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Postkoloniale Theologien

2021
978-3-8385-5669-7
UTB 
Stefan Silber

Postkoloniale und dekoloniale Studien machen immer mehr von sich reden. In den letzten zwei Jahrzehnten entwickelte sich weltweit bereits eine vielfältige Rezeption dieser kritischen Denkweisen auch in der Theologie. Dieses Lehrbuch zielt auf einen grundlegenden Einblick in diese weltweit diskutierte vielfältige Strömung. In den letzten beiden Jahrzehnten entwickelten sich in unterschiedlichen Kontexten und Sprachräumen weltweit verschiedene Versuche, die Lernfortschritte der postkolonialen Studien auch für die Theologie fruchtbar zu machen. Das Lehrbuch greift viele dieser Beispiele auf und ordnet sie nach einer Systematik, die sich an zentralen Begriffen und Methoden der postkolonialen Studien orientiert. Zahlreiche Beispiele, Literaturhinweise und vorgestellten Autor:innen regen dazu an, sich vertieft mit einzelnen Themenbereichen und/oder Autor:innen auseinanderzusetzen. Zuletzt widmet sich das Buch auch möglichen Konsequenzen für Theologie und Kirche in Mitteleuropa.

,! 7ID8C5-cfggjc! ISBN 978-3-8252-5669-2 Stefan Silber Postkoloniale Theologien Postkoloniale und dekoloniale Studien machen immer mehr von sich reden. In den letzten beiden Jahrzehnten entwickelten sich in unterschiedlichen Kontexten und Sprachräumen weltweit verschiedene Versuche, die Lernfortschritte der postkolonialen Studien auch für die Theologie fruchtbar zu machen. Dieses Lehrbuch gibt einen grundlegenden Einblick in dieses Gebiet, indem es sich an zentralen Begriffen und Methoden orientiert. Zahlreiche Beispiele, vorgestellte Autorinnen und Autoren sowie weiterführende Literaturhinweise regen dazu an, sich vertieft mit einzelnen Themenbereichen auseinanderzusetzen. Zuletzt widmet sich das Buch auch möglichen Konsequenzen für Theologie und Kirche in Mitteleuropa. Theologie | Religionswissenschaft Postkoloniale Theologien Silber Dies ist ein utb-Band aus dem Narr Francke Attempto Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel 56692 Silber_M-5669.indd 1 56692 Silber_M-5669.indd 1 10.06.21 15: 06 10.06.21 15: 06 utb 5669 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn Narr Francke Attempto Verlag / expert verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München Ferdinand Schöningh · Paderborn transcript Verlag · Bielefeld Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlag · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld Wochenschau Verlag · Frankfurt am Main Prof. Dr. habil. Stefan Silber lehrt Systematische Theologie an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Paderborn. Stefan Silber Postkoloniale Theologien Eine Einführung © 2021 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck UTB-NR. 5669 ISBN 978-3-8252-5669-2 (Print) ISBN 978-3-8385-5669-7 (ePDF) ISBN 978-3-8463-5669-2 (ePub) Umschlagabbildung: © istock.com/ Juliano Carvalho Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® 9 1 11 1.1 12 1.2 16 1.3 23 1.4 27 1.5 31 1.6 39 2 45 2.1 46 2.2 50 2.3 55 2.4 60 2.5 65 2.6 70 2.7 74 2.8 78 2.9 81 3 85 3.1 86 3.2 91 3.3 94 3.4 99 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was heißt denn hier ‚postkolonial‘? Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . Narrative Zugänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Postkoloniale Studien: Geschichte und Begriff . . . . . . . . . . Postkoloniales Deutschland? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Koloniale Kontexte heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedeutung der postkolonialen Studien für die Theologie . Wissen und Macht in der Theologie. Zum Aufbau dieses Buches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diskurspraktiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Erfindung des Anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Versteinerung von Identitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Schwarz bin ich und schön.“ (Hld 1,5). Rassistische Traditionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konstruktionen europäischer Überlegenheit . . . . . . . . . . . . Gibt es überhaupt Religionen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Post-)Koloniale Genderbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wer schreibt (Kirchen-)Geschichte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überschneidungen verschiedener Achsen der Kolonialität Hegemonie. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Machtbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ‚Der alles so herrlich regieret‘? Leben im Imperium . . . . . . Losgekauft? Wirtschaftliche Abhängigkeit und christliche Erlösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Missionieren ist Kolonisieren.“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Landbesitz und Raumkonstruktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 103 3.6 108 3.7 112 3.8 115 4 121 4.1 122 4.2 127 4.3 133 4.4 138 4.5 144 4.6 148 4.7 153 5 159 5.1 162 5.2 167 5.3 176 5.4 181 5.5 187 5.6 193 5.7 198 6 205 6.1 210 6.2 213 6.3 217 6.4 221 6.5 224 6.6 229 7 233 8 235 Wer ist drinnen, wer draußen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Durch Leiden erlöst? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aus den Augen, aus dem Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kolonialität der Macht. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . Widerstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wechselnde Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Den Rücken kehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sich zuwenden und zuhören . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Option für die Subalternen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontrapunktisches Lesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontaktzonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Disziplinlosigkeit. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alternativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Bibel anders lesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Indigene Theologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autonomie und Kreativität der subalternen Religionen . . . Ökofeministische Theologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theologie als Transgression: Queere Alternativen . . . . . . . Postkolonialer Neokolonialismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jenseits der Grenze. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . Anstoß oder Anstöße für Theologien in Europa? . . . . . . . . . . . . . . . Sich der eigenen kolonialen Vergangenheit stellen . . . . . . . Europäische Theologien als kontextuelle Theologien . . . . Machtpositionen aufdecken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alternativen und Widerstand zulassen . . . . . . . . . . . . . . . . . Parteiisch und deswegen relevant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Befreiende Verunsicherungen. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schluss: Abschied vom Kolonialwarenladen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kurzbiografien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt 9 247 10 251 11 267 12 268 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibelstellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Namensverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Inhalt 1 Zu den ‚dekolonialen Studien‘ und den Unterschieden bzw. Beziehungen zwischen ihnen und dem Postkolonialismus vgl. Kapitel 1.2. Vorwort Ohne es zu ahnen, hatte ich mich schon lange mit postkolonialen Themen beschäftigt, als ich etwa um das Jahr 2010 zum ersten Mal intensiv mit diesem Begriff und mit den Theorien und Studien, die damit verbunden sind, in Berührung kam. Die lateinamerikanische Theologie der Befreiung und andere Theologien ‚der Dritten Welt‘ - wie man in den 1980er Jahren völlig selbstverständlich formulieren konnte - begleiten mich seit Beginn meines Theologiestudiums und bereits zwei bis drei Jahre zuvor. Später übten auch die vielfältigen interkulturellen und indigenen Theologien eine große Faszination auf mich aus, vor allem als ich 1997-2002 in Bolivien lebte und arbeitete. Alle diese Theologien entstanden in der Auseinandersetzung mit Kontexten, die man heute als postkolonial bezeichnen könnte. Die postkolonialen und dekolonialen 1 Theorien, die sich in etwa derselben Zeit entwickelten, wurden erst in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren als wichtige GesprächspartnerInnen für die Fortentwicklung dieser Theologien in Anspruch genommen - wenigstens in meiner Wahrnehmung. Die Auseinandersetzung mit postkolonialen Theologien war für mich dementsprechend folgerichtig. Zugleich bedeuteten sie für mich eine grund‐ legende theologische Verunsicherung. Denn der Standort, von dem aus ich diese Auseinandersetzung betrieb, war (und ist bis heute) der eines männ‐ lichen weißen Erstwelttheologen, der in Europa lebt und arbeitet. Genau dieser Standort wird aufgrund seiner vielfältigen hegemonialen Privilegien vom Postkolonialismus in Frage gestellt. Was bedeutet es demnach, von ihm aus über postkoloniale Theologien zu forschen und zu schreiben? Gastprofessuren in El Salvador (2017) und Bolivien (2018) zum Thema des Postkolonialismus ermöglichten es mir, meinen persönlichen Stand‐ punkt in der Auseinandersetzung mit weniger privilegierten Perspektiven selbstkritisch zu schärfen. Diese Erfahrungen haben mich ermutigt, die Herausforderungen der postkolonialen Theologien auch deutschsprachigen Kontexten besser zugänglich zu machen. Denn unsere Welt ist im Ganzen postkolonial, nicht nur die Staaten, die aus den Kolonien hervorgegangen sind. Daher werden Kirche und Theologie insgesamt vom Postkolonialismus angefragt, gerade auch wir in Europa. Denn unsere koloniale Vergangenheit fordert uns immer wieder heraus, uns der postkolonialen Gegenwart und ihren Problemen zu stellen. Diese Einführung in postkoloniale Theologien soll dem Ziel dienen, die Fragen und Herausforderungen post- und dekolonialer Studien für die Theologie besser kennenzulernen. Sie richtet sich auf grundlegende funda‐ mentaltheologische und methodische Fragen und arbeitet dabei exemplarisch mit zahlreichen verschiedenen Beispielen aus unterschiedlichen theologischen Fachgebieten. Es lassen sich daher konkrete Überlegungen u. a. für die Exegese, die Dogmatik, die Kirchengeschichte, die Praktische Theologie, die Sozialethik und eben auch für die Fundamentaltheologie anschließen. Ich danke zahlreichen GesprächspartnerInnen in Bolivien, Brasilien, El Salvador und aus anderen lateinamerikanischen Ländern, aber auch aus anderen Teilen der Welt sowie nicht zuletzt auch aus und in Europa für vielfältige hilfreiche Anregungen und konstruktive Kritik. Ebenso danke ich allen postkolonialen Theologinnen und Theologen, deren Literatur ich in der Auseinandersetzung mit diesen Fragen lesen durfte, und die zum Teil in diesem Buch besprochen wird. Ich bemühe mich wiederzugeben, was ich gelernt habe. Alle Fehler und Fehleinschätzungen sind daher meine eigenen; die Leistungen und Erkenntnisse postkolonialer Theologien verdanke ich anderen. Sailauf, 1. Februar 2021 Stefan Silber 10 Vorwort 1 Was heißt denn hier ‚postkolonial‘? Grundlagen Postkoloniale Studien und Theorien machen immer mehr von sich reden. Das Stichwort taucht inzwischen in sehr vielen geistes- und sozialwissen‐ schaftlichen Bereichen auf. In den letzten zwei Jahrzehnten entwickelte sich weltweit auch in der Theologie eine vielfältige Rezeption dieser kritischen Denkweisen. In Deutschland steckt die Diskussion dazu jedoch eher noch in den Kinderschuhen. Der Begriff ‚post-kolonial‘ kann dabei leicht zu Missverständnissen führen. Denn er bezieht sich in einem chronologischen Sinn zunächst lediglich darauf, dass diese Studien zeitlich ‚nach‘ dem Ende der kolonialen Herrschaften insbesondere Großbritanniens und Frankreichs in vielen Län‐ dern Asiens und Afrikas in der Folge des Zweiten Weltkriegs entstanden sind. In einer inhaltlichen Perspektive geht es in der postkolonialen Kritik jedoch gerade darum aufzudecken, inwiefern die koloniale Herrschaft, ihre Denkweisen, ihre prägende kulturelle Kraft und ihre politischen und wirtschaftlichen Machtstrukturen über das offizielle Ende der Kolonialzeit hinaus erhalten geblieben und - möglicherweise in veränderten Gestalten - weiterhin wirksam sind. Das zweite mögliche Missverständnis besteht darin, dass das Adjektiv ‚kolonial‘ in einem verengten Sinn nur auf Tatsachen und Verhältnisse bezogen wird, die offen und unmittelbar mit dem Kolonialismus zu tun haben. Die postkolonialen Studien machen hingegen darauf aufmerksam - und dies wird auch ein wesentliches Thema dieses Buches sein - dass die Kolonialzeit und die kolonialen Beziehungen eine sehr viel breitere und tie‐ fere Wirkung und Wirkungsgeschichte entfaltet haben als gemeinhin ange‐ nommen wird. Der Postkolonialismus schließt daher auch gesellschaftliche und kulturelle Phänomene in seine Analysen ein, deren Zusammenhang mit dem Kolonialismus vielleicht nicht auf den ersten Blick ersichtlich ist. Postkoloniale Studien beschränken sich also nicht einfach auf eine Kritik des historischen Kolonialismus, sondern analysieren gegenwärtige kulturelle, wirtschaftliche und politische Konstellationen daraufhin, inwieweit sie durch historische Erfahrungen der Kolonialzeit bis in die Gegenwart hinein geprägt sind. Bevor es in den weiteren Kapiteln dieses Buches um eine Einführung in die sich entwickelnden postkolonialen Theologien geht, sollen in einem ersten Schritt einige Grundlagen erarbeitet werden: Es folgt zuerst ein ganz knapper Überblick über die Geschichte und die Anliegen der postkolonialen Studien (mit Hinweisen auf sehr gute Einführungstexte in diese Theorien; vgl. 1.2). Anschließend stellen sich die Fragen, warum diese Studien auch eine Bedeutung für die Theologie besitzen (1.5) und warum man sich ihnen auch heute (1.4) und gerade auch in Deutschland stellen sollte (1.3). Zur Veranschaulichung stehen am Beginn drei kurze narrative Zugänge, die sehr gut in die Thematik einführen (1.1). 1.1 Narrative Zugänge Die tunesische Historikerin und Journalistin Sophie Bessis erinnert sich an ihre Kindheit im Lyzeum Jules Ferry während der kolonialen Epoche Tunesiens: „In der Pause verschwanden die nationalen Unterschiede angesichts des schein‐ baren Ökumenismus der Kinderkameradschaft nicht. Es gab die Tunesierinnen, Araberinnen oder Jüdinnen im Gegensatz zu den ‚Französinnen‘, eine globale Einheit, deren Homogenität die besondere Freundschaft überschritt, die mit jeder von ihnen geschlossen werden konnte. Denn die Französinnen erdrückten uns mit ihrer Verachtung. Selbst wenn wir ihre Arroganz nicht akzeptierten, zweifelten wir nicht an ihrer Überlegenheit. Denn erstens waren sie blond, mit langen, glatten Haaren, die mit einer eleganten Kopfbewegung zurückgeworfen werden konnten. Angesichts dieser fast engel‐ haften Natur bereitete uns die masochistische Betrachtung der schwarzen und lockigen Haare, die unseren Kopf schmückten, ungeheure Schmerzen. Außerdem gingen sie zur Kommunion. Mit Brautkleidern, mit Tüll und Schleier, mit einem Messbuch in der Hand und einer Fülle frommer Bilder. […] Wer von uns, Muslimas und Jüdinnen, die dieselbe Dunkelheit teilten, träumte nicht einmal in ihrer Kindheit davon, Katholikin zu sein, um dieses Märchen zu erleben? […] Vor der sechsten Klasse mussten wir wählen, welche zweite Sprache wir lernen wollten. Für meine Eltern war die Frage einfach: Wir waren zwar Juden, aber zuallererst Tunesier: also Arabisch. Nachdem sie meine Anmeldung gelesen hatte, rief meine Lehrerin mich zu sich: ‚Wie schade, dass Sie kein Englisch gewählt 12 1 Was heißt denn hier ‚postkolonial‘? Grundlagen 1 Bessis, Occidente, 15-16. Die Übersetzungen aller fremdsprachlicher Zitate in diesem Buch sind - falls nicht anders vermerkt - vom Verfasser. 2 Ebd., 16. 3 Ebd. 4 Ebd. 5 Fanon, Schwarze Haut, 73. haben! ‘, rief sie aus. Ich erinnerte mich lange an ihre traurige Stimme, die den kulturellen Rückschritt beklagte, zu dem ihre gute Schülerin verurteilt wurde.“ 1 In ihrer Erinnerung beschreibt Bessis mehrere charakteristische Aspekte der kolonialen Kultur: Die tunesischen Kinder zweifelten nicht an der Überlegenheit der Französinnen. Diese Überlegenheit hatte körperliche, äußerliche Gründe (die Haare), kulturelle und religiöse Aspekte (die Erst‐ kommunion, die Sprache) sowie wirtschaftliche und soziale Merkmale: „Die Französinnen machten Urlaub ‚in Frankreich‘“ 2 . Dieses mythische, von den Urlaubsheimkehrerinnen als paradiesisch beschriebene Land war durch einen tiefen Abgrund von den tunesischen Mädchen entfernt. „Die bloße Tatsache, zu dieser Welt zu gehören […], verlieh [den Französinnen] einen legitimen Vorrang“ 3 . Die eigene Identität hingegen wird konsequent abgewertet („Dunkelheit“, „Rückschritt“), wie es auch dem pädagogischen Ideal des kolonialen Schulsystems entspricht. Deswegen kommentiert sie: „Wir lernten, dass es wenig ruhmreich war, das zu sein, was wir waren.“ 4 Erst viel später, als die Autorin als Erwachsene Frankreich bereisen konnte, zeigte sich für sie endgültig, dass der gefühlte Abgrund, die Un‐ terscheidung, die Hierarchisierung zwischen den französischen und den tunesischen Schülerinnen nicht selbstverständlich war, sondern ein Produkt ihres kolonialen Kontextes. Frantz Fanon, einer der Vordenker des Postkolonialismus und der Ent‐ kolonisierung, beschreibt in einer Erinnerung seine ersten Erfahrungen in Frankreich. In seinem Geburtsland Martinique war er sich zwar seiner Hautfarbe bewusst, aber nicht darauf vorbereitet, wie diese Hautfarbe im Blick weißer Menschen aussehen würde: „‚Sieh mal, ein Neger! ‘ Das stimmte. Ich amüsierte mich. ‚Sieh mal, ein Neger! ‘ Langsam zog sich der Kreis zusammen. Ich amüsierte mich unverhohlen. ‚Mama, schau doch der Neger da, ich hab’ Angst! ‘ Angst! Angst! Man fing also an, sich vor mir zu fürchten. Ich wollte mich amüsieren, bis zum Ersticken, doch das war mir unmöglich geworden.“ 5 13 1.1 Narrative Zugänge 6 Ebd. Den Begriff der „Rasse“ verwende ich nur in wörtlichen Zitaten entsprechend den Vorlagen. Gemäß dem Diskussionsstand im deutschsprachigen Diskurs verstehe ich ansonsten den Begriff selbst als rassistisch. Ähnliches gilt für den Begriff „Neger“ im vorangegangenen Zitat, in dem er allerdings von Fanon selbst bereits zynisch verfremdet wird. 7 Kwok, Die Verbindungen herstellen, 323. Erst im Blick der anderen, die ihn ihm den „Neger“ sehen, erkennt er den Rassismus, dem er unterworfen ist, die gedanklichen und emotionalen Assoziationen, die offenbar mit seiner Hautfarbe verbunden sind: „Ich war verantwortlich für meinen Körper, auch verantwortlich für meine Rasse, meine Vorfahren. Ich maß mich mit objektivem Blick, entdeckte meine Schwärze, meine ethnischen Merkmale - und Wörter zerrissen mir das Trommel‐ fell: Menschenfresser, geistige Zurückgebliebenheit, Fetischismus, Rassenmakel, Sklavenschiffe.“ 6 Im Gegensatz zu der Selbstverständlichkeit, mit der er in der Karibik seine Hautfarbe betrachtete, interpretiert er den in Europa erfahrenen Rassismus als scheinbar „objektiven Blick“, als „ethnisches Merkmal“. Differenzen zwischen heller und dunkler Hautfarbe sind kein Grund, sich zu amüsieren, sondern Anlass für Angst. Sie stellen eine mentale Verbindung her zu Kan‐ nibalismus, Aberglaube und Unterwerfung. Diese Verbindung ist nicht per se vorhanden; sie wird vom Rassismus geschaffen und vom Kolonialismus aufrechterhalten. Sie überdauert auch die staatliche Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonien von den europäischen Mächten. Das dritte Beispiel verweist auf die vielfältigen Möglichkeiten des Wi‐ derstands gegen den Kolonialismus und seine Kultur prägende Macht. Nicht zufällig ist es dem Bereich der christlichen Religion entnommen, denn einerseits war diese Religion ein wichtiges Element der Stabilisierung kolonialer Herrschaft, andererseits enthielt sie immer auch Potenziale für den Widerstand und die kreative Ausgestaltung kolonialer und postkolo‐ nialer Kontexte. Damit wird auch bereits das Hauptthema dieses Buches transparent. Die feministische und postkoloniale Theologin → Kwok Pui-lan (Hong‐ kong / USA) erzählt von einer Geschichte, die sie vor längerer Zeit in einem Archiv gefunden hatte („Ich habe längst vergessen, wo ich diese Geschichte gelesen habe“ 7 ). Eine Missionarin vom Beginn des 20. Jahrhunderts berich‐ tete von einer chinesischen Frau, „die kaum lesen konnte“, aber mit Hilfe einer Nadel Verse aus der Bibel ausstach, um sie zu entfernen. Es waren die 14 1 Was heißt denn hier ‚postkolonial‘? Grundlagen 8 Ebd. 9 Ebd. 10 Ebd., 323f. Verse, in denen der Apostel Paulus - der überlieferten Interpretation nach - „Frauen anwies, gehorsam zu sein und in der Kirche zu schweigen“ 8 . Trotz der kolonialen und missionarischen Situation, in der sie sich befand, war diese Frau weder unterwürfig noch verhielt sie sich passiv der aus Europa kommenden religiösen Unterweisung gegenüber. „Anstatt sich der sexistischen Ideologie des Paulus anzuschließen, machte diese Frau von der Freiheit Gebrauch, auszuwählen und das, was sie als schädlich für Frauen ansah, zurückzuweisen.“ 9 Postkoloniale Theologie besteht für Kwok nicht nur in der Erinnerung an solche Frauen und ihre kreative Aneignung bzw. Zurückweisung euro‐ päischer Herrschaftsansprüche auch innerhalb der christlichen Religion, sondern auch in einer Fortschreibung dieser Praxis, indem „postkoloniale feministische Kritikerinnen und Kritiker […] die unzähligen Arten und Weisen [aufdecken], in denen Bibelwissenschaftlerinnen und Bibelwissen‐ schaftler, unter ihnen auch FeministInnen, entweder an Kolonialismus und Neokolonialismus beteiligt gewesen sind oder sich des Kolonialismus und Neo‐ kolonialismus nicht bewusst waren.“ 10 Darüber hinaus reflektieren postkoloniale Theologien auch das spirituelle Potenzial, das im Christentum entdeckt oder verwirklicht werden kann, um dem Anspruch von Herrschaft, Ausbeutung und Entfremdung, mit dem das europäisch-koloniale Christentum auftritt, zu widerstehen. Menschen, die heute in postkolonialen Gesellschaften leben, können häufig selbst solche Geschichten von der Persistenz des Kolonialismus und des Widerstands gegen ihn erzählen. Sie finden sich in ihnen unmittelbar wieder. Auch MigrantInnen in Deutschland, People of Colour und Menschen, die in langen Auslandsaufenthalten interkulturelle Erfahrungen gesammelt haben, können sich hierzulande oft schneller damit identifizieren als ein großer Teil der bundesdeutschen Bevölkerung, der solchen Erfahrungen nicht dieselbe Bedeutung zumisst. Postkoloniale Theologien und Theorien werden daher in der Zukunft sicher auch in unseren Breiten eine wachsende Bedeutung in der theologischen Diskussion entfalten, teils Zustimmung finden und teils Ablehnung erfahren. 15 1.1 Narrative Zugänge Verbin‐ dung von kolonialer Macht und Wissens‐ produktion 1.2 Postkoloniale Studien: Geschichte und Begriff Im deutschsprachigen Raum gibt es bereits sehr gute Einführungen in die postkolonialen Studien, auf die hier verwiesen werden kann. Die wichtigste Sekundärliteratur wird im Anschluss an diesen Abschnitt vorgestellt. Der Überblick über Geschichte und Begriff des Postkolonialismus kann daher an dieser Stelle relativ kurz ausfallen. Theoretische Konzepte und Inhalte der postkolonialen Studien werden dann in den zentralen Kapiteln dieses Buches anhand ihrer Rezeption in die Theologie vorgestellt und diskutiert. Für eine vertiefte Befassung mit einzelnen AutorInnen und Begriffen der postkolonialen Studien muss auf die entsprechende Literatur verwiesen werden. Postkoloniale Theorien wachsen aus der Vorgeschichte eines vielschich‐ tigen Widerstands gegen die koloniale Herrschaft während der Kolonialzeit. Dieser Widerstand konnte sich im Alltag ereignen, auf juristischer oder philosophischer Ebene, im militärischen oder zivilen Bereich. Auch im religiösen Bereich sind zahlreiche verschiedene Formen des Widerstands bezeugt. Auf diesen Praktiken und Erfahrungen bauen die theoretischen Arbeiten des Postkolonialismus auf. Die starke Fokussierung postkolonialer und dekolonialer Theorien auf Diskurse in der zweiten Hälfte des 20. Jahr‐ hunderts sollte diese Geschichte des Widerstands und des prophetischen Widerspruchs in all seiner Vielschichtigkeit nicht verdecken. Für die postkolonialen Studien im engeren, heute gebräuchlichen Sinn des Wortes gab die staatliche Unabhängigkeit asiatischer und afrikanischer Ko‐ lonien in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst den Anstoß zu kritischen Untersuchungen in englischsprachigen Geschichts- und Lite‐ raturwissenschaften, in denen der Einfluss der kolonialen Macht auf die In‐ terpretation von Geschichte und Literatur aufgedeckt wurde: Die Darstel‐ lung und Interpretation historischer Ereignisse und sowohl die Inhalte wie auch die Erzählweise und die Interpretation literarischer Werke gehorchten in vieler Hinsicht den Machtinteressen der Kolonialherren, auch nach dem Ende ihrer politischen Macht. Durch kritische Analysen und alternative Er‐ zählungen konnte ein alternativer, befreiender Blick auf scheinbar bekannte Tatsachen entwickelt werden. Schnell wurde diese kritische Perspektive auf die Verbindung von kolonialer Macht und Wissensproduktion auch in an‐ deren akademischen Disziplinen aufgegriffen. Der Fokus auf Texte, der den Literatur- und Geschichtswissenschaften eigen ist, bleibt den postkolonialen 16 1 Was heißt denn hier ‚postkolonial‘? Grundlagen 11 Said, Orientalismus. 12 Vgl. Kerner, Postkoloniale Theorien, 103-106; vgl. unten Kapitel 4.4. 13 Vgl. Castro-Varela/ Dhawan, Postkoloniale Theorie, 161-228; Graneß/ Kopf/ Kraus, Fe‐ ministische Theorie, 38-45. 14 Castro-Varela/ Dhawan, Postkoloniale Theorie, 193, vgl. 193-196; vgl. grundlegend Brunner, Epistemische Gewalt. Epistemi‐ sche Ge‐ walt Studien jedoch bis heute als Erbe erhalten, das teils auch kritisch angefragt wird. Als ein Schlüsselereignis der Entwicklung der postkolonialen Theorien gilt weithin die Veröffentlichung der Studie „Orientalismus“ des palästinen‐ sischen Literaturwissenschaftlers Edward W. Said 1978 11 . Said zeigt nicht nur an literarischen Werken und wissenschaftlichen Arbeiten aus der Kolo‐ nialzeit, sondern auch an Gebrauchstexten wie Reisebeschreibungen und bürokratischen Texten, dass in allen diesen Bereichen das Wissen über die Gegenden, die als Orient bezeichnet werden, mit der Intention konstruiert wurde (und wird), die Menschen, die dort leben, besser beherrschen zu können und ihre Ausbeutung zu legitimieren. Etwa gleichzeitig befasste sich die Subaltern Studies Group - ein Zusam‐ menschluss südasiatischer WissenschaftlerInnen um den indischen Histo‐ riker Ranajit Guha - mit einer Kritik der europäischen (v. a. britischen) Geschichtsschreibung über Indien und historisch verbundene Staaten. Mit dem Begriff des/ der ‚Subalternen‘ griff die Gruppe ein Konzept von Antonio Gramsci auf, das in den postkolonialen Theorien prägend wurde, um Menschen zu bezeichnen, die in verschiedener oder sogar vielfacher Weise unterworfen und ausgebeutet sind. 12 Ein wichtiges Mitglied dieser Gruppe war die indische Literaturwissenschaftlerin Gayatri Chakravorty Spivak. Sie brachte nicht nur den französischen Poststrukturalismus in die Debatte ein, für den sie als Expertin galt, seit sie 1976 De la grammatologie von Jacques Derrida ins Englische übersetzt und mit einer vielbeachteten Einleitung versehen herausgegeben hatte. Sie vertritt auch eine konsequent feministi‐ sche Position im Postkolonialismus und integriert kritisch-marxistisches Denken. 13 Spivak macht auch darauf aufmerksam, dass die ↗ epistemologischen Voraussetzungen des Kolonialismus und die Ideen und Vorstellungen, mit denen er seine Herrschaft durchsetzt, nicht nur Gewalt nach sich ziehen, sondern als ↗ „epistemische Gewalt“ 14 bereits selbst beinhalten. Das schein‐ bare Wissen, das im Kolonialismus (und um seinetwillen) erzeugt wird, übt 17 1.2 Postkoloniale Studien: Geschichte und Begriff 15 Vgl. Castro-Varela/ Dhawan, Postkoloniale Theorie, 229-295. 16 Fanon, Schwarze Haut. 17 Mbembe, Kritik. Rassismus Dekoloni‐ ale Theorie selbst Gewalt aus, da es konkrete Menschenbilder hervorbringt, durch die Menschen auf- und abgewertet werden und Herrschaft begründet wird. Die Bereiche der interkulturellen Beziehungen und auch der Psycho‐ analyse wurden durch den indischen Literaturwissenschaftler Homi K. Bhabha mit den neomarxistischen und poststrukturalistischen Theorien des Postkolonialismus verknüpft. Durch Bhabha werden auch vielfältige, teils auch unbewusste Formen des Widerstands in kolonialen Beziehungen beschreibbar. In kritischer Rezeption der Orientalismusthese von Said macht Bhabha darauf aufmerksam, dass Identitäten niemals eindeutig und statisch sind, sich vielmehr in ↗ Hybridisierungsprozessen bilden und verändern. 15 Ein wichtiger Vorläufer der postkolonialen Bewegung war der Psychiater und Autor Frantz Fanon, der in der französischen Kolonie Martinique in der Karibik geboren wurde, in Frankreich und Nordafrika lebte und auf diese Weise das französische Kolonialsystem aus sehr unterschiedlichen Perspektiven kennenlernte, nicht zuletzt im zweiten Weltkrieg und in den algerischen Befreiungskriegen. Sein 1952 publiziertes Werk „Schwarze Haut, weiße Masken“ 16 (aus dem oben ein narrativer Zugang zitiert wurde) ist ein einflussreicher Bezugspunkt für das Thema des Rassismus innerhalb kolonialer Beziehungen. Die Auseinandersetzung mit dem Rassismus ist auch eines der zentralen Anliegen von Achille Mbembes „Kritik der schwarzen Vernunft“ 17 aus dem Jahr 2013. Der kamerunische Politikwissenschaftler Mbembe und Fanon zeigen, wie der Rassismus alle Ebenen des europäischen Kolonialismus durchzieht, prägt und legitimiert. Weder die Entstehung und historische Ausprägung des Kolonialismus noch seine nachhaltigen Konsequenzen in der Gegenwart sind ohne diesen Rassismus denkbar. Umgekehrt erfährt auch rassistisches Denken und Handeln durch den sich etablierenden Ko‐ lonialismus einen signifikanten Aufschwung. Die Analyse der Konstruktion von Machtverhältnissen zwischen Menschen unterschiedlicher Hautfarbe gehört daher auch zum Kernbestand postkolonialen Denkens. Lateinamerikanische Theorien, die sich kritisch mit kolonialen Machtbezie‐ hungen auseinandersetzen, werden häufig unter das Stichwort ‚dekolonial‘ gefasst. Diese lateinamerikanischen AutorInnen distanzieren sich immer wie‐ der von den postkolonialen Studien asiatischer und nordamerikanischer Prä‐ 18 1 Was heißt denn hier ‚postkolonial‘? Grundlagen 18 Vgl. Febel/ de Medeiros, Romanistik, 67-68 und meine eigene Argumentation in Silber, Poscolonialismo, 88-91. Meine Entscheidung, den Begriff ‚postkolonial‘ als Überbegriff über alle diese Strömungen zu verwenden, hat nicht zum Ziel, andere Strömungen zu vereinnahmen oder unsichtbar zu machen, sondern dient der didaktischen Vereinfachung. Sie hat auch biografische Gründe, weil ich über die ‚postcolonial studies‘ zum ersten Mal mit diesem vielfältigen Theoriefeld ausdrücklich in Berührung gekommen bin. 19 Quijano, Kolonialität; vgl. unten Kapitel 1.4. und 3.8. gung. Sie üben Kritik daran, dass im Postkolonialismus die ökonomischen und politischen Aspekte der Analyse schwächer ausgeprägt seien und dass die postkolonialen Studien sich stark an europäischen poststrukturalistischen Dis‐ kursen orientierten. Diese Kritik ist ernst zu nehmen, darf dabei aber auch nicht verallgemeinert werden. Sie sollte vor allem nicht dazu führen, die be‐ rechtigten Anliegen der verschiedenen postkolonialen Strömungen nicht in fruchtbarer Weise miteinander in Dialog zu bringen. 18 In dieser Einführung stehen diese kritischen Aspekte - so berechtigt sie im Einzelnen sein mögen - daher auch nicht im Vordergrund, ebenso wenig wie die verschiedenen Kriti‐ ken, die es jeweils innerhalb der lateinamerikanischen und der anglophonen Forschungen gibt. Das Ziel dieses Buches ist es vielmehr, die Bandbreite und Wirkmächtigkeit post- und dekolonialen Denkens und ihre Konsequenzen in der Theologie vorzustellen. Die lateinamerikanische dekoloniale Theorietradition speist sich aus den dependenztheoretischen Arbeiten der 1960er und 70er Jahre, der Weltsystem-Theorie von Immanuel Wallerstein und der interkulturellen Befreiungsphilosophie von Enrique Dussel. Hier bestehen auch wichtige Berührungspunkte mit der lateinamerikanischen Theologie der Befreiung. Da viele der ‚dekolonialen‘ AutorInnen in den USA leben und arbeiten, wird der Diskurs über diese theoretischen Ansätze sowohl in spanischer als auch in englischer Sprache geführt. Einen streng kolonialismuskritischen Akzent erhielt die Diskussion mit der Einführung des Begriffs der ↗ ‚Kolonialität‘ durch den peruanischen Sozio‐ logen Aníbal Quijano 19 , der in einem 1992 erschienenen Aufsatz damit die durchgängige Prägung der Denkweise ehemals kolonisierter Staaten und Kulturen bezeichnet, auch wenn die staatliche Unabhängigkeit - wie im Fall Lateinamerikas - schon seit zwei Jahrhunderten vollzogen ist. Für Quijano ist diese Denkweise grundlegend im Rassismus begründet und zieht konkrete Auswirkungen auf wirtschaftliche Ausbeutung und soziale Exklusion nach sich. Später wurde der Begriff der Kolonialität in vielfacher Weise auch auf 19 1.2 Postkoloniale Studien: Geschichte und Begriff 20 Vgl. Lander, La colonialidad del saber; Maldonado-Torres, Sobre la colonialidad del ser; Lugones, Colonialidad y género. 