný analitický nástroj? K vývoji a kritice ústředního pojmu literární estetiky Jana Mukařovsksého“, in: O. Sládek (Hrsg.), Český strukturalismus v diskusi, Brno, Host, 2014, S. 176. verschiedenen Epochen, Gesellschaften oder Gruppen verschiedene, einem und demselben Werk innewohnende Funktionen dominieren können. Er beschreibt, wie diese historisch bedingten Dominanten vom Normen- und Wertesystem einer Gesellschaft abhängen. 96 Angesichts solcher Ausführungen, die sich vorwiegend auf den Bedeu‐ tungs- und Funktionswandel im gesellschaftlichen Rezeptionsprozeß bezie‐ hen, stellt sich jedoch abermals die Frage nach der sozialen Bedingtheit der literarischen Produktion und der Bedeutung sowie nach den sozialen Aspekten der Bedeutung. Chvatík geht dieser Frage nicht aus dem Weg; dies geht aus seinen neueren Publikationen hervor, in denen er u. a. fragt, wie „der Sinn des Kunstwerks in seiner Einzigartigkeit erfaßt werden kann“. 97 Die zahlreichen Antworten auf diese Frage, die in seinem Werk anzutreffen sind, befriedigen deshalb nicht ganz, weil er von Mukařovský den Terminus der semantischen Geste übernimmt, der kein semantischer Begriff im strengen Sinne ist, zumal er sich sowohl auf literarische Texte als auch auf nichtverbale Kunstwerke bezieht. 98 Um Verzerrungen und Mißverständnissen vorzubeugen, will ich Chvatíks Bemerkungen zu dem auch von M. Jankovič und W. F. Schwarz kommen‐ tierten Begriff der semantischen Geste oder semantischen Direktive wieder‐ geben: „(…) Die Schwierigkeit besteht darin, daß die Kategorie ‚semantische Direktive‘ sowohl die bloße statische Beschreibung der formalen Struktur des Werks als auch die Interpretation seines fertigen thematischen oder aber ideologischen Sinnes überwinden will; sie will den eigentlichen Prozeß des Sinngeschehens, seine Konstituierung im Verlauf des Werkaufbaus, das 5. Neuere Entwicklungen: Chvatík und Červenka 229 99 K. Chvatík, Tschechoslowakischer Strukturalismus, op. cit., S. 36. Siehe auch M. Jankovič, „Perspectives of Semantic Gesture“, in: Poetics Nr. 4, 1972 sowie Jankovičs neuere Arbeit Nesamozřejmost smyslu, Praha, Československý Spisovatel, 1991, S. 23-70 und W. F. Schwarz, „Some Remarks on the Development, Noetic Range and Operational Disposition of Mukařovský’s Term ‚Semantic Gesture‘“, in: Issues of Slavic Literary and Cultural Theory (Hrsg. K. Eimermacher, P. Grzybek, G. Witte), Bochum, Brockmeyer, 1989. 100 M. Červenka, „Die Grundkategorien des Prager literaturwissenschaftlichen Struktura‐ lismus“, in: V. Žmegač, Z. Škreb (Hrsg.), Zur Kritik literaturwissenschaftlicher Methodo‐ logie, Frankfurt, Athenäum-Fischer, 1973, S. 161. Moment des Übergangs der Form zur Bedeutung erfassen und die Einheit des dynamischen Aufbauprinzips eines konkreten Kunstwerks definieren.“ 99 Die Schwierigkeit, mit der sich Chvatík auseinandersetzt, ist nicht in sei‐ nem eigenen Ansatz entstanden, sondern stammt aus Mukařovskýs Theorie, die sowohl Ästhetik als auch Semiologie sein will und sowohl sprachliche als auch nichtsprachliche Kunstwerke erfassen möchte. So bewundernswert dieses Vorhaben auch sein mag, so problematisch ist es angesichts der zeitge‐ nössischen wissenschaftlichen Arbeitsteilung: Dem Prager Strukturalismus fehlen präzise semantische und semiotische Begriffe, die es ihm gestatten würden, die Bedeutungskonstitution literarischer Texte zu beschreiben. Nicht nur der Begriff „semantische Geste“ ist zu metaphorisch, sondern auch Begriffe wie „Werkaufbau“ oder „Aufbauprinzip“ sind es. Auch Červenkas Arbeiten, deren Verdienste und Bedeutung für die Lite‐ raturwissenschaft ich hier leider nicht gebührend würdigen kann, scheinen die komplementären Probleme der Textsemantik und der Bedeutungspro‐ duktion nicht wirklich zu lösen. Sicherlich wird man Červenka recht geben, wenn er sich gegen die Monosemierung literarischer Texte wendet, die „eine Eindeutigkeit dort hineinbringt, wo die Sache selbst nicht eindeutig ist“. 100 „Vieldeutigkeit“, „Bedeutungswandel“ und „Funktionswandel“ literarischer Texte sind Schlüsselbegriffe zeitgenössischer Literaturwissenschaft, zu de‐ ren Entwicklung der Prager Strukturalismus - und nicht zuletzt Červenka selbst - wesentlich beigetragen haben. Angezweifelt wird nicht die Brauchbarkeit dieser Begriffe, sondern die Anwendbarkeit des metaphorischen Terminus „semantische Geste“, weil auch bei Červenka nicht klar wird, worauf er sich genau bezieht: auf die Tiefenstruktur des Textes, seine semantischen Isotopien im Sinne von Greimas, auf das ihm zugrundeliegende Aktantenmodell oder seinen nar‐ rativen Ablauf ? Die „semantische Geste“ könnte noch am ehesten das V. Die literarische Ästhetik des Prager Strukturalismus 230 101 M. Červenka, Der Bedeutungsaufbau des literarischen Werks, München, Fink, 1978, S. 169. 102 M. Červenka, „LʼŒuvre littéraire en tant que signe“, in: Prague poésie, op. cit., S. 212. 103 M. Červenka, Der Bedeutungsaufbau des literarischen Werks, op. cit., S. 169. Zusammenwirken aller dieser Faktoren meinen; aber das wird von den Prager Strukturalisten weder gesagt noch ausgeführt. Immerhin hat Červenkas Darstellung der „semantischen Geste“ den Vorzug, daß sie sich ausschließlich auf das literarische Kunstwerk bezieht und nicht auf Kunstwerke allgemein. In Der Bedeutungsaufbau des literarischen Werks (dt. 1978) wird die „semantische Geste“ als „ein geeignetes Instrument der literarischen Analyse“ 101 bezeichnet, und in einem Artikel aus dem Jahre 1968 erklärt der Autor, „der Isomorphismus der verschiedenen Werkschichten (werde) durch deren sprachlichen Charakter (oder vielmehr durch deren Zei‐ chencharakter) ermöglicht (…)“. 102 Obwohl ich meine, daß die Zuspitzung der Fragestellung auf das literarische oder sprachliche Kunstwerk ein Fortschritt ist, zweifle ich sehr daran, daß der Terminus „semantische Geste“ zu einem „geeigneten Instrument der literarischen Analyse“ werden kann. Der Grund für meine Skepsis ist nicht nur das Fehlen einer Textsemantik und Textsemiotik (Diskursanalyse) im Prager Strukturalismus, sondern auch die Ungewißheit darüber, welchen Stellenwert die „semantische Geste“ im literarischen Produktionsprozeß und im Bereich der Rezeption einnimmt. Wie entsteht die semantische Geste in einer konkreten gesellschaftlichen und sprachlichen Situation? Diese Frage versucht Červenka in verschiede‐ nen Publikationen mit Hinweisen auf die Persönlichkeit des Schriftstellers zu beantworten: „Zur Annahme, die Persönlichkeit sei der Schlußstein des Bedeutungsaufbaus im Werk, führt uns ferner der Umstand, daß das literari‐ sche Werk gewöhnlich als Ergebnis individueller Schöpfung aufgefaßt wird, als individuelle Aussage, als Eingriff des Einzelnen in das gesellschaftliche Bewußtsein.“ 103 Selbst wenn man sich Lucien Goldmanns Gedanken, daß der Schriftsteller auf besonders prägnante Art das Bewußtsein einer Gruppe ausdrückt, nicht zu eigen macht, wird man die kollektive Problematik literarischer Produktion nicht übersehen wollen: Der Konflikt zwischen Ideologie und Gesellschaftskritik bei Stefan George, den Adorno analysiert (vgl. Kap. IV), ist ebensowenig auf individueller Ebene zu klären wie Marcel Prousts Auseinandersetzung mit der mondänen Konversation, mit der Sprache seiner Gruppe: der leisure class des Faubourg Saint Germain. 5. Neuere Entwicklungen: Chvatík und Červenka 231 104 Siehe z. B. J. Mukařovský, „Osobnost v umĕní‘ („Die Persönlichkeit in der Kunst“), in: ders., Studie z estetiky, op. cit. 105 M. Červenka, „New Perspectives on Czech Structuralism“, in: PTL Nr. 4, 1979, S. 368. 106 Siehe: J. Mukařovský, „Genetika smyslu v Máchovĕ poesii“ („Die Genetik des Sinns in Máchas Dichtung“), in: ders., Kapitoly z české poetiky, Bd. 3, op. cit., S. 238-240. Der Begriff der „semantischen Geste“ stammt aus diesem Text. Siehe auch: J. Mukařovský, „Příspĕvek k dnešní problematice básnického zjevu Máchova“ („Beitrag zur heutigen Problematik der dichterischen Erscheinung Máchas“), Kapitoly z české poetiky, Bd. 2, wo vom „Bedeutungsaufbau“ (S. 235) und von der „Noetik“ (S. 241) dieser Dichtung die Rede ist. Alle diese Begriffe sind - vom Standpunkt der zeitgenössischen Semiotik aus gesehen - unzureichend. Der Begriff der Künstlerpersönlichkeit, der von Mukařovský häufig verwendet wird 104 , ist Bestandteil einer individualistischen Ideologie und ein Anachronismus des 19. Jahrhunderts, auf den die Prager Strukturalisten hätten verzichten sollen; denn er ist für Červenkas idealistische Vorstellung mitverantwortlich, daß das isolierte Individuum gleichsam von außen „in das gesellschaftliche Bewußtsein“ eingreift. Das Individuum ist jedoch durch und durch sozial, wie sich hier im letzten Kapitel im Zusammenhang mit Pierre Bourdieus Kunstsoziologie zeigen wird. Schließlich kommt hinzu, daß Červenka in seiner Rezension des von L. Matejka herausgegebenen Sammelbandes zum 50. Jubiläum des Prager linguistischen Zirkels die „semantische Geste“ im Bereich der Rezeption ansiedelt: „Die semantische Geste ist nicht etwas, was vom gesamten semantischen Prozeß des Kunstwerks oder von der Tätigkeit des Rezipienten bei der Konstitution des ästhetischen Objekts abgetrennt werden kann. Sie entsteht im Akt der Konkretisation.“ 105 Hier würde eine genauere Unterscheidung zwischen Produktions- und Werkkontext nicht schaden: Wie entstehen Textstrukturen in einer bestimm‐ ten gesellschaftlichen Situation, wie können sie als Tiefenstrukturen oder Isotopien (Greimas) im Text ausfindig gemacht werden, und wie werden sie in ihrer durchaus begrenzten Vieldeutigkeit historisch rezipiert? Diese Fragen könnten nur im Rahmen einer semantischen und semioti‐ schen Diskurstheorie - wie sie etwa Greimas entwickelt hat - beantwortet werden. Daß es eine solche Theorie im tschechoslowakischen Strukturalis‐ mus trotz Mukařovskýs tiefschürfender Analyse von Máchas Werk 106 z.Z. noch nicht gibt, muß auch Lubomír Doležel, einem anderen wichtigen Erben des Prager Linguistenkreises, aufgefallen sein, als er für eine Synthese von Mukařovskýs Ästhetik und Freges Semantik plädierte: „Die Zeit ist reif V. Die literarische Ästhetik des Prager Strukturalismus 232 107 L. Doležel, „Mukařovský and the Idea of Poetic Truth“, in: Russian Literature Nr. 12-13, Okt. 1982, S. 291. für eine Verklammerung von Mukařovskýs ästhetischer Theorie mit Freges literarischer Semantik.“ 107 Dieser Vorschlag zeigt nicht nur, daß es ein theoretisches Defizit auszu‐ gleichen gilt, sondern auch, daß die Ästhetik als philosophisch fundierte Theorie aller Kunstformen von den Fachwissenschaften in zunehmendem Maße in Frage gestellt wird. Er zeigt jedoch zugleich, daß es sich auch nach der Jahrtausendwende lohnt, an den tschechoslowakischen Struktura‐ lismus anzuknüpfen: denn dieser stellt zusammen mit Adornos ästhetischer Theorie einen zukunftsweisenden Versuch dar, zwischen der agnostischen Rezipientenästhetik Kants („ohne Begriff “) und der logozentrischen Ästhe‐ tik Hegels („sinnliches Scheinen der Idee“) dialektisch und wissenschaftlich zu vermitteln. 5. Neuere Entwicklungen: Chvatík und Červenka 233 1 H. R. Jauß, „Hans Robert Jauß over receptie-onderzoek, Konstanz en de toekomst van de universiteit. Een interview“, in: R. T. Segers (Hrsg.), Lezen en laten lezen, Den Haag, Nijhoff, 1981, S. 207. VI. Die Rezeptionsästhetik zwischen Hermeneutik und Phänomenologie Die zeitgenössische Rezeptionsästhetik, die vor allem an der Universität Konstanz von Hans Robert Jauß (1921-1997) und Wolfgang Iser (1926-2007) entwickelt wurde, kann einerseits als eine kritische Fortsetzung bestimmter Tendenzen innerhalb des Prager Strukturalismus aufgefaßt werden, ande‐ rerseits als eine Replik auf die Poetik der werkimmanenten Interpretation Wolfgang Kaysers und die „Produktionsästhetiken“ des Marxismus und der Kritischen Theorie. Die Konstanzer Theoretiker entdecken nicht nur den Leser als reelle (empirische) oder als ideelle (konstruierte) Instanz, sondern auch die Nach‐ teile einer werkimmanenten oder marxistischen Ästhetik, die dazu neigt, den vieldeutigen literarischen Text mit einer seiner Bedeutungen oder Interpretationen zu identifizieren und mit seinen ästhetischen Objekten (Mukařovský) zu verwechseln. Die Ablehnung dieser zugleich ästhetischen und semantischen Reduktion erklärt Jaußʼ und Isers Kritik an W. Kaysers Frage nach der richtigen Interpretation sowie ihre Polemik gegen den Hegelianismus der Marxisten, die der Frage nach der eigentlichen, der wahren Bedeutung des Textes eine dialektische und materialistische Wende geben. Diesem materialistischen Hegelianismus, der, wie sich im zweiten Kapitel gezeigt hat, nach den gesellschaftlichen Produktionsbedingungen und der historischen Bedeutung (dem „Warum“ und dem „Was“) der Kunstwerke fragt, begegnen Jauß und Iser mit der Frage nach dem Wirkungspotential vieldeutiger Werke, das sich im Verlauf der historischen Rezeption entfaltet. Dabei beruft sich Jauß in einem Interview ausdrücklich auf Kants Ästhetik, die nicht den Standpunkt des Produzenten, sondern den des Natur- und Kunstbetrachters einnimmt: „Die letzte große Wirkungsästhetik war Kants Kritik des ästhetischen Urteils.“ 1 Jauß und Iser können sicherlich nicht pauschal als Kantianer bezeichnet werden, zumal sie sich in wesentlichen Punkten auf Autoren wie Dilthey, Gadamer, Karl Mannheim, Husserl und Ingarden stützen, deren Philoso‐ phien an entscheidenden Stellen mit Kant gebrochen haben. Sie können insofern als Erneuerer der Kantschen Position in der Literaturwissenschaft aufgefaßt werden, als sie sich die Betrachter- oder Rezipientenperspektive zu eigen machen und - zumindest in der Theorie - auf der Begriffslosigkeit des literarischen Textes insistieren: auf der Unmöglichkeit, diesen auf Eindeutigkeit oder Monosemie festzulegen. Daß diese beiden Komponenten der Kantschen Ästhetik einander ergän‐ zen, wird klar, sobald man bedenkt, daß der Autor als Produzent mit der von ihm intendierten Bedeutung einmalig und allein dasteht, während die historische Leserschaft eine sich unablässig erneuernde, heterogene Größe ist, die sich weder bei fiktionalen noch bei nichtfiktionalen Texten auf eine Bedeutung zu einigen vermag. Zu viele sprachliche, kulturelle, ideologische und ästhetische Interessen kollidieren im Bereich der Rezeption, als daß sich eine Textbedeutung auf Dauer durchsetzen könnte. So ist es zu erklären, daß Rezeptionstheorien eher zum Bedeutungsplu‐ ralismus („ohne Begriff “) neigen, während Theorien der literarischen Pro‐ duktion immer wieder zur genetischen Frage nach der Textentstehung und Textbedeutung zurückkehren: In welchem historischen Kontext ist ein Text entstanden, und welche Positionen, Interessen und Widersprüche drückt er aus? Es ist eines der Hauptanliegen dieses Kapitels (Abschn. 5) zu zeigen, daß Produktion und Rezeption dialektisch aufeinander zu beziehen sind, weil ihre Trennung Einseitigkeiten und Verzerrungen zeitigt. Wie bereits angedeutet, ist Jaußʼ und Isers Erneuerung der Kantschen Position keineswegs als eine Rückkehr zu Kant zu werten. Vor allem Jaußʼ Auseinandersetzung mit Adornos negativer Ästhetik sowie seine „Kleine Apologie der ästhetischen Erfahrung“ (1972) lassen erkennen, daß er mit der Askese des „interesselosen Wohlgefallens“ nichts im Sinn hat: Ihm ist es um die Entwicklung einer kritischen Ästhetik zu tun, die einerseits der „ästhetischen Distanz“ (der Negativität) Rechnung trägt, andererseits aber den ästhetischen Genuß und die didaktischen oder „normbildenden“ Aufgaben der Literatur nicht vernachlässigen möchte. Auf die Frage, ob diese Synthese von Horazʼ „Delectare et prodesse“ und Adornos radikaler Nega‐ tivität („Mimesis ans Tödliche“) in der gegenwärtigen gesellschaftlichen und sprachlichen Situation nicht eine Hybris sei, ging ich im vierten Kapitel kurz ein; ich komme in diesem Kapitel auf sie zurück. VI. Die Rezeptionsästhetik zwischen Hermeneutik und Phänomenologie 236 2 H. R. Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt, Suhrkamp, 1982, S. 698-699. 3 Siehe: H. R. Jauß, „Die Theorie der Rezeption - Rückschau auf ihre unerkannte Vorgeschichte“, Konstanz, Universitätsverlag, 1987. 4 Zur Kritik an der Rezeptionsästhetik der 1970er Jahre siehe u.a.: B. J. Warneken, „Zu Hans Robert Jaußʼ Programm einer Rezeptionsästhetik“, in: P. U. Hohendahl (Hrsg.), Sozialgeschichte und Wirkungsästhetik, Frankfurt, Athenäum-Fischer, 1974; S. Naïr, „Connaissance des textes et montage polémique (A propos de Pour une esthétique de la réception de H. R. Jauss)“, in: A. Goldmann, S. Naïr (Hrsg.), Essais sur les formes et leurs significations, Paris, Denoël-Gonthier, 1981; P. V. Zima, „‚Rezeption‘ und ‚Produktion‘ als ideologische Begriffe“, in: ders. (Hrsg.), Textsemiotik als Ideologiekritik, Frankfurt, Suhrkamp, 1977. Vorerst wäre zu fragen, ob es sich in der Rezeptionsästhetik (vor allem bei Jauß) tatsächlich um einen Syntheseversuch handelt: ob nicht vielmehr die kritisch-negative Position, die Jauß mit der ersten Phase seiner Rezeptionsästhetik identifiziert, in der zweiten Phase seiner Entwicklung von einer theoretischen Einstellung abgelöst wird, die sich im Zuge der „Postmo‐ derne“ einer größeren Konzilianz der Kulturindustrie gegenüber befleißigt. Jauß sieht es freilich anders, wenn er rückblickend bemerkt: „Die Revision der modernistischen Einseitigkeit meines ersten Entwurfs begann darum mit einer Kritik an der ästhetischen Theorie Adornos, gegen die nunmehr das genießende Verstehen als Bedingung der ästhetischen Reflexion und das konsensusfordernde ästhetische Urteil als spezifische, obschon im Zeitalter der Massenmedien und der Kulturindustrie verschüttete gesellschaftliche Leistung der ästhetischen Kommunikation zu rehabilitieren war.“ 2 Die zugleich kritische und modernistische Frage, auf die ich in diesem Kapitel noch zurückkommen will, lautet, ob nicht gerade das Plädoyer für Genuß und Konsens den Managern der Kulturindustrie Schützenhilfe leistet: „Ein gutes Buch wird sich auch gut verkaufen.“ Letztlich entscheidet das Marktgesetz über die Qualität. Vorerst tritt nicht diese Kritik an Jauß in den Vordergrund, sondern die Überlegung, daß Jaußʼ Rückblick auf die Entwicklung der Rezeptionsäs‐ thetik 3 , sein umfangreiches Werk Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik (1982) sowie Isers Der Akt des Lesens (1976) den Versuch einer kritischen Gesamtdarstellung eher rechtfertigen als die kritisch-pole‐ mischen Schriften der frühen siebziger Jahre. 4 Es kommt hinzu, daß die Konstanzer Rezeptionsästhetik den Anstoß zu einer Fülle von rezeptionso‐ rientierten Untersuchungen gegeben hat, deren Spektrum von der Analyse des impliziten Lesers bis zur Rezeptionspragmatik und Rezeptionssoziologie VI. Die Rezeptionsästhetik zwischen Hermeneutik und Phänomenologie 237 5 Siehe z. B. G. Köpf (Hrsg.), Rezeptionspragmatik, München, Fink, 1981; R. T. Segers, „Receptiesociologie“, in: Spektator Nr. 10, 1980/ 81. reicht. 5 Obwohl es unmöglich ist, im Rahmen dieses Kapitels ausführlich auf alle diese Arbeiten einzugehen, sollen sie dort punktuell berücksichtigt werden, wo sie Isers und Jaußʼ Argumentationen weiterführen oder ergän‐ zen. Abschließend muß darauf hingewiesen werden, daß die Bezeichnung „Rezeptionsästhetik“ zwei heterogene theoretische Ansätze tendenziell auf einen Nenner bringt, den es möglicherweise gar nicht gibt: Während Jaußʼ Ansatz unmittelbar aus Gadamers (indirekt aus Schleiermachers und Dil‐ theys) Hermeneutik hervorgegangen ist, gründet Isers Phänomenologie der Literatur auf Husserls Philosophie und Ingardens literarischer Ästhetik. Der Gegensatz zwischen den beiden literaturwissenschaftlichen Ansätzen ist dem zwischen ihren philosophischen Prämissen homolog: Während Jauß die Rezeption eines Autors in historisch-hermeneutischer Perspektive anpeilt, befaßt sich Iser vornehmlich mit dem Wirkungspotential literarischer Texte aus phänomenologisch-historischer Sicht. Pauschale Bezeichnungen wie „Rezeptionsästhetik“, die sich aus ökono‐ mischen und institutionellen Gründen durchgesetzt haben, sollten nicht über die grundsätzliche methodologische Differenz zwischen einer histo‐ risch-hermeneutischen Rezeptionstheorie, die konkrete historische Rezeptio‐ nen zum Gegenstand hat, und einer phänomenologischen Wirkungstheorie, die das Wirkungspotential der Texte anvisiert, hinwegtäuschen. 1. Von Gadamer zu Jauß: Hermeneutik und Ästhetik Auf den ersten Blick mag es merkwürdig erscheinen, daß ein Autor wie Ga‐ damer, der am philosophischen Wahrheitsbegriff festhält und den Gedanken an einen Wahrheitsgehalt des Kunstwerks nicht preisgeben möchte, zum Bürgen einer Rezeptionstheorie wird, die sich gegen die Reduktion literari‐ scher Texte auf begriffliche Wahrheiten wendet. Wer Gadamers Nachwort zur dritten Auflage von Wahrheit und Methode (1972) liest, mag zunächst verwundert feststellen, daß in der Hermeneutik, auf die sich Jauß beruft, um die Vieldeutigkeit und den Bedeutungswandel der Literatur gegen hege‐ lianische und marxistische Monosemierungstendenzen zu verteidigen, von „Invarianten“ des Kunstwerks die Rede ist: „Die hermeneutische Konstitu‐ VI. Die Rezeptionsästhetik zwischen Hermeneutik und Phänomenologie 238 6 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen, J. C. B. Mohr, 4. Aufl., 1975, S. 541. 7 Ibid., S. 538-539. tion der Werkeinheit des Kunstwerks ist gegenüber allen gesellschaftlichen Veränderungen des Kunstbetriebes invariant. (…) Auch eine marxistische Literaturbetrachtung muß solche Invarianz beherzigen, wie etwa Lucien Goldmann mit Recht betont hat.“ 6 Hegelianische Marxisten wie Goldmann werden diese Invarianz gern beherzigen, da sie ja implizit oder explizit annehmen, daß der literarische Text eindeutig eine bestimmte historische Bewußtseinsform ausdrückt, die nicht dem Bedeutungswandel unterliegt. Weniger begeistert von Gadamers Plädoyer für Textinvarianten sollten hingegen Vertreter der Rezeptionsästhetik sein, die wie Jauß davon ausge‐ hen, daß Invarianz nur Schein ist, weil „Invarianten“ nicht unabhängig vom historischen Verstehen und Auslegen zustande kommen. In diesem Zusammenhang zeigt sich jedoch, daß Jauß sich nicht zu Unrecht auf Gadamer beruft, da dieser im Gegensatz zu Marxisten wie Goldmann nirgendwo behauptet, daß literarische Texte begrifflichen Äquivalenten (Weltanschauungen, Philosophien) homolog sind. Anders als die Hegelianer ist er bestrebt, der Vieldeutigkeit der Texte und ihrem Bedeutungswandel hermeneutisch Rechnung zu tragen. „Ich bin weit davon entfernt zu leugnen“, erklärt er ebenfalls im Nachwort zur dritten Auflage von Wahrheit und Methode, „daß die Weise, wie ein Kunstwerk in seine Zeit und Welt hineinspricht (was H. R. Jauß seine ‚Negativität‘ nennt), seine Bedeutung, d. h. die Art, wie es für uns sprechend ist, mitbestimmt. Das war ja die Pointe des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins, Werk und Wir‐ kung als Einheit eines Sinnes zu denken. Was ich als Horizontverschmelzung beschrieb, war die Vollzugsform dieser Einheit, die dem Interpreten von einem ursprünglichen Sinne eines Werkes zu sprechen nicht erlaubt, ohne daß in das Verständnis desselben der eigene Sinn des Interpreten immer schon mit eingegangen wäre.“ 7 Sieht man zunächst von der entscheidenden Frage ab, wie sich die im Text angelegten Bedeutungen zu denen des historischen Lesers oder Interpreten verhalten, so drängt sich im Anschluß an die hier zitierten Passagen aus dem „Nachwort“ die etwas bescheidenere Frage auf, wie Gadamer einerseits in Übereinstimmung mit dem Hegelianer Goldmann Textinvarianten beherzi‐ gen, andererseits aber im Einklang mit Jauß die Vorstellung von einem ursprünglichen Sinn ablehnen und den Bedeutungswandel als historische Horizontverschmelzung denken kann. Denn Hegelianern wie Goldmann 1. Von Gadamer zu Jauß: Hermeneutik und Ästhetik 239 8 Ibid., S. 93. 9 Ibid. 10 Ibid., S. 94. oder Lukács ist es sehr wohl um die Rekonstruktion des „ursprünglichen historischen Sinnes“ zu tun. Die Antwort auf diese Frage hat Gadamers hermeneutische Position zwischen Kant und Hegel zu berücksichtigen. Eine vorläufige Skizze dieser Position könnte etwa so aussehen: Gadamer hält zwar, in hegelianischer Tradition stehend, am Wahrheitsbegriff und an dem aus diesem ableitbaren Begriff des ästhetischen Wahrheitsgehalts fest; er behauptet aber wie vor ihm Kant, daß Kunstwerke (das Schöne) nicht auf den Begriff zu bringen sind. Er weicht sowohl von Hegel als auch von Kant ab, indem er die heideggerianische und romantische These aufstellt, daß die Wahrheit der Kunst über den begrifflichen Bereich hinausgeht und dem wissenschaftli‐ chen Denken überlegen ist. Sie läßt sich daher nicht mit dessen Methoden einfangen und vermessen. Auf die traditionalistische und bisweilen irratio‐ nalistische Tendenz dieser These will ich im nächsten Abschnitt eingehen; vorerst ist es mir um Gadamers Kritik an Hegel und Kant sowie um seinen ästhetischen Wahrheitsbegriff zu tun. Daß Gadamer Kunst und Literatur in Wirklichkeit ganz anders betrachtet als der Hegelianer Lucien Goldmann, zeigen die kritischen Kommentare zu Kant und Hegel in Wahrheit und Methode. Anders als Kant, der „Wahr‐ heit der Erkenntnis an dem Erkenntnisbegriff der Wissenschaft und dem Wirklichkeitsbegriff der Naturwissenschaft mißt“ 8 , möchte Gadamer auch ästhetische Erfahrung als Erfahrung der Wahrheit verstanden wissen. Gegen Kants ästhetischen Agnostizismus beruft er sich auf Hegels Vorlesungen über die Ästhetik, zu denen er bemerkt: „Hier ist auf eine großartige Weise der Wahrheitsgehalt, der in aller Erfahrung von Kunst liegt, zur Anerkennung gebracht und zugleich mit dem geschichtlichen Bewußtsein vermittelt.“ 9 Allerdings folgt diesen zustimmenden Bemerkungen eine Kritik an Hegel, die die Wahrheitserfahrung der Kunst jenseits des hegelianischen Logos ansiedelt. Der Wahrheitsbegriff der Kunst ist nicht aus dem logischen oder dem wissenschaftlichen ableitbar: „Freilich, sofern die Wahrheit des Begriffs dadurch allmächtig wird und alle Erfahrung in sich aufhebt, desavouiert Hegels Philosophie den Wahrheitsweg zugleich wieder, den sie in der Erfah‐ rung der Kunst erkannt hat.“ 10 Kant hat zwar recht, wenn er den Bereich des Schönen gegen begriffliche Erkenntnis abgrenzt; er vernachlässigt jedoch VI. Die Rezeptionsästhetik zwischen Hermeneutik und Phänomenologie 240 11 Ibid., S. 39. 12 Ibid., S. 55. 13 H.-G. Gadamer, Kleine Schriften II. Interpretationen, Tübingen, J. C. B. Mohr, 1967, S. 2. 14 Ibid. die Erkenntnisfunktion des Ästhetischen: „Aber geht es an, den Begriff der Wahrheit der begrifflichen Erkenntnis vorzubehalten? Muß man nicht auch anerkennen, daß das Kunstwerk Wahrheit habe? “ 11 Die Wahrheitserfahrung ist auch für die Kunst wesentlich, sagt Gadamer, aber sie ist eine qualitativ andere als die der Philosophie und der Wissenschaft. Obwohl er sich einerseits von Kant distanziert, weil dessen Auffassung der Urteilskraft eine Darstellung der Erkenntnisfunktion der Kunst und des Wahrheitsgehalts einzelner Kunstwerke nicht gestattet, nähert er sich der Kantschen Position, wenn es gilt, Literatur und Kunst gegen begriffliche Reduktionen zu verteidigen. Diese Annäherung an Kant ist wie die der Junghegelianer (vgl. Kap I. 3) im Zusammenhang mit der Krise des Hegel‐ schen Systems in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu verstehen. Gadamer selbst stellt die Parole „zurück zu Kant“ in diesen Kontext der Krise, wenn er von der „Perhorreszierung des dogmatischen Schematismus der Hegel-Schule in der Mitte des 19. Jahrhunderts“ 12 spricht. Von einer „Rückkehr zu Kant“ sollte man im Zusammenhang mit Gadamer allerdings nicht sprechen; eher von einem ständigen Schwanken zwischen dem Hegelschen und dem Kantschen Pol, das von der Überzeugung getragen wird, Kunst sei eine unversiegbare Quelle der Wahrheit und dennoch vieldeutig und interpretierbar. Kantianisch ist Gadamers ästhetische Theorie insofern, als sie einerseits Allgemeingültigkeit für den Wahrheitsgehalt des Kunstwerks beansprucht, andererseits aber an dessen Vieldeutigkeit („ohne Begriff “) festhält. „Was Kant vom Geschmacksurteil mit Recht gesagt hat, daß ihm Allgemeingültigkeit angesonnen wird, obwohl seine Anerkennung nicht durch Gründe zu erzwingen ist, das gilt auch für alle Interpretation von Kunstwerken, die tätige des reproduzierenden Künstlers oder des Lesers so gut wie die des wissenschaftlichen Interpreten.“ 13 Im Anschluß an diese Darstellung spricht Gadamer vom „Kunstwerk, das immer neuer Auffassung offensteht“. 14 In diesem Punkt bestätigt er nicht nur die ästhetischen Theorien Mukařovskýs und Vodičkas, sondern antizipiert den Grundgedanken der Konstanzer Rezeptionsästhetik, daß der Bedeutungswandel literarischer Texte in deren Interpretierbarkeit und Kon‐ kretisierbarkeit zu suchen ist. Auch die Vertreter der Rezeptionsästhetik 1. Von Gadamer zu Jauß: Hermeneutik und Ästhetik 241 15 Ibid., S. 6. 16 H.-G. Gadamer, „Philosophie und Literatur“, in: Was ist Literatur? Beiträge von Hans-Georg Gadamer, Helmut Kubin, Gerhard Funke, Freiburg-München, Alber, 1981, S. 37. Siehe auch: H.-G. Gadamer, Kleine Schriften II, op. cit., S. 12: „Wir wissen es schmerzlich und mit der ganzen Spannung einer Aufgabe, daß Dichtung sprachgebun‐ den ist und daß die Übersetzung von Poesie eine ebenso großartige wie qualvolle Unmöglichkeit darstellt.“ 17 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, op. cit., S. 79. 18 Siehe auch: Abschn. 3 in diesem Kapitel. 19 H.-G. Gadamer, Kleine Schriften II, op. cit., S. 1. 20 H.-G. Gadamer, „Philosophie und Literatur“, op. cit., S. 23. gehen vom „Sinnüberschuß“ des Textes aus, von dem Gadamer spricht und von dem er sagt: „Auf ihm beruht seine Unausschöpfbarkeit, die es aller Übertragung in den Begriff gegenüber auszeichnet.“ 15 Angesichts dieser Aufwertung der Ausdrucksebene, die für alle Varianten des ästhetischen Kantianismus kennzeichnend ist, nimmt es nicht wunder, daß Gadamer in seinen neueren Schriften die Übersetzbarkeit der Literatur anzweifelt und wie Croce von der „Unübersetzbarkeit der Lyrik“ 16 spricht. Komplementär zu dieser sprachlichen Begründung der ästhetischen Au‐ tonomie verhält sich die phänomenologische in Wahrheit und Methode. Dort versucht Gadamer zu zeigen, daß Kunstwerke ihre eigene Wirklich‐ keit hervorbringen und deshalb mit Begriffen wie Nachahmung, Schein, Entwirklichung oder Illusion nicht adäquat zu beschreiben sind. Die Kunst ist nicht aus ihrem Bezug zur Wirklichkeit zu verstehen, sondern nur als Erscheinung sui generis: „Nun lehrt aber der phänomenologische Rückgang auf die ästhetische Erfahrung, daß diese gar nicht aus solchem Bezug denkt und vielmehr in dem, was sie erfährt, die eigentliche Wahrheit sieht.“ 17 An dieser Stelle wird deutlich, daß nicht nur im tschechoslowakischen Struktu‐ ralismus, sondern auch bei Gadamer Husserls Phänomenologie Argumente liefert, die den kantianischen Autonomismus verstärken. 18 Gadamers Gedanke, daß die ästhetische Wahrheit mehrdeutig ist und deshalb über den „ursprünglichen historischen Horizont“ hinausgeht, „in dem der Betrachter mit dem Schöpfer des Werkes wirklich gleichzeitig war“ 19 , führt zu einer Historisierung der ästhetischen Wahrheit, die als ein nie endender Prozeß von Frage und Antwort erscheint. In diesem Prozeß kommt es darauf an, den literarischen Text als Antwort auf bestimmte Fragen zu verstehen, die in seinem historischen Entstehungszusammenhang aufka‐ men. Er gehe davon aus, erläutert Gadamer, „daß wir nur das verstehen, was wir als Antwort auf eine Frage verstehen“. 20 Zugleich geht es darum, VI. Die Rezeptionsästhetik zwischen Hermeneutik und Phänomenologie 242 21 W. Dilthey, „Die Entstehung der Hermeneutik“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 5, Stuttgart, B. G. Teubner, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1968, S. 318. 22 Ibid., S. 319. 23 Ibid. 24 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, op. cit., S. 379. 25 Ibid., S. 376. 26 Siehe: H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, op. cit., S. 376: „Sprachliche Auslegung ist die Form der Auslegung überhaupt.“ Siehe auch S. 291. 27 Ibid., S. 375. den so verstandenen Text auf die eigene historische Situation anzuwenden: ihn historisch zu aktualisieren und seinen Wahrheitsgehalt (als „aktuelle Wahrheit“, als „Wahrheit für uns“) zu erneuern. In diesem Zusammenhang unterscheidet Gadamer drei komplementäre Vorgänge, die er als Verstehen, Auslegung und Applikation bezeichnet. Ent‐ scheidend ist für ihn, daß das Verstehen eines literarischen Werkes oder eines historischen Ereignisses nicht unabhängig vom historischen Stand‐ ort des Betrachters möglich ist: Ich kann nicht sagen, was ein Text (ein historisches Ereignis) objektiv, unabhängig von mir bedeutet; ich kann nur ausdrücken, was es für mich bedeutet. Dies behauptete bereits Wilhelm Dilthey (1833-1911), als er in „Die Entstehung der Hermeneutik“ (1900) bemerkte: „Wir nennen den Vorgang, in welchem wir aus Zeichen, die von außen sinnlich gegeben sind, ein In‐ neres erkennen: Verstehen.“  21 Dieses Verstehen ist bei Dilthey und Gadamer nicht vom Interesse, von der Betroffenheit des Einzelnen zu trennen: „Das Verstehen zeigt verschiedene Grade. Diese sind zunächst vom Interesse bedingt. Ist das Interesse eingeschränkt, so ist es auch das Verständnis.“ 22 Die höchste Stufe des Verstehens, das „kunstmäßige Verstehen“, nennt Dilthey Auslegung oder Interpretation und betrachtet es als die Haupttätigkeit der Philologie. 23 Gadamer folgt ihm, wenn er in Wahrheit und Methode spontanes Verste‐ hen und philologisches Auslegen miteinander verschränkt, von der „sprach‐ liche(n) Erfassung“ spricht, „die dies Verstehen in der Auslegung erfährt“ 24 , und hinzufügt: „Das bedeutet aber, die Auslegung ist potentiell im Verstehen enthalten.“ 25 Im Anschluß an diese Bemerkungen könnte man die Auslegung als explizites, philologisches Verstehen definieren, dessen sprachliche Form die Grundform ist. 26 Der praktische Aspekt des Verstehens ist die Applikation, denn: „Einen Text verstehen, heißt immer schon, ihn auf uns selbst anwenden (…).“ 27 Diese 1. Von Gadamer zu Jauß: Hermeneutik und Ästhetik 243 28 Ibid., S. 290. 29 Ibid., S. 289. 30 Ibid., S. 275. 31 Ibid., S. 159. Applikation, die, wie sich zeigen wird, auch bei Jauß eine wichtige Funktion erfüllt, ist nur dann möglich, wenn der historische Horizont, vor dem die Fragen und Antworten des Textes entstanden sind, mit dem historischen Horizont des Lesers oder Betrachters verschmilzt. Dieses Verschmelzen ist jedoch nicht als naive oder spontane Angleichung des Vergangenen an das Gegenwärtige zu denken; denn es gilt, das Spannungsverhältnis zwischen Altem und Neuem zu bewahren. „Die hermeneutische Aufgabe“, sagt Gadamer, „besteht darin, diese Spannung nicht in naiver Angleichung zuzudecken, sondern bewußt zu entfalten.“ 28 Erst auf diesem Umweg über die Erkenntnis der qualitativen Differenz kann es zu einer Aneignung des historisch Fernen oder des kulturell Fremden kommen. Diese Aneignung stellt Gadamer als Horizontverschmelzung dar, die dadurch ermöglicht wird, daß die historischen Horizonte trotz ihrer Verschiedenartigkeit miteinander im historischen Prozeß kommunizieren. Ihre Autarkie ist Schein: „Vielmehr ist Verstehen immer der Vorgang der Verschmelzung solcher vermeintlich für sich seiender Horizonte.“  29 Anders ausgedrückt: Es geht darum, sich in einer bestimmten historischen Situation Vergangenes und Fremdes anzueignen, ohne es subjektiv auf Gegenwärtiges und Bekanntes zu reduzieren. Der Rezipient soll das Fremde so aufnehmen, daß es ihm vertraut wird und zugleich seinen Horizont erweitert. Hier schließt sich der hermeneutische Zirkel, denn die Aneignung des Fremden bedeutet, „daß die Erwartung umgestimmt wird und daß sich der Text unter einer anderen Sinnerwartung zur Einheit einer Meinung zusam‐ menschließt. So läuft die Bewegung des Verstehens stets vom Ganzen zum Teil und zurück zum Ganzen“. 30 Einzelelemente dürfen nicht unmittelbar in den eigenen Erfahrungsbereich transponiert, sondern müssen im Kontext des Gesamttextes verstanden werden. Der Text ist wiederum in den Kontext der Gattung einzubetten und dieser im historischen Gesamtzusammenhang zu bestimmen. Anders als Friedrich Schleiermacher (1768-1834), der Begründer der modernen Hermeneutik, dem es um die Rekonstruktion der ursprünglichen Bedeutung des Kunstwerks zu tun war, um die „Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes, den der schaffende Künstler ‚gemeint‘ hatte“ 31 , VI. Die Rezeptionsästhetik zwischen Hermeneutik und Phänomenologie 244 32 H.-G. Gadamer, „Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik. Metakritische Erörterun‐ gen zu ‚Wahrheit und Methode‘“, in: Hermeneutik und Ideologiekritik. Mit Beiträgen von Apel, Bormann, Bubner, Gadamer, Giegel, Habermas, Frankfurt, Suhrkamp, 1971, S. 68. 33 Siehe: Vf., Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, Tübingen, Francke, 1989, Kap. 11. strebt Gadamer danach, das Spannungsverhältnis zwischen vergangener und gegenwärtiger Bedeutung hermeneutisch auszutragen. Hans Robert Jauß, der von ihm und Karl Mannheim (1893-1947) den Begriff des Erwartungshori‐ zontes übernimmt, macht sich dieses hermeneutische Projekt zu eigen und entwirft eine leserorientierte Literaturgeschichte. 2. Jaußʼ Rezeptionsästhetik als literarische Hermeneutik Hans Robert Jaußʼ Betrachtungsweise unterscheidet sich von der Gadamers nicht nur durch die spezifische Ausrichtung der Theorie auf den literarischen Text, sondern auch - und vielleicht vor allem - durch eine größere Skepsis der Tradition gegenüber. Bekanntlich steht Gadamer auf dem Standpunkt, daß auch der kritische Philologe oder Historiker nicht aus dem historischen Traditionszusammenhang auszubrechen vermag, in dem er steht. Diesen Standpunkt verteidigt er konsequent gegen Habermasʼ Ideologiekritik: „Der Historiker, auch der der sogenannten kritischen Wissenschaft, löst so wenig fortlebende Traditionen, z. B. die nationalstaatlichen, auf, daß er als natio‐ naler Historiker vielmehr in dieselben bildend und fortbildend eingreift, und das Wichtigste ist: je bewußter er auf seine hermeneutische Bedingtheit reflektiert, desto mehr.“ 32 Nun ist aber nicht einzusehen, weshalb ein Historiker, der in einem Nationalstaat lebt, dazu verurteilt sein sollte, als „nationaler Historiker“ in der nationalstaatlichen Tradition zu verharren: Bei so eingeschränkter Perspektive wäre er nicht nur kritischen Theoretikern, sondern auch dem Durchschnittsbeamten der Europäischen Union weit unterlegen. Kritische Reflexion des eigenen Diskurses sollte, wie ich zu zeigen versuchte 33 , eine Überwindung der eigenen Partikularität, der eigenen „Tradition“ er‐ möglichen. Es käme darauf an, die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen zu untersuchen, die eine solche Überwindung ermöglichen oder beschleunigen. Das tut Jauß zwar nicht, er wirft Gadamer jedoch vor, den Traditionszu‐ sammenhang und die Autorität „klassischer“ Werke zu privilegieren und 2. Jaußʼ Rezeptionsästhetik als literarische Hermeneutik 245 34 H. R. Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, op. cit., S. 27. 35 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, op. cit., S. 177. 36 Ibid., S. 179. 37 H.-G. Gadamer, „Philosophie und Literatur“, op. cit., S. 45. den Leser als aktive, produktive Instanz zu vernachlässigen. Der Übermacht der Tradition und ihres Wahrheitsanspruchs stellt Jauß - darin der ersten, der kritisch-negativen, von Adorno beeinflußten Phase seiner Entwicklung treu - eine „dialogische Produktivität“ und eine „offene Dialektik von Frage und Antwort“, von Text und Leser gegenüber: „Ich glaube, mich darum auf Gadamer gegen Gadamer berufen zu können, wenn ich seiner aktiven Bestimmung des Verstehens den Vorzug gebe, die Aufgabe der Horizontabhebung der passiven ‚Horizontverschmelzung‘ vorordne und den Prozeß der Wirkungsgeschichte aus der produktiven Rezeption - auch der eminenten Texte - hervorgehen sehe.“ 34 Nicht der Wahrheitsgehalt der „großen Werke“ ist also in Jaußʼ Projekt zentral, sondern die kreative Rolle der Leserschaft. Trotz dieser Kritik am Konservatismus von Gadamers Hermeneutik über‐ nimmt Jauß eine ihrer konservativen Komponenten: ihre heideggerianische Aversion gegen Natur- und Sozialwissenschaften und ihr Plädoyer für eine „Geisteswissenschaft“, die als „Kunst des Verstehens“ ohne die Methoden der empirischen Wissenschaften auskommt. Gadamer, der in Wahrheit und Methode Ausdrücke wie „Würde der Dichtkunst“, „unbewußt-genial“ und „schöpferische Leistung“ verwendet 35 , gibt schließlich trotz seiner Kritik an Schleiermacher unumwunden zu: „Die Hermeneutik ist eben Kunst und nicht ein mechanisches Verfahren.“ 36 Ergänzend heißt es in einem neueren Artikel, in dem auch der referentielle Bezug poetischer und philosophischer Diskurse geleugnet wird: „Fortschritt gibt es weder in der Philosophie noch in der Kunst.“ 37 Obwohl Jauß in dieser Angleichung von Kunst und hermeneutischer Philosophie nicht so weit geht wie Gadamer, steht auch er in der Tradition der „Geisteswissenschaften“, deren Vertreter (allen voran Heidegger) es stets abgelehnt haben, die Methoden und Terminologien der Sozial- und Naturwissenschaften zu übernehmen. Nur in diesem Zusammenhang sind seine Kritiken und Polemiken gegen Semiotik, dialektisch-materialistische Literaturwissenschaft und Literartursoziologie konkret zu verstehen. Auch bei ihm macht sich der „Dualismus von hermeneutischer Erfahrung und VI. Die Rezeptionsästhetik zwischen Hermeneutik und Phänomenologie 246 38 U. Nassen, „Hans-Georg Gadamer und Jürgen Habermas: Hermeneutik, Ideologiekritik und Diskurs“, in: ders. (Hrsg.), Klassiker der Hermeneutik, Paderborn, Schöningh 1982, S. 303. 39 Siehe: M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen, Niemeyer, 10. Aufl., 1963, S. 11: „Ontolo‐ gisches Fragen ist zwar gegenüber dem ontischen Fragen der positiven Wissenschaften ursprünglicher.“ 40 Siehe z. B. J. Leenhardt, „Das ‚Lesen-Können‘ oder: Über die sozio-historischen Modali‐ täten des Lesens“, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik Nr. 57/ 58 (Lesen - historisch), 1985; N. Groeben, „Kontemporäre Rezeptionsforschung: Empirisierung als Konsequenz und Kritik der Rezeptionsästhetik“, in: H. Van Gorp, R. Ghesquiere, R. T. Segers (Hrsg.), Receptie-onderzoek: mogelijkheden en grenzen/ Rezeptionsforschung: Möglichkeiten und Grenzen, Leuven, Acco, 1981; R. T. Segers, „Receptie-onderzoek in de jaren 80: de grenzen van de mogelijkheden en de mogelijkheden van de grenzen“, in: Receptie-onderzoek: mogelijkheden en grenzen, op. cit. 41 J. Stückrath, Historische Rezeptionsforschung. Ein kritischer Versuch zu ihrer Geschichte und Theorie, Stuttgart, Metzler, 1979, S. 119. methodischer Erkenntnis“ 38 bemerkbar, von dem Ulrich Nassen im Zusam‐ menhang mit Gadamer spricht. Dieser Dualismus ist Heideggers Dichotomie zwischen dem Ontologischen und dem Ontischen homolog, in deren Rah‐ men schon in Sein und Zeit (1927) die Abwertung der Sozialwissenschaften als „ontischer Wissenschaften“ 39 gerechtfertigt wird. Bei Jauß führt diese Abwertung zu einer Abkoppelung der Rezeptionsäs‐ thetik von der empirischen Rezeptionsforschung: der Rezeptionssoziologie und Rezeptionspsychologie, die in letzter Zeit von Autoren wie Jacques Leenhardt, Rien T. Segers und Norbert Groeben entwickelt wurden. 40 Im Gegensatz zu diesen Autoren richtet Jauß sein Augenmerk auf die produk‐ tive Rezeption eines Textes durch einzelne Schriftsteller. Zu dieser eher traditionellen Ausrichtung einer Rezeptionstheorie, deren Autor vorgibt, im Rahmen eines neuen literaturwissenschaftlichen „Para‐ digmas“ (im Sinne von T. S. Kuhn) den Leser entdeckt zu haben, bemerkt mit Recht Jörn Stückrath, „daß Jaußʼ Interesse am Leser vor allem auch das Interesse am Leser als Autor ist. Das neue Werk des lesenden Autors wird ins Blickfeld gerückt, wodurch Jauß seinem Programm unversehens ein Ziel setzt, das aus der traditionellen, entstehungsgeschichtlichen Einfluß‐ forschung vertraut ist“. 41 Im Verlauf meiner Darstellung wird sich zeigen, daß sich Jaußʼ Rezeptionsanalysen häufig kaum von sozialgeschichtlichen Interpretationen oder Einflußanalysen unterscheiden. In seiner bekannten Streitschrift „Rezeptionsgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft“ (1967) tritt Jauß allerdings mit dem Anspruch auf, die „Autonomieästhetik“ der werkimmanenten Interpretation (z. B. 2. Jaußʼ Rezeptionsästhetik als literarische Hermeneutik 247 42 H. R. Jauß, Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt, Suhrkamp., 1997 (11. Aufl.), S. 171. 43 H. R. Jauß, „Paradigmawechsel in der Literaturwissenschaft“, in: Linguistische Berichte Nr. 3, 1969, S. 54-56. 44 Mit der Anwendbarkeit des Paradigmabegriffs in den Sozialwissenschaften befasse ich mich im 12. Kap. meines Buches Ideologie und Theorie, op. cit. sowie in Was ist Theorie? Theoriebegriff und Dialogische Theorie in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Tübingen, Francke, 2017 (2. Aufl.), Kap. V: „Paradigmen in den Kultur- und Sozialwis‐ senschaften? “ 45 H. R. Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, op. cit., S. 17. Wolfgang Kaysers) und die „Produktionsästhetik“ der Marxisten mit einer leserorientierten Literaturgeschichte herausfordern zu können. „Eine Er‐ neuerung der Literaturgeschichte“, heißt es in der 6. These dieser Schrift, „erfordert, die Vorurteile des historischen Objektivismus abzubauen und die traditionelle Produktions- und Darstellungsästhetik in einer Rezeptions- und Wirkungsästhetik zu fundieren.“  42 Die „Erfahrung des literarischen Werkes durch seine Leser“ soll zur neuen Grundlage der Literaturgeschichte und der gesamten Literaturwissenschaft werden. Zwei Jahre später steigert Jauß den theoretischen Anspruch seines Ansatzes, indem er von einem „Paradigmawechsel in der Literaturwissen‐ schaft“ (1969) spricht und als Alternative zum „klassischen Paradigma“ („die Antike als Vorbild und Normensystem“) sowie zu den Paradigmen des „Historismus“ und der „werkimmanenten Ästhetik“ das rezeptionsästhetische Paradigma vorschlägt. 43 In dem hier konstruierten Kontext ist nicht so sehr die Frage nach der Anwendbarkeit des Kuhnschen Paradigmabegriffs auf die Sozialwissenschaften wichtig 44 , sondern die Frage nach der ästhetischen Bedeutung der von Jauß befürworteten Leserperspektive. In der Einleitung zu diesem Kapitel habe ich bereits angedeutet, daß der Ausgangspunkt des von Jauß angekündigten „Paradigmawechsels“ Kants Kritik der Urteilskraft ist, die im Gegensatz zu den späteren Ästhetiken Hegels und Schellings das Schöne vom Standort des Betrachters, des Rezipi‐ enten darstellt. Diese Auffassung wird von Jauß selbst in seinen neueren Publikationen bestätigt, wenn er Aristotelesʼ und Kants Interesse für den Betrachter als Ausnahmen in der Geschichte der Ästhetik herausstellt: „Die große Ausnahme in der philosophischen Tradition bildet in der Antike die aristotelische Poetik, in der Neuzeit Kants Kritik der Urteilskraft.“ 45 Weder die eine noch die andere habe sich in den letzten Jahrhunderten durchgesetzt, weil die Frage nach der ästhetischen Wirkung (u. a. von Goethe, neuerdings auch von Adorno) als kunstfremd abgewiesen wurde. VI. Die Rezeptionsästhetik zwischen Hermeneutik und Phänomenologie 248 46 H. R. Jauß, „Der Leser als Instanz einer neuen Geschichte der Literatur“, in: Poetica, Heft 3/ 4, 1975, S. 334. 47 H. R. Jauß, Literaturgeschichte als Provokation, op. cit., S. 161. Vollends sei sie in der „wirkungsmächtigeren Ästhetik Hegels“ (Jauß) unter‐ gegangen, die nicht nach dem Wirkungspotential vieldeutiger Kunstwerke fragt, sondern diese auf eindeutig bestimmbare Ideen festlegt. Im Gegensatz zur Produktionsästhetik Hegelscher Provenienz geht der frühe Jauß von dem Gedanken aus, daß Literatur die Wirklichkeit nicht mimetisch darstellt (auch nicht als Idee oder Weltanschauung), sondern aufgrund ihrer Vieldeutigkeit immer neue Fragen an den Leser richtet, die dessen Erwartungshorizont (im Sinne von Gadamer) verändern können. Wie vor ihm Gadamer hebt Jauß die Interpretierbarkeit literarischer Texte hervor und die Unmöglichkeit, sie auf begriffliche Aussagen zu reduzieren. Im Zusammenhang mit einem Text von Bertolt Brecht bemerkt er zu diesem Problem: „Gerade diese Pluralität möglicher Deutungen macht den ästhetischen Charakter des Textes aus und gibt einer Rezeptionsanalyse be‐ sondere Chancen, die das lebensweltliche Vorverständnis (für Materialisten: die Ideologie) von verschiedenen Leserschichten erfassen oder verändern will.“ 46 Diese Passage zeigt, wie in Jaußʼ Ansatz zwei kantianische Theoreme einander ergänzen: Die Vieldeutigkeit des Textes („ohne Begriff “) garantiert dessen historischen Bedeutungswandel, d. h. die Unabgeschlossenheit, Plu‐ ralität und Fruchtbarkeit der Rezeption („Betrachterperspektive“). Anders gesagt: Die Rezeptionsanalyse erscheint deshalb sinnvoll und interessant, weil der vieldeutige Text verschiedene Rezeptionsmodi verlangt; weil er nicht als „sinnliches Scheinen der Idee“ im Sinne von Hegel auf Eindeutigkeit festlegbar ist. In diesem kantianischen und antihegelianischen Zusammenhang ist Jaußʼ Kritk an Lukács und Goldmann in Literaturgeschichte als Provokation zu le‐ sen. Beiden wirft Jauß vor, daß sie Literatur auf deren mimetisch-begriffliche Funktion reduzieren: „So bleibt auch hier die literarische Produktion wie schon bei Lukács auf eine sekundäre, den ökonomischen Prozeß in harmo‐ nischer Parallelität immer nur reproduzierende Funktion beschränkt.“ 47 Die Frage, ob diese Kritik ins Schwarze trifft oder danebengeht, ist hier weniger wichtig als die komplementäre Frage, wie Jauß mit den Problemen der Textbedeutung und der Textfunktion fertig wird. Auf diese beiden Probleme möchte ich jetzt der Reihe nach eingehen. 2. Jaußʼ Rezeptionsästhetik als literarische Hermeneutik 249 48 H. R. Jauß, „Zur Abgrenzung und Bestimmung einer literarischen Hermeneutik“, in: Text und Applikation. Theologie, Jurisprudenz und Literaturwissenschaft im hermeneutischen Gespräch (Hrsg. M. Fuhrmann, H. R. Jauß, W. Pannenberg), München, Fink, 1981, S. 475. 49 Ibid., S. 474. 50 Ibid., S. 473. 51 H. R. Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, op. cit., S. 823. Im Anschluß an Gadamer unterscheidet er in seinem wichtigen Aufsatz „Zur Abgrenzung und Bestimmung einer literarischen Hermeneutik“ (1981) das spontane Verstehen vom reflektierenden Auslegen und von der Applika‐ tion, der Anwendung auf den eigenen Kontext. Er spricht von der „Abhebung des reflektierenden Auslegens vom wahrnehmenden Verstehen eines poe‐ tischen Textes“ 48 und erklärt: „Ich versuche hingegen, diese Tätigkeit in die beiden hermeneutischen Akte des Verstehens und des Auslegens zu zerlegen, indem ich das reflektierende Auslegen als Phase einer zweiten Lektüre vom unmittelbaren Verstehen in der ästhetischen Wahrnehmung als Phase der ersten Lektüre abhebe.“ 49 Was aber wird verstanden, und wie sieht der Gegenstand der reflektierenden Auslegung genau aus? Diese Frage kann Jauß nicht beantworten, solange er das Pferd am Schwanz aufzäumt und die strukturale Textanalyse vom Rezeptionsprozeß abhängig macht: „Strukturale Textbeschreibung sollte und kann heute (…) hermeneutisch in einer Analyse des Rezeptionsprozesses fundiert werden.“ 50 Jauß selbst nimmt seiner Forderung die Substanz, wenn er in einem Kommentar zu Baudelaires Spleen II Barthesʼ grenzenlosen Pluralismus kritisiert und bemerkt, „daß die historisch fortschreitende Konkretisation des Sinns literarischer Werke einer gewissen ‚Logik‘ folgt (…) und daß sich im Horizontwandel der Interpretationen durchaus zwischen arbiträren und konsensfähigen, zwischen nur originellen und normbildenden Auslegungen unterscheiden läßt“. 51 Wie aber soll man zwischen „arbiträren und konsensfähigen“ Interpre‐ tationen unterscheiden, wenn die Textbedeutung nicht auf phonetischer, semantischer und syntaktischer Ebene fixierbar und bestenfalls im Rezeptionsprozeß zu verankern ist? Worauf bezieht sich der Konsens, wenn nicht auf objektimmanente Strukturen, die diesen Konsens überhaupt ermögli‐ chen? Jauß scheint alles hermeneutisch relativieren zu wollen, wenn er in seiner Studie über „Goethes und Valérys Faust“ behauptet: „Denn die logische Kombinatorik der strukturalen Anthropologie wie auch die binären Zei‐ VI. Die Rezeptionsästhetik zwischen Hermeneutik und Phänomenologie 250 52 H. R. Jauß, „Goethes und Valérys Faust. Versuch, ein komparatistisches Problem mit der Hermeneutik von Frage und Antwort zu lösen“, in: Umjetnost Riječi (Sonderheft „Rezeptionsästhetik und Literaturgeschichte“), 1977, S. 56. 53 Siehe: R. Jakobson, Cl. Lévi-Strauss, „Les Chats de Charles Baudelaire“, in: LʼHomme Nr. 2, 1962. chensysteme der Semiotik sind von Relevanzen abhängig (…).“ 52 Mit anderen Worten: Die Relevanzkriterien, von denen die semiotische Analyse ausgeht, sind selbst als Antworten auf zeitbedingte Fragen historisch determiniert. Nun haben Vertreter einer soziologisch ausgerichteten Semiotik wie U. Eco und L. J. Prieto den kulturellen, ideologischen und historischen Charak‐ ter wissenschaftlicher Relevanzkriterien nie bestritten. Diese Erkenntnis hat Semiotiker jedoch nicht daran gehindert, in Texten phonetische, semanti‐ sche, syntaktische und narrative Strukturen zu erkennen, deren Existenz in keiner Rezeptionssituation geleugnet werden kann: So weisen beispiels‐ weise Lévi-Strauss und Roman Jakobson in ihrer bekannten Analyse von Baudelaires Gedicht Les Chats, die auch Jauß in diesem Kontext erwähnt, auf die scheinbar banale Tatsache hin, daß sich dieses Sonett aus drei Sätzen (Syntagmen) zusammensetzt. 53 Es würde mich sehr wundern, wenn diese Tatsache, die sich auch auf die Semantik (die Bedeutung) des Textes auswirkt, in einigen Jahrhunderten nicht mehr wahrnehmbar wäre. Es kann auch nicht behauptet werden, daß sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht wahrgenommen wurde. Die im vorigen Kapitel kommentierte Rekurrenz des Vokals [á] in Máchas Gedicht Máj ist ein phonetisches Faktum, das auf semantischer Ebene wirkt und zur Kenntnis genommen werden muß. Es drängt sich daher die Frage auf, ob es nicht sinnvoller wäre, umgekehrt vorzugehen und die Rezeption aus der Textstruktur und deren gesellschaftli‐ cher Produktion zu erklären. Auf diese Frage komme ich im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen zwischen Konstanzer Rezeptionsästhetikern und Marxisten noch zu sprechen. (Siehe auch Kap. IX, Abschn. 1.) Im Bereich der Textbedeutung widerspricht sich Jauß nicht nur in einzel‐ nen Sätzen, sondern auch - und vielleicht vor allem - in seinen Versuchen, den Erwartungshorizont bestimmter literarischer Werke zu rekonstruieren. Wie Gadamer geht er von dem Gedanken aus, daß in einer produktiven Rezeption der Erwartungshorizont des Rezipienten mit dem des (fremden) Werks konfrontiert und durch die Fremderfahrung verändert wird. Mit Recht betrachtet er vor allem die mittelalterliche Literatur als eine Heraus‐ forderung an die Erwartungen des modernen Lesers: „Im Durchgang durch 2. Jaußʼ Rezeptionsästhetik als literarische Hermeneutik 251 54 H. R. Jauß, Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur, München, Fink, 1977, S. 10. 55 H. R. Jauß, „Racines und Goethes Iphigenie“, in: R. Warning (Hrsg.), Rezeptionsästhetik, München, Fink, 1975, S. 360. die Befremdung der Andersheit muß ihr möglicher Sinn für uns gesucht, die Frage nach der historisch weiterreichenden, die ursprüngliche kommunika‐ tive Situation übersteigenden Bedeutung gestellt werden. Oder in Gadamers Terminologie formuliert: die Horizontabhebung muß im Prozeß aktiven Verstehens zur Verschmelzung des vergangen mit dem gegenwärtigen Horizont ästhetischer Erfahrung weitergeführt werden.“ 54 Unbeantwortet bleibt jedoch die Frage, wie der „vergangene Erwartungs‐ horizont“, der Horizont der „ersten“ Rezipienten, rekonstruiert werden soll, solange die Mechanismen des hermeneutischen Zirkels nicht außer Kraft gesetzt werden. Sind die Erwartungen der ersten Leser anhand von Dokumenten so zu rekonstruieren, daß sie nicht von den zeitgenössischen Erwartungen kontaminiert werden? Jede Hermeneutik, die von Gadamers historischem Verstehen ausgeht, muß diese Frage verneinen. In diesem Fall ist aber eine Rekonstruktion des „ursprünglichen“ Erwartungshorizonts auf Illusionen gebaut. Nun geht Jauß in seinen Rekonstruktionsversuchen noch einen Schritt weiter, da er ja nicht nur versucht, die Erwartungen der ursprünglichen Leserschaft nachzuvollziehen, sondern immer wieder der Frage nachgeht, wie sich diese Erwartungen im Text selbst niederschlagen. Dabei läßt er sich häufig von der Überlegung leiten, daß der Autor als Leser, als Rezipient in seinem Werk, in dem er auf vergangene Werke reagiert, bestimmte zeitgebundene Erwartungen und Normen artikuliert. Zu den besten Beispielen gehören wohl „Racines und Goethes Iphigenie“ (1973) und die bereits erwähnte Abhandlung über Baudelaires Spleen II: „Der poetische Text im Horizontwandel der Lektüre“ (1980). Im ersten der hier genannten Aufsätze geht Jauß zunächst der Frage nach, „ob in der bisherigen Geschichte der Rezeption Bedeutungsmöglichkeiten unausgeschöpft blie‐ ben oder unterdrückt wurden, die gleichfalls in Goethes Iphigenie angelegt waren“. 55 Diese Frage scheint mir im Kontext der Rezeptionsästhetik in jeder Hinsicht legitim zu sein, denn es geht um die Entfaltung des Bedeutungs‐ potentials eines vieldeutigen, stets von neuem interpretierbaren Textes. Weniger legitim scheint mir - im Rahmen dieser Theorie - Jaußʼ ideolo‐ giekritischer und von Adorno inspirierter Versuch zu sein, Goethes Iphigenie VI. Die Rezeptionsästhetik zwischen Hermeneutik und Phänomenologie 252 56 Ibid., S. 374. 57 Ibid. 58 H. R. Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, op. cit., S. 621. 59 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, Bd. 3, Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S. 222-237. 60 H. R. Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, op. cit., S. 858. vom „schönen Schein eines zeitlos wahren Klassizismus“ 56 zu befreien und den kritischen Gehalt des Dramas bloßzulegen, der in der ersten Rezeption noch aktuell war, bevor die Tragödie vom Bürgertum des 19. Jahrhunderts als „Klassiker“ ideologisch vereinnahmt wurde. Er spricht von „Goethes im Ansatz aufklärerisch-humanitäre(m) Drama“ 57 , ohne sich zu fragen, ob diese begriffliche Darstellung der ursprünglichen kritischen Bedeutung nicht einer Monosemierung des Textes gleichkommt, die er Adorno, dem Philosophen des Wahrheitsgehalts, und den hegelianischen Marxisten Lukács und Gold‐ mann als Mangel ankreidet. Wenn Goethes Iphigenie auf die Begrifflichkeit eines „aufklärerisch-humanitären Dramas“ festgelegt wird, dann ist nicht einzusehen, weshalb Goldmanns Versuch, Goethes Faust als Drama des dialektischen Bewußtseins zu lesen, illegitim sein sollte… Goldmanns Faust-Interpretationen werden von Jauß in „Goethes und Valérys Faust“ zwar abgelehnt, aber sein eigener Kommentar zu Rousse‐ aus Nouvelle Héloïse und Goethes Werther zeigt, daß er selbst gar nicht abgeneigt ist, vieldeutige literarische Texte auf hegelianische Art mit de‐ ren Inhaltsebene zu identifizieren. Vergessen sind die formalistischen und strukturalistischen Fragen nach dem „Wie“ des Briefromans, wenn Jauß im Zusammenhang mit dem Werther erklärt: „Denn er leitet - auf den Erwartungshorizont von 1774 bezogen - einen Horizontwandel ein, der dem gesellschaftskritischen Rousseauismus des Sturm und Drang den Weg des Rückzugs in die Innerlichkeit des Selbstgefühls wies (…).“ 58 Diesen „Rückzug in die Innerlichkeit des Selbstgefühls“ als historischen Bewußtseinswandel beschreibt auf ähnliche Art Hegel in seinen Vorlesungen.  59 In seiner Baudelaire-Studie läßt Jauß erkennen, daß es ihm in seinen Darstellungen des „Horizontwandels“ nicht so sehr um die historischen Erwartungen der Leserschaft oder bestimmter Lesergruppen geht, sondern - wie schon in den Kommentaren zu Goethes Iphigenie und zum Werther - um die Beschreibung von Weltanschauungen: „Die ästhetische Umwertung der Natur, mit der Baudelaire den Bruch mit dem idealistischen Weltbild der Romantik besiegelt, macht auch vor dem Anorganischen nicht Halt (…).“ 60 An anderer Stelle heißt es ergänzend: „Die historische Interpretation 2. Jaußʼ Rezeptionsästhetik als literarische Hermeneutik 253 61 Ibid., S. 853. 62 Siehe: H. R. Jauß, „La Douceur du foyer. Lyrik des Jahres 1857 als Muster der Vermittlung sozialer Normen“, in: R. Warning (Hrsg.), Rezeptionsästhetik, op. cit., S. 406: „Die Wissenssoziologie, deren begriffliches Instrumentarium ich im vorstehenden benutzte (…).“ 63 K. Mannheim, Strukturen des Denkens, Frankfurt, Suhrkamp, 1980, S. 230. 64 Ibid., S. 237. unseres Textes hat damit zu einer Rekonstruktion seiner Gegenposition zum Erwartungshorizont der romantischen Poesie geführt (…).“ 61 Spätestens hier wird deutlich, daß Jauß „Erwartungshorizont“ und „Weltbild“ bisweilen als Synonyme oder Fast-Synonyme verwendet und dazu neigt, vieldeutige literarische Texte eindeutig auf „Erwartungshorizonte“ (also begriffliche Strukturen) festzulegen. Komplementär dazu verhält sich seine - von Stück‐ rath bemängelte - Identifikation des Lesers mit dem Autor als Leser: Dieser bricht mit Weltbildern, drückt neue Weltbilder aus etc. Diese „Rückverwandlung“ des rezeptionsästhetischen Begriffs des Erwar‐ tungshorizonts (des Rezipienten, des Lesers) in den produktionsästhetischen Begriff des Weltbildes (des Autors) ist gar nicht so verwunderlich, wenn man bedenkt, daß bei Gadamer dieser Begriff eng mit dem des Wahrheitsgehalts zusammenhängt und daß er in Karl Mannheims Wissenssoziologie, auf die sich Jauß des Öfteren beruft 62 , aus dem Begriff der Weltanschauung hervorging. Der frühe Mannheim spricht z. B. davon, daß „magische Vorstellungen unseren Erwartungshorizont regeln“ 63 und daß der naive Einzelne nicht merkt, „daß er die Dinge seines Erlebnishorizontes nur soweit erfaßt, als sie in die Kollektivbedeutsamkeiten eingehen“. 64 Er verwendet Bezeichnungen wie „Erwartungs-“ oder „Erlebnishorizont“ stellenweise als Synonyme für „Weltanschauung“ oder „Aspektstruktur“ und verknüpft sie wie Goldmann mit dem Begriff des „Kollektivbewußtseins“. Das tut Jauß zwar nicht, aber sein Begriff des Erwartungshorizonts, den er von Mannheim und Gadamer übernimmt, kommt dem der Weltanschauung (Mannheim, Goldmann) recht nahe: vor allem dann, wenn er auf Autoren und ihre Texte bezogen wird und dazu dient, letztere begrifflich zu definie‐ ren. Hier zeigt sich, wie Jaußʼ kantianische Kritik am „Strukturalismus“ sowie am hegelianischen Logozentrismus und Mimetismus (Abbildfunktion der Literatur) durch seine eigene Praxis zumindest teilweise zurückgenommen oder neutralisiert wird. Denn die von Jauß kommentierten literarischen VI. Die Rezeptionsästhetik zwischen Hermeneutik und Phänomenologie 254 65 H. R. Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, op. cit., S. 246. 66 Ibid., S. 265. 67 Siehe: H. R. Jauß, „Kleine Apologie der ästhetischen Erfahrung“, Konstanz, Universi‐ tätsverlag 1972, S. 14-15. Werke sind keineswegs „ohne Begriff “, sondern drücken recht eindeutig „Ideen“ aus: „aufgeklärten Humanismus“, „Innerlichkeit des Selbstgefühls“ oder ein „antiromantisches Weltbild“. Zum Abschluß möchte ich zeigen, daß diese latente Aufwertung der Inhaltsebene, die in diesem Ausmaß weder im Prager Strukturalismus noch im Formalismus anzutreffen ist, im Bedeutungsbereich Jaußʼ Auffassung von der normbildenden und normvermittelnden Funktion der Literatur ergänzt. Sie hebt er bereits in Literaturgeschichte als Provokation hervor, wo er ausgerechnet Lucien Goldmann, der wie Jauß zu zeigen versuchte, wie Literatur Weltanschauungen (Aspektstrukturen, Erwartungshorizonte) bildet, vorwirft, er vernachlässige die aktive, produktive Rolle der Kunst. In Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik verwirklicht er sein Programm, indem er verschiedene (assoziative, admirative, sympathetische, kathartische und ironische) Identifikationsmöglichkeiten mit dem Helden in narrativen Texten untersucht. Zugleich nimmt er sich vor, „zwischen den Extremen der normbrechenden und der normerfüllenden Funktion“ zu vermitteln und die Wirkung der Kunst in den Mittelpunkt einer Betrach‐ tung zu rücken, „die man im sozialen Sinn als kommunikativ, nämlich als normbildend bezeichnen kann“. 65 Dabei greift er in seiner Beschreibung der „admirativen Identifikation“ auf „die bekannte Theorie der Vorbilder und Führer von Max Scheler“ 66 zurück. Nicht nur diese Theorie ist konservativ, affirmativ, sondern tendenziell auch die von Jauß: erstens, weil sie in einer gesellschaftlichen und sprach‐ lichen Situation, in der Individuen von Ideologien und mediengesteuerten Stereotypen zu Subjekten gemacht werden, eine Apologie der Katharsis und der „admirativen Identifikation“ entwirft (weshalb eine solche Identifikation gegenwärtig gefährlich ist, versuchte ich im vierten Kapitel zu erklären); zweitens, weil sie trotz ihrer Betonung der aisthesis als Verfremdung und Normverletzung 67 die kommunikative, integrative und letztlich affirmative Funktion der Literatur als katharsis privilegiert und ihre mögliche Negati‐ vität als sekundär erscheinen läßt. Der Verlust der kritischen und negativen Dimension macht sich am stärksten in Jaußʼ Aufsatz „La Douceur du foyer“ bemerkbar, in dem die 2. Jaußʼ Rezeptionsästhetik als literarische Hermeneutik 255 68 H. R. Jauß, „La Douceur du foyer“, op. cit., S. 412. 69 Ibid., S. 413. 70 Ibid., S. 427. französische Lyrik des Jahres 1857 interpretiert wird. Dort ist von der Funk‐ tion der Lyrik, „soziale Normen kommunizierbar zu machen“ 68 , die Rede und von der „Lyrik als Muster kommunikativer Interaktion“. 69 Dabei tritt der negative, unversöhnte Charakter von Hugos oder Baudelaires Text in den Hintergrund. Das lyrische Textkorpus (Lyrik des Jahres 1857) wird zwar aus ideologiekritischer Sicht beleuchtet - u. a. als Apologie eines neuen Patriar‐ chats im Rahmen der bürgerlichen Kleinfamilie -‚ aber seine Vieldeutigkeit und Interpretierbarkeit, die Jauß an anderen Stellen gegen Semiotiker und Marxisten verteidigt, wird zugunsten einer soziologischen Sinnzurechnung übergangen: „Das Interaktionsmuster La douceur du foyer idealisiert mit der evozierten Subsinnwelt Normen und Werte des bürgerlichen Lebenslaufes zu einer innerweltlichen Glücksvorstellung.“ 70 Käme ein Soziologe auf den Gedanken, so zu argumentieren, würden ihm Literaturwissenschaftler mit Sicherheit vorwerfen, er vernachlässige das Wesentliche: das mehrdeutige, unübersetzbare lyrische Wort - die Ausdrucksebene. Es fragt sich nun, weshalb gerade Jauß, der als „Kantianer“ in seinen theoretischen Arbeiten Mukařovský folgt und den deutbaren, interpretier‐ baren Text von dessen Konkretisationen (vom „ästhetischen Objekt“) unter‐ scheidet, Goethes Werther sowie Hugos und Baudelaires Lyrik auf deren denotative, sozio-historische Funktion einengt. Ich meine, daß dieser Wi‐ derspruch aus dem Gegensatz zwischen Kantianismus und Hegelianismus (Wissenssoziologie) in Jaußʼ Ansatz hervorgeht: Während die kantianische Tendenz zu einer recht einseitigen Aufwertung der Ausdrucksebene drängt (Vieldeutigkeit, historische Aktualisierbarkeit), setzt sich die hegelianische Tendenz in der Rekonstruktion der „Erwartungshorizonte“ („Weltanschau‐ ungen“) literarischer Texte durch. Diese Tendenz wird durch die Aufnahme von Mannheims Wissensso‐ ziologie noch verstärkt, da in dieser „Erwartungshorizont“, „Aspektstruk‐ tur“ und „Weltanschauung“ begriffliche Systeme gesellschaftlicher Gruppen (Konservatismus, Romantik) bezeichnen. Der „Erwartungshorizont“ als eine dem literarischen Text zugrundeliegende Bewußtseinsform (s. o.) ist ein neohegelianischer Begriff. (Es ist wohl kein Zufall, daß Graziella Pagliano-Ungari parallel zu Jaußʼ Anwendung des „Erwartungshorizontes“ auf literarische Texte für eine Anwendung von Goldmanns Begriff der VI. Die Rezeptionsästhetik zwischen Hermeneutik und Phänomenologie 256 71 Siehe: G. Pagliano-Ungari, „Le Dialogue œuvre-lecteur“, in: Le Structuralisme génétique, Paris, Denoël-Gonthier, 1977, S. 139-140. G. Pagliano-Ungari versucht, von R. Escarpits empirischen Leseruntersuchungen zu Goldmanns Analysen von Weltanschauungen eine Brücke zu schlagen. 72 H. R. Jauß, Studien zum Epochenwandel der ästhetischen Moderne, Frankfurt, Suhrkamp, 1989, S. 289-290. „Weltanschauung“ auf Lesergruppen plädiert. 71 Hier überschneiden sich die beiden scheinbar so heterogenen Ansätze auf wissenssoziologischer Ebene.) Dem Widerspruch zwischen Kantianismus und Hegelianismus, zwischen einer Ausrichtung auf die Ausdrucksebene und einer Ausrichtung auf die Inhaltsebene entspricht der bereits kommentierte Gegensatz zwischen Jaußʼ erster und zweiter Entwicklungsphase: Während in der ersten Phase der späten 60er Jahre der Kantianismus durch die Betonung der Ausdrucks‐ ebene, der „ästhetischen Distanz“ und der Negativität der Kunst in den Vordergrund tritt, kommt in der zweiten Phase, in der Jauß öfter die kommunikative und „normbildende“ Funktion der Literatur hervorhebt, ein wissenssoziologisch vermittelter Hegelianismus stärker zur Geltung, der die Inhaltsebene aufwertet. Der Übergang von der ersten zur zweiten Phase fällt mit dem Scheitern der marxistisch und avantgardistisch inspirierten Intellektuellenrevolte - etwa der Tel-Quel-Gruppe - zusammen, mit Jaußʼ Kritik an Adornos negativem Kunstbegriff und seinem Plädoyer für eine „postmoderne“ oder „postmo‐ dernistische“ Ästhetik, die von manchen ihrer Vertreter als Apologie des zugleich lesbaren und kommerzialisierten Textes weiterentwickelt wird. Daß Jauß eine solche Apologie nicht fremd ist, zeigt sein Aufsatz über Italo Calvinos experimentellen Text Se una notte d’inverno un viaggiatore (1979), der als „Symbiose von Massen- und Hochkultur“ aufgefaßt wird: „Calvino hat hier (…) ein schon abgegriffenes Gattungsmuster auf das höchste Niveau ästhetischer Reflexion gebracht. Er hat damit die Symbiose von Massen- und Hochkultur verwirklicht, die auch andere Werke der Postmoderne kennzeichnet (…).“ 72 Hier wird klar, daß der Rezeptionsästhetiker nicht abgeneigt ist, vieldeutige Texte auf ideologische („postmoderne“) Bedeutungen festzulegen. Könnte man Calvinos Text nicht auch im Sinne der „Moderne“ als radikale Kritik an kommerzialisierten Erzählformen - etwa im Sinne von Robbe-Grillets Les Gommes (1953) - lesen? Könnte dieses Textexperiment, das aus lauter Romananfängen besteht, nicht auch den parodistischen Anfängen von Musils Der Mann ohne Eigenschaften angenähert werden? Im achten Kapitel komme 2. Jaußʼ Rezeptionsästhetik als literarische Hermeneutik 257 73 R. Ingarden, Gegenstand und Aufgaben der Literaturwissenschaft. Aufsätze und Diskus‐ sionsbeiträge (1937-1964), Tübingen, Niemeyer, 1976, S. 7. 74 R. Ingarden, Das literarische Kunstwerk, Tübingen, Niemeyer (4. Aufl.), 1972, S. 353. 75 Ibid., S. 282. ich im Zusammenhang mit Ecos Semiotik auf dieses Problem zurück, um zu zeigen, daß auch Eco eine Entwicklung durchmacht, an deren Ende ein „postmoderner“ Kompromiß mit der Kulturindustrie steht. 3. Von Husserl zu Ingarden: Phänomenologie und Wirkungsästhetik Im Gegensatz zu Jauß, der das Zusammenwirken von Vieldeutigkeit und Begrifflichkeit im literarischen Text nicht in den Griff bekommt, weil er einerseits von der Interpretierbarkeit der Werke ausgeht, sie anderer‐ seits aber mit bestimmten Erwartungshorizonten und sozialen „Inhalten“ (Normen) identifiziert, unterscheidet Ingarden (1893-1970) klar zwischen Werkstruktur und Leser- oder Betrachterreaktionen. Er geht von dem Grundgedanken aus, daß ein literarisches Werk zwar begrifflich definierbare und beschreibbare sprachliche Konstanten aufweist, daß es aber zugleich vieldeutig und interpretierbar oder, wie er sagt, konkretisierbar ist. Das literarische Werk erscheint ihm als organische „Ganzheit“ 73 und „schematisches Gebilde“ 74 , dessen rein „schematische Natur“ 75 objektiv rekonstruierbar ist. Zugleich stellt er es aber als ein lückenhaftes und vieldeutiges Konstrukt dar, dessen Unbestimmtheitsstellen im ästhetischen Erlebnis des Lesers mit Bedeutungen ausgefüllt oder konkretisiert werden. Dadurch wird die Wechselbeziehung zwischen Bestimmtheit (Schema) und Unbestimmtheit (Möglichkeiten, das Schema auszufüllen), Begrifflichkeit und Begriffslosigkeit beschreibbar, und sowohl die Gefahr der Beliebigkeit radikaler Polysemie (extremer Kantianismus) als auch die Gefahr begriffli‐ cher Monosemierung (Hegelianismus, Marxismus) wird gebannt. Im folgenden möchte ich, bevor ich auf das Verhältnis zwischen Ingardens und Isers Ansatz eingehe, in einem ersten Schritt die Beziehung zwischen Ingardens Ontologie des Werkes und seiner Phänomenologie des ästhetischen Erlebnisses (der Lektüre) kommentieren. In einem zweiten Schritt will ich in aller Knappheit seine Position zwischen Kant und Hegel rekonstruieren, um anschließend in einem dritten Schritt seine Theorie des künstlerischen und VI. Die Rezeptionsästhetik zwischen Hermeneutik und Phänomenologie 258 76 Siehe: R. Ingarden, „Le Problème de la constitution et le sens de la réflexion constitutive chez Edmond Husserl“, in: Husserl. Cahiers de Royaumont Nr. 3, Paris, Vrin, 1959, S. 259. 77 E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Drittes Buch: Die Phänomenologie und die Fundamente der Wissenschaften, in: ders., Husserliana. Gesammelte Werke, Bd. 5, Den Haag, Nijhoff, 1952, S. 80. 78 Siehe Adornos Kritik an Husserl, in: Th. W. Adorno, Zur Metakritik der Erkenntnistheo‐ rie, Frankfurt, Suhrkamp, 1972, S. 30-35. 79 R. Ingarden, Das literarische Kunstwerk, op. cit., S. 287. 80 R. Ingarden, Gegenstand und Aufgaben der Literaturwissenschaft, op. cit., S. 26. des ästhetischen Wertes zu streifen. Zum Abschluß werde ich im Vorgriff auf den vierten Abschnitt auf Affinitäten zwischen Ingardens und Isers phänomenologischer Betrachtungsweise und auf einige Ungereimtheiten in Ingardens Ansatz hinweisen, die aus der Vernachlässigung der Sozialwis‐ senschaften (Soziologie, Semiotik) hervorgehen. Im Zusammenhang mit den beiden Schlüsselbegriffen Ontologie und Phänomenologie ist es zunächst notwendig, etwas weiter auszuholen und kurz auf Edmund Husserls (1859-1938) Darstellung der Beziehung zwischen diesen beiden Disziplinen einzugehen. Obwohl Ingarden in einigen Fällen, die hier nicht berücksichtigt werden können, von Husserl abweicht 76 , sind seine zwei wichtigsten literaturwissenschaftlichen Arbeiten Das literarische Kunstwerk (1931) und Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks (1936) im Rahmen des Gegensatzes Ontologie/ Phänomenologie zu lesen. Husserl definiert die Ontologie als „Eidetik“ (griech. eidos: Bild, Urbild) oder als Wissenschaft vom Wesen der Dinge (im Gegensatz zur Tatsachen‐ wissenschaft): „In der Eidetik des Raumes, der materiellen Natur, des Geistes usw. treiben wir unter dem Titel ‚Ontologie‘ dogmatische Wissenschaft. Wir urteilen über Raumgebilde als solche, Seelen und seelische Eigenschaften als solche, über Menschen als solche. - Wir urteilen darüber, was dergleichen Gegenständlichkeiten ‚als solchen‘ in Wahrheit, und das besagt hier, in unbedingter Notwendigkeit und Allgemeinheit zukommt.“ 77 Hier ist nicht so sehr die Frage wichtig, ob Gegenstände „als solche“, bar aller psychischen und sozialen Determinanten, erfaßt werden können 78 , sondern die Tatsache, daß Ingardens erstes Werk von Husserls Prämissen ausgeht und eine Ontologie des literarischen Werkes als Lehre von dessen „wesensmäßigem Aufbau“ 79 entwirft. Laut Ingarden fällt dieser Lehre die Aufgabe zu, „in jeder Abteilung ihrer Problemstellungen möglichst allge‐ meine und intersubjektiv gültige Behauptungen zu gewinnen“. 80 3. Von Husserl zu Ingarden: Phänomenologie und Wirkungsästhetik 259 81 E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, op. cit., S. 84. 82 E. Husserl, Philosophie als strenge Wissenschaft, Frankfurt, Klostermann, 1965, S. 45. Im Gegensatz zur ontologischen kann sowohl bei Husserl als auch bei Ingarden die phänomenologische Perspektive als die des Betrachters oder Lesers definiert werden. Die Phänomenologie befaßt sich nicht mit dem Wesen des Gegenstandes, sondern mit dessen Aufnahme oder Perzeption: „In der Phä‐ nomenologie des Dingbewußtseins ist die Frage nicht, wie Dinge überhaupt sind, was ihnen als solchen in Wahrheit zukommt; sondern wie beschaffen das Bewußtsein von Dingen ist, welche Arten von Dingbewußtsein zu unterscheiden sind, in welcher Art und mit welchen Korrelaten sich ein Ding als solches bewußtseinsmäßig darstellt und bekundet.“ 81 Ausgehend von dieser Unterscheidung zwischen Ontologie und Phäno‐ menologie hat Roman Ingarden seine beiden Werke Das literarische Kunst‐ werk und Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks verfaßt: Während im ersteren der „wesensmäßige Aufbau“ des literarischen Werkes im Mittelpunkt steht, hat letzteres die Wahrnehmung potentieller Leser zum Gegenstand. Gemeinsam ist beiden Werken, daß in ihnen nicht primär von real existieren‐ den literarischen Texten oder von wirklichen (z. B. historischen) Lesern die Rede ist, sondern vom Wesen des Kunstgegenstandes und von potentiellen, nur möglichen Lesern. Darin unterscheidet sich Ingardens ontologisch und phänomenologisch fundierte Wirkungsästhetik (ähnlich wie die spätere Wirkungsästhetik Isers) von der historischen Rezeptionsästhetik eines Jauß, die - zumindest im Prinzip - den historischen Leser oder Leser-Autor anvisiert. Beide Werke gründen auf Husserls These, daß die ontologische und phänomenologische Wesensschau das Fundament der empirischen Wissen‐ schaften bilden sollte: „daß alle im gewöhnlichen Sinne psychologische Erkenntnis Wesenserkenntnis des Psychischen voraussetzt, und daß die Hoff‐ nung, durch psychophysische Experimente und durch jene unabsichtlichen inneren Wahrnehmungen, bzw. Erfahrungen das Wesen der Erinnerung, des Urteils, des Willens und dgl. erforschen zu wollen, um dadurch die strengen Begriffe zu gewinnen, die der Bezeichnung des Psychischen in den psychophysischen Aussagen, und ihnen selbst, allein wissenschaftlichen Wert geben können - der Gipfel der Verkehrtheit wäre“. 82 Anders ausge‐ drückt: Die psychologische Terminologie ist nicht induktiv-experimentell, sondern durch Wesensschau, ontologisch-phänomenologisch zu erstellen. VI. Die Rezeptionsästhetik zwischen Hermeneutik und Phänomenologie 260 83 R. Ingarden, Gegenstand und Aufgaben der Literaturwissenschaft, op. cit., S. 43. 84 Ibid. 85 Ibid., S. 44. 86 E. Husserl, Logische Untersuchungen, Bd. 2, Teil 1: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, in: ders., Husserliana. Gesammelte Werke, Bd. 19/ 1, Den Haag, Nijhoff, 1984, S. 386. 87 R. Ingarden, Das literarische Kunstwerk, op. cit., S. 233. 88 Ibid., S. 127. 89 Siehe: J.-P. Sartre, LʼImagination, Paris, PUF, 1936, S. 157. In diesem Zusammenhang sind zwei wesentliche Aspekte des Ingarden‐ schen Werks zu betrachten: seine radikale Ablehnung des Psychologismus - d. h. der psychologisch-biographischen Erklärungen literarischer Texte - und sein Versuch, Poetik und Literaturwissenschaft als Erfahrungswissen‐ schaften in der literarischen Ontologie zu verankern. Während die Onto‐ logie es mit dem Wesen oder „der Idee des literarischen Kunstwerks im allgemeinen oder seiner möglichen Abwandlungen“ 83 zu tun hat, schreitet die Poetik „von den Möglichkeiten zu den Fakten“ 84 , beschränkt sich jedoch auf die wesentlichen Charakteristika eines Werkes, einer Gattung oder der Literatur allgemein. Dadurch unterscheidet sie sich von der empirisch-sta‐ tistischen Literaturwissenschaft, die im literarischen Bereich „lediglich die ‚durchschnittlich‘ bestehenden Regelmäßigkeiten erfassen kann“. 85 Hier zeigt sich, daß Ingarden wie Husserl vom Primat der Ontologie ausgeht und versucht, alle empirischen Komponenten der Literaturwissenschaft aus ihr abzuleiten. Als Alternative zu empirischen (psychologischen oder soziologischen) Er‐ klärungen des literarischen Werkes schlägt er in Anlehnung an Husserls Lo‐ gische Untersuchungen vor, das Werk als intentionalen oder seinsheteronomen Gegenstand aufzufassen und von realen oder seinsautonomen Gegenständen zu unterscheiden. Im Zusammenhang mit dem „intentionalen Erlebnis“ bemerkt Husserl: „Und natürlich kann solch ein Erlebnis im Bewußtsein vorhanden sein mit dieser seiner Intention, ohne daß der Gegenstand überhaupt existiert (…).“ 86 In der Literatur ist das der Fall; dort bringt das Bewußtsein nicht reale, sondern intentionale Gegenstände (Figuren, Handlungen, Ereignisse) hervor, die, wie Ingarden sagt, „das Reale nur vortäuschen“. 87 Der intentionale Gegen‐ stand ist seinsheteronom, weil er „auf das Sein und Sosein des zugehörigen Bewußtseinsaktes angewiesen ist“. 88 Als Beispiel führt er das Wort Zentaur an, das übrigens auch Jean Paul Sartre in einem vergleichbaren Kontext zitiert 89 , 3. Von Husserl zu Ingarden: Phänomenologie und Wirkungsästhetik 261 90 R. Ingarden, Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, Tübingen, Niemeyer, 1968, S. 28. 91 Siehe: J. Ziomek, „Die Frage der Quasi-Urteile und das fiktive Bezugsfeld“, in: P. V. Zima (Hrsg.), Semiotics and Dialectics. Ideology and the Text, Amsterdam, Benjamins, 1981, S. 284: „Roman Ingarden hat im Prinzip durch die Einführung der Konzeption der Quasi-Urteile in seine Theorie des literarischen Kunstwerks jegliche auf die Wirklichkeit bezogene Interpretation der Literatur hinfällig gemacht.“ 92 R. Ingarden, Das literarische Kunstwerk, op. cit., S. 233. 93 Siehe: E. Lobsien, Theorie literarischer Illusionsbildung, Stuttgart, Metzler, 1975, vor allem S. 19-22. 94 R. Ingarden, Das literarische Kunstwerk, op. cit., S. 261. 95 Ibid., S. 264. und bemerkt: „Da springt uns gerade die reine Intentionalität des Gegenstands klar ins Auge.“ 90 So ist es zu erklären, daß im literarischen Werk, in dem nur intentionale Gegenständlichkeiten vorkommen, auch die Behauptungen des Autors, Erzählers oder Protagonisten nicht wirkliche Urteile sind, sondern Quasi-Ur‐ teile, die nicht ein reales, sondern ein „fiktives Bezugsfeld“ haben, das u. a. Jerzy Ziomek in allen Einzelheiten untersucht hat. 91 Die Leser neigen allerdings dazu, „die quasi-urteilsmäßigen Sätze wie Urteile“ 92 zu lesen, und es kommt zu einer literarischen „Illusionsbildung“, deren verschiedene Aspekte Eckhard Lobsien dargestellt hat. 93 Ein weiterer, für diesen Zusammenhang besonders wichtiger Unterschied zwischen realen (seinsautonomen) und intentionalen (seinsheteronomen) Gegenständen ist in der Tatsache zu suchen, daß letztere als bloße Schemata nicht „vollständig“, nicht restlos ausgefüllt sind und daher Unbestimmtheits‐ stellen oder Leerstellen aufweisen. Ganz anders verhält es sich mit dem realen oder seinsautonomen Gegenstand: „Er weist in seinem Sosein keine Unbe‐ stimmtheitsstellen auf.“ 94 Dies, sagt, Ingarden, gehöre unabdingbar zu seinem Wesen. Er will damit natürlich nicht sagen, daß jeder reale Gegenstand restlos bekannt ist, sondern nur, daß er im Prinzip restlos erkennbar ist, da er keine Lücken aufweist. Im Gegensatz dazu ist das literarische Werk als intentionaler Gegenstand voller Leer- oder Unbestimmtheitsstellen, die nie völlig zu beseitigen sind, zumal sie „an Zahl unendlich viele“ 95 sind. Sie kommen auf allen vier Ebenen vor, die Ingarden im literarischen Werk als schematischem Gebilde unterscheidet: 1. in der „Schicht der Wortlaute und der auf ihnen aufbauenden Lautgebilde“; 2. in der „Schicht der Bedeutungseinheiten“; 3. in der „Schicht der mannigfaltigen schematisierten VI. Die Rezeptionsästhetik zwischen Hermeneutik und Phänomenologie 262 96 Ibid., S. 26. 97 Ibid., S. 297. 98 R. Ingarden, Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, op. cit., S. 57. 99 R. Ingarden, Das literarische Kunstwerk, op. cit., S. 380. Ansichten und Ansicht-Kontinuen“ und schließlich 4. in der „Schicht der dargestellten Gegenständlichkeiten und ihrer Schicksale“. 96 Vor allem in den letzten beiden Schichten, die größere Texteinheiten umfassen als die ersten beiden, kommen zahlreiche Unbestimmtheitsstellen vor, die der Leser auf verschiedene, dem intentionalen Gegenstand adäquate oder inadäquate Arten ausfüllen kann. Die „Ansichten“ sind als Erzähler‐ perspektiven zu umschreiben, in denen Protagonisten, Situationen oder Handlungen auf eine bestimmte Art und mit bestimmten Mitteln dargestellt werden: „So können bei der Darstellung ein und derselben gegenständlichen Situation zugleich z. B. visuelle, akustische und taktuelle Ansichten verwen‐ det werden. Ein psychischer Zustand eines ‚Helden‘ kann z. B. durch äußere Ansichten seiner leiblichen Verhaltungsweisen und durch innere Ansichten zur Erscheinung gebracht werden usw.“ 97 Während in Marcel Prousts Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit die „inneren Ansichten“ wesentlich sind, werden sie von Alain Robbe-Grillets „sachlicher“ Schreibweise fast ganz ausgeklammert: In La Jalousie oder Dans le Labyrinthe kommen fast ausschließlich äußere Ansichten vor. In beiden Fällen sind die Ansichten jedoch reine Schemata, die nicht eine Interpretation vorschreiben, sondern der Phantasie des Lesers einen sehr großen Spielraum lassen. Dieser ist nicht mit Willkür zu verwechseln, denn „die Funktion des Lesers besteht darin, sich den vom Werk ausgehenden Suggestionen und Direktiven zu fügen und keine ganz beliebigen, sondern die durch das Werk suggerierten Ansichten zu aktualisieren“. 98 Es geht hier also um ein Gleichgewicht zwischen klar (ontologisch) „rekonstruierbarer“ 99 Werkstruktur einerseits und aktualisierender Leserphantasie andererseits. Sooft der Leser sich über die schematische Werkstruktur hinwegsetzt, tut er dem Werk Gewalt an und zerstört dieses Gleichgewicht. Diese Überlegungen gelten auch für die Schicht der „dargestellten Ge‐ genständlichkeiten“, mit denen bei Ingarden die handelnden Instanzen, die Ortschaften, die Gegenstände der Handlungen etc. gemeint sind. Auch sie weisen zahlreiche Unbestimmtheitsstellen auf, die auf viele, z.T. wider‐ sprüchliche Arten ausgefüllt werden können. Sie sind jedoch nicht beliebig, sondern nur im Rahmen des Werkschemas mit Bedeutungen zu besetzen. 3. Von Husserl zu Ingarden: Phänomenologie und Wirkungsästhetik 263 100 R. Ingarden, Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, op. cit., S. 206. 101 Ibid., S. 304. 102 R. Ingarden, Das literarische Kunstwerk, op. cit., S. 309. So kann beispielsweise der Leser von Hermann Hesses Der Steppenwolf den Helden Harry Haller auf viele verschiedene Arten aktualisieren: nicht jedoch als „jungen Mann“ oder „linken Studenten“. Eine solche Aktualisierung wäre ein Verstoß gegen die im Roman dargestellten Gegenständlichkeiten und seine „schematisierten Ansichten“. Ähnlich wie Mukařovský geht also Ingarden vom Doppelcharakter des literarischen Werks aus: Dieses ist einerseits ein mehrdeutiges, konkreti‐ sierbares Schema, andererseits eine im ästhetischen Erlebnis des Lesers entstandene Konkretisation, ein ästhetisches Objekt. Diese Affinität zwischen den Auffassungen des Prager Strukturalismus und denen Ingardens erklärt, weshalb Vodička von Ingarden den Begriff der Konkretisation übernahm. (Siehe: Kap. V.) Durchaus im Sinne des Prager Zirkels heißt es bei Ingarden: „Wir ver‐ gessen, daß es einen Unterschied zwischen dem physischen Ding, dem Kunstwerk und dem ästhetischen Gegenstand gibt.“ 100 Wie im Prager Struk‐ turalismus gilt es also auch hier, sorgfältig zwischen dem mehrdeutigen Werk und dessen Konkretisationen zu unterscheiden. Dabei gelangt man zu der Einsicht, „daß ein bestimmtes Werk verschiedene ästhetisch wertvolle Konkretisationen zuläßt und manche von ihnen dem Leser suggeriert“. 101 An dieser Stelle wird klar, daß Ingarden weder Kantianer noch Hegeli‐ aner ist, sondern eine sehr originelle Stellung zwischen dem Kantschen („ohne Begriff “) und dem Hegelschen Pol („sinnliches Scheinen der Idee“) einnimmt. Als Phänomenologe und Husserl-Schüler glaubt er an die Mög‐ lichkeit einer ontologischen Wesensschau, d. h. an die Möglichkeit, das mehrdeutige Schema des literarischen Werkes begrifflich zu definieren oder zu „rekonstruieren“, wie er sagt. Nur aufgrund dieser begrifflichen Rekonstruktion ist es möglich, richtige von falschen, wertvolle von wertlosen Konkretisationen zu unterscheiden. Zugleich ist er jedoch weit davon entfernt, das literarische Werk auf begriffliche Monosemie festlegen zu wollen, und weist unmißverständlich die (hegelianisch-marxistische) Theorie zurück, „nach welcher die darge‐ stellten Gegenstände ein Mittel seien, eine ‚Idee‘ auszudrücken“. 102 Das Werk bleibt mehrdeutig, konkretisierbar und ist folglich nicht auf das „sinnliche Scheinen einer Idee“ zu reduzieren. VI. Die Rezeptionsästhetik zwischen Hermeneutik und Phänomenologie 264 103 Ibid., S. 325. 104 Ibid. 105 Ibid. 106 Ibid., S. 270. 107 R. Ingarden, Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, op. cit., S. 435. Die „‚Idee‘ des Werkes im Sinne eines wahren Satzes“  103 ist nicht zu haben. Dennoch ist die Frage nach der „Idee“ im Sinne des Wahrheitsgehalts (z. B. im Sinne Gadamers) nicht sinnlos, denn: „Die ‚Idee‘ des Werkes in diesem Sinne liegt in dem zur anschaulichen Selbstgegebenheit gebrachten Wesenszusammenhang (…).“ 104 Dieser Wesenszusammenhang ist jedoch nach Ingarden „rein begrifflich nicht zu bestimmen“. 105 Der kantianische Agnostizismus, der sich hier bemerkbar macht, ist in Wirklichkeit phänomenologischen Ursprungs: Das literarische Werk als inten‐ tionaler Gegenstand weist zahlreiche Unbestimmtheitsstellen auf, die nicht restlos eliminiert werden können. Der nicht eliminierbare Rest ist das nichtbe‐ griffliche, opake Residuum. Ingarden spricht in diesem Zusammenhang vom „Phänomen der Opalisierung“ 106 , also vom Schimmern wie ein Opal. Daß er trotz dieses ästhetischen Agnostizismus, der an Kant erinnert, nicht gesonnen ist, auf die Frage nach dem Wahrheitsgehalt zu verzichten, zeigt seine Unterscheidung zwischen künstlerischem und ästhetischem Wert. Sie entspricht strukturell der Unterscheidung zwischen dem Werk als Schema und seinen Konkretisationen. Die Bewertung eines Kunstwerks orientiert sich an der Rekonstruktion von dessen „Schema“, das bestimmte Konkretisationen ermöglicht: „Denn um dem betreffenden Kunstwerk einen bestimmten künstlerischen Wert zuschreiben zu können, muß man nicht nur die konstanten und aktuellen Momente des betreffenden Kunstwerks richtig erfassen (also eine getreue Rekonstruktion des Werkes durchführen), sondern sich auch in der Mannigfaltigkeit der typischen möglichen Konkre‐ tisationen des Werkes sowie in ihren möglichen verschiedenen ästhetischen Werten insoweit orientieren, daß man in diesem Licht die Kunstfertigkeit des betreffenden Werkes beurteilen könnte.“ 107 Der künstlerische Wert ist somit im Bedeutungspotential des Kunstwerks, seiner Schemata, seiner vier Schichten und der in ihnen gebotenen Mög‐ lichkeiten enthalten. Seine Bewertung hängt eng mit seiner Rekonstruier‐ barkeit zusammen, die ein begrifflicher, ein ontologischer Prozeß ist. Sie ist zugleich der Ausgangspunkt der ästhetischen Bewertung, die die möglichen Konkretisationen des Werkes (als ästhetische Erlebnisse) zum Gegenstand hat. Der ästhetische Wert einer Konkretisation hängt u. a. davon ab, ob 3. Von Husserl zu Ingarden: Phänomenologie und Wirkungsästhetik 265 108 Ibid., S. 307. 109 R. Ingarden, Gegenstand und Aufgaben der Literaturwissenschaft, op. cit., S. 72. sie das Bedeutungspotential der vier Werkschichten voll ausschöpft oder aber auf unzulässige Weise vereinfacht und verflacht. Somit ist auch der ästhetische Wert (der Konkretisation) letztlich im Werk selbst angelegt: „Dann ist dieser Wert, ungeachtet dessen, daß seine Aktualisierung von der Aktivität des Betrachters abhängt, im Kunstwerk fundiert und ist in diesem Sinn ‚objektiv‘.“ 108 Kurzum, es geht auch um die Frage nach dem „idealen“, dem vom Kunstwerk strukturell geforderten Leser. Und diese Frage, die von der ontologischen Rekonstruktion der Werkschemata ausgeht, steht auch im Mittelpunkt von Wolfgang Isers Untersuchungen, die allerdings Ingardens Forschung eine neue, eine historische Wende geben: Bei Iser geht es nicht nur um die Frage nach dem Bedeutungspotential des Textes und seiner Rekonstruierbarkeit sowie um die komplementäre Frage nach dem textadäquaten Leser, sondern auch um die historische Dimension der Unbestimmtheitsstellen und ihrer Zunahme. Zugleich versucht Iser, einige Defizite des phänomenologischen Ansatzes semiotisch auszugleichen. (Siehe: Abschn. 4.) In diesem Zusammenhang möchte ich diesen Abschnitt mit zwei kri‐ tischen Bemerkungen abschließen: Die erste betrifft das Verhältnis von Phänomenologie und Semiotik, die zweite die historisch-soziologische Pro‐ blematik bei Ingarden. An zahlreichen Stellen seines Werkes geht Ingarden von dem Gedanken aus, daß die größte linguistische Einheit des literarischen Werks der Satz (das Satzsyntagma) ist: „Im Grunde genommen ist der Satz die höchste Ganzheit, für die sich die Sprachwissenschaft, beispielsweise in der Syntaxforschung, interessiert. Das ist natürlich.“ 109 So natürlich ist das mittlerweile nicht mehr, denn seit Zelig Harrisʼ bekanntem Aufsatz über Diskursanalyse („Discourse Analysis“, 1952), seit A. J. Greimasʼ Sémantique structurale (1966) gehen sowohl Linguistik als auch Semiotik weit über den Satz hinaus. Dieser Tatsache kommt hier deshalb besondere Bedeutung zu, weil sie die Heterogenität (oder gar einen gewissen Eklektizismus) von Ingardens Werk erkennen läßt: Da Ingarden den Satz für die größte linguistisch beschreibbare Einheit hält und sich jenseits des Satzes nur „Satzzusammen‐ hänge“ vorstellen kann, muß er im Übergang vom 6. zum 7. Kapitel seines Buches Das literarische Kunstwerk, wo er über den Satz hinausgeht, auch über den Bereich der Sprachwissenschaft hinausgehen. Charakteristisch VI. Die Rezeptionsästhetik zwischen Hermeneutik und Phänomenologie 266 110 R. Ingarden, Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, op. cit., S. 332-337. für diesen Übergang ist der § 28 im sechsten Kapitel, der den Titel trägt: „Die Entwerfungsfunktion der Sätze, Sachverhalte und ihr Verhältnis zu den dargestellten Gegenständlichkeiten.“ Bezeichnungen wie „Sachverhalt“ und „dargestellte Gegenständlichkeit“ liegen außerhalb der linguistischen oder semiotischen Terminologie. Die Tatsache jedoch, daß der Begriff „dargestellte Gegenständlichkeit“ sich mit textlinguistischen oder semiotischen Begriffen wie Subjektaktant, Objektaktant oder Akteur (Greimas) überschneidet, läßt vermuten, daß der Bruch zwischen linguistischer und nichtlinguistischer (phänomenologi‐ scher) Terminologie, der Ingardens Werk kennzeichnet, im Rahmen einer modernen Textlinguistik oder Semiotik zu vermeiden wäre. Er ist jedoch nicht zu vermeiden, solange der Satz als größte linguistische Einheit gilt: solange der Diskurs als transphrastische, semantisch-narrative Struktur mit Aktantenmodell nicht in den Blick genommen wird. Mir geht es nicht darum, einem Autor, der seine beiden Hauptwerke in der Zwischenkriegszeit veröffentlicht hat, seine „Unkenntnis der Semiotik“ anzukreiden. Viel wichtiger als solche etwas kleinliche Kritik scheint mir die Überlegung zu sein, daß Ingardens heterogene linguistisch-phänome‐ nologische Terminologie u. U. die Verlegenheitslösung einer Zeit war, die Textlinguistik und Diskurssemiotik noch nicht kannte. Wäre es heute nicht möglich, die Schichten der Bedeutungseinheiten, der dargestellten Gegenständlichkeiten und der schematisierten Ansichten mit Hilfe von Begriffen wie Isotopie, Aktant und Aussagesubjekt genauer zu beschreiben? (Siehe: Kap. VII.) Jedenfalls zeigt Isers Der Akt des Lesens, ein Buch, in dem semiotische und semantische Begriffe eingeführt werden, daß es die literarische Phänomenologie zur Semiotik drängt, zu einer Wis‐ senschaft, die in Europa aus der Sprachwissenschaft Saussures hervorging. Heterogen ist Ingardens Theorie noch aus einem anderen Grund: Wäh‐ rend seine Phänomenologie zahlreiche Hinweise auf den historischen und kulturbedingten Wandel der Konkretisationen enthält 110 , bleibt seine Onto‐ logie statisch und scheint die Frage nach der Entstehung der Werke im historischen und sozialen Kontext auszuschließen. Aber sicherlich sind nicht nur die Konkretisationen historisch, sondern auch die Werke selbst: als intertextuelle Reaktionen - etwa als Parodien - auf andere Werke. Mit Recht bemerkt Rolf Fieguth in diesem Zusammenhang, daß der Ontologe Ingarden zu sehr auf das Einzelwerk fixiert ist und im Rahmen 3. Von Husserl zu Ingarden: Phänomenologie und Wirkungsästhetik 267 111 R. Fieguth, „Einleitung“, in: R. Ingarden, Gegenstand und Aufgaben der Literaturwissen‐ schaft, op. cit., S. XXXII. 112 Siehe: Roman Ingarden and Contemporary Polish Aesthetics (Hrsg. P. Graff, S. Krze‐ mien-Ojak), Warszawa, Polish Scientific Publishers, 1975; darin vor allem der Beitrag von K. Rosner „Ingardenʼs Philosophy of Literature and the Analysis of Artistic Communication“, op. cit., S. 215: „Practically, it means that a literary work as an object of an aesthetic experience is historically determined and changing. However, a fairly high price has been paid for this compromise with history: for it leads to a separation and opposition of the results of ontological and aesthetic analyses, while in Das literarische Kunstwerk Ingarden attempted to consider both aspects in the same terms.“ 113 Siehe: Th. W. Adorno, Zur Metakritik der Erkenntnistheorie, op. cit., S. 219. seiner Terminologie die Literatur als System und Prozeß nicht denken kann: „Beim Übergang vom literarischen Werk zur Literatur ist mindestens partiell die Methodologie einer eigenen Wissenschaft (etwa Teildisziplinen der Soziologie und der Geschichte) erforderlich, und damit ist auch auf der Ebene der philosophischen Disziplinen ein Hinausgehen über den Bereich der ontologischen Theorie des literarischen Werks erforderlich.“ 111 Ähnlich äußern sich die Autoren des Sammelbandes Roman Ingarden and Contemporary Polish Aesthetics (1975).“ 112 Historisch ist schließlich auch die phänomenologische Metasprache, die Husserl zwar für die reine Wesensschau konzipiert hat, die jedoch, wie Adorno richtig gesehen hat 113 , nicht jenseits der gesellschaftlichen Kontin‐ genz entwickelt werden kann. Das zeigt u. a. die Weiterentwicklung der Phä‐ nomenologie bei Iser, wo sie mit zahlreichen - häufig reichlich disparaten - Termini aus Soziologie, Semiotik und Sprechakttheorie durchsetzt wird. Wenn aber eine theoretische Metasprache wie die Phänomenologie selbst historisch und gesellschaftlich bedingt ist, kann sie nicht ohne weiteres als Fundament der Sozialwissenschaften anerkannt werden: bestenfalls als Regulativ oder Korrektiv. Sowohl die semiotische als auch die soziologische Kritik an Ingarden zeigt, daß die Philosophie als Dialektik (Hegel) oder Phänomenologie (Husserl) in Wirklichkeit keine „strenge Wissenschaft“ (Husserl) ist und daß sie auf keinen Fall die Methoden der Sozialwissenschaften fundieren oder gar ersetzen kann. So verschiedenen Philosophen wie Hegel und Husserl ist die Illusion gemeinsam, mit ihren philosophischen Entwürfen zugleich Fundamente einer neuen Wissenschaft gelegt zu haben. Ingardens terminologische Schwierigkeiten lassen diese Illusion zergehen; aber auch nach ihrem Zerfall sollten zeitgenössische Sozialwis‐ senschaftler nicht darauf verzichten, die hermeneutischen, phänomenolo‐ VI. Die Rezeptionsästhetik zwischen Hermeneutik und Phänomenologie 268 114 W. Iser, Der Akt des Lesens, München, Fink, 1976, S. 18. 115 Ibid., S. 29. 116 Ibid., S. 27. gischen oder dialektischen Prämissen ihrer Wissenschaften kritisch zu reflektieren. Die Reflexion wird immer wieder in den philosophischen und ästhetischen Bereich zurückkehren müssen. 4. Wolfgang Isers Wirkungsästhetik Deutlicher als Ingarden, dessen Terminologie er teilweise übernimmt, distanziert sich Iser von den hegelianischen Ästhetiken des 19. Jahrhunderts. Gegen sie führt er zwei wesentliche Argumente ins Feld, von denen das erste die begriffliche Vereinnahmung literarischer Texte, das zweite das klassizistische Kriterium der harmonischen Totalitat betrifft. Der Kritiker des 19. Jahrhunderts irrt, wenn er in Übereinstimmung mit dem fiktiven Kritiker in Henry Jamesʼ The Figure in the Carpet meint, den vieldeutigen Text als Geheimmeldung entschlüsseln zu können, denn „Sinn läßt sich nicht auf diskursive Bedeutung reduzieren und die Bedeutung läßt sich nicht zu einer Sache verdinglichen“. 114 An der qualitativen „Differenz von Bild und Diskursivität“ will Iser festhalten. Er bezieht eindeutig Stellung gegen die Hegelsche Ästhetik, wenn er vom Interpretationsstil des 19. Jahr‐ hunderts sagt, er wirke heute so, „als ob durch ihn das Werk zum Reflex jeweils geltender Wertvorstellungen degradiert würde, und dieser Eindruck ist insofern konsequent, als jene Interpretationsnorm das Werk durchaus im Hegelschen Sinne als das ‚sinnliche Scheinen der Idee‘ begreifen wollte“. 115 Vor allem moderne Werke der Literatur drücken nicht „Ideen“ aus, weil sie nicht an dem aus Hegels Totalitätsbegriff ableitbaren Kohärenzpostulat zu messen sind. Die Anwendung klassizistischer Begriffe dieser Art auf die Kunst der Moderne führt dazu, diese „als Dekadenzphänomen qualifi‐ zieren zu müssen“. 116 Auch hier wird deutlich, daß die Auseinandersetzung zwischen Formalisten und Marxisten an der Schwelle zum 20. Jahrhundert wesentliche Probleme zeitgenössischer Literaturwissenschaft antizipierte. Sowohl in Isers Der implizite Leser (1972) als auch in seinem später erschienenen Buch Der Akt des Lesens (1976) kommt eine „formalistische“ Sympathie für Kants ästhetischen Agnostizismus zum Ausdruck, der die Kunst vor der Unterordnung unter den Begriff schützt, ohne sie allerdings 4. Wolfgang Isers Wirkungsästhetik 269 117 Ibid., S. 43. 118 Ibid. 119 Ibid., S. 88. 120 Ibid., S. 107. als schlicht sinnlos zu verabschieden. Ähnlich wie Adorno, der sich ebenfalls auf Kant beruft (vgl. Kap. IV), versucht Iser zu zeigen, wie sich literarische Texte zwischen dem begrifflichen und dem nichtbegrifflichen Pol bewegen: „Darin kommt zugleich die Eigentümlichkeit des Sinnbegriffs fiktionaler Texte zum Vorschein; sie ist - um einen Ausdruck Kants abzuwandeln - amphibolischer Natur: bald hat der Sinn ästhetischen, bald hat er diskursiven Charakter.“ 117 In diesem Kontext geht es Iser primär darum, das Sinnpotential der Literatur und die Sinnkonstitution seitens des Lesers zu untersuchen. Ihm ist es um die im Text angelegten Bedingungen zu tun, unter denen der Leser Sinnstrukturen konstituiert und das Sinnpotential des Textes verwirk‐ licht. Dadurch wird der „Sinn als ästhetische Wirkung“ 118 zum eigentlichen Gegenstand der Literaturwissenschaft; nicht die richtige oder vollständige Interpretation. An der Fiktion interessiert vorrangig „nicht was sie bedeutet, sondern was sie bewirkt“. 119 Es nimmt nicht wunder, wenn im Rahmen dieser Betrachtungsweise die Ausdrucksebene der Inhaltsebene gegenüber aufgewertet wird und Iser versucht, den von Husserl und Ingarden geerbten phänomenologischen Ansatz semiotisch zu präzisieren, um den Widerstand der Fiktion gegen begriffliche Vereinnahmung zu verdeutlichen: „Die ikonischen Zeichen fiktionaler Texte verkörpern daher eine Organisation von Signifikanten, die weniger der Bezeichnung von Signifikaten dienen, sondern vielmehr Instruktionen für das Produzieren von Signifikaten darstellen.“ 120 Hier wird die These über das fiktionale Verhältnis von Bedeutung und Wirkung semiotisch umformuliert: mit Hilfe einer recht heterogenen Ter‐ minologie allerdings, die den Ikon-Begriff der amerikanischen Semiotik (Peirce, Morris), die Begriffe Signifikant und Signifikat hingegen Saussures Semiologie entlehnt. (Das Problem, auf das ich hier nicht ausführlich einge‐ hen kann, besteht natürlich darin, daß das Ikon primär als visuelles Zeichen durch seinen Ähnlichkeitsbezug zum Objekt - also durch Nicht-Arbitrarität - definiert wird, während Saussure das sprachliche Zeichen durch die willkürliche Verknüpfung von signifiant und signifié charakterisiert.) VI. Die Rezeptionsästhetik zwischen Hermeneutik und Phänomenologie 270 121 Ibid., S. 175. 122 Ibid., S. 229. 123 Ibid., S. 100. 124 Ibid., S. 271. 125 Ibid., S. 279-280. Wichtiger als diese Heterogenität der Terminologie, die vor allem in Der Akt des Lesens Zweideutigkeiten und Ungereimtheiten zeitigt, ist hier die Überlegung, daß bei Iser - wie schon bei Adorno und Mukařovský - die Kritik an Hegels logozentrischer Ästhetik zu einer Aufwertung der Ausdrucksebene (der Signifikanten) gegenüber der Inhaltsebene (den Signi‐ fikaten) führt. Der Versuch, das begriffliche Instrumentarium der Semiotik im Rahmen des phänomenologischen Ansatzes einzusetzen, hat insofern symptomati‐ schen Charakter, als Iser durch die semiotische Ausrichtung seiner Unter‐ suchungen diesen eine kommunikationstheoretische Komponente geben möchte, die er bei Ingarden vermißt. Anders als dem Autor von Das literari‐ sche Kunstwerk geht es Iser nicht so sehr um eine Ontologie des literarischen Werkes (vgl. Abschn. 3), sondern um die kommunikative Interaktion von Text und Leser, von „Textstruktur und Aktstruktur“ 121 , wie es in Der Akt des Lesens heißt. Wie Ingarden geht Iser zwar von „der Gegebenheit der Textschemata“ 122 aus, die ebenso wie das „Lenkungspotential“ 123 des Textes willkürliche Konkretisationen oder Realisationen ausschließen; zugleich hebt er jedoch die kreative Rolle des Lesers hervor sowie die kommunikative Wechselwirkung zwischen Text und Lektüre. Dadurch unterscheidet er sich von Ingarden, der den Konkretisationsbe‐ griff nicht dialogisch, nicht kommunikationstheoretisch (semiotisch) denkt: „Denn er (der Konkretisationsbegriff, P. V. Z.) bezeichnet nicht die Interak‐ tion zwischen Text und Leser, sondern die Aktualisierung der vom Text parat gehaltenen Ansichten im Lektürevorgang, und das heißt, statt eines reziproken Verhältnisses meint er ein unilineares Gefälle vom Text zum Leser.“ 124 Einige Seiten weiter fügt Iser im Zusammenhang mit Ingardens Konzept der Unbestimmtheitsstelle hinzu: „(…) Daher sind Unbestimmt‐ heitsstellen nur Suggestionsreize einer letztlich undynamisch gedachten Komplettierung und wohl kaum Bedingung für die vom Leser zu schaltende Wechselbeziehung zwischen den schematisierten Ansichten bzw. den Dar‐ stellungsperspektiven des Textes.“ 125 4. Wolfgang Isers Wirkungsästhetik 271 126 W. Iser, „Wirkung und Rezeption. Eine Retroperspektive“, in: H. Van Gorp, R. Ghes‐ quiere, R. T. Segers (Hrsg.), Receptie-onderzoek: mogelijkheden en grenzen/ Rezeptionsfor‐ schung: Möglichkeiten und Grenzen, op. cit., S. 168. 127 W. Iser, Der Akt des Lesens, op. cit., S. 143. 128 Ibid., S. 155. 129 W. Iser, Der implizite Leser, München, Fink, 1972, S. 63. 130 Siehe: W. Iser, Der Akt des Lesens, op. cit., S. 119. 131 Ibid., S. 143. Iser geht zwar wie Ingarden von der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen dem Text als Schema und den Konkretisationen des Textes durch den Leser aus; anders als Ingarden versucht er jedoch, die Konkretisation als den eigentlichen ästhetischen, kommunikativen und kreativen Prozeß zu sehen, in dem der Sinn des Textes konstituiert wird. Diese Sinnkonstitution findet auf drei Ebenen statt: auf der Ebene des Repertoires, der Strategien und der Realisation (durch den Leser). Auf alle drei Ebenen bezieht sich die von Iser in einem Vortrag aufgeworfene Schlüsselfrage: „Wie sehen die Strukturen aus, die die Verarbeitung der Texte im Rezipienten lenken? “ 126 Zu diesen Strukturen gehört an erster Stelle die Komponente des litera‐ rischen Textes, die Iser als Repertoire bezeichnet. Es handelt sich um ein System von literarischen und außerliterarischen Konventionen, Normen und Werten, die den Nexus zwischen literarischem Text und den nichtlite‐ rarischen Systemen (Politik, Religion, Philosophie) einer Gesellschaft bilden: „Das Textrepertoire bezeichnet das selektierte Material, durch das der Text auf die Systeme seiner Umwelt bezogen ist (…).“ 127 Sofern das Repertoire Normen der sozialen Welt sowie ästhetische Normen und Verfahren früherer literarischer Texte aufnimmt, bildet es den „Welt‐ bezug des fiktionalen Textes“. 128 Konkret bemerkt Iser zu Fieldings Joseph Andrews: „Zum Repertoire des Joseph Andrews gehören indes nicht nur die in den Anspielungen gegenwärtig gehaltenen literarischen Muster, sondern auch die verschiedenen Normen, die der zeitgenössischen Vorstellungswelt entnommen sind.“ 129 Anders ausgedrückt: Im Repertoire reagiert der literari‐ sche Text auf nichtliterarische Systeme, die seine Umwelt bilden. 130 Während das Repertoire eher als der paradigmatische Aspekt des Textes (Saussure) aufzufassen ist, sind die Textstrategien, die auf dem Repertoire gründen, dem syntagmatischen Bereich zuzurechnen. Über sie schreibt Iser, sie müßten „die Beziehungen zwischen den Elementen des Repertoires vorzeichnen“. 131 Was Iser als „Strategie“ bezeichnet, stimmt in mancher VI. Die Rezeptionsästhetik zwischen Hermeneutik und Phänomenologie 272 132 Ibid., S. 145. 133 Ibid., S. 168. 134 Ibid., S. 169. 135 W. Iser, Der implizite Leser, op. cit., S. 68. 136 Ibid., S. 92. Hinsicht mit den „Verfahren“ und „Techniken“ der Formalisten überein. Er selbst identifiziert weitgehend Strategien und Techniken, wenn er erklärt: „Nun lassen sich die Strategien in der Regel durch die im einzelnen Text jeweils auffindbaren Techniken ausmachen.“ 132 Zu ihnen gehören u. a. die Erzähltechniken und Erzählperspektiven, die durch Selektionen und Hervorhebungen bestimmte Elemente (Figuren, Situationen, Handlungen) mitsamt ihren Kontexten in den Vordergrund, andere in den Hintergrund treten lassen. Dabei kommt es zu Hervorhebungen und Selektionen, für die in erster Linie der Erzähler - dank seiner Fähigkeit, die Perspektive zu ändern - verantwortlich ist. Indem er in einer bestimmten Perspektive, vor einem bestimmten Hori‐ zont etwas zum Thema werden läßt, fesselt er die Aufmerksamkeit des Lesers und läßt retrospektiv vorangegangene Handlungen, Ereignisse und Situationen in einem neuen Licht erscheinen. Dadurch übt die Dialektik von Thema und Horizont eine kumulative (retrospektiv-prospektive) Wirkung aus: „Geht man davon aus, daß die Thema- und Horizontstruktur alle Textpositionen durch den vorgezeichneten Perspektivenwechsel in eine wechselseitige Beobachtbarkeit bringt (…), so entsteht in diesem Vorgang ein eigentümlicher Kumulationseffekt wachsender Veränderung.“ 133 Die Wechselbeziehung von Thema und Horizont „organisiert das Zusam‐ menspiel der Textperspektivität“ 134 und bildet somit zusammen mit den anderen Textstrategien und dem Repertoire einen der Ausgangspunkte für die Realisation des Textes durch den Leser. Die Realisation „als das Hervorbringen der Sinngestalt des Textes durch den Leser“ 135 kommt in einem Prozeß zustande, in dem der Leser von Autor und Erzähler ständig veranlaßt wird, seine Erwartungen zu korrigieren und Figuren, Handlungen und Situationen in einem neuen Licht zu betrachten. Dies geschieht in einer Wechselbeziehung von Erwartung und Erinnerung, Protention und Reten‐ tion (im Sinne von Husserl), die als kumulativer Prozeß den Lektürevorgang ausmacht. In diesem Vorgang erscheint der implizite Leser als eine dem Roman, dem Text „eingezeichnete Leserrolle“ 136 , deren produktive Kraft von der Unbestimmtheit oder Konkretisierbarkeit des Textes gespeist wird. Konkre‐ 4. Wolfgang Isers Wirkungsästhetik 273 137 W. Iser, Der Akt des Lesens, op. cit., S. 154. 138 Siehe: H. Link, Rezeptionsforschung. Eine Einführung in Methoden und Probleme, Stutt‐ gart, Kohlhammer, 1976, S. 25 (Schema). 139 W. Iser, Der Akt des Lesens, op. cit., S. 60. 140 W. Iser, Laurence Sternes „Tristram Shandy“. Inszenierte Subjektivität, München, Fink, 1987, S. 151. 141 Siehe: W. Iser, Der implizite Leser, op. cit., S. 170. tisierbarkeit ist bei Iser jedoch nicht - ebensowenig wie bei Ingarden - mit Willkür zu verwechseln. „Vielmehr zeichnen die Textstrategien jene Bahnen vor, durch die die Vorstellungstätigkeit gelenkt und damit der ästhetische Gegenstand im Rezeptionsbewußtsein hervorgebracht werden kann.“ 137 In diesem Kontext wird der implizite Leser als eine „den Texten einge‐ zeichnete Struktur“ definiert. Im Unterschied zu realen (historischen, zeit‐ genössischen) oder fiktiven (im Roman thematisierten) Lesern, von denen Hannelore Link spricht 138 , ist der implizite Leser ein Idealkonstrukt ohne reale Existenz: „denn er verkörpert die Gesamtheit der Vororientierungen, die ein fiktionaler Text seinen möglichen Lesern als Rezeptionsbedingungen anbietet. Folglich ist der implizite Leser nicht in einem empirischen Substrat verankert, sondern in der Struktur der Texte selbst fundiert“. 139 Der implizite Leser ist auch deshalb ein Idealtypus, weil er alle wesent‐ lichen Angebote des Textes realisiert und nicht nur die, die besonderen psychischen oder sozialen Dispositionen der realen Leser entsprechen. Diese Gesamtorientierung des impliziten Lesers spricht Iser indirekt an, wenn er zu Sternes Roman Tristram Shandy bemerkt: „Offensichtlich bietet sein Werk verschiedene Zugriffe an, die man möglichst alle ergreifen sollte, und nicht nur jene, die der eigenen Neigung entgegenkommen.“ 140 Mit dem Begriff des impliziten Lesers, den er im Anschluß an W. Booths Begriff des „implied author“ 141 geprägt hat, geht Iser insofern über Ingarden hinaus, als er analog zum impliziten Autor und zum Erzähler die für den Prozeß der Konkretisierung verantwortliche Instanz bezeichnen und ihre Tätigkeit beschreiben kann. Wie sehr der Leser bei Iser zu einer schöpferischen, produktiven Kraft wird, die sich nicht damit begnügt, die Augenfarbe des Konsuls Buddenbrook (Ingarden) in Thomas Manns Roman Die Buddenbrooks auszufüllen, zeigen die Einzelanalysen in Der implizite Leser. Bei der Aufdeckung des trügerischen Scheins in Thackerays Vanity Fair werden Gesellschaftskritik und Selbstkritik dem Leser zum Thema. „Die Maßstäbe für eine solche Kritik sind in der Darstellung nicht eigens benannt, ohne jedoch beliebig zu sein. Sie bilden die zentrale Leerstelle des Romans, VI. Die Rezeptionsästhetik zwischen Hermeneutik und Phänomenologie 274 142 Ibid., S. 184. 143 Ibid., S. 345. 144 H. Servotte, „Kritische bedenkingen bij ‚Der Akt des Lesens‘“, in: H. Van Gorp u. a., Receptie-onderzoek: mogelijkheden en grenzen/ Rezeptionsforschung: Möglichkeiten und Grenzen, op. cit., S. 181. die als Hohlform des Geschehens soweit konstruiert ist, daß sie vom Leser immer erschlossen werden kann.“ 142 Noch stärker als bei Thackeray wird die Kreativität des impliziten Le‐ sers in James Joyces Ulysses in Anspruch genommen, wo kausale Zusam‐ menhänge nicht vom Erzähler aufgezeigt, sondern vom Leser konstruiert werden müssen: „Da aber die Gelenkstellen zwischen den Kapiteln nicht ausformuliert sind, reizt der entstehende Unbestimmtheitsgrad die Projek‐ tionsfähigkeit des Lesers dazu an, die Leerstellen zu besetzen, indem er die Kapitel zu einem Verlauf gruppiert.“ 143 Eine ähnliche syntaktisch-narrative Tätigkeit fordern Romane wie Kafkas Der Prozeß oder Musils Der Mann ohne Eigenschaften: Als Romanfragmente machen sie - wie Adolf Frisés zweite Ausgabe von Musils Roman zeigt - Umgruppierungen nicht nur möglich, sondern sogar notwendig. Somit erscheint bei Iser die Leerstelle nicht so sehr als Lücke im Schema, die der Leser mechanisch ausfüllt, sondern als Ausgangspunkt für eine produktive Tätigkeit, die den literarischen Text als ästhetisches Objekt (im Sinne von Mukařovský) hervorbringt. Trivial scheint mir die Kritik an Iser zu sein, der zufolge eine genaue Kenntnis von Text und kulturellem Kontext die Leerstellen als Polysemien restlos eliminiert. So wendet beispielsweise H. Servotte im Zusammenhang mit dem Leser von Joyces Ulysses ein: „Wenn er jedoch mit dem Kode vertraut wäre, würde er das Werk richtig interpretieren. Mit anderen Worten, der Text hat eine Bedeutung, und eine ausreichende Kenntnis des Kodes ermöglicht eine richtige Dekodierung.“ 144 Obwohl ich glaube, daß es graphische, phonetische, semantische und syn‐ taktische Textkonstanten oder Grundstrukturen gibt, weil Texte sonst nicht identifizierbar wären (vgl. Kap. IX), halte ich Servottes Einwand für eine unzulässige Vereinfachung: Sowohl bei Joyce als auch bei Autoren wie Kafka, Musil oder Beckett gibt es „Unbestimmtheiten“, die nicht reduzierbar sind und die erklären, weshalb neue Leser und Lesergruppen immer wieder in der Lage sind, originelle ästhetische Objekte dieser Texte hervorzubringen. Isers Verdienst besteht u. a. darin, den Leser parallel zum Autor als kreative, textproduzierende Instanz erkannt und in allen Einzelheiten be‐ schrieben zu haben. Ein weiteres Verdienst stellt sein Versuch dar, die 4. Wolfgang Isers Wirkungsästhetik 275 145 W. Iser, „Die Appellstruktur der Texte“, Konstanz, Universitätsverlag, 1970, S. 8. (Auch in: R. Warning, Hrsg., Rezeptionsästhetik, op. cit., S. 230.) 146 W. Iser, Der implizite Leser, op. cit., S. 56. 147 W. Iser, Der Akt des Lesens, op. cit., S. 133. Leerstelle und den auf sie reagierenden Leser als historische Größen zu verstehen. Auch darin unterscheidet er sich vorteilhaft von Ingarden, der weder die Zunahme der Unbestimmtheitsstellen noch die von der wachsenden Unbestimmtheit modifizierten Leserkonzepte der Schriftstel‐ ler systematisch untersucht. Iser hingegen bemüht sich schon in seinem bekannten Aufsatz „Die Appellstruktur der Texte“ (1970), das Anwachsen der Unbestimmtheit im modernen Roman sowie das neue Leserbild, das die zunehmende Vieldeutigkeit entstehen läßt, zu beschreiben: „In einem dritten Schritt müssen wir das seit dem 18. Jahrhundert beobachtbare Anwachsen der Unbestimmtheitsgrade in literarischen Texten zu erklären versuchen.“ 145 Es hat sich gezeigt, daß er das Funktionieren der Leerstellen im Zusam‐ menhang mit dem Begriff des impliziten Lesers sehr genau beschreibt. Er befaßt sich auch - vor allem in seinen Kommentaren zu Joyces Ulysses - mit der Frage, wie durch „Überpräzisierung des Darstellungsrasters“ der Unbestimmtheitsgrad nicht reduziert, sondern gerade gestärkt wird. Ich glaube jedoch nicht, daß er die Zunahme der Unbestimmtheit (vor allem in der modernen Literatur) wirklich erklärt. Eine Erklärung wäre vielleicht im Anschluß an seine These möglich, daß Fiktion „Defizite zu bilanzieren vermag, die von den jeweils historisch herrschenden Geltungen erzeugt werden“. 146 Anders ausgedrückt: Das lite‐ rarische System bringt Bedeutungen hervor, die die kognitiven Defizite von religiösen, ideologischen und philosophischen Sinnsystemen ausgleichen. Als Beispiel führt Iser Sternes Roman Tristram Shandy an, der bestimmte Lücken des Lockeschen Empirismus thematisiert, die bei Locke selbst nicht zur Sprache kommen. Wenn nun die Funktion literarischer Texte darin besteht, „Antworten auf jene Fragen zu geben, die durch die Systeme produziert worden sind“ 147 , dann fragt es sich, worauf die extreme Unbestimmtheit bei Autoren wie Beckett, Kafka oder Joyce eine systembedingte Reaktion ist. Isers Antwort auf diese Frage fällt recht spärlich aus. Die Negativität von Becketts Texten wird damit erklärt, „daß sie die Bestätigung unserer Elementarbedürfnisse verweigern, ja, daß sie die Gewißheit ihrer Befriedigung in Frage stellen, VI. Die Rezeptionsästhetik zwischen Hermeneutik und Phänomenologie 276 148 W. Iser, Der implizite Leser, op. cit., S. 395-396. 149 Siehe: Vf., Roman und Ideologie. Zur Sozialgeschichte des modernen Romans, München, Fink, 1986, wo im 9. Kap. die wachsende Polysemie mit den Auswirkungen der Marktgesetze, der ideologischen Konflikte und der Arbeitsteilung im sprachlichen Bereich verknüpft wird. 150 Siehe: W. Iser, Der Akt des Lesens, op. cit., S. 344-347. indem sie zeigen, daß immer dort, wo wir etwas Endgültiges zu wissen vermeinen, Fiktionen im Spiele sind (…)“. 148 Worin bestehen aber unsere „Elementarbedürfnisse“ im sozialen, psychi‐ schen und sprachlichen Bereich? Und: Auf welche Defizite zeitgenössischer Sinnsysteme reagiert der hohe Unbestimmtheitsgrad in Becketts Prosa? Kurzum: Iser erklärt nicht die wachsende Unbestimmtheit moderner Lite‐ ratur im sozialen, sprachlichen und historischen Kontext; und ich zweifle daran, daß seine These über die Ausgleichsfunktion der Fiktion inmitten systembedingter Defizite, die aus Luhmanns Systemtheorie stammt, eine Erklärung ermöglicht. Das drastische Ansteigen der Leerstellen (ich würde sagen: der Polysemie) wäre hier im Zusammenhang mit der sprachlichen Kommunikation in der Marktgesellschaft, den ideologischen Konflikten und der Arbeitsteilung zu erklären. 149 Insgesamt ist bei Iser - ähnlich wie bei Ingarden - ein sozialwissenschaft‐ liches Defizit zu beobachten. Dem Phänomenologen wird man nicht vorwer‐ fen, daß er vom wirklichen, empirischen Leser bewußt abstrahiert; man wird ihm aber nicht den Vorwurf ersparen, daß er trotz seines Interesses für sozio‐ logische und kultursemiotische Theorien die Zunahme der Unbestimmtheit beschreibt, ohne sie im soziologischen und soziosemiotischen Kontext zu erklären: Hat der literarische Verzicht auf ideologische und metaphysische Eindeutigkeit nichts mit dem von Ideologen bewirkten Sprachverschleiß zu tun? Ist er nicht als Reaktion auf die sprachliche Arbeitsteilung (der Wissenschaften) und auf die Wortleichen der Werbung zu verstehen? Wäre es schließlich nicht möglich, die Zunahme der Unbestimmtheit als eine Reaktion auf ideologische Deutungssysteme, die das Bewußtsein des Ein‐ zelnen vereinnahmen, sowie auf das Subsystem der kommerziellen Literatur zu erklären, deren Stereotypen die Einbildungskraft der Leser auszehren? Einzelne Hinweise auf diese Zusammenhänge finden sich bei Iser 150 ; ein verwendbares Erklärungsmodell soziologischen oder kultursemiotischen Ursprungs fehlt jedoch. Sein Versuch, das begriffliche Instrumentarium der Phänomenologie durch semiotische Termini zu ergänzen, zeitigt in Der Akt des Lesens einen 4. Wolfgang Isers Wirkungsästhetik 277 151 Ibid., S. 180. 152 Ibid., S. 181. 153 Ibid., S. 313. 154 Ibid. oft disparaten Eklektizismus, der die theoretische und terminologische Homogenität von Der implizite Leser vermissen läßt. Sicherlich kann es sinnvoll sein, verschiedene theoretische Ansätze zur Synthese zu bringen; dann sollte es aber zu einer Erweiterung der theoretischen Kapazität im Rahmen des neuen Ansatzes kommen. Ich bezweifle sehr, daß dies bei Iser geschieht: Trotz seiner zahlreichen Rekurse auf Theoreme der Semiotik hält er - wie vor ihm Ingarden - Sätze und „Satzkorrelate“ 151 für die größten lin‐ guistischen Einheiten und spricht nicht vom Diskurs als transphrastischer Struktur, sondern von der „Satzfolge“ 152 , deren semantische und syntaktische Einheit er nicht darstellt. Auch das Wort „Textsegment“ 153 bietet keinen Ersatz für den Diskursbegriff, der eine semantische Struktur, ein Aktanten‐ modell und einen narrativen Ablauf bezeichnet. Daß bei Iser gerade das Konzept einer semantischen Struktur fehlt, zeigt die folgende Textpassage: „Sofern die Leerstelle ausgesparte Anschlüsse gegebener Textsegmente anzeigt, markiert sie die Notwendigkeit, eine Äquivalenz heterogener Seg‐ mente herzustellen.“ 154 Wie aber ist ein solches Äquivalenzverhältnis herzustellen, wenn ein se‐ mantischer Schlüsselbegriff wie Isotopie (Greimas) oder Isosemie (Metzeltin, Jaksche) fehlt? Denn dieser Begriff hat gerade die semantische Kohäsion des Textes sowie die Beziehungen zwischen heterogenen Textsequenzen zum Gegenstand. Ähnliche „Leerstellen“ finden sich in Isers Werk auf narrativer Ebene: Es ist dort zwar häufig von Erzählerperspektiven die Rede, aber eine Theorie des Erzählers oder des narrativen Ablaufs (im Sinne von Greimas, Genette oder Stanzel) fehlt. Man könnte nun meine Kritik karikieren und fragen, ob ich Iser vorwerfe, nicht Semiotiker, nicht Greimas oder Barthes zu sein. Mein Vorwurf hat mit dieser Karikatur nichts zu tun, sondern bezieht sich auf das Verhältnis zwischen Theorien sowie auf das bereits erwähnte sozialwissenschaftliche Defizit. Es ist nicht möglich, phänomenologische und semiotische Ansätze miteinander zu kombinieren, ohne die Frage nach dem globalen Verhältnis von Husserls Phänomenologie und einer bestimmten Semiotik zu stellen. Das tut Iser nicht; er entlehnt disparaten semiotischen Theorien Begriffe, die einander nicht immer ergänzen (s. o.) und auch nicht in allen Fällen an seine VI. Die Rezeptionsästhetik zwischen Hermeneutik und Phänomenologie 278 155 M. Naumann et al., Gesellschaft, Literatur, Lesen. Literaturrezeption in theoretischer Sicht, Berlin-Weimar, Aufbau Verlag, 1973, S. 373. phänomenologische Terminologie anschließbar sind. Statt dessen hätte er sich vornehmen können, den durchaus homogenen phänomenologischen Diskurs von Der implizite Leser mit Hilfe der phänomenologischen Soziolo‐ gie von Alfred Schütz, Peter Berger und Thomas Luckmann zu erweitern. Mag sein, daß diese soziologische Erweiterung seines Ansatzes eine Erklä‐ rung der Unbestimmtheit im gesellschaftlichen Kontext ermöglicht hätte. 5. Zur Auseinandersetzung zwischen Konstanzer Rezeptionsästhetik und marxistisch-leninistischer Rezeptionstheorie In der Vergangenheit habe ich mich wiederholt mit dem polemisch geführ‐ ten Dialog zwischen diesen beiden literaturwissenschaftlichen Positionen ausführlich befaßt. (Siehe Anm. 4.) Hier geht es deshalb nicht mehr um eine Aufarbeitung dieser Diskussion, sondern darum, im Anschluß an dieses und das zweite Kapitel in einem neuen Kontext auf den „kantianischen“ Agnostizismus der Rezeptionsästhetik und den hegelianischen Logozentris‐ mus der ostdeutschen Marxisten-Leninisten hinzuweisen. Dabei spielt die Tatsache, daß in Osteuropa die offizielle Ideologie im Laufe der 1980er Jahre zerbröckelt ist, keine Rolle, weil einige Argumente der ostdeutschen Marxisten auch in Zukunft die hegelianische Position illustrieren werden und weil andere Argumente, die sie ins Feld führten, auch heute noch volle Gültigkeit besitzen. Das Autorenkollektiv, das unter Leitung von Manfred Naumann das Werk Gesellschaft, Literatur, Lesen (1973) als Antwort auf die westdeutsche Rezeptionsästhetik verfaßt hat, scheint mit der von Jauß und Iser thematisierten Vieldeutigkeit und Unbestimmtheit nichts im Sinn zu haben. Die Ästhetik der Konstanzer Gruppe sehe „in der schwebenden Unbestimmtheit“ ihr Ziel: „Wir wollen dagegen festhalten, daß die pluralistische Abwehr der Manipulation, die sich solchermaßen äußert, nur deren Kehrseite ist. Die Feier der Beliebigkeit hilft nicht, die kritisierten Verhältnisse aufzuheben, sondern ist deren Ausdruck, eine Stütze für die Unterwerfung der Indivi‐ duen unter die Zufälligkeit. Eine mit dem gesellschaftlichen Fortschritt verbundene Ästhetik setzt deshalb einen Akzent auf Bestimmtheit.“ 155 5. Zwischen Konstanzer Rezeptionsästhetik und marxistisch-leninistischer Rezeptionstheorie 279 156 Zur Theorie des sozialistischen Realismus (Autorenkollektiv), Berlin, Dietz, 1974, S. 659. 157 Siehe: Vf., Ideologie und Theorie, op. cit., Kap. 8. 158 W. Iser, „Im Lichte der Kritik“, in: R. Warning (Hrsg.), Rezeptionsästhetik, op. cit., S. 337. 159 H. R. Jauß, „Zur Fortsetzung des Dialogs zwischen ‚bürgerlicher‘ und ‚materialistischer‘ Rezeptionsästhetik“, in: R. Warning (Hrsg.), Rezeptionsästhetik, op. cit., S. 349-350. Systematisch werden solche Aussagen in Zur Theorie des sozialistischen Realismus (1974) formuliert, wo vom „Primat des künstlerischen Inhalts in der sozialistisch-realistischen Kunst“ 156 die Rede ist. Es lohnt sich, die hier zitierten drei Sätze aus Gesellschaft, Literatur, Lesen näher zu betrachten: Der erste Satz zeigt, wie ephemer Ideologien sind, denn im heutigen Osteuropa fände sich kaum noch ein Literaturwissenschaftler bereit, den sich ausbreitenden Pluralismus so pauschal zu verurteilen. (Die Frage nach Struktur und Funktion liberal-pluralistischer Ideologien sollte deshalb nicht kurzerhand verabschiedet werden.) 157 Der zweite Satz ist ein theoretisches Mißverständnis. Ich hoffe, gerade im Zusammenhang mit Ingarden und Iser gezeigt zu haben, daß die Wirkungsästhetik weit davon entfernt ist, der Beliebigkeit das Wort zu reden, sondern danach strebt, die Wechselbeziehung zwischen festgelegtem Sinnpotential (Ansichten, Horizonten, Erzählperspektiven) und Sinnverwirklichung so genau wie möglich zu beschreiben. Der dritte Satz schließlich ist ein Hegelianismus in marxistischem Gewand: Er geht vom Primat der Inhaltsebene aus und setzt auf begriffliche Definierbarkeit des literarischen Textes, auf dessen Monosemie. Daß Monosemierungsversuche dieser Art ideologische Manöver sind, die darauf abzielen, dem Leser die Lesart der herrschenden Ideologie aufzuzwin‐ gen, fällt Iser auf, wenn er in einer Replik auf die marxistisch-leninistische Kritik bemerkt: „Die sozialistische Leseweise also funktioniert als Norm, damit durch sie die gewünschte Eindeutigkeit der Rezeption sichergestellt werden kann.“ 158 Ähnlich äußert sich Jauß, wenn er Dieter Schlenstedts Analyse von Brechts Gedicht Der Rauch vorwirft, sie rekonstruiere „ein von Brecht im‐ pliziertes betrachtendes und urteilendes ‚lyrisches Subjekt‘‚ demgegenüber sich der von der Untersuchung geforderte reale Leser konform zu verhalten hat“. 159 Beide Einwände gegen die sozialistisch-realistische Rezeptionstheo‐ rie sind als kantianische Repliken (im weitesten Sinne dieses Ausdrucks) zu werten, die die Begriffslosigkeit der Fiktion und die Unmöglichkeit ihrer begrifflichen Monosemierung in den Vordergrund rücken. VI. Die Rezeptionsästhetik zwischen Hermeneutik und Phänomenologie 280 160 M. Naumann et al., Gesellschaft, Literatur, Lesen, op. cit., S. 368. 161 Ibid., S. 19. 162 Siehe: E. Tall, „Camus in the Soviet Union. Some Recent Emigrés Speak“, in: Comparative Literature Studies Nr. 3, 1979. Der sozialistische Realismus versucht nicht nur, die Rezeption zu gängeln, sondern - möglicherweise der sozialistischen Gerechtigkeit halber - auch die Produktion. Das läßt eine andere Textpassage aus Gesellschaft, Literatur, Lesen erkennen: „Modernistische Versuche, Texte zu produzieren, die sich auf verschiedene Weise der Sinnfindung verweigern, zeigen nur, daß auf diesem vom Irrationalismus begleiteten Wege Literatur als Medium gesell‐ schaftlicher Bewußtseinsbildung nicht entstehen kann.“ 160 Die extreme Form dieser Produktions- und Rezeptionskontrolle ist die Zensur, mit der Schriftsteller in osteuropäischen Ländern jahrzehntelang konfrontiert wurden. Hier zeigt sich, wie stark Ästhetik und Politik ineinan‐ dergreifen und welche Gefahren von einem Hegelianismus ausgehen, der meint, Literatur und Kunst begrifflich vereinnahmen zu können: Er kann in bestimmten gesellschaftlichen und sprachlichen Situationen totalitär denken‐ den Funktionären passende philosophische und ästhetische Argumente liefern. Die Fragwürdigkeit der Hegelschen und hegelianischen Ästhetik, die in den Debatten zwischen Konstanzer Rezeptionsästhetik und marxistischer Rezeptionstheorie besonders deutlich zutage tritt, sollte allerdings nicht die Wahrheitsmomente des Hegelianismus verdecken. Zu ihnen gehört die von Jauß und Iser vernachlässigte Erkenntnis der marxistischen Literatur‐ soziologie (Karel Kosíks, Henri Lefebvres, Raymond Williamsʼ), daß die Produktion von Literatur gesellschaftlich sinnvoll ist und daß eine einseitige Festlegung der Literaturgeschichte auf den Rezeptionsprozeß, wie sie Jauß vorschwebt, Verzerrungen mit sich bringt. „Erstens stellt die Produktion gegenüber der Konsumtion ‚das übergrei‐ fende Moment‘ dar (…).“ 161 Diese These aus Gesellschaft, Literatur, Lesen ist zwar problematisch, weil man ebensogut vom Primat der Lektüre ausgehen könnte (der Autor als Leser, der Leser als Autor); sie enthält aber einen wahren Kern, wenn sie dahingehend interpretiert wird, daß die Rezeption ohne den bedeutungsstiftenden Produktionsprozeß nicht zu verstehen ist. Es ist nicht möglich, eine Rezeption konkret zu verstehen, solange unbe‐ kannt ist, in welchem Kontext ein Werk als semantisches und syntaktisches Konstrukt entstand. Es ist beispielsweise kaum möglich, die Rezeption von Albert Camusʼ LʼEtranger in der Sowjetunion 162 zu verstehen, solange nicht 5. Zwischen Konstanzer Rezeptionsästhetik und marxistisch-leninistischer Rezeptionstheorie 281 163 Siehe: Vf., Der gleichgültige Held. Textsoziologische Untersuchungen zu Sartre, Moravia und Camus, Trier, Wiss. Verlag Trier, 2004 (2. Aufl.), Kap. 4: „Der Fremde oder die Verdinglichung“. 164 M. Naumann, „Das Dilemma der ‚Rezeptionsästhetik‘“, in: Weimarer Beiträge Nr. 1, 1977, S. 6. 165 G. Grimm, Rezeptionsgeschichte, München, Fink, 1977, S. 11. Siehe auch: B. Zimmer‐ mann, „Der Leser als Produzent: Zur Problematik der rezeptionsästhetischen Methode“, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Heft 15 („Rezeptionsforschung“), 1974. 166 M. Naumann et al., Gesellschaft, Literatur, Lesen, op. cit., S. 136. untersucht wird, aus welchem sprachlichen und gesellschaftlichen Kontext dieser Roman hervorging und wie er strukturiert ist. Die Ablehnung des Romans im Rahmen der marxistisch-leninistischen Ideologie wird erst dann verständlich, wenn man davon ausgeht, daß Der Fremde die manichäisch und teleologisch strukturierten ideologischen Diskurse der Zwischenkriegszeit kritisch verarbeitet und sowohl auf semantischer als auch auf narrativer Ebene diskreditiert. 163 Mit anderen Worten: Kenntnis des Entstehungszusammenhangs und der Textstruktur bildet die Grundvoraussetzung für ein konkretes Verständnis der Rezeption. Insofern ist Manfred Naumann in jeder Hinsicht zuzustim‐ men, wenn er das „Auseinanderbrechen der Sphären der literarischen Produktion und Rezeption“ 164 kritisiert. Neuere rezeptionstheoretische Ansätze lassen allerdings vermuten, daß die Kluft zwischen Produktion und Rezeption im Anschluß an die Debatten zwischen Jauß, Iser, Naumann und Weimann allmählich überbrückt wird. Dies geschieht häufig in einem literatursoziologischen Zusammenhang, in dem Produktion und Rezeption einen kommunikativen Nexus bilden. Zu diesem bemerkt beispielsweise Gunter Grimm in Rezeptionsgeschichte: „Vom literatursoziologischen Standpunkt aus gehört die Rezeption ebenso zum Kontext der Kunst wie deren Produktion.“ 165 Wir sind hier recht weit von den einseitigen Thesen aus Jaußʼ Literaturgeschichte als Provokation entfernt. Die Rezeptionstheorie hat sich noch in einer anderen Hinsicht von diesen Thesen entfernt: Sie beherzigt die Kritik der ostdeutschen Marxisten an Jaußʼ vorwiegend literarischer oder literaturimmanenter Definition des „Erwartungshorizonts“. Zu Recht ist in Gesellschaft, Literatur, Lesen im Zusammenhang mit dieser Definition von „einem ausschließlich literarisch, nicht soziologisch vorgegebenen ‚Erwartungshorizont‘“ 166 die Rede. In letzter Zeit haben vor allem Literatursoziologen wie Jacques Leenhardt versucht, die literarischen Erwartungen von Gruppen mit Hilfe von außer- VI. Die Rezeptionsästhetik zwischen Hermeneutik und Phänomenologie 282 167 Siehe: R. T. Segers, The Evaluation of Literary Texts: An Experimental Investigation into the Rationalization of Value Judgments with Reference to Semiotics and Esthetics of Reception, Lisse, Peter de Ridder, 1978 (vor allem Kap. 6: „Some Implications of the Experimental Method for the Study of Literature“). 168 M. Naumann et al., Gesellschaft, Literatur, Lesen, op. cit., S. 136. 169 Siehe: J. Leenhardt, P. Józsa, Lire la lecture. Essai de sociologie de la lecture, Paris, Le Sycomore, 1982. 170 J. Jurt, „Für eine Rezeptionssoziologie“, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturge‐ schichte Nr. 1-2, 1979; ders., La Réception de la littérature par la critique journalistique. Lectures de Bernanos (1926-1936), Paris, Jean-Michel Place, 1980. Zu den Rezeptions‐ theorien von Escrapit, Jurt und Leenhardt vgl. P. V. Zima, Manuel de sociocritique, Paris, L’Harmattan, 2000, S. 215-222. literarischen Faktoren (wirtschaftlichen Positionen, politischen Orientie‐ rungen und Ideologien) zu erklären. In den Niederlanden versucht Rien T. Segers, die Erwartungshorizonte von Gruppen mit Hilfe von soziologischen Begriffen wie „Norm“, „Wert“ und „Rolle“ näher zu bestimmen und so über den rein literarischen Bereich hinauszugelangen. 167 Die Differenzierung der kollektiven Erwartungen und Erwartungshori‐ zonte, die auf verschiedenen Ebenen sowohl Leenhardt als auch Segers vornehmen, hängt mit einem anderen wesentlichen Einwand zusammen, den die ostdeutschen Marxisten gegen die Konstanzer Rezeptionsästhetik vorbrachten: „Um welches konkrete Publikum es sich nämlich handelt, das als eine derart energetische Kraft den Literaturprozeß trägt, wird von Jauß nicht näher bestimmt. Für ihn existiert nur ein Publikum schlechthin, das einzig in seiner Eigenschaft als Literaturrezipient gekennzeichnet wird.“ 168 Der Publikumsbegriff, der bei Jauß undifferenziert bleibt (auch deshalb, weil Jauß sich vorwiegend für die Rezeption einzelner Werke durch einzelne Schriftsteller interessiert: s.o), wird in rezeptionssoziologischen Studien - etwa in Leenhardts und Józsas Lire la lecture (1982) - differenziert und nu‐ anciert: Die Rezeption eines Romans wie Georges Perecs Les Choses nimmt in sechs Berufsgruppen mit unterschiedlichen, z.T. widersprüchlichen ideo‐ logischen Dispositionen verschiedene Formen an. 169 Die Heterogenität der Literaturkritik untersucht auch Joseph Jurt in seinen literatursoziologischen Studien zur Rezeption von Georges Bernanos in Frankreich (1926-1936). Er zeigt u. a., daß die Rezeption durch die Kritiker ebenfalls gruppenspezifi‐ schen Charakter hat und ideologisch bedingt ist. 170 Zu ähnlichen soziologi‐ 5. Zwischen Konstanzer Rezeptionsästhetik und marxistisch-leninistischer Rezeptionstheorie 283 171 Siehe: G. Köpf (Hrsg.), Rezeptionspragmatik, München, Fink, 1981; H. Weber (Hrsg.), Aufforderungen zum literaturdidaktischen Dialog, Paderborn, Schöningh, 1978; W. Delanoy, Kreatives Textverstehen. Theoretische Entwicklung und empirische Erprobung einer produktionsorientierten Interpretationsmethode für den fremdsprachigen Literatur‐ unterricht, Diss., Klagenfurt, 1988. schen Differenzierungen tendieren Vertreter der Rezeptionspragmatik und der Rezeptionsdidaktik. 171 Nicht um ihre z.T. sehr anregenden empirischen Ergänzungen der Rezeptionsästhetik als „partialer Methode“ ging es hier, sondern um den Gedanken, daß vom Dialog zwischen zwei grundverschiedenen ästhetischen Positionen - ähnlich wie vom Dialog zwischen Formalisten und Marxisten - Vorschläge und kritische Impulse ausgehen, die für die Literaturwissen‐ schaft lebenswichtig sind. VI. Die Rezeptionsästhetik zwischen Hermeneutik und Phänomenologie 284 1 Siehe z. B. J. Trabant, Zur Semiologie des literarischen Kunstwerks, München, Fink, 1970; H. Sturm, A. Eschbach (Hrsg.), Ästhetik und Semiotik. Zur Konstitution ästhetischer Zeichen, Tübingen, Narr, 1981; G. Cornu, „Pour une sémiologie de lʼœuvre artistique“, in: Semiotica 75, 1/ 2, 1989; B. van Heusden, „Theoretische Literatuurwetenschap en semiotiek“, in: Forum der Letteren 30, 2, 1989. 2 E. Garroni, „La filosofia e i rapporti facili/ difficili di estetica e semiotica“, in: E. Garroni (Hrsg.), Estetica e linguistica, Bologna, Il Mulino, 1983, S. 24-25. 3 Zur Beziehung zwischen Ideologie und Ästhetik siehe: T. Eagleton, Criticism and Ideology, London, NLB, 1976. 4 M. Bense, „Die semiotische Konzeption der Ästhetik“, in: Zeitschrift für Linguistik und Literaturwissenschaft, Jg. 7, Heft 27/ 28, 1977, S. 190. VII. Die Ästhetiken der Semiotik: Drei Modelle Angesichts der Krise der philosophischen Ästhetik (siehe Einleitung) wur‐ den in der Vergangenheit häufig die Beziehungen zwischen Ästhetik und Semiotik thematisiert. 1 In den 1960er und 70er Jahren meinten viele, die Semiotik als Zauberschlüssel zum hermetischen Text und zum Kunstwerk schlechthin verwenden zu können. In Max Benses Aesthetica (1965) wird sogar eine wissenschaftliche, quantitative („numerische“) Ästhetik auf semiotischer Grundlage entworfen, und die Semiotik wird als „strenge Wissenschaft“ dem Modell der Physik angenähert. Der Entwurf gründet auf dem von Emilio Garroni später kritisierten optimistischen Postulat, „daß eine semiotische Betrachtungsweise in der Lage sei, eine ästhetische Betrachtungsweise aufzuheben (esaurire in sé una considerazione estetica)“. 2 Vertreter der zeitgenössischen Semiotik sind inzwischen bescheidener geworden, zumal sich gezeigt hat, daß es nicht eine homogene Semiotik gibt, sondern verschiedene, miteinander konkur‐ rierende semiotische Ansätze, von denen ein jeder auf einer besonderen Ästhetik und Ideologie gründet. 3 Wenn Max Bense Ende der 1970er Jahre arglos bemerkt, „als Semiotik benutz(e) (er) natürlich die theoretisch-pragmatische Semiotik vom peirce‐ schen Typ mit allen ihren der Basistheorie zugeordneten heutigen Erweite‐ rungen“ 4 , so zeigt er, ohne es zu wollen, wie methodologische Naivität eine ideologische Funktion erfüllen kann: Die Wahl einer bestimmten Philoso‐ phie (hier des Peirceschen Pragmatismus) sollte als bewußte Entscheidung für eine bestimmte ideologische Position reflektiert werden. Im Falle von Bense haben wir es mit einem ideologischen Individualismus zu tun, dem im 5 M. Bense, Aesthetica, Baden-Baden, Agis, 1965, S. 271. 6 Ibid., S. 33. 7 Ibid., S. 265. 8 Ibid., S. 268. 9 M. Bense, Die Realität der Literatur. Autoren und ihre Texte, Köln, Kiepenheuer und Witsch, 1971, S. 27. wissenschaftstheoretischen Bereich ein neopositivistischer Szientismus und im ästhetischen Bereich eine antihegelianische Einstellung homolog sind. Auf beide Aspekte möchte ich hier kurz eingehen, um zu verdeutlichen, daß es keine Semiotik mit Universalanspruch (also als „strenge Wissen‐ schaft“ im Sinne der Physik) geben kann und daß jedem semiotischen Ansatz eine partikulare - d. h. nur kontingente, nur mögliche - Ästhetik entspricht. In Übereinstimmung mit dem Szientismus der 60er Jahre stellt Bense in Aesthetica programmatisch fest: „Es gibt, wie gesagt, nicht nur eine moderne Physik und eine moderne Logik, für die der souveräne Gebrauch, den sie von der mathematischen Sprache machen, typisch ist, es gibt auch eine moderne Ästhetik, die sich ebenfalls in zunehmendem Maße jener exakten Ausdrucksweise bedient.“ 5 Im Gegensatz zu den metaphysischen Ästhetiken des 19. Jahrhunderts (Hegels, Schellings) geht die Informationsästhetik Benses als „mathemati‐ sche Ästhetik“ „nicht mehr subjektiv interpretierend, sondern objektiv feststellend vor“. 6 In diesem szientistischen Kontext nimmt es nicht wunder, wenn Bense den von Benjamin und Adorno gesuchten „Wahrheitsgehalt“ der Kunstwerke kurzerhand durchstreicht und die „ästhetische Nachricht“ - ohne Rücksicht auf die konservativen Konnotationen des „Schönen“ - auf Schönheit festlegt: „Der ästhetische Prozeß als Zeichenprozeß ist ein Prozeß, der Seiendes in Zeichen vermittelt und dem es nicht um Wahrheit, sondern um Schönheit geht.“ 7 Den Wert der ästhetischen Nachricht sucht Bense in Übereinstimmung mit den russischen Formalisten und der europäischen Avantgarde im Bereich der Innovation, „und nur so weit ein Kunstwerk Innovation enthält, gibt es ästhetische Information“. 8 Die Ausrichtung seiner Theorie auf die avantgardistische Praxis kommt wohl am klarsten in seinen Essays Die Realität der Literatur zum Ausdruck, von denen der Autor selbst sagt, sie seien als „eine vollkommene Einleitung in das Gesamtwerk Francis Ponges“ 9 zu lesen. (Lange vor dem Nouveau Roman setzte sich der avantgardistische Dichter Ponge [1899-1988] für eine objektivistische Schreibweise ein, welche die Darstellung subjektiver Ansichten und Empfindungen ausschließt.) VII. Die Ästhetiken der Semiotik: Drei Modelle 286 10 Siehe: L. Althusser, Lénine et la philosophie, Paris, Maspero, 1972, S. 53-54. 11 M. Bense, Aesthetica, op. cit., S. 317. 12 Ibid., S. 332: „Gerade insofern historisch und kritisch Innovation bzw. Originalität zum Wesen des Kunstwerks gehört, verfällt auch Kunst der Idee des Fortschritts.“ 13 Siehe z. B. M. Bense, Semiotische Prozesse und Systeme in Wissenschaftstheorie und Design. Ästhetik und Mathematik, Baden-Baden, Agis, 1975. In Anbetracht seines Szientismus und seiner Nähe zur Praxis der Avant‐ garde (Ponge, Gertrude Stein) kann Benses Ablehnung der hegelianischen Ästhetik kaum noch überraschen. Ähnlich wie Althusser, der sich auf Galilei beruft, um einen szientistischen Marxismus zu begründen 10 , spielt Bense eine „physikalische“ Ästhetik gegen die hegelianische Metaphysik aus: „Wenn ich für einen Augenblick geschichtlich, nicht theoretisch denken darf, so möchte ich, rückblickend, zwischen zwei umfassenden möglichen Typen von Ästhetiken unterscheiden, dem hegelschen Typ und dem galileischen Typ.“ 11 Benses Entscheidung für den galileischen (numerischen, mathemati‐ schen) Typ bringt nicht nur einen Verzicht auf Interpretation mit sich, sondern auch eine Trennung der ästhetischen von der „semantischen Infor‐ mation“: Die ästhetische Nachricht hat als Information und Innovation eine rein materielle Bedeutung im Bereich des „Schönen“. Die Kunst als ganze ist nur als Innovationsprozeß, als Fortschritt denkbar. 12 Spätestens an dieser Stelle tritt der partikulare, kontingente Charakter dieser semiotischen Informationsästhetik zutage: der Fortschrittsglaube der Avantgarde und eine Wissenschaftsgläubigkeit, die dem Nachdenken über die Partikularität der eigenen ästhetischen und ideologischen Position einen Riegel vorschieben. Nicht diese Partikularität ist der Grund, weshalb ich mich in diesem Kapitel nicht ausführlicher mit Bense befasse, sondern der Umstand, daß seine Ästhetik als Semiotik methodologisch zwar recht spezifisch ist, durch ihre Ausrichtung auf die Kunst allgemein und auf andere ästhetische Erscheinungen wie das Design 13 aber so diffus wird, daß sie kaum als literarische Ästhetik aufgefaßt werden kann: Sie ist zu allgemein, zu weitmaschig, um die sprachlichen Strukturen literarischer Texte erfassen zu können. Ihr partikularer - szientistischer und avantgardistischer - Charakter läßt jedoch deutlich erkennen, daß es eine allgemeingültige, der Physik oder Mathematik vergleichbare Semiotik der Kunst oder Literatur nicht geben kann, weil einer jeden Semiotik eine besondere Ideologie und folglich eine nur mögliche Ästhetik (als Ensemble von Werturteilen) zugrunde liegen. VII. Die Ästhetiken der Semiotik: Drei Modelle 287 14 Zur Stellung der Ästhetik zwischen Philosophie, Wissenschaft und Technik siehe: M. Franz, „Ästhetik zwischen Philosophie, Wissenschaftsdisziplin und Techne-Diskursen“, in: K. Hirdina, R. Reschke (Hrsg.), Ästhetik. Aufgabe(n) einer Wissenschaftsdisziplin, Freiburg, Rombach, 2004, S. 126-127. 15 P. Ricœur, Le Conflit des interprétations, Paris, Seuil, 1969, S. 67. Siehe auch: P. Ricœur, Discours et communication, Paris, L’Herne, 2005, S. 54-56. Dies ist der Grund, weshalb hier nicht von der Ästhetik, sondern den Ästhetiken der Semiotik die Rede ist. 14 Über die Heterogenität dieser Ästhetiken scheint sich auch Paul Ricœur hinwegzusetzen, wenn er in Le Conflit des interprétations (1969) Linguistik und Semiotik als Wissenschaften auffaßt, die den Text eher als geschlos‐ sene Bedeutungseinheit betrachten, während sich die Hermeneutik vom Gedanken an die Offenheit des Zeichenuniversums leiten läßt: „Lʼhermé‐ neutique est sous le régime de lʼouverture de lʼunivers des signes.“ 15 Im folgenden gilt es zu zeigen, daß es im Bereich der Semiotik sowohl Theorien gibt, die der Offenheit und der grenzenlosen Interpretierbarkeit der Texte huldigen (Barthes), als auch Theorien, die im Gegensatz zu Bense und Barthes darauf aus sind, den literarischen Text auf eine Bedeutung, auf eine semantische Struktur oder „Nachricht“ festzulegen (Greimas). Wie bisher will ich versuchen, die verschiedenen theoretischen und methodologischen Perspektiven mit den im ersten Kapitel dargestellten philosophischen und ästhetischen Positionen zu verknüpfen. Dabei wird sich zeigen, daß der im vierten, fünften und sechsten Kapitel dominierende Gegensatz zwischen Kant und Hegel von einem triadischen Spannungsver‐ hältnis zwischen den Positionen Kants, Hegels und Nietzsches abgelöst wird. Roland Barthesʼ Entdeckung der Leserrolle ist eher im Zusammenhang mit Nietzsches Kritik der Metaphysik und der Wahrheit als im Anschluß an Kants Wirkungsästhetik zu verstehen. 1. Roland Barthesʼ nietzscheanische Ästhetik des Signifikanten Wer sich wie Barthes (1915-1980) zeit seines Lebens gegen Kants asketische Ethik und Hegels Logozentrismus gewehrt hat, der wird sich von Nietzsches Kritik der Moral, der begrifflichen Wahrheit und des philosophischen Systems ebenso angezogen fühlen wie von seinem Plädoyer für den me‐ taphorischen Ausdruck, für Ambivalenz, Offenheit und Sinnlichkeit; für VII. Die Ästhetiken der Semiotik: Drei Modelle 288 16 Vgl. G. Abel, Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, Berlin-New York, de Gruyter, 1998 (2. Aufl.), Kap. VI: „Interpretation als Fundamental‐ vorgang“. 17 R. Barthes, Le Bruissement de la langue. Essais critiques IV, Paris, Seuil, 1984, S. 275-276. 18 R. Barthes, Kritik und Wahrheit, Frankfurt, Suhrkamp, 1967, S. 59. 19 R. Barthes, Sade, Fourier, Loyola, Frankfurt, Suhrkamp, 1974, S. 11. Zufall und Spiel; für die Musik. Alle diese Elemente sind junghegelianischen Ursprungs (vgl. Kap. I und III) und lassen vermuten, daß Barthes mit den Mitteln der Semiotik oder Semiologie eine „Logik des Zerfalls“ entfaltet, die die Junghegelianer und Nietzsche eingeleitet haben. In zahlreichen Schriften wendet er sich gegen die metaphysische Wahr‐ heitssuche und bezieht sich immer wieder auf Nietzsche, etwa wenn es gilt, das theoretische Wissen als „Fiktion“ zu entlarven: Es gibt keine Fakten, nur Fiktionen. „Das Wissen“, bemerkt er im Anschluß an Nietzsche 16 , „wäre schließlich eine Fiktion der Interpretation.“ 17 Das rationalistische und hegelianische Jonglieren mit Begriffen, das sich allzusehr auf den Intellekt verläßt, ist ihm suspekt. Schon in Critique et vérité (1966) heißt es: „Seither haben immer wieder Schriftsteller, zum Beispiel Sade und Nietzsche, die Regeln intellektueller Darlegung verbrannt und übersprungen.“ 18 Ihnen folgt Barthes, wenn er in Sade, Fourier, Loyola (1971) das metaphori‐ sche Spiel mit den Signifikanten der begrifflich-wissenschaftlichen Analyse vorzieht, wenn er die Diskurse des libertin, des utopischen Sozialisten und des Stifters der Gesellschaft Jesu nicht auf der Inhaltsebene, sondern auf der des Ausdrucks beschreibt. Nicht Sades Sexualphilosophie, Fouriers Sozialismus und Loyolas Christentum werden thematisiert, sondern ihre Sprachspiele, ihr Spiel mit dem vieldeutigen Signifikanten, das nicht zusam‐ mengefaßt, nicht auf ein Signifikat festgelegt werden kann: „Sprache, als Feld des Signifikanten, inszeniert Bezüge des Insistierens und keine Bezüge der Konsistenz: Zentrum, Gewicht und Sinn verlieren ihren Stellenwert.“ 19 Die drei Schriftsteller werden ästhetisch-semiotisch als Begründer von Sprachen („fondateurs de langues“) aufgefaßt, nicht als Vertreter von Welt‐ anschauungen. Wie Nietzsche wendet sich Barthes gegen die begriffliche Allgemeinheit, die die Wissenschaft anstrebt und verkörpert. Immer wieder geht er auf den Kampf der Literatur gegen diese abstrakte Allgemeinheit ein, die auch der Sprache als System anhaftet: „Da die Sprache allgemein (und folglich moralisch) ist, ist die Literatur zur Allgemeinheit verdammt (condamnée à 1. Roland Barthesʼ nietzscheanische Ästhetik des Signifikanten 289 20 R. Barthes, Le Bruissement de la langue, op. cit., S. 261. 21 Ibid., S. 262. 22 F. Nietzsche, „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“, in: ders., Werke, Bd. 5 (Hrsg. K. Schlechta), München, Hanser, 1980, S. 313. 23 R. Barthes, Die Lust am Text, Frankfurt, Suhrkamp, 1974. 24 A. Herschberg Pierrot, in: R. Barthes, Le Lexique de l’auteur. Séminaire de l’Ecole pratique des hautes études 1973-9174 suivi de Fragments inédits du „Roland Barthes par Roland Barthes“, Paris, Seuil, 2010, S. 24. l’universel) (…).“ 20 Sie soll versuchen, aus dieser Gefangenschaft im Abstrak‐ ten und Allgemeinen auszubrechen: „Sie soll töten, was sie hervorbrachte (…).“ („Elle doit tuer ce qui lʼa engendrée…“) 21 Wie Nietzsche möchte sich Barthes - zumindest in seinem Spätwerk - dem Text begriffslos nähern, um das Begehren und die Lust, die vom Text ausgehen, nicht im Keime zu ersticken. Wie der Junghegelianer und Hegel-Kritiker möchte er das Besondere und Individuelle in Sprache und Literatur vor dem Zugriff der begrifflichen Abstraktion bewahren. Er würde Nietzsche zustimmen, wenn dieser schreibt: „Das Übersehen des Individu‐ ellen und Wirklichen gibt uns den Begriff, wie es uns auch die Form gibt, wohingegen die Natur keine Formen und Begriffe, also auch keine Gattun‐ gen kennt, sondern nur ein für uns unzugängliches und undefinierbares X.“ 22 Nach diesem unzugänglichen X scheint Barthes mit Nietzsche und Adorno die Hand auszustrecken, wenn er in Übereinstimmung mit Nietzsche, der den anthropologischen Gattungsbegriff anzweifelt, die literarischen Gattun‐ gen radikal in Frage stellt und in Le Plaisir du texte jenseits der syntaktischen Zwangsmechanismen des Sprachkörpers habhaft werden möchte. 23 Zum Seminar, das Barthes in den Jahren 1973 und 1974 abhielt, bemerkt Anne Herschberg Pierrot: „Um das Seminar zu definieren, bezieht sich Barthes von Anfang an auf Nietzsches ‚Perspektivismus‘, auf seine Kritik der Wissenschaft.“ 24 Tatsächlich betrachtet der späte Barthes den Anspruch der Wissenschaft, jenseits des Alltagswissens objektive, überprüfbare Wahrhei‐ ten verkünden zu können, mit Skepsis. Insofern kann er - zumindest in der Spätphase seiner Entwicklung - als Nietzscheaner gelesen werden. Als Schüler Jakobsons und der russischen Formalisten steht er zwar Kant nahe, wenn es gilt, die Autonomie der Kunst in deren Vieldeutigkeit und Begriffslosigkeit zu verankern; seine Einstellung zu Kants Begrifflich‐ keit ist jedoch die Nietzsches. Über sie schreibt Karl Heinz Bohrer: „War Kant der ‚Einbildungskraft‘, die von der Dichtkunst freigesetzt werde, weit entgegengekommen, so hatte er sie doch ‚innerhalb der Schranken VII. Die Ästhetiken der Semiotik: Drei Modelle 290 25 K. H. Bohrer, Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt, Suhr‐ kamp, 1981, S. 118. 26 R. Barthes, LʼObvie et lʼobtus. Essais critiques III, Paris, Seuil, 1982, S. 239. 27 R. Barthes, Sade, Fourier, Loyola, op. cit., S. 188. 28 Siehe: R. Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt, Suhrkamp, 1988, wo die „Figur“ eine Art Bindeglied zwischen Theorie, Literatur und Literaturkritik bildet. Vgl. dazu: R. Barthes, Le Discours amoureux. Séminaire à l’Ecole des hautes études 1974-1976 suivi de Fragments d’un discours amoureux: inédits (Hrsg. E. Marty), Paris, Seuil, 2007, S. 288: „La Figure“. eines gegebenen Begriffs‘ gedacht. Nietzsche scheitert nicht am Begriff, wie etwa noch Winckelmann, sondern gibt ihn bewußt auf.“ 25 Ähnliches ließe sich mit Einschränkungen von Barthes sagen, der die strukturale Methode zugunsten einer anarchischen Textauffassung preisgibt, in der der schillernde Signifikant dominiert. Der „ideale“ Signifikant ist die reine phoné der Musik, und es ist sicher‐ lich kein Zufall, daß sich Barthes unter ähnlichen Voraussetzungen wie Nietzsche der Musik zuwendet, die sich in noch viel stärkerem Maße als die vieldeutige Literatur des Signifikats, des Begriffs entledigt hat. Wenn Barthes in „Le Grain de la voix“ (1972) von der „Wollust (der) Laut-Signifi‐ kanten“ 26 der Sprache spricht, so antizipiert er nicht nur Le plaisir du texte (1973), sondern evoziert zugleich das Nichtrationale, das Dionysische im Sinne von Nietzsche. Diesem entspricht nicht nur sein penchant für das Sinnliche und Natürli‐ che, sondern auch seine Freude an Zufall und Spiel: „Nicht die Wahrheit führt meine Hand, sondern das Spiel, die Wahrheit des Spiels.“ 27 Das Spiel ist allerdings nur in der Offenheit, jenseits des begrifflichen Systems, möglich. Und dies ist der Grund, weshalb Barthes im Gegensatz zu anderen Vertretern der sogenannten Nouvelle Critique nicht die Begründung einer Methode ins Auge faßte, sondern die Annäherung der theoretischen an die literarische Schreibweise. 28 Auch darin gleicht er Nietzsche: Einige seiner „Fragmente“ und Aphorismen erinnern an die fragmentarischen, antisystematischen Texte seines Vorgängers. Seine Stellung innerhalb der Nouvelle Critique der 60er Jahre ist insofern zweideutig, als er im Anschluß an die von Tzvetan Todorov (1965) übersetz‐ ten Texte der russischen Formalisten und in Übereinstimmung mit einigen Vertretern der Semiotik (Greimas, Kristeva) versuchte, eine strukturale Literaturwissenschaft zu entwickeln, zugleich aber den Logozentrismus von 1. Roland Barthesʼ nietzscheanische Ästhetik des Signifikanten 291 29 R. Barthes, Essais critiques, Paris, Seuil, 1964, S. 268. 30 R. Barthes, Sur Racine, Paris, Seuil, 1963, S. 11. Greimasʼ Semiotik, Goldmanns Literatursoziologie und Charles Maurons Psychoanalyse ablehnte. Er tat es ohne unfaire Polemik, aber mit Entschiedenheit. In „Littérature et signification“ (1963) wirft er Goldmann und Mauron vor, den vieldeutigen Signifikanten deterministisch auf soziologische und psychologische Bedeu‐ tungen festzulegen: „Im Falle von Goldmann (…) ist stets das Risiko da, daß der Signifikant als Produkt eines gesellschaftlichen Zustandes erscheint, wobei die Bedeutung in Wirklichkeit dazu da ist, das alte deterministische Schema zu verdecken; und im Falle von Mauron kann derselbe Signifikant nur mit Mühe vom Ausdruck (expression) abgelöst werden, der der alten Psychologie so am Herzen liegt (…).“ 29 Komplementär dazu hebt er in Sur Racine (1960) den Rätsel- und Fra‐ gecharakter des literarischen Textes hervor, um anzudeuten, daß weder der soziologische noch der psychoanalytische Sinn ein für allemal fixiert werden kann; denn „man hört nie auf, das zu beantworten, was jenseits aller Antworten geschrieben wurde: die Bedeutungen, die festgesetzt, später von rivalisierenden Bedeutungen verdrängt werden, vergehen, aber die Frage bleibt“. 30 Hier zeigt sich, daß die semiotische oder linguistische Textbetrachtung nicht, wie Ricœur meint, die hermeneutische Offenheit des Textes negiert. Im Gegenteil, Barthes geht ähnlich wie Jauß von der hermeneutischen Überlegung aus, daß der literarische Text jederzeit eine neue Antwort auf seine Fragen erheischt. Das bisher Gesagte, vor allem der Vergleich mit Nietzsche, könnte den Eindruck erwecken, als sei Barthesʼ gesamte Ästhetik die einer radikalen Polysemie, welche jeder wissenschaftlichen Praxis widerstrebt. Es gilt daher zu differenzieren und zu zeigen, daß der hier skizzierte Radikalismus zwar Barthesʼ Gesamtwerk durchzieht (davon zeugen seine Bemerkungen in Sur Racine), daß aber seine nietzscheanische Ästhetik des vieldeutigen Signifikanten vor allem für die 1970er Jahre kennzeichnend ist, für eine Zeitspanne also, in der S/ Z (1970), Fragments dʼun discours amoureux (1977) und Leçon (1978) erschienen sind. Barthes selbst teilt seine Entwicklung in drei Phasen ein, wenn er in LʼAventure sémiologique (1985) bemerkt, im ersten Abschnitt seiner Lauf‐ bahn habe er in erster Linie eine Kritik der „kleinbürgerlichen Mythen“ und Ideologien mit Hilfe der Semiologie als kritischer Wissenschaft anvisiert: VII. Die Ästhetiken der Semiotik: Drei Modelle 292 31 R. Barthes, Das semiologische Abenteuer, Frankfurt, Suhrkamp, 1985, S. 9. 32 Ibid. 33 Ibid., S. 10. 34 Siehe: R. Enthoven (Hrsg.), Barthes, Paris, Fayard, 2010, S. 77-80. 35 Ibid., S. 11. „Die Semiologie der Zukunft mit ihrem Programm und ihren Aufgaben erschien mir damals als die grundlegende Methode der Ideologiekritik.“ 31 In diese erste Phase gehören Le Degré zéro de lʼécriture (1953) und Mythologies (1957). „Der zweite Abschnitt“, fährt Barthes fort, „war der der Wissenschaft, oder zumindest der Wissenschaftlichkeit.“ 32 In dieser Zeit nahm er sich vor, im semiotischen Bereich „eine Systematik zu erproben“, und schrieb Système de la mode (1967). „Die Lust am System“, erläutert er, „ersetzte bei mir das Über-Ich der Wissenschaft: Darin kündigte sich bereits der dritte Abschnitt dieses Abenteuers an: der gleichgültigen (adiaphorischen, hieß es bei Nietzsche) Wissenschaft gegenüber gleichgültig, drang ich in den Signifikanten ein, in den Text.