21 Vgl. Kerner, Postkoloniale Theorien, 90-94; Castro-Gómez/ Grosfoguel, El giro decolonial, 10-13. 22 Mignolo, Epistemischer Ungehorsam. 23 Vgl. zu Mignolo und zum dekolonialen Denken Kerner, Postkoloniale Theorien, 90-97. 24 Segato, La crítica. 25 Rivera Cusicanqui, Sociología de la imagen. Modernität/ Kolonialität Feminis‐ mus Heteroge‐ nes und differen‐ ziertes Feld andere postkoloniale Beziehungen erweitert. 20 Eine transdisziplinär arbei‐ tende Arbeitsgruppe von WissenschaftlerInnen in Lateinamerika vertiefte unter dem Stichwort „Modernidad/ Colonialidad“ oder „Modernität/ Kolonia‐ lität“ die wechselseitigen Beziehungen zwischen der europäischen Moderne, dem Kolonialismus und der Kolonialität sowie ihre vielfältigen Konsequen‐ zen in zahlreichen gesellschaftlichen und politischen Bereichen. 21 Einer der profiliertesten Vertreter dieser Gruppe, der argentinische Lite‐ raturwissenschaftler Walter D. Mignolo, verweist in seinen Arbeiten auf das prägend kolonialistische Erbe im europäischen Denken seit der Moderne und ruft zum „epistemischen Ungehorsam“ 22 auf. Darunter versteht er ein Denken über die von der kolonialen ↗ Epistemologie vorgegebenen Grenzen hinaus. Zahlreiche dekoloniale TheoretikerInnen greifen daher auf indigenes und afroamerikanisches Denken zurück und konstruieren von dort aus Kritiken an europäischen und kolonialen Denksystemen. 23 Nicht nur in Lateinamerika ist das postkoloniale Denken sehr stark vom Feminismus beeinflusst. Zahlreiche AutorInnen weltweit analysieren die wechselseitigen Beziehungen von Kolonialismus und Sexismus, in denen beide sich wechselseitig bestärken und aufgrund derer das koloniale Denken sich bis heute in besonderer Weise im Geschlechterverhältnis äußert. Die argentinische Anthropologin Rita Segato untersucht beispielsweise die komplexe Interdependenz zwischen Kolonialismus, Sexismus und Rassis‐ mus im Leben indigener Völker. 24 Dass ein postkolonialer feministischer Diskurs auch nichtsprachliche Elemente einschließen muss, zeigt die boli‐ vianische Soziologin Silvia Rivera Cusicanqui, die unter anderem Bilder, Theater, Webarbeiten und das Teilen von Essen in ihre soziologischen Ar‐ beiten integriert. 25 Nicht nur diese letzten Beispiele machen bereits deutlich, dass es sich bei den postkolonialen Studien um ein äußerst vielschichtiges, heterogenes und differenziertes Feld handelt. Es befindet sich auch in der Gegenwart immer noch in der Entwicklungsphase und verändert sich in dynamischer Weise. 20 1 Was heißt denn hier ‚postkolonial‘? Grundlagen 26 Zit. nach Kerner, Postkoloniale Theorien, 76. 27 Walsh/ Schiwy/ Castro-Gómez, Indisciplinar. Vgl. Kapitel 4.7. Gemein‐ samkeiten Diese Unübersichtlichkeit ist durchaus verständlich, denn die postkoloniale Kritik bezieht sich ausdrücklich auf bestimmte konkrete Kontexte, die von ihrer jeweiligen Geschichte, Kultur und Politik geprägt sind. Dass die Er‐ gebnisse dann sehr unterschiedlich ausfallen, muss geradezu erwartet wer‐ den. Auch dass zwischen VertreterInnen postkolonialer Theorien bisweilen heftige Konflikte ausbrechen oder bestehen, kann nicht verwundern. Denn keine dieser Theorien kommt ohne einen - wie auch immer gearteten - Bezug auf die europäische Geistesgeschichte aus, während diese von ihnen ja zugleich aufs Schärfste kritisiert wird. Der indische Historiker Dipesh Chakrabarty nennt dies ein „postkoloniales Dilemma“: „Die Gedankenwelt, die während des Zeitalters der europäischen Expansion und Kolonialherrschaft entstand, erscheint zur Beschreibung und Analyse der eigenen (nichtwestlichen) Geschichte und Gesellschaft ebenso unverzichtbar wie ungenügend.“ 26 Trotz der teils konfliktiven Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen postkolonialen Strömungen und ‚Schulen‘ lässt sich als Gemeinsamkeit zwi‐ schen ihnen erkennen, dass sie den Kolonialismus nicht nur als ein Gesche‐ hen in der Vergangenheit betrachten, sondern seine gegenwärtigen Konse‐ quenzen (im kulturellen, epistemischen, soziologischen, wirtschaftlichen, politischen - und eben auch religiösen Bereich) als eine grundlegende Ur‐ sache von Konflikten und Problemen der Gegenwart analysieren. Diese Kri‐ tik wird heute in zahlreichen wissenschaftlichen Disziplinen geübt, in in‐ terdisziplinären Arbeiten und in Versuchen, die starre Einteilung in wissenschaftliche Disziplinen, die ebenfalls der europäischen Geistesge‐ schichte geschuldet ist, zu überwinden, die Wissenschaften zu „entdiszipli‐ nieren“ 27 . Der Fokus auf die Kritik an Kolonialismus und Kolonialität bringt es mit sich, dass die Gefahr besteht, postkoloniale Kontexte und Kulturen auf ihre postkoloniale Kondition zu reduzieren. Auf diese Weise würde der Postkolonialismus selbst in der Falle des ↗ Eurozentrismus verbleiben. Das von Mignolo und anderen eingeforderte Denken über die Grenzen hinaus und die beispielsweise von Bhabha und Said ermöglichten Perspektivwech‐ sel in der Analyse der kolonialen und postkolonialen Beziehungen öffnen aber vielfältige Auswege aus dem Dilemma. Die theologischen Beispiele 21 1.2 Postkoloniale Studien: Geschichte und Begriff 28 Castro-Varela/ Dhawan, Postkoloniale Theorie. 29 Kerner, Postkoloniale Theorien. 30 Nehring/ Tielesch, Postkoloniale Theologien, 9-45. 31 Conrad/ Randeria, Jenseits des Eurozentrismus. 32 Reuter/ Karentzos, Schlüsselwerke. in diesem Buch werden einige dieser Auswege vorstellen und zugleich die inhaltliche und methodische Vielfalt in der Auseinandersetzung mit dem Erbe des Kolonialismus sichtbar machen. Literaturhinweise Seit einigen Jahren gibt es einige sehr gute Einführungen in postkoloniale Theorien in deutscher Sprache. Insbesondere muss hier die schon klassische Einführung von María do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan 28 genannt werden, die inzwischen in dritter, erweiterter Auflage vorliegt. Sie ist vor allem kulturwissenschaftlich ausgerichtet und orientiert sich in erster Linie an Said, Spivak und Bhabha und damit an den anglophonen, asiatischen Varianten der postkolonialen Theorien. Einen anderen Weg geht Ina Kerner mit ihrer stärker politikwissenschaft‐ lich akzentuierten Einführung 29 , die thematisch gegliedert ist. Sie greift über den asiatischen Kontext hinaus und behandelt gezielt auch sozioökonomi‐ sche Themen des Postkolonialismus. Eine gute Einführung in die Grundbe‐ griffe der postkolonialen Studien findet sich auch in dem theologischen Sammelband von Andreas Nehring und Simon Wiesgickl (geb. Tielesch) 30 . Sie setzen die Darstellung zentraler Themen der postkolonialen Theorien gleich in Beziehung mit der Theologie. Bereits 2002 gaben Sebastian Conrad und Shalini Randeria einen Sam‐ melband 31 heraus, in dem Übersetzungen von wichtigen Texten der post‐ kolonialen Studien für die deutschsprachige Öffentlichkeit bereitgestellt wurden. Sie eignen sich für einen ersten Einstieg in die globale Diskussion; die Einleitung der HerausgeberInnen verbindet diese mit deutschen und mitteleuropäischen Kontexten. Im Sammelband „Schlüsselwerke der Postcolonial Studies“ von Julia Reuter und Alexandra Karentzos 32 stellen deutschsprachige AutorInnen einige der auch hier schon genannten AutorInnen und Arbeiten (sowie einige weitere) vor. Darüber hinaus wird die Rezeption der postkolonialen Theorien in verschiedenen akademischen Disziplinen untersucht und be‐ sprochen. Die wichtige Frage, wie der Kolonialismus deutsche Geschichte, 22 1 Was heißt denn hier ‚postkolonial‘? Grundlagen 33 Bechhaus-Gerst/ Zeller, Deutschland postkolonial. 34 Göttsche/ Dunker/ Dürbeck, Handbuch Postkolonialismus. 35 ‚Deutschland‘ steht hier verallgemeinernd nicht nur für die ausdrücklich ‚deutschen‘ Staaten seit 1871, sondern auch für die kleineren Vorläuferstaaten sowie für Menschen und Institutionen in und aus diesen Territorien. Aufgrund meiner eigenen Geschichte und Kontextualisierung spreche ich hier nur von Deutschland in diesem Sinn, nicht aber von der Bedeutung postkolonialer Studien für andere deutschsprachige Kontexte wie die Schweiz und Österreich, mit deren Kolonialgeschichte ich mich nicht hinreichend befasst habe. Vgl. dazu etwa Purtschert/ Lüthi/ Frank, Postkoloniale Schweiz; Ruthner, Habsburgs ‚Dark Continent‘. 36 Vgl. aber Bechhaus-Gerst/ Zeller, Deutschland postkolonial; Conrad/ Randeria, Einlei‐ tung, 39-42. 37 Vgl. etwa Gründer, Geschichte, mit zahlreichen historischen Dokumenten. Kultur und Wissenschaft prägt, untersuchen zahlreiche AutorInnen aus unterschiedlichen Fachbereichen in dem von Marianne Bechhaus-Gerst und Joachim Zeller editierten Buch „Deutschland postkolonial? “ 33 . Das „Handbuch Postkolonialismus und Literatur“, das Dirk Göttsche, Axel Dunker und Gabriele Dürbeck herausgegeben haben 34 , stellt auf wenigen Seiten ebenfalls Said, Spivak und Bhabha sowie summarisch weitere anglo‐ phone und frankophone AutorInnen vor. Neben einem Blick in verschiedene Fächer der Literaturwissenschaft und unterschiedliche Sprachräume findet sich hier auch ein lexikalischer Überblick über 30 wichtige postkoloniale Begriffe, die vor allem, aber nicht nur in der Literaturwissenschaft eine Rolle spielen. 1.3 Postkoloniales Deutschland? Die historische Verstrickung Deutschlands 35 in den Kolonialismus ist in un‐ serem Bewusstsein normalerweise nicht so präsent wie die Verantwortung anderer europäischer Staaten wie Großbritannien, Frankreich und Spanien. Aus diesem Grund werden auch postkoloniale Theorien in Deutschland bislang deutlich weniger zur Kenntnis genommen als dies beispielsweise im anglophonen Raum der Fall ist 36 . Tatsächlich wird selbst die explizite Kolonialgeschichte 37 Deutschlands in vielen Bereichen nach wie vor ignoriert. Insbesondere die Politik tut sich schwer mit einer Anerkennung der von deutschen Militärs und Ko‐ lonialbeamten etwa im heutigen Namibia begangenen Verbrechen. Aber auch Museen, Kunstsammlungen und Universitäten stellen sich häufig 23 1.3 Postkoloniales Deutschland? 38 Vgl. etwa Nausner, Der lange Schatten, 200-201. 39 Vgl. Hölzl, Wenn die Trommeln schweigen. 40 Vgl. auch zur Debatte: Geck/ Rühling, Vorläufer des Holocaust. 41 Vgl. Nausner, Der lange Schatten, 203. Kolonialer Enthusias‐ mus Koloniale Wunden nicht der historischen Verantwortung angesichts der bei ihnen lagernden oder ausgestellten Kunst- oder Ritualgegenstände und anderen geraubten Eigentums. Die verwendeten Argumente scheinen dabei gelegentlich direkt der Kolonialzeit entsprungen 38 . Selbst wenn es um Schädel, Knochen und andere Körperteile von Menschen aus Kolonialgebieten geht, die in anthro‐ pologischen oder medizinischen Sammlungen aufbewahrt werden, wehren sich deutsche Verantwortliche bisweilen immer noch gegen eine ordnungs‐ gemäße Rückführung und kulturgerechte Bestattung. Auch kirchlichen Archiven und Museen für Ethnologie und/ oder Missionsgeschichte stellen sich diese Herausforderungen 39 . Über die tatsächliche Eroberung von Kolonialgebieten für die deutsche Herrschaft hinaus lässt sich in der Literatur des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts eine breite Strömung des kolonialen Enthusiasmus aus‐ machen, in der sich Fernweh, Machtphantasien, Überlegenheitsanspruch, Neugier und handfeste finanzielle Interessen verbinden. Dieser kolonialis‐ tische Enthusiasmus ist bruchlos bis in den Nationalsozialismus hinein nachweisbar 40 . Darüber hinaus leisteten zahlreiche deutsche SiedlerInnen, Forscher, Militärs, Geschäftsleute, MissionarInnen und Abenteurer, die in den Kolo‐ nien anderer europäischer Staaten unterwegs waren, einen Beitrag zum deutschen Kolonialismus, ohne dass ein deutscher Staat oder deutsche In‐ stitutionen unmittelbar beteiligt gewesen sein mussten. Durch ihre Kontakte in die Heimat beeinflussten diese Einzelpersonen ebenfalls das koloniale Denken in Deutschland. Nicht zuletzt ist die Bedeutung deutscher Banken für den Kolonialismus nicht zu unterschätzen. In der Gegenwart sind die Auswirkungen dieser Geschichte subtiler zu erfahren, aber deswegen nicht weniger wirksam 41 . Sabine Jarosch spricht von „kolonialen Wunden“ in der Gegenwart der deutschen Gesellschaft, in denen die Kolonialgeschichte immer wieder schmerzlich zu spüren ist. Sie nennt als Beispiele für solche Wunden unter anderem: „Bis heute finden sich in zahlreichen deutschen Cafés Statuen oder Bilder von schwarzen DienerInnen. Schokoladenwerbung gebraucht die rassistische Figur des ‚Mohren‘. An rassistischer Sprachpraxis in Kinderbüchern wird vehement 24 1 Was heißt denn hier ‚postkolonial‘? Grundlagen 42 Jarosch, Koloniale Wunden, 47. 43 Vgl. Kerner, Postkoloniale Theorien, 61; www.freiburg-postkolonial.de und die ausführ‐ liche Linkliste auf dieser Webseite, die auch auf Initiativen in anderen Städten verweist. 44 Steyerl/ Gutiérrez Rodríguez, Spricht die Subalterne Deutsch, 29. 45 Wie in der aktuellen Rassismus-Diskussion üblich, wird das Adjektiv als Bezeichnung einer sozialen und kulturellen Konstruktion groß geschrieben. Koloniale Kontinuität festgehalten, auch wenn Betroffene äußern, wie verletzend sie bestimmte Ausdrü‐ cke finden. […] Es gibt massiven politischen und gesellschaftlichen Widerstand gegen Initiativen zur Umbenennung von Straßennamen, die nach Kolonialver‐ brechern benannt sind. Schwarze Menschen und People of Color […] sind häufiger Polizeikontrollen ausgesetzt, weil sie allein aufgrund ihrer Hautfarbe ins ‚Täter‐ profil‘ passen. Menschen, die keine ‚weiße‘ Pigmentierung aufweisen, werden immer wieder in die Situation gebracht, sich als ‚Geanderte‘ zu fühlen, als nicht zur deutschen Gesellschaft Zugehörige.“ 42 Zahlreiche Initiativen in größeren deutschen Städten haben es sich zur Aufgabe gemacht, diese Gegenwart des Kolonialen im Alltag sichtbar zu machen und kritisch herauszuheben. Mit alternativen Stadtführungen (teils auch virtuell erlebbar) machen sie auf ProtagonistInnen des Kolonialismus, ehemalige und gegenwärtige Kolonialinstitutionen, Denkmäler und Stra‐ ßennamen, Namen und Geschäftszeichen von Hotels und Apotheken usw. aufmerksam, um auf die Wirksamkeit kolonialer Denkweisen und Praktiken bis in die Gegenwart hinzuweisen und auf eine Verhaltensänderung hinzu‐ wirken 43 . Der Kolonialismus wirkt auch in Erfahrungen von alltäglichem, struktu‐ rellem und unterbewusstem Rassismus fort, von denen People of Colour und MigrantInnen in Deutschland berichten. Sie werden häufig mit den kultu‐ rellen Erinnerungen an die deutsche Kolonialzeit in Verbindung gebracht, die - wie beschrieben - umfassender ist als die konkrete Kolonialherrschaft des Deutschen Reiches. Ein nicht zu unterschätzendes Problem, das unmit‐ telbar mit dem Kolonialismus zu tun hat, ist die in Deutschland weit ver‐ breitete und vielschichtige Islamfeindlichkeit. Hito Steyerl und Encarnación Gutiérrez Rodríguez sprechen bezüglich solcher Erfahrungen mit Rassismus in Deutschland von der „koloniale[n] Kontinuität der Bundesrepublik“ 44 und verweisen insbesondere auf die Arbeiten Schwarzer 45 Feministinnen seit den 1980er Jahren. → Michael Nausner, österreichisch-schwedischer Theologe, erinnert daran, dass nicht nur das Christentum in seiner Geschichte eine „intime 25 1.3 Postkoloniales Deutschland? 46 Nausner, Koloniales Erbe, 75. 47 Ebd. 48 Vgl. ebd., 75-77. 49 Wiesgickl, Das Alte Testament. Vgl. auch: Wiesgickl, Gefangen. Postkolo‐ niale Reali‐ tät in der deutschen Kirche Komplizität […] mit der Kolonialisierung“ 46 aufwies, sondern dass die heu‐ tigen Migrationsformen eine „Spätfolge“ 47 dieser Kolonial- und Missionsge‐ schichte seien. Darüber hinaus erkennt er mehrere Zusammenhänge zwi‐ schen Migration und kirchlichem Leben in Mitteleuropa: Religionen spielen zwar einerseits eine wichtige Rolle bei der Integration von MigrantInnen, andererseits führt aber eine starke Zuwanderung auch zur Bildung von Diaspora-Religionen und christlichen Gruppen mit verschiedenen kulturellen Hintergründen. Auf diese Weise tragen migrantische christliche Gruppen auch postkoloniale Konfliktkonstellationen in Kirchen und Gemeinden Mitteleuropas. Um dieser Herausforderung gerecht zu werden plädiert Nausner dafür, die theologische Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Migration nicht allein der praktischen Theologie und der Missionswis‐ senschaft zu überlassen, sondern auch in der systematischen Theologie nach den grundlegenden Konsequenzen dieser komplexen Herausforderung für Theologie und Kirchen hierzulande zu fragen 48 . Der deutsche Theologe Simon Wiesgickl, der auch in Hongkong lehrte, hat in seiner Dissertation gründlich herausgearbeitet, wie die Entstehung und Entwicklung der historisch-kritischen Exegese in Deutschland einer‐ seits ohne den Kolonialismus nicht denkbar gewesen wäre und sie ande‐ rerseits aber auch zahlreiche Denkmuster und Stereotypen des kolonialen Zeitalters integrierte. So lassen sich in exegetischen Texten der ↗ Euro‐ zentrismus, der Überlegenheitsanspruch deutscher ExpertInnen und sogar Wechselwirkungen mit dem Antisemitismus zeigen, die alle auch eine wichtige Rolle in der Kolonialideologie deutscher Prägung spielen. Solche kritischen Untersuchungen wären auch in anderen theologischen und theologiegeschichtlichen Bereichen überaus wünschenswert 49 . Eine weitere postkoloniale Realität in der deutschen Kirche besteht bis heute in den vielschichtigen Beziehungen zwischen Deutschland und frü‐ heren Kolonialstaaten auch anderer Länder durch Ordensgemeinschaften und Hilfswerke. Diese Beziehungen bestehen teilweise bereits seit vielen Jahrzehnten und haben in dieser Zeit auch bereits vielfach ihren Charakter transformiert. Dennoch beruhen sie ursprünglich auf kolonialen Verhält‐ nissen, die nicht immer hinreichend im kritischen Bewusstsein sind. Die 26 1 Was heißt denn hier ‚postkolonial‘? Grundlagen 50 Vgl. Pittl, Anspruch und Wirklichkeit. 51 Spivak, Crítica, 19. 52 Ebd. Eurozentri‐ scher Überlegen‐ heitsan‐ spruch Diskussion postkolonialer Theorien wurde in manchen dieser Institutionen jedoch bereits aufgenommen 50 . Eine grundlegende Nachwirkung des Kolonialismus in Deutschland, die vielfache Konsequenzen nach sich zieht, lässt sich schließlich auf ↗ epis‐ temologischer Ebene greifbar machen: Der europäische Kolonialismus ins‐ besondere des 19. Jahrhunderts wäre nicht denkbar gewesen ohne die ideo‐ logischen Voraussetzungen des deutschen Idealismus und der Aufklärung insgesamt. Gayatri Spivak merkt hierzu an, dass Deutschland eine zentrale philosophische und intellektuelle Rolle bei der Ausarbeitung und Durchfüh‐ rung einer kolonialen Ideologie spielte: „Das kulturelle und intellektuelle ‚Deutschland‘ […] war die Hauptquelle der pedantischen Denkrichtung, die eine Identitätsbegrifflichkeit einführte,“ 51 die zur Benennung, Bewertung und Einhegung kolonialer Erfahrungen diente. Unter ausdrücklicher Bezug‐ nahme auf Kant, Hegel und Marx schreibt sie: „Deutschland produzierte die autorisierten ‚universalen‘ Erzählungen, in denen das Subjekt unweigerlich ein europäisches war.“ 52 Diese Philosophien des 18. und 19. Jahrhunderts prägen deutsche Denk‐ weise bis in die Gegenwart. Das identitäre Denken vom so genannten ‚christlichen Abendland‘ ist nur ein Beispiel für den Ausschluss scheinbar fremder oder ‚anderer‘ Kulturen von einer unterstellten ‚Leitkultur‘. Auch der in vielen Bereichen nach wie vor wirksame eurozentrische Überlegen‐ heitsanspruch gegenüber Entwicklungen in anderen Teilen der Welt lässt sich hier nennen. Ein Christentum, das seine asiatischen Wurzeln vergessen zu haben scheint und sich als ‚europäisches‘ versteht, zumal in seiner euro‐ zentrischen katholischen Variante, muss sich dieser kritischen Anfrage in weitaus verstärktem Maß stellen. 1.4 Koloniale Kontexte heute Auch wenn die meisten Kolonien inzwischen staatliche Unabhängigkeit erlangt haben, ist der Kolonialismus keine abgeschlossene Episode der Ver‐ gangenheit. Er prägt die Gegenwart auf vielfältige Weise. Der Postkolonia‐ lismus als globale wissenschaftliche Strömung versteht sich daher auch als 27 1.4 Koloniale Kontexte heute 53 González Casanova, Sociología de la explotación, 221-250. Neokolo‐ nialismus Interner Kolonialis‐ mus eine kritische Auseinandersetzung mit den Auswirkungen der Kolonialzeit in der Gegenwart, die sich auf sehr unterschiedlichen Ebenen bemerkbar machen: in wirtschaftlicher Abhängigkeit, in kulturellen Hierarchien und Exklusionen und auf ↗ epistemologischer Ebene. Zugleich lassen sich auch globale Gegenbewegungen mit diesem kolonialen Weiterwirken des Kolonialismus wahrnehmen, die ebenfalls auf diesen verschiedenen Ebenen agieren. In vielen Bereichen der internationalen wirtschaftlichen Beziehungen werden gegenwärtig unter dem Stichwort des Neokolonialismus unter‐ schiedliche Ausbeutungsverhältnisse diskutiert, die sich vom historischen Kolonialismus dadurch unterscheiden, dass die ausgebeuteten Regionen formal ihre staatliche Unabhängigkeit besitzen. Durch Bergbaukonzessio‐ nen, Investitionen und Handelsverträge werden diese Neokolonien jedoch dazu gebracht, das zu produzieren, was der internationale Investor vorgibt, und nicht das, was von der lokalen Bevölkerung benötigt wird. Besonders drastisch macht sich dies im landwirtschaftlichen Sektor bemerkbar. Eine andere Form des Neokolonialismus kann beobachtet werden, wenn Arbeitsplätze etwa in der Bekleidungs- oder Informationsindustrie in Län‐ dern geschaffen werden, die ein wesentlich geringeres Lohnniveau und eine schlechtere Arbeitsgesetzgebung als die industrialisierten Staaten besitzen. In vielen Fällen wird von den armen Ländern selbst die Gesetzgebung so ‚investorenfreundlich‘ gestaltet, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter unter extrem prekären, teils der Sklaverei ähnelnden Bedingungen zu arbeiten gezwungen sind. Eine dritte Form des Neokolonialismus findet sich in der Auslagerung der Konsequenzen des Klimawandels in die Länder und Regionen, die ihn am wenigsten verursacht haben. Diese drei Beispiele sollen die Phänomene des Neokolonialismus nur exemplarisch und nicht erschöpfend aufzeigen. Der mexikanische Soziologe Pablo González Casanova wies bereits in den 1960er Jahren darauf hin, dass trotz der staatlichen Unabhängigkeit und zahlreichen anderen sozio-ökonomischen Veränderungen in den Postkolo‐ nien wirtschaftliche Strukturen erhalten bleiben, die sowohl die globale Ausbeutung weiter aufrechterhalten als auch die Entwicklung eines ‚inter‐ nen Kolonialismus‘ begünstigen, durch den einheimische Eliten und be‐ stimmte Landesregionen koloniale Machtverhältnisse über andere Teile des Landes weiterführen können 53 . Dies zeigt sich beispielsweise in der syste‐ 28 1 Was heißt denn hier ‚postkolonial‘? Grundlagen 54 Vgl. Porto-Gonçalves, Amazonía. 55 Vgl. Nehring, Verwundbarkeit auf Abwegen. 56 Quijano, Colonialidad, 12. Kulturelle Tiefen‐ schichten matischen Ausbeutung ländlicher und von Bergbau betroffener Regionen, die häufig durch eine Zentralregierung unterstützt wird. Derzeit wird ein solcher interner Kolonialismus besonders drastisch in der Amazonienregion wahrgenommen 54 . Weitere koloniale und neokoloniale Kontexte finden sich im Zusammen‐ hang mit den vielfältigen Migrationsbewegungen der Gegenwart 55 . Einer‐ seits gehören neokoloniale Ausbeutung und Gewaltszenarien, die mit ihr verbunden sind, zu den wesentlichen push-Faktoren der Migration, ande‐ rerseits muss unter den pull-Faktoren die sich öffnende Schere zwischen den weltweiten Gewinnern und den Verlierern der kapitalistischen Globalisie‐ rung identifiziert werden. Geduldete und sich illegal aufhaltende MigrantIn‐ nen werden darüber hinaus häufig auch in Europa unter sklavenähnlichen Arbeitsbedingungen oder in anderen prekären Arbeitsverhältnissen ausge‐ beutet. Von ihren Ursprungsländern angefangen sind MigrantInnen auf dem ganzen Weg ihrer Migration bis in die Zielländer überall dem Rassismus und Hierarchien kultureller Überlegenheit ausgesetzt, die ihren Ursprung nicht zuletzt in den Jahrhunderten der europäischen Kolonialpraxis besitzen. Ebenso wie die wirtschaftlichen Strukturen des Kolonialismus besitzen auch seine kulturellen Tiefenschichten eine Langlebigkeit, die nicht durch das Ende der Kolonialzeit einfach überwunden oder durchbrochen werden kann. Aníbal Quijano nennt die Hartnäckigkeit dieser kulturellen Prägun‐ gen die ↗ Kolonialität: „Sie besteht […] aus einer Kolonisierung der Vorstellungswelt (imaginario) des Dominierten. Das heißt, sie handelt innerhalb dieser Vorstellungswelt. In gewisser Weise ist sie ein Teil davon.“ 56 Dies bedeutet, dass die Vorstellungswelt der Menschen selbst kolonisiert, also bis in die Gegenwart den Bedingungen des Kolonialismus unterworfen ist. Gleichzeitig ist es diese Vorstellungswelt selbst, die diese kulturellen Bedingungen des Kolonialismus aufrechterhält, weil sie sie für selbstver‐ ständlich einstuft. Dies ist der Grund, weshalb die koloniale Abwertung der einheimischen Kulturen und die unterbewusste Aufwertung alles Europäi‐ schen in den ehemals Unterworfenen und Unterwerfenden gleichermaßen nachwirkt und bis in die Gegenwart kulturprägende Macht ausübt. Ein 29 1.4 Koloniale Kontexte heute Koloniale Erinnerung Postkolo‐ niale Theo‐ logien wichtiges Werkzeug der Kolonialität ist nach Quijano der Rassismus, da er oberflächliche Unterschiede im Aussehen der Menschen dazu nutzt, kulturelle Auf- und Abwertung individuell zuzuordnen. Wirtschaftliche und kulturelle Kolonialität bedingen und befördern sich gegenseitig. Die ökonomische Ausbeutung wird legitimiert und akzeptabel durch die abwertende kulturelle (Selbst-)Einschätzung, und die kulturelle Abwertung verstärkt sich durch wachsende Armut und Prekarität. Diese wechselseitige Verstärkung postkolonialer Erfahrungen in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen ist ein wichtiges Thema der Kritik im Post‐ kolonialismus. Sie verweist auf die unterbewusste, für selbstverständlich gehaltene hartnäckige Überlebenskraft kolonialer Verstehensmuster. Man kann die Wirkung dieser Hinterlassenschaften des Kolonialismus als ↗ epistemologisch bezeichnen: Sie verändern die Art und Weise, wie Men‐ schen sich selbst und die Welt, in der sie leben, wahrnehmen. Beziehungen zwischen Menschen verschiedener Herkunft, Sprache oder Hautfarbe wer‐ den unterbewusst auf einer kolonialen Folie gelesen und damit von vorn‐ herein in diese Erblast der Kolonialität eingeordnet. Das Recht transnatio‐ naler Unternehmen auf die Ausbeutung von Rohstoffen, Energiegewinnung und landwirtschaftlicher Produktion wird nicht hinterfragt, weil in der ko‐ lonialen Erinnerung die Vormacht und damit das Vorrecht der ehemaligen Kolonialstaaten gar nicht in Zweifel gezogen werden. Dies geschieht sowohl auf der Seite der vormals Kolonisierten wie der ehedem Kolonisierenden. Auch innerhalb der Staaten Europas und Nordamerikas wirkt diese koloniale Erinnerung: Die kolonialen Beziehungen haben nicht nur die Vor‐ stellungswelt der Dominierten verändert und nachhaltig geprägt, sondern auch die der Eroberer. Die Überlegenheit der heute durch den Kapitalismus Mächtigen ist scheinbar selbstverständlich auch eine kulturelle und poli‐ tische Überlegenheit. Sie scheint durch faktische Gegebenheiten legitim und wird durch ebenso vorurteilsbelastete ‚Wissenschaft‘ akademisch abge‐ sichert. Ebenso üben ↗ Eurozentrismus und Weiße Überlegenheit häufig unhinterfragt ihren kulturellen Einfluss aus. Die Kritik an diesen scheinbaren Selbstverständlichkeiten ist ein wesent‐ liches Thema der postkolonialen Studien. Sie streben an, die verborgenen Strukturen der Kolonialität aufzudecken, zu kritisieren und zu verändern. Auch die postkolonialen Theologien, die in diesem Buch im Mittelpunkt stehen, zielen die Kritik dieser tief liegenden kulturellen Überzeugungen an, rücken jedoch zugleich auch das Feld der Religionen in den Mittelpunkt. Sie fragen zum einen nach der Verantwortung der Religion für die Ausprägung 30 1 Was heißt denn hier ‚postkolonial‘? Grundlagen dieser selbstverständlich hierarchischen Vorstellungswelt des Kolonialis‐ mus und zum anderen auch nach den Konsequenzen, die der Kolonialismus seinerseits für die Konstruktion von Theologien nach sich gezogen hat. Postkoloniale Theologien und Studien allgemein fügen sich damit in ein globales Netz des Widerstands gegen die Kolonialität und den Kolo‐ nialismus ein, das auch schon zu Kolonialzeiten existierte. Denn solchen Widerstand gibt es ungefähr ebenso lange wie den Kolonialismus selbst, auch innerhalb der Kirchen und der Theologie. Er steht diesem jedoch nicht als homogener Block gegenüber, sondern ist durch vielfältige Verbindungen mit dem Kolonialismus selbst unauflöslich verflochten und äußert sich in unterschiedlichen Strategien und Praktiken. Gleichzeitig mit der neoliberalen Globalisierung kann daher heute auch von einer Globalisierung der Solidarität, der Gerechtigkeit oder der Hoff‐ nung die Rede sein. Menschen versuchen an vielen Orten mit sehr un‐ terschiedlichen Methoden gemeinsam an der Selbstverständlichkeit der vielfältigen zerstörerischen Strukturen der Gegenwart zu rütteln. Sie sind dabei selbst auch der Erblast der Kolonialität unterworfen und müssen daher ihr eigenes Tun auch immer wieder selbstkritisch hinterfragen. Ein wichtiges Element dieser Selbstkritik sind dabei eben die vielfältigen und in Entwicklung begriffenen postkolonialen Studien, genauso wie umgekehrt der selbstkritische Blick auf die eigene Produktion zum Selbstverständnis des Postkolonialismus insgesamt gehört. 1.5 Bedeutung der postkolonialen Studien für die Theologie Auch ChristInnen sind Teil dieser globalen Prozesse - der ↗ Kolonialität und des Widerstands. Die Verflechtungen der christlichen Mission mit den Gewalttaten des Kolonialismus sind weithin bekannt und wurden vielfach kritisch analysiert. Bereits während der Kolonialzeit wie auch danach sind ChristInnen - als Einzelne, aber auch in Repräsentation ihrer kirchlichen Institutionen - sowohl auf der Seite der Zerstörungen wie auf der des Widerstandes zu finden. Viele von ihnen - wie der Dominikaner Bartolomé de las Casas - waren zudem zugleich Kolonisatoren und Kritiker des Ko‐ lonialismus. Eine binäre Einteilung in Gut und Böse, Kolonialismus und Widerstand verbietet sich in einer angemessenen historischen Perspektive. Die Kritik solchen Schwarz-Weiß-Denkens ist gerade ein wesentlicher Aspekt des postkolonialen Denkens. 31 1.5 Bedeutung der postkolonialen Studien für die Theologie 57 Duggan, Erkenntnistheoretische Diskrepanz, 136-138. 58 Ebd., 137. Vier Pha‐ sen der Entwick‐ lung post‐ kolonialer Theologien Die vielfältige Verflechtung christlicher und kirchlicher AkteurInnen in koloniale Beziehungen ist ein wichtiger Grund dafür, dass die postkolonialen Studien weltweit gesehen auch in der Theologie schon seit einigen Jahren aktiv rezipiert wurden. Der US-amerikanische Theologe Joseph Duggan unterschiedet vier Phasen der Entwicklung postkolonialer Theologien 57 : Eine erste Strömung identifiziert er bereits - avant la lettre - in den Befrei‐ ungskämpfen gegen den Kolonialismus Mitte des 20. Jahrhunderts. Bereits in diesen Befreiungskämpfen waren ChristInnen aktiv beteiligt und produ‐ zierten auch theologische Texte, häufig aus der Perspektive indigener Völ‐ ker. Die Nichtberücksichtigung christlicher und theologischer Literatur aus dieser Zeit durch die Hauptströmungen der postkolonialen Theologien ver‐ engt jedoch nach Ansicht von Duggan das Spektrum dieser Theologien un‐ nötig. Eine zweite Strömung entwickelt sich aus der Anwendung der postko‐ lonialen Literaturwissenschaften auf die Exegese der Bibel. Vor allem in Indien, Afrika und den USA finden sich etwa seit der Jahrtausendwende TheologInnen, die beginnen, die Bibel mit Hilfe des postkolonialen Instru‐ mentariums neu zu lesen und zu interpretieren. Diese zweite Strömung besitzt bis heute einen großen Einfluss auf die Entwicklung postkolonialer Theologien. Besonders in den USA entwickelt sich dann Duggan zufolge eine dritte, eher systematisch-theologisch orientierte Strömung, deren Ver‐ treterInnen das Instrumentarium der postkolonialen Studien auf weitere theologische Disziplinen anwenden und insbesondere auch den Dialog mit dem postkolonialen Feminismus suchen. Die vierte Strömung, von der Duggan 2013 schreibt, dass sie „die komple‐ xeste und vielschichtigste“ und zudem „noch in der Entwicklung begriffen“ 58 sei, sucht den expliziten Dialog mit postkolonialen TheoretikerInnen, die in der Regel der Religion als einer Triebfeder des Kolonialismus sehr ablehnend gegenüber gestanden hatten. In diesem breiten interdisziplinären Dialog wird auch selbstkritisch die Frage gestellt, welche Rolle postkoloniale Sub‐ jekte tatsächlich in einer theologischen Strömung besitzen, die gegenwärtig sehr stark in den USA und im englischsprachigen Norden des Planeten geführt wird. Indigene und nichtchristliche AutorInnen sind daher in diesem Dialog ebenfalls vertreten. 