“ 33 Eine ähnliche Einteilung von Barthesʼ Entwicklung nehmen in einem Gespräch Raphael Enthoven und Antoine Compagnon vor: vom System, vom Marxismus und Strukturalismus zu einem essayistischen, von Nietzsche beeinflußten Schreiben. 34 Barthesʼ dritte Phase ist also die des Textes. Sie ist zugleich eine nietz‐ scheanische Phase, in der der Machtanspruch des Signifikats oder Begriffs radikal in Frage gestellt wird und Bezeichnungen wie „Werk“, „Autor“ und „Subjekt“ als Ideologeme kritisiert werden: Sie sind alle mit dem Signifikat als „Wahrheit“ und „wahre Bedeutung“ liiert. Dies bedeutet allerdings nicht, daß sich Barthesʼ nietzscheanische Kritik am Signifikat (am Begriff) und an der Metaphysik auf diese Phase seiner Entwicklung beschränkt; sie rückt aber mit S/ Z (1970) in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen und beherrscht in den 70er Jahren sein Denken. Dies ist der Grund, weshalb ich mich im folgenden auf diesen Zeitabschnitt konzentrieren will. Was ist ein Text? Eine eindeutige Definition ist bei Barthes schwer zu finden; dafür bietet er aber zahlreiche Abgrenzungen an, in denen der Text „grundlegend vom literarischen Werk“ unterschieden, nicht als „ästhetisches Produkt“, sondern als „signifikante Praxis“ umschrieben und nicht mit der „Struktur“, sondern mit der „Strukturierung“, der „Arbeit“ und dem „Spiel“ identifiziert wird. Er ist nicht eine geschlossene Einheit, deren Bedeutung freizulegen wäre, „sondern ein Volumen sich verschiebender Spuren“. 35 1. Roland Barthesʼ nietzscheanische Ästhetik des Signifikanten 293 36 Ibid. 37 R. Barthes, S/ Z, Frankfurt, Suhrkamp, 1987, S. 10-11. (Frz. Orig., S. 12.) 38 R. Barthes, Leçon / Lektion, Frankfurt, Suhrkamp, 1980, S. 24-25. 39 R. Barthes, LʼObvie et lʼobtus, op. cit., S. 111. Wesentlich für Barthes ist der ästhetische Nexus zwischen Text und Signifikant: „Die Instanz des Textes ist nicht die Bedeutung, sondern der Signifikant in der semiotischen und psychoanalytischen Verwendung dieses Terminus (…).“ 36 In S/ Z heißt es ergänzend, der ideale, schreibbare Text (vgl. weiter unten) sei „eine Galaxie von Signifikanten und nicht Struktur von Signifikaten“ („une galaxie de signifiants, non une structure de signifiés“). 37 Nicht besonders hilfreich ist eine für Barthesʼ großzügigen Sprachge‐ brauch charakteristische Erläuterung in Leçon: „Ich kann also unterschieds‐ los sagen: Literatur, Schreibweise oder Text.“ („Je puis donc dire indifférem‐ ment: littérature, écriture ou texte.“) 38 Bevor ich mich ausführlicher mit dem Textbegriff befasse und auf seine Anwendung in S/ Z eingehe, will ich zum Begriff des Signifikanten zurückkehren, der wohl der wichtigste Bestandteil von Barthesʼ Textbegriff ist. Soll der Signifikant im Sinne von Barthes konkret bestimmt werden, dann gilt es zu berücksichtigen, daß er häufig metaphorisch verwendet wird und nicht als Synonym von Saussures signifiant gelesen werden kann. Denn Barthesʼ Signifikant ist weitaus mehr als die phonetische Einheit des Zeichens: Er ist zugleich dessen graphischer Aspekt, er ist Klang im musikalischen Sinn, Bild in allen Bedeutungen dieses Wortes und im allgemeinen jedes vieldeutige Zeichen, das im Begriff nicht aufgeht. Barthes setzt Jacques Derridas Versuch fort, die écriture, die Schrift als graphische Praxis der parole, dem gesprochen Wort gegenüber aufzuwerten: „(…) Die Philosophie stellt (mit Jacques Derrida, dem Autor eines Buches, das nicht zufällig Grammatologie heißt) dem gesprochenen Wort die Eigen‐ ständigkeit der Schrift gegenüber: Der Buchstabe in seiner graphischen Substanz wird dadurch zu einer unaufhebbaren Idealität, die mit den tiefsten Erfahrungen der Menschheit verknüpft ist (…).“ 39 Der hier zitierte Text stammt aus Barthesʼ langer Betrachtung über „Erté ou A la lettre“ (1973), die im Zusammenhang mit Ertés berühmtem Alphabet, dessen Buchstaben von erotischen Figuren gebildet werden, Graphik und Bild aufwertet. Es gilt, den Buchstaben vom kommunikativen Zwang zu befreien, dem er in der empiristischen und rationalistischen Tradition des Abendlandes VII. Die Ästhetiken der Semiotik: Drei Modelle 294 40 Ibid., S. 110. 41 Ibid., S. 252. 42 R. Barthes, „Rasch“, in: Langue, discours, société. Pour Emile Benveniste, Sous la direction de J. Kristeva, J.-Cl. Milner, N. Ruwet, Paris, Seuil, 1975, S. 228. 43 R. Barthes, Le Bruissement de la langue, op. cit., S. 95. unterworfen wurde. Das Zeichen soll nicht länger „einfaches Instrument der Kommunikation“ 40 sein, sondern das Begehren und die Lust wecken. Komplementär zum graphischen Zeichen verhält sich die reine phoné der Musik, die bar aller kommunikativen Bedeutungen zu den Hörern spricht. „Die Musik ist gleichzeitig das, was der Text ausdrückt und implizit läßt: was ausgedrückt (…), aber nicht artikuliert wird: was sowohl außerhalb des Sinns als auch des Sinnlosen ist, was in jeder Hinsicht der signifiance angehört, die die heutige Texttheorie zu postulieren und zu bestimmen versucht.“ 41 Es ist wohl kein Zufall, daß der Nietzscheaner Barthes am Ende seines Artikels „La Musique, la voix, la langue“ (1977), den ich hier zitiert habe, den Wert der Musik in deren metaphorischem Charakter erblickt („dʼêtre une bonne métaphore“). Seine Verknüpfung von Musik und sprachlichem Ausdruck tritt noch klarer in seinen Kommentaren zu Schumann zutage, in denen noch einmal eine Beziehung zwischen Musik, Text und signifiance hergestellt wird: „Dank der Musik verstehen wir den Text als signifiance besser.“ („Par la musique, nous comprenons mieux le texte comme signifi‐ ance.“) 42 (Auf die Bezeichnung „signifiance“ will ich im folgenden noch eingehen.) Trotz seiner Exkurse in den Bereich der bildenden Künste und der Musik richtet Barthes sein Augenmerk vor allem auf den sprachlichen Signifikan‐ ten, den er jenseits aller westlichen Herrschaftsansprüche im Chinesischen und Japanischen entdeckt: in zwei Sprachen, deren Signifikanten sich für ihn als „sprachlosen“ Europäer von ihren Signifikaten abgelöst haben. Während er sich Antonionis Film über China ansieht, überkommt ihn das Gefühl, das „Rauschen der Sprache“ („le bruissement de la langue“) 43 zu vernehmen: ihre Musik, die den Hörenden ohne Begriffe, ohne Signifikate anspricht. Ein ähnliches Erlebnis beschreibt er in L’Empire des signes (1970), das nicht so sehr ein Buch über Japan ist, sondern über das Reich des reinen Lautes, der dem Europäer als vom Begriff befreit erscheint: „Nun zeigt sich, daß in diesem Lande ( Japan) das Reich der Signifikanten derartig ausgedehnt und um so vieles weiter als die Sprache ist, daß der Austausch der Zeichen trotz der Undurchsichtigkeit der Sprache und zuweilen gar wegen ihr einen 1. Roland Barthesʼ nietzscheanische Ästhetik des Signifikanten 295 44 R. Barthes, Das Reich der Zeichen, Frankfurt, Suhrkamp, 1981, S. 22-23. 45 Siehe: R. Barthes, Michelet par lui-même, Paris, Seuil, 1954. 46 Siehe: R. Barthes, Leçon / Lektion, op. cit., S. 10-11. 47 R. Barthes, Le Bruissement de la langue, op. cit., S. 233. 48 Ibid., S. 265. 49 R. Barthes, Das semiologische Abenteuer, op. cit., S. 161. faszinierenden Reichtum, eine bestrickende Beweglichkeit und Subtilität besitzt.“ 44 Barthes fühlt sich nur in diesem Reich der Laute wohl, in einer Welt, in der die Herrschaft des Begriffs so weit wie nur möglich zurückgedrängt wurde, in der das vieldeutige Zeichen die Freiheit der Phantasie gewährleis‐ tet. Es ist die Welt des Historikers Michelet, dem er eine längere Studie gewidmet hat 45 ‚ den er zu seinen Lieblingsautoren rechnet 46 und den er in Le Bruissement de la langue (1985) als den „Fürsten des Signifikanten“, „prince du signifiant“ 47 bezeichnet. Es ist natürlich auch die Welt Mallarmés, von dem Barthes sagt: „Erst Mallarmé hat in unserer Literatur die Vorstellung eines freien Signifikanten ermöglicht, auf dem nicht länger die Zensur des falschen Signifikats lastet (…).“ 48 Barthesʼ Kritik am Signifikat, die überall in seinem Werk sein parti pris für Polysemie begleitet, ist global als Kritik eines Denkens zu werten, das sich ausschließlich oder vorwiegend auf der Inhaltsebene (Hjelmslev) bewegt und die Autonomie der Ausdrucksebene vernachlässigt. Seine Abneigung gegen dieses Denken, das er vor allem mit dem cartesianischen Rationa‐ lismus identifiziert, ist zugleich eine Abneigung gegen den Rationalisten Saussure. In dessen Augen erscheint das Signifikat als die „Goldgarantie“ der Sprachwährung, der „an sich“ wertlosen Signifikanten: „Für Saussure sind der Sinn, die Arbeit und das Gold die Signifikate des Lautes, des Lohns und des Geldscheins: das Gold des Signifikats! so schallt es uns aus allen Hermeneutiken entgegen, aus diesen Semiologien, die bei der Bedeutung innehalten: Für sie begründet das Signifikat den Signifikant ganz genauso wie in der gesunden Geldwirtschaft das Gold die Währung begründet; eine typisch gaullistische Auffassung: Behalten wir die Goldwährung und Drückt Euch klar aus, so lauteten die zwei Losungen des Generals.“ 49 Es gibt jedoch einen zweiten Saussure, den Barthes gegen den Ratio‐ nalisten Saussure ausspielt: „den der Anagramme, der aus der lautlichen und semantischen Überfülle der archaischen Verse bereits die Moderne heraushört: nun ist Schluß mit dem Vertrag, der Klarheit, der Analogie und VII. Die Ästhetiken der Semiotik: Drei Modelle 296 50 Ibid., S. 163. 51 J.-J. Goux, Freud, Marx. Economie et symbolique, Paris, Seuil, 1973, S. 125: „Lʼaccent est mis dʼune façon unanime (dʼAristote à Martinet) sur la valeur dʼéchange des signes - leur fonction dans le procès de circulation.“ 52 Siehe: J. Kristeva, La Révolution du langage poétique. LʼAvant-garde à la fin du XIX e siècle: Lautréamont et Mallarmé, Paris, Seuil, 1974, S. 13 und S. 119-121. Siehe auch: M. Charvet, E. Krumm, Tel-Quel - unʼ avanguardia per il materialismo, Bari, Dedalo, 1974, S. 58: „Lʼautore e il suo discorso, espressione della sua coscienza, impallidiscono (…).“ 53 R. Barthes, Le Bruissement de la langue, op. cit., S. 207. 54 R. Barthes, S/ Z, op. cit., S. 173. 55 R. Barthes, Le Bruissement de la langue, op. cit., S. 228. dem Wert: anstelle des Goldes des Signifikats tritt das Gold des Signifikanten, das Metall der Poesie und nicht mehr das der Münzen“. 50 An dieser Stelle wird deutlich, wie stark Barthesʼ Theorie mit der Ästhetik, Sprach- und Kulturkritik der Tel-Quel-Gruppe verflochten ist: Auch andere Tel-Quel-Autoren wie Jean-Joseph Goux, Julia Kristeva, Philippe Sollers und Jean Ricardou verknüpften die Herrschaft des Logos, des Signifikats in der europäischen philosophischen Tradition („von Aristoteles bis Martinet“, Goux) 51 mit dem Tauschwert des Geldes. Auch sie verbanden die Kritik des Begriffs und des Logozentrismus mit einer radikalen Kritik an Bezeichnun‐ gen wie „Autor“, „Subjekt“ und „Werk“. 52 Barthes folgt ihnen, wenn er zugleich mit der Herrschaft des Signifikats („ce monstre: le Dernier Signifié“) 53 die Vorstellung von einem für das abgeschlossene und sinnvolle Werk verantwortlichen Subjekt in Frage stellt. Zusammen mit der letzten, „eigentlichen“, vom Autor intendierten Bedeu‐ tung wird das Autorensubjekt verabschiedet: „Von dem Autor wird immer verlangt, daß er vom Signifikat zum Signifikanten geht, vom Inhalt zur Form, vom Projekt zum Text (…).“ 54 Barthes hingegen faßt den literarischen Text anders auf: als ein offenes Zusammenspiel von Signifikanten, dem keine noch so gründliche Interpre‐ tation ein Ende bereiten kann, weil der Text als signifiance, d.h. als offener Bedeutungsprozeß, keinen Abschluß duldet. Somit wäre die signifiance als eine Offenheit (Unabschließbarkeit) des Textes zu definieren, die durch die Vorherrschaft des Signifikanten („lʼexcès du signifiant“, Barthes) 55 zustande kommt. Kurzum: Barthesʼ Textbegriff ist der der europäischen, spezifisch der fran‐ zösischen Avantgarde der 50er und 60er Jahre. Er stimmt weitgehend mit dem der Tel-Quel-Gruppe, des Nouveau Roman (Robbe-Grillet, Butor) und des Nouveau Nouveau Roman (Ricardou, Sollers) überein. Er geht allerdings 1. Roland Barthesʼ nietzscheanische Ästhetik des Signifikanten 297 56 R. Barthes, Essais critiques, op. cit., S. 69. 57 Siehe: L. H. Hoek, „Le Signe vide. Lecture sémiotique de LʼEmpire des signes“, in: Colloque Barthes. Peinture du signe, Rapports/ Het Franse boek (Amsterdam), no. spécial „Actes du Colloque Barthes“, 53. Jg. Nr. 2, 1983, S. 75: „La langue japonaise par contre nʼoffre que ‚la pure signifiance‘ (…) le signifiant détaché de son signifié, signifie sans détermination du sens.“ 58 R. Barthes, Le Grain de la voix. Interviews, Paris, Seuil, 1981, S. 182. 59 Ibid., S. 243. 60 S. Lagorio, Introduzione a Roland Barthes. Dalla semiologia alla teoria della scrittura, Firenze, Sansoni Editore, 1986, S. 71-73. 61 Vgl. Vf., Essay/ Essayismus. Zum theoretischen Potenzial des Essays: Von Montaigne bis zur Postmoderne, Würzburg, Königshausen und Neumann, 2012, Kap. 8: „Essay und Essayismus in der Postmoderne: Von Roland Barthes zu Jürgen Becker“. auf die Surrealisten, auf Bataille, Brecht, Mallarmé und - Nietzsche zurück. Wie wichtig gerade Robbe-Grillet und der Nouveau Roman für Barthes waren, zeigen die frühen Essais critiques (1964), in denen im Zusammenhang mit Robbe-Grillet von einem Verzicht auf Intentionalität, auf Bedeutung die Rede ist und davon, daß „die Literatur ihrer Definition nach formal ist“ („la littérature est par définition formelle“). 56 Hier wird nicht nur zusammen mit dem vieldeutigen Signifikanten die Ausdrucksebene in den Vordergrund gerückt, sondern die Literatur wird in den formalistisch-avantgardistischen Kontext gestellt, der seit dem russischen Formalismus und Futurismus die ästhetische Diskussion in Europa beherrscht. Auf diesen Kontext weist auch Leo H. Hoek in seinem Kommentar zu L’Empire des signes hin. 57 Barthesʼ avantgardistische Textauffassung geht nicht nur vom Signifikan‐ ten aus, sondern auch vom Begehren (désir) und von der Lust (plaisir) am Text, die beide nietzscheanischen Ursprungs sind. In einem der Gespräche, die in Le Grain de la voix (1981) veröffentlicht wurden, bemerkt er zum Verhältnis von Sinnlichkeit und Avantgarde: „Ermöglicht wird die Avant‐ garde immer dann, wenn der Körper schreibt und nicht die Ideologie.“ 58 In diesem Sinne sind Sade, Fourier und Loyola Vorläufer der Avantgarde, weil sie Sprachen des Verlangens oder Begehrens, „des langues du désir“ 59 , geschaffen haben. Dem avantgardistischen Versuch, durch Schreiben und Lesen das Verlan‐ gen und die Lust zu wecken, entspricht, wie Silvia Lagorio richtig bemerkt 60 , Barthesʼ fragmentarische, aphoristische und essayistische 61 Schreibweise, die sich der Herrschaft der Systeme in einer von der Technologie beherrsch‐ ten Gesellschaft entziehen möchte. Le Plaisir du Texte und Fragments dʼun VII. Die Ästhetiken der Semiotik: Drei Modelle 298 62 R. Barthes, S/ Z, op. cit., S. 9. 63 Ibid., S. 8. discours amoureux sind Fragmente eines Diskurses, deren Autor darauf bedacht ist, dem Leser nicht seine Freiheit zu nehmen, ihn nicht in ein diskursives System (als Makrosyntagma) einzusperren. Diese Offenheit, die er selbst praktiziert, verlangt Barthes auch von anderen Texten. Die Offenheit als signifiance wird bei ihm zum entscheiden‐ den Kriterium für die Bewertung eines Textes. Er unterscheidet in diesem Zusammenhang (vor allem in S/ Z) den lesbaren (lisible) vom schreibbaren (scriptible) Text: Während der „schreibbare“ Text (z. B. der Avantgarde) noch weitergeschrieben oder umgeschrieben werden kann, ist der „lesbare“ Text nur noch rezipierbar, jedoch nicht mehr als Modell für die Schrift oder „écri‐ ture“ zu verwenden. Der schreibbare Text, das ist die - stets zeitgenössische - Praxis der écriture selbst: „Der schreibbare Text ist ständige Gegenwart, und kein konsequentes Sprechen (das ihn zwangsläufig in Vergangenheit verwandeln würde) kann sich ihm aufstülpen. Der schreibbare Text, das sind wir beim Schreiben, bevor das nicht endende Spiel der Welt (die Welt als Spiel) durch irgendein singuläres System (Ideologie, Gattung, Kritik) durchschritten, durchschnitten, durchkreuzt und gestaltet worden wäre (…).“ 62 Nietzscheanisch ist hier der Sprachduktus, avantgardistisch die Intention: Es geht - wie schon in Le Degré zéro de l’écriture - darum, das Schreiben vom Gehäuse der Ideologie, der Gattung oder der Struktur zu befreien. Der Nietzscheaner, der Vertreter der Avantgarde wendet sich zugleich gegen den lesbaren, den klassischen, den toten Text: „Als Gegenüber des schreibbaren Textes etabliert sich also sein negativer, reaktiver Wert, sein Gegenwert: das was gelesen, aber nicht geschrieben werden kann: das Lesbare. Jeden lesbaren Text nennen wir einen klassischen Text.“ 63 In einer scharfsinnigen Darstellung von Barthesʼ Literaturbegriff unter‐ scheidet Vincent Jouve neben dem texte lisible und dem texte scriptible noch zwei weitere Textbegriffe in Barthesʼ Werk: den texte lisible univoque (den eindeutig lesbaren Text) und den experimentellen, nur deutbaren texte recevable. Während der eindeutige Text ein Produkt der Massenliteratur ist und als „geisttötend“ („poisseux“) empfunden wird, empfindet man den viel‐ deutigen, lesbaren Text (Racine, Sade, Balzac) als „angenehm“ („plaisant“) und den „schreibbaren“ (Mallarmé, Bataille, Sollers) als „genußbringend“ („jouissif “). Der texte recevable schließlich weckt „brennendes Interesse“: Er 1. Roland Barthesʼ nietzscheanische Ästhetik des Signifikanten 299 64 Siehe: V. Jouve, La Littérature selon Roland Barthes, Paris, Minuit, 1986, S. 53. 65 R. Barthes in: G. de Mallac, M. Eberbach, Roland Barthes, Paris, Editions Universitaires, 1971, S. 108. ist „brûlant“, aber in der „Jetztzeit“ nicht zu veröffentlichen („impubliable“); er ist im Gegensatz zum texte lisible der Text der Zukunft. 64 In diesem Zusammenhang analysiert Barthes in S/ Z Balzacs Novelle Sarrasine, deren Erzähler als erzählendes und erlebendes Ich der Madame de Rochefide die Lebensgeschichte des französischen Malers Sarrasine erzählt, der sich während seines Italienaufenthalts in den Sänger und Kastraten Zambinella verliebt, den er für eine außergewöhnlich schöne Frau hält. Es handelt sich um einen vieldeutigen, lesbaren (klassischen) Text, dem Barthes mit S/ Z einen Kommentar hinzufügt, dessen Titel zumindest ebenfalls vieldeutig ist. Denn S/ Z steht als eine Art Emblem für den Gegensatz zwischen dem Maler Sarrasine und dem Kastraten Zambinella, der zugleich die linguisti‐ sche Relevanzproblematik (stimmlos/ stimmhaft) evoziert: Die kulturellen Relevanzkriterien, die vom Gegensatz männlich/ weiblich ausgehen, werden durch die Erscheinung des Kastraten (weder männlich noch weiblich) grundsätzlich in Frage gestellt. Zur Vieldeutigkeit des Titels bemerkt Barthes selbst in einem Interview: „Es ist ein Titel, der so beschaffen ist, daß man ihn mit mehreren möglichen Bedeutungen versehen kann, und in dieser Hinsicht klingt im Titel eines der Vorhaben des Buches an: nämlich die Möglichkeiten einer pluralistischen Kritik aufzuzeigen, die es gestattet, einem klassischen Text mehrere Bedeu‐ tungen zu entnehmen.“ 65 Um die Offenheit von Balzacs Novelle zu demonstrieren, wendet Barthes zwei semiotische Begriffe an, die er auf seine Art definiert: den von Hjelms‐ lev eingeführten und in Eléments de sémiologie literaturwissenschaftlich erweiterten Begriff der Konnotation und den Begriff des Codes. Die Konno‐ tation ist ein Vorgang, in dem eine sekundäre Bedeutung entsteht, weil das Zeichen eines bestimmten Zeichensystems (etwa der natürlichen Sprache) in seiner Gesamtheit, also als Signifikant und Signifikat, in einem zweiten Zeichensystem (z. B. in einem literarischen Text) neue, d. h. konnotierte Bedeutungen annimmt. Barthes selbst bemerkt zum Konnotationsbegriff: „Die erste Mitteilung, die selbst aus einer Vereinigung von Signifikanten und Signifikaten besteht, wird aufgrund einer Art versetzten Bewegung zum bloßen Signifikanten VII. Die Ästhetiken der Semiotik: Drei Modelle 300 66 R. Barthes, Das semiologische Abenteuer, op. cit., S. 183. 67 L.-J. Calvet, Roland Barthes. Un regard politique sur le signe, Paris, Payot, 1973, S. 143. 68 R. Barthes, S/ Z, op. cit., S. 19. 69 Ibid., S. 23. 70 Ibid., S. 24. der zweiten Mitteilung, da sich nur ein Element der zweiten Mitteilung (sein Signifikant) auf die Gesamtheit der ersten Mittteilung erstreckt.“ 66 Es entsteht also ein konnotiertes Signifikat zweiten Grades. In seiner Analyse von Sarrasine versucht Barthes zu zeigen, wie vom Leser der Novelle verschiedene konnotierte Signifikate anhand von einigen im Text angelegten Codes realisiert werden. (Ihm ist es also, ähnlich wie Ingarden und Iser, um eine Art Ausschöpfung des Sinnpotentials des Textes durch den Leser zu tun.) Auch Barthesʼ Code- Begriff weicht von der ursprünglichen Bedeutung ab: Er bezeichnet nicht eine Struktur, deren Ele‐ mente einander wechselseitig bestimmen, sondern, wie Louis-Jean Calvet richtig bemerkt, eine Leseweise oder Leserichtung: „direction potentielle de lecture“. 67 Diese lenkt die Lektüre in bestimmte Bahnen und läßt das entstehen, was Barthes als lexie bezeichnet: „Für jede Lexie systematisch diese Signifikate ausfindig zu machen, geht nicht darauf aus, die Wahrheit des Textes (seine tiefe, strategische Struktur), sondern sein Plurales (…) festzulegen (…).“ 68 Dieses Plurale manifestiert sich in Barthesʼ Lektüre der Novelle im Zusam‐ menhang mit fünf Codes, „auf die nun alle Signifikate des Textes zugehen“ 69 : einem Code der Handlungen, der das kausale Textverständnis fundiert (Handlungsablauf); einem hermeneutischen Code, der mit dem Frage- und Antwortspiel des Textes übereinstimmt (Wer ist Zambinella? Lösung des Rätsels); einem semischen Code, der bestimmte semantische Merkmale der Protagonisten bündelt (die feminine Endung des Namens Sarrasine konnotiert im Französischen „Weiblichkeit“); einem symbolischen Code, der die Vieldeutigkeit („Multivalenz“, Barthes) des Textes artikuliert und mit dem Unbewußten im Sinne von Lacan (lʼordre symbolique“) kommuniziert; einem kulturellen oder Referenzcode schließlich, den Barthes mit dem etwas vagen Ausdruck „Zitate aus dem Schatz von Wissen und Weisheit“ 70 umschreibt. Er setzt sich aus Ideologemen zusammen, die Flaubert seinerzeit als idées reçues bezeichnet hat. In seiner konnotativen Lektüre von Sarrasine zeigt Barthes, wie die diversen Codes zusammenwirken, wie z. B. der kulturelle Code als System von Stereotypen die Dialoge zwischen Sarrasine und Zambinella beherrscht, 1. Roland Barthesʼ nietzscheanische Ästhetik des Signifikanten 301 71 Ibid., S. 122. 72 Ibid., S. 41. 73 A. J. Greimas, „Roland Barthes: una biografia da costruire“, in: Mitologie di Roland Barthes. I Testi e gli Atti (Hrsg. P. Fabbri, I. Pezzini), Parma, Società Produzioni Editoriali, 1986, S. 308. wie der Handlungscode die Spannung des Lesers steigert, wie schließlich im Rahmen des hermeneutischen Codes die Rätsel des Textes gelöst werden. Allerdings sorgt der symbolische Code dafür, daß die Offenheit des Textes erhalten bleibt, daß die Novelle in ihrer Pluralität auf sich selbst verweist: „(…) Der Balzacsche Buchstabe ist durchweg nur die ‚Transkription‘ eines anderen Buchstaben, dem des Symbols: der Euphemismus ist eine Sprache. In Wahrheit kann der Sinn eines Textes nichts anderes sein als das Plurale seiner Systeme (…).“ 71 Dieses „Plurale“ stellt Barthes im Zusammenhang mit Sarrasine anschaulich dar. Es fragt sich allerdings, ob er nicht - gleichsam malgré lui - eine Text‐ struktur aufdeckt, wenn er von der Allgegenwart des Kastrationsproblems in Sarrasine spricht und überzeugend nachweist, daß die ganze mondäne Gesellschaft, die in dieser Novelle dargestellt wird, in aktive und passive, kastrierende und kastrierte Akteure eingeteilt werden kann: „Das symboli‐ sche Feld ist also nicht das der biologischen Geschlechter, sondern das der Kastration: des kastrierend/ kastriert und des aktiv/ passiv. Dieses Feld (…) teilen sich auf pertinente Weise die Personen der Geschichte.“ 72 Wenn dies der Fall ist (und ich will es for argumentʼs sake glauben), dann fragt es sich, ob der semantische Gegensatz aktiv/ passiv (kastrierend/ kastriert auf der Ebene der Aktanten) nicht sowohl die semantische Grundlage der Novelle als auch deren narrativen Ablauf strukturiert. Hier scheint mir das bedenkenswert zu sein, was Greimas mit der ihm eigenen Ironie zu Barthesʼ semiotischer Praxis bemerkt, nämlich, daß sie „‚Tiefenstrukturen‘ aufdeckt, nur um sie zu verdammen“. 73 Tatsache ist, daß Barthes nur deshalb die „Offenheit“ der Novelle nach‐ weisen konnte, weil er den Offenheit implizierenden Konnotationsbegriff zu seinem Schlüsselbegriff gemacht und auf komplementäre semiotische Begriffe wie Tiefenstruktur, Isotopie und Aktantenmodell (siehe Abschn. 3) verzichtet hat. Wie man in den Wald (in die Novelle) hineinruft, so schallt es heraus: Hätte Barthes Begriffe der strukturalen Semiotik (Greimas) oder des genetischen Strukturalismus (Goldmann) angewandt, hätte er in der Novelle vielleicht eine Tiefen- oder Bedeutungsstruktur (aktiv/ passiv) vorgefunden VII. Die Ästhetiken der Semiotik: Drei Modelle 302 74 R. Barthes, „Textanalyse einer Erzählung von Edgar Allan Poe“, in: ders., Das semiolo‐ gische Abenteuer, op. cit., S. 267. 75 R. Barthes, in: Prétexte: Roland Barthes. Colloque de Cerisy, Paris, UGE (10/ 18), 1978, S. 83. 76 R. Barthes Le Bruissement de la langue, op. cit., S. 47. und hätte sie womöglich der Passivität der Männer in der mondänen Gesellschaft homolog erklärt… Daß der Konnotationsbegriff keine befriedigenden Resultate zeitigt, wenn er unabhängig von anderen semiotischen Grundbegriffen angewandt wird, zeigt nicht so sehr S/ Z, als vielmehr Barthesʼ „Textanalyse einer Erzählung von Edgar Allan Poe“ (1973), in der ebenfalls die Konnotationen im Mittel‐ punkt stehen: „Unser Ziel besteht darin, den Plural des Textes, die Offenheit seiner Signifikanz denken, vorstellen und erleben zu können.“ 74 Aber auch in diesem Fall, auf den ich hier aus Platzgründen nicht mehr eingehen kann, könnten semantische und narrative Strukturen nachgewiesen und die „Offenheit“ des Textes - seine Polysemie - relativiert werden. Dies mag einer der Gründe sein, weshalb Barthes von seiner Anwendung des Konnotationsbegriffs auf Poes Erzählung Herr Valdemar selbst nicht angetan war. „Als ich diese Analyse der ersten Seiten von Edgar Poe durchführte“, erklärt er im Juni 1977 in Cerisy, „wollte ich im Grunde sehen, ob ich wiederholen könnte, was ich mit Sarrasine getan hatte (…). Aber in Wirklichkeit konnte ich es nicht wiederholen; das heißt, ich habe es wiederholt, aber ohne Vergnügen und, meiner Meinung nach, ohne Erfolg (…).“ 75 Diese Abwendung von der „konnotativen Methode“ hängt einerseits sicherlich mit Barthesʼ Vielseitigkeit und Kreativität zusammen: Er wollte nicht zum Gefangenen seiner eigenen Begrifflichkeit werden. Sie hängt an‐ dererseits aber auch mit der Dürftigkeit des isolierten Konnotationsbegriffs zusammen, und diese erklärt sich wiederum aus der Tatsache, daß Barthes gegen alle Begriffe allergisch war, die dazu taugen, die Bedeutung des Textes zu fixieren. Sein parti pris für die Pluralität des Textes und die Ausdrucksebene begründet zugleich sein Interesse am Leser und an der lecture, das nicht nur in S/ Z (lexies), sondern in nahezu allen seinen Schriften zum Ausdruck kommt. In „Sur la lecture“ (1975) tritt der Nexus von Offenheit und Lek‐ türe klar zutage: „(…) Die Lektüre, das wäre im großen und ganzen die permanente Blutung („lʼhémorragie permanente“), die den Zusammenbruch der - von der strukturalen Analyse geduldig und nützlich beschriebenen - Struktur bewirkt (…).“ 76 Hier zeigt sich, daß Annette Lavers recht hat, 1. Roland Barthesʼ nietzscheanische Ästhetik des Signifikanten 303 77 A. Lavers, Roland Barthes. Structuralism and After, London, Methuen, 1982, S. 175. 78 F. Nietzsche, Werke, Bd. 3, München, Hanser, 1980, S. 113. 79 U. Eco, „La Maestria di Barthes“, in: Mitologie di Roland Barthes, op. cit., S. 302. Eco fügt hinzu: „Con lo zen ha celebrato il rifiuto del senso, il silenzio, lʼopacità (…).“ 80 U. Eco, Das offene Kunstwerk, Frankfurt, Suhrkamp, 1977, S. 73. wenn sie bemerkt, Barthes sei „nie wirklich Strukturalist im Bereich der literaturwissenschaftlichen Analyse gewesen“. 77 Sein Plädoyer für die Offenheit des Textes und die unbegrenzte Lektüre machen ihn jedoch zu einem konsequenten Nietzscheaner und Antihegeli‐ aner. Denn Nietzsche, der wie Barthes mit „Wesen“ und „Tiefenstruktur“ nichts im Sinne hatte, definierte „die Kunst als den guten Willen zum Scheine“. 78 Damit brach er mit der klassischen deutschen Philosophie, die dazu neigte, in Philosophie und Kunst das Wesen zu suchen. Barthes folgte ihm. 2. Umberto Eco: Von der Avantgarde zur „Postmoderne“ Von Roland Barthes sagt Eco, er habe „in einer Dialektik von Kühnheit und Scham (dialettica di ardimento e pudore) die Bedeutung denunziert und negiert“. 79 So radikal war Eco in keinem Stadium seiner Entwicklung. Seine frühe Position, die am klarsten wohl in Opera aperta (1962, dt. Das offene Kunstwerk, 1973) zum Ausdruck kommt, könnte im Bereich des formalistischen Kantianismus, der im zweiten Kapitel zur Sprache kam, geortet werden. Die Art, wie der frühe Eco die Offenheit und Deutbarkeit des Kunstwerks beschreibt, erinnert stellenweise an Jakobsons Definition der „poetischen Nachricht“ und an die Kunstauffassung der russischen Formalisten. In Übereinstimmung mit Roman Jakobson definiert er den literarischen oder poetischen Text als „autoreflexiv“: „Die Signifikanten verweisen auch - wenngleich nicht vor allem - auf sich selbst. Die Botschaft erscheint als autoreflexiv.“ 80 An anderen Stellen von Opera aperta tritt die Affinität zwischen Ecos Ästhetik und der avantgardistischen Position der russischen Formalisten klar zutage: etwa dort, wo er die These aufstellt, der Empfang einer offenen ästhetischen Botschaft führe dazu, „daß die Erwartung (…) weniger ein Vorhersehen des Erwarteten als ein Erwarten des Unvorhergesehenen impli‐ VII. Die Ästhetiken der Semiotik: Drei Modelle 304 81 Ibid., S. 148. 82 Ibid., S. 288. 83 Ibid., S. 352-353. 84 Ibid., S. 421. ziert“. 81 Auch Viktor Šklovskij behauptete, die Verfahren der modernen Kunst sollten ein „neues Sehen“, nicht ein „Wiedererkennen“ im Rahmen der Alltagskonventionen bewirken. (Siehe Kap. II. 5.) Wie schon in der formalistischen Bewegung gesellt sich bei Eco zu einer Autonomieästhetik kantianischer Provenienz („Offenheit“, Zurückweisung begrifflicher Monosemierungsversuche) eine avantgardistische Einstellung, die streckenweise mit Gesellschaftskritik einhergeht. Ähnlich wie die For‐ malisten und Futuristen (etwa N. Gorlov) plädiert der italienische Semiotiker Anfang der 1960er Jahre - sechs Jahre vor den europäischen Mai-Revolten - für das ästhetische Verfahren der Verfremdung, das er als eine angemessene Antwort auf den gesellschaftlichen Zustand der Entfremdung auffaßt: „(…) Man kann die Entfremdung nur dadurch aufhellen, daß man sie verfremdet, sie in einer sie reproduzierenden Form objektiviert“. 82 Wie vor ihm Adorno faßt er die gesellschaftskritische Verfremdung als ein Problem der Form auf; wie Adorno in den 40er und 50er Jahren glaubt er, daß sich vor allem auf formaler Ebene Gesellschaftskritik ästhetisch artikuliert. Als Modell solcher avantgardistischer Kritik erscheint Eco in den 60er Jahren das Werk von James Joyce, in dem die narrativen Stereotypen des traditionellen Romans radikal in Frage gestellt werden. Als Alternative zur Aristotelischen Romanpoetik, die auf die kausale Verknotung von Hand‐ lungen ausgerichtet ist, bietet Joyce eine Romanpoetik des Querschnitts an, die den Roman nicht als narrative Syntax, sondern als „Querschnitt“, als paradigmatische oder „parataktische“ (Adorno) Anordnung auffaßt: „Joyce muß, wenn er sein Projekt einer in der Ausdruckshaftigkeit der Struktur aufgelösten dramatischen Erzählweise vollenden will, mit dem Gegenstand seiner Erzählung vor allem das Werkzeug, nämlich die Struktur jenes traditionellen Romans, der bis zur Jahrhundertwende der Roman schlechthin zu sein schien, auflösen; und er muß an die Stelle einer Poetik der Handlung eine Poetik des ‚Querschnitts‘ setzen.“ 83 Am Ende von Opera aperta erscheint Joyce in avantgardistischer Perspektive als „Auflöser der Sprache“, als „Hauptregisseur der modernen Unordnung“. 84 Ähnlich wie bei Adorno nimmt das Wort „Unordnung“ in diesem Kontext positive, d. h. kritische Konnotationen an. 2. Umberto Eco: Von der Avantgarde zur „Postmoderne“ 305 85 Ibid., S. 281. 86 Zur Entfremdung siehe: Vf., Entfremdung. Pathologien der postmodernen Gesellschaft, Tübingen, Francke, 2014, Kap. 5: „Ästhetische Verfremdung als Gesellschaftskritik“. 87 Siehe z. B. U. Eco, Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur, Frankfurt, Fischer, 1984, S. 52-56, S. 64-73. 88 U. Eco, Das offene Kunstwerk, op. cit., S. 138. Über Adornos praxisferne Ästhetik scheint Eco an entscheidender Stelle hinauszugehen, wenn er die verfremdenden und entmystifizierenden Ver‐ fahren der Avantgarde als potentielle Handlungsanweisungen auffaßt. Von der Einstellung der Avantgarde zur entfremdeten Sprache der modernen Gesellschaft heißt es in „Form als Engagement“: „(…) Indem sie aber diese Sprache transparent macht, sie als Form der Darstellung herausstellt, tut sie das uns Entfremdende von ihr ab und befähigt uns, sie zu demystifizieren. Das kann der Anfang des Handelns werden.“ 85 Dieser avantgardistische Sprachduktus der an die „révolution surréaliste“ und die revolutionären Parolen der russischen Futuristen gemahnt, sollte allerdings nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, daß beim frühen Eco sowohl eine kritische Theorie der spätkapitalistischen Verhältnisse als auch ein soziologischer Begriff der Entfremdung fehlt. 86 Es kommt hinzu, daß seine Kritik der Entfremdung an keiner Stelle seiner Argumentation die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse einbezieht, die gerade in der von Eco immer wieder erwähnten Kultur- und Medienindustrie ausschlag‐ gebend sind. 87 In diesem Punkt weicht seine Betrachtungsweise von der Benjamins, Adornos und Horkheimers ab. (Siehe Kap. IV.) Sie stimmt strukturell insofern mit Adornos dialektischer Kunstauffas‐ sung überein, als auch Eco sich bemüht, Vieldeutigkeit und Begrifflichkeit, Offenheit und Geschlossenheit des Kunstwerks aufeinander zu beziehen und einseitige Reduktionen auf uneingeschränkte Polysemie oder begriffliche Monosemie zu vermeiden. In diesem Zusammenhang unterscheidet er eine „Offenheit ersten Grades“, die von der Kreativität des Lesers abhängt, von einer „Offenheit zweiten Grades“, die in der Werkstruktur selbst angelegt ist und von der Avantgarde als „offener Prozeß“ systematisch praktiziert wird. 88 In späteren Publikationen wird der Begriff des „offenen Kunstwerks“ auf semiotischer Ebene präzisiert, und zwar im Rahmen einer grundsätzlichen Unterscheidung zwischen Denotation und Konnotation, die von Louis VII. Die Ästhetiken der Semiotik: Drei Modelle 306 89 Siehe: L. Hjelmslev, Prolegomena zu einer Sprachtheorie, München, Hueber, 1974, S. 111: „Es steht noch an, durch eine letzte Erweiterung des Blickfeldes zu zeigen, daß es auch Sprachen gibt, deren Ausdrucksebene eine Sprache ist, und Sprachen, deren Inhaltsebene eine Sprache ist. Die ersteren werden wir Konnotationssprachen nennen, die letzteren Metasprachen.“ 90 U. Eco, Einführung in die Semiotik, München, Fink, 1972, S. 154. 91 J. Lotman, Die Struktur des künstlerischen Textes, Frankfurt, Suhrkamp, 1973, S. 81. Zur Entwicklung des Begriffs „sekundäres modellierendes System“ siehe auch: M. Fleischer, Die sowjetische Semiotik. Theoretische Grundlagen der Moskauer und Tartuer Schule, Tübingen, Stauffenburg, 1989, S. 166-170. Fleischer zeigt u. a., wie der Begriff zunächst nur auf literarische Texte angewandt, später auch auf nicht-literarische Texte ausgedehnt wird. Hjelmslev eingeführt wurde. 89 Ähnlich wie Barthes, der von der These ausgeht, daß literarische Texte die primären Bedeutungen der natürlichen Sprache in sekundäre Bedeutungen verwandeln, indem sie die Zeichen der langue in ihrer Gesamtheit (also Signifikant + Signifikat) in neue Signifikan‐ ten zweiten Grades umformen (s. o.), faßt Eco den literarischen Text als ein konnotatives System auf, in dem die Zeichen der Alltagssprache neue Bedeutungen annehmen: „So verwandelt das Werk ständig seine Denotationen in Konnotationen und seine Signifikate in Signifikanten anderer Signifikate.“  90 Anders ausgedrückt: die primären Codes der natürlichen Sprache, die auf Konventionen gründen und kommunikative Funktionen erfüllen (z. B. politische oder wissenschaftliche Sprachen, Sprachen der Werbung), werden durch die literarische Praxis in sekundäre Codes verwandelt, in denen Wörter neue, ungewohnte oder verfremdete Bedeutungen annehmen. Einen ähnlichen Gedanken hat - meiner Meinung nach systematischer und genauer als Eco - der Semiotiker Jurij Lotman formuliert, als er den Begriff des sekundären modellierenden Systems prägte. Das literarische Werk, sagt er, ist ein sekundäres, abgeleitetes System, in dem die Wortbedeutungen der natürlichen Sprache (des primären Systems) umgedeutet werden: „Das sekundäre modellierende System des künstlerischen Typus konstruiert sein eigenes System von Denotaten, das keine Kopie, sondern ein Modell der Welt der Denotate in allgemeinsprachlicher Bedeutung darstellt.“ 91 Mit anderen Worten: Der Autor eines literarischen Textes konstruiert ein sprachliches „Miniatursystem“, dessen Signifikanten in vielen Fällen andere Signifikate bezeichnen (denotieren) als die des natürlichen Sprachsystems: Signifikate zweiten Grades oder konnotierte Signifikate. Was Lotman als „sekundäres modellierendes System“ auffaßt, wird bei Eco zum „privaten Code“ oder Idiolekt des Autors: „Einen solchen priva‐ 2. Umberto Eco: Von der Avantgarde zur „Postmoderne“ 307 92 U. Eco, Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen, München, Fink, 1987, S. 362. 93 Ibid., S. 364. ten Code bezeichnet man gewöhnlich als ‚Idiolekt‘. Die Regel, die allen Abweichungen auf allen Ebenen eines Kunstwerks zugrunde liegt, das eine Diagramm, das alle Abweichungen wechselseitig funktional macht, ist ein ästhetischer Idiolekt.“ 92 Der Idiolekt eines Autors tritt immer dann in Erscheinung, wenn im Text ein Wort eine besondere (persönliche) Bedeutung annimmt, die mit dem konventionellen Signifikat der natürlichen, der kommunikativen Sprache nicht übereinstimmt. Man denke an die für Georg Trakls Lyrik charakteristi‐ schen Signifikanten „purpur“ und „Schwester“ oder „Abendland“, die nur im konnotativen Zusammenhang mit Trakls „Idiolekt“, mit seinem „sekundären modellierenden System“ und in ihrer Mehrdeutigkeit verstanden werden können. Man denke auch an die ersten Sätze aus Franz Kafkas Parabel Vor dem Gesetz: „Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz.“ Der erste Satz, in dem ein unbekanntes Gesetz von einem unbekannten Türhüter bewacht wird, läßt ebenso viele Konnotationen im Leser aufkommen wie die Wort‐ kombination „Eintritt in das Gesetz“: Der Signifikant „Gesetz“ konnotiert verschiedene, für Kafkas Idiolekt charakteristische Signifikate; er ist jedoch auf keine der Bedeutungen der natürlichen oder kommunikativen Sprache festzulegen (wie die vielgeplagten und oft kritisierten Kommentatoren wohl wissen). Eco legt einen ästhetischen Maßstab an, wenn er in Trattato di semiotica generale (1976) vom „großen Werk“ behauptet, dessen Idiolekt sei aufgrund der Vieldeutigkeit seiner Signifikanten nicht erschöpfend zu definieren, denn „je größer dieses Werk ist, desto mehr (werde der kritische Prozeß) nur kontinuierliche und niemals abgeschlossene Annäherungen erreichen“. 93 Der literarische Text als sekundäres, konnotiertes System und als Idiolekt ist also offen und vieldeutig. Seine Vieldeutigkeit hängt mit der Schwächung der kommunikativen Signifikate und der gesamten Inhaltsebene zugunsten der literarischen Signifikanten und der Ausdrucksebene zusammen. Wo ein Signifikant wie „Gesetz“ eine Vielzahl neuer, konnotierter Bedeutungen annehmen kann und den ursprünglichen Signifikaten der kommunikativen Rede („Gesetz“ des Juristen, des Physikers, des Theologen) entfremdet wird, VII. Die Ästhetiken der Semiotik: Drei Modelle 308 94 Ibid., S. 349. 95 Ibid., S. 360. 96 U. Eco, Einführung in die Semiotik, op. cit., S. 155. 97 Ibid., S. 163. Siehe auch: U. Eco, Die Grenzen der Interpretation, München, Hanser, 1992. dort herrscht Polysemie: „Semiotisch gesprochen muß man Mehrdeutigkeit als eine Verletzung der Regeln des Codes definieren.“ 94 Polysemie als Schwächung des kommunikativen Codes (des Signifikats) und als Stärkung des Signifikanten in dessen ursprünglicher Vieldeutigkeit und Fungibilität ist ein semiotischer Ausdruck für die „Offenheit“ des literarischen Textes. Denn die im Text angelegten konnotierten Signifikate bilden eine endlose Kette, die in der Interaktion zwischen Text und Leser von Lektüre zu Lektüre verlängert wird, zumal sich der kulturelle und historische Kontext der Rezeption ständig wandelt: „Das Kunstwerk ist damit ‚offen‘ für eine Vielzahl von Interpretationen. Die kontextuelle Interaktion läßt immer mehr Signifikate entstehen, die, sobald sie sichtbar werden, die Möglichkeit für weitere semantische Wahlen zu enthalten scheinen.“ 95 Im Gegensatz zu Barthes, der sich recht leichtfertig über die Textstruktu‐ ren hinwegsetzt, meint Eco allerdings, die Wechselbeziehung zwischen Text und Leser noch am ehesten als Dialektik zwischen Determiniertheit und Freiheit verstehen zu können, da der Text etwas ist, „was auf allen seinen Ebenen eine Struktur haben muß, denn sonst gäbe es keine Kommunikation, sondern nur rein zufällige Stimulierung von aleatorischen Reaktionen“. 96 An anderer Stelle ist von der „Dialektik zwischen der Freiheit der Interpretation und der Treue zum strukturierten Kontext der Botschaft“ 97 die Rede. Da in diesem Buch das Verhältnis von Offenheit und Geschlossenheit, Polysemie und Monosemie zentral ist, will ich im folgenden auf Ecos Leserkonzept und seine Einstellung zum Problem der Tiefenstruktur näher eingehen. In einem späteren Werk, das den schönen Titel Lector in fabula trägt, ver‐ sucht Eco, die Peripetien einer Lektüre nachzuzeichnen, die einen offenen, polysemen Text wie Alphonse Allaisʼ (1855-1905) Erzählung Un drame bien parisien (1890) zum Gegenstand hat. Dabei läßt er sich von dem Gedanken leiten, daß Offenheit oder Vieldeutigkeit auch außerhalb künstlerischer Zeichensysteme zu finden ist. Darin unterscheidet sich Lector in fabula von Opera aperta: „Wenn es einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Opera aperta (1962) und Lector in fabula (1979, dt. 1987) gibt, dann liegt er in dem Umstand, daß ich in meinem zweiten Buch die Wurzeln der künstlerischen 2. Umberto Eco: Von der Avantgarde zur „Postmoderne“ 309 98 U. Eco, Streit der Interpretationen, Konstanz, Universitätsverlag, 1987, S. 35. 99 U. Eco, Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, München, Hanser, 1987, S. 114. 100 Ibid., S. 255. ‚Offenheit‘ ebenso in der Eigenheit eines jeden kommunikativen Prozesses wie in der Eigenheit eines jeden Systems der Bedeutungen zu finden suche.“ 98 Die Offenheit oder Interpretierbarkeit einer jeden Nachricht besteht u. a. darin, daß der Leser sie im Zusammenhang mit seinen Erfahrungen und seinem Wissensvorrat deuten kann. Eine der ersten Entscheidungen, die er ausgehend von seinen Erfahrungen und seinem kulturellen Wissen zu treffen hat, bezieht sich auf das, was Eco als topic bezeichnet. Der Topic ist ein pragmatisches Phänomen und kann als Antwort auf die Frage aufgefaßt werden, „worum es in einem bestimmten Text geht“: „Aufgrund des Topic entscheidet der Leser, ob er die semantischen Eigenschaften der im Text vorkommenden Lexeme hervorhebt oder narkotisiert, er bestimmt eine Ebene der interpretativen Kohärenz, die als Isotopie bezeichnet wird.“ 99 Anders ausgedrückt: Die Wahl eines Topic entscheidet über die semanti‐ sche Ebene, auf der ein Leser einen Text versteht. So kann er beispielsweise beschließen, daß der Topic von Kafkas Parabel Vor dem Gesetz „Gerechtigkeit im juristischen Sinne“ ist, und die Lexeme des Textes mit entsprechenden Bedeutungen versehen (z. B. Türhüter = Gerichtsdiener, Gerichtswächter etc.); er kann sich jedoch auch für einen religiösen Topic entscheiden und das Lexem „Gesetz“ als göttliches Gesetz lesen. (Auf A. J. Greimasʼ Isotopie-Begriff will ich im nächsten Abschnitt näher eingehen. Vorerst mag es genügen, „Isotopie“ als semantische Ebene zu definieren, auf der ein Text gelesen werden kann.) Für Eco ist Alphonse Allaisʼ Un drame bien parisien deshalb anregend, weil der Text mehrere Topic-Entscheidungen zuläßt, auf verschiedenen semantischen Ebenen gelesen werden kann und in vieler Hinsicht ein Modell des „offenen Kunstwerks“ darstellt, das Eco seit 1962 beschreibt: „Einzigartig aber ist in Drame, daß bis zu Kapitel VI die diskursiven Strukturen die Möglichkeit zu zwei verschiedenen Fabeln offenlassen. Es könnte einer der folgenden Topics angesprochen sein: die Geschichte eines Ehebruchs und die Geschichte eines Mißverständnisses mit ihren jeweiligen intertextuellen Szenographien. Und dem Topic entsprechend, für den man sich entscheidet, gibt es zwei verschiedene mögliche Geschichten.“ 100 VII. Die Ästhetiken der Semiotik: Drei Modelle 310 101 Ibid., S. 248. 102 Ibid., S. 94-95. Raoul und Marguerite, ein junges, von Eifersucht geplagtes Ehepaar, werden auf die Probe gestellt: Jeder von ihnen erhält von einem Freund (un ami) bzw. einer Freundin (une amie) einen Brief, in dem steht, daß ihr jeweiliger Ehepartner die Absicht habe, seinen Liebhaber bzw. seine Geliebte zu treffen. Beide versuchen, den Partner in flagranti zu ertappen. Auf dem „Bal des Incohérents“ im Moulin Rouge entdecken sie, 1. daß in den Briefen die Wahrheit stand, 2. daß die Briefschreiber logen. Das Ende ist zweideutig und läßt sowohl die Hypothese (den Topic) „Mißverständnis“ als auch die Hypothese „Ehebruch“ zu. Doch in Allaisʼ Erzählung geht es nicht nur um die Intrige, die sich auf der Ebene der „Eifersucht“ abspielt und die Akteure involviert: „Drame ist ein Meta-Text, der mindestens drei Geschichten erzählt: die Geschichte, die den dramatis personae zustößt, die Geschichte dessen, was mit dem naiven Leser passiert, und schließlich die Geschichte, die sich mit der Novelle, also mit dem Text selbst ereignet (und diese Geschichte ist im Grunde genommen die, die sich mit dem kritischen Leser abspielt).“ 101 Es geht also darum, den naiven Leser (der ersten Lektüre) vom kritischen Leser (der zweiten Lektüre) zu unterscheiden und zu zeigen, daß wir es in beiden Fällen mit Modell-Lesern zu tun haben, von denen der erste die verschiedenen Ebenen der Erzählung und die Offenheit des Textes nicht reflektiert, während der zweite die vom Autor (Erzähler) thematisierte Leserrolle gleichsam mitliest. Die Möglichkeit einer reflektierenden und kritischen Lektüre hängt laut Eco vor allem von der Kapazität der Enzyklopädie ab, die dem Leser zur Verfügung steht. Doch was ist eine Enzyklopädie? Sie ist zunächst global als Wissensvorrat des Lesers zu umschreiben, von dem ich weiter oben sprach. Eco definiert sie jedoch wesentlich genauer, wenn er in Lector in fabula von „diese(m) umfassende(n) System“ spricht, „das wir übergreifend als enzyklopädische Kompetenz bezeichnen werden (…)“. 102 Die Enzyklopädie könnte somit als die sprachliche und kulturelle Kompetenz aufgefaßt wer‐ den, die der Leser einsetzt, um den Topic, die semantischen Ebenen und den narrativen Ablauf eines Textes zu bestimmen. Im italienischen Original ist allerdings nicht nur von einem „umfassenden System“, sondern von einem „complesso sistema di codici e sottocodici“, einem „komplexen System von Codes und Subcodes“ (S. 77) die Rede, und es zeigt sich wieder einmal, daß auf Übersetzungen kein Verlaß ist. 2. Umberto Eco: Von der Avantgarde zur „Postmoderne“ 311 103 U. Eco, Semiotica e filosofia del linguaggio, Torino, Einaudi, 1984, S. 296. 104 U. Eco, Semiotik und Philosophie der Sprache, München, Fink, 1986, S. 129. 105 U. Eco, Lector in fabula, op. cit., dt., S. 63, ital. (Bompiani), S. 52. 106 Ibid., (dt.), S. 164. Der Hinweis auf Codes und Subcodes ist deshalb wichtig, weil Eco in einem später erschienenen Werk, in Semiotica e filosofia del linguaggio (1984, dt. 1985) den Code-Begriff im Begriff der Enzyklopädie aufgehen läßt. Dort ist von einer „Unvermeidbarkeit der enzyklopädischen Darstellung“ („inevitabilità della rappresentazione enciclopedica“) 103 die Rede und von der Notwendigkeit, über die zu mechanischen Code-Begriffe hinauszugehen, um das dem Individuum verfügbare Wissen adäquat beschreiben zu können. Denn der Enzyklopädie-Begriff, der Eco vorschwebt, umfaßt nicht nur sprachliche Codes im strengen Sinn, sondern auch literarisches, kulturelles und historisches Wissen, in das literarische Kunstgriffe, kulturelle Stereo‐ typen (man denke an Barthesʼ „kulturellen“ Code) und historische Daten eingehen: „Die Enzyklopädie registriert nicht nur die ‚historische‘ Wahrheit, daß Napoleon auf St. Helena starb, sondern auch die ‚literarische‘ Wahrheit, daß Julia in Verona starb.“ 104 Die Enzyklopädie erscheint hier wie das bekannte Werk Diderots und dʼAlemberts, auf das sich Eco bezieht, als gespeichertes Wissen, das der Leser während der Lektüre nach Bedarf einsetzt. Es zeigt sich hier, daß Eco im Gegensatz zu Barthes versucht, die Leserrolle mit Hilfe des Code- und des Enzyklopädie-Begriffs so konkret wie möglich zu bestimmen. Anders als Barthes, der in S/ Z behauptet, der vieldeutige Text werde im „Unendlichen der Sprache“ („lʼinfini du langage“) rezipiert und konkretisiert, bietet Eco mit dem Enzyklopädie-Begriff eine Ergänzung oder Alternative zu Jaußʼ „Erwartungshorizont“ an: Die Enzyklopädie ist das akkumulierte, sich ständig verändernde historische Wissen, mit dessen Hilfe der vieldeutige Text im Lesevorgang konkretisiert und aktualisiert wird, und das es dem Leser gestattet, die „Leerstellen“ („spazi bianchi“, Eco) und „Zwischenräume“ („interstizi da riempire“, Eco) 105 auszufüllen. Nicht nur mit dem Enzyklopädie-Begriff, sondern auch mit dem Terminus der möglichen Welt (mondo possibile), den er der analytischen Philosophie entlehnt, geht Eco in der konkreten Darstellung des Lesevorgangs über die Konstanzer Rezeptionsästhetik hinaus. „Eine mögliche Welt ist ein kulturelles Gebilde“ 106 , sagt Eco. Aber dieses kulturelle Gebilde braucht nicht in der real existierenden Enzyklopädie des Lesers vollständig enthalten zu VII. Die Ästhetiken der Semiotik: Drei Modelle 312 107 Ibid., S. 165. 108 U. Eco, Semiotik und Philosophie der Sprache, op. cit., Kap. 2. 109 U. Eco, Einführung in die Semiotik, op. cit., S. 162. 110 U. Eco, Streit der Interpretationen, op. cit., S. 29. sein. Denn eine mögliche Welt kann sowohl im literarischen als auch im wissenschaftlichen Bereich über unsere Erfahrung hinausgehen. Zugleich gründet sie auf dieser Erfahrung, geht aus ihr hervor. Daher kann Eco sagen: „Eine mögliche Welt überlagert in redundanter Weise die ‚reale‘ Welt der Enzyklopädie des Lesers.“ 107 Der Leser eines Science-fiction-Romans weiß aus Erfahrung (Enzyklo‐ pädie), daß eine Rakete eine Raumfähre ins Weltall befördern kann. Er wird aber vom Text genötigt, sich eine mögliche Welt vorzustellen, in der die irdischen Astronauten außerirdischen Lebewesen begegnen, die eine nicht-menschliche „Sprache“ sprechen etc. Eco selbst stellt sich im Anschluß an einen Science-fiction-Roman eine „mögliche Welt“ vor, in der die Süßwasservorräte knapp werden, so daß es in allen Wohnungen Wasserhähne für Salz- und Süßwasser gibt. 108 Auch in diesem Fall ist der Leser in der Lage, aufgrund seines enzyklopä‐ dischen Wissensvorrats die Ereignisse in dieser möglichen Welt nachzuvoll‐ ziehen. Dieser konkreten Bestimmung der Leserrolle entspricht bei Eco die Idee der Textstruktur, die Barthesʼ radikale Aufwertung der Ausdrucksebene und der Polysemie teilweise wieder zurücknimmt. Obwohl der Autor von La struttura assente (1968) im Zusammenhang mit dem Kunstwerk von einer „offenen Logik der Signifikanten“ 109 spricht und mit dieser Vorstellung Barthesʼ S/ Z (1970) antizipiert, schränkt er die „Offenheit“ des literarischen Textes wieder ein, wenn er zum Interpretationsvorgang bemerkt: „Vielmehr besteht jeder Akt des Interpretierens aus der Dialektik von Offenheit und Form, die sich aus der Einstellung des Interpreten und den kontextuellen Zwängen ergibt.“ 110 Der „Offenheit der Signifikanten auf der Ausdrucksebene“ entspricht demnach eine Determiniertheit auf der Inhaltsebene, die Eco auch in Le forme del contenuto (1971) thematisiert und die in Lector in fabula in Ecos Auseinandersetzung mit dem Problem der Tiefenstruktur („struttura semantica profonda“) zum Ausdruck kommt: „Wie häufig trifft ein Autor eine Entscheidung, die sich auf die grundlegende semantische Struktur des Textes auswirkt, erst in dem Moment, da er - auf der Ebene der lexikalischen Realisierung - dem einen Wort gegenüber dem anderen Wort den Vorzug 2. Umberto Eco: Von der Avantgarde zur „Postmoderne“ 313 111 U. Eco, Lector in fabula, op. cit., S. 85. 112 Ibid., S. 222. gibt? Und wie häufig werden in einem Gedicht die Entscheidungen über die grundlegenden semantischen Strukturen von den Erfordernissen des Reims zumindest mitbestimmt? “ 111 Obwohl auch ich meine, daß in den meisten literarischen und nichtlite‐ rarischen Texten Tiefenstrukturen aufgezeigt werden können, glaube ich nicht, daß sie auf lexikalischer Ebene durch die Entscheidung für oder gegen ein einziges Wort zu modifizieren sind. Tiefenstrukturen, auf die ich im dritten Abschnitt im Zusammenhang mit Greimasʼ Semiotik näher eingehen werde, kommen aufgrund bestimmter Relevanzkriterien auf der logisch-semantischen Ebene zustande. Sie werden nur in den seltensten Fällen durch die Wahl eines einzelnen Lexems beeinflußt, sofern es sich nicht um einen sehr kurzen Text handelt, der sich aus zwei oder drei Lexemen zusammensetzt. Vor allem im Falle der Tiefenstruktur zeigt sich, daß Ecos Terminologie stellenweise unscharf ist. Dieser Mangel hängt u. a. mit seiner eklektischen Einstellung zusammen, die in einer Mischung fast aller bestehenden semio‐ tischen, linguistischen und sprachphilosophischen Wissenschaftssprachen zum Ausdruck kommt. Wo die Terminologien von Peirce, Morris, Saussure, Hjelmslev, Frege, Searle und Hintikka ineinanderfließen, ist terminologi‐ sche Klarheit kaum noch zu wahren. Dennoch glaube ich, daß Eco recht hat, wenn er im Gegensatz zu Barthes den Begriff der Tiefenstruktur nicht verwirft, sondern wiederholt darauf hinweist, daß der kritische Modell-Leser sich an den Tiefenstrukturen orientieren sollte. „Es soll hier vielmehr zum Ausdruck gebracht werden“, heißt es in Lector in fabula, „daß die Konstruktion der grundlegenden Struktur das Endergebnis einer kritischen Untersuchung darstellt und als solche erst in einer fortgeschrittenen (und wiederholten) Phase der Lektüre erfolgt.“ 112 So stellt er sich beispielsweise einen Leser von Thomas Manns Novelle Tod in Venedig vor, der in diesem Text einen Grundgegensatz zwischen der ästhetischen Berufung Aschenbachs und „dessen fleischliche(n) Gelüste(n)“ und folglich zwischen „Geist und Materie“ entdeckt. Obwohl er in diesem Fall von einer „armselige(n) und kaum problematisierende(n) Lektüre“ spricht, meint er, daß es sich um ein Beispiel handle, „wie die ideologische Kompetenz die Aktualisierung der grundlegenden textuellen Strukturen VII. Die Ästhetiken der Semiotik: Drei Modelle 314 113 Ibid., S. 223-224. 114 In dieser Hinsicht scheint mir Greimasʼ Strukturale Semiotik wesentlich präziser und fruchtbarer zu sein als die häufig eklektische Terminologie Ecos. Siehe: Abschn. 3. 115 Siehe: U. Eco, Streit der Interpretationen, op. cit., S. 32: „Ich werde behaupten, daß eine Theorie der Interpretation - auch wenn sie davon ausgeht, daß Texte offen für multiple Lesarten sind - auch von der Möglichkeit ausgehen muß, einen Konsens zu erreichen; wenn schon nicht in bezug auf die unterschiedlichen Bedeutungen, die der Text ermutigt, so doch zumindest in bezug auf jene, die der Text entmutigt.“ 116 W. Hüllen, „Erzählte Semiotik. Betrachtungen zu Umberto Ecos ‚Der Name der Rose‘“, in: Literatur im Kontext. Festschrift für Helmut Schrey (Hrsg. R. Haas, Ch. Klein-Braley), Sankt Augustin, Hans Richarz, 1985, S. 129. bestimmt“. 113 Tatsächlich sind Tiefenstrukturen als ideologische Grundlagen literarischer und nichtliterarischer Texte wesentlich; nur müßten sie viel genauer bestimmt werden, als dies bei Eco geschieht. 114 Es zeigt sich hier, daß Eco - ähnlich wie Ingarden und Iser - zwischen Monosemie und Polysemie, Bestimmtheit und Unbestimmtheit, Geschlos‐ senheit und Offenheit schwankt. 115 Und obwohl er eher zum kantianischen Pol der Offenheit und Begriffslosigkeit tendiert, entlehnt er Greimasʼ struk‐ turaler Semiotik Schlüsselbegriffe wie Isotopie, Aktantenmodell und Tiefen‐ struktur, denen eine eher logozentrische, „hegelianische“ Ästhetik zugrunde liegt. Darin unterscheidet er sich von Barthes, dessen nietzscheanischer Ra‐ dikalismus gegen den rationalistischen und hegelianischen Logos gerichtet war. Von Barthes unterscheidet sich Eco noch in einer anderen, ästhetisch-po‐ litischen Hinsicht: Während der Pariser Semiotiker in Übereinstimmung mit der Tel-Quel-Gruppe die literarische Avantgarde (als „texte scriptible“ oder „recevable“) gegen die ideologische und kommerzialisierte Literatur des „texte univoque“ verteidigte, ohne jemals eine Kompromißmöglichkeit ins Auge zu fassen, lehnt Eco weder den „konsumierbaren Text“ noch die serielle Kunst des Fernsehens ab. Sein erster Roman Il nome della rosa (1980, dt. 1982) ist, wie Werner Hüllen bemerkt, „in Ecos Sinne sicherlich ein offener Roman. Im Gegensatz zu anderen Werken, die Eco als typisch offen beschreibt - besonders die Werke von James Joyce -‚ hat er freilich eine sehr konventionelle Form.“ 116 Er hat nicht nur eine sehr konventionelle Form, sondern ist auf narrativer Ebene in jeder Hinsicht als Kriminalroman zu lesen, an dessen Ende Jorge als der Schuldige entlarvt wird: Er warʼs. Den naiven Leser braucht nicht weiter zu stören, daß Jorge schließlich als eine ambivalente Gestalt erscheint, deren Handeln nicht als diabolisches grand-design, sondern eher als apokalypti‐ 2. Umberto Eco: Von der Avantgarde zur „Postmoderne“ 315 117 U. Eco, Il nome della rosa, Milano, Bompiani, 1980, S. 495. 118 G. Zaccaria, „Avanguardia come consumo“, in: Saggi su ‚Il nome della rosa‘, a cura di R. Giovannoli, Milano, Bompiani, 1985, S. 285. Siehe auch: P. Renard, „Ecos große Herausforderung“, in: Zeichen in Umberto Ecos Roman der Name der Rose. Aufsätze aus Europa und Amerika, ausgewählt und herausgegeben von B. Kroeber, München, Hanser, 1987, S. 274: „Eco investiert seine große Bildung in ein mondänes Spiel (…).“ 119 U. Eco, Nachschrift zum ‚Namen der Rose‘, München, Hanser, 1984, S. 78. sche Verkettung von Zufällen zu verstehen ist. Er braucht auch nicht gegen Ende des Romans Wittgensteins bekannte Metapher von der „abgeworfenen Leiter“ zu erkennen, die Eco archaisierend in ein mittelhochdeutsches Zitat verkleidet: „Er muoz gelîchsame die Leiter abewerfen, sô er an ir ufgestigen ist…“ 117 Denn negiert wird auf struktureller Ebene die Kritik der Avantgarde (Musils, Svevos, Bretons, Joyces) an der traditionellen narrativen Syntax; negiert wird zugleich die Gesellschafts- und Kulturkritik, die die Avantgarde intendierte. Auf sie hat Eco schon in den ersten Stadien seiner Entwicklung verzichtet, als er es ablehnte (oder versäumte), das Phänomen der Entfrem‐ dung zu Tauschwert, Marktgesetz und Herrschaft in Beziehung zu setzen. Sein Roman Der Name der Rose, der laut Giuseppe Zaccaria von der „außerordentlichen Fähigkeit“ zeugt, „Avantgarde und Konsum zusammen‐ fallen zu lassen“ („straordinaria capacità di far coincidere lʼavanguardia con il consumo“) 118 , erfüllt eine ähnliche Funktion wie die Werbung, die sich surrealistischer Tricks bedient: Die avantgardistischen Verfahren, die das kritische Nachdenken wecken sollten, werden gedankenlos genießbar. Daß Eco selbst die Gesellschaftskritik der Anpassung unterordnet, zeigen seine Kommentare zum Verhältnis von Avantgarde und „Postmoderne“ in der Nachschrift zum ‚Namen der Rose‘: „Die postmoderne Antwort auf die Moderne besteht in der Einsicht und Anerkennung, daß die Vergangenheit, nachdem sie nun einmal nicht zerstört werden kann, da ihre Zerstörung zum Schweigen führt, auf neue Weise ins Auge gefaßt werden muß: mit Ironie, ohne Unschuld.“ 119 Diese Passage zeigt, daß die Vagheit der Terminologie für die Ohnmacht der Kritik verantwortlich sein kann: Die Vagheit des Wortes „Vergangenheit“ suggeriert, daß moderne oder avantgardistische Autoren schlicht das „Vergangene“ zerstören wollten. Indessen war das Anliegen dieser Autoren, die die Herrschaftsverhält‐ nisse (Breton, Teige, Sartre), die Ideologie (Broch, Musil) und die Verdingli‐ chung durch den Tauschwert (Moravia) kritisierten, nicht so simpel. Davon zeugen Musils Kommentare zur Erzählform: „Äußerlich ist die gegenwärtige VII. Die Ästhetiken der Semiotik: Drei Modelle 316 120 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Gesammelte Werke, Bd. 8, Reinbek, Rowohlt, 1978, S. 1412. 121 U. Eco, Nachschrift zum ‚Namen der Rose‘, op. cit., S. 79. 122 Siehe: U. Eco, „Erzählstrukturen bei Ian Fleming“, in: P. V. Zima (Hrsg.), Textsemiotik als Ideologiekritik, Frankfurt, Suhrkamp, 1977 und U. Eco, Sette anni di desiderio, Milano, Bompiani, 1983, S. 178. Dort heißt es im Zusammenhang mit der Fernseh- und Videozeit, „die Irrealität sei nun allen zugänglich“ („Ora lʼirrealtà è alla portata di tutti“). Wie aber hängt die Manipulation des Zeitbewußtseins mit kommerziellen und ideologischen Interessen zusammen? Auf diese Frage geht Eco nicht ein. 123 U. Schulz-Buschhaus, „Kanonbildung in Europa“ in: H.-J. Simm (Hrsg.), Literarische Klassik, Frankfurt, Suhrkamp, 1988, S. 64. Krise des Romans so in Erscheinung getreten. - Wir wollen uns nichts mehr erzählen lassen, betrachten das nur noch als Zeitvertreib. (…) Das Neue erzählt uns die Zeitung, das gern Gehörte betrachten wir als Kitsch. - Das ist aber nun nicht ganz richtig. Kommunisten und Nationalisten und Katholiken möchten sich sehr gern etwas erzählen lassen. Das Bedürfnis ist sofort wieder da, wo die Ideologie fest ist.“ 120 Indem er zur traditionellen Erzählform zurückkehrt und Ironie lediglich als „metasprachliches Spiel“ 121 , nicht jedoch als Ideologie- und Herrschafts‐ kritik betrachtet, trägt Eco entscheidend zur Verfestigung ideologischer und konsumierbarer Stereotypen bei, die er Mitte der 60er Jahre bei Ian Fleming attackierte, die er aber in seiner Essaysammlung Sette anni di desiderio (1983) nicht mehr wahrzunehmen scheint. 122 Dem Romanisten Ulrich Schulz-Buschhaus ist in jeder Hinsicht recht zu geben, wenn er ihn als „kluge(n) Theoretiker der italienischen Neo-Avant‐ garde von 1963 und noch klügeren Praktiker der Post-Avantgarde von 1980“ 123 charakterisiert. Denn die Klugen, zu denen auch Hans Robert Jauß zählt, dem ebenfalls der große Sprung von der „ästhetischen Distanz“ zur „Postmoderne“ gelang, passen sich nicht nur an, sondern organisieren die Anpassung wie seinerzeit die „klugen Ratgeber“, die Hölderlin in einem seiner Gedichte anklagt. Wel‐ che Resultate ihre Klugheit im Rahmen der zeitgenössischen Kulturindustrie zeitigt, läßt die Verfilmung von Ecos Il nome della rosa erkennen: Im Film ist von der Ambivalenz der Gestalten und der Absurdität des Zufalls nicht mehr die Rede, auch Wittgensteins Leiter wird endgültig abgeworfen. Mit solchen Spitzfindigkeiten will man den „Normalverbraucher“ (Jauß) offenbar nicht vor den Kopf stoßen. Es bleibt das zu genießende Schema. Klugheit hat sehr wohl etwas mit Horkheimers Begriff der instrumentellen Vernunft zu tun: Im Zusammenhang mit „klug“ nennt das Wörterbuch 2. Umberto Eco: Von der Avantgarde zur „Postmoderne“ 317 124 A. J. Greimas, Strukturale Semantik, Braunschweig, Vieweg, 1971, S. 50; Sémantique structurale, Paris, Larousse, 1966, S. 58. 125 Siehe: R. Descartes, Discours de la méthode. Suivi des méditations, Paris, UGE, 10/ 18, 1962, S. 148. 126 A. J. Greimas, De lʼimperfection, Périgueux, Pierre Fanlac, 1987, S. 9. neben „gescheit“, „begabt“, „vernünftig“ etc. auch „schlau“, „geschickt“, „diplomatisch“. Demnach ist Klugheit eine vorwiegend taktische, instru‐ mentelle Fähigkeit und hat, wie schon Hölderlin wußte, wenig mit Kritik und Wahrheit zu tun. 3. Algirdas J. Greimasʼ Ästhetik der Inhaltsebene Kennzeichnend für Algirdas J. Greimasʼ (1917-1992) gesamten Ansatz ist eine Bemerkung aus seinem Grundlagenwerk Sémantique structurale (1966, dt. 1971) über Sprache als Gegenstand der Wissenschaft: Es sei durchaus möglich, heißt es dort, daß die Sprache insgesamt, die Sprache als Phänomen, etwas Mysteriöses sei; aber in der Sprache selbst, schließt der Autor seine Betrachtung, „gibt es keine Geheimnisse“: „il nʼy a pas de mystères dans le langage“. 124 Diese rationalistische, cartesianische Auffassung des Gegenstandes durchzieht, einem roten Faden gleich, Greimasʼ Gesamtwerk, das aus philo‐ sophischer Sicht als unermüdliches Fahnden nach dem Wesen erscheint, dem Grundbegriff von Descartesʼ Meditationen, in denen bekanntlich die Existenz Gottes aus dessen essence abgeleitet wird. 125 Auch in seinem Essay‐ band De lʼimperfection (1987), der von Freund und Gegner als geglückte oder mißlungene Abweichung vom Jargon der strukturalen Semantik rezipiert wird, ist das Wesen der eigentliche Gegenstand der Suche, die immer wieder vom paraître, vom ästhetischen Schein ausgeht: „Aller Schein ist unvollkommen: er verbirgt das Wesen“: „Tout paraître est imparfait: il cache lʼêtre“ 126 ; so lauten die ersten Worte der Essaysammlung, deren Autor den ästhetischen Schein, das paraître, beschreibt, um nach dem Wesen zu fragen. Es ist zwar ein vorwiegend rationalistisches und nicht dialektisches We‐ sen; seine Darstellungen in Greimasʼ Werk erinnern indessen oft an Hegels Argumentation in den Vorlesungen über die Ästhetik: vor allem dann, wenn versucht wird, literarische Texte auf umfassende Isotopien, Aktantenmodelle und Tiefenstrukturen festzulegen; wenn es darum geht, die Polysemie des Textes in die Schranken zu weisen und „die Hindernisse zu überwinden, VII. Die Ästhetiken der Semiotik: Drei Modelle 318 127 A. J. Greimas, „Pour une théorie du discours poétique“, in: Essais de sémiotique poétique, Paris, Larousse, 1972, S. 16. 128 A. J. Greimas, Maupassant. La sémiotique du texte: exercices pratiques, Paris, Seuil, 1976, S. 55. 129 A. J. Greimas, „Die strukturale Linguistik und die Poetik“, in: J. Ihwe (Hrsg.), Literatur‐ wissenschaft und Linguistik, Bd. II. 2, Frankfurt, Fischer-Athenäum, 1971, S. 479. die der polyseme Charakter des Oberflächentextes der Lektüre in den Weg stellt“. 127 Weit davon entfernt, sich dem Nietzscheaner Barthes anzuschließen und die Polysemie der Texte oder die Offenheit des Leseprozesses im „infini du langage“ zu feiern, nimmt Greimas sich - wie der Hegelianer Goldmann - vor, die „Gesamtheit des analysierten Universums“ zu erkennen: „la connaissance de la totalité de l’univers analysé“. 128 Anders als Barthes, der mit Jakobson und Mukařovský nach der Besonderheit literarischer Texte fragt, entwirft Greimas eine Semiotik des Diskurses als transphrastischer Syntax, die auf literarische, wissenschaftliche, mythische und politische Texte gleichermaßen anwendbar sein soll. Diese Semiotik orientiert sich nicht wie die Barthesʼ oder Mukařovskýs am poetischen Modell, sondern stellt einen Versuch dar, ein homogenes begriffliches Instrumentarium auf grundverschiedene Diskurstypen anzuwenden. Freilich war sich Greimas stets der Tatsache bewußt, daß literarische Texte anders konstruiert sind als politische oder wissenschaftliche Reden und daß sie in der Gesellschaft andere Funktionen erfüllen. Dennoch war sein Interesse für den spezifischen Charakter dieser Textsorte nie sehr ausgeprägt. Nur Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre faßte er die Möglichkeit einer Definition des poetischen Diskurses ins Auge. Sowohl in „La Linguistique structurale et la poétique“ (1967) als auch in seiner Einleitung zu dem Sammelband Essais de sémiotique poétique (1972) versucht er im Anschluß an Louis Hjelmslevs Unterscheidung von Inhalts- und Aus‐ drucksebene, die Besonderheit des Poetischen als Übereinstimmung beider Ebenen zu beschreiben, als „Isomorphismus von Ausdruck und Inhalt“ („isomorphisme de lʼexpression et du contenu“): „Es ergibt sich daraus eine hohe theoretische Wahrscheinlichkeit dafür, daß die poetischen Schemata des Ausdrucks und des Inhalts zusammen auftreten. Die Ko-Okkurrenz der Formen beider Ebenen ist für die Definition der poetischen Sprache grundlegend.“ 129 (Ko-Okkurrenz kann allgemein definiert werden als Über‐ einstimmung von Ausdrucksebene und Inhaltsebene, von phonetischen und 3. Algirdas J. Greimasʼ Ästhetik der Inhaltsebene 319 130 Siehe: E. Köhler, „‚Can vei la lauzeta mover‘. Überlegungen zum Verhältnis von phonetischer Struktur und semantischer Struktur“, in: ders., Literatursoziologische Perspektiven. Gesammelte Aufsätze, Heidelberg, Winter, 1982 und R. Kloepfer, Linguistik und Poetik, München, Fink, 1975, S. 100-112. 131 A. J. Greimas, „Pour une théorie du discours poétique“, op. cit., S. 14-15. semantisch-syntaktischen Einheiten: etwa in Cäsars berühmter Mitteilung: „Veni, vidi,vici“.) Diese Definition des poetischen Diskurses, die von einigen Untersuchun‐ gen Erich Köhlers über altprovenzalische Dichtung bestätigt und von Rolf Kloepfer in Linguistik und Poetik veranschaulicht wird 130 , ist sicherlich fruchtbar und brauchbar. Sie ist allerdings nicht auf alle Gedichte anwendbar und versagt vollends im Bereich der literarischen Prosa. Es kommt hinzu, daß Greimas, der noch in seiner Einleitung zu Essais de sémiotique poétique von einer „Ko-Okkurrenz an der Textoberfläche von zwei Paralleldiskursen, dem phonemischen und dem semantischen“ 131 , spricht, diese Hypothese über den poetischen Isomorphismus von Ausdruck und Inhalt nicht weiterentwickelt hat: sicherlich nicht in seinem literatur‐ wissenschaftlichen Hauptwerk über Guy de Maupassants Erzählung Deux Amis, auf die ich später ausführlicher eingehen will. Auch in De lʼimper‐ fection, wo verschiedene ästhetische und poetische Verfahren essayistisch kommentiert werden, wird die Frage nach der Besonderheit des poetischen oder literarischen Diskurses nur en passant (S. 95) aufgeworfen. Statt dessen richtet Greimas in fast allen seinen Arbeiten der 1970er und 80er Jahre sein Augenmerk auf die Wechselbeziehung von semantischen und narrativen Strukturen in wissenschaftlichen, politischen, literarischen und juristischen Texten. Dabei dominiert sein Interesse für die Inhaltsebene, deren semantische Komponenten er mit Hilfe des Isotopiebegriffs zu be‐ stimmen versucht. Schon im Zusammenhang mit dem poetischen Werk ging es ihm vorrangig darum, eine Hierarchie der im Text ausmachbaren Isotopien zu erstellen, um eine Monosemierung der „poetischen Nachricht“ zu ermöglichen. Doch was ist eine Isotopie? Laut Greimas können sowohl auf der Ausdrucksals auch auf der Inhalts‐ ebene Isotopien ausgemacht werden, so daß sowohl von phonetischen als auch von semantischen Isotopien gesprochen werden kann. Beide Arten von Isotopien sind zunächst ganz allgemein als Redundanzen oder Rekurren‐ zen bestimmter phonetischer oder semantischer Merkmale zu definieren. So können etwa Assonanz, Alliteration und Reim als Beispiele für phonetische Rekurrenz (wiederholtes Auftreten eines Merkmals) aufgefaßt werden. VII. Die Ästhetiken der Semiotik: Drei Modelle 320 132 A. J. Greimas, J. Courtés, Sémiotique. Dictionnaire raisonné de la théorie du langage, Paris, Hachette, 1979, S. 197. 133 A. J Greimas, Strukturale Semantik, op. cit., S. 86. In diesem Zusammenhang wird die semantische Isotopie von Greimas und Courtés definiert als: „wiederholtes Auftreten auf syntagmatischer Ebene von Klassemen, die die Homogenität des Diskurses als Aussage garantieren“ („lʼitérativité, le long dʼune chaîne syntagmatique, de classèmes qui assurent au discours-énoncé son homogénéité“). 132 Der Text wird also nicht als eine offene, vieldeutige, sondern als eine geschlossene und eindeu‐ tige oder zumindest monosemierbare und hierarchisch gegliederte Einheit konzipiert. Daß Greimasʼ Textbegriff einen hierarchischen und begrifflichen (also nicht anarchischen im Sinne von Barthes oder parataktischen im Sinne von Adorno) Charakter hat, zeigt die Isotopie-Definition aus der Strukturalen Semantik: „Dies erlaubt uns nunmehr zu präzisieren, was unter der Isotopie eines Textes zu verstehen ist: sie ist die Permanenz einer hierarchisierten Klassem-Basis, die dank der Eröffnung von Paradigmen (den klassemati‐ schen Kategorien) die Variationen der Manifestationseinheiten erlaubt; die Variationen tragen also, anstatt die Isotopie zu zerstören, im Gegenteil nur zu ihrer Bekräftigung bei.“ 133 Anders ausgedrückt: Die Tatsache, daß in einem bestimmten Text eine semantische Struktur oder Isotopie metapho‐ risch, metonymisch oder synekdochisch abgewandelt wird (z. B. Licht, Liebe, Gesundheit für „Leben“ und Dunkelheit, Haß, Krankheit für „Tod“), bedeutet keineswegs, daß eine Isotopie zerfällt, sondern daß sie variiert und dadurch zugleich bereichert und entwickelt wird. Für die Konstitution des Isotopiebegriffes sind die Termini Sem und Semem wesentlich; denn von einer semantischen Isotopie kann erst dann die Rede sein, wenn in einem Text (der größer oder kleiner als ein Satz sein kann) mindestens zwei Sememe („Wörter“ oder Lexeme im Kontext) ein und dasselbe Sem aufweisen. Ein Satz wie „Hans und Grete lieben einander und beabsichtigen zu heiraten“ bildet eine semantische Einheit, weil Sememe wie „Hans“, „Grete“, „lieben“ „beabsichtigen“, „heiraten“ das gemeinsame Sem „menschlich“ aufweisen. Zugleich enthalten die beiden Sememe „Hans“ und „Grete“ die Seme „männlich“ bzw. „weiblich“, die zusammen mit dem Sem „Geschlechtlichkeit“, das den Sememen „lieben“ und „heiraten“ innewohnt, vom Sem „menschlich“ eingefaßt werden. 3. Algirdas J. Greimasʼ Ästhetik der Inhaltsebene 321 134 W. Kallmeyer, W. Klein u. a., Lektürekolleg zur Textlinguistik, Bd. 1: Einführung, Frankfurt, Athenäum-Fischer, 1974, S. 147-148. 135 J. Link, Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe. Eine programmierte Einführung auf strukturalistischer Basis, München, Fink, 1979 (2. Aufl.), S. 73. Dieses bildet als allgemeinstes Sem den Oberbegriff der Isotopie und wird von Greimas als kontextuelles Sem oder Klassem (sème contextuel, classème) bezeichnet. Diese Bezeichnung rührt daher, daß die Klasseme durch ihre Rekurrenz im Diskurs Wortklassen bilden (etwa belebt/ unbelebt, tierisch/ menschlich), die als Isotopien bezeichnet werden. Eine Isotopie kommt also dadurch zustande, daß ein Klassem oder kontextuelles Sem durch Rekurrenz den Text dominiert, d. h. vom Aussagesubjekt „dominant gesetzt“ wird, wie Kallmeyer, Klein u. a. im Lektürekolleg zur Textlinguistik sagen. 134 Auch hier wird deutlich, daß Isotopie ein systematischer und hierarchi‐ scher Begriff ist, der primär der Monosemierung von Texten dient. Ein Lexem als Worteinheit im Lexikon ist an sich vieldeutig und in verschiedenen, auch widersprüchlichen Kontexten aktualisierbar: Ein Wort wie „Blatt“ hat im Wörterbuch zahlreiche Bedeutungen, zu denen unter anderem gehören: „Pflanzenblatt“, „Blütenblatt“, „Zettel“, „Zeitung“, „Karte“ („auch Gesamtheit der ausgeteilten Karten eines Spielers“), „flacher Teil eines Werkzeugs“, „fein ausgewalztes Blech“ etc. sowie die metaphorischen Ausdrücke „ein unbeschriebenes Blatt“ und „das steht auf einem anderen Blatt“. Der einzige gemeinsame Nenner dieser „Blätter“, den Greimas als Semkern (noyau sémique) bezeichnet, ist die „Plattheit“, die sowohl für das Blatt des Baumes als auch für das Zeitungsblatt charakteristisch ist. Im folgenden Satz wird nun unter Beibehaltung des Semkerns ein bestimmtes Sem als Klassem (nämlich „Presse“) dominant gesetzt, und alle anderen Seme („Natur“, „Technik“, „Kartenspiel“) entfallen: „Auch die Frankfurter Rundschau befaßt sich mit den Unruhen in Katalonien; das Blatt beschreibt die Ereignisse mit einer gewissen Ironie.“ In diesem Kontext wird das Lexem „Blatt“ (als vieldeutiges Wort im Lexikon) als Semem monosemiert, weil ausschließlich das Sem „Presse“, das auch den Sememen „Frankfurter Rundschau“, „befaßt“ und „beschreibt“ innewohnt, dominant gesetzt wird. Mit Jürgen Link kann man also „die Isotopie als gefügte Klassem-Hierarchie“ 135 auffassen, wobei das Wort „Hierarchie“ aus der „Dominantsetzung“ ableitbar ist, die dafür sorgt, daß ein Klassem als Oberbegriff den gesamten Text beherrscht. VII. Die Ästhetiken der Semiotik: Drei Modelle 322 136 A. J. Greimas, Strukturale Semantik, op. cit., S. 61. 137 Ibid. 138 F. Kafka, Der Prozeß, Frankfurt, Fischer, 1958, S. 155. Es gibt allerdings Texte wie Mißverständnisse und Witze, in denen die Dominantsetzung scheitert, so daß die allen Lexemen eigene Zwei- oder Mehrdeutigkeit erhalten bleibt. In Sémantique structurale gibt Greimas eine Anekdote wieder, die von einer vornehmen Abendgesellschaft handelt. Zwei Gäste gehen kurz hinaus auf die Terrasse, um Luft zu schnappen; einer von ihnen zeigt sich begeistert: „‚Vorzügliches Essen… und dann, entzückende Toiletten, wie? ‘ - ‚Darüber‘, sagt der andere, ‚kann ich nichts sagen.‘ ‚Wie das? ‘ - ‚Nun, ich bin nicht dort gewesen‘.“ 136 Das Aneinander-Vorbeireden besteht darin, daß der eine Redner sich auf der Isotopie „Kleidung“ bewegt, der andere auf der Isotopie „Sanitär“. „Das ‚geistige‘ Vergnügen“, kommen‐ tiert Greimas, „besteht in der Entdeckung zweier verschiedener Isotopien innerhalb einer vorgeblich homogenen Erzählung.“ 137 Auch in literarischen Texten kommen Zweideutigkeiten dadurch zu‐ stande, daß nicht alle Sememe einem Klassem als Oberbegriff subsumierbar sind und daß Klasseme und die ihnen entsprechenden Isotopien miteinander kollidieren. Im vorigen Abschnitt erwähnte ich Kafkas Parabel Vor dem Gesetz, die im Romantext auf den Isotopien „Recht“, „Bürokratie“, „Religion“, „Moral“, „Täuschung“ und „Textauslegung“ („Hermeneutik“) gelesen wer‐ den könnte: „In den einleitenden Schriften zum Gesetz heißt es von dieser Täuschung: Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz.“ 138 Es ist durchaus möglich, daß in Kafkas Text die Justiz als Metapher eine wichtige Rolle spielt, ebenso wie das unergründliche göttliche Gesetz. Daß der Versuch gelingen könnte, die Parabel zu monosemieren und auf eine allumfassende Isotopie festzulegen, halte ich allerdings für eher unwahr‐ scheinlich. Es sei denn, daß die von Josef K. und dem Geistlichen themati‐ sierte „Vieldeutigkeit“ der Schrift selbst zum obersten Klassem aufrückt und eine Hierarchisierung der im Text enthaltenen Isotopien ermöglicht. Aber auf derlei Paradoxien sollte sich eine rationalistische Theorie eigentlich nicht einlassen, denn die eindeutige Aussage des Textes wäre in diesem Fall die Feststellung der literarischen Polysemie: der Koexistenz heterogener Isotopien, d.h. mehrerer heterogener Klasseme in einer Pluri-Isotopie. Für den Rationalismus und Logozentrismus der strukturalen Semantik und Semiotik sind die Versuche von Greimasʼ Schülern charakteristisch, 3. Algirdas J. Greimasʼ Ästhetik der Inhaltsebene 323 139 S. Mallarmé, Gedichte. Französisch und Deutsch (übersetzt und kommentiert von G. Goebel), Gerlingen, Lambert Schneider, 1993, S. 32-33. 140 F. Rastier, „Systématique des isotopies“, in: Essais de sémiotique, op. cit., S. 87. Gedichte und andere literarische Texte auf Bedeutungen und Isotopien festzulegen. Der wohl bekannteste dieser Versuche ist François Rastiers Aufsatz „Systématique des isotopies“ (1972), der eine semantische Analyse von Stéphane Mallarmés Gedicht Salut zum Gegenstand hat: Rien, cette écume, vierge vers Nichts, dieser Schaum, der reine Vers, A ne désigner que la coupe; Nur Bezeichnung der Form des Kelches: Telle loin se noie une troupe So ertränkt sich fern eine Herde De sirènes mainte à l’envers. Von Sirenen, rückwärts zumeist. Nous naviguons, ô mes divers Wir halten Kurs, ihr mancherlei Amis, moi déjà sur la poupe Freunde, ich am Heck schon weit hinten, Vous l’avant fastueux qui coupe Ihr der prächtige Bug, der schneidet Le flot de foudres et d’hivers; Von Wettern und Wintern die Flut; Une ivresse belle m’engage Eine schöne Trunkenheit treibt mich Sans craindre même son tangage Daß ohne Furcht vor ihrem Schlingern De porter debout ce salut Ich im Stehn bring aus diesen Gruß Solitude, récif, étoile (Einsamkeit, Felsenklippe, Leitstern) A n’importe ce qui valut An gleichviel was jemals gelohnt Le blanc souci de notre toile. Die weiße Mühe unseres Zeuges. 139 Dieses Gedicht kann laut Rastier zunächst ziemlich wörtlich als Darstellung eines „Festessens“ („banquet“) und einer „Seefahrt“ („navigation“) gelesen werden. Doch „schon die Seichtheit dieser ersten Lektüre läßt ihren provi‐ sorischen Charakter erkennen“ 140 , heißt es in einer Fußnote des Autors. Die eigentliche, die „wahre“ Isotopie tritt erst dann in Erscheinung, wenn die Klasseme „banquet“ und „navigation“ als Metaphern für „écriture“, für Mallarmés Auffassung der „Schrift“ als „Negation“ („rien“), „Reinheit“ („vierge“) und „Einsamkeit“ („solitude“) gelesen werden. Dann können auch die Sememe der anderen beiden Isotopien - etwa „écume“ („Schaum“), „navi‐ guons“ („wir fahren“) oder „ivresse“ („Trunkenheit“) - auf dieser umfassen‐ den Isotopie entziffert werden, und das Klassem „Schrift“/ „écriture“ wird zum eigentlichen Gehalt des nur scheinbar vieldeutigen Textes. Obwohl Rastier einräumt, die von ihm vorgeschlagenen drei Lektüren seien „nicht die einzig VII. Die Ästhetiken der Semiotik: Drei Modelle 324 141 Ibid., S. 96. 142 Siehe: H. Verdaasdonk, „On the Possible Roles of Institutionalised Beliefs in the Theory of Literature: Interpretation as the Context-Dependent Grouping of Word Material“, in: Poetics Nr. 10, 1981, S. 469: „The establishment of isotopies thus remains arbitrary.“ möglichen“ („pas les seules possibles“), faßt er zusammen: „Jedenfalls ist eine Reflexivität von Mallarmés Text feststellbar, da dieser eine metaphorische Ausrichtung auf die Isotopie der Schrift aufweist (…).“ 141 Auch hier geht es also darum, den Text als eine semantische Hierarchie aufzufassen und zu beschreiben, wobei „Festessen“ und „Seefahrt“ als Metaphern für das „Schreiben“ („écriture“) gelesen werden. An dieser Stelle scheinen mir vier kritische Bemerkungen angebracht: 1. Es ist keineswegs sicher, daß alle vieldeutigen Texte auf diese Art hierar‐ chisiert und auf den Begriff als Klassem gebracht werden können: Kafkas mehrdeutige Parabel läßt vermuten, daß es nicht einfach sein dürfte, sie einer umfassenden Isotopie, d. h. einem Klassem als Oberbegriff, zuzuordnen; es sei denn, daß alle polysemen Texte grundsätzlich reflexiv gelesen und mit dem Klassem „Schrift“ verknüpft werden. 2. Eine der Hauptschwächen des hier verwendeten Isotopiebegriffs besteht darin, daß die semantische Isotopie nicht ausschließlich textimmanent zu konstituieren ist: Nur wer die sprachliche Situation kennt, der ein Text angehört, kann darüber entschei‐ den, welche Seme ein bestimmtes Semem als Lexem im Kontext enthält und welche nicht. Die Zuordnung eines Semems zu einer bestimmten Isotopie hängt also in vielen Fällen von kulturellen, sozialen und soziolinguistischen Faktoren ab. Ohne Rekurs auf den soziokulturellen Kontext könnte bei‐ spielsweise François Rastier in seiner semantischen Analyse von Mallarmés Gedicht Salut nicht behaupten, das Semem écume (Schaum) könne als Me‐ tonymie für „Champagner“ gelesen werden, der in Frankreich bei feierlichen Anlässen getrunken werde. 3. In diesem Zusammenhang könnte man mit dem niederländischen Literaturwissenschaftler Hugo Verdaasdonk noch einen Schritt weiter gehen und behaupten, der Isotopiebegriff entspreche nicht der Praxis empirischer Leser, die den Text in verschiedenen kulturellen Kontexten unterschiedlich rekonstruieren. 142 4. Schließlich sollte angemerkt werden, daß Greimas und seine Schüler den Isotopiebegriff vorwiegend auf die Inhaltsebene anwenden: als semantische oder sememische Isotopie. Auch Jean-Claude Coquet, der sich in Sémiotique littéraire (1973) mit dem von Greimas fast gleichzeitig thematisierten Isomorphismus zwischen Ausdruck und Inhalt befaßt, konzentriert sich - etwa in seinen Analysen von Rimbauds 3. Algirdas J. Greimasʼ Ästhetik der Inhaltsebene 325 143 Siehe: J.-Cl. Coquet, Sémiotique littéraire. Contribution à lʼanalyse sémantique du dis‐ cours, Tours, Mâme, 1973, Kap. 4 und 6. 144 Ibid., S. 69. 145 Ibid., S. 83. 146 Siehe: Cl. Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie, Frankfurt, Suhrkamp, 1969. 147 A. J. Greimas, Strukturale Semantik, op. cit., S. 208-209. Illuminations oder Apollinaires Colchiques - auf semantisch-syntaktische Zusammenhänge, also auf die Inhaltsebene. 143 Gerade Coquets frühe Arbeiten zeigen, daß es den Greimasianern primär um die Sinnsuche im Bereich des Inhalts geht. In seinen Kommentaren zu den Illuminations heißt es unmißverständlich: „Das Ganze bildet einen ‚linguistischen Gegenstand‘‚ auf den ohne weiteres eine eindeutige Über‐ setzung anzuwenden ist. Diese Übersetzung bezeichnen wir als sprachlichen Sinn des Werkes.“ („Lʼensemble forme un ‚objet linguistique‘ auquel il est aisé dʼappliquer une traduction univoque. Cette traduction, nous lʼappelons le sens linguistique de l’œuvre.“) 144 An anderer Stelle des Kommentars wird klar, daß dieser „linguistische Sinn“ als Grundstruktur des Textes begrifflich paraphrasiert werden kann und daß er den Ausgangspunkt aller (z. B. sozio‐ logischen oder psychoanalytischen) Interpretationen und Lektüren bildet: „Diese vier Paraphrasen bilden den ‚linguistischen Sinn‘ oder die Invariante des Textes („lʼinvariant du texte“); an dieser Stelle und nur an dieser Stelle öffnet sich der sehr mannigfaltige Spielraum der Exegeten.“ 145 Anders als bei Barthes ist es in der strukturalen Semiotik also durchaus möglich, den literarischen Text auf den Begriff zu bringen und seine Grund- oder Tiefenstruktur zum Ausgangspunkt aller Interpretationen und Rezeptionen zu machen. Ausgehend von Lévi-Straussʼ strukturaler Anthropologie, in der Mythen als Bedeutungssysteme untersucht werden 146 , entwirft Greimas eine Theorie der Tiefenstruktur (structure profonde), die im letzten Kapitel der Strukturalen Semantik, wo das Werk des kritisch-katholischen Schriftstellers Georges Bernanos (1888-1948) kommentiert wird, klare Konturen anzunehmen beginnt. Der Semiotiker geht von der Annahme aus, daß Bernanosʼ Texte vom semantischen Grundgegensatz Leben/ Tod strukturiert werden und daß alle übrigen Gegensätze und Unterschiede von dieser Dichotomie ableitbar sind. Eingefaßt wird dieser Gegensatz von der semantischen Isotopie Existenz: „Mit anderen Worten besteht die menschliche Existenz aus Leben und aus Tod, die zwei kontradiktorische und komplementäre Terme ihres noologischen Wesens sind.“ 147 Die globale Isotopie, auf der laut Greimas VII. Die Ästhetiken der Semiotik: Drei Modelle 326 148 Siehe: A. J. Greimas, Du Sens. Essais sémiotiques, Paris, Seuil, 1970, S. 138. 149 Siehe: Ibid., S. 137. die Texte von Bernanos zu lesen sind, kann nun mit Hilfe der Formel E = (L+T) zusammengefaßt werden. Man könnte hinzufügen, daß Leben und Tod sekundäre Isotopien oder Subisotopien der Isotopie Existenz bilden. Aus diesen Überlegungen leitet Greimas die achronische Grundstruktur von Bernanosʼ literarischem Universum ab, die er auf die folgende Formel bringt: In dieser Formel, in der L(eben) und T(od) einen Gegensatz (contraire) bilden, stehen L(eben) und Nicht-L(eben), T(od) und Nicht-T(od) im Widerspruch (contradiction) zueinander. Während L die positiven Definitionen des Lebens (Veränderung, Klarheit, Wärme) beinhaltet und Nicht-L die negativen Defi‐ nitionen des Todes (Identität, Dunkelheit, Kälte), beinhaltet T die positiven Definitionen des Todes (Schwere, Farblosigkeit, Monotonie) und Nicht-T die negativen Definitionen des Lebens (Reinheit, Luftförmigkeit, Farbe). Im Jahre 1968 hat Greimas diese „achronische“ Grundstruktur weiter formalisiert und das für die strukturale Semiotik besonders wichtige semio‐ tische Viereck (carré sémiotique) eingeführt. 148 Dieses Schema dient dazu, die hier im Zusammenhang mit Bernanosʼ Werk thematisierten Gegensätze (contraires) und Widersprüche (contradictions) systematischer und klarer darzustellen und die Beziehungen zwischen den Einheiten zu verdeutli‐ chen. Zur Verdeutlichung dient beispielsweise das Implikationsverhältnis zwischen Größen wie Leben - Nicht-Tod und Tod - Nicht-Leben. Der bei Bernanos aufgezeigte Gegensatz (contraire) zwischen Leben und Tod bein‐ haltet beispielsweise die zwei Widersprüche (contradictions) zwischen Leben und Nicht-Leben, zwischen Tod und Nicht-Tod sowie die Implikationen (implications) zwischen Leben und Nicht-Tod und Tod und Nicht-Leben 149 : 3. Algirdas J. Greimasʼ Ästhetik der Inhaltsebene 327 In seiner gründlichsten literatursemiotischen Analyse, in Maupassant. La sémiotique du texte: exercices pratiques (1976), setzt sich Greimas auf 267 Seiten mit Guy de Maupassants (1850-1893) kurzer Erzählung Deux Amis (6 Seiten) auseinander. Die Erzählung handelt von zwei Freunden, Sauvage und Morissot, die einander während des französisch-preußischen Krieges zufällig auf den Straßen von Paris begegnen. Beide sind fanatische Fischer und beschließen, sich beim französischen Kommandanten eine Sonderge‐ nehmigung zu holen, um jenseits der französischen Verteidigungslinien fischen zu können. Sie erreichen den Fluß und genießen trotz des Kanonen‐ donners am Mont-Valérien den ergiebigen Fischfang. Sie werden jedoch von preußischen Soldaten überrascht, deren Offizier sie der Spionage bezichtigt und ihnen droht, sie erschießen zu lassen, wenn sie ihm nicht das Kennwort der französischen Verteidigung verraten. Sie lehnen ab, werden erschossen, ins Wasser geworfen, und die preußischen Soldaten essen ihre Fische auf. Auch in der Analyse dieses Textes geht Greimas von dem Grundge‐ gensatz Leben/ Tod (Vie/ Mort) aus; er zeigt jedoch, daß die verschiedenen Terme des semiotischen Vierecks, die aus diesem Gegensatz hervorgehen, im individuellen Sprachgebrauch, im Idiolekt Maupassants, mit anderen se‐ mantischen Größen besetzt werden als im Idiolekt eines Georges Bernanos. Während Bernanos den Tod u. a. mit dem Wasser (Schwere, Kälte) verknüpft und den Nicht-Tod mit der Luft, assoziiert Maupassant den Tod mit der Erde (dem Mont-Valérien) und den Nicht-Tod mit dem Wasser. Beide Autoren verbinden das Leben mit dem Feuerelement (Maupassant: Sonne). Während aber bei Bernanos das Nicht-Leben durch die Erde symbolisiert wird, wird es bei Maupassant mit dem Himmel und der Luft assoziiert. So kommt ein doppeltes semiotisches Viereck zustande, in dem die Tiefenstrukturen von VII. Die Ästhetiken der Semiotik: Drei Modelle 328 150 Siehe: A. J. Greimas, Maupassant, op. cit., S. 141. 151 A. J. Greimas, Strukturale Semantik, op. cit., S. 212. 152 A. J. Greimas, in: H.-G. Ruprecht, „Ouvertures métasémiotiques: entretien avec Algirdas Julien Greimas“, in: Recherches sémiotiques/ Semiotic Inquiry, Bd. 4, Nr. 1, 1984, S. 9. Bernanosʼ und Maupassants literarischen Idiolekten durch Überlagerung vergleichbar werden 150 : Schon in seiner Strukturalen Semantik ging Greimas davon aus, daß es möglich sein müßte, anhand der im semiotischen Viereck dargestellten Tiefenstruktur die Handlungsabläufe des Textes zu beschreiben und zu erklären. Leben und Tod sind nicht nur semantische Größen, sondern zugleich handelnde Instanzen oder Aktanten: „Zugleich ist jedoch ihr syn‐ taktischer Status (…) der Status von Aktanten.“ 151 Dieser These liegt die Überlegung zugrunde, daß die semantisch-paradigmatischen Beziehungen die Handlungsstrukturen und die narrativen Abläufe von literarischen und nichtliterarischen Texten bestimmen: „Das Paradigmatische organisiert das Syntagmatische“ 152 , erklärt Greimas später in einem Gespräch mit Hans-Ge‐ orge Ruprecht. Es fragt sich natürlich, wie dies geschieht, d. h. wie der Übergang von der achronischen Struktur zum narrativen Ablauf („parcours narratif “, Greimas) erklärt und beschrieben werden soll. Sowohl in den 70er als auch in den 80er Jahren ist Greimas im Zusammenhang mit diesem Problem scharf kritisiert worden. Während er meint, daß vor allem die Implikationsver‐ hältnisse (etwa zwischen Leben und Nicht-Tod und Tod und Nicht-Leben) eine Dynamisierung des Modells ermöglichen, bemerkt Claude Bremond in Logique du récit (1973): „Schließlich ist nicht einzusehen, inwiefern das Implikationsverhältnis‚ das zwischen S 1 und S 2 (reich → nicht arm) oder S 2 3. Algirdas J. Greimasʼ Ästhetik der Inhaltsebene 329 153 Cl. Bremond, Logique du récit, Paris, Seuil, 1973, S. 93. 154 W. O. Hendricks, „Circling the Square: On Greimasʼs Semiotics“, in: Semiotica 75, 1/ 2, 1989, S. 116. 155 Ibid., S. 114. Siehe aber A. J. Greimas, Maupassant, op. cit., S. 25, wo trotz der Einwände Bremonds behauptet wird, „die Dauer sei die zeitliche Darstellung eines Zustandes“, „que la durée est la représentation temporelle dʼun état“. 156 W. O. Hendricks, „Circling the Square”, op. cit., S. 115. 157 Siehe: D. Sörensen, Theory Formation and the Study of Literature, Amsterdam, Rodopi, 1987, Kap. 7-9. und S 1 , (arm → nicht reich) vorkommt, irgendwie die Rolle eines Motors bei der Hervorbringung der Ereignisse der Erzählung spielen könnte. Dieses Verhältnis ist achronisch und kann nicht aufhören, es zu sein (…).“ 153 Es wäre absurd zu erwarten, erklärt Bremond, daß im Erzähltext „nicht arm“ als Vorstufe zu „reich“ vorausgesetzt werden müsse: d. h. diese Implikation beinhalte weder eine logische noch eine zeitliche Anordnung. In einem Artikel aus dem Jahre 1989 ergänzt W. O. Hendricks Bremonds Kritik am „semiotischen Viereck“ mit der Behauptung, „Greimasʼ narra‐ tive Oberflächenstruktur stimm(e) nicht in allen Punkten (is not in a term-by-term correspondence) mit den vier Termen der Tiefengrammatik, aus denen sich das semiotische Viereck zusammensetzt, überein (…).“ 154 Auch er stellt das Implikationsverhältnis in Frage und greift dabei Bremonds Kritik an der formalen Logik des „carré sémiotique“ wieder auf: Greimas gehe irrtümlich davon aus, daß „nicht reich“ „arm“ impliziert; formallogisch sei jedoch nur die Umkehrung dieser Implikation („arm“ impliziert „nicht reich“) haltbar. 155 Obwohl ich meine, daß das Implikationsverhältnis, an dem sich die Kritik seit rund 40 Jahren festgebissen hat, sekundär ist, da der narrative Ablauf ebensowenig aus dem Schema der Tiefenstruktur logisch abgeleitet werden muß wie die parole aus der langue oder Chomskys Performanz aus der Kompetenz, gebe ich Hendricks recht, wenn er bemerkt: „Greimasʼ Auffassung der Produktion eines narrativen Textes als eines dreistufigen generativen Ablaufs - von der narrativen Tiefengrammatik zur narrativen Oberflächengrammatik und zur linguistischen Erscheinungsform - bleibt in höchstem Maße programmatisch und wurde nie vollständig ausgearbei‐ tet.“ 156 Hendricks geht leider nicht auf Greimasʼ Maupassant-Buch ein, mit dem sich jedoch Dolf Sörensen befaßt, der die logischen und terminologi‐ schen Probleme der strukturalen Semiotik in allen Einzelheiten erörtert. 157 VII. Die Ästhetiken der Semiotik: Drei Modelle 330 158 Siehe: A. J. Greimas, J. Courtés, Sémiotique, op. cit., S. 3. 159 Siehe: A. J. Greimas, Strukturale Semantik, op. cit., S. 163-166. Trotz Hendricksʼ Kritik bin ich - mit Sörensen - der Meinung‚ daß Grei‐ masʼ Modell außerordentlich fruchtbar ist, vor allem wenn es darum geht, die Aktanten eines literarischen‚ politischen oder wissenschaftlichen Diskurses mit dessen semantischen und ideologischen Grundlagen zu korrelieren. Es könnte in diesem Zusammenhang von einer Homologie zwischen den narrativen (aktantiellen) und den semantischen Grundlagen des Diskurses die Rede sein. Diese Homologie tritt am klarsten in der Maupassant-Analyse zutage, wo die Symbole des Lebens und des Todes („Sonne“, „Mont-Valérien“, „Wasser“, „Himmel“) zu Aktanten werden, die bestimmten Isotopien ange‐ hören und diese Isotopien zusammen mit anderen semantischen Einheiten konstituieren. Doch was ist ein Aktant? Der Begriff stammt von Louis Tesnière und bezeichnet eine narrative Rolle oder Funktion im Sinne von V. Propp, dessen strukturaler und morphologischer Formalismus Greimas viel nachhaltiger beeinflußt hat als die Ansätze Šklovskijs oder Ejchenbaums (vgl. Kap. II. 5). Da es Subjektaktanten (Helden, Widersacher) und Objektaktanten (Wertgegenstände, Werte oder die beiden Freunde, die von den Preußen gefangengenommen werden) gibt, kann der Funktionsbegriff sowohl „Ak‐ tivität“ als auch „Passivität“ beinhalten. („Der Schatz“, „die Wahrheit“ oder „die Prinzessin“ können Objektaktanten sein.) Zunächst ist es wichtig, mit Greimas die Aktanten des Aussagevorgangs (énonciation, communication) von den Aktanten der Aussage (énoncé, nar‐ ration) zu unterscheiden 158 : Während die Aktanten des Aussagevorgangs (énonciateur = Sender; énonciataire = Empfänger) dem Diskurs äußerlich sind, sind die Aktanten der Aussage als handelnde Instanzen im Diskurs selbst anzutreffen: als Auftraggeber (destinateur), Gegenauftraggeber (anti‐ destinateur), Beauftragter (destinataire), Gegenbeauftragter (antidestinataire), Subjekt (sujet), Antisubjekt (antisujet) und Objekt (objet). In der Strukturalen Semantik fügt Greimas symmetrisch zu den hier angeführten Instanzen den Helfer (adjuvant) und den Widersacher (opposant) hinzu, auf die er später allerdings verzichtet. 159 Jeder Aktant kann im Diskurs in der Gestalt von verschiedenen Akteuren auftreten, und ein Akteur kann, wie Courtés bemerkt, als Synthese mehrerer 3. Algirdas J. Greimasʼ Ästhetik der Inhaltsebene 331 160 Siehe: J. Courtés, Introduction à la sémiotique narrative et discursive, Paris, Hachette, 1976, S. 95. 161 A. J. Greimas, Du Sens II. Essais sémiotiques, Paris, Seuil, 1983, S. 49. 162 A. J. Greimas, Du Sens, op. cit., S. 234. Aktanten in Erscheinung treten. 160 So kann z. B. im politischen Diskurs der kollektive Aktant „Partei“ zahlreiche individuelle Akteure subsumieren, und ein Parteimitglied kann als Akteur an mehreren Aktanten („Partei“, „Gewerkschaft“, „Kunst“, „Revolution“) teilhaben und mit ihnen in innere und äußere Konflikte geraten: „(…) Wenn ein Aktant (A 1 ) im Diskurs in mehreren Akteuren (a 1 , a 2 , a 3 ) in Erscheinung treten kann, so ist auch der umgekehrte Fall denkbar, in dem ein einzelner Akteur (a 1 ) als Synthese mehrerer Aktanten (A 1 , A 2 , A 3 ) auftreten kann.“ 161 Hier wird deutlich, welche Funktion der Aktantenbegriff erfüllt und weshalb er nicht schlicht durch Bezeichnungen wie „Protagonist“ oder „Person“ zu ersetzen ist; denn auch Kollektive und Begriffe können Aktanten sein: die „Partei“, die „Wahrheit“, die „Wissenschaft“. Greimas stellt die funktionale Beziehung zwischen den Aktanten inner‐ halb der Erzählung als récit am anschaulichsten dar, wenn er das hierar‐ chische Verhältnis von Auftraggeber (destinateur) und Held (héros, sujet) schildert: „Der Auftraggeber (eine gesellschaftliche Autorität, die dem Hel‐ den einen bestimmten Heilsauftrag gibt) stattet den Helden mit der Rolle des Beauftragten aus und stellt dadurch eine kontraktuelle Beziehung her, da ja vorausgesetzt wird, daß die Erfüllung des Vertrages eine Belohnung mit sich bringt (…).“ 162 Diese Darstellung führt mitten in die Problematik des Maupassant-Bu‐ ches. Wie immer geht dort Greimas von einer dualistisch-polemischen Struktur aus und zeigt, daß dem semantischen Gegensatz Leben/ Tod die Gegensätze zwischen dem Auftraggeber Sonne und dem Gegenauftraggeber Mont-Valérien sowie zwischen dem Kollektivsubjekt deux amis (Sauvage und Morissot) und dem kollektiven Antisubjekt die Preußen entsprechen. Gesteigert wird die Komplexität dieses Aktantenmodells durch die Tat‐ sache, daß in Übereinstimmung mit den semantischen Einheiten Leben - Nicht-Leben, Tod - Nicht-Tod sowohl auf seiten des Subjekts als auch auf seiten des Antisubjekts zwei Auftraggeber ausgemacht werden können: Die Sonne als Auftraggeber der zwei Freunde wird durch den passiven Auftraggeber Wasser („non anti-destinateur“) ergänzt; Mont-Valérien als Gegenauftraggeber, d. h. Auftraggeber des Antisubjekts „Preußen“, wird VII. Die Ästhetiken der Semiotik: Drei Modelle 332 163 A. J. Greimas, Maupassant, op. cit., S. 63-64. 164 Ibid., S. 258. 165 Ibid., S. 264. durch den passiven Gegenauftraggeber („non-destinateur“) Himmel ergänzt. Greimas faßt zusammen: „Geht man von der polemischen Struktur der Erzählung aus, so erscheint jedes der beiden narrativen Subjekte - das Subjekt ‚zwei Freunde‘ und das Antisubjekt ‚die Preußen‘ - als mit einem doppelten Auftraggeber ausgestattet.“ 163 Er zeigt sodann in allen Einzelheiten, wie das narrative Programm (pro‐ gramme narratif) des Gegenauftraggebers Mont-Valérien als „Todessuche“ („la quête de la ‚mort‘“) auf einer Isotopie des Scheins (paraître) über das narrative Programm des Auftraggebers Sonne („Lebenssuche“, „quête de la vie“) triumphiert. Auf einer symbolisch kognitiven Isotopie, deren christliche Komponenten Greimas hervorhebt, siegen allerdings die beiden Freunde als Vertreter der Sonne, des Wassers und des Lebensprinzips: Einerseits lassen sie sich von den Preußen nicht gegeneinander ausspielen und behaupten sich im Tod als kollektiver Aktant, andererseits vereinigen sie sich schließlich mit einem ihrer beiden Auftraggeber: in dem Augenblick, wo ihre Leichen von den Preußen ins Wasser geworfen werden. So kann Greimas am Ende seiner Untersuchung zusammenfassen: „Die realistische Isotopie, auf der S 2 (Antisubjekt = Preußen, P. V. Z.) sein Tun und die von ihm begehrten Werte ansiedelt, ist folglich die Isotopie des Nicht-Wissens und der Irrealität.“  164 Anders formuliert: „Das narrative Programm von S 2 konnte in seinen Ergebnissen als Sieg auf der Ebene des Scheins und als Niederlage auf der des Seins gelesen werden; und umgekehrt endete das narrative Programm von S 1 (zwei Freunde, P. V. Z.) mit einer Scheinniederlage und einem wirklichen Sieg.“ 165 Wichtig ist die Überlegung, daß der „wirkliche Sieg“ der beiden Freunde auf der Ebene der Modalitäten herbeigeführt wird, die Greimas in „virtu‐ alisierende“ (müssen, wollen), „aktualisierende“ (können, wissen) und „rea‐ lisierende“ (tun, sein) einteilt. Vor allem auf der Ebene der kognitiven Modalitäten (wollen, wissen, sein) erringen Sauvage und Morissot einen Sieg über die Preußen, indem sie den Verrat ablehnen, sich als Einheit („zwei Freunde“, „deux amis“) definieren und schließlich mit einem ihrer Auftraggeber, mit dem Lebensprinzip „Wasser“, vereinigt werden. Denn die Vereinigung mit dem Auftraggeber ist in Greimasʼ Theorie als Triumph zu werten. 3. Algirdas J. Greimasʼ Ästhetik der Inhaltsebene 333 166 A. Jefferson, „Semiotics of a Literary Text“, in: PTL Nr. 3, 1977, S. 584. 167 Ibid., S. 586. 168 Cl. Bremond, Logique du récit, op. cit., S. 89. 169 A. J. Greimas, J. Fontanille, Sémiotique des passions. Des états de choses aux états d’âme, Paris, Seuil, 1991, S. 52. Eine gründliche Analyse von diesem Werk hat Thaewan Kim vorgelegt: Vom Aktantenmodell zur Semiotik der Leidenschaften. Eine Studie zur narrativen Semiotik von Algirdas J. Greimas, Tübingen, Narr, 2002. Spätestens an dieser Stelle kommen Zweifel auf: Wäre es nicht möglich, Maupassants Erzählung auch anders zu lesen und den symbolträchtigen Handlungsablauf umzudeuten? Mit Recht fragt sich Ann Jefferson in ih‐ rer Rezension des Maupassant-Buches, ob Greimas nicht ein bestimmtes Schema in den Text hineininterpretiert: „Ist es Zufall, daß Greimas in seiner Bernanos-Deutung am Ende der Strukturalen Semantik von derselben Bedeutungsebene (Leben/ Tod, P. V. Z.) ausgeht und sich derselben Begriffe bedient? “ 166 Mit Recht wirft sie ihm vor, „Oberflächenmerkmale“ („surface features“) 167 hätten für ihn keinerlei Bedeutung. Darin stimmt sie mit Claude Bremond überein, der im Zusammenhang mit Greimasʼ Begriff der Tiefenstruktur bereits im Jahre 1973 bemerkte: „Dennoch kehrt er dem Wesentlichen den Rücken: Der eigentliche Sinn der Erzählung wird in den achronischen begrifflichen Beziehungen ange‐ siedelt.“ 168 Dem Zeitablauf trägt Greimas noch am ehesten in seinem letzten größe‐ ren Werk, das er gemeinsam mit Jacques Fontanille verfaßt hat, Rechnung. In Sémiotique des passions (1991) nimmt er außer der Handlungs- und Ereigniskausalität auch die affektive Entwicklung der Protagonisten in den Blick und zeigt, wie beispielsweise in Marcel Prousts A la recherche du temps perdu der Ich-Erzähler als Hauptaktant (des Aussagevorgangs und der Aussage) das Interesse an seinem Objekt-Aktanten Albertine verliert: „So wird Albertine, gerade in dem Augenblick, da der Erzähler von A la recherche… sie heiraten soll, zu einem Nicht-Objekt, zu einer Quelle von Langweile und Überdruß (…).“ 169 Dennoch bewegt sich seine Analyse weiterhin im Bereich der Handlungen, Ereignisse und Emotionen und blendet die bei Proust so wichtige Ausdrucksebene aus, auf der gerade die Signifikanten (Namen von Städten wie Balbec, Coutances oder Vitré) als Kern der Kunst und Bezugspunkt der „unwillkürlichen Erinnerung“ („mémoire involontaire“) aufgewertet werden. Tatsächlich haben wir es bei Greimas mit einer semiotischen Ästhetik der Inhaltsebene zu tun, in deren Rahmen literarische Texte auf den Begriff VII. Die Ästhetiken der Semiotik: Drei Modelle 334 170 A. J. Greimas, Du Sens, op. cit., S. 187. 171 A. J. Greimas, J. Courtés, Sémiotique, op. cit., S. 32. 172 A. J. Greimas, Maupassant, op. cit., S. 33. 173 Siehe: Ch. Mauron, Des Métaphores obsédantes au mythe personnel. Introduction à la psychocritique, Paris, Corti, 1983. Mauron räumt zwar ein, daß seine „Psychocritique“ einen partiellen Charakter hat und nicht den Anspruch erhebt, die Gesamtproblematik des Werks zu erhellen. Andererseits macht er kein Hehl aus seinem Glauben, man könne wesentliche Aspekte des Textes aus dem Unbewußten des Autors erklären, aus der „personnalité inconsciente“ (S. 13). Siehe auch: S. Doubrovsky, Pourquoi la Nouvelle Critique ? , Paris, Denoël-Gonthier, 1966, S. 146: „Pour Mauron, lʼœuvre elle-même annonçait et révélait le principe de sa propre unité, mais la clé de celle-ci, en dernière analyse, était dans le système affectif particulier à la personnalité inconsciente de lʼauteur.“ gebracht werden sollen: in der das Verhältnis von Tiefenstruktur und Aktantenmodell sowie die Beziehungen innerhalb des Aktantenmodells als Hierarchien gedacht werden, in der von einer „hierarchischen Struktur des Inhalts“ 170 die Rede ist und in der schließlich behauptet wird, „daß jedes semiotische System eine Hierarchie ist“ („que tout système sémiotique est une hiérarchie“). 171 In Übereinstimmung mit dieser Ästhetik wird in Maupassant die „Illu‐ sion der Textvielfalt“ zurückgewiesen. Es ist dort von der „Illusion des Text-‚reichtums‘ und der Vielzahl der möglichen Lektüren“ 172 die Rede. In dieser Hinsicht ist das Maupassant-Buch durchaus als eine versteckte Polemik gegen Roland Barthesʼ S/ Z zu lesen: als eine zugleich rationalisti‐ sche und „hegelianische“ Alternative zum spielerisch metaphorisierenden Nietzscheanismus. 4. Greimas in der Nouvelle Critique und in der Rezeptionsästhetik Innerhalb der französischen Nouvelle Critique der 1960er und 70er Jahre steht Greimas dem Psychoanalytiker Charles Mauron und dem Hegelianer Lucien Goldmann sicherlich näher als dem Nietzscheaner und Semiotiker Barthes. Während Mauron meint, mit Hilfe des persönlichen Mythos, dem „mythe personnel“ 173 des Autors, literarische Texte eindeutig interpretieren zu können, legt sie Goldmann (vgl. Kap. II. 4) mit Hilfe des Begriffes der „Bedeutungsstruktur“ („structure significative“) auf Weltanschauungen fest. Wäre es nicht möglich, die Bedeutungsstruktur des Hegelianers als 4. Greimas in der Nouvelle Critique und in der Rezeptionsästhetik 335 174 A. J. Greimas, Maupassant, op. cit., S. 55. 175 R. Schleifer, A. J. Greimas and the Nature of Meaning, Lincoln, Univ. of Nebraska Press, 1987, S. 131. Zu Schleifers Buch siehe auch die kroatische Rezension von M. Beker in Umjetnost riječi XXXII, Nr. 4, 1988: „Greimasov prilog suvremenoj semiotici“, vor allem S. 338 und S. 342. 176 H. U. Gumbrecht, „Algirdas Julien Greimas“, in: W.-D. Lange (Hrsg.), Französische Literaturkritik der Gegenwart in Einzeldarstellungen, Stuttgart, Kröner, 1975, S. 349. semiotisches Viereck, als Tiefenstruktur zu denken und sie semiotisch zu formalisieren? Wäre es nicht möglich, Maurons „mythe personnel“ auf diese Art semiotisch als „idiolecte“ zu präzisieren? Jedenfalls wird der informierte Leser an Goldmanns Le Dieu caché erin‐ nert, wenn er in Greimasʼ Maupassant-Buch erfährt, daß eine adäquate Texterfassung „eine Kenntnis der Totalität der analysierten Textwelt oder zumindest ihres repräsentativen Textmusters voraussetzt“ („exige la con‐ naissance de la totalité de lʼunivers analysé, du moins de son échantillon représentatif “). 174 Den Hegelianismus von Greimasʼ Ästhetik faßt Ronald Schleifer prägnant zusammen, wenn er den Gegenstand der strukturalen Se‐ miotik als „the phenomenally felt meaningful whole of human discourse“ 175 definiert. Auch hier liegt der Akzent auf „whole“, auf der Totalität. In diesem Kontext wird klar, weshalb Vertreter der Rezeptionsästhetik gegen Goldmann und Greimas fast gleichlautende Argumente ins Feld führen. Wie Ann Jefferson heben sie (als Schüler Mannheims und der Wissenssoziologie) die historische Kontingenz der strukturalen Semiotik und der von ihr artikulierten Textbedeutungen hervor; zugleich betonen sie die Leserrolle. So spielt beispielsweise H. U. Gumbrecht Jan Mukařovskýs rezeptionsthe‐ oretischen Begriff des „ästhetischen Objekts“ (vgl. Kap. V) gegen die struktu‐ rale Semiotik aus: „Damit ist die Textstruktur im Hinblick auf die ästhetische Problematik beileibe nicht zur Bedeutungslosigkeit degradiert in dem Sinne, daß jeder Text bei entsprechender ‚Verwendung‘ zum ästhetischen Objekt werden könnte. Vielmehr qualifizieren nur bestimmte Strukturen (von deren Bestimmung wir freilich m. E. noch weit entfernt sind) Texte zu potentiellen ästhetischen Objekten; diese Potentialität kann aber erst dann aktualisiert werden, wenn eine gewisse ‚dynamische‘ (Mukařovský) Beziehung zwi‐ schen dieser Struktur und der Disposition der Leser besteht.“ 176 Wie so oft steht auch hier das Wesentliche in der Klammer: Die Vertreter der Rezeptionsästhetik, die durchaus mit Gumbrechts „wir“ gemeint sein könnten, sind von einer semantisch-narrativen Darstellung der Textstruktu‐ VII. Die Ästhetiken der Semiotik: Drei Modelle 336 177 A. J. Greimas, J. Courtés, Sémiotique, op. cit., S. 207. 178 Ibid. 179 Ibid. ren tatsächlich noch weit entfernt. Ihre Beteuerungen, daß literarische Texte natürlich nicht jede beliebige Lektüre zulassen, bleiben reiner Exorzismus des Gegenstandes, solange dieser nicht auf semantischer und narrativer Ebene erfaßt wird. Greimas, der bisher mit beeindruckender Zielstrebigkeit allen „dekon‐ struktivistischen“ Modeerscheinungen getrotzt hat, ist durchaus in der Lage, Barthesʼ bekanntem Hinweis auf den „grenzenlosen Rezeptionsprozeß“ zu begegnen: „Der Eindruck einer endlosen ‚Offenheit‘ des Textes kommt häu‐ fig über Teillektüren zustande (…).“ 177 Der Text wird nicht in seiner Gesamt‐ heit erfaßt, so daß die Isotopien „in der Luft hängen“ und einander scheinbar widersprechen; so wird die Tatsache übersehen, daß der Text nur „eine begrenzte Anzahl von möglichen Lektüren zuläßt“ („un nombre restreint de lectures possibles“). 178 Entscheidend ist meiner Meinung nach Greimasʼ These, daß jeder Text bestimmte lexikalische, semantische und syntaktische Zwänge enthält („contraintes inscrites dans le texte lui-même“) 179 ‚ die die Strukturale Semiotik beschreiben kann. Problematisch scheint mir sein hegelianisches Vorurteil zu sein, das an Goldmanns genetischen Strukturalismus erinnert: die These, daß literari‐ sche Texte als homogene, bruchlose Totalitäten aufgefaßt werden können, deren Isotopien stets hierarchisch zu ordnen sind. Die Praxis der Avantgarde zeigt, daß dies ein klassizistisches („hegelianisches“) Ideologem ist. Ebenso problematisch scheint mir Greimasʼ rationalistischer Verzicht auf die theoretische Reflexion zu sein: Was geschieht, wenn nicht die Begriffe der Strukturalen Semiotik auf Maupassants Deux Amis angewandt werden, sondern die Begriffe einer anderen theoretischen Metasprache? Erscheint in diesem Fall der Mont-Valérien auch als „Auftraggeber“ der preußischen Soldaten - oder nimmt er eine andere Bedeutung an? Was geschieht, wenn nicht der Isotopiebegriff, sondern ein konkurrierender semantischer Begriff angewandt wird? Dann wird das Objekt - die Erzählung Deux Amis - anders (re-)konstruiert; es büßt jedoch nicht seine Identität ein; und die verschiedenen Objektkonstruktionen bleiben vergleichbar. Auf dieses Problem komme ich im vorletzten Kapitel zu sprechen. 4. Greimas in der Nouvelle Critique und in der Rezeptionsästhetik 337 1 J. Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt, Suhrkamp, 1972, S. 71; LʼEcriture et la différence, Paris, Seuil, 1967, S. 68. N.B. Da Derrida immer wieder die Möglichkeit der Übersetzung in Frage gestellt hat, wird hier neben der deutschen Übersetzung in vielen Fällen auch das Original zitiert. 2 Ibid., S. 380; S. 369. VIII. Dekonstruktion: Theorie und Praxis Das von Jacques Derrida (1930-2004) in der Philosophie entwickelte Verfahren der Dekonstruktion wird hier nicht deshalb kommentiert, weil es sich dem Lite‐ raturwissenschaftler als Modeerscheinung der 1980er und 90er Jahre aufdrängt, sondern weil es im Gesamtkonzept dieses Buches eine wesentliche Funktion erfüllt. Wie Adorno, wie Bachtin tritt Derrida immer wieder als rebellischer Erbe Hegels und radikaler Hegelkritiker auf. Intensiver und systematischer als Barthes setzt er sich - ähnlich wie die amerikanischen Vertreter der deconstruction - mit Nietzsches Destruktion des Wahrheitsbegriffs auseinander und richtet seine De(kon)struktion auf sie aus. „Hegel encore, toujours… Nochmals Hegel, immer noch“, heißt es in seinem Kommentar zu Michel Foucaults Wahnsinn und Gesellschaft (1961). 1 In einem Artikel über Georges Batailles Hegel-Kritik warnt Derrida vor einer oberflächlichen Abfertigung des Hegelianismus, welche es diesem erleichtern würde, „seine gewaltigen Mittel der Bestrickung“ 2 zu entfalten. Weit davon entfernt, ein „toter Hund“ zu sein, ist Hegel in Derridas Augen ebenso lebendig und gefährlich wie für die Junghegelianer und deren „Nachkommen“ Adorno, Benjamin und Bachtin. Wie die Junghegelianer Vischer, Stirner und Feuerbach, wie Bachtin und die Vertreter der Kritischen Theorie wendet sich Derrida leidenschaftlich gegen Hegels systematische Philosophie, gegen seinen Systembegriff, seine Vorstellung von einer Identität zwischen Subjekt und Objekt in der absolu‐ ten Idee sowie seinen zentralen, systembedingenden und systembildenden Terminus der Aufhebung. In Derridas Kritik des Hegelianismus stößt man immer wieder auf Spuren junghegelianischen Denkens: auf die Hervorhe‐ bung der Ambivalenz (Vischer, Nietzsche), des Grotesken und Komischen (Vischer, Ruge), des Spiels, der Maske und der Metapher (Vischer, Nietz‐ sche), der Religionskritik (Feuerbach, Marx, Nietzsche). Sein umfangreichster Kommentar zu Hegel (Glas, Totenglocke, 1974), der den vielsagenden und polemischen Untertitel Que reste-t-il du savoir absolu? 3 P. de Man, Blindness and Insight. Essays in the Rhetoric of Contemporary Criticism, New York, Oxford University Press, 1971, S. 137. 4 E. Behler, Derrida-Nietzsche/ Nietzsche-Derrida, Paderborn, Schöningh, 1988, S. 14. (Was ist vom absoluten Wissen übriggeblieben? ) trägt, ist eine Parallellektüre von Hegels Philosophie und den Schriften Jean Genets‚ eines revoltierenden Homosexuellen, der anarchistische Dramen wie Haute surveillance (1949) und Les Paravents (1961) sowie den in Glas häufig zitierten Journal du voleur (1949) publizierte. In dieser Parallellektüre wird Hegels System in einem karnevalistischen Kontext als Herrschaftsmechanismus und „phal‐ logozentrische“ Apologie der Gewalt der Gegenwart in Frage gestellt, „dekonstruiert“. In diesem Kontext nimmt es nicht wunder, daß Derrida sich stärker noch als Barthes, Bataille oder Foucault an Nietzsche, vor allem an des‐ sen systemfeindlicher und essayistischer Schreibweise, orientiert. Ganz zu Recht spricht Paul de Man in Blindness and Insight (1971) von „Derridaʼs Nietzschean theory of language“. 3 Nicht nur Derridas Sprachtheorie ist nietzscheanisch, seine Philosophie als ganze ist es. Daher ist auch Ernst Behler zuzustimmen, wenn er bemerkt: „Nietzsche war von fundamentaler Bedeutung für Derrida“. 4 Denn Nietzsches Religionskritik, sein Begriff des Dionysischen sowie seine Zersetzung der metaphysischen Wahrheiten durch Aufwertung des Signifikanten und der Metapher fanden allesamt Eingang in Derridas dekonstruktiven Diskurs. Im Anschluß an diese Überlegungen soll die Theorie der Dekonstruk‐ tion im folgenden als „junghegelianische“ Hegelkritik und Fortsetzung von Nietzsches Destruktion der Metaphysik gedeutet werden. Explizit ist hier von einer Deutung, genauer Objektkonstruktion im Sinne der Semiotik und des Radikalen Konstruktivismus (vgl. Kap. IX) die Rede, da meine Darstellung der Dekonstruktion nur eine mögliche und keinesfalls die einzig mögliche Konstruktion dieses Gegenstandes ist. Dieser wäre auch anders zu konstruieren: z. B. im Zusammenhang mit Husserls Phänomenologie und Heideggers Seinsphilosophie, die für Derrida ebenso wichtig sind wie seine Hegelkritik oder seine Anlehnung an Nietzsche und die ich hier keineswegs ausklammern oder übergehen will. Meine Deutung, deren Partikularität ich gern zugebe, ist aus dem hier konstruierten globalen Kontext ableitbar, der vom Spannungsverhältnis zwischen Kant und Hegel sowie von dem zwischen Hegel und Nietzsche strukturiert wird. Es versteht sich darum von selbst, daß in diesem Zusam‐ VIII. Dekonstruktion: Theorie und Praxis 340 menhang den Junghegelianern, die in ihrer Hegelkritik auch auf Kant rekurrieren und zugleich Nietzsches destruktiven Diskurs antizipieren, eine wichtige Rolle zufällt. Es kommt hinzu, daß die amerikanischen Vertreter der Dekonstruktion, auf die ich hier eingehen will (Paul de Man und Geoffrey H. Hartman), eher im hegelianisch-nietzscheanischen als im phänomeno‐ logischen Kontext zu verstehen sind. Auch sie machen sich Nietzsches Aufwertung des Signifikanten und der Metapher zu eigen. Eine jede Deutung oder Objektkonstruktion reizt in der gegenwärtigen sprachlichen Situation zum Widerspruch, zur Dekonstruktion: schon aus diesem Grunde muß ich davon ausgehen, daß auch meine Darstellung von Derridas kritischer Philosophie im „junghegelianischen“ Kontext, d. h. zwischen Hegel und Nietzsche, dekonstruiert wird. Ich meine allerdings, daß im Bereich der Sozialwissenschaften, zu denen ich auch die Litera‐ turwissenschaft rechne, weil sie es mit gesellschaftlichen und nicht mit Naturprodukten zu tun hat, die Dekonstruktion nicht der Wahrheit letzter Schluß sein sollte: In Ideologie und Theorie (1989) versuchte ich zu erklären, weshalb nicht Dekonstruktion (Derrida) und Parataxis (Adorno, vgl. Kap. IV) die kritische Sozialwissenschaft fördern, sondern eine dialektische Theorie, die von kritischer Ambivalenz und Reflexion ausgeht und einen interdiskursiven Dialog zwischen heterogenen theoretischen Positionen anvisiert. Auf sie komme ich im vorletzten Kapitel zu sprechen. Vorerst mag der Hinweis genügen, daß in den Sozialwissenschaften die Dekonstruktion zwar zum Abbau erkenntnishemmender Hindernisse beitragen kann (z. B. eines systematischen Denkens, das sich mit seinen Gegenständen identisch wähnt), daß sie jedoch im Gegensatz zu einer dialo‐ gischen Theorie nicht die Entwicklung der Sozialwissenschaften begünstigt: Während die Dekonstruktion nahezu alle Prämissen des theoretischen Denkens als metaphysisch in Frage stellt, peilt dialogische Theorie zugleich mit Kritik und Dialektik ein Gespräch zwischen Wissenschaftlergruppen und den ihnen entsprechenden heterogenen theoretischen Positionen an, das eine kritische Überprüfung von Theoremen und gemeinsamen Objekt‐ konstruktionen - etwa der Dekonstruktion - ermöglichen soll. Sie weist mit Entschiedenheit Derridas und Paul de Mans Vorurteile so‐ zialwissenschaftlichen Diskursen gegenüber zurück: Vorurteile, die die De‐ konstruktivisten von Heidegger geerbt haben, der schon in Sein und Zeit (1927) von der „Notwendigkeit einer Umlegung der Sprachwissenschaft auf VIII. Dekonstruktion: Theorie und Praxis 341 5 M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen, Niemeyer, 1963 (10. Aufl.), S. 165. 6 J. Derrida, Mémoires - Pour Paul de Man, Paris, Galilée, 1988, S. 38. 7 J. Derrida, La Dissémination, Paris, Seuil, 1972, S. 27. ontologisch ursprünglichere Fundamente“ 5 sprach. Diese Notwendigkeit sehe ich nicht; sinnvoller scheint mir die Untersuchung gruppenspezifischer und ideologischer Interferenzen im sprachlichen (diskursiven) Bereich zu sein. An der „Umlegung“ ist Derrida, der die von Heidegger gelegten Fundamente wieder dekonstruiert, sicherlich nicht interessiert; er spricht aber den Sozial‐ wissenschaften (mit denen er nie etwas im Sinne hatte) die Fähigkeit ab, die Dekonstruktion zu „objektivieren“: „eine Bewegung, die im wesentlichen die philosophische, wissenschaftliche und institutionelle Axiomatik der betreffen‐ den Sozialwissenschaften in Frage stellt“. 6 Eine kritische Sozialwissenschaft, die den Dialog sucht, wird gegen eine solche Kritik, solange sie sich in nachvoll‐ ziehbaren Argumenten artikuliert, nichts einzuwenden haben; niemand wird sie aber daran hindern, die Dekonstruktion im philosophischen, ästhetischen und semiotischen Kontext kritisch zu erklären. 1. Jacques Derrida zwischen Hegel und Nietzsche Der Titel soll nicht Äquidistanz suggerieren, auch keine Pendelschwingung der Dekonstruktion zwischen den beiden philosophischen Standpunkten. Er soll vielmehr andeuten, daß die Dekonstruktion - ähnlich wie die junghegelianischen Philosophien - eine radikale Hegelkritik beinhaltet, die sie mit dem begrifflichen (oder vielmehr metaphorischen) Instrumentarium durchführt, das ihr Nietzsche an die Hand gab. Der Titel besagt auch nicht, daß Hegelkritik den Ausgangspunkt von Derridas Dekonstruktion bildet: Der Name Hegels steht hier metaphorisch-metonymisch für den gesamten Logozentrismus der europäischen metaphysischen Tradition, die im hege‐ lianischen Systemdenken wohl ihren Höhepunkt erreicht hat: zugleich aber auch den Punkt ihres Zerfalls, der im System selbst angelegt ist. Dies ist nicht nur die dialektische Einschätzung Adornos, sondern - in einem anderen Kontext - auch die Derridas, der in La Dissémination (1972) bemerkt: „Hegel ist also so nah wie möglich an einer ‚modernen‘ Auffassung des Textes und der Schrift und zugleich so weit wie möglich von dieser entfernt.“ 7 Hegel ist hier also nur die Figur für ein metaphysisches, logozentrisches Denken, das in Derridas Darstellung seinen Ausgangspunkt in der Antike VIII. Dekonstruktion: Theorie und Praxis 342 8 Zu Derridas Position zwischen Philosophie und Linguistik vgl. Vf., „Jacques Derrida“, in: M. Matínez, M. Scheffel (Hrsg.), Klassiker der modernen Literaturtheorie. Von Sigmund Freud bis Judith Butler, München, Beck, 2010, S. 327-331 sowie Vf., „Derrida: Dekon‐ struktion, Philosophie und Literaturtheorie“, in: ders., Die Dekonstruktion. Einführung und Kritik, Tübingen, Francke-UTB, 2016 (2. Aufl.), S. 34-99. 9 P. de Man, Blindness and Insight, op. cit., S. 137. 10 J. Derrida, Grammatologie, Frankfurt, Suhrkamp, 1983, S. 76; De la Grammatologie, Paris, Minuit, 1967, S. 64. hat: in den Philosophien Platos und Aristotelesʼ, die nachhaltig auf Hegel eingewirkt haben (Aristotelesʼ Metaphysik bildet eine der Grundlagen von Hegels System). In seiner Kritik der Philosophie Platos geht Derrida von der seinen gesamten Ansatz prägenden These aus, daß das europäische philosophische und wissenschaftliche Denken von Plato bis Saussure das gesprochene Wort (parole) privilegiert und die Schrift (écriture) als Derivat, Zusatz oder Supplement betrachtet und behandelt. 8 Obwohl Paul de Man behauptet, man dürfe Derridas „Geschichte der Metaphysik“ nicht wörtlich nehmen, da sie wie Rousseaus „Geschichte der Sprache“ eine Fiktion sei 9 , will ich Derridas Entwurf wie jede andere philo‐ sophische, wissenschaftliche oder geschichtswissenschaftliche Erzählung als eine mögliche Objektkonstruktion, als eine mögliche Hypothese über die Wirklichkeit behandeln. Jede (geschichts-)wissenschaftliche „Erzählung“ ist bis zu einem gewissen Grad eine Fiktion, da sie nie mit der Wirklichkeit und deren Entwicklung identisch ist. (Schon deshalb ist es sinnvoll, die verschiedenen „Fiktionen“ dialogisch aufeinander zu beziehen.) Es klingt übrigens gar nicht nach Fiktion, wenn der Autor der Gramma‐ tologie (1967) zum Verhältnis von parole (mündlicher Rede) und écriture (Schrift) im historischen Kontext bemerkt: „In dem der phonetisch-alpha‐ betischen Schrift zugeordneten Sprachsystem ist die logozentrische Me‐ taphysik entstanden, die den Sinn des Seins als Präsenz bestimmt. Der Logozentrismus, die Epoche des erfüllten Wortes haben aus wesensmäßigen Gründen jede freie Reflexion über den Ursprung und den Status der Schrift ausgeklammert und suspendiert (…).“ 10 Wesentlich in dieser Passage ist der Hinweis auf die Präsenz (présence), der besagen soll, daß die mündliche Rede (parole) des metaphysischen Denkens den Sinn (sens) als etwas unmittelbar Anwesendes und Statisches definiert (d. h. eingrenzt), das sich gleichsam besitzen läßt: „Habemus enim ideam veram“, lautet Spinozas bekannte These, die Derrida in diesem Zusammen‐ hang hätte zitieren können. „Der Philosoph“, ergänzt Derrida in Marges 1. Jacques Derrida zwischen Hegel und Nietzsche 343 11 J. Derrida, Randgänge der Philosophie, Wien-Graz, Böhlau, 1988, S. 275; Marges de la philosophie, Paris, Minuit, 1972, S. 346. 12 J. Derrida, La Dissémination, op. cit., S. 86. (1972), „schreibt nun gegen die Schrift“ 11 : d. h., daß die Schrift von der Philosophie als notwendiges Übel gleichsam nur toleriert wird, weil sie die Unmittelbarkeit des Sinnes (sens), seine Präsenz (présence) nicht gewährleistet, sondern im Gegenteil seine Zersetzung in endlosen Kommentaren und nie endenden Deutungen und Umdeutungen bewirkt. Kurzum: Das Ideal der Philosophie ist das in einer bestimmten Situation gesprochene eindeutige Wort; ihr Trauma hingegen ist der offene und deutbare Text, dessen sich die Schrift bemächtigt, um ihn ins Endlose fortzusetzen. Derrida ergreift Partei für die Schrift (écriture), weil er der Meinung ist, in ihr eine kritisch-subversive Kraft gefunden zu haben, die die Autorität des Vaters, des Staates, des Systems und des gesamten repressiven Logo‐ zentrismus in allen seinen Erscheinungsformen aushöhlt. Als Synekdoche für Autorität tritt der Vater in La Dissémination auf: „Stets bewacht und verdächtigt der Vater die Schrift“. („Le père suspecte et surveille toujours l’écriture.“) Und: „Die Besonderheit der Schrift wäre demnach in der Abwe‐ senheit des Vaters zu suchen.“ („La spécificité de lʼécriture se rapporterait donc à lʼabsence du père.“) 12 Bevor ich auf Derridas Auffassung der Schrift als Alternative zum Phono- und Logozentrismus und als Grundlage der Dekonstruktion zu sprechen komme, will ich kurz auf seine Kritik des Pho‐ nozentrismus, der Herrschaft des gesprochenen Wortes, in der Philosophie eingehen. In einem für die Dekonstruktion sehr wichtigen Text, der den Titel „La pharmacie de Platon“ trägt, zeigt Derrida, daß in Platos Phaidros, einem Buch über die Ideenlehre, die Schrift auf ambivalente Art als Heilmittel (remède) und Droge oder Gift (drogue, poison) aufgefaßt wird: als pharmakon. Einerseits kann sie als Gedächtnisstütze wirken, andererseits kann sie eine Atrophie des Gedächtnisses herbeiführen, weil dieses immer weniger gebraucht wird: Alles wird aufgeschrieben. Einer Droge gleich fördert die Schrift nicht das gesunde Gedächtnis, sondern schwächt es: „Da es den normalen und natürlichen Verlauf der Krankheit verzerrt, ist das pharmakon ein Feind alles Lebendigen, ob dieses nun gesund oder krank ist. Das soll man sich ins Gedächtnis rufen, und Plato fordert uns dazu auf, wenn die Schrift als pharmakon aufgefaßt wird. Im Widerspruch zum Leben stehend, ist die Schrift - oder, wenn man will, VIII. Dekonstruktion: Theorie und Praxis 344 13 Ibid., S. 113. 14 Ibid., S. 117. 15 J. Derrida, Grammatologie, op. cit., S. 464; De la grammatologie, op. cit., S. 383. 16 Ibid., S. 48; S. 41. 17 J. Derrida, Die Stimme und das Phänomen, Frankfurt, Suhrkamp, 1979, S. 66; La Voix et le phénomène, Paris, PUF, 1967, S. 15. das pharmakon - nur dazu angetan, das Übel abzudrängen oder zu steigern (déplacer voire irriter le mal).“ 13 Platos Fazit von Derrida wiedergegeben: „Aber in Wirklichkeit ist die Schrift durch und durch schlecht, da sie dem Gedächtnis äußerlich ist, keine Wissenschaft, sondern nur Meinung, keine Wahrheit, sondern nur Schein hervorbringt.“ 14 Diese Verurteilung der Schrift im Namen der Wahrheit, der Klarheit und der Wissenschaft wird in anderen Zusammenhängen von Denkern wie Rousseau, Hegel, Husserl, Heidegger und Saussure wiederholt. Laut Derrida bilden ihre Negativurteile über die écriture eine zusammenhängende Kette, die von der analytischen Philosophie, dem Marxismus und den modernen Wissenschaften weitergeknüpft wird, die sich dadurch selbst zu Erben einer logozentrischen Metaphysik machen. Ihr gehört auch Rousseau an, der das Poetische an den mündlichen Vortrag bindet und die Literatur als Schrift abwertet: „Rousseau gehört also, wie es nicht anders sein könnte (…), in jene Tradition, welche die Literatur ausgehend von der Rede bestimmt (…).“ 15 Ambivalent und daher für Derrida anregend ist die Position Hegels, der einerseits - wie es nicht anders zu erwarten war - die „Schrift abwerten oder unterordnen mußte“ („a dû abaisser ou subordonner lʼécriture“), andererseits in der Philosophie als erster Denker der Schrift erscheint: „Und doch kann alles, was Hegel in diesem Horizont gedacht hat - das heißt alles außer der Eschatologie -‚ auch als Überlegung zur Schrift gelesen werden. (…) Hegel ist der letzte Philosoph des Buches und der erste Denker der Schrift.“ 16 Besonders klar tritt an dieser Stelle der junghegelianische Sprachduktus zutage, der Derrida mit Marx, Feuerbach, Vischer und Stirner verbindet: Die Kritik an Hegel ist ein ständiger Kampf gegen die Anziehungskraft der Hegelschen Dialektik. Weniger ambivalent ist in dieser Hinsicht Husserls Phänomenologie, die das Band zwischen Logos und phoné weiter festigt und einen Höhepunkt in der Entfaltung des Logozentrismus darstellt: „Die von der ganzen Geschichte der Metaphysik implizierte notwendige Privilegierung der phoné wird von Husserl noch radikalisiert, indem er mit größtem kritischen Raffinement deren Mittel und Möglichkeiten ausschöpft.“ 17 Diese Radikalisierung kommt 1. Jacques Derrida zwischen Hegel und Nietzsche 345 18 Ibid., S. 83: „une couche pré-expressive et pré-linguistique du sens“. 19 Siehe: E. Behler, Derrida-Nietzsche/ Nietzsche-Derrida, op. cit., S. 39. 20 J. Derrida, Geschlecht (Heidegger). Sexuelle Differenz, ontologische Differenz. Heideggers Hand, Wien, Böhlau, 1988, S. 78. 21 Siehe z. B. J. Derrida, „Ousia und gramme“, in: ders., Randgänge der Philosophie, op. cit., S. 65-66; Marges de la philosophie, op. cit., S. 52-53. 22 Siehe: J. Derrida, LʼArchéologie du frivole. Lire Condillac, Paris, Denoël-Gonthier, 1973, S. 113: Auch Condillac erblickt in der Schrift die Quelle aller Übel und Mißverständnisse, die die Philosophie heimsuchen: „La racine du mal est lʼécriture. Le style frivole est le style - écrit“, kommentiert Derrida Condillacs Kritik der Philosophie. 23 J. Becker, Umgebungen, Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S. 126. u. a. dadurch zustande, daß Husserl die Existenz einer „vorausdrückliche(n) und vor-sprachliche(n) Sinnschicht“ 18 postuliert, die der Sprache als parole und écriture vorgeordnet wird. Obwohl sich Derrida, wie Ernst Behler richtig bemerkt, immer wieder an Heideggers „Destruktion der Metaphysik“ 19 orientiert, wirft er auch dem Autor von Sein und Zeit Phonozentrismus und folglich metaphysisches, auf die parole ausgerichtetes Denken vor: „Welche lateralen und marginalen Mo‐ tive es auch immer sein mögen, die gleichzeitig darin arbeiten und wirken, so wird doch ein bestimmter, strikt durchgehaltener Diskurs Heideggers von Logozentrismus und Phonozentrismus beherrscht (…)“ 20 Solche Kritik wird nicht nur in Derridas Heidegger-Buch, sondern an zahlreichen anderen Stellen seines Werkes laut. 21 Diese kurze Übersicht über Derridas Kritik am Logozentrismus in der europäischen Philosophie, die durch seine Kritik an Condillac zu ergänzen wäre 22 , läßt die zentrale und zugleich ambivalente Stellung Hegels im Dis‐ kurs der Dekonstruktion erkennen: Trotz ihres Phonozentrismus kündigt die Hegelsche Dialektik die Schrift an, weil sie postuliert, daß nur die Tota‐ lität den Sinn eines Einzelelements (eines Wortes, eines Satzes) erschließen kann. Zugleich suggeriert sie aber, zumindest in Derridas Deutung, daß die dialektische Totalität uferlos und Hegels absolute Idee ein imaginärer Abschluß, eine Schimäre ist. Der avantgardistische Autor Jürgen Becker stellt diesen Gedanken anschau‐ lich dar, wenn er in seinem Prosabuch Umgebungen (1970) schreibt: „Warum nicht den ganzen Zusammenhang? Weil der ganze Zusammenhang nie aufhört und das Nennen eines Namens sogleich die ganze Lebens-Umgebung samt Be‐ rufskontakten, Gesellschaft, Orts-Umständen, Polizei-Berichten, Party-Näch‐ ten, historischen Bilderbogen und allen sogenannten zwischenmenschlichen Beziehungen produziert.“ 23 Diese Karikatur zeigt, weshalb die Avantgarde, zu VIII. Dekonstruktion: Theorie und Praxis 346 24 J. Derrida, Mémoires - Pour Paul de Man, op. cit., S. 83. 25 Siehe: F. de Saussure, Cours de linguistique générale, Paris, Payot, 1972, S. 160. der auch Derrida als Tel-Quel-Autor zählt, an das systematische Denken nicht mehr glauben kann: Sie nimmt nur noch die dialektische Ambivalenz und die Vieldeutigkeit wahr; nicht mehr die Möglichkeit von deren Überwindung im Begriff oder in der Einheit der Gegensätze. Statt der begrifflichen Herrschaft das Wort zu reden, verknüpft sie Derrida mit dem Phono- und Logozentrismus der europäischen Metaphysik und führt gegen diese die von allen Philosophen von Plato bis Husserl verdrängte und unterdrückte Schrift (écriture) ins Feld. Als verdrängte wohnt die Schrift jedoch allen Texten inne, auch und vielleicht gerade denjenigen, die sich - wie Hegels Philosophie - über sie hinwegsetzen. Deshalb können Derrida und Paul de Man behaupten, daß die logozentrischen Texte gleichsam von innen dekonstruiert werden oder sich selbst dekonstruieren. Die Schrift höhlt sie von innen aus: „Die Dekonstruktion ist nicht eine Operation, die eines schönen Tages nachträglich (après coup) von außen erfolgt, sie ist immer schon am Werk im Werk (toujours déjà à lʼœuvre dans lʼœuvre) (…).“ 24 Dieser Gedanke ist wesentlich für die Praxis der Dekonstruktion und verbindet Derrida mit Paul de Man. Zur Praxis gehört auch Derridas dekonstruktive Kritik am Rationalismus und Logozentrismus Ferdinand de Saussures, dessen Sprachwissenschaft eine ähnliche Ambivalenz aufweist wie Hegels Philosophie. Auch der Genfer Linguist geht von einem Systembegriff aus, wenn er die bekannte These aufstellt, daß der Wert (valeur) eines Wortzeichens nur im Gesamtzusam‐ menhang der Gegensätze und Differenzen einer Sprache zustande kommt: Das englische Wort sheep mag die gleiche Bedeutung (signification) haben wie das französische Wort mouton; es hat jedoch nicht den gleichen Wert (valeur), da es das Wort mutton (Schafsfleisch) zum Nachbarn hat, das semantisch und funktional auf es einwirkt und im Französischen fehlt. (Vgl. auch im Zusammenhang mit pig und cochon das englische und französische Wort porc, das im Deutschen fehlt: Man sagt „Schweineschnitzel“, aber „pork escalope“ und „escalope de porc“.) 25 Der Wert ist also bei Saussure ein Faktor, der nicht an und für sich existiert, sondern nur als Zusammenspiel von Differenzen (différences) systematisch zu erfassen ist. Zumindest glaubt der Rationalist Saussure, der wie die Philo‐ sophen das gesprochene Wort privilegiert und von der Sinnpräsenz (présence du sens) ausgeht, daß der semantische Wert eines Wortes eingegrenzt, erfaßt 1. Jacques Derrida zwischen Hegel und Nietzsche 347 26 J. Derrida, Die Schrift und die Differenz, op. cit., S. 44-45; LʼEcriture et la différence, op. cit., S. 42. 27 J. Derrida, Grammatologie, op. cit., S. 38; De la Grammatologie, op. cit., S. 33. werden kann. Derrida bestreitet dies, weil er nicht ganz zu Unrecht und in Übereinstimmung mit Bachtin und Vološinov (vgl. Kap. III) die These aufstellt, daß jede Sprache als langue historisch und daher offen ist, so daß das Zusammenspiel von Differenzen nie endgültig eingegrenzt, definiert werden kann. Folglich kann es auch keine feststehende, statische Bedeutung geben, die als Signifikat einem Signifikanten zugeordnet wird. Damit wird Saussures Vorstellung von einem transzendentalen Signifikat, die in der Platonischen Idee verwurzelt ist, radikal in Frage gestellt. Wenn die Sprache offen und unabschließbar ist, dann gibt es nur das endlose Zu‐ sammenwirken der Signifikanten, nicht jedoch ein Signifikat als eindeutig bestimmbaren Wert (valeur) und als Sinnpräsenz: „Und wenn die Bedeutung des Sinns (in der allgemeinen Bedeutung des Wortes Sinn, nicht aber von Bezeichnung) unendliches Einbegriffensein ist? Die unbestimmte Rückver‐ weisung eines Signifikanten auf einen Signifikanten? Wenn seine Kraft eine gewisse reine und unendliche Mehrdeutigkeit ist, die dem bezeichneten Sinn keinen Aufschub und keine Ruhe läßt, die ihn in seiner eigenen Ökonomie auffordert, zum Zeichen zu werden und sich selbst aufzuschieben? Außer im Livre irréalisé von Mallarmé gibt es keine Selbstidentität des Geschriebenen.“ 26 Das Wort „Ökonomie“ („économie“) verweist hier auf Saussures Begriff des Wertes: Das Zusammenwirken von Differenzen, das bei Saussure die Ökonomie des semantischen Wertes ausmacht, wird bei Derrida zu einem offenen, unabschließbaren Prozeß, in dem der Sinn gezwungen wird, sich selbst unablässig aufzuschieben: „à faire signe encore et à différer“ (s. o.). Dieser Prozeß des Aufschiebens, des différer, der aus der Öffnung oder Dekonstruktion von Saussures systematischer Linguistik hervorgeht, stellt nicht nur das transzendentale Signifikat als fixierbaren Begriff in Frage, sondern auch den Gegensatz und die Differenz, die beide ein stabiles, „prä‐ sentes“ Signifikat voraussetzen. So wird der binäre und für die strukturale Linguistik grundlegende Gegensatz zwischen Signifikant und Signifikat selbst in Frage gestellt, dekonstruiert. Dazu heißt es in der Grammatologie: „Es muß ein transzendentales Signifikat geben, damit so etwas wie eine absolute und irreduzible Differenz zwischen Signifikat und Signifikant zustande kommt.“ 27 VIII. Dekonstruktion: Theorie und Praxis 348 28 Siehe: J. Hörisch, „Einleitung“, in: J. Derrida, Die Stimme und das Phänomen, op. cit., S. 40. 29 J. Derrida, Positionen, Wien-Graz, Böhlau, 1986, S. 87; Positions, Paris, Minuit, 1972, S. 56. Wo das transzendentale Signifikat durch einen offenen Prozeß des Bedeu‐ tens ersetzt wird, steht nicht nur die „Bedeutung“ des Wortes „Signifikant“ in Frage, sondern auch der grundlegende binäre Gegensatz signifiant/ signi‐ fié. Wichtig ist, daß dieser von Derrida als metaphysisch apostrophierte Gegensatz - wie alle anderen Gegensätze und Differenzen - mit Hilfe von Saussures eigener Terminologie, d. h. mit Hilfe des Differenz-Begriffes, der den Wert eines Wortes bestimmen soll, dekonstruiert wird. Die Dekonstruk‐ tion ist also (wie übrigens auch die Hegelsche Dialektik) ein immanentes Verfahren, das von den Widersprüchen ausgeht, die einem Text oder einer Erscheinung innewohnen. Anders formuliert: Der Differenz-Begriff Saussures dekonstruiert sich selbst, und aus seinem Zerfall geht Derridas Neologismus der différance (différence-différance) hervor, den ich hier im Anschluß an Jochen Hörisch mit dem deutschen Neologismus Differänz wiedergeben will. 28 Er könnte mit einem Bonmot von Julia Kristeva als „différence en mouvement“ („Differenz in Bewegung“) umschrieben und als permanente Aufschiebung des Unter‐ schiedes und Zerstörung der Sinnpräsenz definiert werden. Derrida würde gegen meinen Definitionsversuch wahrscheinlich Einspruch erheben, da jede Definition den Prozeß der différance abbricht (das Definieren ist folglich mit der différance als endloser Sinnaufschiebung unvereinbar). Da ich jedoch keine dekonstruktivistischen Ambitionen hege, sind Definitionen in meinem Diskurs kein Sakrileg. Doch wie sieht die différance konkret als semantischer Prozeß aus? Im folgenden möchte ich zeigen, daß sie den Kern dessen bildet, was Derrida in Positions (1972) als „allgemeine Strategie der Dekonstruktion“ („stratégie générale de la déconstruction“)  29 bezeichnet. Zugleich wird sich herausstellen, daß sie unmittelbar die Problematik der strukturalen Semiotik tangiert: vor allem deren Schlüsselbegriff der Isotopie. Der praktische und im eigentlichen Sinne „dekonstruktive“ Gedanke, der dem Differänz-Begriff zugrunde liegt, ist relativ einfach und in einem Satz zusammenzufassen: Wiederholung und Sinnidentität sind im Diskurs unver‐ einbar, weil ein Wort, das wiederholt wird, in einem neuen Kontext vorkommt und daher einen neuen Sinn annimmt. Das bedeutet, daß die Identität eines Wortes oder einer semantischen Einheit durch Wiederholung zerfällt: Das 1. Jacques Derrida zwischen Hegel und Nietzsche 349 30 J. Derrida, Die Stimme und das Phänomen, op. cit., S. 107; La Voix et le phénomène, op. cit., S. 58. 31 M. Frank, „Die Grenzen der Beherrschbarkeit der Sprache“, in: P. Forget (Hrsg.), Text und Interpretation, München, Fink, 1984, S. 207. 32 M. Frank, Das Sagbare und das Unsagbare. Studien zur neuesten französischen Herme‐ neutik und Texttheorie, Frankfurt, Suhrkamp, 1980, S. 155. Zum Problem der Zeichen- und Subjektidentität bei Derrida und Hegel siehe auch: M. Frank, Was ist Neostruktu‐ ralismus? Frankfurt, Suhrkamp, 1984, S. 358-363. 33 Siehe: J. Culler, Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie, Reinbek, Rowohlt, 1988, S. 113-114: „Eine Lautfolge kann als Signifikant nur funktio‐ nieren, wenn sie wiederholt, wenn sie als ‚dieselbe‘ unter verschiedenen Umständen erkannt werden kann. (…) Eine Wortfolge ist nur dann eine Zeichenfolge wenn sie zitiert werden kann und unter denen zirkulieren kann, die den ‚ursprünglichen Sprecher‘ und dessen Bedeutungsintentionen nicht kennen.“ Wort wird dem endlosen Prozeß der différance überantwortet. „Die absolute Idealität“, sagt Derrida in La Voix et le phénomène, „ist das Korrelat der Möglichkeit unendlicher Wiederholung.“ 30 Die unendliche Wiederholung des Gleichen, des Identischen ist jedoch nicht möglich, da es bei jeder Wiederholung zu einer Sinnverschiebung kommt. Derrida spricht in diesem Zusammenhang von Iterabilität (itérabilité), die Manfred Frank in aller Knappheit erläutert: „Der Sinn eines Zeichens/ einer Äußerung wird durch jeden neuen Gebrauch von sich getrennt, er wird ent-stellt (déplacé).“ 31 Das bedeutet für die Metaphysik der Präsenz: „Nicht gibt es zuvor einen Sinn, der sich sodann in der Kette der Zeichen authen‐ tisch wiedervergegenwärtigt (repräsentiert): nicht gibt es also so etwas wie eine ursprüngliche und unsinnliche Präsenz, die sich im Zeichen bloß reproduzierte und versinnlichte (…).“ 32 Wichtig ist, wie Jonathan Culler bemerkt, daß dieses Argument nicht nur für das geschriebene, sondern auch für das gesprochene Wort, für die parole, gilt, die nicht wiederholen, nicht zitieren kann, ohne sich selbst durch Iterabilität zu zersetzen. In diesem Sinne mag es plausibel erscheinen, von einem Primat der Schrift auszugehen: Daß er keinen chronologischen oder historischen Primat der Schrift postulieren kann, ist Derrida natürlich klar. 33 In Mémoires - Pour Paul de Man (1988) stellt er Iterabilität als Prozeß der Differänz auf eine Art dar, die an Jürgen Beckers Parodie der Totalität erinnert. Im Rahmen einer Kritik an Austins How to do Things with Words (1962), die er in seinem bekannten Aufsatz „Signature événement contexte“ formuliert hat, sagt er dort vom Satz: „Er hat nie eine absolut bestimmbare ‚meaning‘: er befindet sich stets in der Situation des Wortes oder des Titels im Hinblick auf den Text, der ihn umgibt und mitreißt, des stets VIII. Dekonstruktion: Theorie und Praxis 350 34 J. Derrida, Mémoires - Pour Paul de Man, op. cit., S. 116. Siehe auch: J. Derrida, „Signatur Ereignis Kontext“, in: ders., Randgänge der Philosophie, op. cit. 35 J. Derrida, Grammatologie, op. cit., S. 116; De la grammatologie, op. cit., S. 97. offenen Kontextes, der ihm stets mehr Sinngebungen verspricht.“ 34 Der Gesamtzusammenhang „hört also nie auf “ und die Sinngebung auch nicht. In diesem Sinne bezeichnet Derrida die différance auch als trace oder Spur: „Dies aber berechtigt uns Spur zu nennen, was sich nicht in der Einfältigkeit einer Gegenwart fassen läßt.“ 35 Differänz und Spur sind also das durch Iterabilität bedingte Nicht-Gegenwärtige, Nicht-Faßbare. An dieser Stelle drängen sich ein Vergleich mit Greimasʼ Strukturaler Semiotik und ein kurzer Rekurs zum siebenten Kapitel auf. Während Derrida glaubt, daß Wiederholung im Diskurs die Identität semantischer Einheiten zerstört oder zumindest in Frage stellt, kehrt Greimas dieses Argument um und behauptet, daß Iterativität und Redundanz die semantische Homo‐ genität des Diskurses stärken. Der Isotopiebegriff wird bekanntlich als „wiederholtes (! ) Auftreten auf syntagmatischer Ebene von Klassemen, die die Homogenität des Diskurses als Aussage garantieren“, definiert (vgl. Kap. VII. 3). Weit davon entfernt, destruktiv oder dekonstruktiv zu wirken, bereichert Wiederholung als semantische Redundanz den Text: „Die Variationen tragen also, anstatt die Isotopie zu zerstören, im Gegenteil zu ihrer Bekräftigung bei.“ (Vgl. Kap. VII. 3.) Die simple Frage „Wer hat recht? “ ist auch in diesem Falle nicht zielfüh‐ rend, weil weder Derrida noch Greimas die Dialektik zwischen Offenheit und Geschlossenheit des Textes berücksichtigen. Derrida läßt die kohärenz‐ bildende Dynamik der Redundanz (Iterativität) völlig außer acht und kann deshalb nicht erklären, weshalb wir einen schwierigen, aber relativ zusam‐ menhängenden Text (etwa seine eigene Grammatologie) nach mehrmaliger Lektüre besser verstehen. Wenn seine Darstellungen der Iterabilität und Differänz zuträfen, müßte sich der Text nach der zweiten Lektüre, die unter völlig neuen semantisch-pragmatischen Bedingungen stattfindet‚ restlos verdunkeln. So schlimm ist es glücklicherweise nicht. Greimas wiederum übersieht, daß jede Lektüre tatsächlich neue Bedeu‐ tungen und Nebenbedeutungen zutage fördert, so daß die Textisotopien nicht nur gestärkt, sondern mit zunehmender Komplexität, Kontingenz und Widersprüchlichkeit belastet werden können: etwa wenn der Leser von Greimasʼ Maupassant auf recht willkürliche Interpretationen stößt, die keineswegs die Kohärenz der strukturalen Methode illustrieren. Kurzum, 1. Jacques Derrida zwischen Hegel und Nietzsche 351 36 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, Bd. 1, Frankfurt, Suhrkamp, 1969, S. 49. 37 J. Derrida, Positionen, op. cit., S. 86; Positions, op. cit., S. 55. es käme darauf an, die Dialektik zwischen Monosemie und Polysemie, Kohärenz und Widerspruch, Geschlossenheit und Offenheit konsequent auszutragen, statt sie durch einseitige Verallgemeinerungen (Iterabilität vs. Iterativität) zu unterdrücken. Als Schlüsselbegriff der Dekonstruktion richtet sich die Differänz nicht nur gegen die strukturalistischen Rationalisten Saussure und Greimas, sondern auch und vielleicht vor allem gegen das Hegelsche System: gegen dessen zentralen Begriff der Aufhebung. Diese trägt zwar dem ambivalenten, zwiespältigen Charakter des Zeichens Rechnung, versucht jedoch, dessen Sinn im Verlauf einer synthetisierenden, systembildenden Bewegung einzu‐ fangen. Es sei hier lediglich an Hegels Darstellung dieser Bewegung in der Wissenschaft der Logik erinnert, wo die Aufhebung als bestimmte Negation entscheidend zur Systembildung beiträgt. Von der bestimmten Negation heißt es dort: „Sie ist ein neuer Begriff, aber der höhere, reichere Begriff als der vorhergehende; denn sie ist um dessen Negation oder Entgegengesetztes reicher geworden, enthält ihn also, aber auch mehr als ihn, und ist die Einheit seiner und seines Entgegengesetzten. - In diesem Wege hat sich das System der Begriffe überhaupt zu bilden (…).“ 36 Die philosophische Definition der différance, die die linguistische in jeder Hinsicht ergänzt, ist aus der Kritik an Hegels Aufhebung, spezifisch aus der Kritik der bestimmten Negation, hervorgegangen. Davon zeugt mit aller Klarheit eine Passage aus Derridas Positions: „Könnte man die différance definieren, so müßte man sagen, daß sie sich der Hegelschen Aufhebung überall, wo sie wirkt, als Grenze, Unterbrechung und Zerstörung entgegenstellt. Es steht hier sehr viel auf dem Spiel.“ 37 Ja, es steht tatsächlich viel auf dem Spiel, denn es stellt sich die Frage nach der logischen und diskursiven Beschaffenheit der Dialektik: Soll die Vereinigung der Gegensätze in die systembildende Aufhebung münden, die, wie Derrida richtig bemerkt, ein Instrument der Herrschaft ist? Oder soll sie als radikale und offene Ambivalenz konzipiert werden, die die Aufhebung verhindert und schließlich das begriffliche System mitsamt seinen Herrschaftsmechanismen sprengt? Ist diese extreme Ambivalenz als Einheit der Gegensätze ohne Aufhebung und als Gesellschaftskritik im Namen bestimmter sozialer Positionen (Adorno, Horkheimer) oder als destruktives Prinzip, Aporie und reine Negativität aufzufassen? VIII. Dekonstruktion: Theorie und Praxis 352 38 J. Derrida, Marges de la philosophie, op. cit., S. 133. 39 Derridas Kritik an Hegel und seinem Geschichtsverständnis wird ausführlich von Robert Smith diskutiert: Vgl. R. Smith, Derrida and Autobiography, Cambridge, Univ. Press, 1995, S. 39. 40 J. Derrida, Glas, Bd. 1, Paris, Denoël-Gonthier, 1981, S. 11. 41 Ibid., S. 33. 42 Ibid., S. 106. Meine These lautet, daß Derrida und andere Vertreter der Dekonstruktion - wie vor ihnen Nietzsche - zur reinen Negativität und damit zur Indifferenz als Vertauschbarkeit aller Werte tendieren; denn von kritisch-theoretischen Wertbegriffen wie Subjektivität, Autonomie, Vernunft und Emanzipation haben sie sich dekonstruktiv distanziert. Wenn Emanzipation bei Derrida überhaupt eine Bedeutung hat, so nur als Emanzipation von repressiven Sprachstrukturen, nicht als Emanzipation auf etwas zu: auf eine bessere, humanere Gesellschaft. In diesem Zusammenhang nimmt es nicht wunder, daß Derrida die Dekonstruktion global als Aporie charakterisiert: „cette singulière aporie quʼon appelle déconstruction“. 38 Es geht tatsächlich darum, die Aporien aufzuzeigen, die alle Synthesen (Aufhebungen), Systeme und Wertsetzungen sprengen. Der Sprengstoff setzt sich aus junghegelianischen und nietzscheanischen Elementen zu‐ sammen, die die Ambivalenz als coincidentia oppositorum immer wieder produziert: das Lachen, die Komödie, den Zufall, das Spiel, die verdrängte Sexualität. Vor allem in Glas, einem Text mit stark junghegelianischem und nietzscheanischem Einschlag, streut Derrida allerorten diesen Sprengstoff in die Fugen und Ritzen des Hegelschen Systems, mit dem er - nach Marx, Ruge, Stirner, Feuerbach und Nietzsche - auf seine Art abrechnen möchte. 39 Gleich zu Beginn der Schrift macht er auf den Logozentrismus des Systems -insbesondere der Aufhebung - aufmerksam: „Der Begriff hebt das Zeichen auf, welches das Ding aufhebt. Das Signifikat hebt den Signifikanten auf, der den Referenten aufhebt.“ 40 Auf diesem Wege bildet sich ein repressives System, das „die dialektische Identität von Identität und Nicht-Identität“ („lʼidentité dialectique de lʼidentité et de la non-identité“) 41 verkündet und zu totaler Wirklichkeitsbeherrschung in der absoluten Idee tendiert. Derrida zitiert Hegels theologisch-philosophischen Satz „Im Anfang war der Logos“ und fügt hinzu: „das ist es, was Hegel interessiert.“ 42 Ähnlich wie Adorno versucht er, das von Hegel konstruierte logozentrische System durch Auf‐ deckung innerer Widersprüche aufzubrechen. 1. Jacques Derrida zwischen Hegel und Nietzsche 353 43 J. Derrida, Die Schrift und die Differenz, op. cit., S. 393; LʼEcriture et la différence, op. cit., S. 381. 44 F. Th. Vischer, Kritische Gänge, Bd. 4, München, Meyer & Jessen, 1922 (2. Aufl.), S. 482. 45 J. Derrida, Die Schrift und die Differenz, op. cit., S. 389; LʼEcriture et la différence, op. cit., S. 377. 46 Ibid., S. 389; S. 377-378. Wenn er im System selbst die Nicht-Identität, die Kontingenz und den Zufall aufzeigt, setzt er nicht nur die Arbeit der Kritischen Theorie, sondern auch die der Junghegelianer fort. Sein Sprachduktus erinnert an den Stirners, Ruges und Vischers, wenn er in L’Ecriture et la différance schreibt: „Indem er die Negativität als Arbeit deutete, indem er auf den Diskurs, den Sinn, die Geschichte usw. setzte, hat Hegel gegen das Spiel und den Zufall gewettet.“ 43 Hegel hat nicht nur deshalb gegen den Zufall und das Spiel „gewettet“ („a parié contre“), weil er - wie seine Schüler Marx und Engels - meinte, die Arbeit aufwerten zu müssen, sondern auch deshalb, weil er die Natur abwertete, indem er sie im Geist aufgehen ließ, um den Dualismus Natur/ Geist zu vermeiden. An dieser Stelle zeigt sich, daß Friedrich Theodor Vischers junghegelia‐ nischer Diskurs Derridas natur- und zufallsorientierte Dekonstruktion des Hegelschen Systems in vieler Hinsicht antizipiert. Denn über das Verhältnis von unversöhnter Natur und Zufall bei Hegel schreibt Vischer: „Ist also die Natur nicht wirklich abgeleitet, so ist es auch der mit ihr gegebene Zufall nicht, und hieraus folgt zugleich, daß Hegel vom Zufall in der Naturseite des Geistes, also auch vom Traume, geringschätzig wie von allem Zufälligen, nur flüchtig und beiläufig redet.“ 44 (Siehe Kap. I. 3.) Hegel kennt nur den Ernst der Arbeit und vernachlässigt alle Interpreta‐ tionen der Wirklichkeit und der menschlichen Tätigkeit, die vom Spiel oder vom Komischen ausgehen - und die als verdrängte Impulse die Kohärenz seines Systems in Frage stellen. „Daher ist auch das Lachen im Hegelschen System abwesend; es findet sich in ihm nicht einmal in der Gestalt einer negativen oder abstrakten Seite.“ 45 Gerade diese Unterdrückung des Komi‐ schen und des Lachens macht Hegels System (vielleicht alle repressiven Systeme) lächerlich. Der „Motor“ des Systems, die Aufhebung, erscheint in einem komischen Licht: „Der Begriff der Aufhebung (…) ist lächerlich darin, daß er die Geschäftigkeit eines Diskurses bezeichnet, der alle Negativität wiederanzueignen sich abquält und alles tut, um den Einsatz beim Spiel in eine Investition zu verwandeln, die die Ausgaben absolut amortisieren, dem Tod einen Sinn verleihen soll (…).“ 46 VIII. Dekonstruktion: Theorie und Praxis 354 47 F. Th. Vischer, Kritische Gänge, Bd. 4, op. cit., S. 163. 48 J. Derrida, Mémoires - Pour Paul de Man, op. cit., S. 69. 49 J. Derrida, Glas, Bd. 1, op. cit., S. 41. 50 J. Derrida, Glas, Bd. 2, op. cit., S. 281. Siehe auch Derridas Kritik an Hegels Staatsphilo‐ sophie und seinem Bildungsideal: J. Derrida, „LʼAge de Hegel“, in: GREPH, Qui a peur de la philosophie? , Paris, Flammarion, 1977, S. 82-85. Wieder findet sich eine vergleichbare Textpassage bei Vischer, der als Hegel-Verehrer zwar weniger bissig argumentiert als Derrida, jedoch auch versucht, das Komische dem Hegelschen Ernst gegenüber aufzuwerten: „Hegel führt es teils unter der Lehre von der Auflösung der klassischen Kunstform in der Gestalt der Satire, teils im Abschnitt von der Auflösung der romantischen Kunstform in der Gestalt des Humors, endlich im dritten Teile als Prinzip der Komödie auf. Allein das Komische ist ebenfalls eine Macht, die überall hervortritt, wo überhaupt das Schöne existiert.“ 47 Vischer spricht zwar nicht wie Derrida von einer „Komödie der Aufhebung“ („comédie de lʼAufhebung“), es sollte aber deutlich geworden sein, daß seine Zweifel an Hegels Systemdenken nicht nur Adornos, sondern auch Derridas Kritik teilweise vorwegnehmen. Diese Kritik visiert zusammen mit dem System und seinen Aufhebungen auch die Herrschaft des Subjekts (des absoluten Wissens) über das Objekt (die Natur) an. In Mémoires - Pour Paul de Man wird Hegels These über die Einheit des Subjekts und vor allem über die Einheit von Gedächtnis und Erinnerung (mémoire, souvenir) in Frage gestellt. Zwischen den beiden herrscht nicht Solidarität, wie die Hegelsche Interpretation oder Selbst‐ interpretation es darstellt, „sondern Bruch, Heterogenität, Disjunktion“ („rupture, hétérogénéité, disjonction“). 48 In Glas, wo die von Hegel konstruierte subjektive Herrschaft über die Natur in einem religionskritischen und psychoanalytischen Kontext dekon‐ struiert wird, erscheint das Subjekt als theologisches Konstrukt, dessen Inbegriff die Gottesvorstellung ist. Von Gott heißt es dort: „Er ist die unendliche, exemplarische, unendlich hohe Aufhebung“. („Il est lʼAufhebung infinie, exemplaire, infiniment haute.“) 49 An anderer Stelle wird die gesamte Hegelsche Dialektik aus der christlichen Religion abgeleitet: „Die Hegelsche Dialektik, Mutter der Kritik, ist zunächst, wie jede Mutter, eine Tochter: nämlich des Christentums.“ 50 Diese Religionskritik, die für den junghegelianischen Kontext besonders charakteristisch ist (Marx, Feuerbach, Ruge), paart sich - wie schon bei den Hegel-Schülern - mit einer Kritik an der vergesellschafteten Sexualität, die 1. Jacques Derrida zwischen Hegel und Nietzsche 355 51 J. Derrida, Glas, Bd. 2, op. cit., S. 315. 52 E. Behler, Derrida-Nietzsche/ Nietzsche-Derrida, op. cit., S. 86. sich in Glas vor allem in der Parallelanordnung der Hegel- und Genet-Texte artikuliert. Kritisiert und dekonstruiert wird dort eine Subjektivität, die auf systematischer Herrschaft (Logozentrismus) und auf der Unterdrückung der Natur gründet. Auf der rechten Seite, wo Derrida Genets Text kommen‐ tiert, wird der „Phallogozentrismus“ (Phallozentrismus + Logozentrismus) auseinandergenommen, und am Ende kündigt sogar die Totenglocke (Glas) dessen Ableben an: „Glas du phallogocentrisme“, „Totenglocke für den Phallogozentrismus“. 51 Sicherlich wären von hier aus zahlreiche Querverbindungen zur psy‐ choanalytischen Gesellschafts- und Philosophiekritik der Tel-Quel-Gruppe herzustellen, zu der Derrida enge Beziehungen unterhielt (sein Aufsatz über die „Différance“ erschien zuerst in der von dieser Gruppe edierten Théorie dʼensemble im Jahre 1968). Die Kombination von System-, Religions- und Sexualitätskritik, die auch für die Schriften von Jean-Joseph Goux und Julia Kristeva charakteristisch ist, ist jedoch keine Erfindung von Tel Quel, sondern tritt in dieser Form zuerst bei den Junghegelianern und Nietzsche in Erscheinung. Nietzsche ist insofern ein Junghegelianer par excellence, als er nahezu alle Themenbereiche und Argumente der junghegelianischen Kritik bündelt, radikalisiert und auf die Spitze treibt: Die disparaten Kritiken Vischers, Ruges oder Feuerbachs am System, an der christlichen Moral und der Unterdrückung der Natur verschmelzen bei ihm zu einer revoltierenden Philosophie und einer Philosophie der Revolte, in der Zufall und Spiel, Lachen und Tanz, Essay und Metapher gegen Hegels systematischen Logos aufbegehren. Es ist deshalb nicht erstaunlich, daß Derrida, Paul de Man und Geoffrey Hartman sich an diesem Philosophen orientieren, der als einziger aus der logozentrischen Tradition ausbrach - aus der Reihe tanzte. Zu Recht erinnert Ernst Behler in seinem anregenden Buch über Derrida und Nietzsche an die Bedeutung des deutschen Philosophen für die spiele‐ rische Dekonstruktion des Textes bei Derrida: „Nietzsches ‚Bejahung des Spiels der Welt und der Unschuld der Zukunft‘ ist für ihn die ‚Bejahung einer Welt der Zeichen ohne Fehl, ohne Wahrheit, ohne Ursprung‘‚ die unserer aktiven Interpretation offensteht.