32 1 Was heißt denn hier ‚postkolonial‘? Grundlagen 59 Nehring/ Tielesch, Postkoloniale Theologien, 44. Epistemo‐ logischer Bruch Mit Andreas Nehring und Simon Wiesgickl lassen sich dieser Chronologie noch die Entwicklungen innerhalb der Ökumenischen Vereinigung der DrittwelttheologInnen EATWOT hinzufügen. In der Gründungsversamm‐ lung dieser Vereinigung 1976 verorten die beiden Autoren einen „epistemo‐ logischen Bruch“ 59 , der sich der Sache nach schon den postkolonialen An‐ liegen annähert. Darüber hinaus können sicherlich auch weitere Strömungen von Theologien aus dem Globalen Süden aus den letzten Jahr‐ zehnten (wie die lateinamerikanische Befreiungstheologie sowie die Befrei‐ ungstheologien anderer Kontinente, feministische und ökofeministische Theologien des Südens, indigene Theologien aus Lateinamerika, Nordame‐ rika, Afrika und Asien usw.) zum vielfältigen Spektrum der postkolonialen Theologien gerückt werden. In der Gegenwart entspinnt sich ein komplexer Dialog zwischen diesen unterschiedlichen Strömungen. Der explizite Rekurs auf die postkolonialen Studien und die ausdrückliche Thematisierung von kolonialen und postkolonialen Fragestellungen könnte es rechtfertigen, von den postkolonialen Theologien als einer eigenen Strömung zu sprechen. Eine solche Abgrenzung würde jedoch eine in der Praxis nicht existierende Trennung von anderen vergleichbaren Theologien und eine innere Homogenität dieser Strömung unterstellen. Vielmehr muss man sich die postkolonialen Theologien als eine vielfältige, kritische und dialogbereite theologische Perspektive vorstellen, die Instrumente der post‐ kolonialen Studien aufgreift, um Herausforderungen zu bearbeiten, die sich aus historischen kolonialen Zusammenhängen ergeben, und dabei im lebendigen Austausch mit anderen Theologien des Globalen Südens steht. In diesem Band werden daher auch theologische Beispiele vorgestellt, die sich selbst nicht ausdrücklich als postkolonial bezeichnen oder sich explizit auf die Methodiken der postkolonialen Studien beziehen. Es ist derzeit wohl kaum möglich, einen vollständigen Überblick über das Panorama postkolonialer Theologien zu geben. Das liegt nicht nur an der beschriebenen Unmöglichkeit einer Abgrenzung dieser Theologien von verwandten und benachbarten Strömungen und an ihrer inneren Vielfalt, sondern auch daran, dass sich weder alle theologischen Arbeiten, die man als postkolonial einstufen könnte, selbst so (oder auch ‚dekolonial‘) nennen. Schließlich muss man auch kritisch anmerken, dass es inzwischen Arbeiten gibt, deren Selbstidentifizierung als ‚postkolonial‘ nicht mit der verwendeten Methodologie übereinstimmt. 33 1.5 Bedeutung der postkolonialen Studien für die Theologie Vielgestal‐ tigkeit und Uneinheit‐ lichkeit postkolo‐ nialer The‐ ologien Als eine theologische Perspektive in Bewegung und Transformation kann man daher die postkolonialen Theologien derzeit als vielgestaltig und un‐ einheitlich bezeichnen. Sie weisen auch keinen geografischen Schwerpunkt auf; vielmehr entwickeln sie sich eher versprengt auf allen Kontinenten, oftmals in Minderheitsverhältnissen, die von ihnen selbst als ‚Diaspora‘ charakterisiert werden. Das Internet und soziale Medien werden gerne und ausgiebig genutzt, so dass globale Vernetzung und Kommunikation möglich werden. Auch ökumenisch und teilweise interreligiös entwickelt sich eine lebendige Zusammenarbeit. Zwischen theologischen Entwürfen verschiedener christlicher Konfessio‐ nen wird dabei meist nicht ausdrücklich unterschieden. Vielmehr werden Entwürfe aus anderen Kirchen oft dankbar (und kommentarlos) aufgegriffen und rezipiert. Die Gemeinsamkeiten in den (post-)kolonialen Fragestellun‐ gen sind oft größer als die geschichtlich gewachsenen konfessionellen Unterschiede. Im Gegenteil wird der historische Konfessionalismus sogar als koloniales Erbe dekonstruiert. Die Grenzen zwischen den Konfessionen werden - wie viele Grenzbereiche im Postkolonialismus - als (post-)kolo‐ niale Machtinstrumente problematisiert und dadurch auch durchlässig für den Dialog. Aufgrund der Aufmerksamkeit, die im Postkolonialismus sowohl kultu‐ rellen wie auch politischen und wirtschaftlichen Hierarchien und Abhängig‐ keitsverhältnissen zukommt, berühren sich die postkolonialen Theologien auch in vielfältiger Weise sowohl mit interkulturellen als auch mit Befrei‐ ungstheologien. Während interkulturelle Theologien in der Vergangenheit häufig die Fragen der Machtverhältnisse ausblendeten und die kulturellen Begegnungen und Lernprozesse in den Vordergrund rückten, fragen post‐ koloniale Theologien stärker nach den Möglichkeiten des interkulturellen Dialogs bzw. der ↗ Verhandlungen zwischen den Kulturen unter dem Einfluss kolonialer Machtstrukturen. Gegenüber den Befreiungstheologien und verschiedenen anderen politischen Theologien weltweit lenken die postkolonialen Theologien hingegen die Aufmerksamkeit insbesondere auf (inter-)kulturelle Fragen, die in den politischen Theologien oft als zweitran‐ gig oder gar als Hindernis zurückgedrängt wurden und machen darauf aufmerksam, dass die Analyse kultureller Machtverhältnisse notwendig ist, um soziale Hierarchien und Ausbeutungsstrukturen besser zu verstehen. In beiden theologischen Strömungen - den politischen wie den interkul‐ turellen Theologien - wächst nun das Interesse an einer Auseinanderset‐ zung mit den Fragen und Methodiken des Postkolonialismus. Postkoloniale 34 1 Was heißt denn hier ‚postkolonial‘? Grundlagen Konkrete kontextu‐ elle Cha‐ rakteristik Theologien nähren sich daher auch aus dem Dialog mit diesen beiden pluralen Strömungen der Theologien des Globalen Südens. In den verschiedenen Ausformungen postkolonialer Theologien zeigt sich weiterhin auch die Bedeutung, die in ihnen jeweils den konkreten lokalen und historischen Kontexten zugemessen wird. Sie versuchen nicht, allge‐ meingültige Antworten auf vermeintliche Menschheitsfragen zu geben, sondern gehen von konkreten kulturell und machtpolitisch geprägten Struk‐ turen und Problemen aus. Dadurch gewinnen sie nicht nur eine konkrete kontextuelle Charakteristik, sondern auch global gesehen eine äußerst dif‐ ferenzierte Pluralität: Sie lassen sich nicht nur nicht über einen Kamm sche‐ ren, sondern sie wirken in der Gesamtschau gelegentlich widersprüchlich, uneinheitlich und fragmentiert. Diese Uneinheitlichkeit ist eine praktische Folge ihrer grundsätzlich kritischen Perspektive gegenüber der Universali‐ sierung, Vereinheitlichung und Verdinglichung in der Theologie, die sie vor allem hinsichtlich der eurozentrischen und kolonialen Theologie bemän‐ geln. Man muss diese Widersprüchlichkeit und Fragmentarität postkolo‐ nialer Theologien daher durchaus als gewünscht ansehen. Denn auf diese Weise wird es den postkolonialen Theologien möglich, die vielgestaltigen Verbindungen etwa von Kolonialismus und Missionierung in der Geschichte konkret zu bearbeiten. Denn Spuren und Überreste kolonialer Mentalität weisen sehr unterschiedliche Gestalten auf, je nach historischen Kontexten und geschichtlichen Entwicklungen. Sie finden sich in Theologie und Kirche sowohl in den (ehemaligen) Missionsgebieten als auch in Europa und Nordamerika, bis in die Gegenwart. Die komplexen Beziehungen zwischen den von kolonialen und postkolonialen Machtstruk‐ turen geprägten Kulturen und den Theologien, die in ihnen entstanden sind und entstehen, lassen sich mit dieser postkolonialen Methodik entschlüsseln und verändern. Gerade in der katholischen Kirche, die sich dezidiert als Weltkirche versteht und zentralistisch organisiert, sind globale Machtverhältnisse und Kulturen, die von ihnen charakterisiert sind, eine wesentliche Herausfor‐ derung für die Theologie, und zwar nicht nur für die Missions- und Reli‐ gionstheologien, sondern auch für Ekklesiologie, Christologie und andere theologische Themen, die ja ebenfalls kontextueller Prägung unterworfen sind. Die folgenden Kapitel stellen einige Überlegungen in diesen Zusammen‐ hängen vor und zeigen, welche tief reichenden Konsequenzen die Rezeption postkolonialen Denkens in der Theologie hat. Beispiele aus aller Welt 35 1.5 Bedeutung der postkolonialen Studien für die Theologie 60 Pilario, Mapping, 47-49. Vgl. Kapitel 1.6 zu den Übereinstimmungen und Unterschieden zwischen diesen ‚Hauptzielen‘ bei Pilario und der Gliederung dieses Buches. 61 Gruber, Wider die Entinnerung, 36. und aus verschiedenen Bereichen der Theologie werden zeigen, dass die Theologie grundsätzlich angefragt ist und sich prinzipiell zu dieser Heraus‐ forderung stellen muss. Der philippinische Theologe Daniel Franklin Pilario benennt „drei Haupt‐ ziele“ postkolonialer Theologien: „(1) Erstens die dekonstruktive Phase. Die postkoloniale Theologie unternimmt es, biblische Dokumente, theologische Paradigmen und doktrinäre Behauptungen zu untersuchen, um ihre Komplizenschaft mit dem kolonialen Unternehmen festzustellen. […] (2) Zweitens das Projekt der Rekonstruktion. Postkoloniale Theologien führen rekonstruktive Lektüren der sogenannten klassischen Texte aus der Perspektive subalterner Stimmen durch oder stellen neue Texte und Praktiken in den Vorder‐ grund, die bislang von dominanten Diskursen unterdrückt wurden. […] (3) Drittens entscheidet sich die postkoloniale Theologie für eine Hermeneutik des Widerstands, d. h. nicht nur zu lesen, wie die Kolonialmächte die Kolonisier‐ ten konstruieren, sondern auch, wie die Subalternen dieselbe Macht untergraben, mit der sie dominiert wurden.“ 60 Diese Ziele oder Phasen postkolonialer Theologien, die nicht als starre Abfolge oder Struktur gedacht werden dürfen, werden auch in den Beispie‐ len, die auf den folgenden Seiten vorgestellt werden, immer wieder zum Vorschein kommen. In diesem Überblick wird aber schon deutlich, dass die postkoloniale Kritik nicht nur einzelne Elemente der theologischen Arbeit verändert, sondern die traditionelle Theologie prinzipiell in Frage stellt. Die österreichisch-belgische Theologin Judith Gruber verweist auf diese Grundsätzlichkeit der Neuorientierung: „Eine deutschsprachige postkoloniale Theologie ist damit keine neue, margi‐ nalisierbare Disziplin, sondern orientiert die epistemologischen Vollzüge des theologischen Diskurses neu: “ Postkoloniale TheologInnen in Europa wählen „eine alternative Methode zu den Strategien des etablierten Diskurses; wir gehen buchstäblich einen anderen ‚Weg‘ des Theologietreibens, der uns dazu herausfordert, auch die ‚Landkarte‘ der Theologie neu zu vermessen.“ 61 36 1 Was heißt denn hier ‚postkolonial‘? Grundlagen 62 Vgl. auch den ausführlichen und gut aufbereiteten Überblick von Nausner, Zur Rezep‐ tion Postkolonialer Theorie. 63 Nehring/ Tielesch, Postkoloniale Theologien. 64 Nehring/ Wiesgickl, Postkoloniale Theologien II. 65 Pittl, Theologie und Postkolonialismus. Auch hierzulande besitzt der Postkolonialismus daher eine prinzipielle Bedeutung für die Theologie. Denn in ihm werden zum einen aus einer historischen Perspektive Kolonialismus, Mission, ↗ Eurozentrismus usw. angefragt. Zum anderen entfaltet sich diese Bedeutung auch in epistemolo‐ gischer Hinsicht, da die europäischen Theologien und ihre Sprachwelt we‐ sentlich mitverantwortlich für postkoloniale Verwerfungen sind. Schließlich ziehen diese Fragen auch auf praktischer Ebene Konsequenzen in Bereichen wie Gemeinde, Schule und Hochschule nach sich, wie in den folgenden Kapiteln deutlich werden wird. Literaturhinweise Die Veröffentlichungen in deutscher Sprache zu postkolonialen Theologien sind noch überschaubar 62 . Der umfassende und mit hilfreichen Einleitungen versehene Sammelband „Postkoloniale Theologien. Bibelhermeneutische und kulturwissenschaftliche Beiträge“ 63 von Andreas Nehring und Simon Wiesgickl (geb. Tielesch) aus dem Jahr 2013 bietet nicht nur gleich zu Beginn eine informative Einführung in die postkolonialen Studien, sondern vor allem eine Zusammenstellung von zumeist aus dem Englischen übersetzten einschlägigen Beiträgen aus Asien und Nordamerika. Dieser Band gibt einen guten Überblick über AutorInnen, Themen und Methoden, stellt aber noch keine systematische Einführung in die postkolonialen Theologien dar. Diese Einschränkung gilt auch für den Nachfolgeband „Postkoloniale The‐ ologien II: Perspektiven aus dem deutschsprachigen Raum“ 64 , den die beiden Herausgeber 2018 veröffentlichten, und in dem Beiträge, die ursprünglich auf Deutsch geschrieben wurden, gesammelt sind. Diese sind inhaltlich eher disparat. Sie eint, dass sie postkoloniale Methodiken auf verschiedene Themenbereiche anwenden, die den AutorInnen jeweils wichtig erschienen. Der Band macht zugleich auch sichtbar und greifbar, dass postkoloniale Theologien auch im deutschen Sprachraum bereits diskutiert werden. Der von Sebastian Pittl herausgegebene Sammelband zu „Theologie und Postkolonialismus“ 65 dokumentiert die Beiträge einer Tagung, die 2017 im Institut für Weltkirche und Mission (Frankfurt/ M.) zu diesem Thema 37 1.5 Bedeutung der postkolonialen Studien für die Theologie 66 Konz/ Ortmann/ Wetz, Postkolonialismus. 67 Vgl. Heimbach-Steins/ Bachmann/ Becker, Vorwort. 68 Tamayo, Theologien des Südens. stattfand. Der zweisprachige Tagungsband (deutsch und englisch) vereint vor allem missionswissenschaftliche Reflexionen von WissenschaftlerIn‐ nen aus aller Welt und verweist sowohl auf die Vielfalt als auch auf die globale Bedeutung der postkolonialen Theologien. Die ebenfalls zwei‐ sprachige Tagungsdokumentation „Postkolonialismus, Theologie und die Konstruktion des Anderen“ 66 diskutiert kirchenhistorische, biblische und systematisch-theologische Themen und nimmt auch Konsequenzen für die europäische Theologie in den Blick. Bereits 2013 erschien eine Ausgabe der Zeitschrift „Concilium“ (2/ 2013) zum Thema „Postkoloniale Theologie“, die übersetzte Beiträge aus aller Welt vorstellt. Einige dieser Beiträge führen sehr gut in die Thematik ein, andere dagegen können eher als konkretes Einzelbeispiel für postkoloniale Theologien oder angrenzende theologische Debatten dienen. Das 2020 veröffentlichte Heft derselben Zeitschrift zu „Dekolonialen Theologien“, das in der deutschen Ausgabe leider nur unter dem Titel „Gewalt, Widerstand und Spiritualität“ (1/ 2020) erschien, stellt diese theologische Strömung aus lateinamerikanischer Perspektive dar. Vor allem jüngere AutorInnen geben darin einen Einblick in Vielfalt und Methoden, aber ebenfalls keine systema‐ tische Einführung in die ‚dekoloniale‘ Variante postkolonialer Theologien. Das „Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften“ veröffentlichte im Jahr 2020 (Bd. 61) einige Beiträge vor allem aus sozialethischer Perspektive, in denen wichtige Spuren für eine Rezeption postkolonialer Studien im deutschsprachigen Diskursraum dieser theologischen Disziplin gelegt wer‐ den 67 . Die Ausgabe 1-2/ 2012 von „Interkulturelle Theologie. Zeitschrift für Missionswissenschaft“ dokumentiert hauptsächlich einige der Aufsätze, die auch im ersten Band von Nehring/ Tielesch erschienen sind. In der Ausgabe 2-3/ 2019 werden unter der Überschrift „Postkolonialismus - und was dann? “ einige interessante Beiträge zu Religionsgeschichte, Missionsgeschichte und Missionswissenschaft aus postkolonialer Perspektive zusammengestellt. Der spanische Theologe Juan José Tamayo führt mit „Theologien des Südens“ 68 in zahlreiche neuere theologische Methodiken des Globalen Sü‐ dens ein. Postkoloniale Theologien werden dabei ebenfalls vorgestellt, aber leider nicht systematisch aufbereitet oder grundlegend analysiert. Die Studie 38 1 Was heißt denn hier ‚postkolonial‘? Grundlagen 69 Estermann, Südwind. 70 Vgl. v. a. ebd., 160-167. 71 Darunter bereits auch kritische Auseinandersetzungen, z. B. Ackermann, Die Identität. 72 Rettenbacher, Außerhalb der Ekklesiologie. 73 Wiesgickl, Das Alte Testament. 74 Rieger, Christus und das Imperium. 75 Sugirtharajah, Eine postkoloniale Untersuchung, 125. „Südwind“ des Schweizer Theologen und Philosophen Josef Estermann über „kontextuelle nicht-abendländische Theologien im globalen Süden“ 69 dokumentiert und analysiert ebenfalls Theologien aus aller Welt, die den postkolonialen sehr nah verwandt sind, aber vertieft dies nur ansatzweise unter dem Aspekt der theologischen Entkolonisierung 70 . Darüber hinaus finden sich im deutschsprachigen Raum neben weiteren Einzelbeiträgen und Aufsätzen zu postkolonialen Themen 71 vor allem zwei Dissertationen zu theologischen Fragen: Sigrid Rettenbachers postkoloniale Erforschung der Religionstheologie 72 und Simon Wiesgickls kritische Aufar‐ beitung der Geschichte der historisch-kritischen Exegese aus postkolonialer Perspektive 73 . Beide weisen weit über ihre konkrete Fragestellung hinaus und bieten hilfreiches Material zur Vertiefung postkolonial-theologischer Anliegen in deutscher Sprache und in deutschsprachigen Kontexten. Zu erwähnen ist hier außerdem noch die deutsche Übersetzung von → Jörg Riegers christologischer Studie „Christus und das Imperium“ 74 , die postko‐ loniale Methodik aufgreift. Weitere wichtige und interessante Veröffentli‐ chungen lassen sich in verwandten Disziplinen wie der Religionssoziologie, der interkulturellen und der feministischen Theologie ausmachen. 1.6 Wissen und Macht in der Theologie. Zum Aufbau dieses Buches Der Bibelwissenschaftler → R. S. Sugirtharajah aus Sri Lanka beschreibt als „vereinende Kraft“ der vielgestaltigen Entwürfe postkolonialer Autorinnen und Autoren die Intention, „die Verbindung zwischen Wissen und Macht in der textuellen Produktion des Westens zu untersuchen und aufzudecken“ 75 . Diese Intention kann auch in den postkolonialen Theologien entdeckt werden. Sie steht auch im Hintergrund der folgenden Kapitel, in denen es grundlegend um den Zusammenhang von Macht und Wissen in der Theologie gehen wird. Denn jedes Wissen steht immer in Verbindung 39 1.6 Wissen und Macht in der Theologie. Zum Aufbau dieses Buches 76 Vgl. ausführlicher zu meinem Kulturbegriff: Silber, Die Befreiung der Kulturen, 23-76. Kultur als komplexe Dynamik mit einer bestimmten Kultur, wenn man es nicht als universales, ahistori‐ sches und überkulturelles Abstraktum verstehen will. Auch theologisches Wissen ist immer kulturell gebunden und untersteht damit konkreten Machtkonstellationen, die sich zu bestimmten historischen Zeitpunkten in den Kulturen, die die Theologie prägen, bilden. Während die interkulturelle Theologie sich darum verdient gemacht hat, die Zusammenhänge zwischen Theologie und Kultur herauszuarbeiten, und die Theologie der Befreiung insbesondere die wechselseitigen Beziehungen zwischen Macht und Theologie analysierte, kann in der Perspektive der postkolonialen Theologien ausdrücklicher die komplexe Dreiecksbeziehung zwischen Herrschaft, Kultur und theologischer Produktion in den Blick genommen, analysiert und kritisiert werden. Sowohl in der interkulturellen wie auch in der Befreiungstheologie ist in den letzten Jahrzehnten die Aufmerksamkeit für dieses komplexe Wech‐ selverhältnis gewachsen. Seine Thematisierung ist keine Exklusivleistung postkolonialer Theologien. Darum geht es hier auch gar nicht. Vielmehr schöpfen postkoloniale Theologien sowohl aus der Befreiungstheologie als auch aus der interkulturellen Theologie Hilfestellungen für eine umfassen‐ dere und profundere Analyse und können ihnen zugleich einen fruchtbaren Dialog anbieten. Kultur muss dabei als umfassende, komplexe Dynamik verschiedener Symbolsysteme betrachtet werden, die Religion, Gesellschaft, Wirtschaft und Politik einschließt 76 . Sie bezieht sich nicht nur auf Kunst, Sprache und Wissenschaft, sondern auf alle Lebensbereiche, auch die Gestaltung des Alltags, Herrschaftsverhältnisse und das Weltverständnis. Ein reduzierter Kulturbegriff wird der kulturellen Selbst- und interkulturellen Fremder‐ fahrung des Menschen nicht gerecht, schon gar nicht in kolonialen und postkolonialen Kontexten. Ebenso müssen Macht und Herrschaft auch als kulturelle Größen angesehen werden, die nicht nur auf rechtliche, faktische oder gewaltsam erzwungene Abhängigkeiten in den Blick nehmen, sondern ebenso psychische, kulturelle und religiöse Unterordnungen sowie Gegenmacht und Widerstand einschließen. Insbesondere mit Homi Bhabha und Gayatri Spivak ist es wichtig, sich auf die Konzeptionen von Macht, Herrschaft und ↗ Hegemonie, wie sie von Michel Foucault und Antonio 40 1 Was heißt denn hier ‚postkolonial‘? Grundlagen 77 Vgl. Castro-Varela/ Dhawan, Postkoloniale Theorie, 196-211; 231-232; 249-252. 78 Die oben (vgl. 1.5) zitierten drei „Hauptziele“ postkolonialer Theologien von Daniel Pilario gaben bei der Gestaltung dieser Kapitelgliederung eine Anregung, wobei die Kapitel zwei und drei in diesem Buch Pilarios ‚dekonstruktiver Phase‘ entsprechen, das vierte Kapitel seine ‚Hermeneutik des Widerstands‘ aufgreift und im fünften Kapitel ‚das Projekt der Rekonstruktion‘ der Theologie im Vordergrund steht. Pilarios Reihenfolge der drei ‚Ziele‘ oder ‚Phasen‘ habe ich jedoch nicht beibehalten. Vgl. Pilario, Mapping, 47-49. Gliederung Gramsci entwickelt wurden, zu beziehen, wie dies in den postkolonialen Studien geschieht 77 . Die folgenden fünf Kapitel stellen einen möglichen Zugang zur Vorstel‐ lung postkolonialer Theologien dar; sie erheben keinen Anspruch darauf, die einzig mögliche oder beste Form der Präsentation zu sein. Diese Gliede‐ rung wurde gewählt, weil auf diese Weise vier wichtige unterschiedliche Aspekte der postkolonialen Theologien transparent dargestellt und an‐ schließend mögliche Lerneffekte für uns in Europa aufgezeigt werden kön‐ nen. Diese Aspekte sind in vielfacher Weise aufeinander bezogen. Die ein‐ zelnen Kapitel verweisen daher eng aufeinander 78 . Kapitel zwei legt einen Schwerpunkt auf kulturelle und sprachliche Faktoren im Postkolonialismus. Diese Fragen stehen bei vielen Theoreti‐ kerInnen - von denen viele ja aus den Literaturwissenschaften kommen - im Vordergrund. Postkoloniale Theorien werden daher häufig damit identifiziert bzw. darauf reduziert. Genauso wichtig für ein Verständnis der postkolonialen Theologien ist jedoch der Aspekt der Machtbeziehungen, der im dritten Kapitel vorrangig behandelt wird. Denn der Kolonialismus ist ein Machtverhältnis und hat bis heute Auswirkungen in vielfältigen Machtkonfigurationen der Gegenwart. Der Widerstand, der diesen Machtverhältnissen entgegengebracht wird, auch in der Theologie, ist schwerpunktmäßig Gegenstand des vierten Kapitels. Dieser Widerstand und die Gegenmacht, die er repräsentiert, beinhaltet auch eine Reihe konkreter Methodiken, mit denen traditionelle theologische Formen kritisiert werden. Er endet auch nicht mit der Kritik, sondern postkoloniale Theologien - und das ist das Thema des fünften Kapitels - entwickeln auch theologische Alternativen, in denen sie die kolonialkritische Gegenmacht auch theologisch entfalten und teilweise zu völlig neuen Verständnissen des christlichen Glaubens gelangen. Das abschließende sechste Kapitel fragt nach den Möglichkeiten, Bedingungen 41 1.6 Wissen und Macht in der Theologie. Zum Aufbau dieses Buches 79 Vgl. Rettenbacher, Außerhalb der Ekklesiologie; Wiesgickl, Das Alte Testament. 80 Castro-Varela/ Dhawan, Postkoloniale Theorie, 20-21. und Chancen für ein Lernen in Auseinandersetzung mit postkolonialen Theologien, die sich für uns in Mitteleuropa ergeben. Dieses Buch ist als eine Einführung in die postkolonialen Theologien und ihre Methodik gedacht, nicht als eine systematische Abhandlung. Postkolo‐ niale Theologien sollen hier vorgestellt und nicht dargestellt werden. Diese Einführung möchte zum vertieften Weiterstudium anregen. Dazu eignet sich die verwendete und vorgestellte Literatur, auch wenn sie selbstverständlich bislang nur zu einem Teil in deutscher Sprache zur Verfügung steht. Ebenso können einzelne theologische Themen oder Gegenstände der postkolonialen Theologien hier nicht vollständig und systematisch erarbeitet werden: Wie Sigrid Rettenbacher und Simon Wiesgickl gezeigt haben, lässt sich mit konkreten postkolonial-theologischen Fragestellungen leicht eine ganze Dissertation füllen 79 . Darüber hinaus stehen postkoloniale Theorien jedweder Systematisie‐ rung immer schon sperrig gegenüber, da diese häufig mit ↗ Essentiali‐ sierungen und Hierarchisierungen einhergehen. Zumal in der Theologie muss dieses Feld außerdem immer noch als sehr jung, dynamisch und in Veränderung begriffen angesehen werden. Aus diesen Gründen scheint statt einer systematischen Darstellung zunächst ein wohlwollendes Kennenler‐ nen postkolonialer Theologien angezeigt. Aus demselben Grund ist dieses Buch auch keine „kritische“ Einführung. Während María do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan ihre Einführung in die postkolonialen Theorien bereits in der ersten Auflage 2005 als eine „kritische“ 80 bezeichnen, um die Auseinandersetzung mit ihnen anzuregen, halte ich es in der Theologie gegenwärtig eher für notwendig, zunächst mit Interesse und neugieriger Aufmerksamkeit an Entwürfe postkolonia‐ ler Theologien heranzugehen. Eine kritische Auseinandersetzung bleibt dadurch selbstverständlich nicht ausgeschlossen und wird auch gelegentlich in diesem Buch bereits unternommen. Die nun folgenden Kapitel werden mit Beispielen aus der Praxis postko‐ lonialer TheologInnen zugleich in Begriffe, Methoden und Grundkonzepte der postkolonialen Theorien einführen. Auf diese Weise wird deutlich werden, wie verschiedene Strategien postkolonialer Kritik die Theologie grundlegend verändern. Es soll auch deutlich gemacht werden, dass post‐ koloniale Theologien nicht beanspruchen, ein neues theologisches Fach 42 1 Was heißt denn hier ‚postkolonial‘? Grundlagen 81 Vgl. dazu ausführlicher unten das 6. Kapitel. 82 Vgl. dazu ausführlicher: Silber, Pluralität, 36-39. oder spezifische kontextuelle Theologie zu sein, sondern auf eine Umkehr in der theologischen Methodik insgesamt zielen. Sie erheben daher nicht den Anspruch, den theologischen Kanon zu erweitern, sondern ihn zu verändern 81 . Bei der Auswahl der postkolonial-theologischen Beispiele werde ich prin‐ zipiell exemplarisch, illustrierend, narrativ, fragmentarisch und nicht-er‐ schöpfend vorgehen. Ich tue dies in der Überzeugung, dass eine solche Vor‐ gehensweise den Grundannahmen des Postkolonialismus eher entspricht als eine wohlgeordnete Systematik, die zur Klassifizierung und damit Ein- und Unterordnung neigt. Dies mag zu Vereinfachungen, Einseitigkeiten und Auslassungen führen. Erfahrenere LeserInnen würden mit Sicherheit an der einen oder anderen Stelle die Art der Darstellung ändern, andere Beispiele wählen oder Wertungen anders vornehmen. Das Ziel dieser Einführung ist es aber, postkoloniale Theologien in ihren Grundzügen darzustellen und zu ihrem vertieften Studium zu motivieren. Sie soll dieses Studium nicht ersetzen. Auch eine fragmentarische Theologie ist jedoch nicht ‚unsystematisch‘. Sie widersetzt sich vielmehr dem Anspruch einer ‚Systematischen Theolo‐ gie‘, die auf eine vollständige, abschließende und kontrollierbare Darstellung eines theologischen Objekts zielt. Ein solcher Machtanspruch wird hier nicht erhoben. Stattdessen versucht diese Einführung durch verändernde Wiederholung, durch wechselnde Perspektiven und durch Komplementari‐ tät in scheinbar gegensätzlichen Aussagen unterschiedliche Schlaglichter auf eine wachsende und sich transformierende theologische Strömung zu werfen, die in ihrer Pluralität helfen sollen, den Grundanliegen dieser Strömung einigermaßen gerecht zu werden. Auch in Fragmenten lässt sich nach meiner Überzeugung bei genauem Blick eine mosaikhafte Systematik erkennen 82 . 43 1.6 Wissen und Macht in der Theologie. Zum Aufbau dieses Buches 2 Diskurspraktiken Wissen kann in der Gegenwart nicht mehr einfach als objektiv vorhan‐ den oder zuverlässig erwerbbar gelten. Es wird vielmehr in vielfältigen Diskursen generiert, verändert, weitergegeben und fortentwickelt. Im Zu‐ sammenhang mit Machtkonstellationen, wie sie etwa in kolonialen und postkolonialen Kontexten gegeben sind, ist es zu erwarten, dass auch die Diskurse, die Wissen hervorbringen, von diesen Machtverhältnissen durchdrungen sind und in ihnen operieren. Die postkoloniale Kritik - und mit ihnen postkoloniale Theologien - widmet daher den verschiedenen Strategien und Praktiken des Diskurses sehr viel Aufmerksamkeit. Denn auch die Theologie ist ein Beziehungs‐ system vielfacher Diskurse, in denen Wissen produziert wird. Und auch theologische Diskurse sind in vielfältige Machtbeziehungen eingewoben. Die Produktion theologischen Wissens in Diskurspraktiken muss daher - gerade auch aus postkolonialer Perspektive - kritisch auf ihre Beeinflussung durch Machtverhältnisse hin befragt werden. In diesem Kapitel werden einige wichtige Begriffe der postkolonialen Diskurskritik insbesondere anhand ihrer Verwendung in postkolonial-theo‐ logischen Texten vorgestellt. Zwei sehr wichtige Konzepte stehen am Anfang: das ↗ Othering oder die Erfindung des/ der Anderen (2.1) und die Es‐ sentialisierung oder Versteinerung von Identitäten und Begriffen (2.2). Beide sind stark aufeinander bezogen und treten in der Praxis häufig in Verbindung miteinander auf. Kulturelle Bereiche, in denen besonders augenfällig diese Praktiken des Othering und der Essentialisierung nachgezeichnet werden können, sind der Rassismus (2.3) und die Genderbeziehungen (2.6). Auch der Diskurs über Religion und Religionen ist von externen Zuschreibungen, die versteinernd wirken können, geprägt (2.5). Im Kolonialismus wirkt sich besonders stark eine mehr oder weniger offene Überzeugung von der europäischen Überlegenheit (2.4) aus, die sich beispielsweise auch in der Geschichtsschreibung findet (2.7). Aufgrund der Vielfalt dieser Perspektiven und ihrer komplexen wechsel‐ seitigen Beeinflussung wird in postkolonialen Debatten inzwischen mehr und mehr das Konzept der Intersektionalität oder der Überschneidungen solcher Perspektiven aufgegriffen (2.8). Allen diesen eher kulturell oder diskursiv orientierten Perspektiven gemeinsam ist die charakteristische Eigenschaft kultureller Phänomene, prägend auf das Bewusstsein der Menschen zu wirken, ohne immer offen sichtbar in Erscheinung zu treten. Bestimmte kulturelle Vorstellungen gelten als selbstverständlich, ohne hinterfragt zu werden. Vielmehr werden sie mit einer scheinbaren Sicherheit ‚gewusst‘, weil sie bereits die Wahrneh‐ mung prägen. Ähnlich wie Sophie Bessis in ihrer Kindheitserinnerung (vgl. oben 1.1) nicht daran zweifelte, dass die ‚Französinnen‘ in ihrer Schule ihnen überlegen waren, so ‚wissen‘ Menschen auch heute in sehr unterschiedli‐ chen postkolonialen Konstellationen aus tiefster Überzeugung, dass manche Identitäten so und nicht anders sind, bestimmte Menschen weniger wert oder weniger fortgeschritten als andere und dass geschichtliche Prozesse so abgelaufen sind, wie es die Mächtigen aufschreiben ließen. Postkoloniale Studien hinterfragen und kritisieren diese Selbstverständ‐ lichkeit und stellen analytische Mittel bereit, um die scheinbare Sicherheit des kulturellen Wissens zu durchbrechen. Sie decken auch Diskurspraktiken in der Theologie auf, in denen solche Stereotypen als Grundlage verwendet oder als Ergebnis begründet werden. Sie leisten damit einen wichtigen Beitrag zur selbstkritischen Überprüfung theologischer Diskurse. 2.1 Die Erfindung des Anderen Die Erfindung des Anderen ist eine wichtige von den postkolonialen Studien kritisierte Diskursstrategie. In ihr geht es darum, anderen Menschen, oft innerhalb eines angenommenen Kollektivs, bestimmte Eigenschaften zuzu‐ schreiben, durch die diese Menschen zugleich charakterisiert und bewertet werden sollen. Dadurch, dass diese Eigenschaften im Unterschied zu den behaupteten Eigenschaften der definierenden Gruppe (oder Subjekts) be‐ stimmt werden, betont diese Strategie die (vermeintlichen) Unterschiede mehr als die Gemeinsamkeiten, die Individuen in beiden Gruppen verbinden. Die Menschen der so definierten Gruppe scheinen grundlegend anders zu sein: Sie werden zu Anderen gemacht. Der Postkolonialismus nennt diese 46 2 Diskurspraktiken 1 Vgl. Babka, Gayatri C. Spivak, 22f. 2 Julia Reuter, Ordnungen des Anderen, 143, verwendet hier die Schreibweise „VerAnde‐ rung“. 3 Vgl. Jensen, Othering, 64 f., auch im Folgenden. 4 Vgl. Castro-Varela/ Dhawan, Postkoloniale Theorie, 232f. 5 Kim, Die Politik, 153. Verande‐ rung Strategie ↗ „Othering“ 1 , man könnte das als ‚Veranderung‘ 2 oder ‚fremd machen‘, ‚anders machen‘ übersetzen. Gayatri Spivak hat das Phänomen des Othering ausführlich analysiert und beschrieben 3 . Ihr zufolge geht es beim Othering nicht nur um die Beschreibung, Differenzierung oder Abgrenzung, sondern immer auch um die Abwertung und Beherrschung derjenigen, die zu Anderen gemacht werden: Es impliziert die Bestätigung einer Machtbeziehung durch morali‐ sche Gegensätze wie wild/ zivilisiert, verräterisch/ zuverlässig usw., die in scheinbares Wissen über den Anderen oder die Andere umgesetzt werden. Dieses Wissen und seine Produktion sind wiederum nur dem Herrschenden in dieser Machtbeziehung zugänglich. Auf diese Weise wird die Herrschaft scheinbar legitimiert. Homi Bhabha macht darüber hinaus noch darauf aufmerksam, dass diese Veranderungsprozesse nicht nach einem festgelegten Schema stattfinden, sondern Ambivalenzen und Veränderungen einschließen 4 . Die Bewertung des ‚Anderen‘ kann zwischen Spott und Sehnsucht changieren, nährt sich aus unterbewussten Fantasien und Obsessionen, so dass der veranderte Mensch zugleich Projektionsfläche der eigenen Wünsche wie der eigenen Verachtung sein kann. Der US-amerikanische Bibelwissenschaftler Uriah Y. Kim zeigt, wie sich Prozesse des Othering auch in der Bibel finden lassen. Dazu beschreibt er zunächst, wie sich das Fremdmachen von Menschen in der nordamerikani‐ schen Geschichte bis in die Gegenwart legitimiert. Er fragt: „Wie kann es sein, dass die Abkömmlinge von Europäern, die […] bis 1492 nie aus Europa herausgekommen sind, heute als ‚Einheimische‘ in diesen Ländern gelten und sich auch dafür halten“, während „die indigenen Bevölkerungen […] als das andere leben und gelten? “ 5 Kim verbindet diese scheinbare Legitimation mit der Notwendigkeit, die ko‐ loniale Machtordnung zu stabilisieren: Damit die Mächtigen im kolonialen System ihre Herrschaft aufrechterhalten können, auch wenn sie rein num‐ merisch in der Minderheit sind, werden die Beherrschten als menschlich, 47 2.1 Die Erfindung des Anderen 6 Ebd., 155. Das Fehlen gendersensibler Sprache ist hier der Übersetzung anzulasten. 7 Vgl. ebd., 158. Othering im bibli‐ schen Richter‐ buch intellektuell und/ oder moralisch unterlegen qualifiziert. Die tatsächliche Überlegenheit der Herrschenden wird so zu einer scheinbar natürlichen und unhinterfragbaren Wirklichkeit. Sie kann zur ethnologischen oder rassenideologischen ‚Wissenschaft‘ werden. Im Fall der Vereinigten Staaten beschreibt Kim eine weitere Komplexität dieses Veranderungsprozesses: Während „nationale ethnische Minderheiten (Iren, Italiener, Polen, Griechen und andere weiße Europäer) nach und nach Teil der Mehrheitsgruppe wurden“, gelang dies weder den UreinwohnerIn‐ nen noch anderen ImmigrantInnen: „Nichteuropäische ethnische Gruppen (Schwarze, einheimische Indianer, Asiaten, Latinos)“ 6 wurden den anderen Gruppen gegenüber abgewertet, vereinzelt, als Minderheiten abgestempelt und gegeneinander ausgespielt. Während Kim die innere Differenzierung und Hierarchisierung der ‚wei‐ ßen‘ Bevölkerungsgruppe vernachlässigt, zeigt er dennoch anschaulich, wie Menschen allein aufgrund äußerer Merkmale und geografischer Herkunft kulturell (und damit unbewusst) in hierarchisierte Menschengruppen ein‐ gestuft werden. Vergleichbare Prozesse des Othering deckt Kim im biblischen Richterbuch auf. Dies legt sich nicht zuletzt deswegen nahe, weil die Eroberung indigener Territorien Nordamerikas im 18. Jahrhundert durch europäische Einwan‐ dererInnen unter anderem auch mit dem Verweis auf die biblischen Land‐ nahmeerzählungen legitimiert und glorifiziert wurden. Im Richterbuch werden nun die Völker des Landes Kanaan zwar mit einzelnen Namen genannt, jedoch nicht differenziert: Sie werden als Einheit, als feindliche Einheit konstruiert, die die Identität und die Existenz des erobernden Volkes bedroht 7 . Ebenso wird das Volk Israel als Einheit kon‐ struiert, dessen interne Differenzierungen weitgehend minimiert werden. Die Unterschiede zwischen der einen, eigenen und der fremden, feindlichen Einheit werden dagegen in binärer, kontrastierender Weise übersteigert. Auf einer vordergründigen Ebene scheint der Text also durch die Strategie des Othering die Abwertung und schließlich Auslöschung einer erzählten Menschengruppe durch eine andere zu legitimieren. Zumindest wurde der Text in der nordamerikanischen Eroberungsgeschichte von Seiten der Kolonisatoren genau so interpretiert. 48 2 Diskurspraktiken 8 Ebd., 158f. 9 Vgl. ebd., 159. 10 Ebd. 11 Vgl. ebd., 160. Kim analysiert jedoch darüber hinaus, dass der biblische Text interessan‐ terweise diese strenge binäre Unterscheidung selbst an vielen einzelnen Punkten nicht durchhält: In manchen Episoden wird erzählt, wie Israeliten sich schlimmer verhalten als die Kanaaniter (wie in Ri 19,25). An anderen Stellen gibt es Kanaaniter, die sich mit den Israeliten solidarisieren (Ri 1,24-26), und Personen, die nicht eindeutig einer der beiden Gruppen zugeordnet werden können (Ri 3,31). Ja, eines der transversalen Themen des Richterbuchs ist gerade die immer wieder erzählte Tatsache, „dass es Israel nicht gelungen ist, den Hauptunterschied zwischen sich und den Anderen aufrechtzuerhalten“ 8 . Der biblische Text verhält sich auf einer untergründigen Erzählebene widerständig gegenüber dem Narrativ der Veranderung, das an der erzählten Oberfläche aufrechterhalten wird. Ver‐ anderungsprozesse werden dadurch vom Text selbst subtil durchbrochen. Eine nicht unbedeutende Rolle für die Konstruktion der binären Unter‐ scheidung zwischen Israel und Kanaan - ebenso wie für deren Durchbre‐ chung - spielen dabei die in den Erzählungen auftauchenden Frauen 9 . Denn einerseits werden Frauen in patriarchaler Weise als den Männern (auch gewaltsam) untergeordnet beschrieben, andererseits zeigt es sich, etwa im Erzählkreis um Samson, dass die narrativ doppelt untergeordneten und abgewerteten Kanaaniterinnen die bedrohliche Macht besitzen, auch den stärksten israelitischen Mann zu besiegen: „Jede Frau kann Israel seiner Mannheit berauben.“ 10 Auch hier wird also die vordergründige Dualität der Veranderung im Text selbst ironisch gebrochen. Kim kontextualisiert die Redaktion des Richterbuchs in einer deutlich späteren Epoche, in der von einer militärischen Eroberung des Landes gerade nicht mehr die Rede sein konnte, und deutet die Funktion des Othering im Text mit dem Wunsch, die eigene Gruppenidentität zu stärken und mögliche Abweichungen von dieser Identität zu verurteilen 11 . Die im Richterbuch erzählten Gewalttaten aufgrund des Otherings können daher - in der Interpretation Kims - gerade nicht binäre Veranderungsdiskurse in der Gegenwart und mit ihnen einhergehende Gewalt legitimieren. Eine Interpretation des Richterbuchs in der Gegenwart muss diese Kontextuali‐ sierung ebenso berücksichtigen wie die andauernde Realität des Othering in 49 2.1 Die Erfindung des Anderen 12 Vgl. Kerner, Postkoloniale Theorien, 67. Essentiali‐ sierung postkolonialen Gesellschaften. In kolonialen oder postkolonialen Kontexten kann der Text sonst eine Bedeutung erlangen, die der ursprünglichen Intention des biblischen Textes nicht entspricht. Kim demaskiert dadurch zugleich die oberflächliche Inanspruchnahme der Landnahmeerzählungen durch die nordamerikanischen ErobererInnen und die Auswirkungen dieser Aneignung bis in die Gegenwart. Uriah Kims postkoloniale Interpretation des Richterbuchs ist ein gutes Beispiel dafür, wie die Theorien und Werkzeuge der postkolonialen Studien dazu dienen können, biblische Texte und die Theologie im Allgemeinen kritisch anzufragen. So können Diskurspraktiken aufgedeckt werden, die in den biblischen und theologischen Texten bereits durchscheinen und zur Legitimation von Veranderung und anderen Formen der Sicherung von Herrschaftsansprüchen in der Gegenwart dienen. Ebenso kann aber auch gezeigt werden, inwiefern ein bestimmter Gebrauch biblischer Texte missbräuchlich ist und in erster Linie koloniale Interessen durchsetzen soll. Othering tritt überdies nicht nur in kolonialen Kontexten auf, sondern wird in vielen anderen Prozessen der Ausübung und Legitimation von Macht eingesetzt, etwa auch in rassistischen, sexistischen und klerikalen Settings. Postkoloniale Methoden können insofern auch in anderen Kontexten, in denen nicht auf den ersten Blick ein ausdrücklich kolonialer Hintergrund zu erkennen ist, erhellend und befreiend wirken. 2.2 Die Versteinerung von Identitäten Die Erfindung des Anderen wird noch verschärft, wenn dem/ der Anderen - und damit gewissermaßen spiegelbildlich auch dem Subjekt selbst - klar umgrenzte, statische und scheinbar unveränderliche Identitäten zugeschrie‐ ben werden. Die negative Bewertung und Unterordnung des/ der (erfunde‐ nen) Anderen unter den eigenen Dominanzanspruch wird auf diese Weise verfestigt und versteinert. Der/ die Andere erscheint minderwertig, einfach weil er/ sie einer Gruppe von Menschen zuzugehören scheint, die als min‐ derwertig konstruiert wurde, damit der Machtanspruch, der gegenüber die‐ ser Gruppe erhoben wird, als legitim erscheinen kann. Diesen Vorgang nennt man in der postkolonialen Theorie ↗ Essentialisierung oder Natura‐ lisierung 12 . Die kulturell zugeschriebene ‚Identität‘ wird so verstanden, als 50 2 Diskurspraktiken 13 Kang, Wer oder was ist asiatisch, 205. Für Afrika schreibt der kongolesische Theologie Boniface Mabanza ähnlich pointiert: „Ein Afrika gibt es nicht. Afrika gibt es nur im Plural.“ Mabanza, Das Leben bejahen, 138. 14 Ebd. 15 Ebd. Essentia‐ listische Gegen‐ strategie wäre sie auf ‚natürliche‘ Weise oder ‚essenziell‘, also ‚wesenhaft‘, mit einer bestimmten Menschengruppe und den zugehörigen Individuen verbunden. Insbesondere Rassismus und Sexismus in ihren vielfältigen Spielarten arbeiten mit diesen Essentialisierungen. Menschen mit bestimmten phäno‐ typischen Merkmalen wie Haut- oder Haarfarbe bzw. Menschen, die einem bestimmten Geschlecht zugeordnet werden, wird eine kulturell bestimmte Identitätsformation zugeschrieben, die scheinbar allen Individuen dieser Gruppe eigen ist. In rassistischen und sexistischen Diskursen werden dazu häufig auch noch ‚wissenschaftliche‘ Analysen, Systematisierungen und Be‐ gründungen erarbeitet, so dass diese versteinerten Identitätszuschreibungen auch akademisch untermauert gelehrt und verwendet werden. Rassismus und Sexismus wurden als wichtige Instrumente kolonialer Herrschaft eingesetzt und stellen auch in der Gegenwart zentrale Elemente postkolonialer kultureller Kontexte dar (vgl. Kapitel 2.3 und 2.6). Darüber hinaus bieten sich kulturelle, ethnische oder nationale Identitäten als Ma‐ terial für die Versteinerung an. Die Theologin → Namsoon Kang, die aus Korea stammt und in den USA lehrt, zeigt etwa, dass in der Theologie ein essentialistisches Bild von Asien und asiatischen Theologien konstruiert wurde. Mit ausdrücklichem Bezug auf Edward Said schreibt sie: „Das Bild des Orients neigt dazu, unbeweglich, eingefroren, und auf ewig festge‐ legt zu sein; deshalb wird die Möglichkeit der Transformation und Entwicklung des Orients geleugnet.“ 13 Der kolonialistischen Abwertung Asiens und des (essentialisierten) Asiati‐ schen entspricht dann eine von Kang ebenfalls kritisierte essentialistische Gegenstrategie, in der die asiatische Theologie „glorifiziert, mystifiziert und idealisiert [wird] als die Weisheit des Ostens“ 14 . Asiatische Theologie er‐ scheint in dieser Gegenstrategie ebenso als festgelegt und vereinheitlicht: Bestimmte mystische oder weisheitliche Beispiele asiatischer Theologien werden als Paradigma oder als Wesen ‚der‘ asiatischen Theologie konstruiert und als ‚Anderes‘ des rationalen und diskursiven Europa festgelegt. Dies wird laut Kang „sowohl von den Menschen der westlichen Halbkugel als auch von den Asiaten selbst“ 15 so praktiziert. 51 2.2 Die Versteinerung von Identitäten 16 Vgl. ebd., 208. 17 Vgl. ebd., 211 f. und Mohanty, Under Western Eyes. 18 Kang, Wer oder was ist asiatisch, 213. Sie bezieht sich auf Ruethers Buch Women and Redemption. In den über zwanzig Jahren seit Erscheinen dieses Buches hat sich auch die Darstellung nichtwestlicher Feministischer Theologien im Westen verändert. Das Grundproblem des Essentialismus bleibt dennoch auch in anderen Formen virulent. 19 Ebd., 209. Asiatische TheologInnen, die nicht diesem westlich-mystischen Klischee entsprechen, sondern ‚westliche‘ theologische Methoden anwenden, kön‐ nen dann schnell als entfremdet oder kolonialisiert denunziert werden. Insbesondere der Feminismus kann so als etwas ‚Nichtasiatisches‘ ausge‐ schlossen werden, sowohl von ‚asiatischer‘ wie von ‚westlicher‘ Seite 16 . Hier bezieht Kang sich ausdrücklich auf die feministisch-postkoloniale Theore‐ tikerin Chandra Talpade Mohanty, die bereits 1984 darauf aufmerksam gemacht hatte, dass es Menschen aus Asien gerade auch im akademischen Kontext schwer gemacht wird, im Westen oder dem Westen gegenüber eine Identität einzunehmen, die nicht mit der klischeehaften Vorstellung des Asiatischen übereinstimmt 17 . Aber auch in der ‚westlichen‘ Feministischen Theologie deckt Kang es‐ sentialistische Herangehensweisen auf: Anhand einer Arbeit von Rosemary Radford Ruether aus dem Jahr 1998 zeigt Kang, wie Ruether „durch die Erwähnung verschiedener individueller feministischer TheologInnen im Westen“ „die Falle der Verallgemeinerung zu vermeiden sucht“ 18 , dann aber bei der Darstellung der Feministischen Theologie des Globalen Südens genau in diese Falle tappt, indem sie die individuellen Theologinnen in den Kategorien Lateinamerika, Afrika und Asien namenlos verschwinden lässt. Innerhalb der Theologie in Asien selbst können Frauen und ihre gesell‐ schaftliche Rolle ebenfalls essentialisiert erscheinen: „Im asiatischen theologischen Diskurs über die Frauen, zum Beispiel, werden die Frauen als reine Opfer oder sich befreiende Persönlichkeiten dargestellt, die über all den Schmerz und das Leid mit einer verblüffenden, erlösenden Kraft hinauswachsen.“ 19 Frauen als Täterinnen, Frauen als Angehörige der Machtelite oder in ande‐ ren gesellschaftlichen Rollen kommen dagegen nicht in den Blick. Auch ihre kulturellen, ethnischen, nationalen und klassenbezogenen Differenzen und persönlichen, individuellen Eigenschaften bleiben unberücksichtigt: „Die asiatischen Frauen werden einseitig als Opfer betrachtet und jedwede his‐ 52 2 Diskurspraktiken 20 Ebd., 211. 21 Vgl. ebd., 208 mit Bezug auf einen Aufsatz von Pieris aus dem Jahr 1980. 22 Babka, Gayatri C. Spivak, 24; vgl. Kang, Wer oder was ist asiatisch, 207. 23 Kang, Wer oder was ist asiatisch, 219. Vielfältige Beziehun‐ gen von Ähnlichkei‐ ten und Differen‐ zen Strategi‐ scher Es‐ sentialis‐ mus torisch-kulturelle Eigenart wird ihnen aberkannt.“ 20 Dagegen müssten so‐ wohl die interne Diversität der Gruppe ‚asiatische Frauen‘ als auch die viel‐ fältigen Beziehungen von Ähnlichkeiten und Differenzen zwischen ‚asiatischen Frauen‘ einerseits und ‚nichtasiatischen Frauen‘ bzw. ‚asiati‐ schen‘ und ‚nichtasiatischen Männern‘ andererseits Berücksichtigung fin‐ den. So kritisiert Kang beispielsweise auch den Theologen Aloysius Pieris aus Sri Lanka, der die Erfahrung der Armut und die Vielfalt der Religionen als zwei gemeinsame Nenner der asiatischen Theologie ausmacht 21 . Andere Herausforderungen in asiatischen Kontexten, die sich nicht mit diesen beiden großen Kategorien in Verbindung bringen ließen, könnten so nicht Gegenstand einer ‚asiatischen Theologie‘ im Sinn dieser Definition sein. Das Aufgreifen einer essentialistischen Vorstellung von ‚der asiatischen Theologie‘ durch TheologInnen aus Asien wird dabei von Kang ausdrücklich nicht verworfen, da sie es auch als eine verständliche Gegenreaktion und legitime Widerstandspraxis gegen die westliche Abwertung ansieht. Dies bezieht sich auf Gayatri Spivaks Rede vom „strategischen Essentialismus“ 22 : Unter bestimmten Bedingungen kann eine Essentialisierung als Mittel zum Widerstand, zur Mobilisierung von Menschen oder auch zur Markierung einer Gegenposition als strategisches Instrument zum Einsatz kommen, wenn dabei der Gefahr der Versteinerung entgegengewirkt wird. Die negativen Auswirkungen dieser Essentialisierungen müssen jedoch immer kritisch und selbstkritisch im Blick bleiben. Insbesondere müssen sowohl interne Differenzen zwischen den Personen, die unter einen strate‐ gischen Essentialismus fallen, als auch die Beziehungen, die zwischen den als verschieden markierten Positionen herrschen, benannt und analysiert werden. Sonst droht die Gefahr eine Isolation der verschiedenen sich selbst als rein und unveränderlich verstehenden Identitäten. Kang warnt daher ausdrücklich: „Heutzutage ist es völlig klar, dass alles, was sich isoliert, sei es westliche oder asiatische Theologie, versteinert. Und alles, was versteinert, stirbt.“ 23 53 2.2 Die Versteinerung von Identitäten 24 Althaus-Reid, Gnade und Anderssein, 430. 25 Ebd., 432. 26 Ebd., 431. Essentiali‐ sierungen in der Theologie Neben solchen versteinerten Identitätszuschreibungen, die sich auf Men‐ schen anderer Regionen, Kulturen und Ethnien richten können, finden sich Essentialisierungen auch in anderen diskursiven Bereichen. Auch Begriffe und Konzepte können essentialistisch verwendet werden können, so als ob ihre Bedeutung festgelegt und unveränderlich wäre. Auch in der Theologie werden solche generalisierenden Begriffe häufig unkritisch verwendet und können zu Essentialisierungen und politischer, aber auch theologischer Versteinerung führen und so zur bewussten oder unbewussten Machtausübung eingesetzt werden. Die argentinisch-schotti‐ sche feministische Theologin → Marcella Althaus-Reid analysiert am Bei‐ spiel der Gnadenlehre, wie auch theologische Lehrsysteme, wenn sie in einer versteinerten Weise angewendet werden, zur Rechtfertigung von Gewalt, Ausbeutung und Mord gebraucht werden können. Bei der Eroberung La‐ teinamerikas sei der Gnadenbegriff dazu missbraucht worden, die Urein‐ wohnerInnen des Kontinents als ‚Heiden‘, als „Minderwertige“ 24 abzuwer‐ ten. Allerhand „Sünden“ seien dazu konstruiert worden: „Kannibalismus, abweichendes Sexualverhalten, Faulheit und mangelnde geistige Ernsthaf‐ tigkeit“ konnten „als Vehikel für die Gnade“ dienen, auch wenn sie „(wie im Fall des Kannibalismus) reine Phantasiegebilde angesichts der tatsächlichen Identität der Eingeborenen waren“ 25 . Die ‚Gnade‘ der Evangelisierung muss‐ ten die UreinwohnerInnen mit ihrem Land, ihrer Arbeitskraft und oft genug mit dem Leben bezahlen. Einen ähnlichen Missbrauch eines versteinerten Lehrbegriffs konstatiert Althaus-Reid bei der Rede von der Gnade während der argentinischen Militärdiktatur (1976-1983), die zum Tod oder spurlosen Verschwinden von Zehntausenden argentinischer Staatsangehöriger führte. Die Inanspruch‐ nahme versteinerter Lehren, die sich von ihrer ursprünglichen biblischen und theologischen Bedeutung entfernt hatten und nur noch den Begriff‐ lichkeiten nach am Christentum festhielten, konnte zur Legitimation der Diktatur und ihrer Verbrechen werden: „Bestimmte Predigten zur damaligen Zeit sprachen von einem Land, das vom Kommunismus erlöst werden musste nach dem Beispiel von Jesus am Kreuz, und diese Erlösung sollte ‚durch das Blut‘ von Mitbürgern erreicht werden.“ 26 54 2 Diskurspraktiken 27 Sugirtharajah, Eine postkoloniale Untersuchung, 62. 28 Spivak, The Post-Colonial Critic, 104, vgl. Castro Varela / Dhawan: Postkoloniale Theorie, 67-68. 29 Mena López / de la Calle / Sardiñas Iglesias, Bíblia e descolonizaç-o, 133-135. Vgl. die ausführliche Analyse in Caldeira, Hermenêutica Negra Feminista. Solche kritisch zu bewertenden Praktiken finden sich auch in politischen und befreienden Theologien. → R.S. Sugirtharajah kritisiert beispielsweise an der lateinamerikanischen Theologie der Befreiung, dass sie dazu neige, „die Armen zu reifizieren“ und dann „zu romantisieren“ 27 . ‚Reifizierung‘, also Verdinglichung, kann mit dem verglichen werden, was hier als ‚Essen‐ tialisierung‘ oder Versteinerung bezeichnet wird. ‚Die Armen‘, ‚die Frauen‘, ‚die Arbeiter‘, ‚die Laien‘, ‚die Ausgeschlossenen‘ (usw.) sind klassische „masterwords“  28 im Sinn von Gayatri Spivak. Darunter versteht sie Wörter, die als machtvolle Oberbegriffe eine größere, heterogene Gruppe von Men‐ schen so bezeichnen, als wäre sie homogen. Zugleich - durch die Macht der Verallgemeinerung - üben diese Begriffe Herrschaft (im Sinn des englischen master) über diese Menschen aus, indem sie sie homogenisieren und ihre individuellen Differenzen verschwinden lassen. Diese Herrschaft üben na‐ türlich nicht die Begriffe selbst aus, sondern diejenigen, die sie verwenden. Durch die Benennung als masterwords lässt sich diese Herrschaftsausübung an den Begriffen selbst sichtbar machen. 2.3 „Schwarz bin ich und schön.“ (Hld 1,5). Rassistische Traditionen Bei dem Bibelvers, der in der Überschrift zitiert wird, steckt der Teufel im Detail: Maricel Mena López, Claudia Pilar de la Calle und Loida Sardiñas Iglesias weisen auf die Problematik hin, die mit der Übersetzung eines kleinen Wörtchens verbunden ist 29 : Was genau bedeutet „und“? In der Vergangenheit wurde dieses Wort häufig adversativ übersetzt. Auch die Einheitsübersetzung 2016 schreibt hier „Schwarz bin ich, doch schön“, versteht also beide Adjektive im Gegensatz zueinander, während die Luther‐ übersetzung 2017 an derselben Stelle formuliert: „Ich bin schwarz und gar lieblich“. Im Hebräischen Text steht ein waf, heißt es also „und“. Die drei Autorinnen verweisen auf den Kommentar der Jerusalemer Bibel (brasilianische Ausgabe von 1998), für den „eine sonnenverbrannte Frau, 55 2.3 „Schwarz bin ich und schön.“ (Hld 1,5). Rassistische Traditionen 30 Mena López / de la Calle / Sardiñas Iglesias, Bíblia e descolonizaç-o, 134. 31 Ebd.; Zitat aus der Jerusalemer Bibel ohne weitere Angaben. 32 Ebd.; Auslassungszeichen dort, Origeneszitat aus PG 13, 103-112. 33 Ebd. Rassisti‐ sche Inter‐ pretation des Hohe‐ liedes die Weinberge hütet, nichts anderes als eine Sklavin sein kann, anders als Frauen mit heller Haut“ 30 , und sie zitieren aus dem Kommentar: „Die alten arabischen Dichter setzen die helle Haut der Mädchen von guter Ab‐ stammung (hier die Töchter Jerusalems) den Sklaven und Sklavinnen entgegen, die Arbeit im Freien verrichteten.“ 31 Hier wird das brasilianisch-koloniale Verhältnis von weißen Sklavenbesit‐ zerInnen und schwarzen SklavInnen in die Zeit des Hoheliedes zurückpro‐ jiziert. Im Bibeltext ist nicht davon die Rede, dass die Töchter Jerusalems und die Sprecherin zu verschiedenen sozialen Klassen gehören oder dass erstere eine hellere Hautfarbe haben. Diese rassistische Interpretation des Anfangs des Hoheliedes hat allerdings schon eine lange Tradition. Die drei Theologinnen zitieren daher auch den Kirchenvater Origenes, der diese Stelle aufgreift: „Schwarz durch die Schmach der Rasse, aber schön durch Buße und Glauben; Schwarz durch Sünde, aber schön durch Buße und die Früchte der Buße (…) Sie, die schwarz ist, ist weder von Natur aus noch vom Schöpfer so geschaffen, sondern hat diese Situation versehentlich erlitten.“ 32 Origenes vergleicht die schöne schwarze Frau mit der Seele, die durch die Sünde schwarz geworden sei, aber durch das Zurückweisen der Schwärze zum Licht aufsteigen könne. ‚Schwarz‘ gilt ihm also als negativ und von Gott entfernt, ‚weiß‘ als erlöst und von der Sünde befreit. Dass es tatsächlich Menschen gibt, deren dunklere Hautfarbe „vom Schöpfer so geschaffen“ ist, scheint ihm nicht in den Sinn gekommen zu sein. In dieser Metaphorik steckt ein tiefer Rassismus, der sich in der Hartnä‐ ckigkeit der adversativen Übersetzung des Verses zeigt und damit Schwarze Mädchen und Frauen einer positiven Identifikationsmöglichkeit mit sich selbst, ihrer Hautfarbe, „ihrer Erotik, Sinnlichkeit und Schönheit“ 33 beraubt. Die Übersetzung und Wirkungsgeschichte von Hld 1,5 ist nur ein Beispiel für den Rassismus, der christliche Theologien prägt, seit sie in Europa Fuß gefasst und sich europäisch entwickelt haben. 56 2 Diskurspraktiken 34 Quijano, Colonialidad del poder, eurocentrismo y América Latina, 201. 35 Ebd. 36 Quijano, Colonialidad del poder y clasificación social, 119. 37 Quijano, Colonialidad del poder, eurocentrismo y América Latina, 201. ‚Rasse‘ (raza) im Original ohne Anführungszeichen. 38 Ebd. 39 Mbembe, Kritik der schwarzen Vernunft, 111. Systemati‐ sche ras‐ sistische Arbeitstei‐ lung In den postkolonialen Studien wird der europäische Rassismus als eine der prägendsten Grundstrukturen des Kolonialismus und der postkolonialen Verhältnisse angesehen. Für Aníbal Quijano stellt die heutige globalisierte Welt „die Vervollkommnung eines Prozesses dar, der mit der Gründung Amerikas und des kolonial/ modernen und eurozentrischen Kapitalismus begann“ 34 , wobei er hier mit „Amerika“ die Erfindung einer für die Euro‐ päerInnen neuen Welt westlich Europas bezeichnet. Der Rassismus ist in diesem Prozess „eine der fundamentalen Achsen“ 35 , die auf einer Teilung der Menschheit gemäß der „phänotypischen Differenzen zwischen Siegern und Besiegten“ 36 beruhe. Gemäß Quijano ist der Rassismus „die soziale Klassifikation der Weltbevölkerung gemäß der Idee der ‚Rasse‘, eine mentale Konstruktion, die die Grunderfahrung der kolonialen Herrschaft zum Ausdruck bringt, und die seither die wichtigsten Dimensionen der weltweiten Macht durchdringt.“ 37 Diese soziale Klassifikation setzt sich bis in die Gegenwart fort, da auch im globalisierten Kapitalismus „eine systematische rassistische Arbeitsteilung“ herrsche, in der „jede Weise der Arbeitskontrolle mit einer bestimmten ‚Rasse‘ verbunden“ ist 38 . Auch Achille Mbembe verbindet die Eroberung Amerikas, den Sklaven‐ handel, den europäischen Rassismus und die Entstehung der Moderne zu einer Einheit, die ihre Konsequenzen bis in die Gegenwart nach sich zieht: „In mehrfacher Hinsicht ist unsere Welt, auch wenn sie das nicht zugeben möchte, bis heute eine ‚Welt der Rassen‘ geblieben. Der Rassensignifikant ist immer noch die unumgängliche, wenngleich gelegentlich bestrittene Sprache der Darstellung des Selbst und der Welt, des Verhältnisses zum Anderen, zum Gedächtnis und zur Macht. Die Kritik der Moderne wird unabgeschlossen bleiben, solange wir nicht verstanden haben, dass ihre Entstehung mit dem Erscheinen des Rassenprinzips und der langsamen Umwandlung dieses Prinzips in die privilegierte Matrix der Herrschaftstechniken zusammenfällt.“ 39 57 2.3 „Schwarz bin ich und schön.“ (Hld 1,5). Rassistische Traditionen 40 Vgl. Hölzl, Rassismus. 41 Vgl. ebd., 11. 42 Ebd., 12. 43 Ebd., 13. 44 Ebd., 16. Rassisti‐ sche Inter‐ pretation der Noah-Ge‐ schichte In der kolonialen Missionsgeschichte wurde diese rassistische Deutung der Welt aufgegriffen und durchzog die missionarische Praxis. Richard Hölzl zeigt in einer missionsgeschichtlichen Untersuchung, wie deutsche Afrika‐ missionarInnen in verschiedenen Epochen des deutschen Kolonialismus zwar unterschiedlichen Gebrauch von rassistischen Vorurteilen machten, jedoch nie frei vom Rassismus waren 40 . Ein wesentliches Element spielte dabei über die Jahrhunderte hinweg eine rassistische Interpretation der Noah-Geschichte: Weil Noah nach Gen 9,20-27 seinen Enkel Kanaan (und mit diesem seinen Sohn Ham) verflucht und in Gen 10,6 Ham zum Stammvater einiger afrikanischer Völker erklärt wird, argumentierten viele Theologen seit dem 16. Jahrhundert, dass der Fluch Noahs die Menschen Afrikas insgesamt getroffen habe. 41 Hölzl zitiert einen Reisebericht des Spiritaner-Superiors Anton Horner (1827-1880), der - aus heutiger Sicht - drastische Rassismen enthält: „Unter den fünf Welttheilen ist ohne Widerrede Afrika der unglücklichste und verlassenste. […] Von Cham, Noe’s zweitem Sohne bevölkert, liegt jener Welttheil noch heute unter dem schweren Druck des Vaterfluches.“ 42 „Die schwarze Farbe der Nachkommen Chanaan’s bezeugt noch, daß ihre Rasse schon im Anfang vom Zorn des Himmels getroffen worden.“ 43 Durch die Mission und die erhoffte Taufe lassen sich nach Ansicht dieser Missionare die fatalen Folgen des biblischen Fluchs ‚erlösen‘, jedoch nicht die angenommene und behauptete Minderwertigkeit der Menschen Schwar‐ zer Hautfarbe beseitigen. Späteren AkteurInnen attestiert Hölzl zwar eine vorurteilsfreiere Annä‐ herung durch ethnografische Untersuchungen. Der Rassismus nahm aber dann andere Formen an, indem beispielsweise Einzelbeobachtungen unter bestimmten afrikanischen Völkern generalisiert, essentialisiert und „aus der sozialen Interaktion von Beobachter und Beobachtetem gelöst und als zeitlose Andersartigkeit konstruiert“ 44 wurden. Auch scheinbar positive und wohlwollende Beschreibungen können dabei eine rassistische Schieflage beinhalten. Hölzl zitiert den Reisebericht des Missionsbenediktiners Alfons Adams von 1899: 58 2 Diskurspraktiken 45 Ebd., 18. 46 Ebd., 19, nach Johannes Fabian, Time and the Other. How Anthropology Makes its Object, New York 2002. 47 Ebd., 24. 48 Ebd., 25. 49 Vgl. ebd., 27-33. 50 Vgl. Lehr, Zum europäischen Rassismus. Verweige‐ rung der Zeitgenos‐ senschaft „Wenn ich bei Gelegenheit die Wahehe mit ihrem kühnen Gesichtsausdruck und ihren kräftigen Gestalten in fröhlicher Unterhaltung beim Feuer am Boden hockend oder auf der Kuhhaut liegend einen Krug Bier nach dem andern vertil‐ gen sah, mußte ich unwillkürlich an unsere Heldenvorfahren, die Germanen, denken, die den zivilisierten Römern schon allein durch ihren gewaltigen Durst imponierten.“ 45 Der Vergleich mit den Germanen ist hier zwar schmeichelhaft gemeint, re‐ produziert jedoch nicht nur ein klassisches ↗ Othering, sondern verweigert durch die Parallelisierung mit ‚unseren Vorfahren‘ die Gleichwertigkeit durch Zeitgenossenschaft. Diese Praxis wird in der kritischen Ethnografie als „denial of coevalness“ 46 , also Verweigerung der Zeitgenossenschaft, ge‐ kennzeichnet. In einer späteren Epoche identifiziert Hölzl bei den MissionarInnen einen selbstkritischeren und verdeckten „Rassismus hinter vorgehaltener Hand“ 47 nach einem Konzept von Homi Bhabha, in dem die Abwertung afrikanischer Menschen nicht mehr offen ausgesprochen oder gar theologisch begründet wurde, sondern „mit den Mitteln des Unausgesprochenen, der Ironie und der Beiläufigkeit“ 48 so in den Diskurs eingebracht wurde, dass Vorurteile und Stereotypen nicht mehr explizit benannt werden mussten, sondern als bekannt vorausgesetzt und so indirekt abgerufen werden konnten. Äußerst aufschlussreich für diesen Aspekt sind die Analysen einiger Fotografien aus missionarisch-kolonialen Kontexten des 20. Jahrhunderts, mittels derer Hölzl die in den Bildkompositionen erkennbaren rassistischen Beziehungen und Vorstellungen aufdeckt 49 . Der Begriff des Rassismus ist in der Gegenwart einigen Erweiterungen und Präzisierungen unterworfen. Fabian Lehr, deutsch-österreichischer Marxist, macht in einer kritischen Analyse etwa darauf aufmerksam, dass gerade in Europa Rassismus sich nicht nur im Verhalten Schwarzen Men‐ schen gegenüber äußert 50 . Dies ist eine wichtige Ergänzung zu den antirassistischen Überlegungen im Postkolonialismus, da diese sich häufig an den Beziehungen zwischen 59 2.3 „Schwarz bin ich und schön.“ (Hld 1,5). Rassistische Traditionen 51 Vgl. Contreras Colín, Kritik, 159f. Menschen aus Europa und aus Afrika und den anderen Kolonialstaaten orientieren sowie Menschen gegenüber, die durch den internationalen Skla‐ vInnenhandel in andere Regionen und Kulturkreise entführt wurden. Lehr zeigt hingegen, dass daneben ein kulturell tief verwurzelter Rassismus in den westeuropäischen Staaten besteht, der sich gegen Menschen aus Osteuropa richtet, und der seine Ursprünge mindestens bereits im Mittelalter habe. Rassistische Vorurteile gegenüber Menschen aus dem ehemaligen ‚Ostblock‘ (auch dieser Begriff enthält eine essentialistische Veranderung) weist er bis in die Gegenwart nach. Gleichgültig, ob man mit Lehr diese Erweiterung der Rassismuskonzep‐ tion vornehmen möchte, verweist sie doch darauf, dass eine einseitige Festlegung des Rassismusbegriffs auf Beziehungen zwischen Menschen bestimmter Hautfarbe ebenfalls essentialisierende Züge annimmt und in der Gefahr ist, selbst rassistische Positionen zu besetzen. Antirassistische Analysen aus postkolonialen Studien und Theologien können insofern auch die Beziehungen zwischen anderen Menschen, die essentialistisch verschiedenen sozialen Gruppen zugeordnet wurden, erhellen. Sie machen an ihrer Wurzel häufig auf das Problem der Konstruktionen europäischer Überlegenheit aufmerksam. 2.4 Konstruktionen europäischer Überlegenheit Die Erfindung der Anderen und die ↗ Essentialisierung ihrer Identitäten standen im Zeitalter des europäischen Kolonialismus häufig im Dienst der Konstruktion europäischer Überlegenheitsansprüche in zahlreichen kulturellen Bereichen. Gerade auch europäische Wissenschaften und Ratio‐ nalität galten als überlegen im Vergleich zu denjenigen außereuropäischer Kulturen 51 . Ein solcher Überlegenheitsanspruch lässt sich auch heute noch identifi‐ zieren. Inzwischen wird er selten in einem geografischen Sinn auf Europa bezogen. Jedoch gelten in einem kulturellen und historischen Sinn auch heute noch europäische Denktraditionen, von der Antike über die Renais‐ sance und die Aufklärung bis in die Postmoderne als universal wegweisend. Häufig wird dieses europäische Denken immer noch für weiter fortgeschrit‐ 60 2 Diskurspraktiken 52 Vgl. Chakrabarty, Provincializing, 29f. 53 Vgl. Rieger, Theology and Mission, 204. 54 Vgl. dazu und i.F. auch meine ausführlicheren Reflexionen in Silber, El Eurocentrismo. 55 So z. B. Pannenberg, Notwendigkeit, 147. Vgl. dagegen Estermann, Südwind, 163f. 56 Schillebeeckx, Vorwort 8. Seinem Optimismus, dies habe sich „spätestens seit dem Auftauchen der Befreiungstheologie“ (ebd.) geändert, kann ich mich allerdings nicht anschließen. Überlegen‐ heit der christli‐ chen Na‐ tionen ten, rationaler, kritischer und effizienter als die Denktraditionen anderer geografisch-kultureller Räume gehalten. Es tritt zudem mit dem Anspruch der Universalität auf. Die genannten europäischen Denktraditionen werden nicht mehr als europäisch im Sinn einer regionalen kulturellen Prägung, sondern als universell, der Menschheit gehörig und der Realität angemessen eingestuft 52 . Ihre europäische Herkunft wird dabei - in einem historischen Sinn - oft nicht geleugnet, dient aber nicht ihrer kulturellen Kontextualisierung, sondern in einem Zirkelschluss als Ausweis der europäischen Überlegenheit, da diese scheinbar universale Rationalität eben ihre historischen Wurzeln in Europa besitze. Als Beispiel für einen solchen Zirkelschluss führt der aus Deutschland stammende und in den USA lehrende Theologe → Jörg Rieger eine Überle‐ gung von Friedrich Schleiermacher an, der die politische Überlegenheit der Europäer in den Kolonien als Beleg für die bessere Entwicklung ihrer Kultur und für die Richtigkeit ihrer Religion wertete: Angesichts der gewaltigen Überlegenheit der christlichen Nationen in Hinblick auf Zivilisation und Macht benötigten die zeitgenössischen Missionare nach Auffassung von Schleiermacher keine weitere Legitimation durch mirakulöse Zeichen 53 . Auch in der Theologie zeigt sich dieses europäische Überlegenheitsden‐ ken 54 . Die kulturelle Kontextualisierung des Christentums im griechisch‐rö‐ mischen Denken, die bereits zur Zeit der Abfassung des Neuen Testaments beginnt, wird zur Basis einer universalen Theologie erklärt, aus der sich die Theologien anderer Kulturkreise nähren sollen. Die Herkunft des Christentums aus einer nichteuropäischen Kultur wird dabei geflissentlich unterschlagen; seine jüdischen Wurzeln zum letztlich verzichtbaren „Parti‐ kularismus“ 55 erklärt. Europäische Theologien werden auf diese Weise zum Maßstab der Theologie überhaupt. Edward Schillebeeckx vermerkt daher auch kritisch: „Früher nahm man an, daß die Theologie der Kirchen des Westens selbstverständlich überregional, universal gültig und für jeden Menschen - unabhängig aus welcher Kultur er stammt - sofort zugänglich sei“. 