“ 52 Es ist allerdings auch eine Welt, die den „Wahrheitsgehalt“ im Sinne der Kritischen Theorie und eine verbindliche VIII. Dekonstruktion: Theorie und Praxis 356 53 Ibid., S. 60. 54 Dieser Aspekt von Nietzsches Werk bleibt auch in dem ansonsten anregenden Buch von Heinz Schlaffer im Dunkeln, in dem vor allem der Rhetoriker, Dogmatiker und Prophet Nietzsche zu Wort kommt: Vgl. H. Schlaffer, Das entfesselte Wort. Nietzsches Stil und seine Folgen, München, Hanser, 2007, S. 17-18. Dort heißt es von Nietzsches Werk: „Es wollte die Grenze des Worts zur Tat überschreiten (Nietzsches Nachfahren überschritten sie wirklich).“ 55 J. Derrida, Die Schrift und die Differenz, op. cit., S. 425; LʼEcriture et la différence, op. cit., S. 412. 56 Ibid., S. 441; S. 427. Gesellschaftskritik nicht mehr kennt. Auf dieses Problem komme ich noch zu sprechen. Freilich ist sich Derrida der Tatsache bewußt, daß seine Nietzsche-Lektüre nicht die einzig mögliche ist und daß Nietzsches Texte trotz ihrer radikalen Kritik an der Metaphysik von Heideggers Seinsphilosophie systematisch vereinnahmt wurden. Insofern ist es wichtig, mit Behler darauf hinzuweisen, daß Derridas Nietzsche nicht der Heideggers ist. „An dieser Stelle weiß man freilich auch, daß der Nietzsche, um den es sich hier handelt, nicht jenes systematische Schema ist, das Heidegger in seinen Vorlesungen konstruiert hatte, sondern ein Nietzsche von bislang nicht dagewesener dekonstruktiver Kapazität.“ 53 Man könnte sagen, daß der Nietzsche der Dekonstruktion ein „junghegelianischer“ Nietzsche ist, dessen Kritik des Systems, des Subjekts und der Metaphysik die Derridas ankündigt. 54 Auf Nietzsche beruft sich Derrida vor allem dann, wenn es gilt, Hegels Arbeitsbegriff („geistige Arbeit“) durch das Spiel zu ersetzen. In einem Aufsatz, der in Die Schrift und die Differenz eingegangen ist und den vielsagenden Titel trägt „Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen“, zitiert Derrida Nietzsches Kritik an der Metaphysik sowie „an den Begriffen des Seins und der Wahrheit (…), die er (Nietzsche, P. V. Z.) durch die Begriffe des Spiels, der Interpretation und des Zeichens (des jeglicher präsenten Wahrheit baren Zeichens) ersetzt hat“. 55 Am Ende dieses Aufsatzes wird Nietzsches „Welt aus Zeichen ohne Fehl, ohne Wahrheit, ohne Ursprung“ gegen den Strukturalismus ausgespielt, der als die „traurige, negative, nostalgische, schuldige und rousseauistische Kehrseite“ 56 des nietzscheanischen Denkens erscheint. Ihrem Selbstverständnis nach ist Derridas Dekonstruktion durch‐ aus eine „fröhliche Wissenschaft“ im Sinne von Nietzsche und folglich ein Antistrukturalismus. 1. Jacques Derrida zwischen Hegel und Nietzsche 357 57 J. Derrida, Grammatologie, op. cit., S. 17; De la grammatologie, op. cit., S. 16. 58 Ibid. 59 Siehe: J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt, Suhrkamp, 1985 (2. Aufl.), S. 219-222. 60 F. Nietzsche, „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“, in: ders., Werke, Bd. 5 (Hrsg. K. Schlechta), München, Hanser, 1980, S. 314. Eine fröhliche Wissenschaft gedeiht nur, wo das Sprachspiel erlaubt ist und die schillernde Metapher die Begriffe der grauen Theorie verdrängt. Daß Derrida das Sprachspiel, das Spiel mit dem Signifikanten, nicht verschmäht, auch dann nicht, wenn es - etwa in der mißglückten Homophonie Hegel-Ai‐ gle (Glas, S. 1) - nicht mehr funktioniert, ist seit langem bekannt. Schreibt er doch gleich im ersten Kapitel der Grammatologie: „Die Heraufkunft der Schrift ist die Heraufkunft des Spiels.“ - „Lʼavènement de lʼécriture est lʼavènement du jeu.“ 57 Im selben Kapitel wird Nietzsche, der Sokrates ironisch als denjenigen charakterisierte, „der nicht schreibt“, als Philosoph der Schrift gedeutet, der das Spiel der Signifikanten in Bewegung hält und so der begrifflichen, metaphysischen Wahrheit entgeht: „Es gibt kein Signifikat, das dem Spiel aufeinander verweisender Signifikanten entkäme, welches die Sprache konstituiert, und sei es nur, um ihm letzten Endes wieder anheimzufallen.“ 58 Lange vor der Dekonstruktion faßte Nietzsche sprachliche Kommunika‐ tion als Spiel und nicht als Wahrheitssuche auf. Damit vollzog er einen Bruch mit dem dialektischen (auch dem junghegelianischen) Denken, das von Hegel bis zur Kritischen Theorie am Wahrheitsbegriff festhält. Darin besteht der wesentliche Unterschied zwischen Derrida und Adorno oder Horkheimer, auf den auch Habermas in Der philosophische Diskurs der Moderne eingeht. 59 „Was also ist Wahrheit? “ fragt Nietzsche und antwortet: „Ein bewegli‐ ches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen (…). 60 Der Wahrheitsbegriff wird hier mit rhetorischen Mitteln in ein spielerisches Zu‐ sammenwirken vieldeutiger Figuren zerlegt, dekonstruiert. Diesen Prozeß der Dekonstruktion setzt Derrida fort, wenn er in Marges mit Nietzsche und im Gegenzug zum Rationalismus eine Kontinuität zwischen Begriff und Metapher postuliert: „Dieses Vorgehen Nietzsches (Verallgemeinerung des Metaphorismus durch die mise en abyme einer bestimmten Metapher) ist nur dann möglich, wenn man das Risiko der Kontinuität zwischen Metapher und Begriff eingeht, wie der zwischen Tier und Mensch, Instinkt VIII. Dekonstruktion: Theorie und Praxis 358 61 J. Derrida, Randgänge der Philosophie, op. cit., S. 251; Marges de la philosophie, op. cit., S. 313. (Meine Übersetzung, da offizielle Übersetzung fehlerhaft.) 62 Ibid., S. 258; S. 323. 63 Siehe: J. J. A. Mooy, A Study of Metaphor, Amsterdam-New York-Oxford, North Holland Publishing Company, 1976, S. 31: „Theories of the second type I shall call monistic theories because they allow for at most a singular (abnormal and non-literal) reference in the metaphorical word.“ Siehe auch: J. J. A. Mooy, „Metafoor en vergelijking in de literatuur“, in: Forum der Letteren Nr. 2 ( Juni), 1973, S. 121. 64 J. Derrida, Randgänge der Philosophie, op. cit., S. 207; Marges de la philosophie, op. cit., S. 251. 65 Ibid., S. 214; S. 261. 66 Ibid., S. 208; S. 252. 67 Ibid., S. 168; S. 198. und Wissen.“ 61 Einige Seiten weiter wendet sich Derrida folgerichtig gegen den (zu dekonstruierenden) „beruhigenden Gegensatz von Metaphorischem und Eigentlichem“ („opposition rassurante du métaphorique et du propre“). 62 Damit redet er einer Metapher-Theorie das Wort, die J. J. A. Mooy als monistisch bezeichnet hat, weil sie im Gegensatz zu dualistischen Ansätzen die Spuren des wörtlichen, des begrifflich-referentiellen Sprachgebrauchs in metaphorischen Ausdrücken tilgt. 63 Im Anschluß an Nietzsche geht Derrida so weit, daß er den gesamten philosophischen Sprachgebrauch der Metapher zuschlägt: „Die Philosophie wäre dann dieser Prozeß der Metaphorisierung, der seinerseits ständig durch sich selbst vorangetrieben wird.“ 64 Anders ausgedrückt: Der philosophische Diskurs ist so stark mit Metaphern und anderen Figuren durchwirkt, daß es unmöglich ist, die wuchernde Metaphorik mit Begriffen zu zähmen. Das begriffliche Denken wird niemals das beherrschen, woraus es selbst entstanden ist. Von der Metapher sagt Derrida, „sie (lasse) sich nicht durch sich selbst, durch das, was sie selbst hervorgebracht hat, beherrschen (…).“ 65 Dies sei der Grund, weshalb es auch den logozentrischen Philosophen nicht gelingen werde, das zu bändigen, was die Grundlage ihres Logozentrismus bilde. Derridas Beispiel ist Hegels Begriff der „Aufhebung“. In Marges ist von der „stillschweigenden Übereinstimmung zwischen der Hegelschen Aufhe‐ bung (…) und dem philosophischen Begriff der Metapher“ 66 die Rede. In einer Kritik an Husserl erscheint die Metapher als „Verführung“, als verführerische Kraft, die den logozentrischen (in diesem Fall phänomenologischen) Diskurs vom geraden, begrifflichen Weg ablenkt: „Die Metapher ist also, in jedem Sinne dieses Wortes, verführerisch (séduisante).“ 67 1. Jacques Derrida zwischen Hegel und Nietzsche 359 68 E. Behler, Derrida-Nietzsche/ Nietzsche-Derrida, op. cit., S. 69. 69 J. Derrida, Grammatologie, op. cit., S. 36; De la grammatologie, op. cit., S. 31-32. 70 Siehe: J. Derrida, Positionen, op. cit., S. 156; Positions, op. cit., S. 110. 71 Siehe: J. Derrida, „Titre à préciser“, in: ders., Parages, Paris, Galilée, 1986, S. 229- 232, wo zum Titel von Ponges Gedicht Le Pré folgende Assoziationen vorgeschlagen werden, zu denen auch das Präfix pré- (etwa in préfixe oder préface) gehört: „Le pré, au titre de titre, condense tout le réseau des motifs et des titres enchevêtrés: la chose ‚pré’, le mot ‚pré‘, les mots comme nom (prêt, pré), comme préfixe et morceau de mots (pré-), comme adjectif (prêt), comme adverbe (près).“ Für recht absurd halte ich seine Verknüpfung von „Aufhebung“ (Hegel) und „Erektion“ in Glas, op. cit., S. 169. 72 Auch Heidegger verläßt sich in seinen „Argumentationen“ auf etymologische Bezie‐ hungen und auf Homophonien. Es sei hier lediglich an seine Aufsätze „Bauen Wohnen In Derridas Diskurs ist die Verführung durch die Metapher und die Figur allgemein in jeder Hinsicht ein Erfolg: nicht nur, weil Derrida sich selbst immer wieder gern verführen läßt, sondern auch deshalb, weil er in nahezu allen seinen Schriften zu zeigen versucht, wie der metaphorische Charakter der philosophischen Rede deren begriffliche Grundlage zersetzt und deren metaphysische Wahrheiten zerfallen läßt. Es geht darum, „die Schriftlichkeit der Schrift, den Textcharakter des Textes, die Metaphorizität des Schreibens herauszuarbeiten“. 68 Es versteht sich von selbst, daß dieser Versuch, die begriff‐ lichen Hierarchien zu dekonstruieren, zu einer Aufwertung der Ausdrucksebene führt, die die Apotheose des Signifikanten bei Barthes noch übertrifft. Auch die Befreiung des Signifikanten, die in Derridas Darstellung der différance als „unbestimmter Rückverweisung eines Signifikanten auf einen Signifikanten“ (s. o.) vorgezeichnet ist, wird von Nietzsches Philosophie, von seiner Kritik der Metaphysik angekündigt. Von Nietzsche heißt es in der Grammatologie, er habe „entscheidend zur Befreiung des Signifikanten aus seiner Abhängigkeit, seiner Derivation gegenüber dem Logos, dem konnexen Begriff der Wahrheit oder eines wie immer verstandenen ersten Signifikats beigetragen“. 69 Derrida, der diesen Befreiungsprozeß fortsetzt und radikalisiert, wobei er sogar die Bezeichnung „Signifikant“ in Frage stellt 70 , versucht nicht nur, begriffliche Hierarchien aufzubrechen und metaphysische Wahrheiten zu zerlegen, sondern ist zugleich bestrebt, das diskursive Gleichgewicht zugunsten des Signifikanten zu stören und die „Argumentation“ (sofern von Argumentation noch die Rede sein kann) auf der Ausdrucksebene ablaufen zu lassen. Er kultiviert nicht nur die Homophonie 71 , die Etymologie und die Pseudoetymologie, mit deren Hilfe schon Heidegger seine Leserschaft blendete 72 , sondern führt darüber hinaus als Alternative zur definierbaren, VIII. Dekonstruktion: Theorie und Praxis 360 Denken“ und „Das Ding“ erinnert, in denen die Homophonien zwischen „wohnen“ und „schonen“ und „Spiegel“ und „Spiel“ eine der Argumentationsgrundlagen bilden: M. Heidegger, Vorträge und Aufsätze Teil II, Pfullingen, Neske, 1954, S. 24 und S. 53. 73 J. Derrida, Randgänge der Philosophie, op. cit., S. 239; Marges de la philosophie, op. cit., S. 295. 74 J. Derrida, Positionen, op. cit., S. 94; Positions, op. cit., S. 61. 75 Ibid., S. 120; S. 81. eingrenzbaren Polysemie der Semiotik die undefinierbare, weil uneinge‐ schränkte dissémination (Dissemination) ein. In der traditionellen Philosophie ist die Polysemie bestimmbar und be‐ herrschbar (wie auch in Greimasʼ oder Ecos Semiotik); die Dissemination ist es nicht: „Die Sprache ist nur insofern das, was sie ist, nämlich Sprache, als sie die Polysemie unter Kontrolle bringen und analysieren kann. Restlos. Eine nicht kontrollierbare Streuung (dissémination) ist nicht einmal eine Polysemie, sie gehört dem Außerhalb der Sprache an.“ 73 Sie entspricht der Differänz, dem endlosen Progreß oder Regreß der Signifikanten, dem keine Begriffsbestimmung Einhalt zu gebieten vermag. Die Dissemination erweist sich als mit der begrifflichen Definition unver‐ einbar, so daß Derrida in einem Interview sagen kann oder gar sagen muß: „Das Wort dissémination heißt im Grunde genommen nichts und kann nicht in der Form einer Definition zusammengefaßt werden.“ - „Dissémination ne veut rien dire en dernière instance et ne peut se rassembler dans une définition.“ 74 Hier zeichnet sich ein Dilemma ab, das zur Aporie der Dekonstruktion wird: als Philosoph gegen die Philosophie argumentieren, den Begriff mit Begriffen dekonstruieren zu müssen. Zugleich mit dem Nouveau Roman entstanden, der sich als Antiroman verstand, tritt die Dekonstruktion als Antiphilosophie auf. Derrida ist sich dieses Dilemmas durchaus bewußt: „Natürlich muß man eine neue Begriffsbildung einleiten, aber man muß sich dessen bewußt sein, daß die Begriffsbildung selbst und sie allein das, was man ‚kritisieren‘ möchte, wieder einführen kann.“ 75 Er stellt sich deshalb einen Text vor, der über das begrifflich-diskursive Denken hinausgeht und die von der Metaphysik gezogene Grenze zwischen Literatur und Theorie überschreitet. Literarischer und theoretischer Diskurs verschmelzen in einem schwer definierbaren „Text“, dessen utopische Kon‐ notationen an Barthesʼ „texte recevable“ und Adornos „Parataxis“ erinnern. Klaus W. Hempfer hat jedenfalls recht, wenn er lange vor Habermas im Zusammenhang mit Derridas La Dissémination von einem „endgültigen 1. Jacques Derrida zwischen Hegel und Nietzsche 361 76 K. W. Hempfer, Poststrukturale Texttheorie und narrative Praxis, München, Fink, 1976, S. 8. 77 J. Derrida, „Sporen. Die Stile Nietzsches“, in: W. Hamacher (Hrsg.), Nietzsche aus Frankreich, Frankfurt-Berlin, Ullstein, 1986, S. 152; Eperons. Les styles de Nietzsche, Paris, Flammarion, 1978, S. 83: „(…) même pour moi, de moi, la vérité est plurielle.“ 78 J. Derrida, Otobiographies. Lʼenseignement de Nietzsche et la politique du nom propre, Paris, Galilée, 1984, S. 60. Verzicht auf die Differenzierung von wissenschaftlichem und poetischem Diskurs“ 76 spricht. Der Verzicht auf die Gesetzmäßigkeiten begrifflicher Rede bringt einen Zerfall der Subjektivität mit sich, der laut Derrida schon in Nietzsches Denken vorgezeichnet ist. In Eperons. Les styles de Nietzsche heißt es: „Es gibt also keine Wahrheit an sich, sondern zu allem Überfluß, sogar für mich, von mir, ist die Wahrheit vielfach.“ 77 Komplementär dazu schreibt Derrida in seinem Nietzsche-Buch Otobiographies (1984) im Zusammenhang mit Ecce Homo: „Es gibt keinen Schatten mehr, und alle Aussagen vorher und nachher, links und rechts, sind gleichzeitig möglich (Nietzsche hat so ungefähr alles gesagt) und notwendig widersprüchlich (er hat völlig unvereinbare Aussagen gemacht und selbst darauf hingewiesen).“ 78 In diesen Widersprüchen löst sich die von Hegel in der Aufhebung gerettete und zur Allmacht erhobene Subjektivität auf. Zugleich wird der Unterschied zwischen Derridas Dekonstruktion und Adornos Kritischer Theorie faßbar: Adorno hat nie für die Aufgabe begriffli‐ cher Rede plädiert. Er wollte sie vielmehr durch die Aufnahme künstlerischer Mimesis in den theoretischen Diskurs mit dem Objekt (mit der Natur) versöh‐ nen, um sie auf diesem Wege aus der Verstrickung im Herrschaftswissen herauszulösen. Dies ist auch der Grund, weshalb er nicht auf Subjektivität und begriffliche Wahrheit verzichtete, sondern beide mit Herrschaftsfreiheit und Versöhnung mit dem Objekt (Mimesis) verknüpfte. Wie Horkheimer hätte er sich gegen Derridas Versuch gewandt, Dialektik als Einheit der Gegensätze in Widerspruch, Aporie und Indifferenz (der Werte, der Aussagen) ausmünden zu lassen. Nietzsches „Wesensgleichheit“ der Werte (vgl. Kap. I) war ihm - wie anderen Vertretern der Dialektik - fremd. Mit Derrida verband ihn allerdings der Wunsch, eine Alternative zur systematischen, logozentrischen Rede zu finden, die auch er aus der Kritik an der technologischen, der instrumentellen Vernunft ableitete. (Siehe Kap. IV.) VIII. Dekonstruktion: Theorie und Praxis 362 79 J.-P. Richard, LʼUnivers imaginaire de Mallarmé, Paris, Seuil, 1961, S. 422. 2. Derrida, Jean-Pierre Richard und Mallarmé: Dekonstruktion oder Dialektik der Totalität? Es geht hier im Anschluß an die dekonstruktive Aufhebung des Gegensat‐ zes literarisch/ philosophisch um zwei Mallarmé-Kommentare, die einander widersprechen. Der eine ist Derridas bekannter Text „La Double séance“, der zuerst in Tel Quel (Nr. 41/ 42, 1970), später in La Dissémination erschien, der andere Jean-Pierre Richards (1922-2019) umfangreiches Opus LʼUnivers imaginaire de Mallarmé (1961). Während Richard sich als Vertreter der „the‐ matischen Analyse“ („analyse thématique“) vornimmt, die Kohärenz von Mallarmés Werk zu rekonstruieren, reagiert Derrida auf Richards Entwurf mit einer Dekonstruktion, die den Verfahren von Mallarmés Schreibweise entsprechen soll. Allerdings geht auch Richard von der Annahme aus, daß seine mit der Dekonstruktion unvereinbare Interpretation die schriftstellerischen und ästhetischen Anliegen des Dichters artikuliert. Insofern fehlt es dem hier durchgeführten kurzen Vergleich nicht an Ironie: Er zeigt - gleichsam nebenbei -‚ daß es in der Literaturwissenschaft durchaus möglich ist, die Autorität eines und desselben Autors anzurufen, um gegensätzliche Interpretationsverfahren und Ästhetiken zu legitimieren. Dem ästhetischen Gegensatz zwischen Dekonstruktion und thematischer Analyse kommt in dem hier konstruierten philosophischen Kontext eine be‐ sondere Bedeutung zu: Während Derrida, wie sich gezeigt hat, die Hegelsche Dialektik mit nietzscheanischen Mitteln zu destruieren sucht, entwickelt Richard in seinem Mallarmé-Buch eine strukturale Methode, in der die „lebendige“, dynamische Totalität als Alternative zur „toten“ Struktur des linguistischen Strukturalismus anvisiert wird. Es ist wohl kein Zufall, daß der letzte Teil des achten Kapitels („L’Idée“) den für Derrida ominösen Titel „Für eine Dialektik der Totalität“ („Vers une dialectique de la totalité“) trägt. Denn Richard, dessen Arbeiten über Stendhal und Flaubert (Littérature et sensation, 1954) oder die Romantiker (Etudes sur le romantisme, 1970) alles andere als hegelianisch sind, legt in seiner Analyse von Mallarmés Werk nicht nur eine gewisse Sympathie für Hegels Dialektik an den Tag, sondern stellt implizit und explizit 79 Analogien zwischen Hegels Philosophie und Mallarmés Ästhetik her. Immer wieder erscheint der Dichter als Hegelianer, als jemand, dessen Hauptanliegen das ästhetische Erfassen des Gesamtzu‐ 2. Derrida, Jean-Pierre Richard und Mallarmé: Dekonstruktion oder Dialektik der Totalität? 363 80 Ibid., S. 16. 81 Ibid., S. 18. 82 Ibid., S. 30-31. 83 Ibid., S. 36. 84 Ibid. 85 Ibid., S. 22. 86 Ibid., S. 24. 87 Ibid., S. 28. sammenhangs, der Totalität ist. Schon in der Einleitung ist von „Mallarmés großem Projekt der Vereinheitlichung der Welt“ 80 die Rede. Die von Richard entwickelte Methode entspricht in jeder Hinsicht dieser im Werk aufgezeigten Totalisierungstendenz. Gleich zu Beginn ist von den „großen vereinheitlichenden Bedeutungen“ („les grandes significations unifiantes“) 81 die Rede, die an anderer Stelle durch Ausdrücke wie „Tiefen‐ lektüre“ („lecture profonde“) 82 ergänzt werden. An den Hegelianer Lucien Goldmann wird man erinnert, wenn es in der Einleitung heißt, „die innere Kohärenz (sei) schließlich das einzig gültige Kriterium der Objektivität“. 83 Nicht nur der Sprachduktus ist hermeneutisch und hegelianisch, sondern auch Richards theoretische Prämissen sind es. In der Einleitung zitiert er den Hermeneutiker Paul Ricœur mit dem Satz: „Man muß verstehen, um zu glauben, aber man muß glauben, um zu verstehen.“ 84 Was glaubt nun Richard? Er geht von dem Grundgedanken aus, daß Ite‐ ration und Rekurrenz (d. h. Wiederholung) es dem Literaturwissenschaftler gestatten, die großen Themen in Mallarmés Werk auszumachen: „Gerade die Wiederholung (itération) der Motive und eine bestimmte Strenge des sinnlichen Materials (matériel sensible) garantieren dort unterhalb der Kom‐ plexität des Gewebes oder der Modulationen die Strenge der thematischen Entwicklung.“ 85 Rekurrenz scheint tatsächlich das zentrale methodische Kriterium zu sein, denn etwas weiter heißt es: „Die Aufdeckung der Themen wird gewöhnlich mit Hilfe des Kriteriums der Rekurrenz durchgeführt.“ 86 So entsteht beispielsweise durch wiederholtes Auftreten des Wortes pli (Falte) in Mallarmés Text ein ganzes Netz von Bedeutungen, in dem dieses Wort auf semantische Einheiten wie Sexualität, Spiegel, Buch oder Grab bezogen werden kann, die alle dem Oberbegriff „Intimität“ („intimité“) zu subsumieren sind. 87 (Wer mit der strukturalen Semiotik vertraut ist, wird sogleich an Greimasʼ Isotopiebegriff erinnert. Siehe Kap. VII. 3.) Jean-Pierre Richard faßt Kohärenz jedoch nicht nur linear - strukturali- VIII. Dekonstruktion: Theorie und Praxis 364 88 D. Fricke, „Jean-Pierre Richard“, in: W.-D. Lange (Hrsg.), Französische Literaturkritik in Einzeldarstellungen, Stuttgart, Kröner, 1975, S. 187. 89 J.-P. Richard LʼUnivers imaginaire de Mallarmé, op. cit., S. 377. 90 S. Mallarmé, Œuvres complètes, Paris, Gallimard, Bibl. de la Pléiade, 1945, S. 296. 91 J.-P. Richard, LʼUnivers imaginaire de Mallarmé, op. cit., S. 411. 92 Ibid. 93 Ibid., S. 412. stisch-thematisch - auf, sondern auch hermeneutisch-dialektisch. In seinen Analysen erscheint Mallarmé als ein Dichter der Idee und der Idealität, der mit Hilfe des Totalitätsbegriffs die zufallsbedingte Wirklichkeit der Empfindungen und der Sprache beherrschen möchte. Es gilt, wie Dietmar Fricke in seinem Artikel über Richard sagt, „eine solche Sinnenfülle in eine einheitliche Vision zu überführen“. 88 Richard selbst zeigt, wie der Dichter sich bemüht, „das Verstreute zu gruppieren, die Dinge zu vereinheitlichen, über die Kontingenz hinauszugelangen“. 89 Diese Vereinheitlichung kommt u. a. durch die Überwindung des Dualis‐ mus von Sinnlichem und Abstraktem, von Körperlichem und Begrifflichem in der Musik und im Tanz zustande. In seinen Darstellungen einer Tänzerin („Crayonné au théâtre“) möchte Mallarmé „den philosophischen Punkt ableiten, an dem das Unpersönliche der Tänzerin zu orten ist: zwischen ihrer femininen Erscheinung und einem gemimten Gegenstand“ („déduire le point philosophique auquel est située lʼimpersonnalité de la danseuse, entre sa féminine apparence et un objet mimé“). 90 Vom Körper der Tänzerin sagt Richard durchaus im Sinne des Dichters, „er vermähle glücklich Materie und Bedeutung“. 91 Die Tänzerin bilde den Brennpunkt („point focal“), „in dem Signifikant und Signifikat sich im Zeichen vereinigen“. 92 Die Tänzerin wird somit zum metaphorischen Ausdruck einer Idee, in der Sinnliches und Geistiges, Materie und Begriff miteinander verschmelzen. Hegelianisch mutet Richards Beschreibung dieser Idee an, die er als sinnliche Erscheinung des Begriffs auffaßt: „Aber diese ‚Idee‘ ist nicht auf eine einfache Abstraktion zurückzuführen: sie ähnelt eher dem, was die Philoso‐ phen heutzutage als konkrete Wesenheit (essence concrète) bezeichnen. Die Metapher gestattet und fördert folglich einen Impuls, der zu einer richtigen Jagd auf Wesenheiten wird.“ 93 Daß mit den „Philosophen“ in dieser Passage auch Hegel gemeint sein könnte, läßt ein Hinweis auf die französische Übersetzung der Wissenschaft der Logik (S. 422) vermuten. Weit davon entfernt also, die begriffliche Wahrheit zu zersetzen, wird die Metapher bei Richard zu einem Instrument der poetischen Wahrheitssuche. 2. Derrida, Jean-Pierre Richard und Mallarmé: Dekonstruktion oder Dialektik der Totalität? 365 94 Ibid., S. 417. 95 Ibid., S. 424. 96 Ibid., S. 432. 97 Siehe: G. Genette, „Bonheur de Mallarmé? “ in: ders., Figures I, Paris, Seuil, 1966, S. 99. In Mallarmés Metaphorik, in der Haar und Feuer, Eis und Jungfräulichkeit miteinander verknüpft werden, „soll der Signifikant Flamme oder Gletscher dem Signifikat sein intimstes Attribut entlocken („extraire du signifié son attribut le plus intime)“. 94 Es geht mithin darum, mit Hilfe von Mallarmés Metaphorik das Wesen oder die Struktur seiner Dichtung zu bestimmen und zugleich nachzuweisen, daß dieses strukturale Anliegen auch das des Dichters war, der das Wesen der Dinge anvisierte („dégager lʼessence“). Zur treibenden Kraft einer „Dialektik der Totalität“ („dialectique de la totalité“) wird die Metapher schließlich dadurch, daß sie - wie im Falle der Tänzerin - den Dualismus überwindet und die Totalität als Einheit der Gegensätze konstituiert: „Die Metapher ist somit eine Vereinigung (accouplement) und die dialektische Synthese eine Reduktion des Zweifa‐ chen auf das Eine.“ 95 In Mallarmés indischem Märchen „Le Mort vivant“ gehe es darum, verfeindete Prinzipien wie Tag und Nacht, Leben und Tod miteinander in einer dialektischen Totalität zu versöhnen, die zur Utopie des Dichters wird. Der Leser wird schließlich an Goldmanns hegelianische Hermeneutik in Le Dieu caché („Le Tout et les parties“) erinnert, wenn Richard in seinem Mallarmé-Buch von der „dialektischen Bestätigung des Ganzen durch den Teil und des Teils durch das Ganze“ spricht und erklärt: „Der Teil wird nur im Hinblick auf das Ganze sinnvoll, aber das Ganze wird nur dann seinen Sinn kundtun, wenn es zu allen Teilen in Beziehung gesetzt wird.“ 96 Insofern hat Genette durchaus recht, wenn er in seiner Rezension des Buches darauf hinweist, daß Richards Totalitätsbegriff weit über den Strukturbegriff der Strukturalisten“ (gemeint ist vor allem Lévi-Strauss) hinausgeht. 97 Er hätte hinzufügen sollen, daß Richards Strukturbegriff dia‐ lektischen Charakter hat und eher dem der genetischen Strukturalisten Piaget, Mukařovský und Goldmann verwandt ist als dem eines Lévi-Strauss. Aber auf Probleme der Dialektik hat sich Genette nie gern eingelassen. Darin unterscheidet er sich von Derrida, der sich von Richards Buch nicht nur deshalb provoziert fühlen mußte, weil es seiner antihegelianischen, nietzscheanischen Auffassung der Schrift widerspricht, sondern auch des‐ halb, weil er auf S. 380 auf den folgenden Satz stieß: „Gegen die Zerstreuung VIII. Dekonstruktion: Theorie und Praxis 366 98 J.-P. Richard, LʼUnivers imaginaire de Mallarmé, op. cit., S. 380. 99 J. Derrida, La Dissémination, op. cit., S. 303. 100 Ibid., S. 236. 101 Ibid., S. 276. 102 Ibid., S. 302. 103 Ibid., S. 303. des Sinnes wird das glückliche Wort die Wahrheit mit einem harten Relief umgeben.“ („Contre la dissémination du sens, le mot heureux campera donc la vérité dʼun dur relief.“) 98 Mallarmés Wort „disséminer“, das aus seiner „Préface à Vathek“ stammt und das Derrida in den frühen 70er Jahren zu einem seiner Schlüsselbegriffe machte, erscheint hier zunächst (1961) in einem logozentrischen, „metaphysischen“ Kontext. Derrida reagiert mit einer radikalen „dissémination du sens“ und beruft sich dabei - wie vor ihm Richard - auf die Schreibweise Mallarmés. In „La Double séance“ (1970), wo er unablässig offen und versteckt gegen Richard polemisiert, assoziiert er dessen Ansatz mit der traditionellen, „klassischen“ Mallarmé-Deutung und dem „Neohegelianismus“. Er spricht von einer „at‐ mosphère intimiste, symboliste et néo-hégélienne“. 99 Der Neohegelianismus besteht - wie nicht anders zu erwarten war - darin, daß Richard den Text Mallarmés schließt, indem er ihn als sinnvolle Totalität mit einer seiner möglichen Bedeutungen identifiziert. Im Gegenzug zu dieser „identifizierenden“ Deutung versucht Derrida nachzuweisen, daß es in Mallarmés Dichtung kein „letztes Signifikat“ („sig‐ nifié en dernière instance“) und keinen „letzten Referenten“ („référent en dernière instance“) 100 gibt. Dabei gilt es, Richards „thematische Literaturwis‐ senschaft“ („critique thématique“) Schritt für Schritt zu dekonstruieren: „Es soll also gerade von der Möglichkeit der thematischen Literaturwissenschaft die Rede sein.“ 101 Es wäre ehrlicher zu sagen: von der Unmöglichkeit. Denn sie soll in „La Double séance“ nachgewiesen werden, wo Derrida auch auf das „Thema“‘ der Falte (pli: s.o.) zu sprechen kommt, das Richard seiner Ansicht nach mit „dialektischen, totalisierenden und eudämonisti‐ schen“ 102 Mitteln analysiert. Im Gegensatz dazu hebt Derrida die nichtredu‐ zierbare Vielfalt des Wortes pli bei Mallarmé hervor: „alles, was in der Falte auch auf Öffnung, Dissemination, räumliche und zeitliche Verteilung hin‐ deutet“ („tout ce qui dans le pli marque aussi la déhiscence, la dissémination, lʼespacement, la temporisation“). 103 Nicht unwichtig ist in dieser Passage das Wörtchen „auch“ („aussi“), welches besagen soll, daß Derrida nicht so sehr die Existenz der von Richard aufgezeigten Themen und Themenkomplexe 2. Derrida, Jean-Pierre Richard und Mallarmé: Dekonstruktion oder Dialektik der Totalität? 367 104 Ibid., S. 307. 105 Ibid., S. 283. 106 Ibid., S. 290. 107 Ibid., S. 291. anzweifelt als vielmehr den dialektischen, hegelianischen Versuch, sie zu einer homogenen Totalität zu bündeln. Nach nietzscheanischer und radikal-junghegelianischer Manier geht er von der Ambivalenz des Textes aus: von der „entscheidenden und unent‐ scheidbaren Ambiguität des Satzes“ 104 bei Mallarmé. Diese Ambiguität (oder radikale Ambivalenz), die den Diskurs Nietzsches und der Junghegelianer strukturiert, schiebt allen Versuchen einen Riegel vor, die Wiederholung als Rekurrenz oder Iterativität zur Grundlage der Themenkonstitution zu machen: nicht nur deshalb, weil Wörter immer neue, zweideutige Be‐ deutungen annehmen, sondern auch deshalb, weil sie sich schlicht der Sinngebung entziehen: „Man merkt das nicht, weil man meint, dort Themen wahrzunehmen, wo das Nicht-Thema, das, was nicht zum Thema werden kann, das, was keinen Sinn hat, unablässig wieder-kehrt (se re-marque sans cesse), das heißt verschwindet.“ 105 Die Wiederkehr oder Iteration von Wörtern wie pli oder blanc trägt also nicht zur Thema-Konstitution, sondern zur Thema-Auflösung bei: Iteration ist „in Wirklichkeit“ Iterabilität, Zerfall des Sinnes. Diese Auflösung bezeichnet Derrida mit dem Wort dissémination, das er Jean-Pierre Richard (und indirekt Mallarmé) entlehnt, um es in „La Double séance“ polemisch gegen ihn zu wenden. Daß die dissémination keinerlei begriffliche Fixierung duldet, geht klar aus Derridas Kommentaren zu den Wörtern blanc und pli hervor: „Die Dissemination von Weiß (wir werden nicht sagen des Weißen: blancheur) bringt eine Struktur von Tropen hervor, die unablässig um sich selbst kreist, weil sie ständig einen Dreh zuviel vollbringt: keine Metapher mehr, keine Metonymie. Wo alles metaphorisch wird, gibt es keinen eigentlichen Sinn und folglich auch keine Metapher mehr.“ 106 In seiner extremen Ambivalenz ist auch Mallarmés Wort pli nicht theoretisch einzufangen: „Die Falte ist zugleich Jungfräulichkeit, das, was sie vergewaltigt (viole), und die Falte, die weder das eine noch das andere ist, ist beides zugleich, unentscheidbar; sie bleibt übrig als Text (reste comme texte) und ist auf keine ihrer beiden Bedeutungen zu reduzieren.“ 107 Ambivalenz als Unentscheidbarkeit und Aporie wird zum privilegierten Verfahren der Dekonstruktion. VIII. Dekonstruktion: Theorie und Praxis 368 108 J. Kristeva, La Révolution du langage poétique. LʼAvant-garde à la fin du XIX e siècle: Lautréamont et Mallarmé, Paris, Seuil, 1974, S. 212. 109 J. Derrida, La Dissémination, op. cit., S. 389. 110 J. Derrida, Parages, op. cit., S. 267. Sie wird im Anschluß an Derrida auch von Julia Kristeva in ihren Mallarmé-Kommentaren in La Révolution du langage poétique (1974) thema‐ tisiert. Von der Beziehung zwischen Mallarmés Theorie und Praxis heißt es dort: „Spaltung des Sinnes, der Aussage, des Wortes; Verlust ihrer Identität zugunsten eines Rhythmus, einer Musik, einer Melodie - so geht aus Mallarmés theoretischen Schriften das Gestaltungsprinzip seiner Praxis hervor.“ 108 Wie bei Derrida bewirkt auch hier die extreme Ambivalenz eine Zersetzung des Sinnes und eine Akzentverschiebung zugunsten des Ausdrucks, der Signifikanten. Diese ist für die gesamte Tel-Quel-Gruppe kennzeichnend, und es ist sicherlich kein Zufall, wenn sich Derrida im letzten Teil seines Buches La Dissémination eine Analyse von Philippe Sollersʼ Nombres vornimmt. Dieser Text ist gegen den Strich, gegen die Gattung und den Sinn geschrieben; er liest sich bisweilen wie eine Begleitschrift zu Derridas Philosophie. Kein Wunder, daß Derrida mit Genugtuung feststellt: „Somit haben die Nombres, als Zahlen, keinen Sinn, sie haben überhaupt keinen Sinn, auch nicht einen pluralen.“ 109 Daher ist der Text auch nicht mit Hilfe des „konventio‐ nellen“ Polysemie-Begriffs einzufangen: etwa als Anordnung heterogener Isotopien; er ist Dissemination: „dissémination textuelle“. Er ist, ähnlich wie Blanchots La Folie du jour, die Derrida in Parages (1986) kommentiert, „Er‐ zählung einer unmöglichen Erzählung“ („le récit dʼun récit impossible“) 110 , die weder Subjekt (Autor) noch Thema hat und keiner Gattung zuzurechnen ist. Auch Derridas Diskurs gehört keiner Gattung an: Er ist Philosophie und Literatur, und er ist keines von beiden. Die Konfrontation von Richards Hermeneutik der Totalität und Derridas Dekonstruktion ist insofern lehrreich, als sie zeigt, daß weder die Festlegung des Textes auf einen „totalen“ Sinn noch seine Auflösung in der Dissemina‐ tion für die Literaturwissenschaft ein Gewinn ist. Sinnvoller scheint mir ein dialektisches Vermitteln zwischen Sinn und Sinnegation zu sein, das es gestattet, drei Tatsachen zu berücksichtigen: 1. daß jeder literarische Text bestimmte Ambivalenzen und Vieldeutigkeiten enthält, die nicht aufzulösen sind; 2. daß jede literaturwissenschaftliche Theorie als Metatext einen besonderen Gegenstand (als Objektkonstruktion, als „ästhetisches Objekt“, 2. Derrida, Jean-Pierre Richard und Mallarmé: Dekonstruktion oder Dialektik der Totalität? 369 111 Eine ausführlichere Darstellung dieses Sachverhalts findet sich in: Vf., „Paul de Man: Rhetorik und Aporie“, in: Die Dekonstruktion. Einführung und Kritik, op. cit., S. 101-135. 112 P. de Man, Blindness and Insight, op. cit., S. 28. Mukařovský) hervorbringt, der mit dem Text als solchem, mit dem „Ding an sich“, nicht identisch ist; 3. daß die meisten theoretischen Objektkonst‐ ruktionen sich jedoch in wesentlichen Punkten überschneiden, wobei die Konstanten des literarischen Textes als konsensfähige Grundstrukturen erkennbar werden. Daß es sich um einen Konsens im Dissens handelt, soll im vorletzten Kapitel verdeutlicht werden. 3. Dekonstruktion in Yale 1: Paul de Man Es ist nicht sinnvoll, Paul de Man (1919-1983) als einen Schüler Derridas darzustellen oder als einen Philologen, der Derridas philosophische Dekon‐ struktion auf Literatur und Literaturwissenschaft anwendet. Denn Paul de Mans Aufsätze, die aus den frühen 60er Jahren stammen und zusammen mit späteren Publikationen und Originalbeiträgen in dem postum veröffentlich‐ ten Sammelband The Rhetoric of Romanticism (1984) erschienen sind, können nicht ohne weiteres der „Dekonstruktion“ zugerechnet werden. Sie erinnern stellenweise an die werkimmanenten Analysen der New Critics (vgl. Kap. I. 5) und an die von ihnen entwickelte Praxis des „close reading“. 111 Wenn man allerdings de Mans Kommentaren zum amerikanischen New Criticism Glauben schenken darf, so werden bestimmte dekonstruktive Ver‐ fahren in den Arbeiten von Brooks, Ransom und Wimsatt antizipiert. „Indem sie ihre Interpretationen immer mehr verfeinert“, schreibt de Man in Blind‐ ness and Insight (1971), „entdeckt die amerikanische Literaturwissenschaft (American criticism) nicht eine einzelne Bedeutung, sondern eine Vielzahl von Bedeutungen, die einander radikal widersprechen können“. 112 Diese Darstellung des New Criticism enthält nicht nur eine Kurzcharakteristik von de Mans eigener Betrachtungsweise, sondern schlägt eine Brücke von seinen frühen zu seinen späteren (dekonstruktivistischen) Arbeiten. Denn in beiden geht es im wesentlichen darum, die ambivalente und aporetische Struktur des literarischen Textes aufzudecken und nachzuweisen, daß kein Text als eindeutige, homogene Totalität zu lesen ist. Schon in einem Aufsatz über Wordsworth und Yeats aus dem Jahre 1962 ist von zwei „verschiedenen Lektüren“ („two distinct readings“) die Rede und auch davon, daß sie von VIII. Dekonstruktion: Theorie und Praxis 370 113 P. de Man, The Rhetoric of Romanticism, New York, Columbia Univ. Press, 1984, S. 143. 114 J. C. Ransom, The New Criticism, Norfolk (Conn.), New Directions, 1941, S. 174. 115 P. de Man, The Resistance to Theory, Minneapolis, Univ. of Minnesota Press, 1986, S. 109. grundverschiedenen Sprachbildern ausgehen („altogether divergent uses of imagery“). 113 Es ist jedoch nicht notwendig, sich de Mans dekonstruktivistische Inter‐ pretation des New Criticism zu eigen zu machen, um eine Verbindung zwischen der amerikanischen Literaturwissenschaft und Derridas Philoso‐ phie herzustellen. Diese Verbindung kommt gleichsam spontan zustande, weil die New Critics, wie sich hier im ersten Kapitel herausgestellt hat, mit sozialwissenschaftlichen Methoden nichts im Sinn hatten, den „literary criticism“ eher als Kunst auffaßten und sich auf die Terminologie der traditionellen Rhetorik verließen. In diesem Zusammenhang sei lediglich an die Behauptung des im ersten Kapitel zitierten J. C. Ransom erinnert, „die Absicht, die ein Gedicht verfolg(e), lieg(e) jenseits des beruflichen Weltbildes des Wissenschaftlers“. 114 Die New Critics waren stets bemüht, den „literary criticism“ (der deshalb nicht als Literaturwissenschaft im Sinne der Semiotik oder Literatursozio‐ logie zu betrachten ist) jenseits der sozialwissenschaftlichen Sprachen an‐ zusiedeln. Darin stimmen sie trotz wesentlicher Abweichungen in anderen Punkten mit Paul de Mans Dekonstruktion überein. Deren Resonanz an der Universität von Yale, an der de Man bis zu seinem Tod lehrte, und in nordamerikanischen Intellektuellenkreisen erklärt sich einerseits aus der Konvergenz zwischen der in den USA herrschenden Autonomieästhetik (Kants, Croces) und Derridas (Nietzsches) Aufwertung des Ausdrucks dem Inhalt, dem Begriff gegenüber; andererseits aus einer Wahlverwandtschaft zwischen verschiedenen Varianten des anglo-amerika‐ nischen Empirismus und Antirationalismus (Hume) und Derridas radikaler Kritik an Logozentrismus und Systemdenken. Freilich geht es hier lediglich um eine ideologische und institutionelle Affinität; keineswegs um eine theoretisch-begriffliche Übereinstimmung oder gar Kontinuität. Ähnlich wie die Logozentrismus-Kritik Derridas richtet sich auch die Paul de Mans regelmäßig gegen Hegels Systemdenken. Unmißverständlich lehnt de Man in seinem Aufsatz über Bachtin Hegels Schlüsselbegriff der Aufhebung, der über die binäre Differenz hinausweist (vgl. Kap. I. 2), ab: „Sofern binäre Gegensätze die Synthese ermöglichen und begünstigen, gehören sie zu den am stärksten irreführenden differentiellen Strukturen.“ 115 3. Dekonstruktion in Yale 1: Paul de Man 371 116 P. de Man, „Reply to Raymond Geuss“, in: Critical Inquiry 10, Dezember, 1983, S. 388. 117 Siehe z. B. J.-P. Sartre, „LʼUniversel singulier“, in: Kierkegaard vivant, Paris, Gallimard, 1966, S. 39: „De ce point de vue, au commencement du système hégélien, il nʼy a point 1ʼêtre mais la personne de Hegel, telle quʼon lʼa faite, telle quʼelle sʼest faite.“ 118 P. de Man, Allegorien des Lesens, Frankfurt, Suhrkamp, 1988, S. 148. 119 Ibid., S. 152. Im junghegelianischen, nietzscheanischen Traditionszusammenhang ste‐ hend, versucht de Man - ähnlich wie Derrida -‚ die Aporien des Hegelschen Systems aufzuzeigen, etwa wenn er in einer Hegel-Kontroverse mit Ray‐ mond Geuss in Critical Inquiry (1983) zum Verhältnis zwischen Allgemeinem und Besonderem bei Hegel bemerkt: „Wenn Wahrheit die Aneignung der Welt durch das Ich im Gedanken und folglich in der Sprache ist, dann enthält Wahrheit, die als das absolut Allgemeine definiert wird, ein konstitutives Element der Partikularisierung, das mit ihrer Allgemeinheit unvereinbar ist. Diese Frage taucht bei Hegel jedesmal auf, wenn die Sprache auftaucht (when language surfaces) (…).“ 116 Es geht hier um ein altes Thema, das seit den Junghegelianern, seit Kierkegaard, Sartre und Adorno die Hegel-Kritik beschäftigt: um das Ver‐ hältnis von Besonderem und Allgemeinem bei Hegel. Immer wieder wird der existentialistische, kritisch-theoretische oder dekonstruktivistische Vor‐ wurf laut, Hegel habe das Besondere im System nicht aufgehoben, sondern dem Allgemeinen geopfert. 117 Während in den verschiedenen Varianten des Existentialismus dieser Vorwurf in ein Plädoyer für individuelle Entscheidungsfreiheit und in der Kritischen Theorie in eine Verteidigung der individuellen Partikularität mündet, bewirkt er bei Paul de Man eine Abkehr vom begrifflichen Diskurs wissenschaftlicher Rede und eine radikale Partikularisierung der Sprache als Rhetorik, als Zusammenspiel von Figuren. Die Sprache als ganze wird mit Nietzsche als verkappte Rhetorik entlarvt und ihres Wahrheits- oder Universalitätsanspruchs beraubt. De Man zitiert Nietzsches Satz: „Eigentlich ist alles Figuration, was man gewöhnlich Rede nennt“, und schließt mit Nietzsche auf „die Abhängigkeit der Rede von der Figur“. 118 An anderer Stelle faßt er zusammen: „Legitimer‐ weise können wir deshalb behaupten, daß der Schlüssel zu Nietzsches Kritik der Metaphysik (…) im rhetorischen Modell der Trope liegt oder, anders gesagt, in der Literatur als der am ausdrücklichsten in Rhetorik gegründeten Sprache.“ 119 Paul de Man folgt Nietzsche und dessen rhetorisch-literarischer Kritik der Metaphysik. VIII. Dekonstruktion: Theorie und Praxis 372 120 Ibid., S. 175. 121 P. de Man, „Der Widerstand gegen die Theorie“, in: V. Bohn (Hrsg.), Romantik. Literatur und Philosophie, Frankfurt, Suhrkamp, 1987, S. 97. 122 Ibid., S. 98. 123 P. de Man, The Resistance to Theory, op. cit., S. 18. Es ist allerdings wichtig, daran zu erinnern, daß „Rhetorik“ weder von Nietzsche noch Paul de Man als „Eloquenz“ aufgefaßt wird, sondern als „fi‐ gurative“, d. h. aus Tropen bestehende Rede. An die Tatsache, daß Nietzsche neben einem positiven auch einen „pejorativen Rhetorik-Begriff “ kennt, nämlich Rhetorik als Eloquenz, erinnert ebenfalls Joachim Goth in seinem Buch über Nietzsche und die Rhetorik (1970). 120 Wichtiger noch als diese Unterscheidung der beiden Rhetorik-Begriffe bei Nietzsche und de Man scheint hier der Umstand zu sein, daß die Aufwertung der Rhetorik im Gegensatz zur begrifflichen Rede als partikularisierende Antwort auf die Verallgemeinerungstendenzen des Hegelianismus aufzufas‐ sen ist. Sie hat insofern „junghegelianischen“ Charakter, als die gesamte nachhegelianische Kritik von Stirner und Kierkegaard bis Sartre und Adorno auf Partikularisierung hinauslief. Bei Derrida und Paul de Man erfaßt diese historische Partikularisierungstendenz den sprachlichen Ausdruck, und dies hat zur Folge, daß der theoretische Diskurs mit sich selbst in Widerspruch gerät und sich in der Rhetorik oder der Literatur auflöst. Seine Auflösung wird vor allem in de Mans Aufsatz „The Resistance to Theory“ sichtbar, wo Grammatik und Logik eindeutig der Rhetorik unter‐ geordnet werden: nicht so sehr, weil der Autor subjektiv der figurativen Komponente des Diskurses den Vorzug gibt, sondern weil er überzeugt ist, daß diese Komponente in der Sprache objektiv dominiert. Für einen Rationalisten wie Greimas, sagt er, sind Grammatik und Logik der Sprache koextensiv (vgl. Kap. VII. 3): „Grammatik ist ein Isotop der Logik.“ 121 Die eigentliche Komplexität des Problems tritt jedoch erst dann zutage, wenn die rhetorische (figurative) Dimension der Sprache mitberücksichtigt wird: „Schwierigkeiten treten nur auf, wenn es nicht mehr länger möglich ist, die erkenntnistheoretische Stoßkraft der rhetorischen Dimension des Diskurses zu ignorieren, das heißt, wenn es nicht mehr möglich ist, diese als bloßen Zusatz, als ein reines Ornament innerhalb der semantischen Funktion zu betrachten.“ 122 Paul de Man entdeckt das, was er als „the rhetorical dimensions of a text“ 123 bezeichnet. Welche Folgen hat nun diese Entdeckung oder Wiederentdeckung der Rhetorik? Die erste Folge ist eine Zersetzung der grammatisch-logischen 3. Dekonstruktion in Yale 1: Paul de Man 373 124 P. de Man, „Der Widerstand gegen die Theorie“, op. cit., S. 102. 125 Ibid., S. 101. 126 Siehe: M. Jay, „The Debate over Performative Contradiction: Habermas vs. the Post-Structuralists“, in: H. Honneth et al. (Hrsg.), Zwischenbetrachtungen. Im Prozeß der Aufklärung, Frankfurt, Suhrkamp, 1989, S. 182-183: „De Man endorses Nietzsche’s contention that our reluctance to affirm and deny one and the same thing ‚is a subjective empirical law, not the expression of any ‚necessity‘ but only an inability‘.“ 127 P. de Man, Allegorien des Lesens, op. cit., S. 176. 128 W. Hamacher, „Einleitung“, in: P. de Man, Allegorien des Lesens, op. cit., S. 16. 129 P. de Man, Allegorien des Lesens, op. cit., S. 182. 130 J. Culler, „De Manʼs Rhetoric“, in: ders., Framing the Sign, Oxford, Basil Blackwell, 1988, S. 112-113. Rationalität, die von den Tropen der Rhetorik überwuchert wird: „Da die Grammatik ebenso wie die Metaphorik ein integraler Bestandteil des Lesens ist, ergibt sich, daß Lesen ein negativer Prozeß ist, in dem das grammatische Erkennen stets durch seine es verdrängende rhetorische Entsprechung auf‐ gehoben wird.“ 124 Da Literaturtheorie als „criticism“ oder „critique littéraire“ vom Lesen nicht zu trennen ist, kann de Man in diesem Kontext von der „Auflösung der Theorie“, „this undoing of theory“ 125 sprechen. Die zweite Folge dieser „rhetorischen Wende“ ist die Entdeckung der nachhegeliani‐ schen, nietzscheanischen Ambivalenz, die nicht mehr durch Aufhebung zu bändigen ist und in die von Martin Jay angesprochene theoretische Aporie mündet. 126 Diese läuft auf eine Negation der formalen Logik hinaus: „Rhetorik ist darin ein Text, daß sie zwei miteinander unverträgliche, sich wechselseitig zerstörende Blickpunkte ermöglicht und deshalb jedem Lesen oder Verste‐ hen ein unüberwindliches Hindernis in den Weg legt.“ 127 So wird das Lesen zu einer „Allegorie der Unlesbarkeit“ 128 , wie Werner Hamacher in seiner Einleitung zur deutschen Übersetzung von Allegories of Reading bemerkt. In diesem Band stößt der Leser auf einen Satz, der wie kein anderer den Nexus von Ambivalenz und Rhetorik veranschaulicht: „Tropen sind weder wahr noch falsch und sind beides zugleich.“ 129 Die extreme Ambivalenz, die Nietzsche in einem junghegelianischen Kontext destruktiv gegen die Dialektik wandte, wird hier bewußt und syste‐ matisch bis zur Aporie getrieben. Jonathan Culler hat bis zu einem gewissen Grad recht, wenn er in seinem Kommentar zu de Mans Rhetorik von einer „Dialektik ohne Synthese“ („a dialectic without synthesis“) 130 spricht. Da er jedoch nicht auf die Entwicklung des dialektischen Denkens seit den Junghegelianern eingeht, versäumt er es, den wesentlichen Unterschied VIII. Dekonstruktion: Theorie und Praxis 374 zwischen der Ambivalenz der Dekonstruktion und der der Kritischen Theo‐ rie hervorzuheben, die ebenfalls als „Dialektik ohne Synthese“ bezeichnet werden könnte. Während die Dekonstruktion die Ambivalenz als Aporie auffaßt, d. h. destruktiv, faßt sie die Kritische Theorie als Wahrheitsmoment auf, als wechselseitige Bedingtheit zweier Extreme, die einander auszuschließen scheinen. So zeigt beispielsweise Adorno, wie Ideologie und Ideologiekritik bei Stefan George ineinandergreifen und eine widersprüchliche Einheit bilden (vgl. Kap. IV). Indem Vertreter der Dekonstruktion die dialektische Einheit der Gegensätze - als Erkenntnis wechselseitiger Bedingtheit - durch die Aporie ersetzen, verlieren sie das Wahrheitsmoment aus den Augen und kehren der Dialektik den Rücken. Dies ist meiner Meinung nach der Hauptgrund, weshalb Paul de Mans dekonstruktive Lektüren philosophischer und literarischer Texte in den meisten Fällen recht unergiebig sind, zumal dann, wenn um jeden Preis nachgewiesen werden soll, daß einem Text oder Textfragment eine Aporie zugrunde liegt. Während der Hegelianer Lucien Goldmann den gravieren‐ den Fehler beging, fragmentarische und z.T. widersprüchliche Texte der Avantgarde als homogene Totalitäten zu lesen (vgl. Kap. II. 4), fallen Dekon‐ struktivisten in das andere Extrem und suchen Aporien, wo es keine gibt. Könnte es nicht sein, daß manche literarische Texte durchaus homogen sind, während andere mit Absicht als Paradoxien, Aporien oder offene Fragmente konzipiert werden? Paul de Man hat sich diese Frage anscheinend nicht gestellt, denn er versucht in den meisten seiner Arbeiten, sowohl phi‐ losophisch-ästhetische als auch literarische Texte als paradoxe, aporetische Konstrukte zu verstehen. Besonders charakteristisch für diese Jagd nach Aporien sind seine Kom‐ mentare zu Georg Lukácsʼ Theorie des Romans und Jacques Derridas Rous‐ seau-Interpretationen in De la grammatologie. In einer kritischen Analyse von Lukácsʼ Jugendwerk stellt er die These auf, daß Lukács sich in einen Grundwiderspruch verstrickt, indem er einerseits behauptet, der Roman überspiele den Verlust der epischen Einheit von Subjekt und Objekt (Held und Welt) durch Ironie, zugleich aber in einer kurzen Interpretation von Flauberts Education sentimentale die Ansicht vertritt, in diesem Roman stelle der Zeitfaktor die organische Einheit, die anderen Romanen fehle, wieder her: „Es sieht so aus, als wäre der Organizismus (organicism), den Lukács aus dem Roman verschwinden ließ, als er die Ironie zu dessen 3. Dekonstruktion in Yale 1: Paul de Man 375 131 P. de Man, Blindness and Insight, op. cit., S. 58. 132 G. Lukács, Die Theorie des Romans, Neuwied-Berlin, Luchterhand, 1971, S. 112-113. 133 Ibid., S. 137. strukturierendem Prinzip machte, durch eine Hintertür in der Gestalt der Zeit wiedergekommen.“ 131 Diese Interpretation der Theorie des Romans trifft nur teilweise zu, weil sie drei wesentliche Tatsachen unberücksichtigt läßt: 1. Lukács ließ das Problem der epischen Totalität (der Einheit von Subjekt und Objekt) in seinen Kommentaren zu Romanen wie Cervantesʼ Don Quijote oder Goethes Wilhelm Meister nicht einfach verschwinden, wie de Man undialektisch behauptet („eliminated from the novel“); vielmehr versuchte er zu zeigen, daß auch in diesen Romanen das zum Scheitern verurteilte Streben nach Einheit eine wesentliche Rolle spielt. 2. Die zeitbedingte organische Einheit, die der junge Lukács in Flauberts Education sentimentale hineininterpretiert, überwindet nicht den Bruch zwischen Bewußtsein und Sein und stellt auch nicht die epische Totalität wieder her: „Es ist die völlige Abwesenheit jeder Sinneserfüllung gestaltet“, erklärt Lukács, „aber die Gestaltung erhebt sich zur reichen und runden Erfülltheit einer wirklichen Lebenstotalität.“ 132 Dies bedeutet, daß in Flauberts Roman die zeitliche Einheit die verlorene Totalität des Epos in Erinnerung ruft oder eine neue Totalität antizipiert; von einem „Organizismus“ im Sinne des Epos kann folglich nicht die Rede sein. 3. De Man verschweigt oder übersieht, daß nach Lukács erst das Werk Dostoevskijs (das von ihm nicht mehr als Romanwerk aufgefaßt wird) eine mögliche Wiederherstellung der verlorenen epischen Totalität evoziert: „Er gehört der neuen Welt an“, heißt es am Ende der Theorie des Romans von Dostoevskij, d. h. der Welt einer neuen epischen Totalität, die mit „der Epoche der vollendeten Sündhaftigkeit“ 133 nichts mehr zu tun hat. Kurzum: Der von de Man aufgezeigte Widerspruch ist ein Scheinwiderspruch, weil in Lukácsʼ Abhandlung alle Romane, also auch die Education sentimentale, die verlorene epische Totalität zu ihrem Hauptthema machen. De Man versucht, seine These aus Blindness and Insight, daß Philosophen wie Lukács und Derrida häufig das Gegenteil von dem beweisen, was zu beweisen sie sich vornehmen, weil ihre Einsichten (insights) durch eine gewisse - durchaus fruchtbare - Blindheit (blindness) bedingt sind, auch auf literarische Texte anzuwenden. Auch der literarische Text tut häufig das Gegenteil von dem, was er und sein Autor zu tun vorgeben, und dekon‐ struiert sich dadurch selbst. Um diese These de Mans zu veranschaulichen, VIII. Dekonstruktion: Theorie und Praxis 376 134 P. de Man, Allegorien des Lesens, op. cit., S. 45. 135 M. Proust, zitiert nach: P. de Man, Allegorien des Lesens, op. cit., S. 44. will ich im folgenden seine Analyse eines Textes aus Marcel Prousts A la recherche du temps perdu näher betrachten. De Man geht im Anschluß an Gérard Genettes Aufsatz „Métonymie chez Proust“ (1972) auf das Verhältnis von Metapher und Metonymie in einer Textpassage aus Prousts Du Côté de chez Swann ein und versucht nachzuweisen, daß Prousts Text einerseits die Überlegenheit der Metapher behauptet, andererseits jedoch seine Überzeugungskraft der Metonymie verdankt: „Doch es bedarf keines besonderen Scharfblicks, um zu erkennen, daß der Text nicht praktiziert, was er predigt. Eine rhetorische Lektüre der Passage enthüllt, daß seine figurative Praxis und seine metafigurative Theorie nicht konvergieren und daß die Behauptung der Vorherrschaft der Metapher über die Metonymie ihre Überzeugungskraft dem Gebrauch metonymischer Strukturen dankt.“ 134 Das Hauptthema der Passage, um die es sich handelt, ist die Lesesucht des Erzählers Marcel, der auch an heißen Sommertagen die Lektüre in seinem kühlen, dunklen Zimmer einem Spaziergang im Freien vorzieht. Da seine Großmutter moralischen Druck ausübt, damit er an die frische Luft geht, entwickelt er eine subtile Rhetorik, die sein Verweilen im Zimmer rechtfertigen und den Gegensatz von Innen und Außen überspielen soll. Die von de Man zitierte Passage ist sehr lang, und ich gebe hier deshalb nur den letzten Teil wieder, der im Originaltext einen eigenständigen Absatz bildet: „Die dunkle Kühle meines Zimmers verhielt sich zur besonnten Straße wie der Schatten zum Lichtstrahl, das heißt sie war genauso licht; sie schenkte mir in der Phantasie das volle Schauspiel des Sommers, von dem meine Sinne auf einem Spaziergang zum Beispiel nur jeweils Teilaspekte hätten genießen können; dadurch paßte sie so gut zu meiner Art von Ruhe, die (dank den in meinen Büchern erzählten, mich im Innern bewegenden Abenteuern) wie die Ruhe einer Hand, die man regungslos ins fließende Wasser hält, den tobenden Anprall eines Stromes von lebhafter Handlung aushielt.“ 135 Es wäre sicherlich möglich, in diesem Text verschiedene semantische Isotopien auszumachen, deren Sememe Oberbegriffen (Klassemen) wie Innen/ Außen, Statik/ Dynamik subsumierbar wären. Kaum vertretbar scheint mir hingegen der weiter oben zitierte Kommentar von de Man zu sein: Seine Behauptung, Prousts Text enthalte eine „metafigurative Theorie“ 3. Dekonstruktion in Yale 1: Paul de Man 377 136 P. de Man, Allegorien des Lesens, op. cit., S. 45. 137 Siehe: G. Genette, „Métonymie chez Proust“, in: ders., Figures III, Paris, Seuil, 1972, S. 42. Zur Rolle der Metonymie bei Proust und zur Wechselbeziehung zwischen Metapher und Metonymie in der Recherche bemerkt Genette: „Ainsi, loin dʼêtre antagonistes et incompatibles, métaphore et métonymie se soutiennent et sʼinterpénètrent (…).“ 138 A. J. Greimas, J. Courtés, Sémiotique. Dictionnaire raisonné de la théorie du langage, Paris, Hachette, 1979, S. 229. 139 P. de Man, Allegorien des Lesens, op. cit., S. 100. von der „ästhetischen Superiorität der Metapher“ 136 , ist weder anhand des zitierten Satzes noch anhand des Kontextes plausibel zu machen, in den der Satz eingebettet ist. Ebensowenig zu rechtfertigen ist die meiner Meinung nach völlig willkürliche Behauptung, Prousts (Marcels) „metafigurative Theorie“ verdanke ihre „Überzeugungskraft“ dem Gebrauch der Metonymie. Wodurch manifestiert sich die „Überzeugungskraft“ einer Figur? Eher ließe sich zeigen, wie bei Proust metaphorischer und metonymischer Sprachgebrauch ineinandergreifen, wie beispielsweise „die dunkle Kühle meines Zimmers“ durch Substitution von der „Ruhe einer Hand, die man regungslos ins fließende Wasser hält“, abgelöst wird, und wie sich auf diesem Weg eine metaphorisch-metonymische Textkohärenz bildet: eine Kohärenz, auf die übrigens auch Genette hingewiesen hat. 137 Der a priori konstruierte und in den Text hineinprojizierte Gegensatz zwischen Metapher und Metonymie, den de Man als hierarchischen Gegen‐ satz dekonstruieren möchte, ist nur im Rahmen einer recht willkürlichen „rhetorischen“ Analyse plausibel zu machen, die keine semantische oder textlinguistische Theorie bestätigen würde. So betrachten beispielsweise Greimas und Courtés das Verhältnis von Metapher und Metonymie als ein „Phänomen der Substitution auf einer Grundlage semantischer Äquivalenz“ („phénomène de substitution sur un fond dʼéquivalence sémantique“). 138 Diese Art von Substitution auf semantischer Grundlage ist für die hier zitierte Passage aus Prousts Recherche kennzeichnend und scheint ihre Kohärenz auf der Ebene der Figuren zu gewährleisten. Es versteht sich von selbst, daß es außerdem noch andere - semantische, syntaktische und narrative - Kohärenzkriterien gibt, die Paul de Man außer acht läßt, wenn er meint, „Prousts Sprache im gesamten Roman“ 139 auf rhetorischer Ebene erklären zu können. Der Gegensatz zwischen mondäner Konversation und Schrift (zwischen kommunikativer parole und narzißti‐ VIII. Dekonstruktion: Theorie und Praxis 378 140 Siehe: Vf., LʼAmbivalence romanesque. Proust, Kafka, Musil, Paris, L’Harmattan, 2002 (2. Aufl.), Kap. 5. 141 P. de Man, Allegorien des Lesens, op. cit., S. 99. 142 U. Eco, Einführung in die Semiotik, München, Fink, 1972, S. 108. scher écriture), der den Vertretern der Dekonstruktion gar nicht so fremd sein sollte, wird in de Mans Kommentaren nicht einmal erwähnt. 140 Wie sehr Willkür und ein parti pris für assoziative Phantasie de Mans Argumentation beherrschen, zeigen seine Bemerkungen zur letzten Figur des hier zitierten Absatzes: „eines Stromes von lebhafter Handlung“/ „dʼun torrent dʼactivité“. De Man assoziiert auf der Ausdrucksebene torrent (Strom) mit torride (glühend heiß), um eine Lektüre zu rechtfertigen, die die Hitze des Sommertages in die Ruhe des Lesezimmers hineinträgt: „Die eigentliche Bedeutung konvergiert mit der gegebenen Konnotation auf der Ebene der Signifikanten durch das ‚torride‘ (das ‚Heiße‘), das jeder - sofern er will - in ‚torrent‘ mithören kann. Hitze ist also in den Text auf untergründige, geheime Weise eingeschrieben (…).“ 141 Hier ist Dissens anzumelden: Obwohl torrent und torride etymologisch verwandt sind (lat. torrere = verbrennen), ist auf semantisch-konnotativer Ebene keine Verbindung zwischen ihnen herzustellen, vor allem, wenn man Umberto Ecos Hinweis ernst nimmt, daß Konnotation nicht auf „psychische Möglichkeit“ anspielt, „sondern auf kulturelle Verfügbarkeit“. 142 Von dieser Objektivierung oder intersubjektiven Nachvollziehbarkeit der Konnotation kann bei de Man nicht mehr die Rede sein: Sie wird auf der Ausdrucksebene dem Subjektivismus und der Willkür überantwortet. Die Metapher „torrent dʼactivité“, die in Prousts Text der regungslosen Hand im Wasser („main immobile au milieu dʼune eau courante“) folgt, enthält weder das Sem „Hitze“ noch das Sem „Feuer“; sie weist sehr wohl das Sem „Bewegung“ auf, das sie mit „fließendem Wasser“, „eau courante“, verbindet. In dieser Verbindung wäre ebensogut das Sem „Kälte“ oder „Kühle“ auszumachen wie das Sem „Hitze“, denn es ist sehr unwahrscheinlich, daß der Erzähler sich eine regungslose Hand im heißen Wasser vorstellt. Damit wird de Mans Behauptung, Hitze sei dem Text „auf geheime Weise eingeschrieben“, zumindest relativiert. De Mans Geheimniskrämerei ziehe ich Greimasʼ etwas naive rationalistische These vor, „es gebe keine Geheimnisse in der Sprache“ („il nʼy a pas de mystères dans le langage“). Denn de Man hat im Anschluß an Nietzsche eine Literaturkritik entwickelt, die von der extremen Ambivalenz 3. Dekonstruktion in Yale 1: Paul de Man 379 143 J. Derrida, Mémoires - Pour Paul de Man, op. cit., S. 162. 144 Vgl. Vf., „Geoffrey H. Hartman: Romantiker und Nietzscheaner“, in: ders., Die Dekon‐ struktion. Einführung und Kritik, op. cit., S. 164-183. ausgeht und in die Aporie (d. h. in die Wert- und Wahrheitsindifferenz) mündet. Diese Aporie, die er in nahezu alle von ihm interpretierten Texte hineinträgt, zeugt von einem radikalen Agnostizismus, der soziologisch als eine Bankrotterklärung des liberalen und individualistischen Denkens zu werten ist, dem sich die New Critics teilweise noch verbunden fühlten. (Siehe Kap. I. 5) Sie zeichnet sich bereits in den Artikeln ab, die Paul de Man als Zwan‐ zigjähriger vor und während der nationalsozialistischen Invasion Belgiens publizierte. Verständlicherweise bemerkt Derrida, in diesen Artikeln hätten ihn vor allem die häufigen Hinweise auf das „Abendland“ („lʼOccident“) und die „abendländische Zivilisation“ („civilisation occidentale“) 143 beunruhigt. Man mag die während der nationalsozialistischen Besetzung von de Man publizierten antisemitischen Artikel als Akte eines jugendlichen Opportu‐ nismus übergehen. Nicht übersehen sollte man jedoch den Nexus zwischen einer Spenglerschen Terminologie und dem Niedergang des liberalen (indi‐ vidualistischen) Vernunftgedankens. Dieser wird durch die systematisch praktizierten Aporien der Dekonstruktion, die die dialektische Ambivalenz als Einheit der Gegensätze zerstören, vollends desavouiert. 4. Dekonstruktion in Yale II: Geoffrey H. Hartman Nachhaltiger als Paul de Man wurde Geoffrey H. Hartman (1929-2016: ebenfalls Professor an der Universität Yale) von der Problematik und den Fragestellungen des angloamerikanischen New Criticism geprägt. In dieser Problematik treten regelmäßig Fragen nach dem Verhältnis von Literatur und Literaturkritik (criticism) in den Vordergrund: Soll der Literaturwissen‐ schaftler (critic) eine andere Sprache sprechen als der Schriftsteller? Ist der literary critic dem Schriftsteller ebenbürtig, oder ist criticism eine sekundäre, zweitrangige Tätigkeit? In nahezu allen seinen Schriften geht Hartman diesen Fragen nach 144 und bemerkt in Easy Pieces (1985) zu seinen neueren Publikationen: „In Criticism in the Wilderness und Saving the Text versuche ich, die Symbiose oder die verschlungenen Beziehungen zwischen Literatur und Literaturkommentar VIII. Dekonstruktion: Theorie und Praxis 380 145 G. H. Hartman, Easy Pieces, New York, Columbia University Press, 1985, S. 203. 146 G. H. Hartman, zitiert nach Ch. Norris, Deconstruction. Theory and Practice, London, Methuen, 1982, S. 92. 147 G. H. Hartman, Criticism in the Wilderness. The Study of Literature Today, New Haven and London, Yale Univ. Press, 1980, S. 6. 148 Ibid., S. 4: „Reading criticism closely, and seeing it as symbiotic rather than parasitic in relation to literature, led me back to its colorful past.“ zu definieren.“ 145 An anderer Stelle erklärt er, weshalb ihn das Verhältnis dieser beiden unterschiedlich institutionalisierten Textsorten seit Jahren beschäftigt: „Ich habe einen Überlegenheitskomplex anderen Kritikern und einen Minderwertigkeitskomplex der Kunst gegenüber.“ 146 Diese Problematik, die bei Hartman besonders stark ausgeprägt ist, ist eher im Zusammenhang mit dem New Criticism als im Kontext der Dekon‐ struktion zu verstehen. Denn die New Critics pflegten den essayistischen Stil und schienen in vielen Fällen literarischen Vorbildern nachzueifern. Anhänger der Dekonstruktion hingegen würden die Frage nach dem Primat oder der Originalität einer bestimmten Textsorte als irrelevant zurückwei‐ sen: Längst haben sie sich von „metaphysischen“ Begriffen wie „Subjekt“, „Ursprung“ und „Original“ verabschiedet. Aber gerade deshalb übt der Diskurs der Dekonstruktion auf Hartman eine besondere Faszination aus: In ihm scheint der Weg vorgezeichnet zu sein, der aus der Sackgasse des New Criticism hinausführt. Von einer Sackgasse kann hier deshalb die Rede sein, weil Hartman sich innerhalb der Tradition des New Criticism in seinem Streben nach einer Aufwertung des Literaturkommentars (des Kommentators) und nach einer Synthese von Kritik und Literatur behindert fühlt. In Criticism in the Wilderness (1980) erscheint ihm diese Tradition eher als Zwangsjacke: „Kritik wurde in der Kunst geschätzt und außerhalb der Kunst nur toleriert. Der New Criticism hob die Werke hervor, in denen Kritik und Kreativität zusammenwirkten, aber er grenzte den kritischen Essay ein, indem er seinen Kompetenzbereich auf spezifische, formale oder wertende Bemerkungen zur Kunst beschränkte.“ 147 In der Dekonstruktion erblickt Hartman eine Möglichkeit, diese Grenze zu überschreiten und die Symbiose zwischen Literatur und kritischem Kommentar zu verwirklichen, von der in der Einleitung zu Criticism in the Wilderness die Rede ist. 148 Diese Symbiose ist freilich nichts radikal Neues, das vom New Criticism als Essayistik und Literaturkritik (im Gegensatz zur Literaturwissenschaft) gleichsam vorbereitet und von der Dekonstruktion vollendet würde. Hart‐ 4. Dekonstruktion in Yale II: Geoffrey H. Hartman 381 149 Ibid., S. 211. 150 Ibid., S. 38. 151 W. Benjamin, Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, Frankfurt, Suhr‐ kamp, 1973, S. 62. 152 Ibid., S. 60. 153 G. H. Hartman, Criticism in the Wilderness, op. cit., S. 22. 154 Ch. Norris, Deconstruction, op. cit., S. 92. Den spielerischen Aspekt der amerikanischen Dekonstruktion hebt auch H. Felperin in seinem Buch Beyond Deconstruction. The Uses and Abuses of Literary Theory, Oxford, Clarendon Press, 1985, S. 131, hervor: „(…) Deconstruction, which is nothing other than language scepticism in the mode of play, an exacting and rigorous form of play, but play all the same.“ man selbst verweist an zahlreichen Stellen seines Werks auf den romanti‐ schen Ursprung der literarisch-kritischen Symbiose. Es ist dort von den deutschen Romantikern die Rede, „die versuchten, eine Synthese von Dich‐ tung und Philosophie“ 149 zu vollbringen, und von Friedrich Schlegels Athe‐ näum-Fragmenten, in denen sich ein „synthesizing criticism“ abzeichnet, „das Kunst und Philosophie kombinieren würde“. 150 Im Anschluß an diesen Rekurs auf die Romantik sei an Walter Benjamins Buch über die Kunstkritik der Romantik erinnert, in dem der romantische Literaturkritiker wie der Leser zu einem „erweiterten Autor“ 151 wird: „Das Subjekt der Reflexion ist im Grunde das Kunstgebilde selbst (…).“ 152 Komplementär zum Einfluß der Romantik verhält sich der Nietzsches: Er radikalisiert den dekonstruktiven Anspruch Hartmans, die Kluft zwi‐ schen Literatur und Theorie rhetorisch zu überbrücken. Mit Paul de Man wertet Hartman die Rhetorik als eigenständige Sprachform auf, die den Brückenschlag vom kritischen Kommentar zum literarischen Gegenstand ermöglichen soll. Sie ist das Medium, das die beiden Textsorten miteinander verbindet, das die angestrebte Symbiose herbeiführt. 153 In diesem Zusammenhang mag Christopher Norris recht haben, wenn er in seinem Buch über die Dekonstruktion zu Hartmans fröhlich-spiele‐ rischem Nietzscheanismus bemerkt: „Nach Hartman besteht der einzige Ausweg, der sich dem Literaturkritiker anbietet, darin, daß er seinen Min‐ derwertigkeitskomplex abwirft und sich begeistert - mit nietzscheanischer Überheblichkeit - in den Tanz der Bedeutungen stürzt.“ 154 Es geht also nicht mehr wie in der Romantik darum, das literarische Werk kritisch-reflexiv zu erweitern, sondern darum, selbst kreativ zu werden, als Schriftsteller tätig zu sein und neue Bedeutungen zu schaffen. Erscheint Nietzsche bei Hartman (ähnlich wie bei Paul de Man und Derrida) als Philosoph der Zukunft, als Prophet der neuen Rhetorik, so erscheint Hegel als VIII. Dekonstruktion: Theorie und Praxis 382 155 G. H. Hartman, Saving the Text. Literature/ Derrida/ Philosophy, Baltimore and London, The Johns Hopkins Univ. Press, 1981, S. 28. 156 G. H. Hartman, Criticism in the Wilderness, op. cit., S. 38. 157 Ibid., S. 200. 158 Siehe: G. H. Hartman, Criticism in the Wilderness, op. cit., S. 212. Von Derrida heißt es dort im Zusammenhang mit Glas: „He therefore produces a text: not a book, exactly, perhaps even an antibook: not an encyclopedic system, perhaps even a counterencyc‐ lopedia. But the word text, so current now, and suspect, means something quite specific: historically viewed, it is a development of the Romantic fragment, a sustained fragment der mächtige Schatten der Vergangenheit, als ein Anwalt des Logos, der das Spiel der Bedeutungen verderben könnte. In Hartmans Kommentaren zu Jacques Derridas Glas wird deutlich, daß auch diese Kommentare im Spannungsfeld zwischen Hegel und Nietzsche anzusiedeln und zu verstehen sind. Von Derridas Text heißt es dort, er weise in zwei Richtungen: „Die eine ist die Vergangenheit, die mit Hegel beginnt, der noch immer unter uns weilt; die andere ist die Zukunft, die mit Nietzsche beginnt, der wieder unter uns weilt, da er vom neuen französischen Denken entdeckt wurde.“ 155 Mit dem „neuen französischen Denken“ ist hier vor allem Derridas Philosophie gemeint, und innerhalb dieser Philosophie die Totenglocke, Glas: ein Buch, von dem Hartman nicht zu Unrecht sagt, es sei eigentlich kein Buch mehr; von dem er sich aber eine Überwindung der Dichotomien Lite‐ ratur/ Theorie, Literatur/ Philosophie verspricht. Noch verdeckt allerdings Hegels Schatten die nietzscheanische Morgenröte, in der die Bedeutungen zu tanzen anfangen; noch sind sie Gefangene der Hegelschen Totalität, des savoir absolu. Denn „Glas (…) arbeitet sich in Hegels Schatten ab, um seinen Absolutheitsanspruch zu beseitigen und um ein negatives oder tief kritisches Werk philosophischer Kunst hervorzubringen“. 156 Wenn es eine philosophi‐ sche Kunst gibt („philosophic work of art“), so argumentiert Hartman, muß es auch eine literaturkritische geben: Auch der literaturkritische Text, auch der criticism kann und soll zum Kunstwerk werden. Derridas Text, meint Hartman, durchbricht die Trennwand zwischen Lite‐ ratur und Philosophie auf intertextueller Ebene, indem er verschiedene und unterschiedlich institutionalisierte Texte und Schreibweisen ineinanderflie‐ ßen, zusammenwirken läßt. Tatsächlich ist Glas, wie Hartman bemerkt, „ein Werk, in dem Kommentar zur Literatur wird, weil philosophischer Diskurs, figurative Darstellung und Literaturkritik miteinander verflochten werden (…)“. 157 Es ist zugleich ein Text, der die hegelianische und strukturalistische Totalität aufbricht und durch das Fragment ersetzt. 158 4. Dekonstruktion in Yale II: Geoffrey H. Hartman 383 as it were, or - seen from the Hegelian system of absolute knowledge - an essayistic totality.“ 159 G. H. Hartman, Saving the Text, op. cit., S. 14. 160 G. H. Hartman, Criticism in the Wilderness, op. cit., S. 41. 161 G. H. Hartman, Easy Pieces, op. cit., S. 182. Die Auflösung von Totalität und System kommt bei Hartman - anders als bei Paul de Man - nicht so sehr durch Aufdeckung von Widersprüchen und Aporien zustande, sondern durch eine Theorie der Unbestimmtheit (indeterminacy), die vor allem in Criticism in the Wilderness ausgearbeitet wird. Diese indeterminacy literarischer Texte wird wie schon bei Paul de Man mit dem Prinzip der Ambivalenz verknüpft. In Saving the Text (1981) wird im Zusammenhang mit Glas auf die Doppeldeutigkeit des Wortes, auf die Zweigleisigkeit aller Aussagen hingewiesen: „Was auch immer konstruiert wird, gründet auf miteinander konkurrierenden Prinzipien: auf dem äquivoken und äqui-voken Charakter der Wörter.“ („Whatever is being constructed is based on competing principles: the equivocal and equi-vocal character of words.“) 159 Jeder Aussage wohnt also - zumindest potentiell - gleichberechtigt („gleich-stimmig“, „equi-vocal“) eine Gegenaussage inne, die den opaken Charakter des literarischen Textes und der Sprache über‐ haupt zu verantworten hat. In diesem Kontext definiert Hartman zeitgenössische Literaturkritik (criticism) als eine „Hermeneutik der Unbestimmtheit“ („a hermeneutics of indeterminacy“), von der er erwartet, daß sie einen Analysetyp entwickelt, „der auf den Ehrgeiz verzichtet, seinen Gegenstand (Text, Psyche) durch technokratische, voraussagende oder autoritäre Formeln zu beherrschen und zu entmystifizieren“. 160 Es geht also darum, eine Hermeneutik zu entwerfen, die den Text nicht auf rationalistische Art transparent macht, vereinnahmt, sondern seine Ambivalenzen und Unbestimmtheiten („ambiguities“, „indeterminacies“) aufzeigt; die seine Resistenz gegen ideologische, logozentrische und totali‐ täre Kommunikation hervorhebt. Der kommunikativen Vereinnahmung der Texte gegenüber betont Hartman deren Sinnverweigerung, die nur derjenige erkennt, der bereit ist, mit „Zweifel und Verzögerung“ („doubt and delay“) 161 zu lesen. Sein Plädoyer für Negativität und Sinnverweigerung in einer Medien- und Kommunikationsgesellschaft erinnert natürlich an die wesentlichen Anliegen der Kritischen Theorie und vor allem Adornos. Tatsächlich zeigt sich in Criticism in the Wilderness, daß Hartman seine „Hermeneutik der VIII. Dekonstruktion: Theorie und Praxis 384 162 G. H. Hartman, Criticism in the Wilderness, op. cit., S. 283. 163 Ibid., S. 31-32. 164 Ibid., S. 190. 165 G. H. Hartman, Easy Pieces, op. cit., S. 193. 166 Was J. M. Werner über Nietzsches Destruktion des Wahrheitsbegriffes schreibt, gilt auch für die Dekonstruktion: „So ist es die Tragik Nietzsches, der das Werden zur Vor‐ aussetzung seines Philosophierens macht und den Widerspruch zu einem wesentlichen Prinzip seines Erkennens erhebt, daß er sich weigert, die Wirklichkeit der Vernunft in der Geschichte dialektisch zu begreifen.“ Zu Recht spricht Werner von Nietzsches „Verzweiflung an der Wahrheit“. ( J. M. Werner, Erkenntnis und Wahrheit. Nietzsches Destruktion der Erkenntnistheorie als Konsequenz des Verlustes verbindlicher Wahrheit, Frankfurt-Bern-New York, Peter Lang, 1986, S. 29 und S. 28.) Unbestimmtheit“ als Kritik an den totalitären Tendenzen in östlichen und westlichen Gesellschaften verstanden wissen möchte. Er schließt mit der Frage: „Kann überhaupt irgendeine Hermeneutik der Unbestimmtheit, ir‐ gendeine Ironie, so tief verwurzelt und behütet sie in der ästhetischen Erfahrung auch sein mag, diesen beiden Gesellschaften, solange sie noch unterscheidbar sind, Widerstand leisten? “ 162 Ähnliche Fragen wurden auch in der Kritischen Theorie aufgeworfen, und es ist daher kaum verwunderlich, daß Hartman an einigen Stellen seines Werkes Adorno zustimmend zitiert und ihn mit einem nicht näher definierten „negative thinking“ 163 in Verbindung bringt. Von Benjamin und Adorno sagt er, sie seien zwar keine „creative writers“ in der landläufigen Bedeutung des Ausdrucks, aber „ihre Literaturkritik (criticism) hat häufig eine praktische Ausrichtung und setzt sich unmittelbar mit Begriffen wie Technologie, Kultur und ‚Kulturindustrie‘ auseinander“. 164 Schließlich wird das Denken der „Frankfurt School“ sogar für die Dekonstruktion reklamiert. Von dieser „Schule“ heißt es in Easy Pieces: „Sie hat das dekonstruktive Denken gestärkt und hat manchmal für politische Alternativen gesorgt.“ 165 Abgesehen davon, daß mir diese politischen Alternativen, die Hartman nur oberflächlich streift, nicht bekannt sind, sehe ich einen wesentlichen Unterschied zwischen der nietzscheanischen, zur Wertindifferenz tendie‐ renden Negativität der Dekonstruktion 166 und der Negativität der Kritischen Theorie, die aus einer radikalen Selbstkritik des liberalen Individualismus hervorging. Diese Negativität ist konkret, weil sie sich gegen ganz bestimmte wirtschaftliche, politische und kulturelle Zustände in Ost und West richtet. Die Negativität der Dekonstruktion hingegen ist als Gesellschaftskritik völlig unverbindlich (ähnlich wie die der frühen Rezeptionsästhetik). Es kommt hinzu, daß Adorno und Horkheimer an bestimmten Werten des 4. Dekonstruktion in Yale II: Geoffrey H. Hartman 385 167 J. Derrida, „Some Questions and Responses“, in: N. Fabb, D. Attridge, A. Durant, C. MacCabe (Hrsg.), The Linguistics of Writing. Arguments between Language and Literature, Manchester, Manchester Univ. Press, 1987, S. 257. 168 Ibid., S. 260. Zu Derridas Metaphysik siehe auch: G. Douglas Atkins, Reading Deconstruction. Deconstructive Reading, Univ. Press of Kentucky, 1983, S. 32-33. Liberalismus (gegen diesen) festhielten: Nie gaben sie Begriffe wie Wahrheit, individuelle Autonomie, Subjektivität, Emanzipation und Glück auf. Darin sehe ich einen wesentlichen Unterschied zur Dekonstruktion, der nicht durch das kommerzialisierbare und medienkonforme Schlagwort „negative thinking“ verwischt werden sollte. Daß dieses „negative Denken“ im Bereich der Dekonstruktion keinen konkreten gesellschaftskritischen Inhalt hat, lassen einige Bemerkungen Derridas während einer Diskussion in Glasgow erkennen. Der Begründer der Dekonstruktion ist so sehr darauf bedacht, alle wertenden Gegensätze in Frage zu stellen, daß er sich weigert, seine eigene Kritik der Metaphysik als Werturteil zu deklarieren: „Ich habe nie gesagt oder gedacht, daß die Metaphysik der Präsenz ein ‚Übel‘, ‚das Übel‘ sei. Ich neige im Gegenteil zu der Ansicht, daß sie gut ist. Es gibt kein ‚Gut‘ außerhalb der Metaphysik der Präsenz, die das ‚Beste‘ definiert.“ 167 Diese zweideutige Antwort ist für den Argumentationsstil der Dekonstruk‐ tion kennzeichnend; sie setzt sich über die einfache, logisch begründbare Erkenntnis hinweg, daß ein Diskurs, der das „Gute“ als „summum bonum“ definiert, deshalb noch nicht (mit oder ohne Ironie) als „gut“ bezeichnet werden muß. Jonathan Culler hat jedenfalls recht, wenn er im Verlauf der Diskussion auf Derridas Antwort zurückkommt und den Philosophen bittet, sie zu erklären. Die Erklärung fällt spärlich, d. h. metaphysisch aus. Derrida erklärt, daß Notwendigkeit (necessity) ihn daran hindert, dem Verlangen nach dem Guten und dessen Präsenz nachzugeben, denn: „das Gute, das absolut Gute, wäre identisch mit dem Tod“; „the good, the absolute good, would be identical with death“. 168 Wer im Anschluß an die Kritische Theorie erwartet hat, Derrida würde die repressive Struktur metaphysischer Diskurse geltend machen und wie Julia Kristeva auf ihre hierarchisierende, paternalistische („phallogozentrische“) Funktion in der Gesellschaft hinweisen, der geht leer aus. Anders als Adorno und Horkheimer, die in der Dialektik der Aufklärung die Struktur rationa‐ listischer Diskurse mit der Naturbeherrschung in der Marktgesellschaft VIII. Dekonstruktion: Theorie und Praxis 386 169 Siehe: H. Dubiel, Wissenschaftsorganisation und politische Erfahrung. Studien zur frühen Kritischen Theorie, Frankfurt, Suhrkamp, 1978, S. 102-111; J. Habermas, Der philosophi‐ sche Diskurs der Moderne, op. cit., S. 130-157. verknüpfen, ist es Derrida nicht um die Kritik konkreter Gesellschaftsver‐ hältnisse zu tun: ebensowenig wie Heidegger. Adorno bleibt jedoch der Vorwurf nicht erspart, daß er durch die para‐ taktische Wende in der Ästhetischen Theorie einen Weg einschlug, auf dem er sich - ähnlich wie Derrida und die Anhänger der Dekonstruktion - von den Sozialwissenschaften entfernte. Mit Helmut Dubiel und Jürgen Habermas bin ich daher weitgehend einverstanden, wenn sie das sozialwissenschaft‐ liche Programm der frühen Kritischen Theorie gegen die antitheoretischen (parataktischen und aporetischen) Tendenzen des späten Adorno verteidi‐ gen. 169 Im vorletzten Kapitel will ich deshalb im Anschluß an mein Buch Ideologie und Theorie eine kritische Literaturwissenschaft entwerfen, die von der Kritischen Theorie Adornos und Horkheimers ausgeht, ohne deren sozial‐ wissenschaftliche Bedeutung zu verleugnen. 4. Dekonstruktion in Yale II: Geoffrey H. Hartman 387 1 Siehe: E. Topitsch, K. Salamun, Ideologie. Herrschaft des Vor-Urteils, Wien, Langen- Müller, 1972 und K. Salamun, Ideologie und Aufklärung, Wien-Köln-Graz, Böhlau, 1988, S. 22-25. 2 Dieses Vorhaben wurde in den letzten Jahren vom Autor in den folgenden Publikationen verwirklicht: Was ist Theorie? Theoriebegriff und Dialogische Theorie in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Tübingen, Francke-UTB, 2017 (2. Aufl.), Dritter Teil: „Dialogische Theorie: Eine Metatheorie der Verständigung“ sowie Soziologische Theoriebildung. Ein Handbuch auf dialogischer Basis, Francke-UTB, 2020, Kap. I-II. 3 Siehe: Soziologische Theoriebildung, op. cit., Kap. II und „Dialogizität: Schlußbetrachtung und Ausblick“. IX. Kritische Literaturwissenschaft als Dialog Als Modewort ist „Dialog“ sowohl der „Kritik“ als auch der „Dekonstruktion“ vergleichbar: Wer sich in der gegenwärtigen sprachlichen Situation auf Dialog, Kritik und die Vieldeutigkeit ästhetischer Gebilde beruft, kann einigermaßen sicher sein, kein theoretisches Risiko einzugehen. Denn auch diejenigen, die den in den 1960er Jahren eingeleiteten Dialog zwischen Christen und Marxisten längst vergessen haben und auch keine Anhänger von Bachtins Hermeneutik oder Habermasʼ Universalpragmatik sind, wer‐ den schwerlich Dialog und Kritik ablehnen können, ohne als bornierte Dogmatiker dazustehen. Im Gegensatz zu Reizwörtern wie „Klassenkampf “, „Parteilichkeit“ oder „Mathematisierbarkeit der Theorie“ scheinen also „Dia‐ log“ und „Kritik“ zur Zeit Konsenswörter zu sein: ähnlich wie „Demokratie“. Aber schon der Vergleich mit „Demokratie“ läßt vermuten, daß Konsens‐ begriffe einerseits zwar ein geringes theoretisches Risiko involvieren, weil sie kaum zum Widerspruch reizen, andererseits jedoch besonders risikoreich sind, weil sie als „Leerformeln“ im Sinne von Ernst Topitsch und Kurt Salamun 1 nichts bedeuten. Als Leerformeln sind sie in allen denkbaren Zusammenhängen konsensfähig. Deshalb halte ich es für wichtig, im folgenden Begriffe wie „Dialog“, „Kritik“ und „Theorie“ („kritische Theorie“) so konkret wie möglich zu definieren und der Frage nachzugehen, wie Dialogizität zu einer neuen Grundlage der Sozialwissenschaften werden und das Streben nach einer vielbeschworenen, aber kaum definierbaren und kaum realisierbaren Objektivität ersetzen könnte.  2 Mit dieser Frage, mit der ich mich ausführlicher in meinem Buch Ideologie und Theorie (1989, Teil III) und zuletzt in Soziologische Theoriebildung (2020) 3 befaßt habe, stehe ich nicht allein: In der Soziologie versucht Anthony 4 Siehe: A. Giddens, New Rules of Sociological Method, London, Hutchinson, 1976, S. 162 und D. Held, J. B. Thompson (Hrsg.), Social Theory of Modern Societies. Anthony Giddens and his Critics, Cambridge, Univ. Press, 1989, S. 46-50. 5 T. Todorov, Critique de la critique. Un roman dʼapprentissage, Paris, Seuil, 1984, S. 187. 6 S. J. Schmidt, „On the Construction of Fiction and the Invention of Facts“, in: Poetics Nr. 4-5, 1989, S. 321-322. Giddens im Anschluß an Jürgen Habermas eine doppelte Hermeneutik („double hermeneutic“) zu entwickeln, die der Tatsache Rechnung trägt, daß die Objekte der Sozialwissenschaften zugleich Subjekte sind, so daß ihre Beschreibung und Erklärung nur dialogischen Charakter haben kann. 4 In der Literaturwissenschaft der 80er Jahre plädiert Tzvetan Todorov, der sich zusammen mit Julia Kristeva um die französische Rezeption Bachtins sehr verdient gemacht hat, für eine dialogische critique littéraire, die sowohl den Dogmatismus der Marxisten-Leninisten als auch die literaturimmanente Betrachtung der Formalisten ablösen soll. Es geht bei Todorov wie schon bei Bachtin und Habermas um eine gemeinsame Wahrheitssuche: „Wenn man das Prinzip der gemeinsamen Wahrheitssuche akzeptiert, so praktiziert man bereits die dialogische Kritik.“ 5 Obwohl sie dem Wahrheitsbegriff skeptisch gegenüberstehen und nicht im Rahmen der hermeneutischen Tradition argumentieren, setzen sich auch Vertreter des Radikalen Konstruktivismus (Paul Watzlawick, Ernst von Glasersfeld) für eine dialogische Sozial- oder Literaturwissenschaft ein, in der die Frage nach der Objektivität als Objektadäquatheit von den Fragen nach der Objektkonstruktion, der Vergleichbarkeit von Objektkonstruktionen und der intersubjektiven Testbarkeit von Aussagen abgelöst wird. Objekte und Fakten sind konstruiert und konsensabhängig; sie sind nicht als vom subjektiven Bewußtsein unabhängige Entitäten aufzufassen. So bemerkt beispielsweise Siegfried J. Schmidt in einem Artikel: „Konsens und Intersubjektivität bringen also das hervor, was wir als ‚Objekte‘ oder ‚Fakten‘ erfahren, nicht die ontologische Entsprechung zwischen unseren Wahrnehmungen und Erfahrungen mit den wirklichen Entitäten“. 6 Schmidt schlägt vor, die „ontologische Objektivität“ durch eine dialogische „interak‐ tive Intersubjektivität“ zu ersetzen. Nach dem bisher Gesagten konnte man den Eindruck gewinnen, als sei der Dialog, der von so verschiedenen Instanzen wie den radikalen Konstrukti‐ visten, Giddens, Habermas und Bachtin befürwortet wird, ein Schlüssel zu allen Problemen der Sozialwissenschaften - oder eine Leerformel, auf die sich alle unverbindlich einigen können. Deshalb halte ich die zweite Frage IX. Kritische Literaturwissenschaft als Dialog 390 für entscheidend, welche Form der Dialog in der Literaturwissenschaft und in anderen Sozialwissenschaften annehmen soll, d. h. unter welchen sozialen und sprachlichen Bedingungen theoretische Kommunikation überhaupt möglich ist. Wie in Ideologie und Theorie werde ich hier den von Husserl eingeführ‐ ten und von den kritischen Rationalisten (K. R. Popper, H. Albert), den radikalen Konstruktivisten und Jürgen Habermas verwendeten Begriff der Intersubjektivität in Frage stellen. Er verzerrt die sozialen und sprachlichen Bedingungen des wissenschaftlichen Dialogs, weil er als individualistischer und idealistischer Begriff der Gruppenbildung, den Herrschaftsverhältnis‐ sen und dem ideologischen Faktor nicht Rechnung trägt. Als Alternative zum intersubjektiven Dialog werde ich im dritten Abschnitt den Begriff des interdiskursiven oder interkollektiven Dialogs vorschlagen, der den kollekti‐ ven Charakter der ideologisch-wissenschaftlichen Sprachen oder Soziolekte berücksichtigt. Der hier vorgeschlagene Dialog-Begriff (interdiskursiver Dialog) soll zugleich als Alternative zu der vom späten Adorno entwickelten paratakti‐ schen Schreibweise sowie zu Derridas Dekonstruktion aufgefaßt werden. Schon im vierten und achten Kapitel versuchte ich zu erklären, weshalb Parataxis und Dekonstruktion für mich als Alternativen zu Hegels Identi‐ tätsdenken und zum Logozentrismus der europäischen Metaphysik nicht in Frage kommen: Sie würden die Literaturwissenschaft von Sozialwissen‐ schaften wie Soziologie, Semiotik oder Sozialpsychologie ablösen, statt sie diesen Wissenschaften terminologisch und methodologisch anzuschließen. Die Integration der Literaturwissenschaft in die Sozialwissenschaften wird am ehesten dann gelingen, wenn der literaturwissenschaftliche Dialog als Alternative zu Parataxis und Dekonstruktion ins Auge gefaßt wird. Insofern kann dieses Kapitel als eine Fortsetzung des vorigen und des vierten, des zentralen Kapitels, gelesen werden. Die Integration der Literaturwissenschaft in die Sozialwissenschaften ist sicherlich nicht unumstritten; ich setze mich deshalb für sie ein, weil ich meine, daß eine zeitgemäße Literaturwissenschaft ohne die Anwendung linguistischer, semiotischer, soziologischer oder anthropologischer Metho‐ den nicht mehr denkbar ist; weil ich davon ausgehe, daß der Objektbereich der Literaturwissenschaft weit über den literarischen Text hinausgeht und das literarische Kommunikationssystem als ganzes umfaßt: den literari‐ schen Markt, das Verlagswesen, Lesergruppen und ihre Ideologien, das IX. Kritische Literaturwissenschaft als Dialog 391 7 Siehe: Vf., Textsoziologie. Eine kritische Einführung, Stuttgart, Metzler, 1980 sowie Manuel de sociocritique, Paris, L’Harmattan, 2000 (2., erw. Aufl.) und Texte et société. Perspectives sociocritiques, Paris, L’Harmattan, 2011. Bibliothekswesen, literarische Bewegungen und die Literaturkritik sowie Literatur in den Medien. Die Anwendung der verschiedenen sozialwissenschaftlichen Methoden auf die hier genannten Bereiche sollte jedoch nicht unreflektiert gesche‐ hen. Der Soziologe, der sich als Schüler von Karl Marx, Max Weber oder Emile Durkheim mit Schriftsteller- oder Lesergruppen befaßt, wird die hegelianischen, hermeneutischen oder rousseauistischen Prämissen zu re‐ flektieren haben, von denen seine Lehrer ausgehen. Analog dazu muß eine kritische und dialogische Literaturwissenschaft, die sich im Rahmen einer literarischen Ästhetik, einer Rekonstruktion der ästhetischen Grundlagen der Literaturwissenschaft, auf den Text konzentriert, ohne ihn für ihren alleinigen Gegenstand zu halten‚ ihre eigenen ästhetischen Voraussetzungen reflektieren. 1. Literaturwissenschaft zwischen Kant und Hegel: Polysemie und Monosemie Dieser Abschnitt ist insofern eine Rückkehr zum vierten und ersten Kapitel, als er im Anschluß an die semiotische und dekonstruktivistische Problema‐ tik das Oszillieren einer kritischen Literaturwissenschaft zwischen Kants erkenntnistheoretischer Skepsis und Hegels noetischem Absolutheitsan‐ spruch beschreibt. In Übereinstimmung mit der Kritischen Theorie Adornos und Horkheimers, von der sie ausgeht, ist die hier entworfene kritische Literaturwissenschaft, deren Entwicklung als Textsoziologie oder Soziose‐ miotik noch lange nicht abgeschlossen ist 7 , bestrebt, die Spannung zwischen kantianischer Skepsis und hegelianischem Erkenntnisanspruch dialektisch auszutragen. Sie wird sich nicht auf eine der beiden extremen Positionen festlegen und das Kunstwerk bzw. den literarischen Text als begriffsloses, polysemes Zeichen oder als begriffliche, monoseme Struktur auffassen. Durch ihre dialektische Bewegung reagiert sie auf die Auseinanderset‐ zungen und Peripetien der europäischen Ästhetik, die im Spannungsver‐ hältnis zwischen dem Hegelschen und dem Kantschen Pol zu erklären sind. Zu diesem Verhältnis bezieht Mikel Dufrenne in einem historischen IX. Kritische Literaturwissenschaft als Dialog 392 8 M. Dufrenne, Esthétique et philosophie, Bd. 2, Paris, Klincksieck, 1976, S. 26. 9 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S. 182. 10 Ibid., S. 185. Zusammenhang Stellung, wenn er bemerkt: „Eine subjektivistische Ästhetik im Zeichen von Kant, eine objektivistische Ästhetik im Zeichen von Hegel, dieser Gegensatz wird die Geschichte der Ästhetik beherrschen; er wird zu Beginn dieses Jahrhunderts in Deutschland schwere Konflikte zwischen der Ästhetik, die sich auf das Subjekt bezieht, und der Kunstlehre hervorrufen, die sich auf die Wissenschaft beruft und ein Studium des Objekts anstrebt.“ 8 Eine kritische Literaturwissenschaft wird sich weder in den subjektiven noch in den objektiven Bereich zurückziehen, sondern bestrebt sein, die subjektiven Konstruktionen der Theorie mit den Strukturen des Objekts zu vermitteln. In Übereinstimmung mit Adornos Ästhetik wird sie sich bemühen, die Dialektik zwischen Kantianismus und Hegelianismus in einem neuen Zusammenhang fortzusetzen. Sie nimmt im sozialwissenschaftlichen Kontext ernst, was Adorno in der Ästhetischen Theorie über den Rätselcharakter der Kunst schreibt: „Alle Kunstwerke, und Kunst insgesamt, sind Rätsel; das hat von altersher die Theorie der Kunst irritiert. Daß Kunstwerke etwas sagen und mit dem gleichen Atemzug es verbergen, nennt den Rätselcharakter unterm Aspekt der Sprache.“ 9 Begriffliche Erklärung ist nicht als Reduktion auf den Begriff, als Monosemierung zu denken: „Aber die Vergeistigung der Kunst nähert ihrem Rätselcharakter sich nicht durch begriffliche Erklärung unmittelbar, sondern indem sie den Rätselcharakter konkretisiert. Das Rätsel lösen ist soviel wie den Grund seiner Unlösbarkeit angeben (…).“ 10 Hier wird von einem metaphorischen Diskurs zusammengeführt, was he‐ gelianische (Goldmann, Greimas) und kantianische (Jakobson, Mukařovský) Ästhetiken gewöhnlich trennen: Begriff und Begriffslosigkeit, Inhaltsebene und Ausdrucksebene, Monosemie und Polysemie. Im folgenden will ich versuchen, den Gegensatz, der aus diesen Trennungen hervorgeht, im Zusammenhang mit der Problematik der zeitgenössischen Literaturwissen‐ schaft zu beschreiben, um ihn anschließend dialektisch in Frage zu stellen. Sowohl im zweiten als auch im siebenten und achten Kapitel dieses Buches hat sich gezeigt, daß die Hegelsche und hegelianische Problematik, die auf der Frage nach der Bedeutung eines literarischen Textes oder eines Kunstwerks gründet, alles andere als ein längst überwundener Anachro‐ nismus ist. Dies zeigt nicht nur Jean-Pierre Richards hegelianische Mal‐ 1. Literaturwissenschaft zwischen Kant und Hegel: Polysemie und Monosemie 393 11 T. Todorov, Critique de la critique, op. cit., S. 188. 12 Ibid., S. 189. larmé-Interpretation (Kap. VIII. 2), in der die Totalität ein Schlüsselbegriff ist, sondern auch Greimasʼ Arbeit über Maupassants Text Deux Amis (Kap. VII. 3), in der die Frage nach der Tiefenstruktur und dem Aktantenmodell zum Leitmotiv der semantischen und semiotischen Analyse wird. Diese ist, wie sich gezeigt hat, Lucien Goldmanns Verfahren im Rahmen des genetischen Strukturalismus gar nicht unähnlich: Auch Goldmann fragt nach der „Bedeutungsstruktur“, der „structure significative“, die durchaus als logisch-semantische Struktur und als Aktantenmodell darstellbar wäre. Sollte ein Verfechter der Dekonstruktion einwenden, hier handle es sich um sporadische Rückzugsgefechte eines ansonsten überholten Hegelianis‐ mus, so sei lediglich auf eine neuere Arbeit des ehemaligen Formalisten Tzvetan Todorov hingewiesen, in der (in einem dialogischen, bachtiniani‐ schen Zusammenhang) von der Literatur gesagt wird: „Sie wäre nichts, wenn sie uns nicht erlaubte, das Leben besser zu verstehen.“ 11 An anderer Stelle fügt Todorov hinzu: „Sie ist nicht nur Wahrheitssuche, aber sie ist auch das.“ 12 Sicherlich sollte in diesem Fall nicht von Hegelianismus die Rede sein, wohl aber von der Möglichkeit, daß in der Literaturwissenschaft, die nicht auf Gedeih und Verderb mit der Dekonstruktion liiert ist, die Frage nach Bedeutung und Wahrheitsgehalt wieder in den Mittelpunkt der Diskussion rücken könnte. Solche Überlegungen sollten nicht als eine Zurückweisung des kantiani‐ schen Plädoyers für eine begriffslose Auffassung der Kunst (der Literatur) mißverstanden werden. Denn dieses Plädoyer enthält eine Vielzahl plausi‐ bler Argumente, von denen hier die wichtigsten im Zusammenhang mit Formalismus, Kritischer Theorie und Rezeptionsästhetik erörtert wurden: Die Ausdrucksebene ist nicht auf die Inhaltsebene reduzierbar und kann folglich mit immer neuen Bedeutungen versehen werden; die verschiedenen semantischen Strukturen des literarischen Textes sind nicht im Rahmen ei‐ ner geschlossenen Totalität hierarchisierbar; die Bedeutungen, die im Laufe der Rezeption von bestimmten Metasprachen (Phänomenologie, Marxismus, Psychoanalyse) in den Text hineinprojiziert werden, ändern sich zusammen mit den Metasprachen im Laufe des historischen Rezeptionsprozesses. Die Bedeutung des vieldeutigen literarischen Textes ist folglich nicht fixierbar. Es kommt hinzu, und es ist Derridas Verdienst, mehrmals darauf hinge‐ wiesen zu haben‚ daß auch begriffliche Texte keineswegs eindeutig und IX. Kritische Literaturwissenschaft als Dialog 394 13 Siehe: J. Derrida, „Déclarations dʼIndépendance“, in: ders., Otobiographies. LʼEnseigne‐ ment de Nietzsche et la politique du nom propre, Paris, Editions Galilée, 1984. 14 M. Masterman, „The Nature of a Paradigm“, in: I. Lakatos, A. Musgrave (Hrsg.), Criticism and the Growth of Knowledge, Cambridge, Univ. Press, 1970, S. 61. 15 F. Kafka, Der Prozeß, Frankfurt, Fischer, 1958, S. 156. unumstritten sind: Der Urheber der amerikanischen Declaration of indepen‐ dence wird möglicherweise für immer anonym bleiben, und der Text ist nicht auf eine Bedeutung festzulegen. 13 Die Werke von Kant, Hegel und Karl Marx haben ebenso viele Häresien gezeitigt wie die Bibel, so daß anzunehmen ist, daß ihre Polysemie es mit der der Heiligen Schrift aufnehmen kann. Die Auseinandersetzungen um wissenschaftstheoretische Texte wie Thomas S. Kuhns Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (1962) zeigen, daß nicht einmal sie, von denen man erwarten könnte, daß sie Ordnung in das begriff‐ liche Chaos bringen, vom Virus der Polysemie verschont bleiben. Margaret Masterman stellt beispielsweise fest, daß Kuhn in seinem bekannten Buch das Wort „Paradigma“ („paradigm“) auf mindestens 21 verschiedene Arten verwendet: „possibly more, not less“ 14 , fügt Masterman lakonisch hinzu. Angesichts der nachweisbaren Polysemie wissenschaftlicher Texte könnte der Literaturwissenschaftler versucht sein, auf die Frage, was ein literarischer Text bedeute, kurzerhand zu verzichten: Auch die tausendste Kafka- oder Proust-Interpretation, mag er resignierend feststellen, wird uns den Text nicht näherbringen. Als Kafka-Leser wird er Trost bei dem Gedanken finden, daß es auch Josef K. und dem „Mann vom Lande“ nicht vergönnt war, in das „Gesetz“ einzutreten und die „Wahrheit“ zu erfahren. Im selben Augenblick könnte sich jedoch auch die Erkenntnis durch‐ setzen, daß der trostbringende Gedanke eine eindeutige Aussage über Kafkas Text enthält: Dem Mann vom Lande gelingt es nicht, in das Gesetz einzudringen. Kafkas Parabel läßt an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig, was das Scheitern des Protagonisten angeht: „Nun lebt er nicht mehr lange. (…) Der Türhüter erkennt, daß der Mann schon am Ende ist, und um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: ‚Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn‘.“ 15 Tatsächlich weist die vieldeutige und unzählige Male gedeutete Parabel Kafkas, die im Romanfragment selbst von Josef K. und dem Geistlichen gedeutet wird, ein relativ einfaches Aktantenmodell auf: Ein Subjekt, der Mann vom Lande, wird unmittelbar mit einem Antisubjekt, dem Türhüter (und mittelbar mit mehreren Türhütern als Antisubjekten), konfrontiert, 1. Literaturwissenschaft zwischen Kant und Hegel: Polysemie und Monosemie 395 16 Siehe: W. Falk, Leid und Verwandlung. Rilke, Kafka, Trakl und der Epochenstil des Impressionismus und Expressionismus, Salzburg, Otto Müller, 1961, S. 190-191 und H. Binder, Kafka in neuer Sicht. Mimik, Gestik und Personengefüge als Darstellungsformen des Autobiographischen, Stuttgart, Metzler, 1976, S. 20 und S. 26. 17 F. Kafka, Der Prozeß, op. cit., S. 155-156. 18 Ibid., S. 156. die ihm das „Gesetz“ als Objekt-Aktanten mit Erfolg streitig machen. Die Erzählung endet eindeutig mit dem Sieg des Antisubjekts (der Antisubjekte) über das sterbende Subjekt. Sie stellt mithin das Scheitern des Subjekts dar. Mit Recht wird man einwenden, daß dies eine Triviallektüre der Parabel ist, die in keiner Weise ihrem „Gedankenreichtum“ und ihrem „Rätselcha‐ rakter“, der am Ende in einer Paradoxie zum Ausdruck kommt, gerecht wird. Aber schon die Feststellung, daß die Erzählung in eine Paradoxie ausmündet, setzt die Möglichkeit voraus, diese Paradoxie, die von so verschiedenen Literaturwissenschaftlern wie Walter Falk und Hartmut Binder in Kafkas Text aufgezeigt wurde, auf struktureller Ebene zu beschreiben. 16 Tatsächlich zeigt eine aufmerksame Lektüre der Parabel, daß das Paradoxon u. a. darin besteht, daß der Mann vom Lande nach etwas strebt (nach dem Gesetz als Objekt-Aktant), dessen Anblick er wahrscheinlich nicht ertragen könnte. Darauf weist der Türhüter gleich zu Beginn der Parabel hin: „Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehen aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal ich mehr vertragen.“ 17 Dennoch scheint das „Gesetz“ gerade auf visueller Ebene (auf der visuellen Isotopie) eine besondere Anziehungskraft auf den Mann auszuüben, denn obwohl sein „Augenlicht“ allmählich schwächer wird, „erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht“. 18 Das „Gesetz“ wird also im Verlauf der Erzählung als Raum („von Saal zu Saal“) und als Lichtquelle definiert, und die Paradoxie kommt dadurch zustande, daß der Protagonist etwas begehrt, dessen Anblick er womöglich nicht ertragen würde, und gerade an dem Eingang nicht Einlaß findet, der für ihn bestimmt war. Man könnte auch sagen, daß der unbekannte Auftraggeber, der einen besonderen Eingang für den Mann vom Lande bestimmt, dem Subjekt-Aktanten einen unerfüllbaren Auftrag erteilt. Es geht hier nicht darum, den sehr komplexen Text in allen Einzelheiten zu analysieren, sondern zu zeigen, daß er sowohl auf semantischer als auch auf narrativer (aktantieller) Ebene als strukturierte Einheit beschreibbar ist. Iterativität (Kap. VII, VIII) als Wiederholung bestimmter Sememe wie IX. Kritische Literaturwissenschaft als Dialog 396 19 Ibid. Cf. J. Derrida, „Préjugés - devant la loi“, in: La Faculté de juger, Paris, Minuit, 1985. 20 Siehe: Vf., Textsoziologie, op. cit., S. 60-62. „Gesetz“ oder „Türhüter“ führt nicht zu einem Zerfall der Textbedeutung, sondern konkretisiert sie: z. B. dadurch, daß der „Türhüter“ spätestens im achten Satz der Parabel als Antisubjekt und in den letzten Sätzen als siegrei‐ ches Antisubjekt erscheint. Freilich wäre es auch möglich, auf „Gesetz“ und „Türhüter“ Derridas Begriff der Iterabilität (Kap. VIII. 1) anzuwenden, um zu zeigen, wie der Text sich als Verkettung von Paradoxien selbst dekonstruiert. Es kommt ganz darauf an, mit welcher Ästhetik man an ihn herangeht: mit einer Ästhetik, die eindeutige und nachvollziehbare Aussagen im se‐ mantischen, syntaktischen und narrativen Bereich privilegiert, oder einer Ästhetik der Ausdrucksebene, die die Paradoxien und Polysemien des Textes hervorhebt und ganz zu Recht darauf hinweist, daß der „Sieg des Antisubjekts“ in eklatantem Widerspruch zum vorletzten Satz der Parabel steht: „(…) Dieser Eingang war nur für dich bestimmt.“ 19 Ich meine, daß diese beiden Ästhetiken, die „begriffliche“ (hegelianische) und die „begriffslose“ (kantianische), eine dialektische Einheit bilden sollten. Nur aufgrund dieser Einheit wird es der Literaturwissenschaft gelingen, den „Rätselcharakter“ polysemer literarischer Texte zu „konkretisieren“, wie Adorno sagt. Denn es leuchtet ein, daß nur jemand, der eine theologische, psychoanaly‐ tische oder soziologische Gewalttour nicht scheut, sich vornehmen kann, die Polysemie der Parabel begrifflich zu tilgen und den Signifikanten „Gesetz“ mit dem „göttlichen Gesetz“, den „Türhüter“ mit der „väterlichen Autorität“ oder dem „Kapital“ zu identifizieren. In der Vergangenheit habe ich dafür plädiert, daß die vieldeutige, Ambivalenzen und Paradoxien zeitigende Schreibweise selbst zum Gegenstand der Soziologie oder der Psychoanalyse gemacht wird - und nicht irgendein mythischer „Gehalt“, der sich nur dem Eingeweihten offenbart. 20 Der Kommentar zu Kafkas Parabel Vor dem Gesetz sollte zeigen, wie Kohärenz und Widerspruch, Eindeutigkeit und Vieldeutigkeit in einem modernen literarischen Text zusammenwirken. Im folgenden möchte ich anhand von Camusʼ Roman LʼEtranger den Gedanken verdeutlichen, daß die Beschreibung der semantischen und narrativen Textkohärenz Polysemie und Interpretation nicht ausschließt. Für mich ist dies kein Grund, die Frage nach der Textbedeutung als sinnlos zu verabschieden. Als Ausweg bietet 1. Literaturwissenschaft zwischen Kant und Hegel: Polysemie und Monosemie 397 21 A. Camus, Der Fremde, Reinbek, Rowohlt, 1961, S. 59; LʼEtranger, in: Théâtre, récits, nouvelles, Paris, Gallimard (Bibl. de la Pléiade), 1962, S. 1167. 22 Ibid., S. 60, 1168. 23 J. Fletcher, „Interpreting LʼEtranger“, in: The French Review Nr. 1, Winter, 1970. und H. Krauß, „Zur Struktur des Etranger“, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur, LXXX, Heft 3, S. 218. sich vielmehr ein dialogischer Vergleich der verschiedenen Metasprachen und ihrer Objektkonstruktionen an (siehe weiter unten und Abschn. 3). In den zahlreichen Kommentaren zu Camusʼ Roman L‘Etranger (1942) hat sich im Laufe der Jahre ein Konsens im Hinblick auf die semantischen Gegensätze Feuer/ Wasser und Sonne/ Meer herauskristallisiert. Der Roman‐ text scheint diesen Konsens zu rechtfertigen, denn an zahlreichen Stellen assoziiert der Erzählerdiskurs (ähnlich wie in La Peste, 1947) das Meer mit dem Leben und die Sonne mit dem Tod. Kurz bevor Meursault den Araber erschießt, möchte er der Sonne, die seine Untat motiviert, entfliehen: „Ich sehnte mich nach dem Gemurmel ihres Wassers, wollte der Sonne entfliehen (…).“ („Jʼavais envie de retrouver le murmure de son eau, envie de fuir le soleil […].“) 21 Aus dem Text geht eindeutig hervor, daß es sich um dieselbe Sonne handelt, die während des Begräbnisses von Meursaults Mutter geschienen und schon zu jenem Zeitpunkt das Handeln des Ich-Erzählers auf fatale Weise beeinflußt hatte: „Es war dieselbe Sonne wie an dem Tag, an dem ich Mama beerdigte (…).“ („Cʼétait le même soleil que le jour où jʼavais enterré maman […].“) 22 Auf diesen semantischen Grundgegensatz zwischen Sonne und Meer (Feuer und Wasser) stützen sich verschiedene psychoanalytische Interpreta‐ tionen des Romans, die die Sonne mit dem männlichen, das Wasser mit dem weiblichen Prinzip verknüpfen. So stellt etwa J. Fletcher den Gegensatz zwischen Meursault und der Sonne als eine Auseinandersetzung zwischen „Vater“ und „Sohn“ dar, deren Gegenstände („Objekt-Aktanten“, würde Grei‐ mas sagen) die Erde und das Wasser sind, also Elemente mit „mütterlichen“ Konnotationen. Henning Krauß, der mit Fletcher behauptet, die Sonne symbolisiere das männliche Prinzip und das Wasser die Weiblichkeit, betont wohl zu Recht den ambivalenten, bisexuellen Charakter der Natur, die in Camusʼ Text die konträren Seme „männlich“ und „weiblich“ zur Synthese bringt: „Die zweigeschlechtliche Natur vergewaltigt den eingeschlechtli‐ chen Meursault, indem sie ihn vom Mann zum Weib degradiert.“ 23 IX. Kritische Literaturwissenschaft als Dialog 398 24 H. R. Jauß, „Der poetische Text im Horizontwandel der Lektüre“, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte, Heft 2/ 3, 1980, S. 229. 25 J.-Cl. Coquet, Sémiotique littéraire. Contribution à lʼanalyse sémantique du discours, Tours, Mâme, 1972, S. 27. Mir kommt es nicht so sehr auf die Richtigkeit oder Fruchtbarkeit dieser Interpretationen an, sondern auf die beiden Tatsachen, daß literarische Texte einerseits klar definierbare phonetische, semantische, syntaktische und narrative Strukturen aufweisen, daß diese Strukturen andererseits aber vieldeutig sind und im Laufe des Rezeptionsprozesses von konkurrierenden Metasprachen immer von neuem interpretiert werden. Insofern haben Barthes, Eco und Jauß recht, wenn sie auf der „Offenheit“ und Interpretier‐ barkeit des Textes insistieren. Jauß stellt allerdings das Problem auf den Kopf, wenn er in einem Aufsatz über Baudelaire behauptet: „Strukturale Textbeschreibung sollte und kann heute (…) hermeneutisch in einer Analyse des Rezeptionsprozesses fundiert werden.“ 24 Meine kurzen Kommentare zu Kafka und Camus zeigen, daß es sich eher umgekehrt verhält und daß sprachliche Analysen zunächst hypothetisch beschreiben müssen, was (welche u. U. heterogene Struktur) rezipiert wird und worauf sich der Konsens oder Dissens der Rezipienten bezieht. Insofern ist Jean-Claude Coquet recht zu geben, wenn er fordert, daß alle (psychoanalytischen, soziologischen oder anthropologischen) Interpre‐ tationen eines literarischen Textes vom „primären oder linguistischen Sinn“ („sens primaire ou linguistique“) 25 auszugehen haben. Allerdings ist dieser „primäre Sinn“ (als Textstruktur) nicht monologisch im Rahmen einer besonderen theoretischen Metasprache festzulegen, sondern im Laufe eines Dialogs zwischen heterogenen theoretischen Metasprachen, in den auch die Ergebnisse der Textrezeption eingehen. Entscheidend ist jedoch, daß die Identität eines Textes von allgemein erkennbaren Grundstrukturen abhängt. Ohne diese (phonetischen, syntak‐ tischen, semantischen und narrativen) Grundstrukturen wäre der Text von den Diskussionsteilnehmern im Rahmen ihrer verschiedenen Metasprachen nicht identifizierbar. Die Heterogenität und ideologische Bedingtheit dieser Metasprachen (siehe Abschn. 2) wurde bisher in den meisten literaturwissenschaftlichen Diskussionen nicht berücksichtigt. Davon zeugt die lange Debatte über Claude Lévi-Straussʼ und Roman Jakobsons Analyse (1962) von Baudelaires 1. Literaturwissenschaft zwischen Kant und Hegel: Polysemie und Monosemie 399 Sonett Les Chats, die in den 60er und 70er Jahren stattfand. Sie bestätigt bis zu einem gewissen Grad die Erkenntnisse einer dialektischen Ästhetik, die ich hier im Zusammenhang mit Kafkas und Camusʼ Texten skizziert habe: 1. Es ist sinnvoll anzunehmen daß literarische Texte sprachliche (phonetische, syntaktische, semantische und narrative) Grundstrukturen aufweisen. 2. Es ist jedoch nicht immer einfach, diese Strukturen von metasprachlich (theoretisch) bedingten Interpretationen und Werturteilen zu unterscheiden, die an der (Re-)Konstruktion des Objekttextes maßgeblich beteiligt sind. 3. Nicht alle Vieldeutigkeiten des literarischen Textes können aufgelöst werden: An entscheidenden Stellen bleiben zwei oder mehrere Auslegungen möglich. 4. Eine textimmanente (strukturale, phänomenologi‐ sche oder andere) Analyse reicht nicht aus, um die Komplexität des Textes zu erfassen: Es scheint notwendig, dem Rezeptionsprozeß Rechnung zu tragen und - würde ich hinzufügen - die Argumente und Ergebnisse der verschiedenen theoretischen Analysen aufeinander zu beziehen. Les Chats Les amoureux fervents et les savants austères Aiment également, dans leur mûre saison, Les chats puissants et doux, orgueil de la maison, Qui comme eux sont frileux et comme eux sédentaires. Amis de la science et de la volupté, Ils cherchent le silence et lʼhorreur des ténèbres; LʼErèbe les eut pris pour ses coursiers funèbres, Sʼils pouvaient au servage incliner leur fierté. Ils prennent en songeant les nobles attitudes Des grands sphinx allongés au fond des solitudes, Qui semblent s’endormir dans un rêve sans fin; Leurs reins féconds sont pleins d’étincelles magiques, Et des parcelles d’or, ainsi qu’un sable fin, Etoilent vaguement leurs prunelles mystiques. IX. Kritische Literaturwissenschaft als Dialog 400 26 R. Jakobson, Cl. Lévi-Strauss, „Les Chats von Charles Baudelaire“, in: Alternative Nr. 62/ 63, 1968, S. 158. Die Katzen Die glühenden Liebenden und die strengen Gelehrten Lieben gleichermaßen in der Zeit ihrer Reife Die mächtigen und sanften Katzen, Stolz des Hauses, Die wie sie frösteln und wie sie seßhaft sind. Freunde des Wissens und der Lust, Suchen sie das Schweigen und den Schrecken der Finsternis; Der Erebos hätte sie als seine Totenrosse genommen, Wenn sie ihren Stolz der Knechtschaft beugen könnten. Sie nehmen sinnend die edlen Haltungen Der großen Sphinxe ein, die, ausgestreckt in der Tiefe der Einsamkeiten, Einzuschlafen scheinen in einem Traum ohne Ende; Ihre fruchtbaren Lenden sind voll magischer Funken, Und Goldpartikel, wie feiner Sand, Besternen flimmernd ihre mystischen Pupillen. Daß Baudelaires Sonett von allen erkennbare sprachliche Strukturen auf‐ weist, stellt sich an verschiedenen Stellen von Jakobsons und Lévi-Straussʼ Analyse heraus, etwa dort, wo die Autoren auf die syntaktische Dreiteilung des Gedichts hinweisen: „Das Sonett enthält drei komplexe, mit einem Punkt abgegrenzte Sätze; und zwar bilden jedes der Quartette und die Gruppen der beiden Terzette je einen Satz.“ 26 Diese elementare syntaktische Gliederung stieß im Verlauf der Debatte - soweit ich informiert bin - nicht auf Widerspruch und könnte als Bestandteil des „sens primaire ou linguistique“ (Coquet) aufgefaßt werden. Freilich könnte man einwenden, daß es sich hier um ein triviales Mi‐ nimum handelt, das eine literaturwissenschaftliche Interpretation nicht wesentlich voranbringt. Daß diese Einschätzung allzu skeptisch, ja unge‐ rechtfertigt ist, zeigt Lucien Goldmanns Kommentar zu Lévi-Straussʼ und Jakobsons Artikel. Ohne Coquets semiotische These (1972) zu kennen, daß alle soziologischen, psychoanalytischen oder anthropologischen Interpreta‐ tionen von der linguistischen Grundbedeutung auszugehen haben, gründet Goldmann seine Interpretation (1969) von Baudelaires Les Chats auf der 1. Literaturwissenschaft zwischen Kant und Hegel: Polysemie und Monosemie 401 27 L. Goldmann, „Les Chats de Charles Baudelaire“, in: ders., Structures mentales et création culturelle, Paris, Anthropos, 1970, S. 397. 28 Siehe z. B. S. Freud, „Ödipus und Hamlet“, in: W. Beutin (Hrsg.), Literatur und Psycho‐ analyse, München, Nymphenburger, 1972, S. 172: Auch Freud geht es darum, etwas zu erklären, was die Philologen nicht zu erklären vermochten: „Das Stück ist auf die Zögerung Hamlets gebaut, die ihm zugeteilte Aufgabe der Rache zu erfüllen; welches die Gründe oder Motive dieser Zögerung sind, gesteht der Text nicht ein; die vielfältigsten Deutungsversuche haben es nicht anzugeben vermocht.“ Bekanntlich erklärt Freud Hamlets Zögern im Zusammenhang mit dem ödipalen, inzestuösen Verlangen nach der Mutter. 29 L. Goldmann, „Les Chats de Charles Baudelaire“, op. cit, S. 396. 30 Ibid. von den beiden strukturalistischen Autoren aufgezeigten syntaktischen Dreiteilung: „Jakobson und Lévi-Strauss haben vor uns die Dreiteilung des Gedichts aufgedeckt: a) erstes Quartett, b) zweites Quartett, c) zwei Terzette. Sie haben es jedoch getan, indem sie von der Existenz eines Punktes am Ende einer jeden dieser Einheiten ausgingen, während wir dies aufgrund einer Analyse der globalen Bedeutungsstruktur (structure significative globale) erreicht haben. Wäre es eine Übertreibung zu sagen, daß Jakobson und Lévi-Strauss zwar die Dreiteilung entdeckt, wir aber deren Daseinsberechtigung und das Warum der drei Punkte erklärt haben? “ 27 Wie schon in den Diskussionen zwischen Formalisten und Marxisten (Kap. II. 5) geht es hier um den Gegensatz zwischen dem „Wie“ und dem „Warum“: Der Marxist will wie der Psychoanalytiker 28 erklären, was der Formalist oder Strukturalist beschreibt. Ich glaube allerdings nicht, daß Goldmann in seinem kurzen Kommentar (rund 6 Seiten) tatsächlich die „Bedeutungsstruktur“ (Kap. II. 4) rekonstruiert und die Dreiteilung erklärt hat. Seine zentrale Behauptung, daß die Katzen als mythische Lebewesen in den Verszeilen 7 und 8 zusammen mit der Unterjochung durch Erebos die Transzendenz ablehnen und in einer „ge‐ glückten Synthese von Immanenz und Transzendenz“ („synthèse réussie aux limites de l’immanence et de la transcendance“) 29 die Spannung zwischen den beiden metaphysischen Seinsmodi erhalten („maintien de la tension“), ist nicht wirklich überzeugend, zumal Goldmann seine Argumentation allzu teleologisch seinem marxistisch-humanistischen Anliegen (Ablehnung der Transzendenz durch den Menschen) unterordnet: „Ablehnung der Transzendenz, die mit dem Stolz und der Unbeugsamkeit des Menschen zusammenhängt.“ 30 Aber „die Katzen“ sind eben keine Menschen, die sich IX. Kritische Literaturwissenschaft als Dialog 402 31 W. Kindt, „Analyse des Aufsatzes ‚Les Chats de Charles Baudelaire‘ von Roman Jakobson und Claude Lévi-Strauss“, in: W. Kindt, S. J. Schmidt (Hrsg.), Interpretationsanalysen, München, Fink, 1976, S. 112. 32 Siehe: A. Giddens, New Rules of Sociological Method, op. cit., S. 162. 33 Siehe: O. Neurath, „Pseudorationalismus der Falsifikation“, in: ders., Gesammelte phi‐ losophische und methodologische Schriften, Bd. 2 (Hrsg. R. Haller, H. Rutte), Wien, Hölder-Pichler-Tempsky-Vlg., 1981. um die Transzendenz oder ihre Negation kümmern, und dies hat vielleicht gerade einen Dichter wie Baudelaire fasziniert. Auf die Probleme der metasprachlich bedingten Interpretationen, die ich weiter oben an zweiter Stelle genannt habe, gehen Roland Posner (1969) und Walter Kindt (1976) ein, wenn sie Lévi-Strauss und Jakobson vorwerfen, daß die von ihnen praktizierte Strukturanalyse zahlreiche versteckte Interpre‐ tationen enthält, die weder zwingend noch intersubjektiv nachvollziehbar sind. So bemerkt beispielsweise Kindt, daß die These der beiden Autoren, der zufolge die zentralen Verse 7 und 8 sich durch besondere „grammatische Eigenschaften“ vom restlichen Gedichttext unterscheiden, nicht stichhaltig ist: „Was von den Autoren als Beobachtung ausgegeben wird, ist teilweise gar nicht eindeutig beobachtbar, weil bisher keine Theorien zur Verfügung stehen, aufgrund derer über das Zutreffen der fraglichen Eigenschaften entschieden werden kann (…).“ 31 Mit dieser Bemerkung relativiert Kindt allerdings seine Kritik an den beiden Autoren: Denn wenn es tatsächlich noch keine exakte Theorie gibt, die eindeutig „überprüfbare“ und „falsifizierbare“ (Kindt) Aussagen über literarische Texte ermöglicht, dann ist es auch sinnlos, den Autoren vorzuwerfen, daß sie faute de mieux interpretieren. Es kommt hinzu, daß Kindt an einer (im Grunde positivistischen) rigiden Trennung von Subjekt und Objekt, von literarischem Text und theoretischem Metatext festhält und dabei übersieht, daß in den Sozialwissenschaften das Objekt zugleich Subjekt ist, wie Anthony Giddens im Anschluß an die Hermeneutik und an Michail Bachtins Dialog-Begriff in seiner Theorie der „double hermeneutic“ 32 gezeigt hat. Außerdem verwendet er einen recht naiven Falsifikationsbegriff, der weder der ideologischen Problematik von Karl R. Poppers Falsifikationspostulat noch Otto Neuraths Kritik an diesem Postulat Rechnung trägt. 33 Recht hat er jedoch, wenn er auf Zweideutigkeiten des Gedichts hinweist, über die sich die beiden Autoren allzu leichtfertig hinwegsetzen: „Ebenso ist unklar, wie entschieden werden soll, ob einem Wort das Merkmal ‚belebt‘ 1. Literaturwissenschaft zwischen Kant und Hegel: Polysemie und Monosemie 403 34 W. Kindt, „Analyse des Aufsatzes ‚Les Chats de Charles Baudelaire‘ von Roman Jakobson und Claude Lévi-Strauss“, op. cit., S. 107. 35 R. Jakobson, Cl. Lévi-Strauss, „Les Chats von Charles Baudelaire“, op. cit., S. 166. 36 M. Riffaterre, „La Description des structures poétiques: deux approches du poème de Baudelaire Les Chats“, in: ders., Essais de stylistique structurale, Paris, Flammarion, 1971, S. 327. oder ‚unbelebt‘ zuzuschreiben ist oder nicht. Gerade im Fall von ‚Erèbe‘ ist dies ungewiß, da ‚Erèbe‘ im Gedicht offensichtlich personalisiert wird.“ 34 Tatsächlich sind nicht alle Textstellen des Gedichts, wie ich weiter oben unter Punkt 3 bereits angedeutet habe, zu monosemieren. Jakobson und Lévi-Strauss waren sich dieser Tatsache durchaus bewußt. An entscheiden‐ der Stelle ihres Kommentars verzichten sie darauf, die Vieldeutigkeit des Textes begrifflich zu beseitigen. Zu der Wortfolge „leurs reins féconds sont pleins...“/ „ihre fruchtbaren Lenden sind voll…“ bemerken sie: „Man könnte annehmen, daß die Zeugungskraft gemeint ist, doch neigt Baudelaire zu ambivalenten Lösungen. Ist es die Kraft der Lenden, oder sind es elektrische Funken im Fell des Tieres? “ 35 Es kann nicht die Aufgabe einer Theorie sein, die Ambivalenz dort zu tilgen, wo sie intendiert war und die ästhetische Qualität eines literarischen Textes ausmacht. Ihre dialektische Aufgabe besteht vielmehr darin, Monose‐ mie und Polysemie vermittelnd aufeinander zu beziehen und zu zeigen, daß die Existenz sprachlicher Grundstrukturen mehrdeutige, offene Stellen nicht ausschließt (etwa die offene Frage, ob Erebos „belebt“ oder „unbelebt“ sei) - ebensowenig wie verschiedenartige und widersprüchliche Interpretationen der Grundstrukturen (etwa der Dreiteilung des Gedichts). Die Dynamik dieser Interpretationen kommt, wie Michel Riffaterre in seinem Beitrag zur Debatte richtig bemerkt, vor allem im Bereich der Rezep‐ tion (Punkt 4) zum Ausdruck. Um die Peripetien der Rezeption nachzeichnen zu können, stellt sich Riffaterre einen „archilecteur“ oder „superreader“ vor, der als heuristischer Begriff den „normalen Lesevorgang“ erfassen soll: „Er hat den enormen Vorteil, den normalen Leseprozeß nachzuvollziehen, das Gedicht so wahrzunehmen, wie es dessen linguistische Zusammenstellung (configuration) erfordert, indem er dem Satz folgt und am Anfang beginnt (…); er hat den Vorteil, daß er sich ausschließlich auf die relevanten Struk‐ turen bezieht.“ 36 Er hat auch den enormen Nachteil, monologisch zu sein und der Willkür der Interpretation Tür und Tor zu öffnen. Der linguistische Begriff der Relevanz (relevance, pertinence) ist von gruppenspezifischen Interessen IX. Kritische Literaturwissenschaft als Dialog 404 37 Ibid., S. 337. 38 R. Posner, „Strukturalismus in der Gedichtinterpretation. Textdeskription und Rezeptionsanalyse am Beispiel von Baudelaires ‚Les Chats‘“, in: H. Blumensath (Hrsg.), Strukturalismus in der Literaturwissenschaft, Frankfurt, Athenäum, 1972, S. 255. und von der Ideologieproblematik des Diskurses (vgl. Abschn. 2) nicht zu trennen. Daher erscheint mir Riffaterres „archilecteur“ eher als ideologische Mystifikation denn als mögliche Lösung der hier angesprochenen Proble‐ matik: Welche (gesellschaftlichen, psychischen) Faktoren entscheiden über die Relevanzkriterien, mit denen Riffaterre als „superreader“ an einen Text herangeht? Wenn er beispielsweise behauptet, daß im zweiten Quartett „der ironische Akzent verstärkt wird“ („sʼaccentue lʼironie“) und den beiden Strukturalisten vorwirft, daß sie diese Ironie nicht sehen, dann gestehe ich gern, daß ich genauso „verblendet“ („aveuglé“) bin wie die Strukturalisten: Auch ich sehe keine Ironie… 37 Das Problem ist nicht monologisch mit Hilfe eines „archilecteur“ zu lösen, der die „normale Lektüre“ (in den meisten Ideologien ist „normal“ ein beliebtes Adjektiv) literaturwissenschaftlich erweitert, sondern durch einen theoretischen Dialog, der der Tatsache Rechnung trägt, daß in den Sozialwis‐ senschaften alle theoretischen Diskurse aus Gruppensprachen (Soziolekten) hervorgehen und kollektive Interessen artikulieren. In Übereinstimmung mit den Soziolekten (re-)konstruieren sie ihre Objekte (z. B. literarische Texte wie Baudelaires Les Chats). Daß diese kollektive („soziolektale“) Problematik auch in der Diskussion über Die Katzen eine nie thematisierte Rolle spielte, deutet Roland Posner in seinem Kommentar an: „Denn nur wenn man eine relativ homogene Auswahl von Texten zugrunde legt und eine relativ homogene Gruppe literarischer Experten dazu Stellung nehmen läßt, werden die Urteile genü‐ gend konvergieren, daß man aus den vorkommenden Äquivalenzen eine Poetizitätsskala herstellen kann, die die Interpretationsgewohnheiten der gesamten Gruppe repräsentiert.“ 38 Das Problem scheint mir darin zu bestehen, daß die Homogenität gesell‐ schaftlicher Gruppen (auch der „Expertengruppen“) nicht nur fachsprachli‐ chen, sondern auch ideologischen Charakter hat. Angesichts dieser Erkennt‐ nis halte ich den intersubjektiven Dialog (die kritische Überprüfung von Hypothesen) innerhalb einer homogenen Gruppe von Literaturwissenschaft‐ lern für recht unergiebig: Das Gespräch bestätigt zumindest tendenziell die fachlichen und ideologischen Wert- und Vorurteile der Beteiligten. 1. Literaturwissenschaft zwischen Kant und Hegel: Polysemie und Monosemie 405 39 Siehe: K. Eibl, Kritisch-rationale Literaturwissenschaft, München, Fink, 1976, S. 74. 40 Siehe u.a.: M. Pêcheux, Les Vérités de La Palice, Paris, Maspero, 1975 und G. Kress, R. Hodge, Language as Ideology, London, RKP, 1979. Wesentlich fruchtbarer scheint mir ein interkollektives oder interdiskursi‐ ves Gespräch zwischen Soziolekten zu sein, das fachliche und ideologische Vorurteile grundsätzlich in Frage stellt und in dem die Beteiligten einen Kon‐ sens im ideologischen Dissens anvisieren. Grundsätzlich in Frage gestellt wird hier der individualistische Gedanke, dem zufolge sich Literaturwissen‐ schaftler als atomisierte Individuen intersubjektiv verständigen können, wie Vertreter des Kritischen Rationalismus meinen. 39 Die Literaturwissenschaft ist wie die Soziologie oder die Psychologie ein ideologisch heterogener Bereich, dem nicht der Begriff der Intersubjektivi‐ tät (der höchstens auf Beziehungen innerhalb einer homogenen Gruppe anwendbar ist), sondern der Begriff der Interdiskursivität adäquat ist: Denn er thematisiert die Beziehungen zwischen Gruppen und Soziolekten. 2. Kritische Literaturwissenschaft: Ideologiekritik Wo von der Literaturwissenschaft als einem „ideologisch heterogenen Bereich“ die Rede ist, stellt sich gleichsam von selbst die Frage nach dem Ideologiebegriff sowie die komplementäre Frage nach dem Verhältnis von Ideologie und Theorie oder Ideologie und Wissenschaft. Diese beiden Fragen sind deshalb wichtig, weil der Ideologiebegriff bisher nicht im sprachwissenschaftlichen oder semiotischen Kontext umfassend definiert wurde und weil auch die Beziehungen zwischen Ideologie und Theorie ungeklärt geblieben sind. Wer mit der Ideologie- und Wissenschaftsproblematik vertraut ist, wird vielleicht dazu neigen, meine einleitenden Bemerkungen für naiv zu halten: Haben sich in der Vergangenheit nicht Karl Marx, Georg Lukács, Louis Althusser, Vilfredo Pareto, Karl Mannheim und die kritischen Rationalisten (Popper, Albert, Topitsch) auf Tausenden von Seiten - vielleicht vergeblich - mit dieser Problematik befaßt? Haben nicht jüngere Autoren wie Umberto Eco, Michel Pêcheux und die Schüler M. A. K. Hallidays (G. Kress und R. Hodge) 40 in den vergangenen Jahren versucht, die Ideologie als sprachliche Struktur zu definieren? Es wäre sicherlich leichtsinnig und unproduktiv, sich über alle diese ide‐ ologiekritischen Entwürfe hinwegsetzen zu wollen und bei Null anzufangen. IX. Kritische Literaturwissenschaft als Dialog 406 41 Siehe: U. Eco, „Semiotik der Ideologien“, in: P. V. Zima (Hrsg.), Textsemiotik als Ideologiekritik, Frankfurt, Suhrkamp, 1977. 42 Siehe meine Kritik an Pêcheux in Ideologie und Theorie, Tübingen, Francke, 1989, Kap. V. 4. 43 Siehe: O. Reboul, Langage et idéologie, Paris, PUF, 1980, S. 15-35. Dies ist der Grund, weshalb ich mich im ersten Teil von Ideologie und Theorie (1989) ausführlich mit den meisten der hier genannten Ansätze befasse und anschließend versuche, sie für das eigene ideologiekritische Projekt fruchtbar zu machen. Da es im folgenden nicht möglich ist, dieses Projekt ausführlich zu beschreiben, will ich nur einige wesentliche Argumente her‐ ausgreifen, die mir für die Fundierung einer kritischen Literaturwissenschaft wesentlich zu sein scheinen. Das erste Argument betrifft die sprachliche (semantische und narrative) Struktur der Ideologie. Als ich in den 70er Jahren Umberto Ecos „Semiotik der Ideologien“ („Semiotica delle ideologie“, 1971) für den Sammelband Textsemiotik als Ideologiekritik (1977) 41 übersetzte, kam mir der Gedanke, daß in Ecos „kybernetischer“ Darstellung eine Definition der Ideologie als semantisch-narrativer, diskursiver Struktur fehlt. Auch in Michel Pêcheuxʼ Arbeiten stieß ich nicht auf eine solche Definition, da sich Pêcheux, der von einer Kritik an Freges Logik ausgeht, hauptsächlich auf Michel Foucaults Diskursbegriff stützt, der nicht einmal skizzenhaft auf semantischer und narrativer Ebene beschrieben wird. 42 In späteren Arbeiten wie Language as Ideology von Kress und Hodge (1979) oder Langage et idéologie von Olivier Reboul (1980) wird die Ideologie zwar ansatzweise als sprachliches (bei Reboul rhetorisches) Konstrukt beschrieben; die seit Marx und Mannheim entwickelte Problematik wird jedoch ausgeblendet, und die soziologischen Erkenntnisse gehen in diese Untersuchungen nicht ein. 43 Deshalb habe ich mich bemüht, die arbeitsteilig bedingte Isolierung von Soziologie und Semiotik zu überwinden und eine soziosemiotische oder textsoziologische Ideologiekritik zu entwerfen. Aus ihr ging eine Definition der Ideologie als sekundäres modellierendes System im Sinne von Lotman (vgl. Kap. VII) hervor, das als Gruppensprache oder Soziolekt aufzufassen ist. Der Soziolekt ist ein theoretisches Konstrukt, das empirisch nur als unbestimmte Anzahl von verwandten Diskursen erfahrbar ist, denen ein lexikalisches Repertoire und ein semantischer Code (als System von semantischen Isotopien im Sinne von Greimas) gemeinsam sind. 2. Kritische Literaturwissenschaft: Ideologiekritik 407 44 Vf., Ideologie und Theorie, op. cit., S. 256. Vgl. auch die Definitionen von „Ideologie“ und „Theorie“ in: Vf., Was ist Theorie? , op. cit., S. 60-62. 45 Siehe: K. Mannheim, Ideologie und Utopie, Frankfurt, Schulte-Bulmke, 1965 (6. Aufl.), S. 53-55. 46 Siehe z. B. N. Mecklenburg, Kritisches Interpretieren, München, Nymphenburger, 1972. Aus diesen Vorüberlegungen ergibt sich die folgende allgemeine Defini‐ tion der Ideologie, die soziologisch betrachtet mit Karl Mannheims „allge‐ meinem“ oder „totalem“ Ideologiebegriff verwandt und auch auf die Theorie anwendbar ist: „Die Ideologie als Diskurs, d. h. als transphrastische und nar‐ rative Struktur, ist - im Unterschied zur natürlichen Sprache - ein sekundäres modellierendes System, dem das lexikalische Repertoire, die semantischen Gegensätze und die kodifizierten Klassifikationen sowie die Aktantenmodelle und die narrativen Abläufe eines Soziolekts zugrundeliegen.“  44 Diese Definition der Ideologie ist bis zu einem gewissen Grad als „wis‐ senssoziologisch“ im Sinne von Karl Mannheim 45 zu bezeichnen, weil sie auf der Überlegung gründet, daß alle theoretischen Diskurse der Sozialwissen‐ schaften als ideologisch im allgemeinen Sinne aufgefaßt werden können: Sie gehen aus besonderen Soziolekten hervor und drücken Gruppenpositionen und kollektive Interessen aus. So kann beispielsweise im Bereich der Literaturwissenschaft ein Text wie Karl Eibls Kritisch-rationale Literaturwissenschaft (1976) eindeutig dem So‐ ziolekt des Kritischen Rationalismus (K. R. Poppers, H. Alberts) zugeordnet werden. Andere Arbeiten wiederum gehen aus dem Soziolekt der Kritischen Theorie oder eines bestimmten Marxismus hervor. 46 Ihre Zuordnung zu einem Soziolekt sagt noch nichts über ihren Wert aus: Sie sind ideologisch im allgemeinen Sinne und teilen dieses Schicksal mit allen anderen Texten der Sozialwissenschaften. Das Problem des allgemeinen Ideologiebegriffs besteht nun - wie das des „totalen Ideologiebegriffs“ bei Mannheim - darin, daß er einem Panide‐ ologismus Vorschub leistet, der jedem Versuch, kritische von unkritischen, theoretische von ideologischen Diskursen zu unterscheiden, einen Riegel vorschiebt. Mannheim kennt zwar auch einen „partikularen Ideologiebe‐ griff “, engt diesen jedoch auf den psychischen Bereich ein und wendet ihn auf die psychisch motivierten Reaktionen des Individuums auf Probleme der Alltagspraxis an. Seine Unterscheidung zwischen rückschrittlicher Ideologie und zukunftsweisender Utopie ist fragwürdig und verdeckt die Tatsache, daß auch Utopien ideologische Konstrukte sind, wie Poppers bekannte Kri‐ tik an Plato zeigt. Unbeantwortet bleibt schließlich die Frage, von welchem IX. Kritische Literaturwissenschaft als Dialog 408 47 Siehe meine Kritik an Mannheims Ideologie- und Utopiebegriff in Ideologie und Theorie, op. cit., S. 99-107. 48 Siehe: K. Mannheim, Ideologie und Utopie, op. cit., S. 221-222. 49 Siehe: V. Meja, N. Stehr (Hrsg.), Der Streit um die Wissenssoziologie (2 Bde.), Frankfurt, Suhrkamp, 1982. Standpunkt aus „Ideologien“ von „Utopien“ unterschieden werden können. 47 Dies hat u. a. zur Folge, daß seiner Wissenssoziologie ein restriktiver oder kritischer Ideologiebegriff fehlt, der es gestatten würde, richtige von falschen, theoretische von ideologischen Diskursen zu unterscheiden. Freilich hat Mannheim mit seiner Theorie der „freischwebenden Intellek‐ tuellen“, denen er die Fähigkeit zuspricht, aufgrund ihrer Ungebundenheit alle partikularen Standpunkte (Weltanschauungen, Aspektstrukturen) zu überwinden und eine Universalsynthese herbeizuführen, versucht, den Ar‐ chimedischen Punkt der Erkenntnis zu bezeichnen. 48 Die Kritik an der Wis‐ senssoziologie hat jedoch gezeigt, daß es diesen Archimedischen Punkt nicht gibt, weil die Gruppe der Intellektuellen alles andere als „freischwebend“ oder homogen ist: Sie bleibt von ideologischen Konflikten ebensowenig verschont wie die Gruppe der Politiker oder Arbeiter. Hätte Mannheim die Ideologie als sprachliche Struktur erforscht, hätte er womöglich erkannt, daß die Sprache der Intellektuellen kein homogener Soziolekt ist, sondern eine Vielzahl antagonistischer und rivalisierender Soziolekte oder Ideolo‐ gien. 49 Dem Marxismus, von dem sich Mannheim in seiner Theorie der „frei‐ schwebenden Intelligenz“ zu entfernen sucht, fehlt ein restriktiver oder kritischer Ideologiebegriff nicht: Autoren wie Marx, Engels, Lukács und Goldmann strebten in sehr verschiedenen gesellschaftlichen und sprachli‐ chen Situationen danach, das verdinglichte, ideologische Bewußtsein des Bürgertums vom Standort des richtigen proletarischen Bewußtseins aus zu kritisieren. Ihnen erschien dieser Standpunkt als der Archimedische Punkt, vom dem aus es gelingen könnte, nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die Gesellschaftsordnung des Bürgertums aus den Angeln zu heben. Im Gegensatz zu Lukács, der in Geschichte und Klassenbewußtsein (1923) noch fest an die noetische Überlegenheit des proletarischen Bewußtseins glaubt, müssen Marxisten wie Lucien Goldmann, André Gorz und Serge Mallet in den 60er Jahren erkennen, daß der Archimedische Punkt der Revolution verlorenging, weil das Proletariat in die spätkapitalistische 2. Kritische Literaturwissenschaft: Ideologiekritik 409 50 Siehe z. B. A. Gorz, Abschied vom Proletariat. Jenseits des Sozialismus, Köln-Wien, Europäische Verlagsanstalt, 1980. 51 Siehe: H. Albert, Traktat über kritische Vernunft, Tübingen, J. C. B. Mohr, 1980 (4. Aufl.), S. 64: „Der Aussagenbereich, auf den sich das Max Webersche Postulat in erster Linie bezieht, ist der der sozialwissenschaftlichen Objekt-Sprache.“ 52 Siehe: K. R. Popper, „Normal Science and its Dangers“, in: I. Lakatos, A. Musgrave (Hrsg.), Criticism and the Growth of Knowledge, Cambridge, Univ. Press, 1970, S. 56-57. Gesellschaftsordnung integriert wurde und weil die moderne Arbeiterschaft ideologisch ebenso heterogen ist wie die Intellektuellen. 50 Im Gegenzug zum Marxismus meinten kritische Rationalisten wie Karl R. Popper und vor allem Hans Albert, das Ideologieproblem mit dem aus Max Webers (1864-1920) Soziologie stammenden Kriterium der Wertfreiheit lösen zu können: Der Sozialwissenschaftler darf werten, solange es um die Wahl seines Objekts oder Objektbereichs geht; er soll jedoch in der eigentlichen Beschreibung seines Gegenstandes auf Wertung verzichten. Auf der Ebene der Objektsprache soll er, wie Hans Albert sagt, wertfrei argumentieren können. 51 Es ist wohl kein Zufall, daß auch Mannheim, der Theoretiker der „frei‐ schwebenden Intellektuellen“, vom Wertfreiheitspostulat so angetan war: Denn die kritischen Rationalisten vertrauen trotz ihrer Kritik an Mannheim darauf, daß die Wissenschaftler im entscheidenden Augenblick, nämlich bei der Objektbeschreibung, auf Werturteile und Ideologien verzichten und zu reinen Geistern werden. 52 Der Standpunkt der „Wertungsfreiheit“ erscheint somit als der Archimedische Punkt einer idealisierten Wissen‐ schaftlergemeinschaft, deren abstrakter Charakter u. a. mit dem Verzicht der kritischen Rationalisten auf eine konkrete Analyse der sprachlichen, der sozio-linguistischen Situation zusammenhängt, in der Soziolekte und Diskurse in ein dialogisch-polemisches Verhältnis (im Sinne von Bachtin: Kap. III) zueinander geraten. Eine solche Analyse hätte nämlich den tendenziell polemischen und herrschsüchtigen Charakter aller Diskurse - auch der theoretischen - erkennen lassen: Auch der Theoretiker läßt sich häufig von taktischen Über‐ legungen leiten und argumentiert, nicht um die gemeinsame Erkenntnis zu fördern, sondern um den Gesprächspartner zu überzeugen, zu überlisten, zu diskreditieren oder global zu überrunden. Darin gleicht er dem nach Macht und Einfluß strebenden Politiker, von dem er sich aus institutionellen, erkenntnistheoretischen und ethischen Gründen unterscheiden sollte. IX. Kritische Literaturwissenschaft als Dialog 410 53 Vf., Ideologie und Theorie, op. cit., Kap. 12. Da mir aus gesellschaftlichen Gründen sehr viel an dieser Unterscheidung liegt, schlage ich komplementär zum allgemeinen einen restriktiven oder kritischen Ideologiebegriff vor: „Die Ideologie ist ein diskursives, mit einem bestimmten Soziolekt identifizierbares Partialsystem, das von der semantischen Dichotomie und den ihr entsprechenden narrativen Verfahren (Held/ Widersa‐ cher) beherrscht wird und dessen Aussagesubjekt entweder nicht bereit oder nicht in der Lage ist, seine semantischen und syntaktischen Verfahren zu reflektieren und zum Gegenstand eines offenen Dialogs zu machen. Statt dessen stellt es seinen Diskurs und seinen Soziolekt als die einzig möglichen (wahren, natürlichen) dar und identifiziert sie mit der Gesamtheit seiner wirklichen und potentiellen Referenten.“ 53 Wie unterscheidet sich nun diese soziosemiotische oder textsoziologische Definition der Ideologie von den Definitionen Mannheims, der Marxisten und der kritischen Rationalisten? Sie unterscheidet sich zunächst von Mannheims „totalem Ideologiebegriff “ dadurch, daß sie restriktiv ist und die sprachliche Struktur der Ideologie anvisiert: Damit ermöglicht sie eine kritische Definition der Ideologie auf diskursiver Ebene. Sie unterscheidet sich von allen drei Auffassungen dadurch, daß sie nicht einen bestimmten „richtigen“ Standpunkt (den des Proletariats, der freischwebenden Intellektuellen oder der wertfrei denkenden Wissenschaftler) privilegiert, sondern die Ideologieproblematik in die Diskursstruktur selbst verlagert: Im Prinzip ist jeder Diskurs ideologieverdächtig - auch der mar‐ xistische, der kritisch-rationalistische oder der kritisch-theoretische. Erst eine textsoziologische (soziosemiotische) Analyse zeigt, ob er sich eher dem ideologischen oder dem theoretischen Modell (vgl. weiter unten) nähert. Anders formuliert: Die „Theoriehaftigkeit“ eines Diskurses wird nicht dadurch gewährleistet, daß das Aussagesubjekt sich auf den pragmatischen, den systemtheoretischen, den marxistischen oder den psychoanalytischen Standpunkt stellt; denn keiner dieser Standpunkte schließt die oben beschrie‐ benen ideologischen Verfahren (Dualismus, Naturalismus oder Identitäts‐ denken und Monolog) aus. Es sollte allerdings nicht behauptet werden, daß alle Standpunkte (als Ideologien im allgemeinen Sinne: s. o.) gleichwertig oder gar vertauschbar sind: Es ist nicht gleichgültig, ob ein Diskurs von den Wertsetzungen der Psychoanalyse, eines humanistischen Marxismus, des Marxismus-Leninis‐ mus oder der nationalsozialistischen Rassenlehre ausgeht. Es gilt daher, der 2. Kritische Literaturwissenschaft: Ideologiekritik 411 54 Siehe: J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt, Suhrkamp, 1973 (2. Aufl.), S. 402-403 und A. Heller, Philosophie des linken Radikalismus. Ein Bekenntnis zur Philosophie, Hamburg, VSA-Verlag, 1978, S. 129. 55 Siehe: Vf., Ideologie und Theorie, op. cit., Kap. 12. 56 Siehe: Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt, Suhrkamp, 1966, S. 184, 257; E. Topitsch, K. Salamun, Ideologie. Herrschaft des Vor-Urteils, op. cit., S. 57; U. Eco, „Erzähl‐ strukturen bei Ian Fleming“, in: P. V. Zima (Hrsg.), Textsemiotik als Ideologiekritik, op. cit., S. 233. Frage nachzugehen, wie sich die Wertsetzungen solcher Gruppensprachen auf die diskursive Anordnung auswirken. Es geht hier in einem textsoziologischen und diskurskritischen Kontext um die von Jürgen Habermas und Agnes Heller angeschnittene Problematik der „Verallgemeinerungsfähigkeit der Interessen“ 54 oder der Werte. Auf sie kann ich hier aus Platzgründen nicht eingehen und muß auf das letzte Kapitel von Ideologie und Theorie verweisen. 55 Im folgenden geht es primär um die Frage, wie Ideologie im restrikti‐ ven Sinne in literaturwissenschaftlichen Diskursen in Erscheinung tritt und wie sich in einer Kritik der ideologischen Verfahren die theoretische Alternative herauskristallisiert. Es soll anhand von Interpretationen und theoretischen Kommentaren gezeigt werden, daß Dualismus, Naturalismus, Identitätsdenken und Monolog in der Literaturwissenschaft eher die Regel als die Ausnahme sind. Teleologisch (im heuristischen, kantianischen Sinne) ist meine Argumentation insofern, als sie darauf abzielt, aus der Kritik ideologischer Diskurse einen kritischen Theoriebegriff zu gewinnen. Um das bisher Gesagte zu konkretisieren, will ich versuchen, die ideolo‐ gischen Verfahren literaturwissenschaftlicher Diskurse anhand von kurzen Textbeispielen darzustellen. Obwohl jeder Text ein bestimmtes Verfahren illustrieren soll, versteht es sich von selbst, daß in den meisten Fällen verschiedene ideologische Mechanismen zusammenwirken und daß ihre Trennung einen künstlichen, analytischen Charakter hat. Zu den wichtigsten Strukturelementen der Ideologie (im restriktiven Sinne) gehört wahrscheinlich der semantische Dualismus oder Manichäis‐ mus, den unabhängig voneinander die Begründer der Kritischen Theorie (Adorno, Horkheimer), des Kritischen Rationalismus (H. Albert, E. Topitsch) und der Semiotik (U. Eco) aufgezeigt haben. 56 Das Aussagesubjekt des dualistischen Diskurses neigt dazu, das eine ohne das andere zu denken und die dialektische Einheit der Gegensätze zu übergehen. IX. Kritische Literaturwissenschaft als Dialog 412 57 G. Lukács, „Franz Kafka oder Thomas Mann? “, in: ders., Die Gegenwartsbedeutung des kritischen Realismus, Werke, Bd. 4, Probleme des Realismus I, Neuwied-Berlin, Luchterhand, 1971, S. 550. Es konstruiert im semantischen Bereich rigide Dichotomien, denen un‐ vereinbare Isotopien (etwa Subjektivität/ Objektivität, Produktion/ Rezeption oder Dekadenz/ Realismus) entsprechen. Auf der Aktantenebene kommt es im narrativen Ablauf des Diskurses zu einer Auseinandersetzung auf Leben und Tod zwischen Auftraggeber und Gegenauftraggeber, Subjekt und Anti‐ subjekt, Helfer und Widersacher (im Sinne von Greimas: Kap. VII. 3). Der Ausgang des Konflikts wird vom Aussagesubjekt als „sujet d’énonciation“ auf semantischer und narrativer Ebene vorprogrammiert, da es in nahezu allen Fällen das Antisubjekt und dessen Auftraggeber als „sujets dʼénoncé“ mit mangelhaften „virtualisierenden“ (müssen, wollen), „aktualisierenden“ (können, wissen) und „realisierenden“ (tun, sein) Modalitäten im Sinne von Greimas ausstattet: Dem Antisubjekt gelingt es nicht, sein Ziel zu erreichen und sich des Objektaktanten (z. B. der Wahrheit) zu bemächtigen, weil es nichts wejß, nichts kann oder im Extremfall nicht weiß, was es will. Der vom Aussagesubjekt konstruierte ideologische Dualismus wird häufig dadurch verstärkt, daß das Antisubjekt und sein Handlungsbereich im Diskurs systematisch mit sozial und kulturell bedingten negativen Konnotationen (U. Eco) versehen werden. Zu den Texten der Literaturwissenschaft, die unverblümt dem Dualismus das Wort reden, gehört Georg Lukácsʼ Aufsatz „Franz Kafka oder Thomas Mann? “ (1957). Der Dualismus ist bereits in dieser rhetorischen Frage angelegt, die den gesamten diskursiven Ablauf teleologisch vorausbestimmt. In ihrer Umformulierung am Ende des Textes treten Notwendigkeit und Teleologie, Dualismus und negative Konnotationen klar zutage: „Gerade darum kann der bürgerliche Schriftsteller sein eigenes Dilemma: Franz Kafka oder Thomas Mann? artistisch interessante Dekadenz oder lebens‐ wahrer kritischer Realismus? heute leichter positiv beantworten, als es ihm noch gestern möglich war.“ 57 Der „kritische Realismus“ Thomas Manns hat also gewonnen und mit ihm der Auftraggeber dieses Subjekts: der (humanistische) Sozialismus als gesellschaftlich-historisches Prinzip. Wie sehr der aktantielle Dualismus Lukácsʼ gesamten Diskurs durchzieht, zeigt der folgende Satz, auf den ich ausführlicher eingehen möchte: „Unser Urphänomen ist also die Konvergenz der beiden Kontrastpaare: Realismus und Antirealismus (Avantgardeismus, Dekadenz) einerseits und Kampf um 2. Kritische Literaturwissenschaft: Ideologiekritik 413 58 Ibid., S. 465 (Einleitung zum Gesamttext). 59 H. R. Jauß, Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt, Suhrkamp, 1997 (11. Aufl.), S. 171. Frieden oder Krieg andererseits.“ 58 Dieser Satz, den sich jemand hätte aus‐ denken können, um die Methode der strukturalen Semiotik zu illustrieren, kann auf mindestens drei Ebenen gelesen werden: auf der semantischen, der aktantiell-narrativen und der pragmatisch-konnotativen. Auf semantischer Ebene ist die Übereinstimmung zweier Gegensätze fest‐ stellbar: Dem Gegensatz Realismus/ Antirealismus entspricht der Gegensatz Frieden/ Krieg; beide Gegensätze sind im Gesamttext auf den kontrastieren‐ den Isotopien Humanismus und Kapitalismus zu lesen und als rekurrierende Sememe mit entsprechenden Aktanten zu besetzen. Auf narrativer Ebene erscheinen somit Realismus und Antirealismus als Aktanten (als Subjekt und Antisubjekt), denen in Lukácsʼ Diskurs Thomas Mann und Franz Kafka als Akteure (Kap. VII. 3) zugeordnet werden. Während der Aktant Realismus für das narrative Programm des Auftraggebers Sozialismus (Gesamttext) verantwortlich ist, nämlich für den Frieden, wird der Antirealismus mit dem narrativen Programm des Gegenauftraggebers Kapitalismus, nämlich dem Krieg, assoziiert. Auf pragmatisch-konnotativer Ebene soll das Antisubjekt durch die Endung „Ismus“ (Avantgardismus statt Avantgarde) und das Semem „Dekadenz“ disqualifiziert werden. Zugleich wird auf der Ebene der Modalitäten suggeriert, daß der Antirealismus aufgrund seiner „Dekadenz“ (mangelndes Wissen und Können) zum Scheitern verurteilt ist. Auch hier kommt also die ideologische Teleologie zum Ausdruck. Man könnte nun - vor allem angesichts des Niedergangs des offiziellen Marxismus - geneigt sein, Lukácsʼ Text als „unwissenschaftlich“ zu verab‐ schieden und zur literaturwissenschaftlichen, z. B. rezeptionsästhetischen oder semiotischen Tagesordnung übergehen. Um diese Art von Sorglosigkeit zu stören, habe ich in der Vergangenheit zu zeigen versucht, daß Jaußʼ re‐ zeptionsästhetischer Diskurs vom Gegensatz Produktion/ Rezeption ausgeht und mit Verfahren arbeitet, die denen des hier zitierten Lukács-Textes gar nicht unähnlich sind. Wenn Jauß beispielsweise in Literaturgeschichte als Provokation fordert, man müsse „die traditionelle Produktions- und Darstellungsästhetik in einer Rezeptions- und Wirkungsästhetik (…) fundieren“  59 , so begründet er einen Diskurs, in dem der Sieg der Aktanten, die für das narrative Programm „Rezeption“ verantwortlich sind, vorprogrammiert ist. Er steht auch deshalb IX. Kritische Literaturwissenschaft als Dialog 414 60 H. R. Jauß, „Paradigmawechsel in der Literaturwissenschaft“, in: Linguistische Berichte Nr. 3, 1969, S. 56. 61 M. Bense, „Die semiotische Konzeption der Ästhetik“, in: Zeitschrift für Linguistik und Literaturwissenschaft, Heft 27/ 28, 1977, S. 190. fest, weil Jauß z. B. in seinem Aufsatz „Paradigmawechsel in der Literatur‐ wissenschaft“ (1969), wo er eine „historisch-rezeptionsbezogene Analyse“ 60 entwirft, die literaturgeschichtliche Entwicklung teleologisch zurechtstutzt, so daß sie am Ende seiner Darstellung gleichsam von selbst in das von ihm geforderte rezeptions- und wirkungsästhetische „Paradigma“ mündet. Das zweite - bereits erwähnte - diskursive Verfahren der Ideologie ist der Naturalismus als Identitätsdenken im Sinne der Kritischen Theorie (die Bezeichnung „Naturalismus“, die von Louis Althusser stammt, hat hier also nichts mit dem literaturgeschichtlichen oder ästhetischen Naturalismus zu tun). Der Naturalismus kommt dadurch zustande, daß das Aussagesubjekt seinen Diskurs implizit oder explizit für natürlich oder selbstverständlich erklärt. Auf eine relativ einfache Form des Naturalismus ging ich bereits im siebenten Kapitel ein, als ich Max Bense vorwarf, daß er seine theoretische und methodologische Entscheidung für die Semiotik von Charles Sanders Peirce als selbstverständlich voraussetzt: „Als Semiotik benutzen wir natür‐ lich die theoretisch-pragmatische Semiotik vom peirceschen Typ mit allen ihren der Basistheorie zugeordneten heutigen Erweiterungen.“ 61 Was ist an diesem Satz ideologisch in restriktivem Sinn? Zunächst die Tatsache, daß das Aussagesubjekt die Entscheidung für eine bestimmte Semiotik für „natürlich“ hält: Der Leserschaft wird nicht klargemacht, daß die Semiotik von Peirce nur eine mögliche fachsprachliche Option ist und daß es andere Optionen gibt (etwa die Semiotiken Saussures, Hjelmslevs oder Lotmans). Verschwiegen wird ferner, daß Peirces philosophischer Pragmatismus als fachsprachlicher Soziolekt aus dem ideologischen Soziolekt (Ideologie im allgemeinen Sinn) des liberalen Individualismus hervorging und daß dieser Soziolekt besondere soziale Interessen artikuliert. Kurzum: Das Aussage‐ subjekt identifiziert seinen nur möglichen, kontingenten Diskurs mit dem semiotischen Diskurs schlechthin, indem es diesen als den einzig möglichen, natürlichen und notwendigen darstellt. Subtilere Formen des Naturalismus kommen dadurch zustande, daß das Aussagesubjekt nicht eine ganze Theorie, sondern bestimmte Unterschei‐ dungen oder Gegensätze als natürlich hinnimmt und sich auf sie beruft. 2. Kritische Literaturwissenschaft: Ideologiekritik 415 62 S. J. Schmidt, Literaturwissenschaft als argumentierende Wissenschaft, München, Fink, 1975, S. 3. So setzt beispielsweise Siegfried J. Schmidt in seinem Buch Literaturwissen‐ schaft als argumentierende Wissenschaft (1975) den Gegensatz zwischen Textanalyse und Textinterpretation als selbstverständlich voraus: „In vielen Fällen ist das Verhältnis zwischen Analyse und Interpretation von Texten unreflektiert und undeutlich (…).“ 62 Könnte nicht (z. B. mit den radikalen Konstruktivisten, auf die sich Schmidt später berief) behauptet werden, daß jede Analyse als Objektkonstruktion eine subjektive Deformation - also Interpretation - involviert? Ist eine Unterscheidung zwischen Analyse und Interpretation möglich? Diese Probleme, die schon im Zusammenhang mit der Debatte über Baudelaires Les Chats und Greimasʼ Maupassant-In‐ terpretation (Analyse? ) angeschnitten wurden, werden von Schmidt nicht thematisiert; er setzt den Gegensatz von Analyse und Interpretation als natürlich voraus. Von diskursivem Naturalismus kann schließlich immer dann die Rede sein, wenn das Aussagesubjekt sich als sujet dʼénonciation implizit mit einer nicht näher definierten Autorität identifiziert, die - oft unbemerkt - zu einem mythischen Aktanten wird: „Es ist wissenschaftlich erwiesen, daß …“ „Die Wissenschaft zeigt, daß …“ „Es ist allgemein bekannt, wir wissen, daß …“. In allen diesen Fällen identifiziert sich das Aussagesubjekt implizit mit ei‐ ner mythischen Instanz („wir“, „es“, „die Wissenschaft“), auf die sich auch der Prediger beruft, wenn er sagt: „Gott erwartet von euch/ uns, daß …“ Dieser ideologische Trick sollte nicht über die diskursive Tatsache hinwegtäuschen, daß weder Gott noch die Wissenschaft spricht, sondern ein kontingentes Subjekt, das in seiner Unwissenheit und Ohnmacht versucht, mythische Autorität eines fiktiven Auftraggebers zu usurpieren, um die Anwesenden von der Allgemeingültigkeit, Notwendigkeit und Natürlichkeit seines Diskurses zu überzeugen. Die hier vorgebrachte Kritik am ideologischen Dualismus und Naturalis‐ mus geht gleichsam von selbst in eine Kritik des ideologischen Monologs über. Denn es leuchtet ein, daß Diskurse, die eine dualistische Struktur auf‐ weisen und sich für natürlich, selbstverständlich halten, auch monologisch aufgebaut sind. Indem ihre Aussagesubjekte sich durch Naturalisierungs‐ verfahren wie „es wurde objektiv nachgewiesen, daß …“, „es ist allgemein bekannt, daß …“ über die Existenz alternativer, konkurrierender Diskurse hinwegsetzen, unterschlagen sie ihre eigene sozio-linguistische Kontingenz IX. Kritische Literaturwissenschaft als Dialog 416 63 L. J. Prieto, „Entwurf einer allgemeinen Semiologie“, in: Zeitschrift für Semiotik Nr. 1, 1979, S. 263. und identifizieren sich mit den von ihnen thematisierten Referenten (mit der „Wirklichkeit“). Dadurch verbieten sie anderen Diskursen, alternative Aussagen über diese Referenten zu machen, und schließen sie monologisch aus. Die Unterschlagung der eigenen diskursiven Kontingenz (d. h. der Tatsa‐ che, daß man selbst nur eine mögliche, keineswegs aber eine allgemeingül‐ tige Sprache spricht) geht zumeist Hand in Hand mit der Unterschlagung des genetischen Zusammenhangs: der Produktionsbedingungen des eigenen Diskurses in einer bestimmten sozio-linguistischen Situation, in der zahl‐ reiche Diskurse miteinander kommunizieren. In dieser Hinsicht ist auch Greimasʼ im siebenten Kapitel diskutierte strukturale Semiotik monologisch: Ihr Aussagesubjekt geht nicht der Frage nach, was mit der von Greimas kom‐ mentierten Erzählung Deux Amis geschieht, wenn sie von einem anderen theoretischen Diskurs, der aus anderen sozio-linguistischen Bedingungen hervorging, rekonstruiert wird. Der zweite Aspekt des Monologs, die Neigung des Aussagesubjekts, sich mit dem oder den thematisierten Referenten (z. B. „Literatur“, „politische Parteien“, „Gentechnik“) zu identifizieren, führt dazu, daß der Vorgang der Objektkonstruktion unterschlagen wird: Das dargestellte Objekt erscheint als das „wirkliche“ und „wahre“, nicht als mögliche Objektkonstruktion eines nur möglichen Diskurses. Dazu bemerkt Luis J. Prieto: „Die Erkenntnis einer materiellen Wirklich‐ keit ist ideologisch, wenn das Subjekt die Grenzen und die Identität des Objektes, zu dem diese Realität für es geworden ist, als in der Realität selbst befindlich betrachtet, d. h. wenn das Subjekt der Realität selbst die Idee zuspricht, die es aus ihr konstruiert hat.“ 63 Dieser ideologische Mechanismus, der Selbstkritik und Selbstreflexion ausschließt, schließt auch den Dialog aus: Monolog und Monosemiepostulat ergänzen einander. Wer Literaturwissenschaftlern die autoritäre Gesinnung, die diese mono‐ logischen und monosemierenden Verfahren voraussetzen, nicht zutraut, wird sowohl in marxistischen Publikationen als auch in Standardwerken der werkimmanenten Interpretation eines Besseren belehrt. Es sei hier lediglich an die im zweiten Kapitel von marxistisch-leninistischen Literaturwissen‐ schaftlern vorgebrachte These erinnert, der „revolutionäre Schriftsteller“ 2. Kritische Literaturwissenschaft: Ideologiekritik 417 64 M. Naumann (Hrsg.), Gesellschaft, Literatur, Lesen. Literaturrezeption in theoretischer Sicht, Berlin-Weimar, Aufbau-Verlag, 1973, S. 74. 65 W. Kayser, Das sprachliche Kunstwerk, Bern-München, Francke, 1948, S. 226. 66 Vf., Ideologie und Theorie, op. cit., S. 56. Vgl. die Definition des theoretischen Diskurses in Vf., Was ist Theorie? , op. cit., S. 62: „Die Theorie ist ein von ideologischen Interessen gelei‐ teter Diskurs, dessen Aussagesubjekt über seine Relevanzkriterien, seine semantisch-nar‐ rativen Verfahren und seine Aktantenmodelle im sozio-linguistischen Kontext nachdenkt und sie als partikulare Konstruktionen einer ambivalenten, vieldeutigen Wirklichkeit wolle, daß die literarische Lektüre den Leser „zur richtigen Wahrnehmung der Dinge nötigt“. 64 Doch nicht nur die Marxisten-Leninisten, auch Wolfgang Kayser erhebt als Vertreter der werkimmanenten Methode den Anspruch, literarische Texte „richtig“ interpretieren, d. h. monosemieren zu können. Davon zeugt u. a. sein Versuch, das werkimmanente Verfahren selbst monologisch zu dogmatisieren: „Aber keine nachträglich vom Autor gegebene oder in das Werk hineingelegte Deutung kann die Interpretation von dem einzig zuverlässigen Weg abbringen: das Werk selber auf seinen Gehalt an gestalt‐ gebenden Ideen zu untersuchen.“ 65 Anders als Kayser glaube ich nicht, daß das hier vorgeschlagene Konzept einer kritischen Literaturwissenschaft das „einzig zuverlässige“ ist, sondern schlage es lediglich als Erkenntnismodell vor, das unter bestimmten Kommunikationsbedingungen diskutiert werden kann. 3. Kritische Literaturwissenschaft: Theorie Zur Erforschung dieser Kommunikationsbedingungen soll die folgende Definition des theoretischen Diskurses beitragen, die aus der Ideologiekritik ableitbar ist: „Der theoretische Diskurs geht - wie der ideologische - aus einem oder aus mehreren Soziolekten hervor und drückt als Partialsystem kollektive Standpunkte und Interessen aus: Er ist stets ideologisch im allgemei‐ nen Sinn. Im Gegensatz zum ideologischen Aussagesubjekt (im restriktiven Sinn) stellt jedoch das theoretische Subjekt den Dualismus der ideologischen Rede dialektisch in Frage und reflektiert seinen sozialen und sprachlichen Standort sowie seine semantischen und syntaktischen Verfahren, die es in ihrer Kontingenz zum Gegenstand eines offenen Dialogs macht: Dadurch strebt es eine Überwindung der eigenen Partikularität durch dialogische Objektivierung und Distanzierung an.“ 66 Da hier die Frage nach den Bedingungen der IX. Kritische Literaturwissenschaft als Dialog 418 auffaßt, deren Erkenntnis den Dialog mit anderen Theorien voraussetzt.“ Demnach weist der theoretische Diskurs im Gegensatz zu ideologischen drei wesentliche Aspekte auf: Reflexivität, Konstruktivismus (als Nichtidentität mit der Wirklichkeit) und Dialogizität. 67 Siehe: A. Doz, D. Dubarle, Logique et dialectique, Paris, Larousse, 1972, S. 82. 68 Siehe: Vf., „‚Rezeption‘ und ‚Produktion‘ als ideologische Begriffe“, in: ders., Kritik der Literatursoziologie, Frankfurt, Suhrkamp, 1978. Reflexion und des Dialogs im Mittelpunkt steht, will ich meine Bemerkungen zum dialektischen Charakter der Theorie nur thesenhaft zusammenfassen. Die Behauptung, sozialwissenschaftliche Theorie müsse dialektisch sein, ist sicherlich nicht konsensfähig. Die Vertreter des Kritischen Rationalismus haben zwar in Übereinstimmung mit der Kritischen Theorie die Ideologie als dualistisches, manichäisches Schema kritisiert, den dialektischen Wider‐ spruch haben sie jedoch stets abgelehnt, weil er ihrer Ansicht nach mit den Grundsätzen der formalen Logik unvereinbar ist. Es ist hier nicht der Ort, das Verhältnis von Logik und Dialektik zu untersuchen, dem André Doz und Dominique Dubarle eine längere Studie gewidmet haben, in der sie keine prinzipielle Unvereinbarkeit feststellen. 67 Wichtiger scheint mir die Überlegung zu sein, daß der Theoretiker aus strukturellen Gründen und auf struktureller Ebene über eine Alternative zum ideologischen Dualismus nachdenken muß, wenn er vermeiden will, daß sich manichäische Strukturen in seinem eigenen Diskurs - wie in den Diskursen Lukácsʼ oder Jaußʼ - durchsetzen. Auf struktureller Ebene könnte aber Dialektik eine Antwort auf die ideologische Dichotomie sein. Denn geht man von der dialektischen Einheit der Gegensätze und der Ambivalenz aller Erscheinungen aus, dann wird man sich hüten, Realismus und Antirealismus, Produktion und Rezeption, Sozialismus und Faschismus sauber voneinander zu trennen. Eher wird man bestrebt sein, die phantastischen, surrealen Züge des Realismus (etwa in Balzacs La Fille aux yeux dʼor oder in Thomas Manns Doktor Faustus) zu erkennen, die Produktion des Autors als Lesevorgang und die Leserreaktion als neue Textproduktion zu beschreiben 68 und die faschistoiden Züge sozia‐ listischer Diktaturen aufzuzeigen. Ein solches Vorgehen hat wenig mit „Dekonstruktion“ zu tun; es stammt aus Hegels Dialektik und soll dem ideologischen Trennungsdenken ent‐ gegenwirken, das sich in einigen kritisch-rationalistischen Ansätzen als Dichotomisierung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses niederschlug. So be‐ schwert sich beispielsweise Walter Kindt in seinem weiter oben zitierten Diskussionsbeitrag, „daß Gedicht- und Analysesprache bei Jakobson und 3. Kritische Literaturwissenschaft: Theorie 419 69 W. Kindt, „Analyse des Aufsatzes ‚Les Chats de Charles Baudelaire‘ von Roman Jakobson und Claude Lévi-Strauss“, op. cit., S. 110. 70 Siehe: H. Albert, Aufklärung und Steuerung, Hamburg, Hoffmann und Campe, 1976, S. 175. 71 H. Broch, Die Schlafwandler, Frankfurt, Suhrkamp, 1978, S. 280-281. Lévi-Strauss nicht genau voneinander getrennt sind“. 69 Eine solche Tren‐ nung ist ebenso illusorisch wie die von Objektsprache und Metasprache, für die Hans Albert im Zusammenhang mit Max Webers Wertfreiheitspostulat plädiert. 