56 61 2.4 Konstruktionen europäischer Überlegenheit 57 Vgl. etwa Metz, Zum Begriff, 164. 58 Suess, Prolegomena, 193. 59 Ebd., 192. 60 Chakrabarty, Provincializing; vgl. Kerner, Postkoloniale Theorien, 76-80. Provinziali‐ sierung Theologische Aufbrüche auf anderen Kontinenten können auf diese Weise immer mit dem Verweis auf den universellen Anspruch der europäi‐ schen Theologie abgewehrt werden. Diese Tendenz lässt sich sogar in der frühen Rezeption der Theologie der Befreiung durch die Neue Politische Theologie nachweisen, in der die Abhängigkeit der ersteren von der letzte‐ ren unterstellt wurde 57 . Paulo Suess kritisiert den Universalanspruch der europäischen Theologie als eine Verfälschung des Christentums 58 . Für Suess steht dieser Universa‐ lismus in einem engen Zusammenhang mit dem Anspruch des europäischen Denkens, Wissenschaft im Singular zu repräsentieren und damit alternative oder konkurrierende Formen des Wissens abzuwerten oder auszuschließen: „Der Universalismus überlässt das erste und das letzte Wort der Wissenschaft, die er als universal ansieht, weil sie keinem kontextuellen Einfluss unterliegt. Des‐ halb ist das lokal verankerte Wissen aufgrund seiner regionalen Reichweite auf einer niedrigeren Stufe anzusiedeln und von einem Dialog mit der Wissenschaft ausgeschlossen. Der wissenschaftliche Universalismus wurde ebenso wie der Rassismus und das Patriarchat zu einem Herrschaftsinstrument. Im Bereich der Theologie taucht diese Frage in Gestalt des Streits zwischen universaler Theologie und lokalen Theologien […] auf “ 59 . Die europäische Theologie kann aber nicht beanspruchen, eine ‚universale‘ Theologie zu sein, sondern ist selbst eine lokale, kontextuelle Theologie, die im unmittelbaren Austausch mit ihren lokalen Kontexten und deren epis‐ temischem Horizont steht. Die Dekonstruktion dieses europäischen Uni‐ versalanspruchs ist ein wichtiges Thema des indischen Historikers Dipesh Chakrabarty, der von der Notwendigkeit spricht, Europa zu ↗ „provinzia‐ lisieren“ 60 , also dem Kontinent den regionalen (und intern pluralen) Cha‐ rakter zurückzugeben, der ihm tatsächlich eigen ist, und so den universellen Anspruch als den Versuch zu enttarnen, das globale Denken zu hegemoni‐ sieren. Der deutsche Fundamentaltheologe Elmar Klinger nimmt diese Heraus‐ forderung der Provinzialisierung an, wenn er schreibt: 62 2 Diskurspraktiken 61 Klinger, Theologie im Horizont, 47. 62 Vgl. Wiesgickl, Das Alte Testament, 121-231. 63 Ebd., 176. Überlegen‐ heitsden‐ ken histo‐ risch-kritischer Bibelwis‐ senschaft „Die europäische Theologie ist es nicht gewohnt, der europäischen Theologie den Titel europäisch zu geben. […] Der Titel ‚europäisch‘ für sie muß in den Ohren eines europäischen Theologen daher wie eine Herausforderung klingen, und er ist es auch. Denn er ist nach Meinung jener Theologen, die ihn für sie verwenden, ein Titel, mit dem sie als einem bestimmten Kulturkreis zugehörig und in ihrem Blickwinkel eingeengt bezeichnet wird.“ 61 Konstruktionen europäischer Überlegenheit und der Anspruch auf die uni‐ verselle Bedeutung des Eigenen finden sich auch versteckt in der Geschichte der europäischen Theologie. Häufig üben sie dadurch bis heute ihren Einfluss aus, ohne dass dies unmittelbar zu erkennen ist. Simon Wiesgickl etwa macht am Beispiel der Entwicklung der histo‐ risch-kritischen Methode in der deutschsprachigen Bibelwissenschaft sicht‐ bar, welche vielfältigen Wechselwirkungen zwischen dem europäischen Überlegenheitsdenken, dem Kolonialismus des 18./ 19. Jahrhunderts und der Entstehung einer bis in die Gegenwart äußerst einflussreichen exegetischen Methode bestand 62 . Denn die kritische Analyse der Kontexte, in denen bi‐ blische Erzählungen situiert oder redigiert wurden, bediente sich häufig der orientalistischen Konstruktionen kolonialer Reisebeschreibungen. Wiesgickl macht sich Edward Saids Kritik dieser europäischen Vorstellun‐ gen vom Orient zu eigen. So arbeitet er heraus, dass Bibelwissenschaftler, die zu den Gründern der historischen Kritik zählen, sich religiöse, politische und wirtschaftliche Kontexte für biblische Texte vorstellen, die zwar mehr oder weniger denselben geografischen Raum, jedoch völlig andere historische und kulturelle Epochen betreffen. Zudem beschreibt Wiesgickl die bei den Wissenschaftlern des 18./ 19. Jahrhunderts anzutreffende Vorstellung einer abgestuften Entwicklung der Menschheit, wonach sowohl die biblischen Kontexte wie die Unterworfenen der zeitgenössischen Kolonien sich in einer Art „Kindheitsalter der Menschheit“ 63 befänden, während Europa bereits im Erwachsenenalter angekommen sei. Besonders drastisch wirkt dieses europäische Überlegenheitsdenken in der von Wiesgickl dokumentierten Vorstellung historisch-kritischer Bibel‐ wissenschaftler, die in der Umstellung, Kürzung oder Korrektur biblischer Überlieferungen einen Beitrag zur Verbesserung des Bibeltextes zu leisten meinten: 63 2.4 Konstruktionen europäischer Überlegenheit 64 Wiesgickl, Gefangen in uralten Phantasmen, 182. 65 Ebd., 182f. 66 Vgl. Wiesgickl, Das Alte Testament, 173. 67 Gonçalves, La crisis, 86. „Die biblischen Bücher galten den Wissenschaftlern als ein Hort unsortierter, nicht nach Gattung, Echtheit und Charakter unterschiedenes Sammelsurium an Texten, in die nun deutsche Alttestamentler Ordnung zu bringen hätten.“ 64 Denn „deutsche Wissenschaft“, so belegt Wiesgickl mit Dokumenten aus der Zeit, „verstehe ihr Gegenüber besser als dieses selbst zu vergegenwärtigen vermag“ 65 . Dass dies ausgerechnet der deutschen Literaturwissenschaft und Theologie besser als anderen europäischen Wissenschaften möglich sein solle, ist kein Zufall und wurde in der untersuchten Zeit mit nationalis‐ tischen und chauvinistischen Argumenten untermauert. Wiesgickl deckt dabei auch Wechselwirkungen von Antijudaismus und Bibelwissenschaft auf, insofern eine hohe und zugleich chauvinistische Wertschätzung der alttestamentlichen Texte mit einer radikalen Abwertung und Ablehnung des zeitgenössischen jüdischen Zugangs zu den eigenen heiligen Texten einhergehen konnte 66 . Die von Wiesgickl kritisierte europäische Idee der Entwicklung der Menschheit wird vom brasilianischen Theologen Alfredo J. Gonçalves mit Hegels Lehre vom Weltgeist in Verbindung gebracht: Die Menschheit würde nach dieser Vorstellung „in jeder Etappe ihrer Geschichte immer zivilisierter, das heißt, fortschrittlicher und moderner werden“ 67 . Dies würde dann selbst‐ verständlich unter der Führung Europas geschehen, so dass die anderen Teile der Welt sich immer in einer Etappe ihrer Entwicklung befinden würden, die einer früheren Geschichtsepoche Europas entsprechen würde. Sie hinken also gewissermaßen immer und uneinholbar den europäischen Entwicklungen hinterher. → Kwok Pui-lan zeigt, dass dieses Fortschrittsdenken auch Konsequen‐ zen in den europäischen Religionswissenschaften nach sich zog. Nicht‐ christliche Religionen wurden als noch nicht so hoch entwickelte Formen der Religion betrachtet, sozusagen als Vorstufen zum Christentum. Koloni‐ sierung und Mission würden dann der Weiterentwicklung und Modernisie‐ rung dieser Religionen dienen. So könnten sie ein ähnlich hoch entwickeltes Stadium wie das Christentum erreichen. In der protestantischen Religions‐ 64 2 Diskurspraktiken 68 Vgl. Kwok, Postcolonial Imagination, 189-197. 69 Vgl. ebd., 196. 70 Vgl. Mena López, Raíces afro-asiáticas y la descolonización de la Biblia. 71 Ebd., 77. Christen tum als Erfüllung aller Religionen wissenschaft gilt noch zur Zeit der Missionskonferenz von Edinburgh 1910 das Christentum als die Erfüllung aller Religionen 68 . Aber auch in der Gegenwart lassen sich ähnliche Vorstellungen von einem Christentum, das einfach weiter fortgeschritten sei als andere Religionen oder von einem europäischen Christentum, dem gegenüber die Kirchen anderer Kontinente weniger entwickelt seien, nachweisen. Kwok nennt für den protestantischen Bereich den Einfluss von Karl Barth, dessen Trennung von Glaube und Religion wiederum neu zu einer Abwertung der nichtchristlichen Religionen geführt habe 69 . Die kolumbianische Bibelwissenschaftlerin Maricel Mena López dekon‐ struiert auf geschickte Weise die Hegemonie weißer, europäischer Stereo‐ typen in der Bibelwissenschaft: Sie untersucht die afrikanischen und asiati‐ schen Wurzeln der biblischen Texte 70 . Denn die Bibel ist kein europäisches Buch, auch wenn sie in Lateinamerika mit diesem Anspruch aufgetreten ist. Sie ist auch nicht „zu 100 % semitisch“ 71 , wie Mena López unterstreicht, sondern entstand in einem jahrhundertelangen Dialog mit Völkern, Religio‐ nen und Kulturen einer breiten geografischen Region, die sich über Asien, Europa und Afrika erstreckt. Die Bibel steht daher über Ägypten und Kusch hinaus mit Afrika in vielfältiger und unmittelbarer Verbindung und kann so auch mit heutigen afroamerikanischen Kulturen in Lateinamerika in Beziehung gesetzt werden, ohne dafür den Umweg über die europäischen Eroberer nehmen zu müssen. 2.5 Gibt es überhaupt Religionen? Die Frage in der Überschrift mag zunächst ungewöhnlich erscheinen. Die postkoloniale Kritik an der erkenntnistheoretischen Kategorie der Religion kann jedoch die Konsequenz nach sich ziehen, danach zu fragen, was mit diesem Begriff denn nun eigentlich gemeint ist: Auf welche kulturellen und historischen Phänomene trifft der Begriff in welcher Weise zu? Gibt es ein Machtinteresse, das mit seiner Verwendung verbunden ist oder war? 65 2.5 Gibt es überhaupt Religionen? 72 Vgl. i.F. auch: Daniel, Die Grenzen des Religionsbegriffs; Rettenbacher, Außerhalb der Ekklesiologie, 299-324; de Jong‐Kumru, Postcolonial Feminist Theology, 92-98 und Silber, Pluralität, 167-183. 73 Berner, Religionswissenschaft, 13. 74 Ebd., 31. Berner zitiert aus Bourdieus Schrift Genese und Struktur des religiösen Feldes. 75 Kwok, Postcolonial, 205. Nicht-Ho‐ mogenität von Reli‐ gionen Welche Funktion übte er beispielsweise in der Legitimation und Praxis der Kolonisierung aus 72 ? Auch die aktuelle Religionswissenschaft sieht berechtigte Zweifel an der Konsistenz des Religionsbegriffs, insbesondere in seiner Anwendung. Denn eine Religionswissenschaft, die sich neutral gegenüber den Selbstdefiniti‐ onen der Religionsgemeinschaften, insbesondere dem Konfessionalismus verhalten will, steht vor dem Problem zu entscheiden, wie eine Religion genau zu definieren oder zu beschreiben ist. So schreibt Ulrich Berner: „Die Problematik all dieser Ordnungs- und Klassifikationsversuche […] liegt […] in der Tendenz zur Essentialisierung, d. h. der Tendenz, das ‚Wesen‘ oder die ‚Sinnmitte‘ der einzelnen Religionen oder der Religion überhaupt zu definieren.“ 73 Welchen Stellenwert besitzt beispielsweise für ‚das Christentum‘ die Bibel oder die Eucharistie? Je nach christlicher Konfession wird das ein anderer sein. Dasselbe gilt für den Sabbat ‚im Judentum‘ oder den Koran ‚im Islam‘. Berner zitiert daher Pierre Bourdieu mit der Aussage, dass vielen „gemeinhin als christlich bezeichneten Glaubensinhalten und Praktiken“ oft „kaum mehr als der Name gemein ist“ 74 . Religionen sind also nicht homogen, wurden aber gerade in der kolonialen Praxis häufig als solche behandelt, um sie durch die ↗ Essentialisierung leichter beherrschen und manipulieren zu können, sowie durch sie die ko‐ loniale Herrschaft zu stabilisieren. Die koloniale Religionswissenschaft un‐ terstützte diese Praxis, indem sie verschiedene Ausprägungen einer Religion zu ‚abweichenden‘ oder ‚heterodoxen‘ Strömungen erklärte, häufig in Über‐ einstimmung mit einheimischen Eliten, mit denen die Kolonialbeamten zu‐ sammenarbeiteten. → Kwok Pui-lan kritisiert diese westliche religionswissenschaftliche Praxis als eine „Reifizierung der Religionen“ 75 , also ihre Verdinglichung oder Essentialisierung. Was an einer Religion lebendig, flexibel und auf Austausch ausgerichtet ist, wird zugunsten eines starren, scheinbar wis‐ senschaftlichen Begriffs von unterscheidbaren Religionsgemeinschaften zurückgedrängt. 66 2 Diskurspraktiken 76 Vgl. Lai, Teaching Global Theology. 77 Vgl. Baumann, Götter, Gurus, 234. 78 Conrad/ Randeria, Einleitung, 17. 79 Vgl. Rettenbacher, Außerhalb der Ekklesiologie, 88f. Vielfältige Beziehun‐ gen zwi‐ schen Reli‐ gionen Dieser Ausschluss kann sogar - wie der chinesische Theologe Lai Pan-chiu erläutert - christliche Traditionen in einem kolonialen Setting treffen: Christliche Spuren in Asien, die von nestorianischen, arianischen und monophysitischen ChristInnen aus der Zeit ihrer Verfolgung im Römi‐ schen Reich stammen, wurden in der kolonialen Mission nicht als etwas christlich-Eigenes aufgegriffen sondern als heterodox abgelehnt. Sie können aber heute zur Ausbildung einer eigenen, inkulturierten chinesischen Iden‐ tität des Christlichen beitragen 76 . Der Reifizierung oder Verdinglichung der Religionen entspricht eine trennende oder unterscheidende Abgrenzung der einen von der anderen Religion. Die verschiedenen Beziehungen, die Angehörige der Religionen untereinander aufbauen, werden marginalisiert oder zur Abweichung er‐ klärt. So scheinen etwa die Möglichkeiten der Marienverehrung im Hindu‐ ismus 77 oder der Sabbatobservanz statt Sonntagsheiligung im Christentum für die jeweilige Religion untypisch zu sein. Sie stellen aber Beispiele von Praktiken dar, die bei Angehörigen vieler Religionen selbstverständlich ge‐ übt werden, wenn sie in ihren Kontexten mit Riten und Überzeugungen von Angehörigen anderer Religionen in Berührung kommen. Solche Phänomene verweisen auf diese Weise darauf, dass eine essentialistische Beschreibung von Religionen ihrer lebendigen kulturellen und interkulturellen Dynamik überhaupt nicht angemessen ist. Vielmehr muss jedes Studium ‚der Religionen‘ der Tatsache Rechnung tragen, dass es vielfältige Beziehungen zwischen den Religionen gibt, nicht nur Ähnlichkeiten, sondern auch wechselseitige Abhängigkeiten, geteilte und verwobene Geschichten. Der Begriff der „entangled histories“ 78 , der von der postkolonialen Ethnologin Shalini Randeria vertreten wird, und die Tat‐ sache benennt, dass auch scheinbar getrennte Geschichten immer ineinan‐ der verwoben und miteinander verflochten sind, hat hier seine besondere Berechtigung. So zeigt beispielsweise Sigrid Rettenbacher in ihrer Dissertation, wie verschiedene Religionsgemeinschaften ihre Beziehungen, Differenzen und Abgrenzungen im Lauf der Geschichte immer wieder durch ↗ Verhandlun‐ gen im Diskurs ausbildeten 79 . Christentum und Judentum waren nach dieser 67 2.5 Gibt es überhaupt Religionen? 80 Ebd., 96f. 81 Sugirtharajah, Eine postkoloniale Untersuchung, 136. 82 Ebd., 141. 83 King, Orientalism and Religion, 40, vgl. King, Philosophy of religion, 44-48. Infrage‐ stellung des Religi‐ onsbegriffs Lesart sehr viel länger miteinander verbunden und trennten sich erst dann in zwei voneinander zu unterscheidende Religionsgemeinschaften, als das Christentum eine Machtposition im Römischen Reich gewonnen hatte. Der äußeren Abgrenzung zwischen den künftig als getrennt wahrgenommenen Religionen entspricht dabei genau auch eine innere Essentialisierung: „Mit der Trennung bzw. Schaffung von Judentum und Christentum im vierten Jahrhundert wurde also zugleich auch die Differenz von Orthodoxie und Häresie festgeschrieben, so dass fortan eindeutig zu definieren war, wer sich drinnen und wer sich draußen befindet.“ 80 → R.S. Sugirtharajah macht auf die Verflochtenheit des Christentums mit den asiatischen Religionen aufmerksam: Durch „Händler, Handwerksleute, Migranten und vor religiöser Verfolgung Flüchtende“ 81 breitete sich das ‚Christentum‘ in den ersten Jahrhunderten in die gesamte damals bereiste Welt, bis ins heutige Japan, aus, ohne gezielt ‚Mission‘ im heutigen (oder im kolonialen) Sinn zu betreiben. Auch umgekehrt lassen sich Spuren östlicher Weisheit und Kulturen in den christlichen Überlieferungen nachweisen. So korreliert Sugirtharajah den historisch bezeugten „religiösen Akt der freiwilligen Selbstopferung“ 82 , der von dem indischen (buddhistischen? ) Emissär Zarmanochegas im Jahr 37 v. Chr. in Athen vollzogen wurde, mit der Selbstverbrennung, auf die Paulus in 1 Kor 13,3 anspielt. Religiöse Traditionen müssten insofern immer als ↗ Hybride gelesen werden und verweisen auf interreligiöse Beziehungen. In der postkolonialen Kritik wird aus diesen Gründen der Religionsbegriff selbst in Frage gestellt. Der britische Religionswissenschaftler Richard King urteilt, dass der Begriff Religion selbst „eine Kategorie der christlichen Theologie“ sei, „das Produkt kulturell spezifischer Diskursprozesse christli‐ cher Theologie im Westen, hergestellt im Schmelztiegel interreligiösen Kon‐ flikts und Interaktion.“ 83 Durch die Aufnahme dieses christlich-theologi‐ schen Begriffs in die westliche Religionswissenschaft, argumentiert Kwok Pui-lan, erhält er eine Deutekraft über alle Phänomene weltweit, die mit ihm bezeichnet werden, ungeachtet ihrer kulturellen Besonderheiten, sogar in säkularen akademischen und dadurch auch nicht-akademischen Kontexten. 68 2 Diskurspraktiken 84 Kwok, Postcolonial Imagination, 189. 85 Rettenbacher, Außerhalb der Ekklesiologie, 101. 86 Ebd. 87 Ebd., 199f. 88 Vgl. Kwok, Postcolonial Imagination, 199. „Auf diese Weise dient das Christentum weiterhin als Prototyp einer Reli‐ gion und als Standard, mit dem andere Weisheitstraditionen bewertet wer‐ den“ 84 , folgert Kwok. Auch Sigrid Rettenbacher argumentiert (mit Daniel Boyarin): „Religion“ gibt es als „erkenntnistheoretische Kategorie[…]“ 85 nicht vor dem 4. Jahr‐ hundert u. Z. Diese Kategorie und mit ihr die ‚Religionen‘ des Christentums und des Judentums wurden „erfunden“ (invented)  86 , um das bezeichnen zu können, was sich durch die Trennung von Judentum und Christentum aus‐ zudifferenzieren begann. Diese religionswissenschaftliche Kategorie kann daher nicht ohne weiteres auf ganz andere kulturelle Phänomene in weit entfernten Kontexten angewendet werden. Welche Konsequenzen sich daraus für die koloniale Religionswissen‐ schaft ergaben, zeigt Rettenbacher an zahlreichen Beispielen. So zeichnet sie nach, wie bei der kolonialen Beschreibung des Hinduismus gezielt nach Phänomenen gesucht wurde, die man aus dem Christentum kannte, nämlich heiligen Schriften und geistlichen Eliten, ohne sich zu fragen, ob solche Institutionen tatsächlich auch eine wichtige Bedeutung in der untersuchten ‚Religion‘ besaßen - bzw. welche Bedeutung das war 87 . So kann man von einer westlichen Erfindung des Hinduismus im Interesse der Kolonialmacht und der mit ihr zusammenarbeitenden einheimischen Eliten sprechen. Dass in einer Religionswissenschaft, die von solchen Voraussetzungen geprägt ist, der unmittelbare Vergleich zwischen dem Christentum und den ‚Religionen‘ der kolonisierten Völker in der Regel zugunsten der Religion der Kolonialherren ausging, mag da nicht mehr überraschen. Dieses Selbstverständnis der eigenen Überlegenheit deckt Kwok Pui-Lan jedoch auch noch in der säkularisierten Religionswissenschaft und in der liberalen Religionstheologie, etwa bei John Hick, auf. Dessen Annahme, dass alle Religionen Antworten auf dieselbe transzendente Realität seien, verwischt nach ihrer Kritik die tatsächlichen Differenzen zwischen den Religionen und betrachtet sie wiederum aus einer scheinbar überlegenen westlichen Perspektive - nun des Pluralismus 88 . Ein solcher nivellierender Pluralismus wird den vielfältigen Differenzie‐ rungen in der Welt der ‚religiösen‘ Phänomene nicht gerecht: „Statt unser 69 2.5 Gibt es überhaupt Religionen? 89 Kwok, Postcolonial Imagination, 203. 90 Fung, A Postcolonial-mission-territorial Hermeneutics. Denken auf das liberale Paradigma des religiösen Pluralismus zu bauen, müssen wir eine postkoloniale Theologie der religiösen Differenz in den Blick nehmen“ 89 , schreibt Kwok. In dieser Theologie stehen dann nicht mehr ‚Religionen‘ als essentialisierte und abgegrenzte Größen im Blickpunkt, sondern die Differenzen, die sich zwischen den Erfahrungen von Menschen aus unterschiedlichen kulturellen, weisheitlichen, lebensweltlichen und religiösen Kontexten ergeben. Zugleich richtet eine postkoloniale Theologie der Religionen ihren Blick nicht nur auf die Differenzen zwischen den religiösen Erfahrungen, Vorstel‐ lungen und Praktiken, sondern auch auf ihre Gemeinsamkeiten, Überlap‐ pungen und Komplementaritäten. So beschreibt der malaysische Jesuit Jojo Fung, der auf den Philippinen lehrt, die verschiedenen Erfahrungen des Geistes in der indigenen Welt, im Schamanismus, in der chinesischen Kultur, in der Bibel und in der säkularen Moderne und bezieht die unterschiedlichen Vorstellungen aufeinander 90 . Auf diese Weise kann er herausstellen, dass es ungerecht und unzutreffend ist, dem Schamanismus und den indigenen Religionen Primitivität zu unterstellen und die säkulare Moderne (oder das Christentum) demgegenüber für fortschrittlich zu halten. Vielmehr zeigen sich für Fung in diesen verschiedenen Beschreibungen des ‚Geistes‘ unterschiedliche Ausdrucksformen der menschlichen Suche nach einer Be‐ ziehung mit dem in der Bibel beschriebenen Geist Gottes. Der Schamanismus muss daher aus christlicher Sicht für Fung respektiert und als Dialogpartner geschätzt werden. 2.6 (Post-)Koloniale Genderbeziehungen Die bisher beschriebenen kolonialen Diskurspraktiken wirken auch im Bereich der Geschlechterverhältnisse, und sie werden insbesondere von der postkolonialen feministischen Theologie auch kritisch analysiert. ↗ Othe‐ ring und ↗ Essentialisierung sind klassische Methoden, um aus der Perspek‐ tive einer männlichen Dominanz Frauen als das ‚andere‘ oder das ‚zweite‘ Geschlecht zu klassifizieren. Sie dienten auch zur Bestätigung europäischer Überlegenheit in kolonialen Kontexten. 70 2 Diskurspraktiken 91 Vgl. weiterführend den Abschnitt zu Queeren Theologien 5.5. 92 Vgl. Dube, Postkolonialität, 106-108. 93 Ebd., 106. Ver‐ schlech‐ terte Be‐ ziehungen zwischen den Ge‐ schlech‐ tern durch den Kolo‐ nialismus Auch binäre Geschlechtskonstruktionen tendieren dazu, dualistisch und zugleich exklusiv zu werden. Geschlechtliche Identitäten, die sich nicht in diesen Dualismus einordnen lassen, werden dann als abweichend oder unnatürlich, als Ausnahme oder schlichtweg als nicht existierend eingestuft. Die Beispiele in diesem Abschnitt kritisieren meistens eine patriarchal-dua‐ listische Geschlechterkonstruktion ohne explizit auf die tiefere Problematik eines zweigeschlechtlichen Menschenbildes aufmerksam zu machen. Diese weiterführende Kritik wird von diesen feministischen Überlegungen jedoch mit angestoßen und muss immer im Blick bleiben 91 . Auch im Bereich der Kirchen und der Theologie hat der Kolonialismus die Beziehungen zwischen den Geschlechtern häufig grundlegend zum Schlechteren verändert. → Musa Dube, Theologin und Bibelwissenschaft‐ lerin aus Botswana, zeigt, wie der Umgang der europäischen Missionare mit den vorkolonialen Gottesauffassungen in Botswana von patriarchalen und eurozentrischen Vorurteilen geprägt war und zu innerkulturellen Störungen der Beziehungen zwischen den Geschlechtern führen konnte 92 . Denn vor der Ankunft der MissionarInnen kannte die einheimische Bevölkerung ein System von höheren und niederen Gottheiten, die sie sich als genderneutral vorstellte. Auch die AhnInnen, die in diese spirituelle Struktur eingebunden waren, wurden mit einem geschlechtsneutralen Plu‐ ral bezeichnet. Die „Priesterfiguren“ 93 , die es in der Setswana-Kultur gab, konnten sowohl männlich als auch weiblich sein; Frauen hatten in der religiösen Tradition der ethnischen Gruppe der Batswana die Möglichkeit, ihre spirituellen Fähigkeiten in die Gemeinschaft einzubringen und sich mit göttlichen Wesen zu identifizieren und in Beziehung zu setzen. Durch die Mission und die Einführung einer ins Setswana übersetzten Bibel wurde Modimo, die ehemals geschlechtsneutrale höchste Gottheit, vermännlicht und mit dem biblischen Vatergott identifiziert. Die niederen Gottheiten wurden zu Dämonen erklärt, und die priesterlichen Rollen und Funktionen, die vorher beiden Geschlechtern offenstanden, in die Nähe eines Hexenkultes gerückt. Auf diese Weise veränderte der Kolonialismus die Geschlechterbeziehungen auf drastische Weise: „Der koloniale Prozess entfremdete die Batswana von ihren kulturellen Macht‐ symbolen und drängte ganz besonders die eingeborenen Frauen an den Rand; 71 2.6 (Post-)Koloniale Genderbeziehungen 94 Ebd., 107. 95 Vgl. Kwok, Postcolonial Imagination, 153-155. 96 Mananzan, Frauen und Religion, 120; vgl. 119-121. 97 Titizano, Mama Pacha, 132; vgl. 129-135. die Männer konnten sich zumindest mit Modimo, dem Gottvater identifizieren, und mit seinem Sohn, der das Oberhaupt der Kirche ist, so wie die Männer die Oberhäupter der Familie sind (Eph 5,22).“ 94 Diese theologisch-biblische Unterordnung von (männlichem) Gott und Dämonen, Männern und Frauen, Ehemännern und Ehefrauen wurde in der kolonialen Praxis durch Bildungs- und Verwaltungseinrichtungen, Wirt‐ schaftsstrukturen und Handelssysteme, die nach europäischem Vorbild patriarchal organisiert waren, verstärkt. Auf diese Weise paarte sich die essentialistische Gottesauffassung eurozentrischer Theologie mit einem hierarchischen Geschlechterdualismus und der patriarchalen Organisation des Alltags zu einer fatalen ↗ epistemischen Gewalt, deren Opfer vor allem Frauen waren. → Kwok Pui-lan nennt weitere Beispiele aus Asien und Afrika dafür, wie gesellschaftliche und kulturelle Geschlechterverhältnisse durch den Kolonialismus verschlechtert wurden 95 . Die von ihr zitierte philippinische Ordensfrau und Theologin Mary John Mananzan beschreibt die drastischen Auswirkungen der katholischen spanischen Mission auf den Philippinen für die Rolle der Frauen in der Gesellschaft und ihr Selbstverständnis: „Im 16. Jahrhundert brachte Spanien das Christentum und die westliche Zivilisa‐ tion mit ihrer patriarchalen Prägung in die Philippinen. Die gleiche frauenfeind‐ liche Grundstimmung, die in der westlichen Kirche herrschte, wurde auf die Inseln mitgebracht.“ 96 Während Frauen auf den Philippinen vor der Ankunft der MissionarInnen weitgehend gleiche Rechte und gesellschaftliches Ansehen genossen wie Männer, wurden ihre Aufgaben durch den Kolonialismus auf den Bereich des familiären Haushalts beschränkt und ihre gesellschaftliche Teilhabe massiv beschnitten. Die Begründungen mit biblischen und theologischen Argumenten lagen der europäischen Kultur der Zeit entsprechend auf der Hand. Für die bolivianische Theologin Cecilia Titizano „haben indigene Frauen unter der kolonialen Zivilisationsmission furchtbare Gewalt erlitten“ 97 , da koloniale Ausbeutung und sexuelle Gewalt mit einer Dämonisierung indi‐ 72 2 Diskurspraktiken 98 Laporta, Decolonizing, 109. Vgl. 108-113. 99 Vgl. ebd., 110f. Herausfor‐ derung des patriarcha‐ len christli‐ chen Va‐ tergottes gener Kosmovision einherging, die weibliche Gottheiten sowie Lebenser‐ fahrungen und Weisheit von Frauen gleichermaßen abwertete. Der Einsatz für die Würde und die Rechte der Frauen erfordert es für Titizano daher, das patriarchale christliche Gottesbild des Vatergottes herauszufordern. Stattdessen verweist sie auf die vorkoloniale weibliche Gottheit der Mama Pacha (oder Pachamama) als einer Identifikationsfigur sowohl für weibliche als auch für indigene Erfahrungswelt. Als ‚Erd-Mutter‘ (eine mögliche Übersetzung des andinen ‚Mama Pacha‘) integriert sie auch agrarische und ökologische Welt- und Schöpfungserfahrung. Titizano beansprucht nicht, den christlichen Vatergott durch Pachamama zu ersetzen, sondern macht auf die Chancen eines ganzheitlicheren Gottesbildes aufmerksam und beschreibt die Zerstörungen, die durch die koloniale Mission angerichtet wurden. Eine andere postkoloniale Strategie der Wiederaneignung der weiblichen Aspekte der Gottheit beschreibt der peruanisch-mexikanische Theologe und Anthropologe Héctor Laporta. Seine Feldforschungen in verschiedenen Ma‐ rienwallfahrtsorten Lateinamerikas zeigten, dass die Figur der Gottesmutter von ihren VerehrerInnen kultisch und im Fest aufgewertet wurde: „Meine ethnografischen Forschungen bestätigen, dass die Verehrung Unserer Lieben Frau von Guadalupe [in Mexiko] die koloniale Ordnung unterbricht und die Dogmen und die Politik der katholischen Kirche übertritt. Dabei bricht die Verehrung Unserer Lieben Frau von Guadalupe mit den auferlegten kolonialen Werten wie Macht, Rasse, Sprache und untergräbt die katholische Lehre und verlässt die Kontrolle des materiellen Raums der Kirche.“ 98 Zwar nicht in der liturgischen Sprache, wohl aber in der Festpraxis wird die Gestalt der Guadalupe wie eine Göttin - insbesondere als Verkörperung der altmexikanischen Gottheit Tonantzin - behandelt 99 . In dieser Praxis werden koloniale Muster durchbrochen. Gleichzeitig werden auch andere gesellschaftliche und kulturelle Werte durch das Fest übertreten. Die Prozes‐ sion mit der Heiligenfigur und das anschließende Fest, die beide außerhalb des ummauerten kirchlichen Raums stattfinden, interpretiert Laporta als ein Verlassen der kolonialen Ordnung und einen Bruch mit dieser. Selbst der exzessive Alkoholkonsum und die sexuelle Permissivität, die auf diesen Festen erlebt werden können, gelten ihm als Anzeichen eines Bruchs 73 2.6 (Post-)Koloniale Genderbeziehungen 100 Ebd., 123. 101 Vgl. weiterführend v. a. Kwok, Postcolonial Imagination; Dube, Postcolonial Feminist Interpretation und de Jong‐Kumru, Postcolonial Feminist Theology. 102 Vgl. v. a. 3.3, 3.6, 4.2, 4.3, 5.4 und andere. der kolonialen Gesellschaftsordnung, motiviert und unterstützt durch die Wiederaneignung der Göttin: „Maria springt von der offiziellen Bühne und nimmt aktiv an der fiesta teil, in der die Musik, das Trinken, Essen und Flirten ein wichtiger Teil der Feiern sind.“ 100 Kritisch anzumerken ist jedoch, dass Gewalt gegen Frauen in Lateiname‐ rika häufig auch unmittelbare Folge des massiven Alkoholkonsums nicht zuletzt auf diesen Festen ist. Eine allzu unkritische Bewertung dieser Feiern als Bruch mit der kolonialen Ordnung verbietet sich daher. Dennoch zeigt das Beispiel, wie eine postkoloniale Auseinandersetzung mit religiösen Institutionen und Vorgängen zu einem entscheidenden theologischen Per‐ spektivwechsel beitragen kann. Diese wenigen Beispiele zu kolonialen und postkolonialen Geschlech‐ terbeziehungen und Strategien ihrer Überwindung können nicht in das komplexe Feld postkolonialer feministischer Theologien oder Studien ein‐ führen 101 . Sie verweisen vorerst nur auf die grundlegende Bedeutung fe‐ ministischer Kritik im Postkolonialismus. In den folgenden Abschnitten und Kapiteln werden noch mehr Beispiele aus feministischen Perspektiven beschrieben, die weitere wichtige Aspekte zu diesem transversalen Thema beitragen werden 102 . 2.7 Wer schreibt (Kirchen-)Geschichte? Ein mächtiges Instrument kolonialer Diskursprägung war und ist die Ge‐ schichtsschreibung. Gegen den Neutralitätsanspruch historischer Wissen‐ schaftsdisziplinen kritisiert die postkoloniale Theorie, dass die Autorinnen und Autoren der Geschichtsschreibung ihre eigene Sicht der Dinge bevor‐ zugen und damit auch für künftige Leserinnen und Leser festschreiben. Der US-amerikanische Religionswissenschaftler Randall Styers beleuch‐ tet die Bedeutung postkolonialer Theorien für das Studium der Kirchenge‐ schichte. Dazu zitiert er den tunesisch-französischen Soziologen Albert Memmi, 74 2 Diskurspraktiken 103 Styers, Postcolonial Theory, 854. Zitat Memmi aus seinem Buch The Colonizer and the Colonized von 1957. 104 Vgl. Chakrabarty, Provincializing, 27-46; 97-113. 105 Kerner, Postkoloniale Theorien, 151, vgl. 150-152. 106 Clark, Postcolonial Theory, 848. Was als Geschichte gilt „dass ‚der schwerste Schlag, den die Kolonisierten erleiden, darin besteht, aus der Geschichte entfernt zu werden‘. Kolonisatoren haben in der Tat außerordentliche Macht ausgeübt, um zu definieren, was als Geschichte gilt, wer als Subjekt gilt und was als Wissen gilt.“ 103 Die südasiatische Subaltern Studies Group, die als eine der Gründungsinitia‐ tiven der postkolonialen Studien gilt, widmete sich insbesondere dieser Problematik in der Geschichtsschreibung: Wer sind Autorinnen und Auto‐ ren, welche AkteurInnen werden genannt und welche verschwiegen? Wie werden sie und ihre Praxis charakterisiert? Vor allem Dipesh Chakrabarty kritisiert die historiografische Praxis, die Geschichte außereuropäischer Regionen immer mit Bezug und im Vergleich zu Europa zu untersuchen, während europäische Geschichtsschreibung durchaus ohne Bezugnahme auf den Rest der Welt geleistet werden könne 104 . Durch diese Kritiken entsteht zugleich auch eine „Geschichtsschreibung von unten“ 105 , in der auch subalterne AkteurInnen selbst zu Wort kommen sollen, etwa mittels Interviews. Die Kirchenhistorikerin Elizabeth A. Clark aus den USA stellt ähnliche Fragen wie die Subaltern Studies Group, um ein Forum einzuleiten, das sich postkolonialen Anfragen an die kirchengeschichtliche Wissenschaft stellen soll: „Wer ist berechtigt, sich an dieser Theoriebildung zu beteiligen? Wessen Stimmen bleiben erhalten? Können Menschen aus dem Westen ‚authentisch‘ die Perspek‐ tive derer vertreten, die von westlichen Kulturen unterdrückt wurden? Hängt die Ausbildung einer christlichen Identität nicht wie jede Identitätskonstruktion davon ab, ein ‚anderes‘ als Negativfolie einzurichten, in diesem Fall die Nicht‐ christInnen, die KetzerInnen, die Apostaten? Sind politische und wirtschaftliche ‚materielle‘ Interessen in die akademische Diskussion über ‚Repräsentation‘, Literatur und Textualität eingewoben? Ist dabei die Geschichte der Kolonisierten verloren gegangen? “ 106 Die indigene Wissenschaftlerin Linda Tuhiwai Smith aus Neuseeland hin‐ terfragt darüber hinaus aus feministischer Perspektive den europäischen 75 2.7 Wer schreibt (Kirchen-)Geschichte? 107 Smith, Decolonizing Methodologies, 29; vgl. 28-41. 108 Ebd., 35. 109 Dussel, Desintegración, 101. 110 Vgl. Castillo Morga, Sabiduría, 127, vgl. 125-181. Indigene Praktiken der Erinne‐ rung und der Erzäh‐ lung Begriff der Geschichte selbst: „Geschichte (history) ist die Erzählung (story) einer spezifischen Herrschaftsform, nämlich des Patriarchats, wörtlich ‚his-story‘ “ 107 . Für den indigenen Kampf um die Entkolonisierung ist es daher nicht selbstverständlich, sich dafür einzusetzen, dass indigene AutorInnen sich an der Produktion westlicher Geschichtsschreibung beteiligen wollen. Vielmehr stellt Smith wesentliche Grundlagen des westlichen Geschichts‐ verständnis in Frage. Um die eigene Geschichte erzählen zu können, müssten vielmehr auch indigene Praktiken der Erinnerung und der Erzählung, ins‐ besondere Narrativität, Pluralität und alternative Rationalitäten zugelassen und wertgeschätzt werden. Geschichtsschreibung wird so auch zu einer Arena der Auseinandersetzung um die Vergangenheit und die Ungerechtig‐ keiten, die aus ihre ererbt wurden. Unter dieser Voraussetzung „bleibt die Notwendigkeit, unsere Geschichten (stories) zu erzählen, ein machtvoller Imperativ einer machtvollen Widerstandsform“ 108 . Auch lateinamerikanische TheologInnen und HistorikerInnen beklagen, dass die Geschichte der Missionen und der Kolonien in der Regel von EuropäerInnen und mit europäischer Methodologie geschrieben wurde und wird. Die Geschichte der Unterworfenen wird auf diese Weise unsichtbar gemacht. Enrique Dussel kritisiert bereits 1978 die europäische Historiografie der Eroberung Amerikas als „aristokratische Geschichte“: „Man schrieb ein bestimmtes Christentum und ließ ein anderes auf der Seite liegen. […] Außerdem wurde die Geschichte fast immer aus der Perspektive einer Elitenkultur geschrieben, die selbst kulturell abhängig ist. Wir wurden in Universitäten, in Seminaren, in Europa oder unter europäischem Einfluss ausgebildet, und das gab uns eine bestimmte Sicht auf die Wirklichkeit. Auch wenn wir nun eine ‚wissenschaftliche‘ Beschreibung liefern (und das wird hier vorausgesetzt), ist dies eine höchst fehlerhafte Interpretation.“ 109 Der mexikanische Theologe Alejandro Castillo Morga verweist in diesem Zusammenhang darauf, wie seit der Eroberung Lateinamerikas indigenes Wissen, Selbstverständnis und Geschichtsbewusstsein immer wieder dele‐ gitimiert, umgedeutet und zerstört wurde 110 . Dieses Verständnis der eigenen 76 2 Diskurspraktiken 111 Ebd., 125. 112 Vgl. ebd., 129. Castillo übersetzt nepantla spanisch mit „situarse en medio“. Strategien des Wider‐ stands durch Weisheit Geschichte der UreinwohnerInnen Amerikas „kommt in ihrer Art und Weise zu sein, in ihren Lebensweisen, ihrer Weltsicht, Mythen, Bräuchen und Gewohnheiten und selbstverständlich ihrem Wort zum Ausdruck.“ 111 Angesichts der Eroberung, Kolonisierung und Mission erfuhr dieses Selbstverständnis teilweise eine Zerstörung und teilweise eine Umdeutung gemäß den herrschenden Interessen. Castillo zeigt nun aber auch, wie die indigene Weisheit Strategien des Widerstands entwickelt hat, durch die es möglich war, das eigene historische Bewusstsein wenigstens in transfor‐ mierter Form zu bewahren und weiterzugeben. Mit einem Begriff aus der Nahuatl-Sprache, der im mexikanischen dekolonialen Diskurs viel verwen‐ det wird, nennt Castillo diese Strategie nepantla, das als „sich dazwischen stellen“ übersetzt werden kann und einen Zwischenraum eröffnet, in dem ↗ Hybridität und Mestizität möglich werden 112 . In diesem Zwischenraum ist es möglich, innerhalb des kolonialen Rah‐ mens mit den Mitteln der Kolonie und der eigenen Tradition gemeinsam Widerstand zu leisten. Die geschichtliche Erinnerung, die hier geformt wird, schöpft aus beiden Traditionen, nutzt aber die Sprache und Begrifflichkeiten des Eroberers in erster Linie dazu, die indigenen Überlieferungen in unver‐ dächtiger Form aufzubewahren und weiterzugeben. Das Ziel dieser Analyse ist es aber nicht, auf diese Weise eine Art reiner indigener geschichtlicher Erinnerung gewissermaßen zu destillieren, sondern die Widerstandsformen zu beschreiben, durch die sie transformiert und weitergegeben wird. Auf diese Weise ist es möglich, nicht nur von der ursprünglichen indigenen Weisheit, sondern auch von den Erfahrungen des Widerstandes für die Gegenwart zu lernen. Die Geschichte der Unterworfenen und ihres Widerstands ist daher nicht dazu verdammt, verloren zu gehen. Vielmehr ist es möglich, mit geeigneten Methoden, mit Rücksicht auf die Stimmen der Subalternen selbst und durch eine Korrektur der nach westlichen Vorstellungen geprägten Geschichts‐ wissenschaften und der Vorstellung von Geschichte selbst Alternativen zu konstruieren, in denen diese subalterne Geschichte erinnert und tradiert werden kann. So bilanziert auch Randall Styers (in einem Vorwort zu postkolonial-kirchenhistorischen Beiträgen): 77 2.7 Wer schreibt (Kirchen-)Geschichte? 113 Styers, Postcolonial Theory, 854. 114 Vgl. Winker / Degele, Intersektionalität, 11. 115 Kang, Jenseits, 181. Mit „Unfähigkeit und Befähigung“ wurde vermutlich das englische ‚(Dis-)Ability‘ (unzutreffend) übersetzt. Intersekti‐ onalität „Die Kolonisierung hat es selten geschafft, die Kolonisierten aus der Geschichte zu streichen. So wie postkoloniales Schreiben das Potenzial zeigt, sich einen Weg in die Revision des historischen Narrativs zu erkämpfen, so bieten auch die folgenden Beiträge neue Einblicke, wie die Historikerin/ der Historiker zu den Bemühungen beitragen kann, dieses Narrativ anzufechten und zu erweitern.“ 113 2.8 Überschneidungen verschiedener Achsen der Kolonialität Der feministische Theoriebegriff der ↗ Intersektionalität wird auch in den postkolonialen Studien sehr häufig eingesetzt. Gabriele Winker und Nina Degele verorten den Ursprung dieses Konzepts in den „Erfahrungen Schwar‐ zer Frauen, die sich im Feminismus westlicher Weißer Mittelschichtsfrauen nicht wieder fanden“ 114 , vor allem in den USA der 1970er Jahre. Unterdrückungserfahrungen aufgrund von Rassismus und Sexismus können dem‐ nach nicht einfach addiert werden, sondern überlappen und beeinflussen sich wechselseitig. Diese Überlappungen oder Überschneidungen wurden seit den 1990er Jahren ‚Intersektionen‘ genannt und das theoretische Kon‐ zept der systematischen Analyse ihrer wechselseitigen Einflussnahme ‚In‐ tersektionalität‘. Weitere Achsen der Ungleichbehandlung, Exklusion oder Ausbeutung kamen im Lauf der Zeit zu dieser immer komplexer werdenden Analyseme‐ thode hinzu. Die Theologin → Namsoon Kang nennt „Geschlecht, Rasse, Ethnizität, Schicht, Sexualität, Unfähigkeit und Befähigung, Nationalität, Staatsangehörigkeit, Religion usw.“ 115 - insbesondere das abschließende „usw.“ verweist auf die prinzipielle Unabgeschlossenheit, die dem Konzept innewohnt. Alter, Bildung und Beruf erscheinen darüber hinaus als weitere wichtige Kategorien, die in die Analyse aufgenommen werden können. Winker und Degele verdeutlichen nun, dass diese verschiedenen Achsen der gesellschaftlichen Ordnung nicht unabhängig voneinander sind und deswegen auch in ihrer Beziehung zueinander analysiert werden müssen, da diese „Kategorien in verwobener Weise auftreten und sich wechselseitig 78 2 Diskurspraktiken 116 Winker / Degele, Intersektionalität, 10. 117 Winker / Degele, Intersektionalität, 11. 118 Kang, Jenseits, 181. 119 Ebd., 182. 120 Ebd., 181. 121 Ebd. 122 Ebd., 182. 123 Ebd. verstärken, abschwächen oder auch verändern können“ 116 . Das „Ziel ist dabei die umfassende theoretische und vor allem empirische Analyse, welche Bedeutung verschiedene Differenzkategorien bei Phänomenen und Prozessen unterschiedlichster Art haben.“ 117 Auch Namsoon Kang spricht hinsichtlich postkolonial-theologischer Szenarien von einer „Verstrickung von Kolonialismus, Geschlecht und Religion“ 118 . Über die unmittelbaren historischen Auswirkungen des Kolo‐ nialismus hinaus ist es daher notwendig, seine Verwobenheit auch in andere Machtstrukturen und Ausschlussmechanismen aufzudecken. Postkoloniale Theoriebildung impliziert daher auch die „Analyse mehrfacher komplexer Zusammenhänge von Herrschaft und Unterdrü‐ ckung und von Macht und Wissen, die voneinander untrennbar sind, sich jedoch nicht aufeinander zurückführen lassen.“ 119 Kang verdeutlicht, dass jede einzelne dieser Achsen - sie beschränkt sich in ihrer Analyse weitgehend auf Kolonialismus, Geschlecht und Religion - dazu neigt, binäre Strukturen von „Zentrum und Rand, […] Einschluss und Ausschluss“ 120 zu produzieren. Durch die Überschneidungen werde es jedoch zunehmend „schwierig, haargenau zu definieren, wer ‚wir‘ und wer ‚sie‘ sind. Das Wir als singulär-monolithische Identität wird unmöglich, problematisch und sogar gefährlich“ 121 . Gerade in kolonial-missionarischen Konstellation erscheine darüber hinaus „Religion als eine heilige Sanktion solcher Macht-Asymmetrie“ 122 . Erschwert wird die Analyse dieser komplexen und verwobenen Intersek‐ tionen darüber hinaus noch durch die Tatsache, dass Machtverhältnisse verzerrt, verschleiert und maskiert werden. Insbesondere diejenigen, die in (post-)kolonialen Kontexten Macht ausüben, bleiben oft unerkannt, da ihre Position „häufig unsichtbar und getarnt ist“ 123 . Nicht zuletzt die Religion spielt dabei aus historischen Gründen oft eine entscheidende Rolle. 79 2.8 Überschneidungen verschiedener Achsen der Kolonialität 124 Ebd., 185. 125 Ebd., 186 mit einem Begriff von Leela Gandhi, aus ihrem Buch Postcolonial Theory. 126 Ebd., 186f. 127 Ebd., 187. 128 Ebd., 188. Fünf Kon‐ sequenzen für die Pro‐ duktion von Theo‐ logie Kang folgert aus ihrer Untersuchung fünf Konsequenzen für die Produk‐ tion von Theologie in postkolonialen Räumen mit dem Instrumentarium der Intersektionalitätsanalyse: Zunächst ist es wichtig, die „westliche Konstruk‐ tion einer binären Festgelegtheit [zu] dekonstruieren“ 124 . Dies bedeutet, die Prozesse des ↗ Othering und der ↗ Essentialisierung, die auch in diesem Kapitel beschrieben wurden, aufzudecken und ihre Funktionsweise und Zielrichtung bloßzulegen. Eine zweite Konsequenz besteht in der Auflösung der Hegemonien, die in den verschiedenen sich überschneidenden Achsen konstruiert wurden, also beispielsweise des ↗ Eurozentrismus und des Se‐ xismus. Dabei warnt sie vor „postkolonialer Rache“ 125 , also dem Wunsch, die Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen, Zentrum und Periphe‐ rien, Kolonisierten und KolonistInnen einfach umzukehren. Diese Dekon‐ struktion der Hegemonien dient vielmehr der „Hinterfragung von theolo‐ gischen Normen und Maßstäben“ 126 . Als dritte Konsequenz für die Theologie fordert Kang, die „Hypersensi‐ bilität für die Marginalisierten [zu] fördern“ 127 . Denn innerhalb intersektio‐ naler Settings sind diese Marginalisierten in mehrfacher Hinsicht bedrängt, nämlich auf den verschiedenen sich überschneidenden Achsen. Jede Partei‐ nahme für sie - die sie aufgrund der Weltgerichtsrede in Mt 25,31-46 für christlich geboten hält - gerät selbst unter den Verdacht der Machthabenden. Deswegen zieht Kang auch die weitere Konsequenz, die Legitimität der Standpunkte, Perspektiven und Erfahrungen der Marginalisierten „radikal“ anzuerkennen 128 . Der theologische Grund dafür liegt schließlich für Kang in der Gottebenbildlichkeit der Marginalisierten, die aufzuzeigen und zu rehabilitieren eine entscheidende theologische Konsequenz aus der inter‐ sektionalen Analyse ist. Diese kritische theologische Analyse und Neuorientierung geschieht für Namsoon Kang im Raum der Kirche und der theologischen Tradition und übersteigt beide zugleich. Diese Weiterentwicklungen sind notwendig, um dem Christentum seinen befreienden Charakter zurückzugeben, den es durch imperialen und kolonialen Einfluss eingebüßt hat. 80 2 Diskurspraktiken 129 Ashcroft/ Griffiths/ Tiffin, Post-Colonial Studies, 106. 130 Ebd., 106 f. Der Begriff der ‚kulturellen Hegemonie‘ oder ‚Kulturhegemonie‘ wird in der Gegenwart auch von neurechten und neofaschistischen Bewegungen verwendet, um darauf aufmerksam zu machen, dass zu einer erwünschten Machtübernahme auch das Erreichen einer auf Überzeugung und kulturelle Selbstverständlichkeiten gründende „Deutungshoheit im zivilgesellschaftlichen Raum“ gehören muss. Vgl. Pittl, Schmittsche Gespenster, 176. 2.9 Hegemonie. Zusammenfassung Die verschiedenen in diesem Kapitel vorgestellten Diskurspraktiken bewir‐ ken in kolonialen Kontexten, dass die militärische, politische und wirtschaft‐ liche Herrschaft des Kolonialismus auch kulturell abgesichert wird, ja als Selbstverständlichkeit gelten kann. Denn die behauptete Überlegenheit der europäischen, ‚weißen‘, christlichen und männlichen Eroberer wird aufgrund dieser tief wurzelnden und kulturell verankerten Überzeugungen nur schwer anfechtbar. Diese selbstverständliche Überzeugung lässt sich als ↗ ‚Hegemonie‘ bezeichnen, ein Begriff des marxistischen Philosophen Antonio Gramsci, der in den postkolonialen Studien breit rezipiert wurde. Darunter versteht Gramsci „grundlegend […] die Macht der herrschenden Klasse, andere Klassen davon zu überzeugen, dass ihre Interessen die Interessen aller sind“ 129 . Diese Hegemonie ist zuvörderst ein kultureller Effekt. Gramsci kontrastiert ihn mit offenen und direkten Formen der Machtausübung, die sichtbar und spürbar sind. Vielmehr setzt die Hegemonie auf die Kraft der inneren Überzeugung: „Herrschaft wird so weder durch Zwang noch notwendigerweise durch aktive Überredung ausgeübt, sondern durch eine subtilere und inklusive Macht über die Wirtschaft und über staatliche Institutionen wie Bildung und Medien, von denen die Interessen der herrschenden Klasse als Allgemeininteresse dargestellt und auf diese Weise als selbstverständlich akzeptiert wird.“ 130 Die in den letzten Abschnitten beschriebenen Konzepte und Praktiken wie ↗ Othering/ Veranderung, ↗ Essentialisierung, eurozentristische Über‐ legenheit, Patriarchat usw. führen im Kontext des Kolonialismus zu einer kulturell erfahrbaren Hegemonie im Sinn Gramscis, deren Selbstverständ‐ lichkeit man sich kaum entziehen kann. Auch nach Ende der politischen 81 2.9 Hegemonie. Zusammenfassung 131 Vgl. auch die Abschnitte 1.2, 1.4 und 3.8. 132 Ashcroft/ Griffiths/ Tiffin, Post-Colonial Studies, 107. 133 Nehring/ Tielesch, Postkoloniale Theologien, 21. Koloniale Überzeu‐ gungen sind tief kulturell verankert Kolonialherrschaft bleibt diese Hegemonie im kulturellen Sinn bestehen - sie wird zur ↗ ‚Kolonialität‘ Antonio Quijanos 131 . Der Hegemoniebegriff kann auch erklären, warum koloniale Werte und Abwertungen auch nach Erreichen der staatlichen Unabhängigkeit bestehen bleiben anstatt bekämpft zu werden. Die tiefe kulturelle Verankerung der kolonialen Überzeugungen führt dazu, dass sie auch in postkolonialer Zeit hegemonial bleiben. Denn „die Zustimmung wird durch die Beeinflussung des kolonisierten Subjekts durch den imperialen Diskurs erreicht, so dass eurozentrische Werte, Annahmen, Überzeugungen und Haltungen wie selbstverständlich als die natürlichsten oder wertvollsten akzeptiert werden. Die unvermeidliche Folge einer solchen Beeinflussung ist, dass das kolonisierte Subjekt sich selbst als peripher zu diesen eurozentrischen Werten versteht, während es gleichzeitig deren Zentralität akzeptiert.“ 132 Genau dieselbe Problematik findet sich nach Nehring und Wiesgickl auch in kirchlichen und theologischen Kontexten: „Für die Theologie ergeben sich hier wichtige Ansatzpunkte für die Frage, wie Menschen anderer Religionen und Kulturen ein missionarisches Christentum der Europäer für sich annehmen konnten, was sie davon übernommen haben und wo sie Formen entwickelt haben, in denen Widerstand gegenüber den westlichen Missionaren möglich gewesen ist.“ 133 In den allermeisten Kolonialsystemen europäischer Provenienz waren Kir‐ che und Mission zentrale Akteurinnen, die sich die koloniale Herrschaft zunutze machten und sie zugleich häufig legitimierten. Die zeitgenössische Theologie untermauerte dabei in der Regel die jeweilige Argumentation, wenngleich es natürlich auch theologischen Widerstand zu bestimmten Auswüchsen des Kolonialismus oder sogar zum kolonialen Projekt gab. So kritisiert → Musa Dube „die koloniale Ideologie der Unterdrückung, die ihre Opfer als Menschen charak‐ terisiert, die aus ihrer eigenen schrecklichen Unzulänglichkeit errettet werden müssen. Dieses koloniale Konstrukt stellt den Westen weiterhin als Zentrum aller kulturellen Errungenschaften dar, ein Zentrum mit einem angeblich erlösenden 82 2 Diskurspraktiken 134 Dube, Postkolonialität, 95. 135 Vgl. Silber, El eurocentrismo. 136 Gramsci, Gefängnishefte, 783. Impuls, während es alle anderen Kulturen zu einem Projekt der Zivilisation, der Christianisierung, der Assimilation und der Entwicklung degradiert.“ 134 Darüber hinaus lässt sich in der Theologie ein eigenes Interesse an einer eurozentrischen Hegemonie erkennen 135 . Gerade der katholische Zentralis‐ mus, der gleichzeitig zur Expansion des europäischen Kolonialismus aus verschiedenen Gründen strukturell vertieft und organisatorisch abgesichert wurde, schuf sich eigene Überzeugungssysteme von der Überlegenheit europäischer Wissenschaft allgemein und Theologie im Speziellen. Dieser ↗ Eurozentrismus überstand auch geisteswissenschaftliche Krisenzeiten wie den Humanismus, die Reformation, die Aufklärung und die Postmo‐ derne weitgehend unbeschadet. So wird beispielsweise kritisch analysiert, dass Theologinnen und Theo‐ logen aus postkolonialen Kontexten, die einen eigenständigen Entwurf kontextueller Theologie vorlegen möchten, sich wie selbstverständlich mit den entsprechenden Diskursen in der europäischen Theologie befassen müssen, während es für die Theologie in Europa - auch in einer globalisier‐ ten Weltkirche - offenbar möglich zu sein scheint, theologische Diskurse, die als universal zu gelten beanspruchen ohne jede Bezugnahme zu den Theologien des Südens oder einen Dialog mit ihnen zu führen. Diese Selbstverständlichkeiten, die auf der eurozentrischen kolonialen Hegemonie beruhen, werden in der postkolonialen Kritik aufgelöst und dekonstruiert. Zur Entzauberung dieser Hegemonie tragen auch der Dialog mit anderen Wissenssystemen und Traditionen und das Aufgreifen kriti‐ scher und widerständiger ↗ Epistemologien bei. Während diese Formen des Widerstands und der Konstruktion alternativer Wissensformen Gegenstand des vierten und fünften Kapitels sein werden, steht im nächsten Kapitel die postkoloniale Kritik an den direkteren Formen der Unterdrückung und Ausbeutung im Vordergrund. Um die bekannte Formel von Antonio Gramsci aufzugreifen: „Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie, gepanzert mit Zwang“ 136 . Ging es in diesem Kapitel vor allem um die Fragen der Hegemonie, so widmet sich das nächste eher dem Zwang. 83 2.9 Hegemonie. Zusammenfassung 3 Machtbeziehungen Wenn Gramsci den Staat als eine mit Zwang abgesicherte hegemoniale Herr‐ schaft betrachtet, so können auch der Kolonialismus und die ihm folgen‐ den postkolonialen Herrschaftsverhältnisse als diskursiv oder hegemonial gerechtfertigte und durch äußeren Zwang aufrechterhaltene Machtbezie‐ hungen analysiert werden. Die kolonialen Machtbeziehungen, die meist militärisch und polizeilich gesichert wurden, transformierten sich dabei im Lauf der Zeit, insbesondere nach der jeweiligen formellen staatlichen Un‐ abhängigkeit der Kolonialgebiete, in vielfältige andere Machtverhältnisse, die politischer und wirtschaftlicher Art, rassistisch oder geschlechtsbezogen waren. Auch kirchliche und missionarische Machtasymmetrien setzen bis in die Gegenwart die kolonialen Herrschaftsstrukturen fort. Diese Machtbeziehungen werden nicht selten diskursiv verschleiert. In dieser Hinsicht bestehen selbstverständlich enge Beziehungen zwischen den Themen und Analysen dieses Kapitels und denen des vorangegangenen. Überschneidungen lassen sich daher nicht immer vermeiden. In diesem Kapitel stehen aber die äußeren, strukturellen, institutionellen und recht‐ lichen Aspekte der Kritik an postkolonialen Herrschaftsbeziehungen im Vordergrund. Postkoloniales Denken setzt sich eben - entgegen einem verbreiteten Vorwurf - nicht nur mit kulturellen und diskursiven Aspekten von Herrschaft auseinander, sondern zielt auch auf gesellschaftliche Verhält‐ nisse, die sich eher auf einer strukturellen Ebene befinden. Das Zusammen‐ wirken von Analysen auf struktureller und auf diskursiver Ebene verschafft den postkolonialen Studien hingegen einen Vorteil beim Aufdecken der komplexen und vielgestaltigen Herrschaftsformen, die der Kolonialismus herausgebildet, hinterlassen und weiterentwickelt hat. Nach dem Ende des Kolonialismus haben diese Strukturen nicht einfach überlebt, sondern sich transformiert - gerade auch unter dem Einfluss des Widerstands und der Unabhängigkeitsbewegungen - und in vielfältiger Weise verformt. Die rein historische Erinnerung an die kolonialen Macht‐ verhältnisse kann daher nur als ein Element ihrer Analyse dienen. Darüber hinaus nehmen die postkolonialen Studien auch weitere Methoden der Herr‐ schaftsanalyse in Anspruch, um den komplexen und vielfach verschleierten Charakter der postkolonialen Machtstrukturen dekonstruieren zu können. Aspekte und Per‐ spektiven strukturel‐ ler Macht‐ ausübung in postko‐ lonialen Kontexten Ohne Anspruch auf Vollständigkeit werden in diesem Kapitel verschie‐ dene Aspekte und Perspektiven struktureller Machtausübung in postkolo‐ nialen Kontexten vorgestellt. Sie werden dabei wieder - wie schon im letzten Kapitel - mit Beispielen aus postkolonial-theologischen Arbeiten illustriert, um die Auswirkungen dieser Analysen auf theologische Methoden und In‐ halte zu dokumentieren. Zugleich wird auch der Beitrag sichtbar, den kriti‐ sche, postkoloniale Theologien für die Analyse von Herrschaftsbeziehungen und zugleich für den Widerstand gegen sie leisten. Neben offenen Herrschaftsbeziehungen, z. B. im politischen Bereich (3.1), finden sich strukturelle Abhängigkeiten auch in der Wirtschaft (3.2), in der Religion (3.3) und im Landbesitz (3.4). Fragen der Zugehörigkeit und der Exklusion weisen neben diskursiven auch strukturelle Aspekte auf (3.5). Weitere Perspektiven postkolonial-theologischer Analysen, die hier aufgezeigt werden, sind Gewalt gegen Frauen (3.6) und die Unsichtbarkeit in Unterdrückungsverhältnissen als Machtstrategie (3.7) Mit dem Begriff der Kolonialität der Macht (3.8) wird schließlich ein Zwischenfazit über die beiden eher analytisch und dekonstruktiv orientierten Kapitel 2 und 3 gezogen. Auch den Machtbeziehungen, die in diesem Kapitel nun im Mittelpunkt stehen, ist - ähnlich den im vorausgegangenen Kapitel untersuchten kultu‐ rellen und diskursiven Formen der hegemonialen Herrschaft - eine gewisse Selbstverständlichkeit oder sogar ‚Gottgegebenheit‘ eigen. Da die christliche Missionierung in der Regel ein wichtiges Element postkolonialer Kulturen darstellt, werden die bestehenden Machtverhältnisse nicht selten als religiös legitimiert oder sogar determiniert aufgefasst. Wie andere kulturell sank‐ tionierte Strukturen anerkennt man sie jedoch wenigstens als natürlich oder historisch notwendig. Diese scheinbare Selbstverständlichkeit - sei sie religiös oder säkular begründet - stellt eine wichtige Herausforderung für die postkoloniale Analyse dar. 3.1 ‚Der alles so herrlich regieret‘? Leben im Imperium Der Begriff des Imperiums wird in postkolonialen Theologien gerne einge‐ setzt, weil er metaphorisch den sozialgeschichtlichen Kontext des Neuen Testaments und teilweise der Bibel insgesamt aufgreift. Die Auseinander‐ setzung der biblischen AutorInnen vor allem mit dem römischen Imperium hat deutliche Spuren in den Texten hinterlassen, die in postkolonialen Exe‐ 86 3 Machtbeziehungen 1 Vgl. etwa Wind, Christsein im Imperium. 2 Vgl. Hardt / Negri, Empire; dies., Empire - zwanzig Jahre später; Rivera, Ränder, 149-157. 3 Zit. nach Dube, Rhodes Must Fall, 94. Glorifizie‐ rung göttli‐ cher Regie‐ rung gesen und biblisch orientierten theologischen Untersuchungen herausgear‐ beitet werden 1 . Trotz seiner neutestamentlichen Ursprünge, die ein Leiden unter dem Imperium und an der Praxis seiner Machtausübung widerspie‐ geln, zeigen postkoloniale Theologien auf, dass das Christentum in kolo‐ nialen und postkolonialen Kontexten sich häufig an der Seite der imperialen Macht befand und an ihr partizipierte. Christliche Legitimation von Herr‐ schaft kann sich dabei auch in einer Glorifizierung göttlicher Regierung ausdrücken, wie in dem Liedzitat, das in der Überschrift dieses Abschnittes steht. Eine Übertragung dieser Verherrlichung auf säkulare Macht war und ist dabei häufig nicht ausgeschlossen. Zugleich beziehen sich postkoloniale AutorInnen häufig mehr oder we‐ niger explizit auch auf den Empire-Begriff von Michael Hardt und Antonio Negri 2 . Diese entwickeln die historische Konzeption des Imperiums, das mehr oder weniger immer auf zentralisierender Machtausübung beruhte, zu einer Vorstellung weiter, in der globale Machtansprüche insbesondere des kapitalistischen Wirtschaftssystems nicht mehr auf der Macht eines einzelnen Staates oder dessen unmittelbarem Herrschafts- oder Hegemonie‐ bereich beruhen, sondern auf vielfältigen, teils widersprüchlichen und teils brüchigen Ordnungen, die flexibel und dynamisch auch auf Widerstände und Gegenbewegungen reagieren können, ohne dabei zentral gesteuert zu sein. Der Imperiumsbegriff kann auch verwendet werden, um die aktuellen Konsequenzen der historischen Hinterlassenschaften des Kolonialismus zu benennen. In diesem Sinn schreibt der chinesisch-nordamerikanische Exeget Benny Liew Tat Siong: „Der Unterschied zwischen Imperialismus und Kolonialismus erklärt beispiels‐ weise, warum viele frühere Kolonien sich immer noch unter der indirekten oder informellen Herrschaft anderer befinden, [eine Herrschaft,] die frühere Kolonien einschließt, aber nicht auf diese beschränkt ist.“ 3 In diesem weiten Bedeutungsspektrum von biblischen, historischen und postmodernen Vorstellungen vom Imperium bewegen sich in der Regel auch postkoloniale theologische Reflexionen, in denen der Begriff eine Rolle spielt. Gemeinsam ist diesen unterschiedlichen Vorstellungen, dass damit 87 3.1 ‚Der alles so herrlich regieret‘? Leben im Imperium 4 Vgl. Rieger, Christus und das Imperium. 5 Vgl. ebd., 21-52. Legitima‐ tion impe‐ rialer Herr‐ schaft eine weltumspannende politische Herrschaft gemeint ist, die tiefgreifende Konsequenzen in wirtschaftlichen und kulturellen Bereichen nach sich zieht. Ein aufschlussreiches Beispiel für eine solche theologische Imperiums‐ kritik bietet die vergleichende historische Studie über die Geschichte der Christologien durch die Jahrhunderte aus der Perspektive ihrer Wechsel‐ wirkungen mit den jeweiligen Imperien von → Jörg Rieger 4 . Einerseits wird nach seiner Analyse die Christologie von den jeweils bestimmenden Herr‐ schaftsideologien beeinflusst und übernimmt Elemente daraus für die Be‐ stimmung der theologischen Bedeutung Jesu Christi. Andererseits zeigt Rie‐ ger, wie Christologien immer auch zur Legitimation imperialer Herrschaftsinteressen missbraucht wurden. Schließlich verweist er jedoch auch auf die Macht des Widerstands, die den Christologien immer eigen ist, und die vom jeweiligen Imperium nicht vollständig absorbiert und kontrolliert werden kann. Rieger stellt zu diesem Zweck zunächst dar, inwiefern die ersten Chris‐ tologien imperiumskritisch waren: Paulus und andere neutestamentliche AutorInnen gaben dem Auferstandenen den Herrschaftstitel „Kyrios“ oder „Herr“, der - damals mehr noch als heute - mit patriarchaler Machtaus‐ übung korrelierte, aber in direkter Konkurrenz zu den Herrschaftsansprü‐ chen zeitgenössischer ‚Herren‘ oder ‚Kyrioi‘ konzipiert war: Wer sich zum ‚Herrn‘ Jesus Christus und dessen ohnmächtiger Form der Machtausübung bekannte, leistete dem Kyrios des römischen Reiches, dem Kaiser oder anderen regionalen, lokalen und familiären Herren unmittelbaren Wider‐ stand. Paulus und zahlreiche frühe ChristInnen wurden dementsprechend als Staatsfeinde behandelt 5 . Spätere Etappen der christologischen Entwicklung - seit dem ersten Konzil unter Kaiser Konstantin im Jahr 325 n. Chr. und dem späteren Aufstieg des Christentums zur Religion des römischen Staates - partizi‐ pierten jedoch in starker Wechselwirkung an den weltlichen, imperialen Machtbeziehungen. Rieger macht dennoch bei jeder Etappe dieser Entwick‐ lung darauf aufmerksam, wie die Christologie, trotz ihrer Einbindung in politische Hierarchien, durch die lebendige Erinnerung an die historische Figur Jesu immer wieder Kraft zum Widerstand entwickelte, etwa mitten im 88 3 Machtbeziehungen 6 Vgl. ebd., 134-149. 7 Tinker, American Indian Liberation, 96. 8 Tinker, American Indian Liberation, 62. 9 Vgl. Monroy, Babel. kolonialzeitlichen Missbrauch der christlichen Religion durch Figuren wie Bartolomé de las Casas 6 . Für die Christologie ergibt sich aus dieser Analyse die wichtige Heraus‐ forderung, sich in jeder Etappe ihrer Entwicklung neu an den vom Imperium verdrängten Menschen und ihren Erfahrungen zu orientieren. Auf diese Weise kann sie ihr widerständiges Potenzial aktivieren. Ansonsten läuft sie Gefahr, sich in die imperialen Herrschaftsstrukturen einzufügen und sie zu stützen. Zugleich muss sie sich immer wieder selbstkritisch mit den vielfältigen Verflechtungen zwischen der christologischen Glorifizierung der Herrschaft Jesu Christi und der Legitimierung der imperialen Macht auseinandersetzen. Der nordamerikanische indigene Theologe George E. Tinker kritisiert in ähnlicher Weise den Gebrauch christologischer Titel, die sich mit imperialen und kolonialen Konzepten verbinden. Der Kyrios-Titel erinnert in seiner englischen Übersetzung ‚Lord‘ bis in die Gegenwart an die Unterwerfung der nordamerikanischen IndianerInnen durch englische und US-amerikanische ‚Herren‘: „Jesus als Herrn anzurufen, bedeutet, der kolonialen Wirklichkeit neuer hierar‐ chischer Sozialstrukturen nachzugeben; es bedeutet, die Eroberung als endgültig zu akzeptieren und sich zum Komplizen unseres eigenen Todes zu machen, das heißt, des fortwährenden Genozids an unseren Völkern.“ 7 Für Tinker ist es daher unabdingbar, dass die Theologie, „wenn sie irgendei‐ nen legitimen Anspruch auf Universalität erheben will“ 8 , die Begrenzungen der europäischen Kultur überschreiten und mit Kulturen in Dialog treten muss, die radikal anders denken und sprechen. Juan Bosco Monroy, Theologe und Bibelwissenschaftler aus Peru, macht an einem anderen Beispiel deutlich, wie ein solcher imperiumskritischer Zugang auch die Interpretation von Bibeltexten grundlegend verändern kann: In einem traditionellen Verständnis der Erzählung vom Turmbau zu Babel (Gen 11,1-9) 9 wird der Abbruch der Bauarbeiten am Turm, die Verwirrung der Sprachen und die Zerstreuung der Menschen häufig als Strafe Gottes für die Hybris der Menschen betrachtet. 89 3.1 ‚Der alles so herrlich regieret‘? Leben im Imperium Sprachen‐ vielfalt als Bereiche‐ rung Aus postkolonialer Perspektive untersucht Monroy jedoch in diesem Fall zunächst den Entstehungskontext der biblischen Geschichte: ‚Babel‘ zeigt sich hier in seiner Analyse als Symbol für den Anspruch einer imperialen Weltherrschaft, in der u. a. durch die Durchsetzung einer Einheitssprache Herrschaft optimiert und durch Zwangsarbeit (Ziegelherstellung) Großpro‐ jekte durchgeführt werden. Die Ziegel erinnern zudem in einem biblisch-in‐ tertextuellen Bezug an die Knechtschaft des Volkes Israel in Ägypten (vgl. Ex 1,13). Gottes Eingreifen wird so von den Unterdrückten als Befreiung, nicht als Strafe erfahren: Das Imperium wird gebrochen, sein Mega-Bauprojekt zerstört und die Zwangsarbeit beendet. Auf diese Weise eröffnet sich ein veränderter Blick auf den Text, der auch neue, herausfordernde Verbindungen zur Gegenwart sichtbar macht: Die Vielfalt der Sprachen kann dann sogar als Bereicherung und nicht als Strafe gesehen werden, sowohl vor wie auch nach der Verwirrung der Sprache in Babel. Denn die unmittelbar vorausgehende Völkertafel ordnet die Men‐ schen in allen Bereichen der Welt „nach ihren Sprachen in ihren Ländern, nach ihren Völkern“ (Gen 10,31). In dieser Vielfalt werden die Menschen im Text gesegnet. Ebenso wie die globale Vereinheitlichung von Kultur und Sprache dienen auch imperiale Großprojekte bis heute noch mittels Aus‐ beutung und Zwangsarbeit der Förderung und Sicherung der Macht der Herrschenden. Der Text kann so in der Gegenwart als Symbol der Hoffnung auf kulturelle Vielfalt, wirtschaftliche Unabhängigkeit und politische Be‐ freiung gelesen werden. Monroy verknüpft so eine veränderte Sichtweise auf die Bibel mit der kritischen Analyse heutiger Machtstrategien des Imperiums, seinen Homo‐ genisierungsbestrebungen in Sprache und Kultur, der schweren und ent‐ fremdenden Arbeit und lässt den Gott der Turmbaugeschichte als Befreier von imperialen Machtansprüchen erkennbar werden. In vergleichbarer Form stellen auch andere postkoloniale TheologInnen die enge Verknüpfung von Christentum und Machtausübung in Frage und lesen bekannte Texte aus Bibel und Tradition neu, um sie aus den Perspektiven der Subalternen als Gute Nachrichten der Befreiung und Ermächtigung interpretieren zu können. 