70 Der Kritische Rationalismus vermag jedoch nicht - ebensowenig wie andere rationalistischen Soziolekte - die ideologische Dichotomie radikal zu kritisieren, weil er die Dialektik ablehnt und den Dualismus in seinen eigenen Diskursen laufend reproduziert. Im Gegensatz zu ihm geht die Kritische Theorie zwar von der Einheit der Gegensätze aus, distanziert sich aber von Hegel, indem sie bei der Ambivalenz verharrt und eine Aufhebung im Positiven ebenso ablehnt wie die von ihr ermöglichte Systemkonstruktion. (Siehe Kap. I.) Sie solidarisiert sich mit den Diskursen der Junghegelianer (Vischer, Stirner, Nietzsche), die eine offene, negative Dialektik antizipieren. Wie Adorno, der zeigt, daß in Stefan Georges Lyrik Ideologie und Ideologiekritik zusammenwirken, ohne eine Synthese oder kohärente Totalität im Sinne von Hegel zu bilden, faßt sie den literarischen Text als ambivalente und widersprüchliche Einheit auf, die trotz ihrer eindeutig feststellbaren Grundstrukturen offen und interpretierbar (re-konstruierbar) bleibt. In dieser Hinsicht stimmt sie mit zahlreichen kritischen Texten der modernen Literatur überein, die ebenfalls die Ambivalenz als kritische Kategorie gegen den ideologischen Dualismus ausspielen. Ich denke an die Romane Italo Svevos, Robert Musils und Hermann Brochs, in denen die Ambivalenz (als Einheit der Gegensätze und Doppelwertigkeit) zu einem kritischen Instrument wird, mit dessen Hilfe ideologische Denkmuster zerlegt werden. Im zweiten Roman von Brochs Trilogie Die Schlafwandler (1931/ 32) tritt der Anarchist Esch als Ideologe auf: „Auch tat es ihm wohl, daß hier ein Mensch war, der eindeutig und bestimmt sich darstellte, ein Mensch, der wußte, wo sein Rechts und sein Links, sein Gut und sein Böse zu finden ist.“ 71 Dieses manichäische Weltbild des Ideologen wird jedoch radikal in Frage gestellt, sobald es mit dem ambivalenten und ironischen Diskurs eines Edu‐ ard von Bertrand konfrontiert wird. Dieser Diskurs ist so bestechend, „daß IX. Kritische Literaturwissenschaft als Dialog 420 72 Ibid., S. 338-339. 73 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek, Rowohlt, 1952, S. 1603. 74 J. Ricardou, Pour une théorie du nouveau roman, Paris, Seuil, 1971, S. 262. Vom Roman sagt Ricardou: „Il nʼest plus représentation; il est auto-représentation.“ das Wagnis, seine ironische Miene nachzuahmen, fast zur Verpflichtung, fast zum Einverständnis werden wollte (…)“. 72 In einem vergleichbaren Kontext stoßen Ideologie und Ironie in Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften zusammen. Dabei wird deutlich, daß der ironische Diskurs, der den ideologischen aus den Angeln hebt, von der dialektischen Ambivalenz als Einheit der Gegensätze gespeist wird: „Ironie ist: einen Klerikalen so darstellen, daß neben ihm auch ein Bolschewik getroffen ist. Einen Trottel so darstellen, daß der Autor plötzlich fühlt: das bin ich ja zum Teil selbst.“ 73 Dieser Exkurs in die Romanliteratur soll zweierlei verdeutlichen: Im Gegensatz zu allen Rationalismen, die bestrebt sind, das theoretische Subjekt von seinen Objekten zu trennen, orientiert sich kritische Literaturwissen‐ schaft an der diskurskritischen Praxis der Literatur. Im Gegensatz zur Dekonstruktion (etwa der G. H. Hartmans: Kap. VIII. 4) lehnt sie es strikt ab, den eigenen Diskurs mit dem literarischen verschmelzen zu lassen. Die dialektische Beziehung zwischen Subjekt und Objekt faßt sie als eine Gelegenheit auf, bestimmte diskursive Verfahren der Literatur wie Ambivalenz, Ironie, Reflexion und Dialogizität in den theoretischen Text zu übersetzen. Es kann also durchaus von einer intertextuellen Symbiose zwischen Literatur und Theorie die Rede sein; diese führt jedoch nicht dazu, daß der theoretische Diskurs sich dem literarischen angleicht und auf seine sozialwissenschaftliche Ausrichtung verzichtet. Aus dem Musil-Zitat ist bereits ein zweites, zugleich ideologiekritisches und theoretisches Verfahren herauszulesen: die Selbstreflexion des Aussage‐ subjekts. Auch sie wird von den Romanen der Jahrhundertwende und vom französischen Nouveau Roman als Instrument der Kritik gegen die Ideologie gewendet. Nicht nur Romanautoren wie Musil, Broch und Svevo nehmen das Nachdenken über die Romanform in den Roman auf; auch die nouveaux romanciers Jean Ricardou und Michel Butor setzen sich für eine reflexive Schreibweise ein, die, wie Ricardou sagt, die Verfahren der literarischen Produktion thematisiert. 74 Und Butor schreibt in seinem Essay „Le Roman comme recherche“ (1955): „Der Roman strebt von sich aus seine eigene Erklärung an, und er soll es auch tun.“ Zugleich stellt er eine reflektierende 3. Kritische Literaturwissenschaft: Theorie 421 75 M. Butor, Répertoire I, Paris, Minuit, 1960, S. 11. 76 Siehe: Vf., LʼEcole de Francfort. Dialectique de la particularité, Paris, L’Harmattan, 2005 (2., erw. Aufl.), Kap. 1: „Libéralisme et Théorie critique“. und kritische Schreibweise den traditionellen Formen gegenüber, „die nicht über sich selbst nachdenken können, ohne sogleich ihre Unangemessenheit, ihre Lüge aufzudecken (…)“. 75 Im Anschluß an diese Kritik der Ideologie (im restriktiven Sinne) wird eine kritische Literaturwissenschaft nicht versuchen, die Grenzen zwischen Literatur und Theorie zu verwischen, sondern wird bestrebt sein, ihre eigenen gesellschaftlichen, ästhetischen und sprachlichen (diskursiven) Voraussetzungen zu reflektieren. Sie wird über ihre Entstehung in einer bestimmten Ideologie (im allgemeinen Sinn) nachdenken sowie über ihre ästhetischen Wertsetzungen und die Struktur ihrer Diskurse. Im Zusammenhang mit der Kritischen Theorie, von der ich auch in anderen Arbeiten ausgehe, um sie als Soziosemiotik oder Textsoziologie wei‐ terzuentwickeln, habe ich beispielsweise zu zeigen versucht, wie sehr diese Theorie aus der Problematik eines liberalen Individualismus hervorgeht, mit der sie sich kritisch auseinandersetzt. 76 Der Niedergang der liberalen und individualistischen Werte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und vor allem in der Zwischenkriegszeit bringt eine Theorie hervor, die diese Werte im dialektischen und materialistischen Kontext kritisch reflektiert. Ihre Reflexion bewegt sich im ästhetischen Bereich zwischen Hegels und Marxʼ historisch-sozialer Heteronomie und Kants Autonomiepostulat, das auf der „Begriffslosigkeit“ gründet: zwischen materialistischer Determi‐ niertheit (Vermittlung im Sinne von Hegel) und idealistischer, individualistischer Autonomie (im Sinne von Kant). Dies ist der Grund, weshalb hier im ersten Abschnitt im Anschluß an das vierte Kapitel die ästhetischen Prämissen der Kritischen Theorie (und meine eigenen) reflexiv rekonstruiert wurden: Es galt zu zeigen, wie Monosemie und Polysemie, Begrifflichkeit und Begriffslosigkeit in dieser Theorie ineinandergreifen und wie ihre Bezie‐ hungen aus dem besonderen Spannungsverhältnis zwischen Kantianismus und Marxismus bei Adorno, Benjamin und Horkheimer zu erklären sind. Sowohl im soziologischen als auch im philosophisch-ästhetischen Bereich handelt es sich mithin um eine theoretische Hybris, die Autonomie und He‐ teronomie („fait social“, Kap. IV), Individuum und Gesellschaft, Liberalismus und Marxismus zu einer ambivalenten Einheit verschmelzen läßt. Aus dieser Ambivalenz geht eine materialistische, aber negative Dialektik hervor, die IX. Kritische Literaturwissenschaft als Dialog 422 77 Siehe: Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt, Suhrkamp. 1970, S. 542 (editori‐ sches Nachwort). 78 Siehe: J. Habermas, „Replik auf Einwände“, in: ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt, Suhrkamp, 1984, S. 504: „Die postempirische Wissenschaftstheorie hat gute Gründe dafür beigebracht, daß der schwankende Boden des rational motivierten Einverständnisses unter Argumentationsteilnehmern unser einziges Fundament ist - in Fragen der Physik nicht weniger als in Fragen der Moral.“ sich an der Besonderheit des individuum ineffabile und an der kritischen Autonomie des Einzelnen orientiert. 77 Diese Ausrichtung auf die kritische Instanz des Individuums, die vor allem Adorno und Horkheimer betonen, erklärt, weshalb für Adorno der Essay, das „Modell“ und die parataktische Schreibweise wesentlich waren: Sie visieren das Besondere, das Unverwechselbare an, das im allgemeinen Begriff nicht aufgeht. Die individuelle Ausrichtung erklärt auch die Bedeu‐ tung der Reflexion und des Dialogs für diese Theorie: Beide Begriffe sind trotz ihrer wichtigen sozialen Dimension nur von kritischen Individuen zu verantworten. Beide sind - vor allem bei Habermas - aus der Erkennt‐ nis hervorgegangen, daß Theorien nicht durch kollektive Verwirklichung, durch Praxis im Sinne von Marx oder Lukács, zu prüfen sind. 78 Es handelt sich also um historisch kontingente Begriffe, die aus dem Soziolekt der Kritischen Theorie hervorgegangen sind. Reflexion hat, wie bereits angedeutet, nicht nur die Ideologie (im allge‐ meinen Sinne) und die philosophisch-ästhetische Position der Theorie zum Gegenstand. Sie bezieht sich zugleich auf die sprachlichen, diskursiven Verfahren, mit deren Hilfe das Aussagesubjekt die Wirklichkeit darstellt und erzählt, mit deren Hilfe es seine Objekte konstruiert. Werden diese Verfahren nicht reflektiert und in der Diskussion thematisiert, dann ist ein fruchtbarer Dialog zwischen theoretischen Positionen nicht möglich. Zu den wichtigsten dieser Verfahren gehören die Relevanzkriterien ei‐ nes theoretischen Diskurses, die darüber entscheiden, welche begrifflichen Selektionen durchgeführt werden und wie das Aussagesubjekt die ausge‐ wählten Begriffe auf semantischer Ebene klassifiziert und zu einem Isoto‐ piengefüge (Kap. VII. 3) mit einem Code bündelt. Weshalb werden in einem bestimmten Diskurs Begriffe wie „Wahrheitsgehalt“, „Emanzipation“ und „Herrschaft“ für relevant gehalten, in einem anderen Diskurs hingegen Begriffe wie „Testbarkeit“, „Nutzen“ oder „Wertfreiheit“? Weshalb werden in den meisten Theorien bestimmte Begriffe sorgfältig definiert, andere jedoch gleichsam an die theoretische Peripherie verbannt und undefiniert gelassen? 3. Kritische Literaturwissenschaft: Theorie 423 79 L. J. Prieto, Pertinence et pratique. Essai de sémiologie, Paris, Minuit, 1975, S. 148. 80 J. J. A. Mooy, „The Nature and Function of Literary Theories“, in: Poetics Today Nr. 1-2, 1979, S. 130. 81 L. J. Prieto, Pertinence et pratique, op. cit., S. 149. 82 Siehe: F. K. Stanzel, Theorie des Erzählens, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1979, Kap. 5. Wie wird das semantische Feld eingeteilt und wie kommen begriffliche Isotopien und Codes zustande? Entscheidend ist der Standpunkt, den das Aussagesubjekt eines Diskurses im Rahmen eines bestimmten Soziolekts einnimmt. Denn von diesem Stand‐ punkt aus werden die terminologischen Selektionen und Klassifikationen aufgrund bestimmter Relevanzkriterien durchgeführt. Die Relevanz (perti‐ nence, Prieto) erweist sich als mit diesem Standpunkt identisch. Zugleich ist sie gruppenspezifisch, denn sie gehört dem Soziolekt einer Gruppe an, „in der das, was man als ‚symbolische Macht‘ bezeichnen kann, bestimmte Standpunkte mit besonderer Legitimität ausstattet“. 79 J. J. A. Mooy hat durchaus recht, wenn er im Anschluß an Mario Bunge litera‐ turwissenschaftliche Theorien als „Standpunkttheorien“, „point-of-view-the‐ ories“ bezeichnet: „Ich meine nun, daß die meisten Literaturtheorien in wesentlichen Aspekten Standpunkttheorien sind. In dieser Hinsicht sind sie bestimmten theoretischen Ansätzen in den Sozialwissenschaften ähnlich. Noch interessanter ist vielleicht die Tatsache, daß sie vielen Kunst-, Religions- und Wissenschaftstheorien ähnlich sind.“ 80 Das ist sicherlich der Fall, nur halte ich es mit Prieto für notwendig, den zugleich gesellschaftlichen und sprachlichen Charakter des Standpunktes (d. h. der Relevanz) zu reflektieren und der Tatsache Rechnung zu tragen, „daß die Relevanz durch ein Subjekt herbeigeführt wird, das stets ein gesellschaftliches Subjekt ist“, und „daß es keine gesellschaftlich ‚neutrale‘ Erkenntnis der materiellen Wirklichkeit geben kann“. 81 Dies bedeutet konkret, daß nicht nur das lexikalische Repertoire (die Begriffe) und die semantischen Grundlagen des Diskurses (Relevanzkrite‐ rien, Klassifikationen, Codes) auf kollektivem Wege, d. h. im Rahmen eines Soziolekts, zustande kommen, sondern auch die narrativen Strukturen des Diskurses. Es ist ein Gemeinplatz der Narrativik von Genette bis Stanzel, daß der Standpunkt des Erzählers als Erzählerperspektive entscheidend ist. 82 Dieser Standpunkt ist auch für die theoretischen Erzählungen der Soziologie und der Literaturwissenschaft wesentlich. IX. Kritische Literaturwissenschaft als Dialog 424 83 Zur Analyse des Weberschen Diskurses siehe: Vf., Ideologie und Theorie, op. cit., Kap. 4. 84 Vgl. K. Bayertz, Wissenschaftstheorie und Paradigmabegriff, Stuttgart, Metzler, 1981, S. 109-111. 85 K. R. Popper, Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen, Bern-München, Francke, 1958, S. 272. Denn es macht sehr viel aus, ob ich mit Max Weber die Entwicklung der europäischen Gesellschaft erzähle, indem ich von semantischen Gegensät‐ zen wie Charisma/ Bürokratie ausgehe, oder ob ich sie aus marxistischer Sicht als eine Auseinandersetzung zwischen Bürgertum und Proletariat darstelle. In beiden Fällen schlagen sich die semantischen Entscheidungen im Bereich der Aktanten und der Erzählstruktur nieder: Während Weber seine Sozial‐ geschichte mit Hilfe von individuellen Aktanten erzählt („charismatische In‐ dividuen“), erzählt sie Marx mit Hilfe von kollektiven Aktanten. Es kommen also aufgrund von semantischen und narrativen Verfahren zwei heterogene Objektkonstruktionen („gesellschaftliche Entwicklung“) zustande, die nur schwer zu vergleichen sind. 83 Auch in der Literaturwissenschaft zeigt sich, daß z. B. Hans Robert Jaußʼ Darstellung der „drei großen Paradigmen“ dieser Wissenschaft in einer bestimmten Erzählerperspektive entstanden ist, die im liberalen Soziolekt der Rezeptionsästhetik wurzelt. Die Tatsache, daß Jauß die Partikularität und Kontingenz seiner Erzählung und seines Soziolekts nicht reflektiert, gehört zu den ideologischen Aspekten (im restriktiven Sinne) seines Diskurses. 84 An dieser Stelle wird deutlich, daß ein Dialog in den Sozialwissenschaften und in der Literaturwissenschaft eine reflexive Einstellung zum eigenen Standpunkt (Soziolekt) und zu den eigenen diskursiven Verfahren voraus‐ setzt. Denn nur wenn der Standpunkt und die semantischen Selektionen und Klassifikationen sowie die Erzählstrukturen (Aktantenmodelle) reflektiert werden, kann eine Kommunikationssituation entstehen, deren Teilnehmer wissen, „woran sie sind“. Solange die rationalistische und naturalistische Il‐ lusion herrscht, daß sich atomisierte Individuen als vernunftbegabte Wesen, die den Gesetzen der formalen Logik folgen, mühelos verständigen können, wenn sie nur guten Willens sind, ist der theoretische Dialog zum Scheitern verurteilt. Rationalistisch argumentiert Karl R. Popper, wenn er in seiner Kritik an der Wissenssoziologie Mannheims behauptet, „einige Sozialwissenschaftler (seien) unfähig und sogar unwillens, eine gemeinsame Sprache zu spre‐ chen“. 85 Wer Popper für einen der bedeutendsten Theoretiker unserer Zeit hält, wird sich mit Recht über soviel Naivität im soziologischen Bereich 3. Kritische Literaturwissenschaft: Theorie 425 86 K. R. Popper, „Normal Science and its Dangers“, op. cit., S. 56. 87 S. J. Schmidt, Literaturwissenschaft als argumentierende Wissenschaft, op. cit., S. 37. wundern. Er sollte jedoch bedenken, daß es sich in diesem Fall nicht so sehr um eine zufallsbedingte Naivität handelt, sondern um die konsequente Anwendung einer liberal-individualistischen Ideologie (im allgemeinen Sinne), die den kollektiven Faktor systematisch ausblendet. Auch auf sprachlicher Ebene argumentiert Popper individualistisch und rationalistisch und weigert sich, ideologische oder gruppenspezifische Fak‐ toren (Soziolekte) anzuerkennen. In seinem kritischen Kommentar zu Tho‐ mas S. Kuhns The Structure of Scientific Revolutions (1962) versucht er, diese Faktoren, die er als „Rahmenbedingungen“ bezeichnet, als Fiktionen des Irrationalismus herunterzuspielen: „Es ist bloß ein Dogma - ein gefährliches Dogma -‚ daß die verschiedenen Rahmenbedingungen Sprachen gleichen, die nicht ineinander zu übersetzen sind. Tatsache ist, daß grundverschiedene Sprachen (wie Englisch, Hopi oder Chinesisch) nicht unübersetzbar sind, und daß es zahlreiche Hopi oder Chinesen gibt, die gelernt haben, die englische Sprache sehr gut zu beherrschen.“ 86 Popper hat recht, er übersieht aber, daß natürliche Sprachen wie Englisch, Chinesisch oder Hopi als primäre modellierende Systeme (Lotman) nicht mit den sekundären modellierenden Systemen der ideologischen und theore‐ tischen Soziolekte zu vergleichen sind. Während eine natürliche Sprache wie das Englische ideologisch neutral ist, weil in ihr prinzipiell alle Ideolo‐ gien ausdrückbar sind, ist Poppers Kritischer Rationalismus als sekundäres modellierendes System zugleich Ideologie und Soziolekt: ein partikularer Gruppenstandpunkt und ein besonderer kollektiver Sprachgebrauch, in dessen Rahmen andere ideologische Standpunkte nicht artikuliert werden können, weil sie andere Relevanzkriterien, andere semantische Codes und andere narrative Strukturen involvieren. Über diese Tatsache setzt sich nicht nur Popper, sondern auch Siegfried J. Schmidt hinweg, der in den 70er Jahren die Literaturwissenschaft kri‐ tisch-rationalistisch fundieren wollte und sich später eine Zeitlang auch am Radikalen Konstruktivismus (Maturanas, Varelas, Glasersfelds) orientierte. In Übereinstimmung mit Popper hält er am Begriff der Intersubjektivität fest und an dem Gedanken, daß sozialwissenschaftliche und literaturwis‐ senschaftliche Aussagen intersubjektiv (d. h. inter-individuell) überprüfbar, kritisierbar sind, „wobei die Objektivität in der intersubjektiven Prüfbarkeit von Aussagen besteht“. 87 IX. Kritische Literaturwissenschaft als Dialog 426 88 S. J. Schmidt, „On the Construction of Fiction and the Invention of Facts“, op. cit., S. 322. 89 Siehe: K. Bayertz, Wissenschaftstheorie und Paradigmabegriff, op. cit., S. 87-93; Vf., Ideologie und Theorie, op. cit., Kap. 12. Diese Behauptung aus dem Jahre 1975 ergänzt ein Aufsatz aus dem Jahre 1989, in dem Schmidt im Zusammenhang mit dem Radikalen Kon‐ struktivismus erklärt: „Indem der Begriff der ‚ontologischen Objektivität‘ in den der ‚interaktiven Intersubjektivität‘ umgewandelt wird, verläßt das erkenntnistheoretische Interesse die ‚wirkliche Welt‘ und konzentriert sich auf Normen und Kriterien für Konsensualität und Intersubjektivität in einer sozialen Gruppe oder in der Gesellschaft als ganzer sowie auf die Sprache, mit deren Hilfe Beobachter Ereignisse und Handlungen in ihren konsensuellen Bereichen behandeln.“ 88 Diese Argumentation ist deshalb etwas konfus, weil sie Intersubjektivität zunächst auf „eine soziale Gruppe“ einzuschränken scheint, sie dann aber auf die „Gesellschaft als ganze“ ausdehnt. Undurchdacht bleibt hier das Verhältnis zwischen natürlicher Sprache und Soziolekt, zwischen primären und sekundären modellierenden Systemen, zwischen Theorie und Ideologie. Im Gegensatz dazu glaube ich, daß Intersubjektivität als inter-individuelle Überprüfung von Aussagen nur innerhalb eines Soziolekts unproblematisch ist: also intradiskursiv, d.h. innerhalb einer diskursiven Formation. Innerhalb dieser Formation hat sie jedoch nur einen eingeschränkten Wert, da es jederzeit möglich ist, daß durch intersubjektive Überprüfungen nur die Vorurteile bestätigt werden, die sich im Laufe der Zeit aus institutionellen und ideologischen Gründen innerhalb eines Kollektivs (eines Soziolekts) durchgesetzt haben. Weitaus anregender ist für mich deshalb eine Überprüfung von Aussagen, die zwischen heterogenen Gruppen, Soziolekten und ihren Diskursen stattfindet und die ich als interdiskursive Überprüfung oder als interdiskursiven Dialog bezeichne. Es kommt darauf an, den kollektiven Narzißmus, der aus jedem So‐ ziolekt spricht und die Gruppenmitglieder in seinen Bann schlägt, dialogisch zu durchbrechen und einen genuinen Dialog zu inszenieren, der nicht ein verkappter Monolog (d. h. Selbstgespräch innerhalb einer Gruppe) ist. Ein Dialog zwischen Gruppen und Gruppensprachen ist jedoch ein sehr komplexes Unterfangen, auf das ich hier nicht in allen Einzelheiten eingehen kann. 89 Schon Thomas S. Kuhn hat gesehen, daß Gruppenstand‐ punkte (in seinem Fall Paradigmen der Naturwissenschaften) im Extremfall inkommensurabel sein können, denn: „Jede Gruppe verwendet ihr eigenes 3. Kritische Literaturwissenschaft: Theorie 427 90 Th. S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt, Suhrkamp, 1976, S. 106. 91 G. Pasternack, Theoriebildung in der Literaturwissenschaft, München, Fink, 1975, S. 153. 92 J. Link, Elementare Literatur und generative Diskursanalyse, München, Fink, 1983, S. 168. Paradigma zur Verteidigung eben dieses Paradigmas.“ 90 Analog dazu ließe sich von den Soziolekten der Sozialwissenschaften sagen: Jede Gruppe verwendet das lexikalische Repertoire, die semantischen und syntaktischen Verfahren ihres Soziolekts, um diesen Soziolekt zu verteidigen. Das klas‐ sische Beispiel stammt wohl aus dem Bereich der Psychoanalyse, deren Vertreter die Kritiken dieser Methode psychoanalytisch deuten und zu entkräften suchen. Trotz dieser Schwierigkeiten glaube ich nicht, daß die Soziolekte der Sozi‐ alwissenschaften (Psychoanalyse, Kritischer Rationalismus, Systemtheorie) inkommensurabel sind. Sie sind es deshalb nicht, weil sie als sekundäre modellierende Systeme aus dem primären System der natürlichen Sprache hervorgehen. Aus diesem Grund können ihre Begriffe und Aussagen mit Hilfe der natürlichen Sprache als Metasprache zumindest umschrieben und erklärt werden. Es ist jedoch klar, daß sie nicht einfach in die natürliche Sprache über‐ setzbar sind: Wären sie es, so büßten sie ihre Funktion ein; die theoretische Terminologie wäre überflüssig und verkäme zum Jargon. Insofern hat G. Pasternack recht, wenn er kritisch bemerkt: „Hermeneutisch-transzenden‐ tale, sozio-historische und empirische Theorien werden in gleicher Weise, nämlich vortheoretisch unter Rückgriff auf die umgangssprachliche Über‐ setzung des theoriespezifischen Begriffsapparates der jeweiligen Theorien angeeignet.“ 91 Eine solche spontane oder naive Übersetzung theoretischer Termini in die der Umgangssprache ist zu vermeiden, wenn man den spezifischen („modellierenden“) Charakter der theoretischen Soziolekte berücksichtigt sowie ihre spezifische Produktion in einer bestimmten sprachlichen (d. h. wissenschaftlichen) Situation. Zur Produktion literarischer Texte bemerkt Jürgen Link: „Ein generatives Modell müßte nun versuchen, das System der Produktionsregeln zu konstru‐ ieren.“ 92 Auch das System der Produktionsregeln theoretischer Diskurse (lexikalisches Repertoire, semantische, narrative Verfahren) sollte zunächst in seinen Eigengesetzlichkeiten rekonstruiert werden, bevor es auf andere Systeme oder auf die Umgangssprache bezogen wird. IX. Kritische Literaturwissenschaft als Dialog 428 93 K.-O. Apel, Transformation der Philosophie, Bd. 2, Frankfurt, Suhrkamp, 1976, S. 341. 94 A. Balog, Rekonstruktion von Handlungen. Alltagssituationen und soziologische Begriffs‐ bildung, Opladen, Westdeutscher Verlag, 1989, S. 11. 95 Siehe Anm. 54. Beziehungen zwischen den Soziolekten untereinander und zwischen Soziolekt und Umgangssprache sind jedoch herstellbar, so daß die Umgangs‐ sprache mit Karl-Otto Apel als die „logische Form der Universalsprache“ 93 zu betrachten ist. Apels reichlich idealistisch formulierte These wird von der neuesten soziologischen Forschung gestützt, die eine Homologie zwischen soziologischer Begriffsbildung und den Handlungen des Alltags aufzeigt. Dazu bemerkt Andreas Balog: „Soziologie ist insofern eine ‚Wirklich‐ keitswissenschaft‘‚ als ihre Grundbegriffe nicht auf einer vom Alltag der Gesellschaftsangehörigen abgehobenen Ebene konstruiert werden, sondern vielmehr Interpretationsweisen bezeichnen, die den Gesellschaftsangehö‐ rigen selbst vertraut sind und von ihnen zur Deutung von Handlungen angewendet werden.“ 94 Mag sein, daß diese Darstellung die Eigengesetzlich‐ keit theoretischer Soziolekte nicht berücksichtigt; sie zeigt jedoch, daß theoretische Sprachen nicht vom Alltag als Interaktions- und Sprachsystem abzukoppeln sind. Somit erscheint der interdiskursive Dialog als in das Sprechen und Handeln des sozialen Alltags eingebettet. Gegenstand und Ziel dieses Dialogs ist die gemeinsame theoretische Ob‐ jektkonstruktion, die ich in Ideologie und Theorie ins Auge faßte, als ich den interdiskursiven Status eines Theorems untersuchte, das einer Teildefinition der Ideologie gleichkommt. Es stellte sich nämlich heraus, daß sowohl in der Semiotik (U. Eco) als auch in den Soziolekten des Kritischen Rationalis‐ mus und der Kritischen Theorie - also in ideologisch und fachsprachlich heterogenen theoretischen Sprachen - die Ideologie als dualistisches Schema definiert wird. 95 Wesentlich ist nicht das Theorem als solches, sondern die Tatsache, daß es in heterogenen diskursiven Zusammenhängen entstanden ist und daß es die Möglichkeit bietet, es zu erweitern, bis eine komplexe Definition der Ideologie vorliegt und/ oder bis die Grenzen des interdiskursiven Einverneh‐ mens erreicht sind. So wären beispielsweise kritische Rationalisten u. U. noch bereit, die Ideologie als „unreflektierten (naturalistischen) Diskurs“ zu definieren, wobei ein zweites interdiskursives Theorem entstünde. Es ist jedoch sehr unwahrscheinlich, daß sie mit den Anhängern der Kritischen Theorie die Ideologie als „undialektischen Diskurs“ bezeichnen würden, der 3. Kritische Literaturwissenschaft: Theorie 429 96 R. Haller, Facta und Ficta. Studien zu ästhetischen Grundlagenfragen, Stuttgart, Reclam, 1986, S. 49. 97 Siehe z. B. H. R. Maturana, „Kognition“, in: S. J. Schmidt (Hrsg.), Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, Frankfurt, Suhrkamp, 1987, S. 108: „Wahrheit und Falschheit gibt es also nur im Referenzbereich, der von einem Beobachter festgelegt wird.“ die „Einheit der Gegensätze“ nicht duldet. Hier stößt der Dialog an seine ideologische Grenze: an die Grenze des Soziolekts. Auch in der Literaturwissenschaft könnte der Gedanke an eine gemein‐ same Objektkonstruktion im Sinne Prietos und des Radikalen Konstrukti‐ vismus zum Leitgedanken werden: Denn ein literarischer Text ist nicht ein Faktum, das sich allen gleich darstellt, sondern ein Objekt, das von jeder Wissenschaftlergruppe aus fachlichen und ideologischen Gründen anders (re-)konstruiert wird. Insofern ist eine jede Textbeschreibung eine Interpre‐ tation, weil sie den Gegenstand auf eine nur mögliche Art rekonstruiert; andere Rekonstruktionen in anderen Soziolekten sind immer möglich. Die entscheidende Frage lautet, ob diese Rekonstruktionen etwas mit der Wirklichkeit zu tun haben oder ob sie Fiktionen über Fiktionen sind. „Aber worum es eigentlich geht“, bemerkt Rudolf Haller in seinem Buch über Facta und Ficta (1986), „ist ja die Frage, ob nicht-existierende Gegenstände, wie Ficta, jene Eigenschaften haben können, die ihnen zugesprochen werden. Und wenn wir dies zugeben müssen, dann bleibt die Frage, wie sie mit jenen zusammenhängen, die wir gewöhnlich Tatsachen nennen.“ 96 Die Frage ist also, wie die „Fiktionen“ der Theorie, der Literaturwissenschaft, mit den „Tatsachen“ zusammenhängen. Hier möchte ich den Vertretern des Radikalen Konstruktivismus folgen, wenn sie die These aufstellen, daß Theoretiker sich den Tatsachen, den Gegenständen nur dialogisch nähern können, indem sie Aussagen und Objektkonstruktionen aufeinander beziehen. 97 Nur auf diesem Wege ist zu erfahren, meine ich, wie das beschaffen ist, was Coquet als „sens premier ou linguistique“ („die grundlegende linguistische Bedeutung“) bezeichnet (s. o.). Die sprachlichen Strukturen von Baudelaires Les Chats können ange‐ sichts rivalisierender Metasprachen nur in einer dialogischen Dialektik von Konsens und Dissens zwischen heterogenen Diskursen und Soziolekten be‐ schrieben werden. Sicherlich kann dabei der hypothetische Leitgedanke an eine linguistische (phonetische, semantische, syntaktische) Grundstruktur eine wichtige Rolle spielen; aber diese Struktur selbst ist nicht monologisch definierbar, sondern nur dialogisch zu ermitteln. IX. Kritische Literaturwissenschaft als Dialog 430 98 E. von Glasersfeld, „Einführung in den Radikalen Konstruktivismus“, in: P. Watzlawick (Hrsg.), Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Beiträge zum Konstruktivismus, München, Piper, 1981, S. 25. 99 J. Richards, E. von Glasersfeld, „Die Kontrolle von Wahrnehmung und die Konstruktion von Realität“, in: S. J. Schmidt (Hrsg.), Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, op. cit., S. 214. 100 Siehe Th. W. Adorno, „Kleine Proust-Kommentare“, in: ders., Noten zur Literatur II, Frankfurt, Suhrkamp, 1961, S. 95-96; M. Zéraffa, Personne et personnage. Le romanesque des années 1920 aux années 1950, Paris, Klincksieck, 1971, S. 469- 470. 101 M. Grimaud, „La Rhétorique du rêve. Swann et la psychanalyse“, in: Poétique Nr. 33, Februar, 1978, S. 98. Der hier zugrundeliegende Dialogbegriff geht also nicht nur auf Bachtin und die Kritische Theorie (Adorno) zurück, sondern auch auf den Radikalen Konstruktivismus, dessen Vertreter von der These ausgehen, daß wir Objekte nur als von uns und von anderen konstruierte wahrnehmen können, nicht jedoch als „Dinge an sich“ im Sinne von Kant. Daher ist „Objektivität“ nur dialogisch erreichbar und nicht durch einen Vergleich mit dem Gegenstand. Ernst von Glasersfeld stellt dieses Problem anschaulich dar, wenn er bemerkt: „(…) Was immer wir machen, wir können unsere Wahrnehmung von dem Apfel nur mit anderen Wahrnehmungen vergleichen, niemals aber mit dem Apfel selbst, so wie er wäre, bevor wir ihn wahrnehmen.“ 98 Mit Recht ergänzt er an anderer Stelle: „Daher gibt es keine Ebene, die als organisationsfreie Wahrnehmung bezeichnet werden könnte. Es gibt keine Trennung von Wahrnehmung und Interpretation.“ 99 Es ist allerdings wichtig, darauf hinzuweisen, daß Wahrnehmung nicht nur biologisch und psychologisch (also individuell), sondern auch sozial, d. h. durch kollektive sprachliche Strukturen, durch Diskurse und Soziolekte vermittelt ist (s. o.). Der Dialog findet daher nicht zwischen isolierten Individuen, sondern auf interdiskursiver Ebene zwischen Soziolekten statt. Auf dieser Ebene könnte beispielsweise der Zerfall der narrativen Syntax in Marcel Prousts A la recherche du temps perdu untersucht werden: Dieser Zerfallsprozeß wird von verschiedenen Autoren im Rahmen von heteroge‐ nen theoretischen Diskursen beschrieben. Während Adorno und Michel Zéraffa 100 Prousts Kritik an der hierarchischen, linearen und anekdotischen Erzählung in einem soziologischen Zusammenhang darstellen, zeigt Michel Grimaud in einem psychoanalytischen Kontext, wie bei Proust syntaktische und narrative Verfahren von Traumassoziationen abgelöst werden: „Eine onomastische Studie des Namens der Mme de Cambremer zeigt, daß das Proustsche Werk in seiner Gesamtheit wie ein Traum funktioniert.“ 101 3. Kritische Literaturwissenschaft: Theorie 431 102 G. Deleuze, Proust et les signes, Paris, PUF, 1970, S. 141-142. 103 G. Poulet, LʼEspace proustien, Paris, Gallimard, 1963, S. 134-135. Sollte jemand einwenden, daß die Diskurse der Psychoanalyse und der Kritischen Theorie (Adorno) ideologisch nicht wirklich heterogen sind, da ja Adorno, Horkheimer und Habermas mitunter psychoanalytisch argu‐ mentieren, so könnte man die semiotische Studie von Gilles Deleuze einbe‐ ziehen, die ebenfalls zeigt, daß Prousts Schreibweise den hierarchischen und narrativen Aufbau des Romans in Frage stellt. 102 Georges Poulet läßt schließlich die phänomenologischen Aspekte des Zerfalls der Erzählstruktur erkennen, indem er zeigt, wie Prousts Roman die narrative Chronologie durch räumliches Sehen, Zeit durch Raum ersetzt. 103 Es ist hier nicht der Ort, einen Dialog zu konstruieren, der nie stattge‐ funden hat. Es scheint mir aber wesentlich zu sein, zwischen intradiskur‐ siven und interdiskursiven Theoremen (der Dualismus der Ideologie, der Zerfall der narrativen Syntax bei Proust) zu unterscheiden: nicht weil die einen „wahr“ und die anderen „unwahr“ sind, sondern weil interdiskursive Erkenntnisse einen genuin dialogischen Status haben, während intradis‐ kursive („intersubjektive“) Behauptungen häufig nur kollektive Vorurteile artikulieren. In der Literaturwissenschaft und in anderen Sozialwissenschaften wird sich immer häufiger zeigen, daß Erkenntnis nicht mehr monologisch durch die Schaffung neuer hermetischer Soziolekte zu haben ist, sondern nur dialogisch als Vermittlung zwischen heterogenen Diskursen, deren Dissens ebenso wichtig ist wie ihr Konsens. Denn Dissens opponiert dem Monolog und bricht die Vorurteile auf, die sich in den einzelnen Gruppensprachen immer wieder bilden. Davon soll im letzten Kapitel noch einmal die Rede sein. Der Dialog lebt von Dissens und dissensbedingter Selbstreflexion - und von der Selbstironie der Gesprächspartner. IX. Kritische Literaturwissenschaft als Dialog 432 X. Ästhetik der Soziologie / Soziologie der Ästhetik: Von Luhmann zu Bourdieu In allen Kapiteln dieses Buches stand die Rekonstruktion der philoso‐ phisch-ästhetischen Grundlagen der Literaturwissenschaft im Mittelpunkt. Dabei hat sich gezeigt, daß auch die von Marx, Lukács und Goldmann entwickelten Literatursoziologien von ästhetischen Prämissen ausgehen, die als hegelianisch bezeichnet werden können: In allen drei Fällen ging es darum, Literatur und Kunst ins Begriffliche zu übertragen. Diese Vorgehensweise wird von kantianischen und nietzscheanischen Literaturtheorien im Sinne von Jauß und Barthes in Frage gestellt, welche die Vieldeutigkeit („ohne Begriff “, Kant) des Kunstwerks und seine diver‐ gierenden Rezeptionsweisen betonen. Im Dialog der Theorien treten nicht nur deren Lücken und Schwächen zutage, sondern auch die zahlreichen Möglichkeiten, Literatur und Kunst als „ästhetische Objekte“ im Sinne von Mukařovský zu konstruieren. Die dialogische Betrachtungsweise wird in diesem Schlußkapitel insofern fortgesetzt und weiterentwickelt, als der hier inszenierte Dialog zwischen Niklas Luhmann und Pierre Bourdieu nicht nur Stärken und Schwächen der beiden soziologischen Theorien sichtbar macht, sondern auch eine neue Perspektive eröffnet: Den beiden Soziologen geht es nicht primär um die Deutung oder Rezeption einzelner Texte, sondern um die Frage nach der Entstehung der Kunst als eines autonomen Bereichs, der sich parallel zu Wissenschaft, Recht und Politik ausdifferenziert und eigenen Normen und Gesetzen gehorcht (Abschn. I. 1, II. 4). Komplementär zu dieser Frage verhält sich die Frage nach der Entstehung ästhetischer Theorien im historischen und gesellschaftlichen Kontext. Vor allem Bourdieu wendet sich gegen die unreflektierte Übernahme einer Autonomieästhetik, die - etwa bei Roman Jakobson - stillschweigend davon ausgeht, daß Literatur als besonderer Sprachgebrauch auf sich selbst verweist und um ihrer selbst willen gelesen werden will. Bourdieu möchte wissen, unter welchen sozialen Bedingungen diese Einstellung zur Sprach‐ kunst entstanden ist und welche Funktion sie im „literarischen Feld“ erfüllt (Abschn. II. 5). Auch Luhmann holt wesentlich weiter aus als die in diesem Buch kom‐ mentierten Literaturwissenschaftler (von Lukács bis Barthes und Derrida), wenn er zeigt, wie sich im Laufe des sozialen Differenzierungsprozesses ein autonomes Kunstsystem mit seinen Ästhetiken und Poetiken heraus‐ kristallisiert und gegen andere soziale Systeme wie Wirtschaft, Politik oder Wissenschaft abgrenzt. Im Vergleich zu den literaturwissenschaftlichen Theorien bewegen sich Luhmanns und Bourdieus Argumentationen auf einer soziologischen Meta‐ ebene, von der aus die deutenden Diskurse über Literatur mitsamt ihren Ästhetiken und Poetiken ihrerseits gedeutet werden. So wird Ästhetik selbst zum Gegenstand der Soziologie. Sie wird nicht mehr als unreflektierte, gegebene Konstante, sondern als historische Variable aufgefaßt. In diesem Licht erschien sie schon im fünften Kapitel (V. 3), wo von Mukařovskýs „avantgardistischer Ästhetik“ die Rede war, die sich von der klassizistischen Ästhetik Boileaus oder Chapelains dadurch unterscheidet, daß sie das Kunstschaffen nicht der herrschenden Norm (etwa dem „klassi‐ schen Ideal“) unterwirft, sondern sich vom avantgardistischen Prinzip der Normverletzung leiten läßt. Die soziologische Frage lautet: Wie kommt es zu diesem Gesinnungswandel der ästhetischen Norm gegenüber, die stets auch soziale Norm ist? Es geht somit um eine soziologische Erklärung der Ästhetik und ihrer von Einschnitten und Brüchen geprägten Entwicklung im Prozeß der sozialen Differenzierung. Diesem soziologischen Anspruch, Literatur, Kunst und Ästhetik im historischen und gesellschaftlichen Kontext zu erklären, kann jedoch Ästhe‐ tik mit dem Anspruch begegnen, die ästhetischen Grundlagen auch der umfassendsten literatur- und kunstsoziologischen Theorien rekonstruieren zu können. Schon ein Vergleich von Luhmanns systemischer und Bourdieus feldorientierter Soziologie läßt das Wirken zweier Ästhetiken erkennen, die einander sowohl ergänzen als auch widersprechen (Abschn. II. 4). Während Luhmann die Entwicklung der Kunst vorwiegend im Rahmen der sozialen Differenzierung darstellt und ihre wachsende Autonomie als Entstehung eines autonomen, „autopoietischen Systems“ beobachtet, das die Elemente, aus denen es besteht, selbst produziert, zeigt Bourdieu, wie sich das künstlerische Feld - ähnlich wie das wissenschaftliche - gegen heteronome Einwirkungen (vor allem seitens der Wirtschaft) zur Wehr setzt. Während Luhmann die Autonomie des Kunstsystems und aller anderen Subsysteme der Gesellschaft im Kontext des für ihn relevanten Gegensatzes System/ Umwelt voraussetzt, unterscheidet Bourdieu Autonomiegrade. Er X. Ästhetik der Soziologie / Soziologie der Ästhetik: Von Luhmann zu Bourdieu 434 zeigt, wie etwa die Soziologie im Gegensatz zur Mathematik heteronomen Einwirkungen seitens des Journalismus und der Wirtschaft ausgesetzt ist (Abschn. II. 4). Auch das Funktionieren des künstlerischen Feldes unterscheidet sich wesentlich vom Funktionieren des Luhmannschen Kunstsystems durch die Allgegenwart des Machtfaktors. Indem Bourdieu nicht nur den Differenzierungsprozeß beobachtet, sondern auch die Machtkämpfe zwischen oft politisch motivierten Künstlern und Künstlergruppen, die das „Feld“ laufend verändern, trägt er heteronomen Faktoren Rechnung. Dies hat zur Folge, daß seine Ästhetik realistischer wirkt als die Luh‐ manns, weil sie den Kampf um das Feld - um die legitime ästhetische Norm oder Kunstform - sichtbar macht und zugleich das Problem der Heteronomie anschneidet, indem sie Machtansprüche wirtschaftlicher und politischer Art in den Vordergrund stellt. Dabei verschwindet die Frage nach den kritischen Komponenten der Kunst und nach ihrem „Wahrheitsgehalt“ im Sinne von Adorno (vgl. Abschn. 7) aus dem Blickfeld. Dieses Oszillieren der Kunst- und Literatursoziologie zwischen ästhetischer Autonomie und Heteronomie ist eines der zentralen Themen dieses Kapitels. Ästhetik der Soziologie oder Soziologie der Ästhetik? Auch dies ist eine Machtfrage, da ja entschieden werden soll, wer wen darstellt, wer wen umfaßt. Dabei ist der darstellende Metadiskurs stets im Vorteil, weil er alle Relevanzkriterien und Selektionen bestimmt und somit entscheiden kann, welche Elemente (Schwachstellen) des dargestellten Diskurses er sich aussucht und welche er als „nebensächlich“ ausläßt. Da es in der Theorie nicht um Machtansprüche, sondern um Erkenntnis‐ gewinn gehen sollte, wird im Folgenden ein dialogisches Gleichgewicht zwi‐ schen Ästhetik und Soziologie, Bourdieu und Luhmann angestrebt. Es soll gezeigt werden, wie Kunst und Ästhetik im sozialen Differenzierungsprozeß entstehen und wie die Theorien der beiden Soziologen einander korrigieren und ergänzen. Im vierten Abschnitt soll die dialogische Konfrontation auf Adorno und Bourdieu ausgedehnt werden. Dabei werden einige Themen aus dem vierten Kapitel (IV. 4) wieder aufgegriffen. Die Bedeutung der Dialogizität (im Sinne von Bachtin) für die Darstellung wissenschaftlicher Theorien kann noch am ehesten durch Hinweise auf monologische Tendenzen im wissenschaftlichen Bereich plausibel gemacht werden. Die folgende Textpassage aus einem Vortrag von Pierre Bourdieu mag veranschaulichen, was gemeint ist. Es geht um den „Neofunktiona‐ X. Ästhetik der Soziologie / Soziologie der Ästhetik: Von Luhmann zu Bourdieu 435 1 P. Bourdieu, Über den Staat. Vorlesungen am Collège de France 1989-1992, Berlin, Suhrkamp (2014), 2017, S. 141. 2 N. Luhmann, Schriften zu Kunst und Gesellschaft (Hrsg. N. Werber), Frankfurt, Suhr‐ kamp, 2008, S. 390. 3 N. Luhmann, Die Moral der Gesellschaft (Hrsg. D. Horster), Frankfurt, Suhrkamp, 2016 (4. Aufl.), S. 88. lismus“ und dessen Ausbreitung: „Eine Neuauflage dieser Theorie wird aus Deutschland zu uns herüberschwappen, in Gestalt der neofunktionalistischen Theorie Niklas Luhmanns, die sehr allgemein ist und alles auffrißt. Diese Parenthese soll sie vorbeugend impfen, ehe es so weit ist…“ 1 Die monologische Tendenz dieser Passage besteht darin, daß sie einen Versuch darstellt, Luhmanns Systemtheorie durch negative Konnotationen („herüberschwappen“, „sehr allgemein“, „auffrißt“, „impfen“) zu diskreditie‐ ren und auf metaphorischem Wege im Bereich ansteckender Krankheiten zu isolieren. Wendet man Bourdieus Theorie des „wissenschaftlichen Feldes“ auf diesen Text an, so geht es anscheinend darum, die konkurrierende Theorie vorab aus dem Feld zu verbannen: durch eine Immunisierung der Öffentlichkeit. Hätte Bourdieu im Sinne der Dialogizität argumentiert, hätte er den An‐ wesenden empfohlen, Luhmanns Soziale Systeme zu lesen und die Begriffe „Feld“ und „System“ kontrastiv zu vergleichen. Ein kontrastiver Vergleich hätte nicht unwesentlich zu einem besseren Verständnis seiner eigenen Soziologie beigetragen. Im Folgenden soll Versäumtes nachgeholt werden. I. Autonomie und „Autopoiesis“: Niklas Luhmanns Theorie des Kunstsystems Niklas Luhmann greift die Problematik der älteren Evolutionstheorien Auguste Comtes, Herbert Spencers und Emile Durkheims auf und zeigt, wie der soziale Differenzierungsprozeß autonome Systeme entstehen läßt, von denen keines durch ein anderes ersetzt werden kann, so „daß kein Funktionssystem die Operationen eines anderen vollziehen kann“. 2 Seinem Differenzierungsbegriff wohnt eine Theorie sozialer Evolution inne, welche die Entwicklung der Gesellschaft „von segmentärer zu stratifizierender und von stratifizierender zu funktionaler Differenzierung“ 3 beschreibt. In seinem Hauptwerk - Die Gesellschaft der Gesellschaft (1997) - erklärt Luhmann: „Die moderne Gesellschaft zeichnet sich durch einen Primat X. Ästhetik der Soziologie / Soziologie der Ästhetik: Von Luhmann zu Bourdieu 436 4 N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 2, Frankfurt, Suhrkamp, 1997, S. 963. 5 N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 1, op. cit., S. 169. 6 Ch. Sigrist, „Das gesellschaftliche Milieu der Luhmannschen Theorie“, in: Das Argument 6, November/ Dezember 1989, S. 845. funktionaler Differenzierung aus.“ 4 Im Hinblick auf den Vergleich mit Bourdieu ist diese thesenhafte Feststellung deshalb von Bedeutung, weil Luhmann nahezu alle Komponenten sozialer Systeme aus dem Differenzie‐ rungsprozess ableitet, während Bourdieu den Differenzierungsbegriff durch den Klassenbegriff ergänzt, dem der Machtfaktor innewohnt: Er ist durchaus noch der Meinung, daß Klassen und Gruppierungen innerhalb der Klassen in der zeitgenössischen Gesellschaft eine Rolle spielen. Im Gegensatz dazu vertritt Luhmann die Ansicht, daß „die funktional differenzierte Gesellschaft sich gegen Schichtung als Differenzierungsprin‐ zip“ 5 wendet. Dies hat zur Folge, daß er Aktivitäten von Klassen und Gruppen im Kunst- oder Wissenschaftssystem unberücksichtigt läßt. Im Laufe der Diskussionen über seine Systemtheorie wurde diese „Leerstelle“ zur Zielscheibe der Kritik. So bemerkt etwa der Marxist Christian Sigrist: „Die zentrale These, daß mit der Steigerung funktionaler Differenzierung die objektive Klassenproblematik entfällt, ist eindeutig falsch.“ 6 Es geht hier nicht um die Auseinandersetzungen zwischen Luhmann und den Marxisten, sondern um die Tatsache, daß Luhmann im Gegensatz zu Bourdieu die Rolle kollektiver Akteure (Klassen, Gruppen) im Kunstsystem ausblendet und sich auf den Differenzierungsprozeß konzentriert. Diese etwas einseitige Fokussierung bewirkt, daß das Kunstsystem als autonome oder gar „autopoietische“ Einheit konstruiert wird, die weder Machtkämpfe noch Interferenzen von außen (etwa aus der Wirtschaft oder der Politik) kennt. Im Zusammenhang mit Erich Köhlers Vorschlägen zur Ergänzung und Umformulierung der Systemtheorien von Parsons und Luhmann soll deutlich werden, daß die Aufnahme kollektiver Akteure in diese Theorien ein Gewinn wäre. 1. Soziologie der Ästhetik: Die soziale Ausdifferenzierung des Kunstsystems Die Ausdifferenzierung eines Kunstsystems beinhaltet zunächst eine klare Abgrenzung gegen anderen Systeme wie Wirtschaft, Politik oder Religion. Luhmann denkt offensichtlich an Europa und Amerika (und nicht etwa I. Autonomie und „Autopoiesis“: Niklas Luhmanns Theorie des Kunstsystems 437 7 N. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt, Suhrkamp (1995), 1997, S. 300. 8 N. Luhmann, Schriften zu Kunst und Literatur, op. cit., S. 320. 9 N. Luhmann, „Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst“, in: H. U. Gumb‐ recht, K. L. Pfeiffer (Hrsg.), Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftli‐ chen Diskurselements, Frankfurt, Suhrkamp, 1986, S. 639. an China oder den Iran), wenn er zur Ausdifferenzierung der Kunst bemerkt: „Die Gesellschaft hat sich auf Ausdifferenzierung autonomer Funktionssysteme festgelegt. Und das Kunstsystem hat inzwischen eigene Möglichkeiten entwickelt, sich gegen Überfremdungen durch Religion, Politik oder industrielle Massenproduktion zur Wehr zu setzen, zum Beispiel die Unterscheidung von Kunst und Kitsch.“ 7 Diese Passage aus Die Kunst der Gesellschaft läßt zweierlei erkennen: Kunst und Literatur sind spezifische Bereiche, in denen auf besondere Art, in einer besonderen Sprache kommuniziert wird, durch die sich diese Bereiche von Wirtschaft, Politik oder Wissenschaft unterscheiden. Zugleich wird deutlich, daß Kunst in der Gesellschaft eine besondere Funktion erfüllt und durch keines der anderen Funktionssysteme ersetzt werden kann. Die Zeiten, in denen ein Kunstwerk als „atheistisch“ oder als „Gotteslästerung“ verurteilt und verboten werden konnte, sind endgültig vorbei - zumindest in Europa, Nordamerika und anderen säkularisierten Demokratien wie Australien oder Japan. Diesen Prozeß der Ausgliederung von Kunst und Ästhetik aus dem hierarchisch strukturierten religiösen Gefüge läßt Luhmann - wie zahlrei‐ che Historiker und Soziologen vor ihm - in der italienischen Renaissance beginnen: „Der Durchbruch erfolgt, beginnend im 14. Jahrhundert, in der italienischen Renaissance, und zwar in der Form einer Konzentration der Kunstförderung auf die städtischen bzw. kleinstaatlichen (inklusive kirchen‐ staatlichen) Fürstenhöfe.“ 8 Man denke an die verweltlichte Kunst von Ferrara in der Zeit der Gonzaga, von der die erotischen Gemälde im Palazzo del Té zeugen, die im Mittelalter undenkbar gewesen wären. Luhmann, der „Gesellschaft“ durch Kommunikation definiert, geht konse‐ quent auf den spezifischen Charakter der im Kunstsystem herrschenden Kom‐ munikation ein. Er spricht von der „Ausdifferenzierung eines Sonderbereichs der Kommunikation“ und von der „Mitausdifferenzierung eines auf dieses System spezifizierten Publikums“. 9 Ähnlich wie in der Wissenschaft oder im Rechtssystem entscheidet im Kunstsystem eine kommunikative Kompetenz darüber, wer dazu gehört und wer nicht. So wird der spezifische Charakter der Kunstkommunikation zu einer der Grundlagen der Kunstautonomie. X. Ästhetik der Soziologie / Soziologie der Ästhetik: Von Luhmann zu Bourdieu 438 10 Ibid., S. 659. 11 Ibid., S. 660. 12 W. L. Schneider, „Was erklärt die Systemtheorie? Systemtheoretische Analyse als Beitrag zur Aufdeckung ‚sozialer Mechanismen‘“, in: U. Schimank, R. Greshoff (Hrsg.), Was erklärt die Soziologie? Methodologien, Modelle, Perspektiven, Berlin, Lit-Verlag, 2005, S. 265. 13 N. Luhmann, Schriften zu Kunst und Literatur, op. cit., S. 17. Aus Luhmanns Sicht bringt der Prozess sozialer Ausdifferenzierung eine Zunahme der Kunstautonomie als spezifischer Kommunikation über Kunst und Literatur mit sich: eine „zunehmende Autonomie dieses Systems von Profis und Publikum für eigenverantwortliche Selbstreproduktion ihrer Kommunikation anhand von Kunstwerken“. 10 Dabei spielt die „Sinnebene Stil zur Begründung der Autonomie“ 11 eine entscheidende Rolle. Daß die Spezifizität der Kommunikation für die Autonomie eines sozialen Systems bürgt, bestätigt Wolfgang Ludwig Schneider im Zusammenhang mit dem Wissenschaftssystem, das vom Gegensatz (Kode) wahr/ unwahr strukturiert wird: „Solange im Medium Wahrheit kommuniziert wird, muss man nicht damit rechnen, daß eine Behauptung als unschön oder geschmacklos, als unmoralisch, häretisch, rechtswidrig, lieblos etc. abge‐ lehnt wird.“ 12 Komplementär dazu steht nach Luhmann im Kunstsystem der ästhetische Gegensatz schön/ häßlich im Mittelpunkt, nicht „Schönheit“ als ästhetischer Wert: „Nicht der reine Wert der Schönheit, sondern die Disjunktion schön/ häßlich vermittelt diejenige praktische Orientierung des Kunstschaffens und des kritischen Kunsterlebens, von der Folgen abhängen.“ 13 Dies bedeutet konkret, daß auch Kunstwerke, in denen das Häßliche im Vordergrund steht - von Goyas Los desastres de la guerra bis hin zu den Gemälden von Francis Bacon -, im Rahmen dieser kodebildenden und kodifizierten Disjunktion zu betrachten sind: als Proteste gegen bestimmte Zustände oder als ein Aufbegehren gegen den Schönheitswert, der gegen‐ wärtigen Verhältnissen nicht (mehr) gerecht wird. Jedenfalls gilt auch im Kunstsystem Schneiders These, daß der Kode darüber entscheidet, welche Argumentationsmuster akzeptabel sind und welche nicht. Im Kunstsystem kann sich niemand auf das Wahrheitskrite‐ rium berufen und etwa behaupten, daß Menschen nicht so häßlich sind wie Bacon sie malt oder daß es unmoralisch ist, sie so zu malen. I. Autonomie und „Autopoiesis“: Niklas Luhmanns Theorie des Kunstsystems 439 14 R. Merten, „Soziale Arbeit aus einer (erweiterten) Perspektive der Systemtheorie Niklas Luhmanns“, in: H. Hollstein-Brinkmann, S. Staub-Bernasconi (Hrsg.), Systemtheorien im Vergleich. Was leisten Systemtheorien für die Soziale Arbeit? Versuch eines Dialogs, Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2005, S. 39. 15 W. Martens, „Die kulturelle und soziale Ordnung des Handelns: Eine Analyse der Bei‐ träge Parsonsʼ und Luhmanns“, in: R. Greshoff, G. Kneer (Hrsg.), Struktur und Ereignis in theorievergleichender Perspektive. Ein diskursives Buchprojekt, Opladen-Wiesbaden, Westdeutscher Verlag, 1999, S. 84. 16 N. Luhmann, „Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst“, in: H. U. Gumb‐ recht, K. L. Pfeiffer (Hrsg.), Stil, op. cit., S. 648. 17 B. Brecht, Über Lyrik, Frankfurt, Suhrkamp, 1964, S. 12. 18 Z. Bauman, Leben in der Flüchtigen Moderne, Frankfurt, Suhrkamp, 2007, S. 242. 19 A. Venkatesh, L. A. Meamber, „Arts and aesthetics: Marketing and cultural production“, in: Marketing Theory, vol. 6 (1), 2006, S. 23. Roland Merten faßt zusammen: „Ohne Code keine Autopoiesis, ohne Code kein System! “ 14 Und Wil Martens ergänzt: „Autopoiesis besagt, daß soziale Systeme ihre Strukturen selbst anfertigen; sie tun das, indem ihre Kommunikationen sich aufeinander beziehen und aneinanderreihen und dadurch von der Umwelt des Systems abgrenzen.“ 15 Luhmann selbst spricht von der „Produktion der Elemente durch die Elemente desselben Systems“ und kommt zu dem Schluß, „daß auch die Kunst im Zuge neuzeitlicher Ge‐ sellschaftsevolution sich als ein autopoietisches Subsystem ausdifferenziert (…)“. 16 Es fragt sich, ob diese Behauptungen tatsächlich auf die moderne oder die zeitgenössische Kunst zutreffen. Bertolt Brecht etwa scheint ganz außerhalb des Kunstsystems zu kommunizieren, wenn er die Gedichte „Stefan Georges, Rilkes oder Werfels (…) als Manifeste des Klassenkampfes“ 17 betrachtet. Auf einer ganz anderen Ebene ergänzt der britische Soziologe Zygmunt Bauman diese politische Heteronomie, wenn er auf die Heteronomie des Marktes hinweist, auf seine Reduktionen des Qualitativen auf Quantität: „Die Schönheit liegt in den Verkaufszahlen der Kassenschlager, in Platin‐ schallplatten und Einschaltquoten.“ 18 Noch weiter gehen zwei amerikani‐ sche Autoren, die, ohne von Heteronomie zu sprechen, feststellen: „Manche mögen behaupten, daß sich Kunst grundsätzlich von Werbung und anderen Kulturprodukten unterscheidet. Wie Brown (1995) jedoch gezeigt hat, kön‐ nen Kunst und Werbung, ästhetisch betrachtet, ein und dasselbe sein.“ 19 Während Brecht die Grenze zwischen Kunst und Politik aufhebt, heben Bauman und die amerikanischen Wissenschaftler, obwohl sie grundver‐ schiedene Ästhetiken vertreten und unvereinbare Absichten verfolgen, die Grenzen zwischen Kunst und Wirtschaft auf. Offensichtlich nehmen sie X. Ästhetik der Soziologie / Soziologie der Ästhetik: Von Luhmann zu Bourdieu 440 20 N. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, op. cit., S. 244. 21 Ibid., S. 36. die Autonomie (post-)moderner Kunst nicht wahr - oder können nicht so recht an sie glauben. Führt der Differenzierungsprozeß, wie Luhmann meint, tatsächlich zu Autonomie und „Autopoiesis“ - oder liegt seiner soziologischen Argumentation eine Autonomieästhetik zugrunde, die der Soziologe nicht reflektiert und daher nicht zur Sprache bringt? Im folgenden soll eine Umkehrung der Perspektive eine Beantwortung dieser Frage ermöglichen. Wie im Zusammenhang mit den marxistischen, semiotischen und dekonstruktivistischen Literaturtheorien geht es um die Ästhetik einer Literatur- und Kunstsoziologie, die zwar die Entstehung der Kunstautonomie und ihrer Ästhetik (ästhetischen Kommunikation) untersucht, ihre eigenen ästhetischen Prämissen aber im Dunkeln beläßt. 2. Ästhetik der Soziologie: Luhmann, Calvino und die Formalisten als Verfechter einer Autonomieästhetik Autonomie von Literatur und Kunst bedeutet in erster Linie, daß Kunst‐ werke um ihrer selbst willen rezipiert werden - und nicht referentiell als Abbilder oder Zerrbilder der Wirklichkeit. Dies meint Luhmann, wenn er in Die Kunst der Gesellschaft erklärt: „Die Ausdifferenzierung eines Systems für Kunst läßt sich am besten an der internen Blockierung externer Referenzen erkennen.“ 20 Kunst, ergänzt Luhmann, „kann nur dadurch kommunizierbar bleiben, daß man Referenzen auf unsere eingeübte Welt kappt“. 21 Freilich ist diese Auffassung von Literatur und Kunst eher auf die hermeti‐ schen Gedichte Rilkes oder Georges anwendbar als auf Brechts Feststellung, daß diese Gedichte nur als „Manifeste des Klassenkampfes“ zu verstehen seien. Denn Brecht stellt eine direkte Beziehung zwischen Literatur und Politik her und setzt sich über die Autonomie, die „autopoietische Geschlos‐ senheit“ der beiden sozialen Systeme, hinweg. Veranschaulicht wird Luhmanns Autonomiebegriff als „Autopoiesis“ eher durch Italo Calvinos experimentellen Roman Wenn ein Reisender in der Winternacht (Se una notte d’inverno un viaggiatore, 1979), der als ein groß‐ angelegtes Plädoyer für literarische Autonomie gelesen werden kann. Schon die ersten Sätze des Romans laden den Leser (lettore) ein, die „Referenzen auf unsere eingeübte Welt“ zu kappen: „Du schickst dich an, den neuen Roman Wenn ein Reisender in der Winternacht von Italo Calvino zu lesen. I. Autonomie und „Autopoiesis“: Niklas Luhmanns Theorie des Kunstsystems 441 22 I. Calvino, Wenn ein Reisender in der Winternacht, München, Süddeutsche Zeitung- Bibliothek, 2004, S. 7. 23 Re-entry wird wie folgt definiert: „Das Modell des re-entry ist ein spezifisches Erzeugnis der Systemtheorie. Gemeint ist der Wiedereintritt der Form in die Form.“ ( J. Dieckmann, Schlüsselbegriffe der Systemtheorie, München, Fink, 2006, S. 267.) 24 N. Luhmann, Schriften zu Kunst und Literatur, op. cit., S. 382. Entspanne dich. Sammle dich. Schieb jeden anderen Gedanken beiseite. Laß deine Umwelt im ungewissen verschwimmen.“ 22 Luhmann könnte diesen Romananfang als einen Versuch deuten, die Ausdifferenzierung des Kunstsystems auf die Spitze zu treiben und die lite‐ raturkonstituierende Differenz von System und Umwelt in den literarischen Text selbst aufzunehmen. Denn sowohl die Literatur in Romanform als auch die „Umwelt“ werden vom Autor genannt. (Luhmann nennt diese Rückbesinnung auf den Systemkode im System selbst im Anschluß an den amerikanischen Philosophen Spencer Brown re-entry.) 23 Tatsächlich hat der Romananfang programmatischen Charakter, weil Calvino in allen Kapiteln seines Werks gegen heteronome Kunst- und Literaturauffassungen polemisiert: gegen Versuche, Literatur referentiell zu lesen und auf ihre „Umwelt“ als Politik, Biographie oder Psychologie zu reduzieren. Sein Plädoyer für literarische Autonomie kommt im Gegensatz zwischen den beiden fiktiven Leserinnen Ludmilla und Lotaria zum Aus‐ druck: Während Ludmilla Literatur mit Begeisterung um ihrer selbst willen aufnimmt, ja verschlingt und in mancher Hinsicht dem Autor-Erzähler na‐ hesteht, wird Ludmillas Schwester Lotaria mit allen denkbaren heteronomen Ästhetiken identifiziert: mit Marxismus, Ideologiekritik, Psychoanalyse und Feminismus. Sie erwartet vom Leser, daß er sich gesellschaftlich engagiert, indem er auf soziale Probleme reagiert, die eine „Lösung“ erfordern. Diese heteronome Einstellung wird noch dadurch verstärkt, daß Lotaria literari‐ sche Texte erst gar nicht liest, sondern vom Computer lesen läßt. Sie steht für die Reduktion von Literatur auf deren soziale Umwelt: auf wissenschaftliche oder Alltagskommunikation. Dieser Reduktion begegnen Calvino und Luhmann mit der These: „Die Literatur hat es mit der Literatur und ihren Wirkungen zu tun.“ 24 Wie Roman Jakobson (vgl. Kap. V. 2) und die russischen Formalisten versucht Luhmann, Literatur im literarischen System selbst zu erklären. Man meint Jakobson oder einen der Formalisten-Strukturalisten zu lesen, wenn man bei Luhmann auf den folgenden Satz stößt: „Vergleicht man literarische Texte X. Ästhetik der Soziologie / Soziologie der Ästhetik: Von Luhmann zu Bourdieu 442 25 Ibid., S. 386. 26 „Les Thèses de 1929“, in: Le Cercle de Prague, Change Nr. 3, Paris, 1969, S. 24. 27 R. Jakobson, „Linguistik und Poetik“, in: J. Ihwe (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Linguistik, Bd. 1, Frankfurt, Athenäum-Fischer, 1972, S. 110. 28 N. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, op. cit., S. 271-272. mit Rechtstexten oder religiösen Texten, so tritt jedenfalls die kommunika‐ tive Intention zurück.“ 25 Dies erinnert an die im fünften Kapitel zitierte dritte These des Prager Linguistischen Zirkels aus dem Jahr 1929: „Aus der Theorie, die behauptet, daß die poetische Sprache dazu neigt, den autonomen Aspekt des Zeichens zu betonen, folgt, daß alle Ebenen des Zeichensystems, die in der kommuni‐ kativen Sprache ausschließlich als Mittel dienen, in der poetischen Sprache mehr oder weniger autonome Werte annehmen.“  26 Roman Jakobson faßt die Erkenntnisse der Formalisten und Prager Strukturalisten in einem Satz zusammen: „Die Einstellung auf die Nachricht als solche, die Zentrierung auf die Nachricht um ihrer selbst willen, ist die poetische Funktion der Sprache.“ 27 Sofern Luhmann Kunst als Selbstzweck betrachtet, weil sie sich - zumin‐ dest in der Moderne - allen Versuchen widersetzt, sie nach heteronomen (re‐ ligiösen, moralischen, politischen) Kriterien zu beurteilen, ist seine Theorie als kantianisch im Sinne des frühen Formalismus zu bezeichnen. Schließlich setzt eine adäquate Einstellung zur ästhetischen „Autopoiesis“ die Fähigkeit voraus, alle heteronomen Referenzen auf die Umwelt zu „kappen“. Freilich würde man den eigentlich soziologischen Kontext von Luhmanns Ästhetik und Kunsttheorie übersehen, wollte man seine Position umstands‐ los mit der der russischen Formalisten, der Prager Strukturalisten oder gar der Kantianer identifizieren. Denn Luhmann nimmt - ähnlich wie Bourdieu - einen sozio-historischen Standpunkt ein, wenn er in Die Kunst der Gesellschaft erklärt, wie die kantianische Autonomieästhetik, die dem Formalismus und dem Strukturalismus zugrunde liegt, entstanden ist. Er berücksichtigt durchaus Entwicklungsstadien vor der Entstehung der Autonomie im Prozess der sozialen Differenzierung: „Symbolisch ist die Kunst vor ihrer Ausdifferenzierung, wenn sie für ihre ornamental verdich‐ teten Zusammenhänge einen höheren Sinn sucht. Zum Zeichen wird sie in der höfischen und der marktgestützten Phase ihrer Ausdifferenzierung (…).“ 28 Das heißt, daß der referentielle Bezug der Kunst stetig abnimmt. Die Kunst als ausdifferenziertes, autonomes und „autopoietisches“ Sy- I. Autonomie und „Autopoiesis“: Niklas Luhmanns Theorie des Kunstsystems 443 29 N. Luhmann, Schriften zu Kunst und Literatur, op. cit., S. 387. 30 V. Šklovskij, „Der Zusammenhang zwischen den Verfahren der Sujetfügung und den allgemeinen Stilverfahren“, in: J. Striedter (Hrsg.), Russischer Formalismus, München, Fink-UTB (1969) 1971 S. 51. 31 N. Luhmann, Schriften zu Kunst und Literatur, op. cit., S. 34. 32 N. Luhmann, „Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst“, in: H. U. Gumb‐ recht, K. L. Pfeiffer (Hrsg.), Stil, op. cit., S. 644. stem faßt Luhmann allerdings in weitgehender Übereinstimmung mit den Formalisten und Prager Strukturalisten auf, die er jedoch nirgends erwähnt. Die Mechanismen der Literatur- und Kunstentwicklung beschreibt er vorwiegend systemimmanent und stellt - wie die Formalisten - den Innovationsbegriff in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen. Davon zeugt der folgende Satz aus seinem Artikel „Literatur als Kommunikation“: „Jede Neuerung in der Literatur erfordert ein ‚redescription‘ dessen, was bisher galt, und hält sich dadurch im System.“ 29 Parallel zu diesem Satz ist die schon im zweiten Kapitel (II. 5) zitierte These von Viktor Šklovskij zu lesen, in der Beziehungen zu (politischen, religiösen, philosophischen) Inhalten der „Umwelt“ verneint werden: „Eine neue Form entsteht nicht, um einen neuen Inhalt auszudrücken, sondern um eine alte Form abzulösen, die ihren Charakter als künstlerische Form bereits verloren hat.“  30 So ersetzt beispielsweise Brecht das traditionelle Theater, das eine Iden‐ tifikation des Zuschauers mit den Protagonisten auf der Bühne begünstigt, durch ein Episches Theater, das durch neue Formen (Unterbrechung der Handlung, Kommentar, Zitat) zu kritischer Distanz einlädt. Analog dazu reagiert der französische Nouveau Roman polemisch-kritisch auf den psy‐ chologischen Roman, indem er die anthropomorphe durch eine sachliche Schreibweise ersetzt, auf Charakterpsychologie verzichtet und eine vieldeu‐ tige Schreibweise kultiviert, die das Deutungsvermögen des Lesers auf die Probe stellt. Es ist, als wollte er an die Thesen der Formalisten anschließen, wenn Luhmann schreibt: „Die Kunst lebt innovativ, lebt in hohem Maße von der Negation ihrer eigenen Vergangenheit.“ 31 Wie in Formalismus und Strukturalismus erscheint in Luhmanns Systemtheorie Innovation als for‐ maler Prozess, als „Stilwechsel“: „Während jedes Kunstwerk so gut wie möglich zu sein sucht, zielt der Stilwechsel nicht auf Besseres, sondern auf Anderes.“ 32 Schon im Formalismus sollte dieses „Andere“ als neue Form die X. Ästhetik der Soziologie / Soziologie der Ästhetik: Von Luhmann zu Bourdieu 444 33 Vgl. R. Bubner, „Wie alt ist das Neue? “ in: M. Moog-Grünewald (Hrsg.), Das Neue. Eine Denkfigur der Moderne, Heidelberg, C. Winter, 2002, S. 1: „Der Prozeß der Musealisie‐ rung begleitet als objektives Phänomen die subjektive Empfindung der Betrachter und Kritiker, die des Neuen allmählich überdrüssig werden.“ 34 U. Eco, Nachschrift zum ‚Namen der Rose‘, München, DTV, 1987 (8. Aufl.), S. 78. 35 J. Barth, „The Literature of Replenishment. Postmodernist Fiction“, in: Atlantic Monthly, Januar, 1980, S. 70. 36 M. Bense, Aesthetica, Baden-Baden, Agis, 1965, S. 268. Wahrnehmung des Kunstpublikums „entautomatisieren“, d. h. ein „neues Sehen“ ermöglichen, das die alten, „automatisierten“ Formen verhinderten. Es fragt sich jedoch, ob die Kunst in jeder Epoche  33 tatsächlich von der „Negation ihrer eigenen Vergangenheit“ lebt: Schon die Formalisten faßten die Möglichkeit einer „Aktualisierung“ alter Formen ins Auge, und ein Theoretiker der Postmoderne wie Umberto Eco beschreibt die Sackgasse der alles Vergangene negierenden Avantgarden, wenn er in seiner Nachschrift zum Namen der Rose feststellt, daß das negative Prinzip in Sterilität mündet. Er schlägt eine postmoderne Ästhetik vor, die sich der literarischen Vergan‐ genheit auf ganz andere Art nähert als die Avantgarden: Die Vergangenheit müsse „auf neue Weise ins Auge gefaßt werden (…): mit Ironie, ohne Unschuld“. 34 Hier geht es weniger um die Negation der „eigenen Vergangenheit“ als um ihre Aufarbeitung oder Aktualisierung, die auch ein postmoderner Schriftsteller wie John Barth befürwortet, wenn er sich auf den Wert der vormodernistischen Romantradition besinnt, die in der volkstümlichen Kultur der Mittelschicht beheimatet ist: „whose historical roots are famously and honorably in middle-class popular culture“. 35 Im Kontext der Postmoderne-Diskussionen drängt sich die Frage auf, ob die Ästhetik, die Luhmanns Kunstsoziologie zugrunde liegt, nicht eine von Kant ausgehende avantgardistische Ästhetik der formalen Innovation sei, die gegenwärtig weder dominant noch konsensfähig ist. Sie ist in vieler Hinsicht der avantgardistischen Ästhetik Max Benses verwandt (vgl. Kap. VII), die als ganze auf den Innovationsbegriff ausgerichtet ist: „(…) Und nur soweit ein Kunstwerk Innovation enthält, gibt es ästhetische Information.“ 36 Dies be‐ deutet, daß Kunstwerke ohne ästhetische Innovation aus dem ästhetischen Bereich, aus dem Kunstsystem herausfallen. In diesem Sinn ist auch eine Bemerkung aus Luhmanns Aufsatz „Ist Kunst codierbar? “ zu lesen: „Ein Kunstwerk muß dann, um ein solches zu I. Autonomie und „Autopoiesis“: Niklas Luhmanns Theorie des Kunstsystems 445 37 N. Luhmann, Schriften zu Kunst und Literatur, op. cit., S. 30. 38 Ibid. 39 Vgl. Ph. Van Tieghem, Les Grandes doctrines littéraires en France, Paris, PUF, 1946, Kap. V: „Les grands principes de la doctrine classique“. 40 N. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, op. cit., S. 322-323. sein, etwa Neues bringen (…).“ 37 Wie Eco und die Postmodernen ist er sich jedoch der Tatsache bewußt, daß Innovation irgendwann an Grenzen stößt, nicht endlos vorangetrieben werden kann: „Künstlerische Arbeit erfordert so historisches Bewußtsein. Dann aber werden Segmente der Innovation schmaler und schmaler, und die Erschöpfung der Möglichkeiten ist nur eine Frage der Zeit.“ 38 Ist Innovation als avantgardistische „Negation der Vergangenheit“ einmal erschöpft, drängt sich die Frage nach einer postmodernen Ästhetik jenseits des avantgardistischen Innovationsprinzips auf. Sie läßt auch die komple‐ mentäre Frage nach vormodernen Ästhetiken aufkommen, die weder Neues noch Anderes forderten, sondern die Einhaltung von allgemein anerkannten Regeln: Man denke an die Regelpoetiken Boileaus und Chapelains. 39 Nun ist es keineswegs so, daß Luhmann über die Bedeutung der Regel in der Kunstentwicklung nicht nachgedacht hätte. In Die Kunst der Gesellschaft setzt er sich ausführlich mit ihr auseinander. 40 Sein Problem besteht indessen darin, daß er als Systemtheoretiker zeigen muß, wie das (nicht irgendein) Kunstsystem funktioniert. Trotz aller historischen Exkurse ist er genötigt, sich für das gegenwärtige System zu entscheiden und seine Mechanismen in einer bestimmten Perspektive (die nicht die Bourdieus oder Adornos ist) zu rekonstruieren. Luhmanns Perspektive ist die einer avantgardistischen Autonomieästhetik, in der Begriffe wie Form, Negation (der Vergangenheit) und Innovation zentral sind. Noch wichtiger als diese Schlüsselbegriffe ist die Auffas‐ sung des Kunstsystems als einer „autopoietischen“ Einheit, die durch die „Blockierung externer Referenzen“ (s. o.) gekennzeichnet ist. So werden engagierte postmoderne Romane wie Marge Piercys Woman on the Edge of Times (1979) oder Ernst Callenbachs Ecotopia Emerging (1981: beide zu Luhmanns Lebzeiten), die als Kritiken männlicher Herrschaft und eines umweltvernichtenden Gesellschaftssystems gelesen werden wollen - und keineswegs nur selbstreferentiell -, aus dem Kunstsystem verbannt. Könnte man das zeitgenössische Kunstsystem nicht auch als engagierte - politische, feministische, ökologische oder phantastische - Ästhetik konstruieren? X. Ästhetik der Soziologie / Soziologie der Ästhetik: Von Luhmann zu Bourdieu 446 41 N. Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt, Suhrkamp (2000), 2002, S. 132. 42 H. R. Jauß relativiert die innovationsorientierte Autonomieästhetik, wenn er schreibt, „die Trennung von delectare und prodesse - das Prinzip des L’Art pour l’Art - [erscheine] als eine Episode in der Geschichte der Kunst“. (H. R. Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt, Suhrkamp, 1982, S. 82.) Man versteht die Systemproblematik oder das Systemdilemma besser, wenn man Luhmanns Kunstsystem mit seiner Auffassung des politischen Systems vergleicht. Auch dieses System ist nur eine moderne Moment‐ aufnahme, die auf den kodierenden Gegensätzen Macht/ Ohnmacht, Regie‐ rung/ Opposition gründet. Charakteristisch für diese Momentaufnahme ist der folgende Satz aus Die Politik der Gesellschaft: „Konflikte sind durch die Codierung Regierung/ Opposition geradezu vorgeschrieben.“ 41 Dieser Satz mag für rechtsstaatlich fundierte Demokratien in Westeuropa und Nordamerika im 20. und 21. Jahrhundert gelten; er gilt nicht für die politischen Systeme vergangener Jahrhunderte und auch nicht für China oder die Russische Föderation. Und so wie er sich auf zeitgenössische Demo‐ kratien bezieht, so beziehen sich die hier zitierten Kernsätze aus Luhmanns Kunstsoziologie auf das moderne Kunstsystem und eine seiner Ästhetiken, die selbst aus dem sozialen Differenzierungsprozeß hervorgegangen ist. Sie gelten nicht für Kunstsysteme der Vergangenheit, die weder auf Negation noch auf Innovation gründeten, sondern eher dem Horazischen delectare et prodesse verpflichtet waren. 42 Es ist diese Autonomieästhetik als „Autopoiesis“, die von Bourdieus Soziologie grundsätzlich in Frage gestellt wird, weil Bourdieu nicht nur den Differenzierungsprozeß beobachtet, sondern auch ökonomisch-politische Interferenzen sowie die Machtkämpfe zwischen Schriftstellern und Schrift‐ stellergruppen im künstlerisch-literarischen „Feld“. Dadurch wirft er die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis von Autonomie und Heteronomie in einem anderen Kontext auf. 3. Kritisches Intermezzo: Die Abwesenheit kollektiver Akteure in Luhmanns Theorie Im wissenschaftlichen Bereich sollte stets nach dem Zustandekommen und der Konstruktion von Theorien gefragt werden. Als Autonomieästhetik entsteht Luhmanns Kunstsoziologie selbst im Differenzierungsprozeß und kann als Ergebnis einer langen Entwicklung aufgefaßt werden, an deren Ende sich eine selbstreferentielle, autopoietische Kunst herauskristallisiert, I. Autonomie und „Autopoiesis“: Niklas Luhmanns Theorie des Kunstsystems 447 43 Vgl. N. Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt, Suhrkamp (1984), 1987, S. 111. 44 R. Greshoff, „Ohne Akteure geht es nicht! Oder: Warum die Fundamente der Luhmann‐ schen Sozialtheorie nicht tragen“, in: Zs. für Soziologie, Jg. 37, Nr. 6, Dezember 2008, S. 456. 45 Ibid., S. 465. die von einer ihr entsprechenden Autonomieästhetik gestützt wird. Es ist eine mögliche Ästhetik, nicht die Ästhetik schlechthin. Sie begleitet den Modernismus (Joyce, Proust, Virginia Woolf) und die Avantgarden (Tzara, Breton, Chlebnikov), ist aber nicht ohne weiteres auf Bertolt Brecht oder - wie sich gezeigt hat - auf die Postmoderne anwendbar, die in ihrer Gesamtheit nicht mehr als Negation der literarisch-künstlerischen Vergangenheit zu verstehen ist. Die Schwierigkeit, sie auf diese Erscheinungen anzuwenden, hängt nicht nur mit ihrer Ausrichtung auf die Moderne als Avantgarde zusammen, sondern auch mit Luhmanns Fixierung auf den Differenzierungsprozeß, der ihm zur wichtigsten Triebfeder der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung wird. Dieser Prozeß läßt zwar autonome Systeme (Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst) entstehen, kann aber nicht für das Handeln von Individuen, Gruppen und Klassen verantwortlich gemacht werden, die sich von ihren Interessen leiten lassen und versuchen, diese Interessen durchzusetzen. Da Luhmann, der meint, auf den Subjektbegriff verzichten zu können 43 , hauptsächlich den Differenzierungsprozeß beobachtet und das Handeln kollektiver Akteure ausblendet, kann er bestimmte Entwicklungen und Ereignisse nicht erklä‐ ren. In den kritischen Kommentaren zu seinem Werk wird immer wieder an diese Leerstelle in seiner Soziologie erinnert. In einem Artikel mit dem vielsagenden Titel „Ohne Akteure geht es nicht! “ bemerkt Rainer Greshoff zu den Selektionsmechanismen in autopoietischen Systemen: „Denn ange‐ sichts der skizzenhaften Beschaffenheit der sozialen Selektionen muss man letztere als sehr subjekthafte - weil intentional interessenbasierte - Vor‐ gänge einschätzen.“ 44 Er fügt hinzu, „dass die Selektionen kommunikativer Prozesse als von Akteuren produzierte Selektionen zu begreifen sind“. 45 Kurzum, in Luhmanns Theorie fehlt der gesamte Begriffskomplex von „Subjekt“, „Interesse“, „Intention“ und „Handlung“. Alle Funktionen dieser Begrifflichkeit fallen in seinem Diskurs der Differenzierung als Movens der Geschichte zu. Davon zeugt der folgende Satz aus Die Gesellschaft der Ge‐ sellschaft: „Der Differenzierungsvorgang kann spontan einsetzen; er ist ein X. Ästhetik der Soziologie / Soziologie der Ästhetik: Von Luhmann zu Bourdieu 448 46 N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 2, op. cit., S. 598. 47 Vgl. ibid., S. 604. 48 N. Luhmann, „Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst“, in: H. U. Gumb‐ recht, K. L. Pfeiffer (Hrsg.), Stil, op. cit., S. 639. Resultat von Evolution, die Gelegenheiten benutzen kann, um strukturelle Veränderungen zu lancieren.“ 46 Der Satz läßt auch den anthropomorphen Charakter abstrakter Begriffe in Luhmanns Argumentation erkennen: Der Differenzierung wird „Spontaneität“ bescheinigt, die Evolution „benutzt Gelegenheiten“, um „Veränderungen zu lancieren“. Diese anthropomorphe Verwendung von Abstraktionen ist darauf zu‐ rückzuführen, daß die eigentlichen Akteure, die beabsichtigen, spontan oder wohlüberlegt handeln oder Gelegenheiten benutzen, bei Luhmann fehlen: Sie treten weder als Individuen noch als Gruppen oder Klassen auf. Die Folge ist, daß die gesamte gesellschaftliche Entwicklung der Differenzierung überantwortet wird, die autonome, autopoietische Systeme entstehen läßt, deren Eigendynamik auf die Ausdifferenzierung von Teilsystemen zurück‐ geführt wird 47 - nicht jedoch auf interessengeleitetes individuelles oder gruppenspezifisches Handeln. So ist es zu erklären, daß in Luhmanns Systemtheorie, auch in seiner Soziologie des Kunstsystems, das eigentlich Soziale fehlt, das von Marx bis Bourdieu im Mittelpunkt soziologischer Betrachtungen steht: die Klasse, die Schicht oder die Gruppe, die Interessen verfolgt und Handlungssequenzen entwirft. Für die Dynamik des Kunstsystems oder des „Feldes Kunst“ sind nicht nur Ausdifferenzierungen verantwortlich wie die Scheidung von „Profis und Publikum“ 48 , sondern auch ständische Interessen, Klassen- und Gruppenin‐ teressen. Sie kommen im Konflikt der Gattungen oder in der Konkurrenz zwischen Klassikern und Romantikern in Deutschland, später zwischen Dadaisten und Surrealisten in Frankreich oder Symbolisten und Futuristen in Rußland zum Ausdruck. Erich Köhler hat wohl als einer der ersten das Fehlen der sozialen, gruppenspezifischen Dimension in den Systemtheorien von Talcott Parsons bis Luhmann bemerkt, als er vorschlug, die Veränderungen innerhalb des literarischen Gattungssystems im Zusammenhang mit Gruppeninteressen und Gruppenästhetiken zu erklären. Durch das Einführen dieses sozialen Faktors wird der Differenzierungsbegriff keineswegs relativiert oder gar I. Autonomie und „Autopoiesis“: Niklas Luhmanns Theorie des Kunstsystems 449 49 E. Köhler, Literatursoziologische Perspektiven. Gesammelte Aufsätze, Heidelberg, Winter, 1982, S. 15. 50 Ibid., S. 22. 51 Ibid. 52 Ibid., S. 18. negiert; er wird ergänzt und im Hinblick auf Interessen, Absichten und Subjektivitäten konkretisiert. Die Autonomie des Gattungssystems wird in Köhlers Entwurf nicht angezweifelt oder in Abrede gestellt. Dort ist gleich zu Beginn von der „relative[n] Autonomie und [der] Eigendynamik des Gattungssystems“ 49 die Rede. Die Eigendynamik des Systems beschreibt Köhler durchaus im Sinne einer kybernetischen Systemtheorie und weicht nicht grundsätzlich von Parsons oder Luhmann ab: „Auf die Notwendigkeit der Integration neuer Erfahrung antwortet der kybernetische Mechanismus (…) mit Funk‐ tionsverlagerung oder Funktionserweiterung vorhandener Gattungen, was - im Sinne der Entfaltung der Eigenkomplexität - zur Ausbildung hochdif‐ ferenzierter Subsysteme führen kann.“ 50 Dies bedeutet, daß die „Kapazität von Einzelgattungen“ durch Adaptie‐ rung gesteigert werden kann oder daß neue Gattungen geschaffen werden, „die speziell auf die Bedürfnisse neu entstandener sozialer Gruppen oder auf deren jetzt erst emanzipiertes Bewußtsein, ihr Mündigwerden, zuge‐ schnitten sind“. 51 Es können auch Mischgattungen wie die Tragikomödie entstehen, und schließlich kann im Zuge des Gesellschaftswandels das gesamte Gattungssystem verworfen werden. Köhler zeigt, wie Gattungen funktionslos werden, weil sie nicht mehr den Interessen herrschender Gruppen entsprechen. In seiner Darstellung wird deutlich, daß Gruppeninteresse und Systemfunktion nicht zu trennen sind: „Der bekannteste Fall ist derjenige des Epos, dem die normativen Poetiken bis ins 18. Jahrhundert hinein hartnäckig die Rolle der Systemdominanten einräumen. Jedoch vermag die nationalistische Ideologie, die immer wieder Versuche einer Erneuerung inspiriert, eine Gattung nicht zu retten, die nicht darauf verzichten kann, Krieg und heroische Existenz einer Klasse zu feiern, deren parasitäre Existenz und Funktionslosigkeit trotz ihres gesellschaftlichen Prestiges allzu offenkundig war.“ 52 Im Übergang von der feudalen zur höfischen Gesellschaft büßt die feudale „noblesse d’épée“ ihren Einfluß ein, und der höfische Adel beherrscht die Kulturszene, in deren Mittelpunkt die Tragödie steht. Mit dem Aufstieg des X. Ästhetik der Soziologie / Soziologie der Ästhetik: Von Luhmann zu Bourdieu 450 53 Vgl. P. Bürger, Aktualität und Geschichtlichkeit. Studien zum gesellschaftlichen Funkti‐ onswandel der Literatur, Frankfurt, Suhrkamp, 1977, S. 133-134. 54 Zum Begriff der Differenzierung bei Spencer, Durkheim, Luhmann und Bourdieu vgl. Vf., Soziologische Theoriebildung. Ein Handbuch auf dialogischer Basis, Tübingen, Francke-UTB, 2020, Kap. IX, XV, XVIII. 55 P. Bourdieu, Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt, Suhrkamp, 2015 (9. Aufl.), S. 148. Bürgertums setzen sich allmählich die Komödie und der Roman als neue Gattungen durch. 