90 3 Machtbeziehungen 10 González Casanova, Sociología de la explotación, 221-250. 11 Vgl. Kern, Theologie der Befreiung, 54-61. Depen‐ denztheorie 3.2 Losgekauft? Wirtschaftliche Abhängigkeit und christliche Erlösung Die Unabhängigkeitserklärungen kolonisierter Staaten brachten in aller Regel keine echte wirtschaftliche Unabhängigkeit mit sich. Im Gegenteil setzten sich gerade im ökonomischen Bereich die Strukturen der Ausbeu‐ tung von Ressourcen und Menschen, die Exportabhängigkeit und die unge‐ rechte Konzentration von Besitz in den Händen weniger bisweilen nahtlos fort. Dabei wechselten in der Regel nur die Eigentumsverhältnisse von europäischen auf einheimische Eliten, wobei diese oftmals selbst ebenfalls europäischer Abstammung waren. Die Orientierung der Produktion in den nun ehemaligen Kolonien an den Interessen der Märkte in den europäischen Staaten blieb dabei jedoch in aller Regel bestehen, ebenso wie landwirtschaftliche Monokulturen, auf denen Baumwolle oder Nahrungsmittel für den Export und nicht so sehr für den Eigenbedarf angebaut wurden, und der exzessive Bergbau, um unverarbeitete Rohstoffe wie Holz, Edelmetalle, Erdöl und Mineralien in die Industriestaaten zu exportieren. Die Erlöse aus diesen exportorientierten Produktionsverhältnissen verblieben (und verbleiben bis in die Gegenwart) oft direkt oder indirekt in den Industriestaaten. Aus diesen Gründen - die hier nur sehr vereinfacht dargestellt werden können - erhebt sich in sehr vielen postkolonialen Staaten der Protest über eine in wirtschaftlicher Hinsicht nicht wirklich erreichte Unabhän‐ gigkeit der Kolonien. Mit Begriffen wie Neokolonialismus und „internem Kolonialismus“ 10 charakterisiert man externe und interne Faktoren der fortdauernden Abhängigkeit und Ausbeutung, von denen die ehemaligen Kolonien und besonders einzelne Regionen in ihnen betroffen sind. In Lateinamerika hat die Theologie der Befreiung bereits seit den 1960er Jahren auf diese wirtschaftlichen Abhängigkeiten aufmerksam gemacht und sie auch theologisch reflektiert, ohne dabei in der Regel eine ausdrückliche Verbindung zum ehemals kolonialen Status des Kontinents zu ziehen 11 . Gustavo Gutiérrez, der mit seinem gleichnamigen Werk 1971 als einer der Begründer der Theologie der Befreiung gilt, formuliert ganz im Sinn der damals in den kritischen Sozialwissenschaften neu entstehenden Depen‐ denztheorie: „Die Unterentwicklung der armen Völker als globaler sozialer 91 3.2 Losgekauft? Wirtschaftliche Abhängigkeit und christliche Erlösung 12 Gutiérrez, Theologie der Befreiung, 77f. 13 Ebd., 135. 14 Vgl. etwa Silber, Pluralität, 58-97. 15 Gutiérrez, Theologie der Befreiung, 277. 16 Vgl. etwa Sobrino, Christologie der Befreiung, 225-267. 17 Vgl. Silber, Among Sisters. 18 Chitando, The Bible as a Resource, 404. Tatbestand […] ist ein geschichtliches Subprodukt der Entwicklung anderer Länder“ 12 . Die Entwicklung der Industriestaaten wird in dieser Dependenz‐ theorie als eine wesentliche Ursache der Verarmung der Kolonien und der postkolonialen Staaten beschrieben. In dieser Situation stellt sich für Gutiérrez als zentrale theologische Her‐ ausforderung die Frage: „Welche Beziehung besteht zwischen der Erlösung und dem Prozeß der Befreiung des Menschen im Lauf der Geschichte? “ 13 Aus dieser Frage entsteht in den folgenden Jahren und Jahrzehnten die vielfältige Bewegung der Befreiungstheologie, die bis heute von weltweitem Einfluss ist 14 . In ihr wird das Schaffen und Nichtbeseitigen von Armut nicht nur als „Übel und […] Skandal“, sondern als „Ausdruck von Sünde“ 15 theologisch gekennzeichnet. Diese Sünde besitzt eine strukturelle Macht, die über das schlechte Handeln Einzelner hinausgeht. Wirtschaftliche Ungerechtigkeit wird in der Befreiungstheologie auch als Götzendienst gebrandmarkt, dem Widerstand geleistet werden muss 16 . In den letzten Jahren vertieft sich ein Dialog zwischen Befreiungstheolo‐ gien und postkolonialen und dekolonialen Studien, in dem die theologische Bewertung wirtschaftlicher, politischer und sozialer Unterdrückung mit an‐ deren Fortentwicklungen kolonialer Machtausübung in Beziehung gesetzt wird 17 . Auch in anderen Regionen der Welt wird die postkoloniale wirtschaftliche Abhängigkeit von den Industriestaaten theologischer Kritik unterzogen. So schreibt der Historiker und Religionswissenschaftler Ezra Chitando aus Zimbabwe: „Globale wirtschaftliche Akteure sind nur an Afrika interessiert, um ihre eige‐ nen Bedürfnisse und Launen zu befriedigen. Obwohl Afrika sehr gut mit Öl, Mineralien, bebaubarem Land und anderen Ressourcen ausgestattet ist, taumelt der Kontinent immer noch von deren Ausbeutung durch gierige und gerissene externe Akteure, die Hand in Hand mit skrupellosen internen Eliten arbeiten.“ 18 92 3 Machtbeziehungen 19 Ebd., 407. 20 Ebd., 404. 21 Ebd., 408. Diese Gier angesichts der Rohstoffe der Regionen des Globalen Südens beschreibt nicht nur das Verhältnis zwischen Europa und seinen Kolonien, sondern gilt in der Erfahrung Chitandos gerade auch für die Wirtschafts‐ beziehungen in den postkolonialen Zeiten der Globalisierung 19 . Chitando stellt der kapitalistischen Ausbeutung, durch die fremdes Eigentum zur käuflichen Ware gemacht wird, eine biblische Erinnerung entgegen: In der Erzählung von Nabots Weinberg (1 Kön 21,1-19) werde deutlich, dass es möglich sei, sich auf die Bibel, und damit ein grundlegendes Dokument der Tradition der Kolonialstaaten, zu beziehen, um den Respekt vor dem Erbe der Vorfahren und vor Gott gegen die koloniale Ausbeutung in Anspruch zu nehmen: „Nabot war überzeugt, dass sein Erbteil nicht zur Ware gemacht und weggegeben werden konnte“ 20 . Chitando führt noch ein weiteres Beispiel für eine befreiende postkoloniale Bibelinterpretation an: „Die Lektüre der Erzählung in Joh 5,1-9, von dem Menschen, der heil werden wollte und eine strategische Position bei dem Teich von Betesda einnahm, kann sehr ermächtigend wirken. Der Mensch war ‚so nah und doch so fern‘. Ähnlich haben wir AfrikanerInnen unsere Ressourcen ganz in unserer Reichweite, aber wir kämpfen darum, an sie heranzukommen und zu unserem besten Nutzen einzusetzen.“ 21 Angesichts der wirtschaftlichen Abhängigkeit von reicheren Staaten und internationalen Korporationen geht es also auch darum, dass die Ausgebeu‐ teten selbst zu AkteurInnen werden können und sich nicht in eine selbst oder fremd zugeschriebene Opferrolle drängen lassen. Biblische Erzählungen wie die vom kranken Menschen am Teich Betesda lassen sich aus dieser Perspektive dahingehend interpretieren. Die deutsche Theologin Marion Grau, die in Norwegen lehrt, zeigt, wie sich in postkolonialen Theologien Motive aus der kapitalistischen Ökono‐ mie mit klassischen theologischen Narrativen zu einer widerständigen und sogar ironischen neuen Gestalt verschmelzen lassen. Sie greift ein Bild Gre‐ gors von Nyssa auf, der im 4. Jahrhundert die von Christus am Kreuz be‐ wirkte Erlösung als vorsätzlichen Betrug interpretiert: Gott habe den Teufel mit Falschgeld bezahlt, denn der Preis, den Gott für die Rettung der Mensch‐ 93 3.2 Losgekauft? Wirtschaftliche Abhängigkeit und christliche Erlösung 22 Grau, Göttlicher Handel, 315; vgl. 308-318. Gott als „Trickster“ heit, d. h. den Tod Christi, gezahlt habe, war eine Täuschung, da Christus später auferstanden sei: Gott als „Trickster“ 22 , der sich über den betrogenen Teufel noch lustig macht. Dieses Narrativ kann in einer Welt kapitalistischer Abhängigkeiten als Ausnahme von einer gültigen Regel interpretiert werden, deren Übertretung Gott im Kampf gegen den Teufel (und zum Spott über ihn) zugestanden wird, aber in ihrer Gültigkeit für menschliche Wirtschaftsbeziehungen nicht prinzipiell in Frage gestellt wird. Es kann aber auch das Potential entwickeln, Trickster, Fälscher und andere ÜbertreterInnen kapitalistischer Regelungen zum Vorbild für die Befreiung derjenigen zu nehmen, die von diesen Regeln unterdrückt und entmenschlicht werden. Das klassische soteriologische Bild des Loskaufs kann so zu einer politischen Antwort auf die befreiungstheologische Grundfrage nach der Beziehung zwischen der Erlösung und der Befreiung des Menschen führen. Postkoloniale Theologien machen - wie diese Beispiele zeigen - durch ihre kreativen Weiterentwicklungen biblischer und traditioneller Narrative nicht nur auf die Tatsache der wirtschaftlichen Unterdrückung in ihren Kontexten aufmerksam und verbinden sie mit theologischen Fragestellun‐ gen. Sie decken auch die Komplizenschaft traditioneller Theologien mit kolonialen Wirtschaftsbeziehungen auf und begründen aus der Praxis des antikolonialen und antikapitalistischen Widerstands neue theologische Dis‐ kurse, in denen die erlösende und befreiende Kraft des Glaubens auch auf Machtstrukturen ökonomischer Abhängigkeiten angewendet werden kann. 3.3 „Missionieren ist Kolonisieren.“ Die Mission der christlichen Kirchen war ein integraler Bestandteil des Kolonialismus. Zwar muss zwischen verschiedenen missionarischen Unter‐ nehmungen und Missionspraktiken unterschieden werden, je nach Region und Kontext, Konfession und kolonialem Mutterland, sowie im Lauf der Jahrhunderte. Es gab auch Mission vor dem und außerhalb des europäischen Kolonialismus. Dennoch besteht ein so tiefer Zusammenhang zwischen beiden histori‐ schen Projekten, dass auch in der nichttheologischen und außerkirchlichen postkolonialen Kritik die christliche Mission fast immer eine entscheidende 94 3 Machtbeziehungen 23 Dube, Postcolonial Feminist Interpretation 3. Übersetzung nach Wollrad, Ihre Stimmen, 149; vgl. 148-153. Diese Geschichte wird auch in Lateinamerika mündlich tradiert, vgl. Hidalgo, Im Kampf, 211. 24 Dube, Postcolonial Feminist Interpretation, 3; vgl. 3-21. Zur historischen Erinnerung an den Landraub durch einen weißen Mann, den Dubes Eltern in den 1950er Jahren erlitten, vgl. dies., Rhodes must fall, 85. 25 Dube, Rhodes must fall, 86. Dube spielt auf David Livingstone an, der gefordert hatte, „Zivilisation - Christentum und Kommerz - sollten für immer unzertrennlich sein“. Vgl. dies., Postcolonial Feminist Interpretation, 6. negative Rolle spielt. → Musa Dube bringt diese Kritik mit einer kleinen Geschichte auf den Punkt, die in verschiedenen Varianten und in unter‐ schiedlichen Regionen mündlich überliefert wird: „Als der weiße Mann in unser Land kam, hatte er die Bibel und wir hatten das Land. Der weiße Mann sagte zu uns: ‚Lasset uns beten.‘ Nach dem Gebet hatte der weiße Mann das Land, und wir hatten die Bibel.“ 23 Dube kommentiert, dass Mission und Landraub in der kolonialen Erfahrung subsaharischer AfrikanerInnen unmittelbar miteinander einhergingen. Die Bibel - als Symbol für das europäische Christentum, hier in einer protestan‐ tischen Ausformung - wird zwar zunächst als Fremdkörper gesehen, gelangt aber durch den mit dieser Geschichte charakterisierten Missionsprozess unzweifelhaft auch in den Besitz der afrikanischen Menschen, die sie bis heute als etwas Eigenes benutzen, jedoch um den Preis der Ausplünderung, so dass sie ihr angestammtes Land nicht mehr als Eigenes behalten durften. „Die Geschichte erklärt“ also, „wie der schwarzafrikanische Besitz der Bibel damit verbunden ist, dass der weiße Mann das Land afrikanischer Menschen geraubt hat.“ 24 Auf diese Weise konnte die Mission der praktischen Umsetzung der Eroberung, aber auch ihrer Rechtfertigung dienen: „Die Archive christlicher Missionen bringen sehr eloquent zum Ausdruck, dass ihre Arbeit im Dienst des kulturellen Imperialismus des Kolonialreiches stand, da diese Dienstleistungen in der Regel mit der expliziten Verwerfung indigener Strukturen, Kulturen, Religionen [und] Ökonomien einhergingen, im Versuch, sie durch Christentum, Kommerz und Zivilisation zu ersetzen, nämlich die ihrer Mutterländer, der Kolonialmächte.“ 25 Darüber hinaus übte Mission natürlich auch eine religiöse Macht aus: Unterstützt durch den Kolonialismus, konnten europäische MissionarInnen 95 3.3 „Missionieren ist Kolonisieren.“ 26 Vgl. Dube, Postcolonial Feminist Interpretation, 12-15. 27 Kwok, Postcolonial Imagination, 202, unter Verweis auf Raimundo Panikkar. Vgl. auch meine kritische Analyse des Dialogs in der Missionspraxis in Silber, Synodalität, 267-270. 28 Hölzl, Rassismus, 16. entscheiden, welche Religion die eroberten Völker zu praktizieren hätten. Die einheimischen Religionen wurden vielfach einfach eliminiert oder zur teuflischen Praxis erklärt 26 . In anderen Fällen entschieden die missionieren‐ den Eroberer oder sogar ihre europäischen Zentralen, welche Elemente dieser Religionen mit dem Christentum vereinbar waren und welche nicht. Im Katholizismus setzt sich diese eurozentrische Haltung durch die hierar‐ chische innere Organisation häufig bis in die Gegenwart hinein fort. In der Missionsgeschichte haben diese Verhältnisse sich vielfach trans‐ formiert. Die christliche Mission der Gegenwart setzt stärker auf Dialog, freiwillige Überzeugung und Selbstorganisation. → Kwok Pui-lan macht allerdings nicht zu Unrecht darauf aufmerksam, dass die europäische Mis‐ sionstheologie erst dann anfing nach Dialog zu rufen, als der historische Kolonialismus politisch bereits vorbei war und sie dadurch den Rahmen politischer Herrschaft, den dieser darstellte, eingebüßt hatte 27 . Unbestreitbar hat die christliche Mission in ihrer Geschichte auch Wider‐ stand gegen den Kolonialismus hervorgebracht, wie sich an den Beispielen bekannter Figuren wie Bartolomé de las Casas zeigt. Diese sind jedoch in der Minderheit und in der Gesamtschau weitgehend unwirksam geblieben. Vielfach wird darüber hinaus auch darauf hingewiesen, dass die Missiona‐ rInnen in der Regel eine andere Motivation mitgebracht hatten als die Eroberer. Richard Hölzl etwa macht geltend, dass „der religiöse Impetus der Konversionsmission“ 28 sich nicht vollständig mit der Praxis von Eroberung, Ausplünderung und so genannter Zivilisierung im Kolonialismus in Über‐ einstimmung bringen lassen. Allerdings deckt er mit seiner Untersuchung deutscher katholischer AfrikamissionarInnen des 19. Jahrhunderts auch selbst eine deutliche Nähe von Mission und Kolonialismus auf und verweist dabei zugleich auf deren eigene rassistische missionstheologische Argumentationen: „Die theologisch-missionarischen Rassismen des 19. Jahrhunderts erklärten ver‐ meintliche biologische und kulturelle Unterlegenheit aus der Bibel heraus. Indem sie die Lebensweisen von Afrikanern als Strafe Gottes oder als Werk des Teufels charakterisierten, nahmen sie die größtmögliche theologische Hierarchisierung 96 3 Machtbeziehungen 29 Ebd., 15. 30 Dube, Postcolonial Feminist Interpretation, 10, mit Verweis auf den kongolesischen Anthropologen Valentin-Yves Mudimbe. 31 Hölzl, Rassismus, 15. Verschleie‐ rung der Kolonialis‐ musinte‐ ressen vor. Allerdings zeichneten sie Afrikaner auch als passive Opfer, die durch das Wirken der Mission und das Leiden der Missionare erlöst werden konnten.“ 29 Eroberung und Zivilisierung, ja sogar Enteignung und Versklavung konnten unter dieser Rücksicht als großherzige Wohltat von Kolonisierung und Mis‐ sion interpretiert werden: In zivilisatorischer Perspektive wurden die Men‐ schen in den Kolonien ‚weiterentwickelt‘ und in religiöser Hinsicht ‚erlöst‘. Dube schreibt: „Christianisieren, Kolonisieren, Zivilisieren wurden ebenso wie das Versklaven Teil der erlösenden Mission“ 30 . Sich dieser Mission zu widersetzen, konnte aus einer christlichen Perspektive (der damaligen Zeit) nur falsch sein. Die religiöse und theologische Begründung für die Mission erweist sich hier als Verschleierung der tatsächlichen Interessen des Kolo‐ nialismus. Sowohl dem kolonialen als auch dem missionarischen Interesse diente die gezielte theologische Abwertung der einheimischen Religionen. Richard Hölzl führt das Beispiel des bereits zitierten deutschen Spiritaners Anton Horner an, der noch 1870 die Religionen der EinwohnerInnen Sansibars als das Werk des Teufels bezeichnete. Diese Abwertung ließ er in Unterstellun‐ gen von „Kindsmord und Schändung“ konkret werden, um sie sogleich zur Rechtfertigung der Eroberung zu verwenden: „‚Wie man sieht, sind diese Seelen […] sehr verthiert und unter das Joch des Satans gebeugt.‘ Umso größer müsse der Mut sein, ‚ihnen zu Hilfe zu kommen‘.“ 31 In anderen Fällen werden die nichtchristlichen Religionen nicht in die‐ ser drastischen Weise abgewertet, aber der eurozentrischen Ideologie der Überlegenheit entsprechend (s. o. 2.4) werden sie als rückständig, primitiv, reinigungsbedürftig oder irrational gekennzeichnet, und es werden ihnen allerhand negativ bewertete Praktiken zugeschrieben. Ihre Missionierung, die neben der Bekehrung zum Christentum dann auch die Abkehr von den früheren Religionen impliziert, entspricht also nicht nur einem scheinbar religiösen Auftrag, sondern auch der selbst zugeschrieben Zivilisierungsauf‐ gabe, mit der man den europäischen Imperialismus rechtfertigte. Den engen Zusammenhang zwischen Mission und Kolonialismus kann man daher mit Joseph Schmidlin, der als Begründer der deutschsprachigen 97 3.3 „Missionieren ist Kolonisieren.“ 32 Beide Zitate nach Bosch, Transforming Mission, 306. 33 Gemeinsam für das Leben, Nr. 48. Finanzielle, strukturelle und personale Abhängigkei‐ ten afrikanischer Kirchen von Europa beschreibt auch Boniface Mabanza, Das Leben bejahen, 154-159. Entwick‐ lungspro‐ jekte Missionswissenschaft gilt, auf den knappen Nenner bringen: „Kolonisieren ist Missionieren [und] Missionieren ist Kolonisieren“. Schmidlin führte dazu aus: „Der Staat vermag die Schutzgebiete sich wohl äußerlich an- und einzugliedern; das tiefere Ziel der Kolonialpolitik, die innere Kolonisation, muss ihm die Mission vollbringen helfen. Durch Strafen und Gesetze kann der Staat den physischen Gehorsam erzwingen, die seelische Unterwürfigkeit und Anhänglichkeit der Eingeborenen bringt die Mission zustande.“ 32 Missionarische Machtbeziehungen wirken wie alle kolonialen Strukturen bis in die Gegenwart weiter und transformieren sich. Dies gilt nicht nur - wie oben erwähnt - für die katholische Kirche mit ihrer weltkirchlich-zen‐ tralistischen Struktur. In allen christlichen Kirchen mit kolonial-missio‐ narischer Vergangenheit überlappen sich - wenn auch in konfessionell unterschiedlich geprägter Weise - missionarische, postkoloniale und kle‐ rikal-presbyterale Machtstrukturen. Auch Probleme von Sexismus und Rassismus spielen zusätzlich in die postkoloniale Problemkonstellation mit hinein. Eine besondere Brisanz gewinnen postkoloniale missionarische Struktu‐ ren immer dann, wenn sie überdies mit Entwicklungsprojekten und anderen finanziellen Abhängigkeiten einhergehen. Die 10. Vollversammlung des Weltkirchenrates in Busan 2013 schreibt daher auch selbstkritisch in ihrer Missionserklärung: „Die Realität ist jedoch, dass Mission, Geld und politische Macht in strategischer Allianz verbunden sind. Obwohl wir in unserem Nachdenken über unsere Auf‐ gaben viel über das solidarische Engagement für die Armen als Mission der Kirche sagen, geht es in der Praxis manchmal sehr viel mehr darum, in den Zentren der Macht präsent zu sein, mit den Reichen zu essen und Geld einzuwerben, um die kirchliche Administration aufrechtzuerhalten.“ 33 Es kann daher nicht einfach angenommen werden, dass koloniale Macht‐ beziehungen, die auf Missionsverhältnissen gründen, mit dem Ende des Kolonialismus, mit dem weiterentwickelten Missionsverständnis des 20. 98 3 Machtbeziehungen 34 Budden, Following Jesus, 20. 35 Healy, Listening to the People. oder 21. Jahrhunderts oder mit dem selbstkritischeren Bewusstsein der MissionarInnen heute irrelevant geworden wären. Aus postkolonialer Per‐ spektive müssen sie auch weiterhin kritisch analysiert und begleitet werden, da sie wie alle Machtverhältnisse in diesen Kontexten von bleibender ↗ Kolonialität geprägt sind. Mission bleibt eine Frage postkolonialer Macht. 3.4 Landbesitz und Raumkonstruktionen Die kleine Geschichte von → Musa Dube über Bibel- und Landbesitz, die zu Beginn des letzten Abschnitts zitiert wurde, machte bereits auf die Problematik aufmerksam, dass Kolonisierung und Mission mit dem Raub indigenen Landes verbunden waren. Der australische Theologe Chris Budden schreibt über das erste Zusammentreffen von europäischen und indigenen Menschen (Aborigines) in Australien: „Die Beziehung zwischen den beiden Völkern begann mit einem Diebstahl. Die europäischen InvasorInnen vertrieben Menschen von ihrem Land.“ 34 Gleichgültig, ob diese InvasorInnen mit ihren Kolonien ‚nur‘ einen militä‐ rischen Stützpunkt schaffen, eine Missionsstation errichten, die landwirt‐ schaftliche Nutzung oder die Ansiedlung von Menschen aus dem Mutterland ermöglichen wollten: Immer nahmen sie sich das Recht heraus, das von ihnen scheinbar ‚entdeckte‘ Land in Besitz und damit anderen Menschen wegzunehmen. Allerdings variierte die Größe der geraubten Landfläche je nach Art der Kolonisierung. Auch die Methoden des Landraubs waren unterschiedlich: Nicht immer ging er mit Kriegen und gewaltsamer Vertreibung einher. Die neuseeländi‐ sche Autorin Susan Healy beschreibt verschiedene historische Vorgehens‐ weisen beim Landraub, die vom Vertrauens- und Vertragsbruch über die ‚legale‘ Enteignung durch die Privilegien der Eroberer bis hin zur gewaltsa‐ men Vertreibung und Inbesitznahme durch Krieg reichen. Immer wieder dokumentiert sie auch, wie Missionare und Bischöfe in Neuseeland und Großbritannien dieses Vorgehen förderten und legitimierten oder selbst praktizierten 35 . Allerdings dokumentiert sie auch Versöhnungsprozesse in der Gegenwart, in denen einzelne methodistische Gemeinden im Einverneh‐ 99 3.4 Landbesitz und Raumkonstruktionen 36 Ebd., 94-95. 37 Budden, Following Jesus, 6. 38 Ebd., 20. 39 Ebd., 21. Susan Healy beschreibt eine ganz ähnliche Verbindung der Maori Neuseelands zu ihrem konkreten Territorium. Vgl. Healy, Listening to the People, 73-78. Eine ähnliche Konzeption findet sich auch bei anderen Kulturen und wird von Ezra Chitando auch in der Bibel aufgezeigt (vgl. Kapitel 3.2.). 40 Budden, Following Jesus, 72. Landbesitz im euro‐ päischen Sinn men mit Autoritäten und Gemeinschaften der UreinwohnerInnen gestohle‐ nes Land wieder zurückgeben 36 . Erschwerend kommt sowohl beim Landraub als auch bei Versuchen der Rückgabe des geraubten Landes hinzu, dass es in der Vorstellungswelt vieler indigener Völker gar keinen Landbesitz im europäischen Sinn gibt. Denn dieser hängt an einer bestimmten kulturellen Vorstellung oder diskursiven Bestimmung dessen, was ‚Land‘ ist. Budden schreibt daher: „Der Gebrauch des Wortes ‚Land‘ (land) ist bezeichnend für eine der Schwierig‐ keiten, die der Versuch, in diesem Land (country) kontextuelle Theologie zu betreiben, mit sich bringt: das Ringen mit Sprache und Bedeutung. Diesen Ort ‚Land‘ (land) zu nennen, bedeutet, ihn innerhalb des europäischen Kolonialdis‐ kurses zu definieren. Dies ist ein Diskurs, der zu Landbesitz, ökonomischem Wert, abgemessenem Raum und Besitzverhältnissen führt. Es ist ein Diskurs, der gegen die Metaphern steht, die indigene Diskurse kennzeichnen: ‚Mutter Erde‘, ‚Ort‘, ‚country‘ oder ‚Zuhause‘ (home)“ 37 . Die europäischen Eroberer betrachteten das Land „weitgehend als eine Ware“ 38 , die gekauft oder verkauft werden oder gegen ein anderes Land eingetauscht werden konnte. Für indigene Vorstellungen kann jedoch der Mensch bzw. die Gemeinschaft nicht einfach vom Land weggehen und woanders ein neues Leben anfangen: Das Leben ist mit einem konkreten Stück Land, einem bestimmten Territorium verbunden. Budden schreibt: „Es gab eine intime soziale, religiöse und wirtschaftliche Verbindung zwischen dem Volk und seinem konkreten Ort. […] UreinwohnerInnen waren Teil des Landes, und es war Teil von ihnen. Als sie ihr Land verloren, verloren sie sich selbst.“ 39 In der europäischen Logik „wird die Erde zur ‚Landschaft‘ […] und zum ‚Landbesitz‘. […] Land (country) ist aber nicht einfach, wo Menschen leben, sondern wer sie sind“ 40 . 100 3 Machtbeziehungen 41 Tinker, American Indian Liberation, 72. 42 Nausner, Heimat als Grenzland, 196-197. Diese enge Verbindung von Land und Menschen wird auch bei nordame‐ rikanischen indigenen Völkern beschrieben. George Tinker, Theologe aus der Osage-Nation in den USA, charakterisiert diese Verbindung für seine indigene Weltsicht so: „Jede Nation hat eine gewisse Vorstellung davon, dass sie von spirituellen Kräften außerhalb ihrer selbst in eine Beziehung zu einem bestimmten Territorium gesetzt wurde und somit eine dauerhafte Verantwortung für dieses Territorium hat, so wie die Erde, insbesondere die Erde an diesem bestimmten Ort, eine kindliche Verantwortung gegenüber den Menschen hat, die dort leben.“ 41 Der österreichische Theologe → Michael Nausner, der in Schweden lehrt, weist auf eine weitere Besonderheit der diskursiven Raumkonstruktionen der australischen UreinwohnerInnen hin: Bei Feldstudien dokumentierte der Anthropologe Sam Gill eine Konzeption von „Territorium eben nicht als beständige Fläche, sondern als Land, definiert durch die Fußspuren und Fährten ringsumher. Weniger ein abgekapseltes Gebiet als vielmehr ein Netz von Spuren wird zum kennzeichnenden Bild des Landes. Das Land wird in Übereinstimmung mit den Reisen, die die Vorfahren unternommen haben, definiert. […] Die visualisierten Linien sind keine Trennungslinien, son‐ dern eher Linien der Verbindung mit den Ahnen und - was das Wichtigste ist - sie stehen nicht im Wettstreit mit anderen Reisewegen.“ 42 Die westlichen Vorstellungen, man könne Land mit Grenzen durchziehen, aufteilen, verkaufen, in ein anderes Territorium umsiedeln (oder vertrieben werden) oder Menschen durch Zäune davon abhalten, den Spuren ihrer Vorfahren zu folgen, lassen sich mit diesen Raumkonstruktionen in keiner Weise in Übereinstimmung bringen und letztlich nur mit Gewalt oder Herrschaft durchsetzen. Gewalt und Herrschaft legitimierten sich dann mit europäischen Vorstellungen von Landbesitz und einer spezifisch europäi‐ schen Wahrnehmung des Raums als abmessbarer und käuflicher Ware. Grenzen zwischen verschiedenen Landbesitztümern können von den Herrschenden im westlichen Sinn daher auch willkürlich errichtet und verschoben werden. Im Kolonialismus wurden nicht nur Grenzen zur Markierung von Landeigentum und Kolonialherrschaft gesetzt. Die Grenzen zwischen Kolonie und noch nicht kolonisierter ‚Wildnis‘ galt auch als 101 3.4 Landbesitz und Raumkonstruktionen 43 Vgl. Rivera, Ränder, 154. 44 Nausner, Heimat als Grenzland, 193. 45 Ebd., mit einem Zitat aus Bhabha, Die Verortung der Kultur, 309. Vgl. ausführlicher dazu auch unten 4.6. 46 Ebd., 199. 47 Budden, Following Jesus, 71. Grenze zwischen Zivilisation und Barbarei, Kultur und Natur, innen und außen, als Maß von Fortschritt und Entwicklung. Im Sinn einer bestimmten Vorstellung von entwickelter Zivilisation wurde daher auch argumentiert, dass das Verschieben dieser Grenzen zulasten indigenen Landes als ‚Gewinn‘ für die Eroberten im Hinblick auf ihre ‚Zivilisierung‘ gelten könne 43 . In der Perspektive der postkolonialen Studien wird darüber hinaus der binäre Charakter, der Grenzen im westlichen Denken eigen ist, prinzipiell kritisiert. Michael Nausner zieht dazu das Denken von Homi Bhabha heran und verweist zur Kritik des westlichen Grenz-Verständnisses auf „Bhabhas Analyse von Grenzen als komplexe Verhandlungsfelder eher denn als dünne Trennungslinien“ 44 . Denn Grenzen können niemals Räume hermetisch voneinander trennen, vielmehr entsteht an ihnen immer „ein Rand der Hybridität, an dem kulturelle Differenzen einander ‚kontingent‘ und konfligierend berühren“ 45 . Für Nausner hat diese Analyse christologische Konsequenzen: Sie weckt ein „Verständnis von Jesus von Nazareth als einem Menschen des Grenzlandes. Jesus selbst, so würde ich behaupten, trägt dazu bei, die Vorstellung von einem festgelegten oder stabilen Territorium anzuzweifeln“. 46 Denn auch Jesus wird in den Evangelien als ein migrantischer, grenzüber‐ schreitender Wanderprediger beschrieben, der nicht für Landbesitz steht, sondern für Beziehungen. Auch für Chris Budden zieht die Analyse zu Landbesitz und Landkonzep‐ tionen theologische Konsequenzen nach sich: „Um über den Ort Gottes in Australien zu sprechen, muss man jenseits des Redens über Menschen zur Idee des ‚Landes (country)‘ kommen. […] Das bedeutet, […] sich an dem wachsenden Gespräch über Ökologie und Gottes Ort auf der Erde zu beteiligen.“ 47 Durch die postkoloniale Analyse wird die Theologie in die Lage versetzt, nach den sozialen, ökologischen und spirituellen Zusammenhängen von 102 3 Machtbeziehungen 48 Vgl. dazu auch die Überlegungen der ökofeministischen Theologie, unten 5.4. 49 Zit. nach Ashcroft, Threshold Theology, 5. 50 De La Torre, Identity Cross Dressing, 75. 51 Ebd. Land/ country zu fragen und Land so jenseits der Warenwirtschaft zu veror‐ ten. Für Budden bedeutet dies für die christliche Theologie, die trinitarischen Beziehungen zwischen dem christlichen Schöpfergott und dieser lebendigen Gegenseitigkeit in der indigenen Vorstellung von ‚country‘ zu erforschen und darzustellen. Auf diese Weise entwickelt die Theologie Konsequenzen nicht nur für eine versöhnende Herangehensweise an die Traumata des Landraubs der kolonialen Vergangenheit, sondern zugleich einen ökologi‐ schen Zugang für die Herausforderungen des Landes, der Erde und des Territoriums in der Gegenwart 48 . Der südafrikanische Theologe Tinyiko Sam Maluleke bringt die befrei‐ ungstheologische Absicht postkolonialer Theologien mit Anspielung auf die oben (3.3) von → Musa Dube zitierte Geschichte auf den Punkt: „Die Bibel gebrauchen, um das Land zurück zu bekommen und das Land zurückbekommen, ohne die Bibel zu verlieren.“ 49 3.5 Wer ist drinnen, wer draußen? Der auf Kuba geborene und in den USA lehrende Theologe Miguel De La Torre beschreibt anhand eigener Erfahrungen, wie die Hautfarbe eines Menschen von zahlreichen perspektivischen Faktoren abhängig ist. Er nennt sich einen „internationalen Cross-Dresser“ 50 , aber eben nicht im Hinblick auf modische Geschlechterstereotypen, sondern um auf diese Variabilität seiner eigenen Hautfarbe zu verweisen. Während in der Gemeinschaft der ExilkubanerInnen, in der er aufwuchs, „im Verlauf meiner prägenden Jahre die Vorstellung, dass ich ‚weiß‘ sei, betont wurde“ 51 , stellte er als Dozent später fest, dass er von seinen Studierenden in den USA als ‚braun‘ angesehen wurde. Die wahrgenommene Hautfarbe, analysiert De La Torre, hängt offenbar weniger an der tatsächlichen Pigmentierung der Haut als vielmehr an der kulturellen Rolle, die jemandem zugeschrieben wird: 103 3.5 Wer ist drinnen, wer draußen? 52 Ebd., 76. 53 Ebd., 79. 54 Castro Varela / Dhawan, Postkoloniale Theorie, 260; vgl. 261-265. „Als Latino, auch wenn ich helle Hautpigmentierung habe, bin ich braun in den Augen derjenigen, die über die Macht verfügen, zu schauen und meine Identität zu konstruieren.“ 52 Dies kann sich jedoch jederzeit ändern, beispielsweise bei US-BürgerInnen, wenn sie die USA verlassen, um an einer anderen Hochschule zu arbeiten: „Bis zu einem gewissen Maß, unabhängig von tatsächlicher Hautpigmentierung oder ethnischer Herkunft, werden sie alle marineblau - die Farbe des Umschlags der US-Reisepässe. […] Diejenigen, die vom zuhause vorherrschenden Blick als Nichtweiße definiert wurden, werden zu Ehrenweißen, wenn sie als Lehrende ins Ausland reisen.“ 53 Diese Überlagerung der tatsächlichen oder angenommenen Hautfarbe durch den symbolischen Wert des blauen Passes, der auf die Macht des Imperiums verweist, konnte De La Torre nicht nur bei sich selbst, sondern auch bei einem afroamerikanischen Kollegen beobachten. Identitätszuschreibungen durch ↗ Veranderung spielt sich also immer gleichzeitig auf mehreren Ebenen ab, die sich gegenseitig überlagern. Ge‐ schlecht, sozialer Status und Zugehörigkeit zu bestimmten anderen domi‐ nanten Gruppen (wie in der Kirche das Priesteramt oder die Ordination) treten zu den hier erzählten Beispielen von Hautfarbe, kultureller Gruppe, akademischem Status und Staatsangehörigkeit noch dazu. Je nachdem, zu welcher sozialen Gruppe eine Person in Differenz bzw. in Beziehung tritt, wird sein sozialer Ort neu definiert, und zwar sowohl durch die soziale Gruppe als auch durch die Person selbst. An diesem Beispiel lässt sich sehr gut erkennen, warum im Postkolonia‐ lismus Grenzen als Orte und Räume der ↗ Verhandlungen gelten und nicht als exakt definierbare und trennende Linien. Vor allem Homi Bhabha gilt als Theoretiker dieser Grenzverhandlungen. Auch wenn sein Konzept zu Recht dafür kritisiert wurde, dass es „in keiner Weise […] der Tatsache der bewaffneten, hoch kontrollierten Grenzen Europas und der USA gerecht wird,“ 54 erweist es sich doch als außerordentlich hilfreich, um die Auflösung von kulturellen Identitäten und Binaritäten an sozialen und kulturellen Grenzen zu beschreiben und zu verstehen. 104 3 Machtbeziehungen 55 González-Andrieu, The Good of Education, 63. 56 Ebd., 60. 57 Ebd., 64. Exklusion und Inklu‐ sion Dennoch ist gerade durch die Überlagerungen verschiedener Grenzbe‐ reiche oft nicht vorhersehbar, wie Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit, Exklusion und Inklusion einer bestimmten Person in einer sozialen Gruppe oder ihr gegenüber in einer konkreten Situation jeweils gehandhabt wird. Trotz dieser Unschärfen, und durch sie in komplexerer Weise, sind Inklu‐ sionen und Exklusionen wichtige Themen und Probleme postkolonialer Gesellschaften. Sie beruhen auf historischen Unterordnungen und Abhän‐ gigkeiten und produzieren in der Gegenwart ähnliche, vergleichbare oder völlig neue soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Dies zeigt sich auch in kirchlichen und theologischen Bereichen. Cecilia González-Andrieu, auf Kuba geborene und in den USA lehrende Theologin, beschreibt, wie postkoloniale Konstellationen zu gesellschaftli‐ chen und kulturellen Exklusionen führen können, auch in der wissenschaft‐ lichen Theologie: „Ich müsste auf sehr kreative Weise mit meinem Daumen die Sonne verdecken, um zu behaupten, dass theologische Bildung nicht an einem akuten Exklusionsproblem leidet.“ 55 Das Problem verortet sie unter anderem in den Schwierigkeiten für Men‐ schen in den USA, die aus einem kulturellen Umfeld lateinamerikanischer MigrantInnen kommen, vor allem, wenn sie keine Dokumente vorweisen können. Sie zitiert eine Studentin oder einen Studenten: „Die einfache Tatsache, dass ich nicht über Dokumente verfüge, macht ein Ding aus mir. Ich bin kein Mensch mehr. Ich lebe ein Leben aus Angst.“ 56 Um zum Studium an der Institution, an der sie arbeitet, zugelassen zu werden, müssen solche Menschen zahlreiche Hürden überwinden: Das nicht-inklusive US-Bildungssystem macht es MigrantInnen schwerer, zumal wenn sie papierlos sind. Um eines der wenigen Stipendien für das Theolo‐ giestudium zu erhalten, brauchen sie nicht nur sehr gute Noten, sondern auch noch großes Glück bei der Auswahl. Für González-Andrieu widerspricht eine solche Exklusivität den Werten, die im Theologiestudium vermittelt werden sollen. Es reicht ihrer Ansicht nach auch nicht, jährlich fünf Stipendien an die Allerbedürftigsten mit den allerbesten Noten zu vergeben, vielmehr sieht sie in dieser Praxis eine Kapitulation vor dem herrschenden ausschließenden System und einen Widerspruch zu „der radikalen Inklusivität von Gottes Liebe“ 57 . 105 3.5 Wer ist drinnen, wer draußen? 58 Ebd., 66. 59 Kwok, Teaching Theology, 24. 60 Ebd. Undurch‐ dringliche Orte Zu diesen ausschließenden strukturellen Rahmenbedingungen kommt eine Kultur der Selbstexklusion, die aus der lebenslangen Erfahrung des Ausgeschlossenseins entstehen kann: Auch wenn eine Institution formal oder theoretisch offen, inklusiv oder kostenlos ist, wird sie von denjenigen, die an ihre Exklusion gewöhnt sind, oft nicht so wahrgenommen: „Die Ästhetik der geografischen Lage, die Architekturstile, die sichtbar verant‐ wortlichen und anwesenden Personentypen und andere mehr oder weniger subtile Hinweise tragen zur abschreckenden Exklusivität vieler kultureller Insti‐ tutionen bei.“ 58 Auch Räume, die ihrem Selbstverständnis nach gar nicht exklusiv sein wol‐ len, können von Menschen, die sich in einer bestimmten Kultur als ausge‐ schlossen oder marginal betrachten, so wahrgenommen werden und ver‐ wandeln sich in der Praxis in abgeschlossene, undurchdringliche Orte, an denen die Exklusion wiederholt bzw. fortgesetzt wird. Auf diese Weise werden Menschen nicht nur vom Theologiestudium, sondern auch von einer Karriere in der theologischen Wissenschaft und damit von der akademischen Theologieproduktion ausgeschlossen. Denn das grundständige Studium stellt ja einen wichtigen Zugang für eine wissen‐ schaftliche Karriere in der akademischen Theologie dar. Wissenschaftliche Theologie unter solchen postkolonialen Bedingungen leidet deshalb alleine aufgrund der ungerechten Zugangsbedingungen unter einem massiven Problem der Einseitigkeit und Exklusivität. Die Überrepräsentation von be‐ stimmten Bevölkerungsgruppen in der theologischen Lehre hat strukturelle Ursachen. Dasselbe gilt für die theologischen Inhalte: → Kwok Pui-lan nimmt eine Kritik von → Musa Dube auf, wenn sie schreibt, dass der westliche Theologiebetrieb Beiträge aus anderen theologischen Kontexten häufig nur dann rezipiert, wenn sie gut in das eigene System passen und dieses nicht allzu offen kritisieren. Es sei daher nicht ausreichend, dem Curriculum nur einige Kurse oder Elemente zu Theologien aus dem Globalen Süden hinzuzufügen - „gewöhnlich als Wahlkurse“ 59 - oder nur die Perspektiven aus dem Süden aufzunehmen, „die keine radikalen Herausforderungen darstellen und domestiziert oder angeeignet werden können“ 60 . 106 3 Machtbeziehungen 61 de Jong‐Kumru, Postcolonial Feminist Theology, 103. 62 Vgl. Taylor, Subalternität und Fürsprache. Dieses Problem wird unten noch ausführli‐ cher thematisiert; vgl. 4.4. Privileg derer, die bereits am Tisch sitzen Im theologischen Diskurs müsste daher der Blick auch immer darauf gerichtet sein, wer in ihm nicht vertreten ist. Wie können die Stimmen der Menschen, die aus verschiedenen Gründen, die rassistischer, sexistischer, ökonomischer oder eurozentrischer Art sein können, vom theologischen Diskurs weitgehend ausgeschlossen sind, in ihm zur Sprache gebracht oder doch wenigstens nicht vergessen werden? Die niederländische Theologin Wietske de Jong‐Kumru schreibt dazu: „Einfach andere Menschen an den Tisch des Dialogs einzuladen, reicht nicht aus, um das Privileg derjenigen aufzulösen, die bereits am Tisch sitzen.“ 61 Denn es ist auch das Privileg derer, die bereits am Tisch des theologischen Diskurses sitzen, zu entscheiden, welche weiteren Stimmen dazu eingeladen werden. Auch die ↗ Repräsentation differenter und abwesender Stimmen wird in den postkolonialen Studien kritisch gesehen. Während etwa in der Befreiungstheologie es als sinnvolle politische Strategie galt ‚Stimme der Stimmlosen‘ zu sein oder ‚denen eine Stimme zu geben, die keine haben‘, problematisieren postkoloniale TheoretikerInnen und TheologInnen das stellvertretende Sprechen für andere als weitere Exklusion und Entmach‐ tung von Menschen, die ohnehin schon vom Diskurs ausgeschlossen sind, sowie als weitere Privilegierung derer, die ohnehin ‚bereits am Tisch sit‐ zen‘ 62 . Ähnliche Probleme von Exklusion und Inklusion stellen sich bei der Frage von Beteiligung und Nichtbeteiligung an Entscheidungen, wer sichtbar ist und wer unsichtbar gemacht oder ausgeblendet wird, wer sprechen darf und wer zum Schweigen (oder nicht zum Sprechen) gebracht wird, wer für ein Amt, für eine Aufgabe geeignet erscheint und wer nicht, wer als volljährig, mündig, reif oder qualifiziert erscheint und wem Mitbestimmung oder Selbstbestimmung verweigert wird. In diesen sehr unterschiedlichen Fragen, die sich teilweise auch über‐ schneiden oder überlappen können, wirken identitätsbildende oder veran‐ dernde Diskursstrategien auf einen Ausschluss bestimmter Personen von Beteiligung oder Diskurs. Postkoloniale Konstellationen bewirken darüber hinaus, dass koloniale Machtstrukturen auch in der Gegenwart unbewusst weiterwirken können und zu einer Wiederholung, einer Verzerrung oder 107 3.5 Wer ist drinnen, wer draußen? 63 Spivak, Can the subaltern speak, 84, vgl. 82-85. Doppelte Marginali‐ sierung als Frau zu einem gezielten Missbrauch prägend gewordener Ausschlussstrukturen führen können. Theologie und Kirche müssen diese Mechanismen konse‐ quent und selbstkritisch analysieren, um sie überwinden zu können. 3.6 Durch Leiden erlöst? Überschneidungen von diskursiven und Machtstrategien finden sich auch im weiten Feld postkolonialer Geschlechterverhältnisse. In sehr unter‐ schiedlichen Varianten wirken koloniale Patriarchatsordnungen bis in die Gegenwart, zwar gebrochen und verändert durch die Unabhängigkeitsbe‐ wegungen und damit einhergehende nativistische und nationalistische Transformationen, aber dennoch - wie so oft in postkolonialen Kontexten - wirksam und diskriminierend, nicht selten unterbewusst. In vielen Kulturen, die heute noch vom Kolonialismus geprägt sind, werden Frauen von politi‐ scher oder wirtschaftlicher Beteiligung oder von Bildung ausgeschlossen oder darin benachteiligt. Darüber hinaus erfahren sie vielerorts Gewalt, Vergewaltigung und Ermordung, nicht selten durch ihnen nahestehende Männer. Eine nicht unerhebliche Rolle bei der Weiterentwicklung patriarchaler Herrschaftsstrukturen spielen die wirtschaftlichen Verhältnisse. Angesichts der postkolonialen und zugleich neokolonialen internationalen Arbeitstei‐ lung, die seither durch die Effekte der Globalisierung noch um ein Vielfaches verschärft wurde, analysierte Gayatri Spivak bereits vor über 30 Jahren, dass die subalternen Frauen in mehrfacher Hinsicht negativ betroffen sind: Einerseits nutzt eine dominante patriarchale Arbeitsorganisation ihre Ar‐ beitskraft als billig zu erhaltende Ressource, zugleich werden ihnen jedoch der Zugang zu Partizipation und zum Konsum (der selbst produzierten Waren! ) vorenthalten, andererseits stellen ihre eigenen kulturellen Kontexte nicht die Möglichkeiten zu einer feministischen oder kritischen Analyse ihrer Situation zur Verfügung: „Die Frau steht doppelt im Schatten.“ 63 Diese doppelte Marginalisierung als Frau in einem wirtschaftlich ausge‐ beuteten Land wird in den postkolonialen Studien häufig untersucht. Dabei wird auch der immer wieder zu beobachtende Kurzschluss kritisiert, mit dem die jeweilige außereuropäische Kultur für die patriarchale Diskriminierung verantwortlich gemacht wird. Ausschluss und Unterdrückung von Frauen 108 3 Machtbeziehungen 64 Federici, Caliban y la bruja, 176. 65 de Jong‐Kumru, Postcolonial Feminist Theology, 136, mit Bezugnahme auf das gemein‐ same Werk von Althaus-Reid und Isherwood, Controversies in Feminist Theology. 66 Ebd., 137. Glorifizie‐ rung von Leiden wird vielmehr gerade als Bestandteil des europäischen Kolonialismus und des sich seither verschärfenden globalen Kapitalismus betrachtet. Für Silvia Federici, in den USA lebende italienische Philosophin, sind Kolonialismus und Kapitalismus ohne eine „sexuelle Arbeitsteilung“ 64 , die Abwertung der weiblichen Arbeit und damit einhergehend der Lebensbereiche und Erfah‐ rungen von Frauen und ohne eine systematische Hexenverfolgung über‐ haupt nicht denkbar. Auch die doppelte Marginalisierung der Frauen, mit allen tragischen Auswirkungen, muss als ein Erbe des europäischen Kolo‐ nialismus gesehen werden. Theologien des Leidens und der Erlösung werden in postkolonial-femi‐ nistischen Theologien daher besonders kritisch untersucht. Wietske de Jong‐Kumru stellt heraus, welche christologischen Konsequenzen eine solche postkolonial-feministische Kritik besitzen kann. Sie schreibt, unter Bezugnahme auf die Christologie Lisa Isherwoods, die Lehre von Jesus als Leidendem Gottesknecht sei „ein gewöhnlicher maskulinistischer Mythos. […] Frauen […], besonders diejeni‐ gen, deren Leben voller nicht-heilbringendem Leiden ist, werden durch diesen Mythos entfremdet und viktimisiert“ 65 . Eine Christologie, in der das Leiden Christi als erlösend glorifiziert worden sei, habe dazu beigetragen, die unterdrückten und missbrauchten Frauen ihrer Macht und ihres Widerstands zu berauben. Ungerechtfertigtes Leiden, wie es Frauen in postkolonialen Kontexten häufig erleben, sei so mit Verweis auf das Leiden Jesu spiritualisiert worden. In ähnlicher Weise warnt → Kwok Pui-lan „vor einer naiven Glorifizie‐ rung von Leiden und Opfer“ 66 . Auch Sklaverei und andere Abhängigkeits‐ verhältnisse seien mit Blick auf das Dulden Jesu gerechtfertigt und legiti‐ miert worden. Gerade für Frauen sei das Ertragen ungerechtfertigten Leidens zu einer geistlichen Herausforderung stilisiert worden, anstatt sie an ihre Rechte zu erinnern und ihre Würde zu stärken. 109 3.6 Durch Leiden erlöst? 67 Kwok, Postcolonial Imagination, 184; vgl. de Jong‐Kumru, Postcolonial Feminist Theo‐ logy, 137. 68 Joh, Trauer und der Anspruch, 161-170; vgl. de Jong‐Kumru, Postcolonial Feminist Theology, 144-147. 69 Joh, Trauer und der Anspruch, 165. Der gefol‐ terte Kör‐ per Jesu „Wenn die religiöse Sprache spiritualisiert wird, kann sie missbraucht werden, um eine unterdrückende Wirklichkeit zu tarnen und den Schmerz einer verachteten Knechtschaft zu sakralisieren.“ 67 Die in den USA lehrende koreanische Theologin Wonhee Anne Joh be‐ schreibt anhand der Theologie des Kreuzes die postkoloniale und feminis‐ tische Problematik der christlichen Erlösungslehre 68 . Das Kreuz, das im Christentum zum Symbol für Erlösung und Heil geworden ist, muss nach Joh auch - seiner ursprünglichen Funktion entsprechend - als Symbol für Leiden und Tod, für Machtmissbrauch und Gewalt gesehen werden. Daraus ergibt sich für sie eine ursprüngliche Nähe der Gestalt des Gekreuzigten zu allen, die in der Gegenwart Gewalt und Tod, Folter und Mord ausgesetzt sind. Durch die christliche Tradition der Sühnetheologie gerate jedoch diese Nähe aus dem Blick; der gefolterte Körper Jesu komme nur noch oberfläch‐ lich als Ort der Grausamkeiten vor und die Solidarität mit den Verwundeten heute werde verlassen. Das Leid Jesu am Kreuz könne jedoch nicht theolo‐ gisch einfach beiseitegeschoben werden: „Gottes Liebe ist weder eine Ent‐ schuldigung noch ein Alibi für diese menschliche Fähigkeit, einander Leid anzutun“ 69 . Auch die Erfahrung der Auferstehung oder der Glaube an die Erlösung könne nicht als Ausgleich, als Entschädigung für dieses Leiden missbraucht werden; vielmehr sei es wichtig, zur Trauer der Zeuginnen und Zeugen des Kreuzes und zu ihrer Empörung zurückzukehren. Dadurch könne die ursprüngliche Solidarität des leidenden Körpers des Gekreuzigten mit den Körpern der heute Leidenden wiederhergestellt werden. Joh knüpft daher eine Beziehung zwischen dem Kreuz Jesu und der dramatisch zunehmenden Zahl von Femiziden in Ciudad Juárez (Mexiko) - wobei sie sich hier auf eine Arbeit von Nancy Pineda-Madrid stützt. „Wenn wir den qualvollen Tod des einen, der im Zentrum unserer Glaubens‐ praktiken und Überzeugungen steht, neben die Tode beispielsweise der Frauen von Ciudad Juárez stellen, dann müssen Christen sich mit verstörenden und drängenden Fragen auseinandersetzen: Welche Unterschiede machen wir bei 110 3 Machtbeziehungen 70 Ebd., 168f. 71 Ebd., 167. 72 Ebd., 168. der Interpretation von Leidenserfahrungen? Wessen Leiber fallen wirklich ins Gewicht? Welches Leid ruft Empörung und Trauer hervor und welches nicht? “ 70 Empörung und Trauer, die von den JüngerInnen Jesu angesichts dessen Foltertodes empfunden wurden, können daher nach Überzeugung von Joh Christinnen und Christen auch heute zu Empörung und Trauer anstacheln, uns an unsere Verwundbarkeit und unsere Hoffnung erinnern und zur gemeinsamen Praxis motivieren. Auf diese Weise erhalten Glaubende nach Ansicht von Joh „ein breiteres Bild nicht nur der direkten Opfer von Folter und Schrecken, sondern auch derer, die an der Ausführung der Befehle des Imperiums beteiligt waren“ 71 . Durch das Bewusstsein von der Verantwortung, durch Klage und Empörung können die Zeuginnen und Zeugen der Gewalt sich dazu ermutigen, sich als Gemeinschaft zusammenzufinden und zu organisieren, um Gewalt und Tod künftig zu verhindern. „Auch hier also, in diesem aus Ruinen aufkeimenden Widerstand, geschieht Auferstehung.“ 72 Im Blick auf die Leidenden heute - und in der feministischen Perspektive sind das gerade die leidenden Frauen - kann also die christliche Theologie von Kreuz, Leid und Erlösung nicht nur von entfremdenden und die Un‐ terdrückung verschärfenden Elementen befreit werden, sondern auch zu ihrer ursprünglichen Funktion der Solidarität mit den Leidenden und der Erfahrung von Auferstehung im konkreten gemeinschaftlichen Handeln zurückgeführt werden. In einer breiteren postkolonialen Perspektive weitet sich der Blick dabei auch auf andere Formen von Gewaltausübung, Leiden und Tod. Auf diese Weise lässt sich die Theologie von den kritischen Anfragen des Postkolonialismus leiten, um zur Überwindung von ungerechten patri‐ archalen und neokolonialen Strukturen beizutragen. Dazu muss sie aber in der Lage sein, selbstkritisch auf die eigene Tradition zu schauen, ihrer Komplizenschaft mit der Ausübung von Gewalt und ihrem Missbrauch zur Legitimation von Leiden. 111 3.6 Durch Leiden erlöst? 73 Kang, Jenseits, 74. 74 Vgl. Silber, Laboratorios de culturas, 51. Auch im spanischen Original steht nur die männliche Form ‚aller Argentinier‘. Die entsprechende Seite wirbt inzwischen mit anderen Schlagworten: https: / / turismo.buenosaires.gob.ar/ es. 3.7 Aus den Augen, aus dem Sinn Bereits in den vorangegangenen Abschnitten und Kapiteln wurde mehrfach angesprochen, dass postkoloniale Strukturen, Herrschaftsverhältnisse und Diskursstrategien oft verborgen und unsichtbar sind. Das Sprichwort, das diesem Abschnitt als Überschrift dient, gilt hier in vieler Hinsicht: Was nicht unmittelbar ins Auge fällt, wird nicht wahrgenommen und gilt als nicht vor‐ handen. Worüber nicht gesprochen wird, das bleibt auch unangetastet. Dies gilt für Strukturen von Unterordnung, Ausbeutung und Exklusion ebenso wie für die Verantwortlichen und Begünstigten dieser Verhältnisse: Sie blei‐ ben unsichtbar und werden verschwiegen. → Namsoon Kang schreibt: „Wir leben in einer Welt, in der das Zentrum / der Kolonisator / der Unterdrücker häufig unsichtbar und getarnt ist.“ 73 Postkoloniale Machtasymmetrien werden dabei meistens nicht einmal aktiv versteckt und verheimlicht, sondern durch die Kolonialgeschichte in einer profunden Weise für so selbstverständlich gehalten, dass sie nicht mehr als Ungerechtigkeit wahrgenommen werden. Sie können aber durch Analyse und Kritik aufgedeckt und auf diese Weise der Veränderung zu‐ gänglich gemacht werden. Das Verbergen ungerechter Strukturen geschieht im Alltag auf vielfältige Weise. Wer zum Beispiel vor einigen Jahren die offizielle Website der Stadt Buenos Aires für den Tourismus aufrief, erhielt als erstes die Überschrift, dass Buenos Aires „La ciudad de todos los argentinos“, also „die Stadt aller Argentinier“ sei 74 . Derartige Inklusionsverheißungen ignorieren bewusst die internen Ver‐ werfungen einer solchen Megastadt wie eines großen und vielfältigen Landes. Weder alle Bürgerinnen und Bürger Argentiniens noch alle Einwoh‐ nerInnen der Hauptstadt können tatsächlich in Anspruch nehmen, dass Buenos Aires ‚ihre‘ Stadt sei: Die große Zahl an bolivianischen und anderen MigrantInnen lebt dort oftmals ohne die grundlegenden Bürgerrechte; auch viele BewohnerInnen der Stadt mit argentinischer Staatsangehörigkeit sind von Wasser und Strom, Arbeit und Bildung, Gesundheit und Transport‐ mitteln abgeschnitten oder ausgeschlossen. Darüber hinaus können viele 112 3 Machtbeziehungen 75 Vgl. zu einem aktuellen Beispiel auch Silber, Fragmentierte Identitäten, 204f. Unsicht‐ bare Kehr‐ seiten Menschen in anderen Teilen des Landes, die sich nicht selten von der Hauptstadt marginalisiert und vernachlässigt fühlen, einen Satz wie diesen wohl nur als Hohn empfinden. Formulierungen wie „die Stadt aller Argentinier“ verdecken jedoch die tatsächlichen Unterschiede und Ungleichheiten. Solche Strategien finden sich häufig in postkolonialen Settings. Eine behauptete Universalität wie im genannten Beispiel kann Marginalisierungen und Exklusionen unsichtbar machen. Eine andere, vergleichbare Strategie besteht darin, die Lebensweise einer Gruppe für eine größere Gemeinschaft zu verallgemeinern und zum Beispiel als ‚Leitkultur‘ zum Maßstab zu machen. So werden in postkolonialen Kontexten häufig westliche kulturelle Muster, das Leben der Mittelschicht oder die Vorstellungswelt von Männern, von Weißen oder von Stadtbewoh‐ nerInnen zum Maßstab für kulturelle und materiell sehr unterschiedliche Realitäten. In Ländern mit indigener Bevölkerung werden diese häufig als ‚rückständiger‘ oder ‚unterentwickelter‘ Teil einer konstruierten Natio‐ nalbevölkerung betrachtet und ihre kulturelle Differenz damit unsichtbar gemacht. Andere Strategien bestehen im Tabuisieren oder gezielten Verschweigen bestimmter sozialer Gruppen. In vielen globalen Gesellschaften betrifft das die auch intern noch einmal sehr vielfältige queere Community, im postko‐ lonialen Raum immer noch oft indigene Gemeinschaften und quer durch alle gesellschaftlichen Gruppen die Lebenserfahrungen von Frauen und Mädchen. Auch die Benennung gesellschaftlicher Gruppen kann sie sichtbar oder unsichtbar machen: In Bolivien galten Angehörige indigener Völker im Gefolge der Revolution von 1952 als ‚Bauern‘ (bzw., meistens ungenannt, auch als ‚Bäuerinnen‘), und erst durch eine verstärkte pro-indigene Politik von Nichtregierungsorganisationen und später auch Regierungen traten indigene Kulturen und Menschen wieder in die öffentliche Wahrnehmung 75 . Auf diese Weise entstehen in postkolonialen Gesellschaften verborgene, verschwiegene und unsichtbare Kehrseiten. Die nach außen hin offen pro‐ pagierte Ansicht der Tourismusportale und ökonomischen Erfolgsmeldun‐ gen verdecken die vielfältigen und intern noch einmal hierarchisierten Schattenseiten der Realität, deren Problematik in unterschiedlicher Weise von kolonialen Erblasten beeinflusst und transformiert wird. Nicht nur die Menschen, die auf diesen Kehrseiten leben, sondern auch ihre Lebensein‐ 113 3.7 Aus den Augen, aus dem Sinn 76 Vgl. Silber, Laboratorios de culturas; Silber, Pluralität, 230-241. 77 Oduyoye, Beads and Strands, 54, vgl. 45-56. 78 Ebd. 79 Ebd. Oduyoyes Formulierung, dass die Frauen „keine Verhandlungsmacht besitzen“ (i.O.: „who have no bargaining powers“), könnte als Viktimisierung gedeutet werden. Ich verstehe sie hier als Verdeutlichung oder Konkretisierung der Verweigerung elementarster Mitmenschlichkeit durch die Freier. stellungen, ihre Werte, ihr Wissen und ihre Hoffnungen werden von diesen unsichtbar machenden Strukturen in den Schatten gedrängt. In den post‐ kolonialen Theologien wird dagegen darauf aufmerksam gemacht, dass Gott gerade an diesen unbekannten und verdrängten Peripherien erfahrbar ist und entdeckt werden möchte 76 . Die ghanaische Theologin Mercy Amba Oduyoye macht in einem Kom‐ mentar zum Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,29-37) die Dop‐ pelbedeutung des englischen Worts ‚neighbour‘ (Nächste/ r, Nachbar/ in) zum Ausgangspunkt einer Reflexion über Nachbarschaftlichkeit, Gemeinschaft und Exklusion. Die NachbarInnen bzw. „die Menschen nebenan“ 77 stehen für sie nicht nur als Chiffre für die ‚Nächsten‘ des Gleichnisses, sondern auch ganz konkret für die Menschen, die unmittelbar nebenan wohnen, aber vielfach nicht als Nächste anerkannt oder behandelt werden. Oduyoye nimmt in diesem Text keinen ausdrücklich postkolonialen Standpunkt ein, aber die Beschreibung des Kontextes, in dem sie ihren biblischen Kommentar situiert, verdeutlicht, dass die von ihr charakterisier‐ ten Probleme, die dazu führen, dass Nachbarschaften gespalten sind, auch der Kolonialgeschichte geschuldet sind. Denn NachbarInnen können sich untereinander nicht als Nächste anerkennen, wenn „‚race‘, Klasse, Religion, oder welchen Namen wir auch immer dem Zaun gegeben haben, mit dem wir unsere Binnengruppe markieren“ 78 , Menschen voneinander trennen. Auch Genderdifferenzen können zur Konsequenz haben, dass Menschen nicht als NachbarInnen, als Mitmenschen gesehen werden. Im Fall des Sextourismus klagt Oduyoye an, dass Frauen „nicht als Nachbarinnen, sondern als Werkzeuge, Instrumente, Objekte“ gesehen werden, „um das Ego des Nachbarn/ Nächsten zu füttern, der die Dienste anderer ‚bezahlen‘ kann, die keine Verhandlungsmacht besitzen.“ 79 Darüber hinaus thematisiert Oduyoye auch Menschen, die gar nicht mehr in den Blick kommen. Sie bleiben unsichtbar, weil ihre Existenz als Last für die Gemeinschaft aufgefasst wird. Sie sind notleidend, obdachlos oder wurden vertrieben, sie sind hungrig, krank oder ans Haus gefesselt, Kinder 114 3 Machtbeziehungen 80 Ebd., vgl. 54f. oder Menschen mit Handicap. Solche Menschen werden versteckt oder einfach nicht mehr wahrgenommen, „wenn wir die Existenz des/ der anderen nicht anerkennen. Die Menschen nebenan werden unsichtbar und unhörbar für uns. Die vielen isolierten und versteckten Menschen, die wir einfach nicht kennen oder aktiv marginalisieren, werden von unserer Nachbarschaftlichkeit ausgenommen. Wenn wir auf der anderen Straßenseite vorbeigehen, können wir nicht einmal sagen, wer es ist, der oder dem wir da aus dem Weg gehen. Wir verleugnen einfach ihre Existenz. […] Sie sind Menschen, die wir nicht brauchen, und die - aus unserer Sicht - überflüssig sind“ 80 . An diesen scheinbar überflüssigen Menschen entscheidet sich aber, so Oduyoye, ob wir in der Lage sind, Jesu Botschaft in der Gegenwart in die Realität umzusetzen. Die postkoloniale Analyse der Verborgenheit und Tabuisierung bestimmter sozialer Gruppen und Einzelpersonen ist daher sehr wichtig, um den Machtverhältnissen, durch die postkoloniale Kontexte charakterisiert sind, auf die Spur zu kommen. Sie stellt gerade auch in globaler Perspektive eine weit reichende Heraus‐ forderung dar. Denn in Europa und in anderen hoch entwickelten Ländern und Kontexten ist es leicht möglich, die große Mehrheit der Menschen auf dem Planeten einfach zu ignorieren und sie für die tägliche Kommunikation unsichtbar zu machen. Auch in der Öffentlichkeit der Weltkirche und in der theologischen Produktion weltweit sind die Lebenserfahrungen der Mehrheit der Menschen regelmäßig abwesend. Das Studium postkolonialer Theologien und die Auseinandersetzung mit ihnen stellt daher eine wichtige Möglichkeit dar, um dieser strukturellen Unsichtbarkeit und Abwesenheit entgegenzuwirken. 3.8 Kolonialität der Macht. Zusammenfassung Der Terminus ↗ ‚Kolonialität‘ des Peruaners Antonio Quijano wurde bereits kurz eingeführt (vgl. Kapitel 1.2. und 1.4.). Er kann hier als Zusammenfas‐ sung zu diesem Kapitel und zugleich als Verknüpfung mit dem vorherigen dienen. Denn die ‚Kolonialität der Macht‘, von der Quijano auch spricht, bezeichnet nicht nur die Kontinuitäten verschiedener Machtstrukturen aus 115 3.8 Kolonialität der Macht. Zusammenfassung 81 Quintero/ Garbe, Einleitung, 10. 82 Quintero, Macht und Kolonialität der Macht, 59-65. Struktu‐ relle Konti‐ nuität der kolonialen Vergangenheit bis in die neoliberale Gegenwart, sondern verweist auch darauf, wie die epistemische und diskursive Kolonialität diese Kontinuität ermöglicht und legitimiert. Nach Pablo Quintero und Sebastian Garbe bezeichnet der Begriff der Kolonialität der Macht bei Quijano „ein spezifisches strukturelles Macht‐ muster der Moderne, das ausgehend von der Eroberung Amerikas und in der darauffolgenden weltweiten Hegemonie Europas entstand“ 81 . Quintero beschreibt dann ausführlicher die beiden zentralen Machtachsen, die in Qui‐ janos Konzept der Kolonialität aufeinander bezogen werden 82 : Auf der einen Seite dient die grundlegende rassistische Unterscheidung und Trennung der Menschen den politischen Herrschafts- und Unterdrückungsstrukturen, die auf der anderen Seite die wirtschaftliche Ausbeutung von Ressourcen und Arbeitskraft ermöglichen. Gewährleistet wird dieses System der Kolonialität der Macht durch einen fundamentalen ↗ Eurozentrismus. Weitere kulturelle und diskursive Faktoren, die diese beiden zentralen Achsen unterstützen, müsste man dazu ebenfalls nennen. Auf diese Weise ermöglicht nach Aníbal Quijano die Kolonialität der Macht eine historische und strukturelle Kontinuität zwischen der kolonialen und der globalisierten neoliberalen Ausbeutung und Beherrschung. Macht‐ strukturen, die in der Gegenwart herrschen, sind nach seiner Analyse zu‐ tiefst von den Überzeugungen geprägt, die schon die Eroberung Amerikas und den Kolonialismus legitimiert haben. Als zentrales Element gilt ihm dabei die durch den Rassismus verstärkte Vorstellung von der europäischen Überlegenheit. Bereits hier zeigen sich deutliche Bezüge zwischen den Themen dieses Kapitels - wie der Kritik des Empire und der wirtschaftlichen Ausbeutung - und denen des ersten Kapitels, in dem es u. a. um ↗ Othering, ↗ Eurozen‐ trismus und Rassismus ging. Weitere Querverbindungen werden deutlich, wenn einige Weiterentwicklungen des Quijanoschen Kolonialitätsbegriffs in den Blick genommen werden. Die argentinische Philosophin María Lugones, die in den USA lehrte, wendet Quijanos Konzept auf den Bereich der Genderbeziehungen an. Sie kritisiert gleichzeitig den westlichen Feminismus, insofern dieser die Aus‐ wirkungen des Kolonialismus auf die Beziehungen der Geschlechter nicht analysiert, und andererseits aber auch ein dekoloniales Denken, das den Se‐ 116 3 Machtbeziehungen 83 Lugones, Colonialidad y género, 68. Lugones‘ spanischer Ausdruck „colonialidad del género“ (ebd., 64) kann als „Kolonialität des/ von Gender“ bzw. wie hier als „Genderko‐ lonialität“ nur unbefriedigend ins Deutsche übersetzt werden. 84 Lander, Ciencias sociales, 10. Genderkolonialität xismus nicht in Rechnung stellt. Quijanos Begriff müsse in dieser Hinsicht korrigiert und vertieft werden. Ebenso wie der Rassismus zum Grundbe‐ stand der Kolonialität der Macht gehört, kritisiert sie die Transformationen der Geschlechterverhältnisse von den präkolonialen Kulturen bis in die Ge‐ genwart als ‚Genderkolonialität‘. Sie schreibt: „Es ist wichtig zu verstehen, bis zu welchem Punkt das Aufzwingen dieses Gendersystems so konstitutiv für die Kolonialität der Macht war wie die Kolonialität der Macht konstitutiv für dieses Gendersystem. Die Beziehung zwischen beiden folgt einer Logik der wechselseitigen Konstitution.“ 83 . Edgardo Lander, ein venezolanischer Soziologe, weitet Quijanos Begriff auf die ‚Kolonialität des Wissens‘ und legt den Schwerpunkt seiner dekolonialen Analyse auf die diskursive und epistemische Seite der Kolonialität der Macht. Denn der Kolonialismus veränderte auch das, was in den kolonialen Gesellschaften als ‚Wissen‘ gelten konnte, zugunsten von Narrativen, die der Ausbeutung und Beherrschung dienten. Dieses ‚Wissen‘ wird zwar durch das Ende der Kolonialepoche erneut transformiert, jedoch bleibt seine Machtförmigkeit in dem Sinn erhalten, dass es nach wie vor den Interessen der Herrschenden dient. Auch hier ist der Einfluss des Eurozentrismus entscheidend: Was in Europa als ‚normal‘ gilt, wird auch in den Kolonien als Norm angesehen, ja zu etwas Offensichtlichem stilisiert. Es verliert den Status einer konkreten, kontextgebundenen sozialen Konstruktion und wird zu etwas scheinbar Selbstverständlichem, Universalem oder gar Naturgegebenem. Insofern kann Lander von einer ‚Kolonialität des Wissens‘ sprechen: „Eine Form der Organisation und des Seins der Gesellschaft wird durch dieses kolonisierende Instrument des Wissens in die ‚normale‘ Form des Menschen und der Gesellschaft verwandelt. Die anderen Formen des Seins, die anderen Formen der Organisation der Gesellschaft, die anderen Formen des Wissens verwandeln sich nicht nur in verschiedene, sondern zugleich in mangelhafte, in archaische, primitive, traditionelle, vormoderne [Formen].“ 84 117 3.8 Kolonialität der Macht. Zusammenfassung 85 Maldonado-Torres, Sobre la colonialidad del ser. Koloniali‐ tät des Seins Der scheinbaren Normalität des eurozentrischen Wissens korrespondieren daher in Landers ‚Kolonialität des Wissens‘ die Abwertung und Marginali‐ sierung anderer, nichteuropäischer und alternativer Formen und Praktiken des Wissens. Nelson Maldonado-Torres, dekolonialer Theoretiker aus Puerto Rico, deutet das Konzept der Kolonialität schließlich auf die „Kolonialität des Seins“ 85 . Demzufolge ist die Kolonialität nicht nur im Wissen oder in ein‐ zelnen sozialen Machtbeziehungen zu erfahren, sondern im gesamten Alltag und in allen Lebensbereichen. Die gesamte menschliche Erfahrung, alle Be‐ züge und Beziehungen sind von Kolonialität geprägt und reproduzieren sie. Mit diesem umfassenden Verständnis kann darauf aufmerksam gemacht werden, dass Kolonialität tatsächlich sehr viele Bereiche und Beziehungen gleichzeitig umfasst und daher auch einer profunden und vielfältigen Ana‐ lyse bedarf und zu ihrer Überwindung auf zahlreichen Ebenen zugleich be‐ arbeitet werden muss. Zugleich birgt eine solche Generalisierung natürlich immer auch die Gefahren einer Abstraktion von den konkreten einzelnen Erfahrungen der Kolonialität der Macht. Durch diese Erweiterungen, Transformationen und Korrekturen des Quijanoschen Konzepts von der Kolonialität der Macht wird deutlich, dass diskursive und Machtkonfigurationen in postkolonialen Kontexten nicht verschiedene oder voneinander getrennte Probleme darstellen. Sie haben vielmehr eng miteinander zu tun. Diskursive Strategien werden benutzt, um Machtkonstellationen zu legitimieren, zu verschleiern und für selbst‐ verständlich zu erklären. Derart Kultur gewordene Machtasymmetrien bringen wiederum von der Kolonialität geprägte Diskurse, Narrative und ↗ Epistemologien hervor. Aspekte dieser Beziehungen wirken einzeln, in Bündeln oder vernetzt aufeinander. Es ist eines der wichtigsten Merkmale des postkolonialen und dekolo‐ nialen Denkens, dass - im Idealfall - zahlreiche dieser unterschiedlichen Aspekte der Kolonialität der Macht in ihren Beziehungen zueinander ana‐ lysiert und aufgedeckt werden können. Dass dies nicht immer der Fall ist, zeigt vielleicht am eindrücklichsten die Notwendigkeit, mit der feministi‐ sches postkoloniales Denken sich kritisch mit anderen Feminismen und anderen Strömungen im Postkolonialismus auseinandersetzen muss. Femi‐ nistisch-postkoloniale Theorie, die sich zugleich mit antirassistischen und interkulturellen Methoden kritisch mit weiteren