53 Hier wird deutlich, daß die Systemtheorie an sozialer Substanz und Überzeugungskraft gewinnt, wenn sie den Differenzierungsprozeß im Zusammenhang mit Subjektivität, Intentionalität und Gruppeninteresse betrachtet. Auch der Funktionsbegriff wird substantieller und konkreter, wenn Funktionen auf Gruppeninteressen bezogen werden. Im folgenden soll gezeigt werden, wie Pierre Bourdieu die hier ins Auge gefaßte Synthese auf seine Art verwirklicht, indem er das literarische oder künstlerische Feld als ein Kräftefeld auffaßt, in dem Gruppeninteressen und deren Ästhetiken oder Poetiken kollidieren. Auf diese Art erklärt er die Dynamik des Feldes oder Systems nicht nur im Rahmen des Differenzie‐ rungsprozesses und im Hinblick auf die - stets gefährdete - Feldautonomie, sondern auch im Zusammenhang mit subjektiven Kategorien wie „Inten‐ tion“, „Interesse“ und „Handlung“. So vermeidet er Luhmanns Festlegung des Systems oder Feldes auf eine Autonomieästhetik als „Autopoiesis“. Allerdings handelt er sich durch die Betonung des Machtfaktors und der mit ihm liierten sozialen Interessen eine heteronome Tendenz im ästhetischen Bereich ein. II. Der Kampf um das Feld als Heteronomie: Pierre Bourdieus Kunstsoziologie Als Erbe Comtes, Spencers und Durkheims geht auch Bourdieu vom Begriff der sozialen Differenzierung aus. 54 So erklärt er beispielsweise in Praktische Vernunft: „Die Theorie der Felder beruht auf der Feststellung (die sich bereits bei Spencer, Durkheim, Weber usw. findet), daß in der sozialen Welt ein fortschreitender Differenzierungsprozeß stattfindet.“ 55 Wie Luhmanns II. Der Kampf um das Feld als Heteronomie: Pierre Bourdieus Kunstsoziologie 451 56 P. Bourdieu, L. J. D. Wacquant, Reflexive Anthropologie, Frankfurt, Suhrkamp, 2013 (3. Aufl.), S. 127. 57 Ibid., S. 134. 58 Ibid. 59 A. Jourdain, S. Naulin, La Théorie de Pierre Bourdieu et ses usages sociologiques, Paris, Armand Colin, 2011, S. 67. System ist Bourdieus Feld autonom und gehorcht eigenen Gesetzen. Bour‐ dieu spricht von „nicht aufeinander reduzierbare[n] ‚Grundgesetze[n]‘“ und von „relativ autonomen sozialen Mikrokosmen“. 56 In seinem skizzenhaften Vergleich von Luhmanns Systemtheorie mit seiner Theorie der Felder geht Bourdieu vom Schlüsselbegriff der Dif‐ ferenzierung aus: „In beiden Fällen spielt ja der Differenzierungs- und Verselbständigungsprozeß eine zentrale Rolle.“ 57 Dennoch unterstreicht er den Unterschied, der ihn von Luhmann trennt: „Aber trotzdem sind beide Theorien radikal verschieden.“ 58 Worin besteht der Unterschied? Eine Antwort auf allgemeinster, abstraktester Ebene könnte lauten: Im Gegensatz zu Luhmann, der auf den Subjektbegriff verzichtet, ergänzt Bourdieu den Differenzierungsbegriff durch den subjektiven Faktor, der sich aus drei Komponenten zusammensetzt: Interesse, Machtstreben und Handlung. Konkretisiert werden diese drei Komponenten durch die ihnen entsprechenden Schlüsselbegriffe von Bourdieus Soziologie: Klasse, Kapital und Habitus. Im Gegensatz zu Luhmann, der davon ausgeht, daß die moderne Gesell‐ schaft nicht mehr auf dem Schichtungsprinzip gründet, sondern von der sozialen Differenzierung strukturiert wird, konstruiert Bourdieu „Gesell‐ schaft“ als Synthese von Differenzierung und Klassenstruktur. Zur letzteren bemerken Anne Jourdain und Sidonie Naulin: „Nach Pierre Bourdieu ist die Gesellschaft in drei Hauptgruppierungen gegliedert: das Bürgertum (bourgeoisie), die Mittelschicht (oder die ‚Kleinbürger‘) und die Unterschicht (classes populaires). Jede dieser Gruppierungen wird durch eine spezifische ‚Klassenkultur‘ gekennzeichnet.“ 59 Es wird sich zeigen, daß diese Klassenkultur auch in den Auseinander‐ setzungen innerhalb des künstlerischen Feldes von Bedeutung ist. Schon jetzt wird aber deutlich, daß Bourdieu den Begriff des Gruppeninteresses in sein Konzept aufnimmt, mit dessen Hilfe Erich Köhler die Systemtheorie konkretisieren wollte. Bourdieu läßt es nicht bei einer Dreiteilung der Gesellschaft bewenden, sondern analysiert auch die ungleiche Verteilung X. Ästhetik der Soziologie / Soziologie der Ästhetik: Von Luhmann zu Bourdieu 452 60 P. Bourdieu, Kunst und Kultur. Kultur und kulturelle Praxis. Schriften zur Kultursoziolo‐ gie, Bd. 4, Berlin, Suhrkamp, 2015, S. 256. 61 P. Bourdieu, A. Darbel, L’Amour de l’art. Les musées d’art européens et leur public, Paris, Minuit, 1969, S. 35. der verschiedenen Kapitalsorten, die dem Machtstreben der Klassen und Gruppen zugrunde liegt. Er unterscheidet wirtschaftliches, soziales und kulturelles Kapital, zeigt, wie diese Kapitalsorten unter bestimmten Bedingungen ineinander kon‐ vertiert werden können und untersucht die ungleiche Kapitalausstattung der drei Klassen. Dabei erscheint die bürgerliche Oberschicht als vom Spannungsverhältnis zwischen Wirtschaftsbürgertum (Unternehmern, Ma‐ nagern, Bankdirektoren) und Kulturbürgertum (Künstlern, Wissenschaft‐ lern, Journalisten) geprägt. Ihre Konflikte zeigen, „dass Reichtum an ökono‐ mischem Kapital und Reichtum an kulturellem Kapital umgekehrt variiert“. Diese Oberschicht wird jedoch in ihrer Gesamtheit als Vertreterin der legi‐ timen Kultur aufgefaßt, die zugleich ein Herrschafts- und Machtinstrument ist. 60 Während die Mittelschicht die Oberschicht und ihre Kultur nachahmt, um sich auf diese Art Aufstiegschancen in der sozialen Hierarchie zu sichern, wird sie selbst in ihrer Lebensweise von der Unterschicht nachgeahmt. Deren Angehörige hoffen, in die Mittelschicht aufzusteigen oder sich zu‐ mindest deren Lebensstil aneignen zu können. In dieser gesellschaftlichen und kulturellen Situation sind die unteren Schichten dem Bürgertum stets unterlegen, weil es ihnen sowohl an wirt‐ schaftlichem als auch an sozialem (Beziehungen) und an kulturellem Kapital (Bildung, Sprachkompetenz) fehlt. Es fehlt ihnen daher auch an sozialem Prestige, das als symbolisches Kapital aus den drei anderen Kapitalsorten hervorgeht. Als Erben des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Kapitals haben - aus Bourdieus Sicht - Kinder aus bürgerlichem Hause wesentlich bessere Erfolgschancen im Bildungssystem als Arbeiter- oder Bauernkinder. Im Gegensatz zu diesen beherrschen sie den Habitus als inkorporiertes Wissen, das es ihnen gestattet, Literatur auszuwählen, sich in Kunstgalerien zu orientieren und mit Gewinn einem Konzert zuzuhören. 61 Bourdieus Gesellschaftsbild ist von Herrschaftsverhältnissen, Antagonis‐ men und Machtkämpfen geprägt, und seine Auffassung des Feldes spiegelt dieses Bild wider. Auch im Feld geht es um die Frage nach der legitimen II. Der Kampf um das Feld als Heteronomie: Pierre Bourdieus Kunstsoziologie 453 62 N. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, op. cit., 292. 63 P. Bourdieu, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt, Suhrkamp, 2016 (7. Aufl.), S. 68. Kultur als Kunst oder Literatur und um die komplementäre Frage nach den Machtverhältnissen, die darüber entscheiden, welcher Kunst- oder Literaturbegriff sich letztlich durchsetzt. 4. Zwei Modelle der Differenzierung: Von Luhmann zu Bourdieu Wie sehr Luhmann in seiner Theorie der künstlerisch-ästhetischen Aus‐ differenzierung Herrschafts- und Machtstrukturen zusammen mit allen subjektiven Strebungen ausblendet, zeigt der folgende Satz aus Die Kunst der Gesellschaft: „Ein Vorzug dieser Auffassung ist, daß man der Frage eines ‚Führungswechsels‘ der Kunstarten im Prozeß der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung des Kunstsystems nachgehen kann.“ 62 Sicherlich kann man das; aber Köhler hat gezeigt, wie sehr der „Führungswechsel“ im Gat‐ tungssystem mit dem Aufstieg sozialer Gruppierungen und ihren Interessen zusammenhängt. Es ist kaum möglich, ihn zu erklären, ohne diesen sozialen Faktor zu berücksichtigen. Vor diesem Hintergrund unterscheidet sich Bourdieus Auffassung des künstlerischen Feldes in zweierlei Hinsicht von Luhmanns Auffassung des Kunstsystems: 1. Bourdieu zeigt, daß jedem „Führungswechsel“ ein Kampf um die legitime, die herrschende Kunst- oder Literaturauffassung voraus‐ geht und läßt so den Nexus von Felddynamik, Interesse und Machtpotential hervortreten. 2. Er zeigt zugleich, daß im Feld selbst um die Autonomie des Feldes und der Kunst gerungen wird: um ihre Unabhängigkeit von Wirtschaft und Politik. Im folgenden sollen diese beiden Aspekte seiner Kunstsoziologie näher betrachtet werden. Wie wichtig der subjektive Faktor als Interesse, Machtstreben und Hand‐ lung für Bourdieu ist, lassen seine Überlegungen zum Begriff der illusio erkennen, der das affektive Engagement einer Person für Wirtschaft, Politik oder Kunst meint: „Dem Funktionieren aller sozialen Felder, dem der Literatur wie der Macht, liegt die illusio zugrunde, die Investition ins Spiel und die affektive Besetzung des Spiels.“ 63 Dieses Engagement ist nicht nur allgemeiner Art, ein Engagement für das Feld der Politik oder der Kunst, sondern hat spezifischen Charakter. Wie der Politiker, der sich für eine liberale, „grüne“, konservative oder sozialistische X. Ästhetik der Soziologie / Soziologie der Ästhetik: Von Luhmann zu Bourdieu 454 64 Ibid., S. 99. 65 Ibid., S. 103. 66 Ibid., S. 166. 67 P. Bourdieu, Soziologische Fragen, Frankfurt, Suhrkamp, 2014 (5. Aufl.), S. 203. Politik einsetzt (und nicht nur für die Autonomie des politischen Feldes), kämpft ein Künstler wie Flaubert oder Baudelaire für die Legitimität und die Hegemonie einer bestimmten Literatur- und Kunstauffassung, einer Ästhetik. Weit davon entfernt, radikal-autonom oder „autopoietisch“ zu sein, übernimmt das künstlerische Feld die sich in der Politik durchsetzenden Gedanken: „Als etwa in den letzten Jahren der Juli-Monarchie der Schwer‐ punkt des Feldes sich nach links verlagert, läßt sich auch eine verstärkte Hinwendung zum art social und zu den sozialistischen Ideen beobachten (…).“ 64 Komplementär zu diesen „Beziehungen zwischen dem literarischen Feld und dem Macht-Feld“ 65 verhalten sich die Kämpfe innerhalb des Feldes. In Les Règles de l’art (1992, dt. Die Regeln der Kunst, 2001) stellt Bour‐ dieu Flauberts Roman L’Education sentimentale (1870, dt. Die Erziehung des Herzens, 1957) in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen und deutet ihn im Rahmen einer im Feld stattfindenden Auseinandersetzung um den legitimen literarischen und künstlerischen Standpunkt: „Die Erziehung des Herzens bietet sicher das vollendetste Beispiel jener Konfrontation mit der Gesamtheit der relevanten Positionierungen.“ 66 Dabei geht es um die Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Kunst und dem art social: „Als Verteidiger des L’art pour l’art nimmt Flaubert im literarischen Produktionsfeld eine neutrale Stellung ein, die durch eine (als zweifache Ablehnung erfahrene) zweifache negative Beziehung definiert ist: zur ‚sozialen Kunst‘ und zur ‚bürgerlichen Kunst‘.“ 67 Anders als Luhmann identifiziert Bourdieu das literarische oder künstle‐ rische Feld nicht mit der modernen oder avantgardistischen Autonomieästhetik, sondern zeigt, wie im Feld verschiedene Poetiken und Ästhetiken miteinander rivalisieren und um die Vormachtstellung ringen. Dabei spielt die Klassenzugehörigkeit der kämpfenden Gruppen durchaus eine wichtige Rolle. Dies wird in den Auseinandersetzungen zwischen Symbolisten und „Dé‐ cadents“ deutlich: „Die aus besseren Kreisen (das heißt aus dem mittleren und hohen Bürgertum und dem Adel) hervorgegangenen hochgebildeten Symbolisten stehen in Gegensatz zu den oft aus Handwerkerfamilien stam‐ II. Der Kampf um das Feld als Heteronomie: Pierre Bourdieus Kunstsoziologie 455 68 P. Bourdieu, Die Regeln der Kunst, op. cit., S. 423. 69 Vgl. P. Bourdieu, Über das Fernsehen, Frankfurt, Suhrkamp, 1998, S. 88. 70 P. Bourdieu, Die Regeln der Kunst, op. cit., S. 113. 71 G. Kneer, „Differenzierung bei Luhmann und Bourdieu. Ein Theorienvergleich“, in: A. Nassehi, G. Nollmann (Hrsg.), Bourdieu und Luhmann. Ein Theorievergleich, Frankfurt, Suhrkamp, 2004, S. 47. menden Décadents, von denen kaum einer studiert hat, ganz wie der Salon (die Dienstagsempfänge Mallarmés) in Gegensatz zum Café (…).“ 68 In dieser Perspektive erscheint die Feldautonomie nicht als vollendete Tatsache, sondern als prekärer, weil stets umkämpfter Autonomisierungspro‐ zeß, der - wie das wissenschaftliche Feld - von heteronomen Interferenzen und Tendenzen bedroht wird. Wie die Wissenschaft, die sich gegen Verein‐ nahmungsversuche seitens des Journalismus zu wehren hat 69 , sieht sich das literarische Feld immer wieder genötigt, die ökonomische Heteronomie abzuwehren. Ein Beispiel dafür ist Baudelaires Entscheidung, die Angebote großer Verlagshäuser wie Hachette, Lévy und Larousse, die kommerzielle Literatur vertreiben, auszuschlagen und sich mit einem Kleinverleger - Poulet-Ma‐ lassis - zu verbünden, der Werke der damaligen Avantgarde veröffentlicht. So, kommentiert Bourdieu, „führt Baudelaire erstmals den Einschnitt zwischen kommerziellem und avantgardistischem Verlagswesen herbei; er trägt so zur Entwicklung eines dem Feld der Schriftsteller homologen Felds der Verleger bei und zugleich zur Etablierung einer strukturellen Verbindung von kämpferischem Verleger und Schriftsteller (…).“ 70 Hier wird der Kampf im Feld zum Kampf um das Feld: um seine Autonomie, deren Existenz nie endgültig abgesichert ist. Zugleich wird deutlich, daß nicht nur Schriftsteller und Schriftstellergruppen in den Kampf involviert sind, sondern auch Verlage (und andere Institutionen wie Akademien). Im Gegensatz dazu erscheint bei Luhmann die Autonomie des Kunstsystems als gegeben und nicht als umkämpftes Objekt, dessen Eigenart immer wieder verteidigt und bestätigt werden muß: und zwar sowohl im System als auch außerhalb. Insofern hat Georg Kneer recht, wenn er in einem Vergleich von Luhmann und Bourdieu bemerkt, Bourdieu unterscheide „zwischen verschiedenen Graden der Autonomie“. 71 Er wird dazu von seiner eigenen Auffassung des Feldes angehalten, das anders als Luhmanns System nicht geschlossen, sondern für Einflüsse und Interferenzen grundsätzlich offen ist. X. Ästhetik der Soziologie / Soziologie der Ästhetik: Von Luhmann zu Bourdieu 456 72 P. Bourdieu, Die Regeln der Kunst, op. cit., S. 86. 73 Ibid., S. 87. 74 P. Bourdieu, Die Regeln der Kunst, op. cit., S. 530. 75 J. Baudrillard, Le Pacte de lucidité ou l’intelligence du Mal, Paris, Galilée, 2004, S. 89. Dies veranschaulichen seine Kommentare zum literarischen Feld im Second Empire, wo „die politischen Stellen und die Mitglieder der Kaiserfa‐ milie direkten Einfluß auf das literarisch-künstlerische Feld“ 72 ausüben. Die politische Heteronomie wird durch die wirtschaftliche potenziert: „Der Ge‐ schmack der an die Macht gekommenen Aufsteiger favorisiert den Roman, und zwar in seinen schlichtesten Formen - wie Fortsetzungsroman in den Zeitungen, die am Hof und in den Ministerien verschlungen werden und lukrative verlegerische Unternehmungen in Gang setzen (…).“ 73 Insgesamt zeigt Bourdieu mehr sozialen Realitätssinn als Luhmann, wenn er statt von „operativ geschlossenen“ oder „autopoietischen Systemen“ von Wechselwirkungen und Interferenzen zwischen Feldern ausgeht, die die Autonomie des künstlerisch-literarischen Feldes akut bedrohen. In der heutigen Zeit stellt die wirtschaftliche Heteronomie eine größere Gefahr dar als die politische: „Die Bedrohungen der Autonomie resultieren aus der zunehmenden gegenseitigen Durchdringung der Welt der Kunst und des Geldes. Ich denke an die neuen Formen von Kultursponsoring und an die neuen Allianzen, die zwischen bestimmten Wirtschaftsunternehmen, oft den modernsten - wie in Deutschland Daimler-Benz oder den Banken - und den Kulturproduzenten geschlossen werden (…).“ 74 Jean Baudrillard treibt diese Argumentation wie immer ins Extreme, berührt aber eine wunde Stelle in der Kunstentwicklung, wenn er zur zeit‐ genössischen Kunst bemerkt: „Nichts unterscheidet sie von den Verfahren der Technik, der Werbung, der Medien, der Rechner.“ 75 Bourdieus Verdienst besteht darin, den Differenzierungsprozeß, aus dem die autonome Kunst hervorgeht, durch Begriffe wie Klassenzugehörigkeit, Macht und Handlung ergänzt und konkretisiert zu haben. Zugleich hat er die poetisch-ästhetische Heterogenität des literarisch-künstlerischen Bereichs, die aus divergieren‐ den Gruppeninteressen ableitbar ist, aufgezeigt. 5. Soziologie der Ästhetik: Die Entstehung der Autonomieästhetik Bourdieu versteht seine Soziologie als kritische Auseinandersetzung mit einem common sense des Alltags, der bestimmte soziale Erscheinungen II. Der Kampf um das Feld als Heteronomie: Pierre Bourdieus Kunstsoziologie 457 76 Vgl. L. Goldmann, „Die strukturalistisch-genetische Methode in der Litreraturge‐ schichte“, in: ders., Soziologie des Romans, Frankfurt, Suhrkamp, 1984 sowie A. Gold‐ mann (Hrsg.), Le Structuralisme génétique. L’œuvre et l’influence de Lucien Goldmann, Paris, Denoël-Gonthier, 1977. 77 P. Bourdieu, Über den Staat, op. cit., S. 164. 78 P. Bourdieu, Die Regeln der Kunst, op. cit., S. 223. - etwa künstlerische Praktiken, politische Einrichtungen oder Frauen- und Männerrollen - für natürlich und unabänderlich hält. Im Gegensatz zu dieser naiven Auffassung des Sozialen schlägt er im Anschluß an Lu‐ cien Goldmann 76 einen „genetischen Strukturalismus“ vor, der nach der sozio-historischen Entstehung gesellschaftlicher Strukturen fragt. Er erklärt: „Die Soziologie, wie ich sie verstehe, ist ein genetischer Strukturalismus oder eine strukturale Genetik.“ 77 Diese Variante des Strukturalismus gründet auf den folgenden Überlegun‐ gen: Strukturen und Institutionen sind nicht als natürliche Gegebenheiten aufzufassen, sondern als historische Erscheinungen, die durch individuelles und kollektives Handeln zustande kommen, das besondere Interessen arti‐ kuliert. In letzter Instanz ist die historische Genese von Strukturen aus den oft widersprüchlichen Interessen von Akteuren und ihren Handlungen ab‐ leitbar. Bourdieu nennt diese interessen- und handlungsorientierte Betrach‐ tungsweise, die Struktur und Handlung aufeinander bezieht, Praxeologie. In ihrer Perspektive versucht er, die Entstehung der Autonomieästhetik zu erklären. Wie Luhmann leitet er sie in einem ersten Schritt aus dem Differenzierungsprozeß ab: „Die Bewegung des künstlerischen und des literarischen Feldes hin zu immer mehr Autonomie geht einher mit einem Prozeß der Differenzierung der künstlerischen Ausdrucksformen und einer fortschreitenden Aufdeckung der Form (…).“ 78 Im Gegensatz zu Luhmann identifiziert er die Feldautonomie nicht mit der Autonomieästhetik als Formprinzip, sondern zeigt, wie sich diese Ästhetik im Spannungsfeld zwischen Autonomie und Heteronomie behaupten muß. Da Autonomie im Laufe der historischen und sozialen Entwicklung entstanden ist, ist es denkbar, daß sie im Kampf gegen heteronome Tendenzen unterliegt und dabei ganz oder teilweise rückgängig gemacht wird. In diesem Kontext erscheint nicht nur die Differenzierung, sondern auch der Interessenkonflikt als treibende Kraft sozialer Entwicklung: „Daher sind die Felder der Kulturproduktion fortwährend Schauplatz einer Auseinan‐ dersetzung zwischen zwei Hierarchisierungsprinzipien: dem heteronomen Prinzip, das diejenigen begünstigt, die das Feld ökonomisch und politisch X. Ästhetik der Soziologie / Soziologie der Ästhetik: Von Luhmann zu Bourdieu 458 79 Ibid., S. 344. 80 Ibid., S. 453. 81 P. Bourdieu, A. Darbel, L’Amour de l’art, op. cit., S. 162. 82 Vgl. G. Genette, L’œuvre d’art. Immanence et transcendance, Paris, Seuil, 1994, S. 10-12. beherrschen (zum Beispiel die ‚bürgerliche Kunst‘), und dem autonomen Prinzip (zum Beispiel dem L’art pour l’art), das seine radikalsten Verfechter dazu treibt, irdisches Scheitern als Zeichen der Erwähltheit anzusehen und den Erfolg als Mal der Auslieferung an den Zeitgeschmack.“ 79 Diese Passage läßt drei wesentliche Aspekte von Bourdieus Kunstsozio‐ logie erkennen: 1. Das Feld der Kunst ist nicht ein für allemal ausdifferenziert und autonom im Sinne von Luhmanns „Autopoiesis“, sondern muß seine Autonomie immer wieder gegen heteronome Tendenzen verteidigen. 2. Diese Tendenzen sind nicht nur aus Differenzierungs- oder Entdifferen‐ zierungsprozessen ableitbar, sondern artikulieren als „bürgerliche“ oder „soziale Kunst“ kollektive Interessen und deren Ästhetiken. 3. Die radika‐ len Verfechter der Autonomie meinen, im Markterfolg die ökonomische Heteronomie zu erkennen, die es in erster Linie zu bekämpfen gilt. Dabei vergessen oder verschweigen sie die Tatsache, daß ihre Produktion und Rezeption der Kunst „um der Kunst willen“ keine reine Wesensschau ist, sondern eine sozio-historische Vorgeschichte hat. An diesen letzten Punkt knüpfen die folgenden Überlegungen an. Bourdieu wendet sich gegen die Verabsolutierung von Kants These, daß das Schöne mit „interesselosem Wohlgefallen“ um seiner selbst willen zu betrachten sei (vgl. Kap. I). Er und Darbel nehmen sich eine „historische Anamnese“ 80 dieser These vor: „Der Soziologe nimmt sich nicht vor, Kants Formulierung, der zufolge ‚das Schöne ohne Begriff gefällt‘, zu widerlegen, sondern die gesellschaftlichen Bedingungen zu definieren, die diese Erfah‐ rung ermöglichen.“ 81 Er fragt nach der sozialen Genese dieser Autonomieästhetik im literarisch-künstlerischen Feld, in dem Dichter wie Paul Valéry und Literaturtheoretiker wie die New Critics oder die Formalisten diese Ästhetik im Kampf gegen Realismus, Naturalismus oder Marxismus radika‐ lisiert und nuanciert haben (vgl. Kap. II. 5). Dem Formalisten-Strukturalisten Jakobson und dem radikalen Verfechter der Kunstautonomie Gérard Genette 82 wirft Bourdieu vor, den gesellschaft‐ lichen und historischen Prozeß der Autonomisierung unberücksichtigt zu lassen. Von der strukturalen Semiologie heißt es in Die Regeln der Kunst: „Von Jakobson bis Genette klammert sie die Historizität der Kulturwerke II. Der Kampf um das Feld als Heteronomie: Pierre Bourdieus Kunstsoziologie 459 83 P. Bourdieu, Die Regeln der Kunst, op. cit., S. 313. 84 Ibid., S. 314. 85 Ibid. tendenziell aus und behandelt den literarischen Gegenstand als autonome Einheit, die ihren eigenen Gesetzen folgt und ihre ‚Literarizität‘ oder ‚Poe‐ tizität‘ der besonderen Behandlung verdankt, der ihr sprachliches Material unterzogen wurde (…).“ 83 Aus der Sicht seines „genetischen Strukturalismus“ erscheinen sowohl Genette als auch Jakobson als Phänomenologen und Strukturalisten, die durchweg antigenetisch (d. h. unhistorisch) denken und argumentieren: „Und Genette formuliert das in solchen Wesensanalysen, die bei Jakobson aus einer Kombination von Saussure und Husserl hervorgegangen und fun‐ damental antigenetisch ausgerichtet sind (…).“ 84 Sowohl den Formalisten als auch den Strukturalisten und den New Critics wirft er eine „Verabsolutierung des Textes“ 85 vor. Einen vergleichbaren Vorwurf könnte er an Luhmanns Adresse richten: Luhmann beschreibt zwar in allen Einzelheiten die Entstehung künstleri‐ scher Autonomie im sozialen Differenzierungsprozeß, übersieht aber, daß im Feld (oder System) Autonomie und Heteronomie kollidieren und verschie‐ dene Ästhetiken dort um die legitime Auffassung von Literatur und Kunst kämpfen. Er macht sich eine formalistisch-avantgardistische Ästhetik zu eigen, welche die Innovation als Negation der literarischen Vergangenheit zum obersten Wert erhebt und heteronomen Ästhetiken oder einer vergangen‐ heitsbezogenen Postmoderne nicht gerecht wird. Unreflektiert bleibt in diesem Fall - ähnlich wie bei den Formalisten und den New Critics - der eigene, im autonomen Feld erworbene Habitus (als „inkorporiertes Wissen“), der nur die radikale Autonomie als Selbstbezogen‐ heit oder Autoreferentialität gelten läßt. Es ist der Habitus des kultivierten Bildungsbürgers, der autonome Kunst höher veranschlagt als alle anderen Formen. Es ist auch der Habitus Baudelaires (s. o.), der gleichsam instinktiv nur eine Kunst gelten läßt, die den Markterfolg mit Mißtrauen betrachtet, weil sie ihn auf eine konziliante Haltung der Wirtschaft und dem Utilitaris‐ mus gegenüber zurückführt. X. Ästhetik der Soziologie / Soziologie der Ästhetik: Von Luhmann zu Bourdieu 460 86 Vgl. P. Bourdieu, Langage et pouvoir symbolique, Paris, Seuil, 2001, S. 88 und S. 209. 87 P. Bourdieu, Das politische Feld, op. cit., S. 49. 88 C. Bohn, Habitus und Kontext. Ein kritischer Beitrag zur Sozialtheorie Bourdieus, Opladen, Westdeutscher Verlag, 1991, S. 96. 6. Ästhetik der Soziologie: Der Kampf um das Feld als Heteronomie und Habitus Luhmann müßte Bourdieus Kritik an seiner Auffassung der Kunstautonomie nicht gelten lassen, sondern könnte einwenden, daß Bourdieus Unterschei‐ dung von Autonomiegraden und seine Darstellungen verschiedener Hete‐ ronomien im künstlerischen Feld dieses Feld aufzulösen drohen. Er könnte auf Bourdieus Betonung der Interferenzen zwischen Feldern hinweisen und die Frage aufwerfen, ob eine systematische Erforschung dieser Interferenzen die Einteilung der Gesellschaft in Felder nicht unterläuft oder gar rückgängig macht. Er könnte schließlich daran erinnern, daß Bourdieu immer wieder sehr allgemein vom „sprachlichen Feld“ oder „vom Feld des Klassenkampfes“ spricht 86 und dadurch die Definierbarkeit der Feldgrenzen selbst in Frage stellt. Bourdieu könnte freilich entgegnen, daß Luhmann in seiner Soziologie des Kunstsystems mit einem vergleichbaren Problem konfrontiert wird: denn er muß versuchen, nicht nur die im System oder Feld rivalisierenden Ästhetiken, sondern auch die extrem heterogenen Gesetze, denen Musik, Malerei, Literatur und Film gehorchen, auf einen „autopoietischen“ Nenner zu bringen. Es mag sein, daß die Umrisse von Luhmanns „System“ klarer hervortreten als die des „Feldes“, das nach allen Seiten hin offen ist und mit seiner - wirtschaftlichen oder politischen - Umwelt zu verschmelzen droht. Indes hat Bourdieus „Feld“ den Vorteil, daß es als dynamische Einheit und als Bühne fungieren kann, auf der Kämpfe um die legitime, die hegemoniale Ästhetik oder Poetik ausgetragen werden. „Ein Feld ist ein Kräftefeld und ein Kampffeld zur Veränderung der Kräfteverhältnisse“ 87 , erklärt Bourdieu, und Cornelia Bohn ergänzt: „Das Grundparadigma des Sozialen ist für Bourdieu konfliktreiches Marktgesche‐ hen; die sich daraus ergebenden Modi des Sozialen: Tausch, Kampf und Konkurrenz.“ 88 Vor allem in diesem Kommentar tritt der Gegensatz zu Luhmann klar zutage: Wie Talcott Parsons betrachtet Luhmann Geld und Macht eher als Kommunikationsmedien, denn als Mittel der Herrschaft oder der Macht‐ II. Der Kampf um das Feld als Heteronomie: Pierre Bourdieus Kunstsoziologie 461 89 P. Bourdieu, Die Regeln der Kunst, op. cit., S. 386. 90 Ibid., S. 371. ausübung. Bourdieu hingegen versucht zu zeigen, wie die Dynamik des künstlerischen Feldes von Machtansprüchen, Konflikten und Kämpfen in Gang gehalten wird und - parallel zur kontinuierlichen Differenzierung - das Feld verändert. Wie sehen diese Kämpfe konkret aus? Zunächst seien hier die Voraussetzungen skizziert, die über Erfolg oder Mißerfolg im Feld entscheiden. Zu ihnen gehört an erster Stelle der Habi‐ tus als erworbenes Wissen und Können, das es einem einzelnen Künstler oder einer Künstlergruppe gestattet, sich im Feld zu orientieren und die Positionen anderer Künstler und Gruppen richtig einzuschätzen. Diese Orientierung setzt wiederum historische Kenntnisse voraus, die vor allem die Entstehung des Feldes betreffen. Unkenntnis seiner Geschichte schließt einen Erwerb des Habitus als ästhetisch-poetischer Kompetenz aus: „Auf einer fortgeschrittenen Stufe seiner Entwicklung räumt das künstlerische Feld denen keinen Platz ein, die die Geschichte des Feldes und alles, was es hervorgebracht hat (…), nicht kennen.“ 89 „Habitus“ erscheint hier als Erwerb eines historischen Wissens um die Entstehung und die Spielregeln des Feldes mitsamt seinen Werten und Nor‐ men. Bourdieu spricht vom „Raum des Möglichen“, „der von Positionierun‐ gen strukturiert und ausgefüllt ist, die sich hier als objektive Möglichkeiten, als ‚machbar‘ abzeichnen“. 90 Es geht mit anderen Worten um die Frage, was zu einem bestimmten Zeitpunkt im Feld gedacht, gesagt und getan werden kann. Ein praktisches Beispiel soll verdeutlichen, was gemeint ist. Ein Univer‐ sitätskollege mit literarischen Ambitionen legt uns zur Begutachtung einen satirischen Text vor, der die Diskussionsstrategien in einer Fakultätskon‐ ferenz zum Gegenstand hat. Wir merken bei der ersten Durchsicht, daß eine konkrete, innovative Perspektive fehlt, daß bekannte Stereotypen und schwerfällige Redewendungen nicht vermieden wurden und daß die „lustigen Episoden“ bestenfalls auf jemanden erheiternd wirken, der mit den Protagonisten seit langem vertraut ist und ihren Sprachduktus auf Anhieb erkennt. So schonend wie möglich versuchen wir dem Kollegen zu erklären, daß ihm der Feldhabitus fehlt, der zusammen mit Prousts Konversationssatiren in A la recherche du temps perdu die Kenntnis von Hugo von Hofmannsthals und Oscar Wildes Konversationsdramen voraussetzt - und noch einiges X. Ästhetik der Soziologie / Soziologie der Ästhetik: Von Luhmann zu Bourdieu 462 91 Ibid., S. 380. 92 Vgl. P. Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt, Suhrkamp, 1982, S. 298-311: „Die Arten des sich Unterscheidens“. 93 P. Bourdieu, Die Regeln der Kunst, op. cit., S. 380. 94 Vgl. A. Breton, Position politique du surréalisme (1935), Paris, Pauvert (1962), 1971, S. 126: „(…) il serait désirable que nous établissions une ligne très précise de démarcation entre ce qui est surréaliste dans son essence et ce qui cherche, à des fins publicitaires ou autres, à se faire passer pour tel.“ mehr. Der Kollege ist sichtlich enttäuscht: Anscheinend hat er als „Querein‐ steiger“ kein Glück im Feld. Um die Enttäuschung zu mildern, schenken wir ihm noch in derselben Woche Bourdieus Die Regeln der Kunst (mit ein paar eingelegten Zetteln als Markierungen). Der Habitus ist nicht vom kulturellen (sprachlichen) Kapital zu trennen, auf dem das gesamte Kunstfeld gründet und das darüber entscheidet, welcher Künstler, welche Gruppe von Künstlern im Vorteil, welche im Nachteil ist. Zusammen mit dem Habitus ermöglicht das kulturelle Kapital einem Einzelnen oder einer Gruppe, die literarische Evolution (zumindest eines Landes wie Frankreich) zu überblicken und im „Raum des Möglichen“ nach Distinktionsmerkmalen zu fahnden, die es gestatten würden, einen neuen Stil zu begründen und eine neue Feldposition einzunehmen. „Unleugbar ist der Effekt der Notwendigkeit“, bemerkt Bourdieu, „sich abzusetzen, um zu existieren (…).“ 91 Auf die „Distinktion“ als den „feinen Unterschied“ 92 kommt es an, wenn André Breton „in seinen Beziehungen zu konkurrierenden Gruppen wie der Tzaras oder der Golls und Dermées, die ebenfalls die Bezeichnung Surrealismus für sich in Anspruch nehmen, nachdrücklich herauskehrt, was sie unterscheidet“. 93 An dieser Stelle werden Ähnlichkeiten zwischen dem künstlerischen und dem politischen Feld sichtbar. Wie die Künstlergruppen heben auch politi‐ sche Gruppierungen und Parteien ihre Unterscheidungsmerkmale hervor: Die „Linke“ positioniert sich eindeutig links von der SPD, die KPDML trennte sich seinerzeit von der KPD, indem sie ihr marxistisch-leninistisches Erbe unterstrich, und in Nordirland spaltete sich eine Gruppierung von der IRA als „True IRA“ ab. Der Kampf um das Feld ist demnach stets als Kampf um Distinktionen und Klassifikationen aufzufassen. Die Frage lautet: Wer ist der wahre Sozialist (Marxist), IRA-Kämpfer oder Surrealist? (Wobei manche politische Positionen bisweilen surrealistische Züge annehmen können, so wie literarische Positionierungen - etwa Bretons oder Marinettis - ins Politische hineinragen.) 94 II. Der Kampf um das Feld als Heteronomie: Pierre Bourdieus Kunstsoziologie 463 95 P. Bourdieu, Die Regeln der Kunst, op. cit., S. 430. 96 Ibid. 97 Ibid., S. 167. 98 Ibid. Wo Kunst und Politik ineinandergreifen, stellt sich die Frage nach der richtigen Strategie gleichsam von selbst. Denn es will durchaus einleuchten, daß dieser Schlüsselbegriff eng mit den Begriffen „kulturelles Kapital“ und „Habitus“ zusammenhängt. Ein Schriftsteller wie Flaubert kann nur dann die richtige Feldstrategie entwickeln, wenn er über ausreichend kulturelles Kapital verfügt und dieses Kapital als Habitus (als Wissen und Können) für seine Zwecke einsetzen kann. Die komplementäre Frage lautet, ob Strategie stets einem bewußten Kalkül entspringt: „Wie weit geht in die objektiven, durch Beobachtung nachweisbaren Strategien bewußte Berechnung ein? “ 95 Bourdieu antwortet, „daß eine einfache Antwort nicht möglich ist“. 96 Möglicherweise kommt es gar nicht auf diese Antwort an, sondern auf die Tatsache, daß Bourdieu versucht, Kunst, Literatur und literarische Zeitschrift primär als macht- und erfolgsorientierte Tätigkeiten in einem von Antagonismen und Kämpfen geprägten Feld zu erklären. Diese in jeder Hinsicht heteronome Einstellung zur Kunst wird durch seine Kommentare zur Auseinandersetzung zwischen Flaubert und Balzac veranschaulicht. Balzac erscheint Flaubert nicht einfach als Inspirations‐ quelle, sondern auch als ein zu bekämpfender Konkurrent, dessen Roman‐ kunst überboten werden soll. Zunächst stellt Bourdieu die Gesamtsituation dar, in der sich der Zwei‐ kampf zwischen L’Education sentimentale und der Comédie humaine ab‐ spielt: „Indem Flaubert sich an ein solches Sujet wagt, tritt er nicht nur gegen Murger und Champfleury an; die sind für ihn kein Maßstab. Vielmehr trifft er auch auf Balzac, nicht nur dessen Un Grand homme de Province à Paris, die Geschichte von neun armen jungen Männern, oder Un Prince de la bohème, sondern vor allem Le Lys dans la vallée.“ 97 Im folgenden Satz wird abermals deutlich, daß das künstlerische (lite‐ rarische) Feld nicht wie bei Luhmann von einer Ästhetik zusammengehal‐ ten, sondern von einander befehdenden Ästhetiken durchschnitten wird: „Gleichsam um besser seine Ablehnung der Balzacschen Ästhetik zu de‐ monstrieren, nimmt er sich ein typisches Sujet Balzacs vor (…).“ 98 Bei X. Ästhetik der Soziologie / Soziologie der Ästhetik: Von Luhmann zu Bourdieu 464 99 Ibid., S. 437. 100 Ibid. 101 Ibid., S. 438. 102 J. Leenhardt, „Les Règles de l’art de Pierre Bourdieu“, in: French Cultural Studies IV, 1993, S. 265. 103 Ibid., S. 266. 104 Ibid., S. 267. 105 Vgl. M. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Aus den Vorträgen und Aufzeichnungen seit Kriegsende (Hrsg. A. Schmidt), Frankfurt, Athenäum-Fischer, 1974, S. 17. Bourdieu sind diese konkurrierenden Ästhetiken primär erfolgs- und nicht wahrheitsorientiert. Diese heteronome Einstellung lassen auch seine Kommentare zu Mallar‐ més Dichtung erkennen, in denen Literatur als Illusion und als ein von der Gesellschaft sanktioniertes Spiel aufgefaßt wird, das der Dichter einsam genießt: „Er [Mallarmé] weiß, daß der einsame und recht narzißtische Genuß, den er mit allen Mitteln retten will, sich vor sich selbst als Illusion enthüllen muß, wenn er nicht in der illusio wurzelt, im kollektiven Glauben an das Spiel und an den Wert seiner Einsätze (…).“ 99 Literatur erscheint hier als ein Spiel unter anderen, das lediglich durch die illusio, das Engagement der Mitspieler im Feld, ermöglicht und in Gang gehalten wird. Sie sind für die Erhaltung „von Prestige und Geheimnistue‐ rei“ 100 verantwortlich, die Kunst und Literatur umgeben, „denen die großen humanistischen Betrugsunternehmen wenigstens durch ihre Heuchelei Ehrerbietung zollen“. 101 In seiner Rezension von Bourdieus Les Règles de l’art wirft Jacques Leenhardt dem Soziologen vor, die Literatur „der Welt der Wissenschaft oder des Wissens entgegenzusetzen“ („lʼopposer au monde de la science ou du savoir“). 102 „Das Interesse des Schriftstellers“, erläutert er Bourdieus Position, „bestehe darin, diesen Willen zum Vergessen, dieses Bedürfnis nach Opium zu befriedigen“. 103 Sein Fazit lautet, daß Bourdieu einen „Krieg gegen die Literatur“ 104 im Namen des rationalen Denkens führt. Tatsächlich läßt Bourdieu auch im literarisch-künstlerischen Bereich nur dieses Denken als „instrumentelle Vernunft“ (Horkheimer) 105 gelten, wenn er immer wieder zu zeigen versucht, wie Ästhetiken, Poetiken und Stile als Instrumente der Machtausübung im Kampf um die Feldherrschaft eingesetzt werden. In seiner „Analyse der Beziehungen zwischen literarischem Feld II. Der Kampf um das Feld als Heteronomie: Pierre Bourdieus Kunstsoziologie 465 106 P. Bourdieu, Die Regeln der Kunst, op. cit., S. 103. 107 Ibid., S. 100. 108 S. Mallarmé „Crise de vers / Vers-Krise“, in: ders., Kritische Schriften. Französisch und Deutsch (Hrsg. G. Goebel, B. Rommel), Gerlingen, Lambert Schneider-Bleicher, 1998, S. 229. 109 Ibid. und Macht-Feld“ 106 ist auch von den „Legitimationsinstrumente[n] in Kunst wie Literatur“ 107 die Rede. In dieser Hinsicht steht Bourdieu Hegel wesentlich näher als Kant. Ähnlich wie Hegel ordnet er die Erkenntnismodi der Literatur dem begriff‐ lichen Denken unter, wie Leenhardt richtig bemerkt. Anders als Hegel, der sich immerhin von der Kunst eine durch das Sinnliche vermittelte Erkenntnis wesentlicher Zusammenhänge verspricht, neigt Bourdieu dazu, Kunstproduktion auf einen Machtkampf im Feld zu reduzieren und den Erkenntniswert der Kunst, ihren Wahrheitsgehalt, zu vernachlässigen. Dennoch soll an der Bedeutung seiner Kultursoziologie für das Verständnis von künstlerisch-literarischen Rivalitäten und Konkurrenzkämp‐ fen nicht gezweifelt werden. Schon durch ihre Form lassen die futuristischen und surrealistischen Manifeste die Nähe dieser Kämpfe zu politischen Aus‐ einandersetzungen erkennen. Und auch in einer programmatischen Schrift wie Alain Robbe-Grillets Pour un nouveau roman (1963) ist unübersehbar der Wille am Werk, Vertreter traditioneller Romanformen aus dem literarischen Feld zu schlagen. Und trotzdem sind Kunst und Literatur nicht auf Feldstrategien oder gesellschaftlich geförderte Spiele und ihre illusio reduzierbar. In ihnen geht es auch um Kritik und Wahrheit. Dies wird gerade in Mallarmés Dichtung deutlich, die wie keine andere vor ihr die gesamte kommerzialisierte Kultur der im 19. Jahrhundert entstehenden Mediengesellschaft aufs Korn nimmt. Mallarmés Kampfansagen richten sich nicht primär an irgendwelche Ri‐ valen im „Feld“, sondern an die Stereotypen der kommerzialisierten Sprache, der „universellen Reportage“: „Erzählen, lehren, selbst beschreiben, das geht, und wiewohl es Jedem vielleicht zum Austausch des menschlichen Denkens genügen würde, aus der Hand des Nächsten schweigend eine Münze zu nehmen oder in sie zu legen, unterhält der elementare Gebrauch der Rede die universelle Reportage, an der, die Literatur ausgenommen, alles teilhat im gegenwärtigen Schrifttum.“ 108 Mallarmés Dichtung, die sich der „reinen Sprache“ verschrieben hat, steht „im Gegensatz zu einer leichtfaßlichen repräsentativen Geldwertfunktion“. 109 X. Ästhetik der Soziologie / Soziologie der Ästhetik: Von Luhmann zu Bourdieu 466 110 B. Brecht, Über Lyrik, op. cit., S. 47. 111 P. Bürger, in: P. Bourdieu, Rede und Antwort, Frankfurt, Suhrkamp, 1992, S. 157. 112 Ibid., S. 158. Ihre gesellschaftskritische Intention ist gar nicht so weit von der Bour‐ dieus entfernt, der immer wieder die Vorherrschaft des Marktes und die marktorientierte neoliberale Politik geißelt. Der Unterschied zwischen den beiden kritischen Einstellungen besteht darin, daß Bourdieu sie in soziolo‐ gische Terminologie kleidet, während Mallarmé sie mit der Vieldeutigkeit des lyrischen Wortes nur andeutet. Brecht, der die Gedichte Rilkes und Georges für „Manifeste des Klas‐ senkampfes“ (s. o.) hält, hätte für Mallarmés Dichtung kaum Verständnis gezeigt. Und doch schlägt auch er den formalen Weg ein, wenn er feststellt: „Das Leben, das sich allenthalben bei uns, wo die Grundlagen der Gesell‐ schaft umgestaltet werden, in neuen Formen abspielt, kann durch eine Literatur der alten Form nicht gestaltet und beeinflußt werden.“ 110 Diese politisch-formale Position veranschaulicht sein Episches Theater, das nicht primär als Feldstrategie, sondern als Instrument der Gesellschaftskritik: der Reflexion und Selbstreflexion, zu verstehen ist. Indem Bourdieu Kunst und Literatur vor allem als Machtinstrumente und Feldstrategien zu verstehen sucht, unterwirft er sie einer heteronomen Ästhetik, welche die zweite, die kritische Dimension der Kunst verdeckt. Bourdieu argumentiert an Peter Bürgers Einwand, „er betrachte die kulturellen Objekte lediglich als strategische Mittel“ 111 vorbei, wenn er den spezifischen Charakter des künstlerischen Feldes betont: „Ich sage zugleich aber auch, daß es dort, im Unterschied zum politischen Feld, um etwas ganz Spezifisches geht, wie auch, daß die dort angestrebte Macht und das Prestige von ganz besonderer Art sind (…).“ 112 Das versteht sich im Rahmen der Differenzierungstheorie von selbst; es gilt weiterhin jedoch der Vorwurf, daß Kunst bei Bourdieu der „instrumentellen Vernunft“ des Machtprinzips unterworfen und heteronom aufgefaßt wird. Zu dieser Eindimensionalität von Bourdieus Ästhetik gesellt sich ein Paradox: Es besteht darin, daß er als Soziologe, der immer wieder auf die Bedrohung der Felder durch Heteronomien und auf ihre Offenheit hinweist, die Entwicklung der Literatur vorwiegend im literarischen Feld untersucht. So bleiben ihre Reaktionen auf außerliterarische Erscheinungen - Religion, Philosophie, Politik - unberücksichtigt. II. Der Kampf um das Feld als Heteronomie: Pierre Bourdieus Kunstsoziologie 467 113 Vgl. G. Flaubert, „Dictionnaire des ‚idées reçues‘“, in: ders., Bouvard et Pécuchet, Paris, Garnier-Flammarion, 1966. 114 J. Becker, Umgebungen, Frankfurt, Suhrkamp (1970), 1974, S. 77. 115 B. Lahire, „Le Champ et le jeu: la spécificité de l’univers littéraire en question“, in: J.-P. Martin (Hrsg.), Bourdieu et la littérature, Nantes, Cécile Defaut, 2010, S. 152. Aber schon Mallarmés Kritik der ideologischen und kommerzialisierten Sprachen läßt die Frage nach der Interaktion zwischen literarischen und nichtliterarischen Sprachen aufkommen. Ist der Briefroman ohne die Brief‐ kultur, der Tagebuchroman ohne das Tagebuch zu verstehen? Kann eine Analyse, die die Kultur der Konversation und ihre Trägerschichten (die mondäne Salongesellschaft) ausklammert, den Konversationsdramen Hugo von Hofmannsthals und Oscar Wildes gerecht werden? Die beiden Schwächen von Bourdieus Kunstsoziologie - das heteronome Prinzip und die Fixierung auf das künstlerisch-literarische Feld - hängen in‐ sofern zusammen, als sie ihn daran hindern, nach der kritischen Dimension von Kunst und Literatur zu fragen: nach Flauberts Sprach- und Literatur‐ kritik (z. B. in Dictionnaire des „idées recues“) 113 , nach Mallarmés Kritik der „universellen Reportage“, die weit über das „Feld“ hinausreicht, und nach Prousts und Hofmannsthals Kritiken der mondänen Konversation. Wie ist z. B. der folgende Satz aus Jürgen Beckers Umgebungen zu verstehen: „Im Grunde ja ist jeder Satz Reklame“? 114 Auch er weist recht eindeutig und kritisch über das „literarische Feld“ hinaus: in die Welt der Werbung, des Kommerzes, die Becker immer wieder parodiert. Insofern kann man Bernard Lahire nur recht geben, wenn er Bourdieu ein „Eingeschlossen-Sein in den engen Grenzen des Feldes“ 115 vorwirft. Um sei‐ nem Argument Nachdruck zu verleihen, weist er auf Kafkas Prozeß-Roman hin, der nicht nur literarische Diskurse verarbeitet, sondern auch kritisch auf juristische Sprachen reagiert, die einem ganz anderen „Feld“ angehören. Es kommt hinzu, daß es recht schwierig sein dürfte, Kafka, der den Auftrag gab, sein Werk nach seinem Tode zu verbrennen, irgendwelche „Feldstrategien“ nachzuweisen. Literatur ist nicht nur fait social, sondern auch autonom, wie Theodor W. Adorno in seiner Ästhetischen Theorie schreibt. 7. Feldstrategie oder Kritik und Wahrheitsgehalt? Bourdieu und Adorno Das im vorigen Kapitel vorgeschlagene dialogische Verfahren, das zu einer besseren Erkenntnis der Objekte beitragen soll, wird auch im folgenden X. Ästhetik der Soziologie / Soziologie der Ästhetik: Von Luhmann zu Bourdieu 468 116 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften, Bd. 7 (Hrsg. G. Adorno, R. Tiedemann), Frankfurt, Suhrkamp, 1970, S. 16. 117 Th. W. Adorno, „Rede über Lyrik und Gesellschaft“, in: ders, Noten zur Literatur I, Frankfurt, Suhrkamp (1958), 1969, S. 97-98. 118 Th. W. Adorno, „George“, in: ders., Noten zur Literatur IV, Frankfurt, Suhrkamp, 1974, S. 49. erprobt. Es geht um die Frage, wie sich Bourdieus und Adornos Kunsttheo‐ rien zueinander verhalten und ob sie einander ergänzen. Daß sie einander widersprechen geht bereits aus dem letzten Satz des vorigen Abschnitts hervor: Im Gegensatz zu Bourdieu sieht Adorno im Kunstwerk nicht nur ein „soziales Faktum“, das im künstlerischen Feld auf eine Position festlegbar ist, sondern auch eine autonome Instanz, die gesellschaftskritisch wirkt. Zu diesem „Doppelcharakter der Kunst“ bemerkt er in seiner Ästhetischen Theorie: „Der Doppelcharakter der Kunst als autonom und als fait social teilt ohne Unterlaß der Zone ihrer Autonomie sich mit.“ 116 Während Luhmann die Entstehung der Autonomie im Differenzierungsprozeß nachzeichnet und schließlich am ästhetischen Autonomiepostulat festhält, betrachtet Bourdieu Kunst vornehmlich als soziales Faktum, dessen Autonomwerden er soziogenetisch erklärt - ohne jedoch alle Folgen des Strebens nach Autonomie zu berücksichtigen. Adornos These über den „Doppelcharakter der Kunst“ ist dazu angetan, die Betrachtungsweisen der beiden Soziologen zusammenzuführen. Davon zeugen seine Analysen von Stefan Georges Dichtung, in denen Ideologie und Ideologiekritik als Sprachkritik unentwirrbar ineinandergreifen. Dazu heißt es in Adornos „Rede über Lyrik und Gesellschaft“: „(…) Bei George klaffen Ideologie und gesellschaftskritischer Gehalt weit auseinander.“ 117 Die Ideologie als Herrschaftsanspruch und Herrschaftsinstrument ist mit Bourdieus „Feldstrategie“ durchaus verwandt. Adorno scheint eine „Feldstrategie“ des Dichters zu beschreiben, wenn er in einem Essay über George bemerkt: „Peinlich ein sich selbst setzender, aus dem Stilwillen geborener Aristokratismus, dem es ersichtlich an Tradition, Sicherheit und Geschmack gebricht.“ 118 An diesen ideologiekritischen Befund könnte Bourdieu anknüpfen und zeigen, wie George mit Hilfe eines hermetischen Stils, der Mallarmés Poetik nachempfunden ist, versucht, eine Feldposition einzunehmen, deren Erfolg von ihrer prononcierten Distanz zu Romantik, Neuromantik und Naturalismus abhängt. Tatsächlich zeigen Arbeiten über den George-Kreis, daß der Gedanke an eine erfolgreiche Positionierung im literarischen Feld dieser Gruppe nicht II. Der Kampf um das Feld als Heteronomie: Pierre Bourdieus Kunstsoziologie 469 119 M. Winkler, George-Kreis, Stuttgart, Metzler, 1972, S. 19. 120 J. Wertheimer, Dialogisches Sprechen im Werk Stefan Georges. Formen und Wandlungen, München, Fink, 1978, S. 184. 121 Th. W. Adorno, „George“, in: ders., Noten zur Literatur IV, op. cit., S. 49. 122 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, op. cit., S. 26. fremd war. So spricht beispielsweise Michael Winkler im Zusammenhang mit George von „seine[n] Lesungen im intim feierlichen Kreis gleichgesinn‐ ter Künstler und Gelehrter“. 119 Nicht nur dieses ästhetisch-poetische Ritual, sondern auch ein rhetorischer Sprachduktus im Spätwerk Georges kann Bourdieus literatursoziologische Betrachtungsweise veranschaulichen. George, dem Mallarmés Streben nach einer von der Alltagskommunika‐ tion abgehobenen, „reinen Sprache“ als Vorbild diente, entwickelt in seinem Spätwerk eine persuasive Rhetorik, die auf ideologische, politische Wirkung aus ist. Dazu bemerkt Jürgen Wertheimer: „Was anfangs (bis zum Jahr der Seele) Dialog mit dem Ich, Gespräch mit der eigenen Seele, den eigenen ‚Nerven‘ ist, wandelt sich immer deutlicher, ja abrupt zum Dialog mit anderen, zur Rede an die Öffentlichkeit, zum fordernden, kritisierenden, attackierenden Appell.“ 120 Diese ästhetisch-politische Einstellung läßt einerseits ein Machtstreben im Sinne von Bourdieu erkennen, zeigt zugleich aber, daß die Ambitionen des Dichters über das literarische Feld hinausreichen: in Gesellschaft und Politik. Diesem Umstand trägt Adorno - anders als Luhmann und Bourdieu - Rechnung, wenn er zur gesellschaftlichen Wirkung von George bemerkt: „Trotzdem hat er quantitativ erheblichen Gruppen des reaktionären deut‐ schen Bürgertums vor Hitler aus der Seele gesprochen.“ 121 Allerdings ver‐ nachlässigt Adorno den Nexus zwischen Schreibweise und Positionierung im literarischen Feld, zwischen stilistischer Innovation und Machtanspruch. Sein Augenmerk richtet sich - vor allem in der Ästhetischen Theorie - auf Kunst als Kritik. Er läßt eine Komponente von Kunst zutage treten, die bei Bourdieu im Dunkeln bleibt, wenn er in der Ästhetischen Theorie schreibt: „Kunst ist nicht nur der Statthalter einer besseren Praxis als der bis heute herrschenden, sondern ebenso Kritik von Praxis als der Herrschaft brutaler Selbsterhaltung inmitten des Bestehenden und um seinetwillen.“ 122 Dieser Satz, der sich u. a. auch auf Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung bezieht, in der Rationalismus und Positivismus als Ausdrucks‐ formen „der Herrschaft brutaler Selbsterhaltung“ kritisiert werden, wird von Adorno in einem Essay über Valéry konkretisiert. Dort heißt es vom Künstler: „Der Künstler, der das Kunstwerk trägt, ist nicht der je Einzelne, X. Ästhetik der Soziologie / Soziologie der Ästhetik: Von Luhmann zu Bourdieu 470 123 Th. W. Adorno, „Der Artist als Statthalter“, in: Noten zur Literatur I, op. cit., S. 194-195. 124 Th. W. Adorno, „Rede über Lyrik und Gesellschaft“, in: ders., Noten zur Literatur I, op. cit., S. 101. 125 Ibid. 126 S. Mallarmé, „Un Coup de dés“, in: ders., Gedichte. Französisch und Deutsch (Hrsg. G. Goebel), Gerlingen, Lambert Schneider, 1998, S. 287. 127 Th. W. Adorno, „Thesen über die Sprache des Philosophen“, in: Gesammelte Schriften, Bd. 1 (Hrsg. R. Tiedemann), Frankfurt, Suhrkamp, 1973, S. 369. 128 Die Bezeichnungen „Konstellation“ und „Konfiguration“ können als Synonyme aufge‐ faßt werden. Vgl. A. Bartonek, Philosophie im Konjunktiv. Nichtidentität als Ort der Möglichkeit des Utopischen in der negativen Dialektik Theodor W. Adornos, Würzburg, Königshausen und Neumann, 2011, S. 158-159. der es hervorbringt, sondern durch seine Arbeit, durch passive Aktivität wird er zum Statthalter des gesellschaftlichen Gesamtsubjekts.“ 123 Den kritischen Auftrag, den sie von Adorno empfängt, erfüllt Kunst, indem sie an der Form als Negation der ideologischen und kommerziellen Sinngebung festhält. Sie kritisiert Gesellschaft, indem sie sich von der markt‐ vermittelten intermedialen Kommunikation distanziert. In einem Kommen‐ tar zu Georges lyrischem Subjekt erklärt Adorno: „Es muß sich gleichsam zum Gefäß machen für die Idee einer reinen Sprache.“ 124 Er ergänzt: „Ihrer Errettung gelten die großen Gedichte Georges.“ 125 Dieser Rettungsversuch ist zugleich der Wahrheitsgehalt von Georges Dichtung. Im vierten Kapitel (IV. 3) sollte deutlich geworden sein, daß Adornos Gesellschaftskritik nicht von der Kritik sprachlicher Formen zu trennen ist. Als Alternative zum geschlossenen systematischen Diskurs schlägt er den Essay als offene Form vor, die im Besonderen und Singulären den Gesamtzusammenhang zutage treten läßt, ohne ihn in seiner Gesamtheit als Totalität erfassen zu wollen. Dem Essay liegt die Vorstellung von einem Denken in Konfigurationen oder Konstellationen zugrunde, das Benjamin und Adorno Mallarmés Ausdruck UNE CONSTELLATION 126 (in „Un Coup de dés“) verdanken. Dazu bemerkt Adorno in einer seiner Frühschriften im Zusammenhang mit dem Philosophen: „Es bleibt ihm keine Hoffnung als die, die Worte so um die neue Wahrheit zu stellen, daß deren bloße Konfiguration die neue Wahrheit ergibt.“ 127 Diese Konfiguration oder Konstellation 128 nimmt in Adornos postum veröffentlichter Ästhetischer Theorie die Form der Parataxis an, die Adorno vor allem der späten Dichtung Hölderlins entnimmt, zu der er bemerkt: „Musikhaft ist die Verwandlung der Sprache in eine Reihung, II. Der Kampf um das Feld als Heteronomie: Pierre Bourdieus Kunstsoziologie 471 129 Th. W. Adorno, „Parataxis. Zur späten Lyrik Hölderlins“, in: ders., Noten zur Literatur III, Frankfurt, Suhrkamp, 1965, S. 185. 130 A. Breton, Die Manifeste des Surrealismus, Reinbek, Rowohlt, 1996 (9. Aufl.), S. 37. 131 Vgl. W. Fähnders, „Subjektkonstitution und avantgardistischer Manifestantismus“, in: S. Bartoli Kucher, D. Böhme, T. Floreancig (Hrsg.), Das Subjekt in Literatur und Kunst, Tübingen, Francke, 2011, S. 240: „Das Manifest stammt aus dem politischen Bereich und hat seit den ersten bekannten Wortbelegen in der Frühen Neuzeit die Hauptbedeutung von Staats- und Herrschaftserklärung, z. B. als Kriegserklärung.“ deren Elemente anders sich verknüpfen als im Urteil.“ 129 Diese Sprache ist parataktisch (nicht-hypotaktisch, nicht-hierarchisch) und gleicht in ihrer Offenheit eher dem Saussureschen Paradigma als dem geschlossenen Syn‐ tagma als System. Dieses symbiotische Verhältnis von Theorie und Dichtung ist Bourdieu fremd. Im Zusammenhang mit Jacques Leenhardts Rezension von Les Règles de l’art hat sich gezeigt, daß Bourdieu Literatur und Kunst vom Standpunkt des wissenschaftlichen Diskurses aus betrachtet und weit davon entfernt ist, seine Theorie den mimetischen Verfahren der Dichtung (vgl. IV. 3. und 4.) anzugleichen. Dennoch kann seine Soziologie als Ergänzung zu Adornos Theorie der Kunst aufgefaßt werden. Die beiden Theorien sind insofern komplementär, als Kunst in ihrer Ambivalenz und ihrem „Doppelcharakter“ sowohl Feldstrategie als auch Kritik und Wahrheit ist. Vor allem im Zusammenhang mit den europäischen Avantgarden wird deutlich, daß Innovation, Machtanspruch und Wahrheitsgehalt nicht zu trennen sind. Im Surrealismus ist das Streben nach einer reinen, wahren Sprache allgegenwärtig, und avantgardistische Innovation dient diesem Streben. Im Ersten Manifest des Surrealismus sagt Breton den verbrauchten Redewendungen und kommerzialisierten Stereotypen den Kampf an, wenn er schreibt: „Ich glaube nicht, daß es in absehbarer Zeit ein surrealistisches Klischee gibt.“ 130 Hier paart sich Innovation mit Sprach- und Gesellschafts‐ kritik. In der Form des Manifests, auf dessen politischen Ursprung Walter Fähnders aufmerksam macht, sind Innovation, Kritik und Machtanspruch kaum zu entflechten. 131 Marinetti versucht, einen neuen, wahren Stil zu begründen und fordert mit seinem Manifest alle etablierten (klassizistischen, romantischen, realistischen) Gruppierungen und Strömungen heraus: „Von Italien aus schleudern wir unser Manifest voll mitreißender und zünden‐ X. Ästhetik der Soziologie / Soziologie der Ästhetik: Von Luhmann zu Bourdieu 472 132 F. T. Marinetti, „Manifest des Futurismus“, in: W. Asholt, W. Fähnders, Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909-1938), Stuttgart-Weimar, Metzler, 1995, S. 5. 133 Ibid. 134 W. Fähnders, Avantgarde und Moderne 1890-1933, Stuttgart-Weimar, Metzler, 1998, S. 123. 135 N. Gorlov, „Qu’est-ce que le futurisme? “, in: G. Conio (Hrsg.), Le Formalisme et le futurisme russes devant le marxisme, Lausanne, Ed. l’Age d’Homme, 1975, S. 170. der Heftigkeit in die Welt (…).“ 132 Zugleich soll aber eine neue, kritische Schreibweise begründet und legitimiert werden: „Wir werden die großen Menschenmengen besingen (…), besingen werden wir die nächtliche, vibrie‐ rende Glut der Arsenale und Werften, die von grellen elektrischen Monden erleuchtet werden (…).“ 133 In der Redewendung „elektrischen Monden“, die sich gegen die Mond-Romantik wendet, sind Feldstrategie und Kritik nicht mehr auseinanderzuhalten. Der Kampf gegen das verbrauchte romantische Klischee ist zugleich ein Kampf um eine Position im „Feld“. Die gesellschaftliche und sprachliche Situation der Jahrhundertwende stellt Walter Fähnders im Sinne von Bourdieu eher als ein Konfliktfeld dar: „Der Stilpluralismus der Jahrhundertwende wird endgültig abgelöst vom Konkurrenz- und Überbietungsdruck der einzelnen Richtungen im ‚Projekt Avantgarde‘.“ 134 Dies ist aber nur ein Aspekt der literarischen Evolution; der andere Aspekt tritt in einem schon im zweiten Kapitel zitierten Satz (II. 5) des russischen Futuristen Nikolaj Gorlov zutage: „Die Futuristen, die die alte Lebensart haßten, haßten auch die alte Sprache.“ 135 Es geht also nicht nur um eine bessere Positionierung im „Feld“, sondern auch um Gesellschaftskritik und Gesellschaftsveränderung. Es zeigt sich, wie schon im neunten Kapitel, daß eine Zusammenführung heterogener, aber vergleichbarer Theorien zu einem besseren (umfassen‐ deren, konkreteren) Verständnis des Gegenstandes Kunst oder Literatur beiträgt. Eine dialogische Theorie wendet sich gegen den monologischen Anspruch einzelner Theorien, die ganze Wahrheit über Gesellschaft, Wis‐ senschaft oder Kunst verkünden zu können. Erst die Zusammenführung heterogener Perspektiven wirft Licht aufs Ganze. II. Der Kampf um das Feld als Heteronomie: Pierre Bourdieus Kunstsoziologie 473 Auswahlbibliographien NB.: Diese Bibliographien enthalten nur die wichtigsten in den einzelnen Kapiteln zitierten oder erwähnten Aufsätze und Bücher. (Damit in der Bibliographie enthaltene URL in den elektronischen Formaten abgerufen werden können, ist das Literaturverzeichnis im Flattersatz gesetzt.) Einleitung Barthes, R., Mythen des Alltags, Frankfurt, Suhrkamp, 1964. Bense, M., Aesthetica, Baden-Baden, Agis, 1965. Bense, M., Die Realität der Literatur, Köln, Kiepenheuer und Witsch, 1971. Bubner, R., Dialektik und Wissenschaft, Frankfurt, Suhrkamp, 1973. Eagleton, T., Einführung in die Literaturtheorie, Stuttgart, Metzler, 1988. 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S. 70 Croce, B. 13, 31, 44f., 62-73, 164, 205, 217, 224, 242, 371 Culler, J. 350, 374, 386 Cuvier, G. 105 DʼAnnunzio, G. 59 Danella, U. 138 Darbel, A. 453, 459 Deleuze, G. 432 Demetz, P. 82 Demokrit 78 Derrida, J. 14f., 24, 29, 58, 61, 172, 185, 294, 339-363, 366-373, 375f., 380, 382f., 386f., 391, 394f., 397, 434 Register 502 Descartes, R. 318 Diderot, D. 312 Dieckmann, J. 442 Dijk, T. A. van 91 Dilthey, W. 116, 171, 235, 238, 243 Doležel, L. 232f. Donat, S. 202 Dostoevskij, F. M. 115, 122, 125, 127- 129, 133-135, 137, 140f., 143f., 180, 376 Doubrovsky, S. 335 Doz, A. 38, 419 Dresler-Brumme, Ch. 58 Dubarle, D. 38, 419 Dubiel, H. 174, 387 Dufrenne, M. 392f. Durant, A. 386 Durkheim, E. 21, 178, 191, 392, 436, 451 Dvořák, M. 196 Eagleton, T. 18, 115, 285 Eberbach, M. 300 Eco, U. 16f., 24, 138, 151, 251, 258, 290f., 297, 304-317, 361, 379, 399, 406f., 412f., 422, 429, 445f. Eibl, K. 406, 408 Eichendorff, J. v. 183-185, 189 Eimermacher, K. 230 Eisler, K. 27 Ejchenbaum, B. 76, 108-111, 122, 194, 207, 331 Empson, W. 69f. Engels, F. 63, 77f., 81-83, 90, 126, 166f., 354, 409 Ensor, J. 158f. Enthoven, R. 293 Epikur 78 Erben, K. J. 226 Erlich, V. 76, 111, 195 Escarpit, R. 101, 257 Eschbach, A. 285 Eßbach, W. 45-47, 55f. Eysteinsson, A. 9 Fabb, N. 386 Fabbri, P. 302 Falk, W. 140, 396 Fauconnet, P. 179 Fehn, G. 92 Felperin, H. 382 Feuerbach, L. 46f., 79, 115, 117, 124, 131, 133, 139, 166, 339, 345, 353, 355f. Feyerabend, P. 157 Fichte, J. G. 78, 85, 192 Fieguth, R. 267f. Fielding, G. H. 272 Figal, G. 171 Fischer, J. L. 198 Flaker, A. 120 Flaubert, G. 223, 301, 363, 375f., 455, 464, 468 Fleischer, M. 307 Fleming, I. 138, 317, 412 Fletcher, J. 398 Floreancig, T. 472 Fogazzaro, A. 67 Fontaine, J. 211 Forget, P. 350 Foucault, M. 99, 339f., 407 Fourier, Ch. 289, 291, 298 Francastel, P. 24 Frank, M. 350 Frege, G. 232f., 314, 407 Freud, S. 21, 25, 53, 115, 130, 132, 139- 141, 179, 291, 297, 343, 402 Fricke, D. 365 Friedrich, H. 60 Frisé, A. 275 Register 503 Früchtl, J. 164f. Fügen, H. N. 12 Fuhrmann, M. 250 Funke, G. 242 Gadamer, H. G. 12f., 18, 198, 236, 238- 247, 249-252, 254, 265 Galilei, G. 78, 98, 287 Garroni, E. 285 Gasparov, M. 136f. Genet, J. 97, 340, 356 Genette, G. 278, 366, 377f., 424, 459f. George, St. 59, 163, 176f., 183, 225, 231, 375, 420, 440f., 467, 469-471 Geuss, R. 372 Ghesquiere, R. 247, 272 Giddens, A. 390, 403 Gide, A. 57 Giegel, H. J. 245 Giovannoli, R. 316 Glasersfeld, E. v. 390, 426, 431 Goebel, G. 324, 466, 471 Goethe, J. W. v. 90, 96, 102f., 105, 128f., 134, 149, 190, 198, 210, 225, 248, 250- 253, 256, 376 Gogol, N. 76, 108-110, 122, 135 Goldmann, A. 458 Goldmann, L. 18, 77, 84f., 92, 97-103, 111f., 116, 167, 175, 181, 187, 201, 208f., 231, 237, 239f., 249, 253-257, 292, 302, 319, 335-337, 364, 366, 375, 393f., 401f., 409, 433, 458 Goll, Y 463 Gombrowicz, W. 97 Gorlov, N. 104, 107, 305, 473 Gorp, H. Van 144, 247, 272, 275 Gorz, A. 409f. Goth, J. 61, 373 Gottsched, J. Ch. 34 Goux, J.-J. 297, 356 Goya, F. 53, 439 Graff, P. 268 Gramsci, A. 63, 136 Greimas, A. J. 11f., 14, 17, 20, 25f., 45, 98, 105, 204, 230, 232, 266f., 278, 288, 291f., 302, 310, 314f., 318-323, 325- 337, 351f., 361, 364, 373, 378f., 393f., 398, 407, 413, 416f. Greshoff, R. 439f., 448 Grimaud, M. 431 Grimm, G. 282 Groeben, N. 247 Grübel, R. 121, 124, 131 Grzybek, P. 230 Gumbrecht, H. U. 68, 336, 438, 440, 444, 449 Günther, H. 110, 113f., 117, 124-126, 194, 222 Haas, R. 315 Habermas, J. 19, 41, 116, 134f., 150, 174, 245, 247, 358, 361, 374, 387, 389-391, 412, 423, 432 Haller, R. 264, 403, 430 Halliday, M. A. K. 406 Hamacher, W. 362, 374 Hansen-Löve, A. A. 76, 104, 106f., 202 Harris, Z. 266 Hartman, G. H. 341, 356, 380-385, 421 Hauptmeier, H. 18 Havránek, B. 193, 201, 204 Hegel, G. W. F. 11, 13-15, 17f., 26- 31, 34-59, 62-69, 71, 73, 75-81, 83- 92, 94, 97-100, 102f., 106, 114-116, 118, 121, 124-134, 136, 138-143, 147- 151, 153-155, 158, 163-170, 174-176, 178-181, 183, 191-193, 195-198, 200, 202, 206, 208f., 211, 213f., 217, 222, Register 504 227f., 233, 235, 239-241, 248f., 253, 256-258, 264, 268f., 271, 280f., 286, 288, 290, 318f., 335f., 339-343, 345- 347, 349f., 352-360, 362-365, 371- 373, 375, 382-384, 391-395, 419f., 422, 425, 466 Heidegger, M. 29, 184f., 228, 246f., 340- 342, 345f., 357, 360f., 387 Held, D. 390 Heller, A. 412 Hempfer, K. W. 361f. Hendricks, W. O. 330f. Henrich, D. 34 Heraklit 56, 99 Herbart, J. F. 49, 76, 192, 194f., 208, 222, 224 Hesse, H. 130, 139, 141, 210, 264 Heusden, B. v. 285 Hielscher, K. 110, 113f., 222 Hintikka, J. 314 Hjelmslev, L. 16, 19-23, 25, 43, 61, 65, 180f., 218, 296, 300, 307, 314, 319, 415 Hobbes, Th. 127, 156 Hobhouse, L. T. 73 Hobson, J. A. 73 Hockett, Ch. 23 Hodge, R. 406f. Hoek, L. H. 298 Hohendahl, P. U. 237 Hölderlin, F. 29, 172f., 184f., 189, 317f., 471f. Holenstein, E. 199 Hollstein-Brinkmann, H. 440 Holquist, M. 122, 132 Holz, H. H. 47, 151f., 157 Homer 80 Honneth, A. 374 Hook, S. 45f. Horaz 179, 236, 447 Hörisch, J. 349 Horkheimer, M. 19, 37, 137, 141, 169f., 306, 317, 352, 358, 362, 385-387, 392, 412, 422f., 432, 465, 470 Horster, D. 436 Hösle, V. 37 Hostinský, O. 192, 194-197, 208 Hugo, V. 256, 325, 462, 468 Hüllen, W. 315 Humboldt, W. v. 155 Hume, D. 127, 371 Husserl, E. 18, 191, 195f., 198-200, 215, 236, 238, 242, 258-261, 264, 268, 270, 273, 278, 340, 345-347, 359, 391, 460 Ihwe, J. 91, 205, 222, 319, 443 Ingarden, R. 95, 224, 236, 238, 258-272, 274, 276-278, 280, 301, 315 Iser, W. 95, 98, 235-238, 258-260, 266- 282, 301, 315 Jakobson, R. 113, 191-195, 197-208, 225-227, 251, 290, 304, 319, 393, 399, 401-404, 419f., 433, 442f., 459f. Jaksche, H. 278 James, H. 158, 269, 275, 305, 315 Jankovič, M. 229f. Jauß, H. R. 12, 80, 186-190, 220, 235- 239, 244-258, 260, 279-283, 292, 312, 317, 399, 414f., 419, 425, 433, 447 Jay, M. 41, 374 Jefferson, A. 334, 336 Jepsen, P. 170 Jimenez, M. 183 Jourdain, A. 452 Jouve, V. 299f. Joyce, J. 92, 115, 137, 275f., 305, 315f., 448 Józsa, P. 283 Register 505 Jurt, J. 283 Jůzl, M. 192, 197f. Kafka, F. 14, 30, 57, 90, 92, 137, 140f., 179f., 224, 275f., 308, 310, 323, 325, 379, 395-397, 399f., 413f., 468 Kager, R. 154, 164, 171 Kaiser, G. R. 105, 129, 457 Kalandra, Z. 192, 194, 198, 222 Kallmeyer, W. 322 Kant, I. 13, 15f., 18, 23, 29-37, 39-41, 46, 49-51, 56, 62, 65, 68-70, 73, 75f., 78, 84-86, 89, 92, 99, 102-106, 118, 121, 124, 127, 141f., 147, 149, 154f., 163- 165, 168-170, 174f., 178-180, 191- 199, 202, 206-208, 217, 222, 224, 227, 233, 235f., 240-242, 248, 256-258, 264f., 269f., 288, 290, 304, 340f., 371, 392f., 395, 422, 431, 433, 443, 445, 459, 466 Kautsky, M. 81, 90, 126 Kayser, W. 70, 235, 248, 418 Kesselring, Th. 39 Kierkegaard, S. 84, 93, 130f., 133, 140, 153, 164-166, 372f. Kim, T. 334 Kindt, W. 403f., 419f. Klein, W. 322 Klein-Braley, Ch. 315 Kloepfer, R. 320 Kneer, G. 440, 456 Kofler, L. 45, 88-90, 94 Köhler, E. 54, 112, 223, 320, 437, 449f., 452, 454 Konrad, K. 113f., 192, 221f. Köpf, G. 238, 284 Korsch, K. 167 Kress, G. 406f. Kristeva, J. 120, 144, 189f., 291, 295, 297, 349, 356, 369, 386, 390 Kroeber, B. 316 Kručonych, A. 105, 107f., 203f. Krumm, E. 297 Krzemien-Ojak, S. 268 Kubin, H. 242 Kuhn, Th. 247f., 395, 426-428 Lacan, J. 58, 301 Lachmann, R. 125, 137 Lagorio, S. 298 Lahire, B. 468 Lakatos, I. 395, 410 Landshut, S. 37, 77 Lange, W.-D. 129, 286, 336, 358, 365 Laska, P. 35 Lassalle, F. 81f. Lavers, A. 303f. Leenhardt, J. 247, 282f., 465f., 472 Lefebvre, H. 77, 281 Leibniz, G. W. 34 Lenin, V. I. 75, 93, 97, 117, 125, 129, 133, 143, 192, 279, 390, 411, 418 Lévi-Strauss, Cl. 99, 251, 326, 366, 399, 401-404, 420 Lifschitz, M. 83 Link, H. 274 Link, J. 322, 428 Liska, V. 9 Lobsien, E. 262 Locke, J. 276 Lope de Vega 187 Lotman, J. 307, 407, 415, 426 Löwith, K. 45-47, 55f., 61f. Lowy, M. 103 Loyola, I. de 289, 291, 298 Luckmann, Th. 279 Lüdke, W. M. 165, 171 Register 506 Ludwig XIV 47, 101, 133, 439 Luhmann, N. 9f., 13, 18, 223, 277, 433- 452, 454-461, 464, 469f. Lukács, G. 11, 18, 26f., 41, 45, 77, 81, 83- 94, 97, 99f., 102f., 116, 120, 134, 142, 157, 167, 175, 181, 187, 209, 213, 217, 240, 249, 253, 375f., 406, 409, 413f., 419, 423, 433f. Lunačarskij, A. V. 77, 114 Lyons, J. 23 Lyotard, J. F. 9, 129, 177 MacCabe, C. 386 Mácha, K. H. 204, 206f., 232, 251 Macherey, P. 78 Macura, V. 110, 217, 229 Majakovskij, V. 108, 204 Malenkow, G. 93 Malevič, K. 107, 204 Mallac, G. de 300 Mallarmé, S. 60, 88, 111, 155, 160, 163, 177, 189, 296-299, 324f., 348, 363- 369, 393, 456, 465-471 Mallet, S. 409 Malraux, A. 102 Man, P. de 340f., 370-380, 382 Mann, Th. 27, 58, 90f., 161, 314, 413f., 419 Mannheim, K. 12, 236, 245, 254, 256, 336, 406-411, 425 Marinetti, F. T. 80, 463, 472f. Markus, G. 87 Martens, W. 440 Martin, J.-P. 9, 468 Martinet, A. 19, 22f., 180, 297 Marty, E. 291 Marx, K. 14f., 17, 27-30, 37, 41f., 45- 47, 64f., 73, 75-86, 88, 90, 92f., 96f., 100, 102f., 105f., 109-121, 125, 129, 133f., 143, 147f., 165-167, 175, 182, 192, 194f., 198, 201f., 208, 211, 221f., 227, 235, 239, 248, 251, 253, 256, 258, 269, 279, 282-284, 287, 293, 297, 339, 345, 353-355, 389f., 392, 394f., 402, 406-411, 414, 418, 422f., 425, 433, 437, 442, 449, 459, 463 Masaryk, T. G. 194f. Masterman, M. 395 Matejka, L. 196, 224f., 232 Mathesius, V. 193 Maturana, H. R. 426, 430 Matzner, J. 92 Maupassant, G. de 319f., 328-337, 351, 394, 416 Mauron, Ch. 9, 292, 335f. Mauss, M. 179 McKeon, R. 70 Meamber, L. A. 440 Mecklenburg, N. 408 Medvedev, P. N. 75, 113, 115, 117f., 121- 124, 137 Meiffert, T. 152 Meja, V. 409 Merten, R. 440 Metz, Ch. 25 Metzeltin, M. 278 Michel, K. L. 63, 78, 189, 283, 296, 339, 404, 406f., 421, 431 Michelet, J. 63, 296 Milner, J.-Cl. 295 Model, A. 34 Mohseni, A. 47 Mondriaan, P. 25 Mooy, J. J. A. 359, 424 Moravia, A. 215, 282, 316 Morris, Ch. W. 25, 71, 270, 314 Morson, G. S. 119, 121 Register 507 Mukařovský, J. 19, 98, 110, 113, 191-204, 206-230, 232f., 235, 241, 256, 264, 271, 275, 319, 336, 366, 370, 393, 433f. Müller, U. 182 Musgrave, A. 395, 410 Musil, R. 57f., 90, 92, 130, 137, 141, 212, 224, 257, 275, 316f., 379, 420f. Napoleon 133, 312 Nassehi, A. 456 Nassen, U. 247 Naulin, S. 452 Naumann, M. 95f., 279, 281-283, 418 Nell, P. 93 Neruda, J. 226 Neuhäuser, R. 133f. Neurath, O. 403 Nezval, V. 191, 195, 215 Nietzsche, F. 11-15, 18, 45, 47f., 51, 54- 64, 86, 93, 116f., 124, 126, 128-133, 138-140, 153, 164, 178, 198, 288-293, 295, 298f., 304, 319, 335, 339-342, 346, 353, 356-360, 362, 368, 371-374, 379f., 382f., 385, 395, 420 Nollmann, G. 456 Norris, Ch. 381 Nöth, W. 96 OʼMalley, J. J. 35 Ortega y Gasset, J. 160 Pagliano-Ungari, G. 256f. Pannenberg, W. 250 Pareto, V. 406 Parsons, T. 30, 437, 440, 449f., 461 Pascal, B. 100-102 Pasternack, B. 428 Pêcheux, M. 78, 189, 406f. Peirce, Ch. S. 25, 270, 285, 314, 415 Perec, G. 283 Perlina, N. 123 Pešat, Z. 215 Peters, H. G. 31, 105, 125 Pezzini, I. 302 Pfeiffer, K. L. 438, 440, 444, 449 Piaget, J. 97, 99, 201, 366 Pirandello, L. 67 Planchon, R. 103, 210 Plato 23, 30, 35, 56, 59, 151, 228, 343-345, 347f., 408 Plechanov, G. 77 Poe, E. A. 158f., 303 Pomorska, K. 203 Ponge, F. 286f., 360 Ponzio, A. 115, 119 Popper, K. R. 19, 391, 403, 406, 408, 410, 425f. Posner, R. 403, 405 Poulet, G. 432, 456 Prawer, S. S. 82f. Prieto, L. J. 251, 417, 424, 430 Propp, V. 105f., 331 Proust, M. 57, 90, 140f., 155, 162f., 172, 205, 223f., 231, 263, 334, 377-379, 395, 431f., 448, 462, 468 Quante, M. 47 Rabelais, F. 52, 118f., 130-132, 134f., 137, 142, 158, 160 Racine, J. 80, 100-103, 111f., 190, 210, 252, 292, 299 Ransom, J. C. 66, 69, 71, 205, 370f. Rastier, F. 324f. Reboul, O. 407 Renard, P. 316 Reschke, R. 17, 161, 288 Ricardou, J. 297, 421 Richard, J.-P. 69f., 363-369, 393 Richards, I. A. 69 Richards, J. 431 Register 508 Rickert, H. 116 Ricœur, P. 66, 288, 292, 364 Riemann, A. 31f. Riesman, D. 160 Riffaterre, M. 404f. Rilke, R. M. 91, 140, 225, 396, 440f., 467 Rimbaud, A. 325 Robbe-Grillet, A. 97, 187, 257, 263, 297f., 466 Robin, R. 96 Rommel, B. 466 Rose, M. A. 79f. Rosenkranz, K. 14, 45, 47f., 52-55, 63f., 115, 132, 138, 175 Rosner, K. 268 Rössner, M. 67 Rousseau, J.-J. 253, 343, 345, 375 Ruge, A. 45f., 131, 166, 339, 353-356 Ruprecht, H.-G. 116, 243, 329, 424 Russell, B. 38 Rutte, H. 403 Ruwet, N. 295 Sade, A. de 289, 291, 298f. Sakulin, P. N. 123 Salamun, K. 389, 412 Šalda, F. X. 195 Sapir, E. 142 Sartre, J.-P. 30, 102, 139f., 160, 215, 261, 282, 316, 372f. Saussure, F. 20, 25, 98, 107, 118, 149, 156, 191, 195f., 200f., 205, 211f., 218, 267, 270, 272, 294, 296, 314, 343, 345, 347-349, 352, 415, 460, 472 Scheffel, M. 343 Scheible, H. 181 Scheler, M. 255 Schelling, F. W. 17, 76, 208, 248, 286 Schiller, F. 37, 81 Schimank, U. 439 Schlechta, K. 56, 290, 358 Schlegel, F. 45, 382 Schleiermacher, F. 238, 244, 246 Schleifer, R. 336 Schlenstedt, D. 87, 94, 96, 280 Schmid, H. 110, 217 Schmidt, A. 465 Schmidt, S. J. 18, 229, 390, 403, 416, 426f., 430f. Schmitt, H.-J. 87, 90, 92f., 95 Schneider, W. L. 324, 439, 466, 471 Scholze, B. 169 Schönberg, A. 27, 182f. Schoonveld, C. 204 Schubbe 93, 96 Schulte-Sasse, J. 17 Schulz-Buschhaus, U. 68, 317 Schumann, R. 295 Schwarz, W. F. 82, 222, 229f., 249 Scott, W. 90f. Searle, J. R. 314 Segers, R. T. 235, 238, 247, 272, 283 Seghers, A. 92, 103 Servotte, H. 275 Shukman, S. 117, 119 Sigrist, Ch. 437 Silbermann, A. 12 Simm, H.-J. 138, 317 Simons, A. 126 Šklovskij, V. 76, 104-111, 137, 187, 194, 199, 207f., 214, 221, 305, 331, 444 Škreb, Z. 230 Sládek, O. 229 Smith, J. E. 36 Smith, R. 353 Sokrates 358 Sollers, Ph. 297, 299, 369 Register 509 Sörensen, D. 330f. Spengler, O. 380 Spingarn, J. E. 69 Spinoza, B. 99, 127, 343 Stählin, E. 90 Stalin, J. V. 75, 126, 143 Stanzel, F. K. 278, 424 Staub-Bernasconi, S. 440 Stehr, N. 409 Stein, G. 156, 287 Steiner, P. 105-107, 109, 195f., 225 Stelzer, S. 61 Stendhal 363 Sterne, L. 109, 274, 276 Stewart, S. 119 Stirner, M. 14, 46f., 50, 55, 115, 124, 130, 133, 339, 345, 353f., 373, 420 Stoessel, M. 154f. Strauß, D. 133 Striedter, J. 106, 109f., 112, 193f., 220, 226, 444 Stückrath, J. 247, 254 Sturm, H. 253, 285 Sue, E 82 Sus, O. 194-197, 208, 216 Svevo, I. 57f., 130, 137, 316, 420f. Tadié, J.-Y. 18 Tall, E. 281 Teige, K. 191, 195, 215, 316 Tertulian, N. 92 Tesnière, L. 331 Thackeray, W. M. 274f. Thomas, J. 67 Thompson, E. 105 Thompson, J. B. 390 Tiedemann, R. 154, 171, 469, 471 Titunik, I. R. 121, 196, 224 Todorov, T. 122, 138, 140f., 291, 390, 394 Tolstoi, L. 90f. Topitsch, E. 389, 406, 412 Toyen 195 Trabant, J. 285 Träger, C. 182 Trakl, G. 30, 140, 180, 308, 396 Trockij, L. 77, 97, 110f. Trottein, S. 32 Trubetzkoj, N. 201, 211 Tynjanov, J. 105, 108, 111-113, 121, 207, 220f. Václavek, B. 222 Valéry, P. 163, 177, 186, 250f., 253, 459, 470, 485 Varela, F. J. 426 Veltruský, J. 193 Venkatesh, A. 440 Verdaasdonk, H. 325 Verlaine, P. 91 Vinogradov, V. V. 122f. Vinokur, G. 120, 123 Vischer, F. Th 14, 45, 48-56, 79, 92, 115, 117, 124, 130-133, 138f., 149, 154, 168, 174, 177f., 339, 345, 354-356, 420 Vischer, R. 49 Vodička, F. 191, 193-195, 199, 204, 214, 219-222, 224-228, 241, 264 Volek, B. 196 Volhard, E. 45, 48, 51, 54-56 Volkelt, J. 139, 197f. Vološinov, V. 75, 115, 117-121, 123, 132, 138, 192, 202, 348 Vroon, R. 195 Wacquant, L. J. D. 452 Wagner, B. 67 Walton, W. G. 117 Warhol, A. 80 Warneken, B. J. 237 Register 510 Warning, R. 190, 252, 254, 276, 280 Warren, R. P. 16f., 71 Watzlawick, P. 390, 431 Wawrzyn, L. 162 Weber, H. 284 Weber, M. 392, 410, 420, 425, 451 Weimann, R. 73, 282 Weischedel, W. 33 Weiss, F. G. 35 Well, K. 43 Wellek, R. 16f. Werber, N. 436 Werckmeister, O. K. 165 Werfel, F. 225, 440 Werner, J. M. 385 Werner, R. 17 Wertheimer, J. 470 Whorf, B. L. 142 Wiehl, R. 34 Wildgans, A. 215 Wimsatt, W. K. 69f., 72, 370 Winckelmann, J. J. 291 Winkler, M. 470 Winner, Th. G. 204 Witte, B. 153, 230 Witte, G. 153, 230 Wittgenstein, L. 316f. Wohlfarth, I. 166 Wolff, Ch. 31, 34 Wordsworth, W. 370 Wuthenow, R.-R. 60 Yeats, W. B. 370 Zaccaria, G. 316 Ždanov, A. A. 125 Zenck, M. 164f., 173 Zenklusen, S. 172 Zéraffa, M. 431 Zich, O. 194-198, 208, 224 Zima, P. V. 118, 138, 216, 237, 262, 283, 317, 407, 412 Zimmermann, B. 282 Ziomek, J. 262 Žirmunskij, V. 105f., 129 Žmegač, V. 120, 230 Zola, E. 90f. Zychlin, F. 82 Register 511 Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwis Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwis Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwis senschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik senschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik senschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik senschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ 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Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissen Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissen Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissen Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissen Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissen--schaft Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ schaft Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ schaft Linguistik \ 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\ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissen Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissen Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissen Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissen Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissen Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissen Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissen--schaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen schaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen schaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen schaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen schaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen schaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen schaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft BUCHTIPP Peter V. Zima Die Dekonstruktion Einführung und Kritik 2., überarbeitete und erweiterte Auflage 2016, 288 Seiten €[D] 22,99 ISBN 978-3-8252-4689-1 eISBN 978-3-8385-4689-6 BUCHTIPP Der Autor stellt die Theorien von Jacques Derrida, Paul de Man, J. Hillis Miller, Geoffrey Hartman und Harold Bloom in ihrem philosophischen und ästhetischen Kontext dar. Seine Kommentare zu konkreten Textanalysen etwa zu Derridas Kritik der Sprechakttheorie oder zu seiner Interpretation von Baudelaires „La Fausse monnaie“ schlagen eine Brücke von der Theorie zur Praxis der Dekonstruktion. Die Kritik der Dekonstruktion aus der Sicht der Kritischen Theorie mündet weder in Ablehnung noch in Vereinnahmung, sondern in einen offenen Dialog, in dem die Dialektik von Konsens und Dissens sowohl die Verwandtschaft als auch die Heterogenität der beiden Ansätze erkennen lässt. In der vorliegenden Neuauflage, in der die Subjektproblematik bei Derrida und Deleuze im zweiten Kapitel ausführlicher kommentiert wird, wird der Dialog im letzten Kapitel auf feministische Theorien ausgedehnt, von denen sich einige an der Dekonstruktion orientieren, um den Subjektbegriff in Frage zu stellen, während andere an diesem Begriff festhalten. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 9797 0 \ Fax +49 (0)7071 97 97 11 \ info@narr.de \ www.narr.de Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwis Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwis Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwis senschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik senschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik senschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik senschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ 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\ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ 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Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissen Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissen Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissen Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissen Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissen--schaft Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ schaft Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ 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Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissen Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissen Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissen Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissen Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissen Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissen Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissen--schaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ 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Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft BUCHTIPP Peter V. Zima Moderne / Postmoderne Gesellschaft, Philosophie, Literatur 4., korrigierte Auflage 2016, 444 Seiten €[D] 24,99 ISBN 978-3-8252-4690-7 eISBN 978-3-8385-4690-2 BUCHTIPP Das Buch leistet eine umfassende Darstellung des Verhältnisses von Moderne, Modernismus und Postmoderne auf soziologischer, philosophischer und literarischer Ebene sowie eine Abgrenzung der Begriffe Neuzeit, Moderne, Modernismus, Postmoderne, Posthistoire und nachindustrielle Gesellschaft. Der Autor versucht, sowohl der Ideologisierung als auch der Indifferenz zu entgehen, indem er im letzten Kapitel eine dialogische Theorie vorschlägt, die zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen, zwischen Indifferenz und ideologischem Engagement vermittelt. „Der Verfasser bietet hier eine eigenständige und, was aus einer didaktischen Perspektive betont werden soll, verständige und verständliche Darstellung des ausufernden Diskurses über die kontroversen Bestimmungen und Besetzungen moderner und nachmoderner Denkprozesse.“ (Referatedienst zur Literaturwissenschaft) Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 9797 0 \ Fax +49 (0)7071 97 97 11 \ info@narr.de \ www.narr.de Dies ist ein utb-Band aus dem Narr Francke Attempto Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de ,! 7ID8C5-cfeiba! ISBN 978-3-8252-5481-0 Literarische Ästhetik ist eine Rekonstruktion der philosophisch-ästhetischen Grundlagen moderner Literaturtheorien. Vom New Criticism bis zur Dekonstruktion werden Theorien der Literatur auf ihre Ursprünge in den Philosophien Kants, Hegels und Nietzsches bezogen und im historischen Kontext anhand von Beispielen und Modellanalysen erläutert. Die Neuausgabe wurde um ein 10. Kapitel erweitert, in dem die Wechselbeziehungen von Ästhetik und Soziologie bei Luhmann und Bourdieu untersucht werden. Die Darstellung der Literaturwissenschaft im philosophischen und gesellschaftlichen Zusammenhang ist nicht nur ein wissenschaftliches Desiderat, sondern erfüllt auch eine didaktische Funktion, weil sie ein besseres Verständnis der Theorien im Verhältnis zur Philosophie und zur sozialen Welt ermöglicht. Literaturwissenschaft QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel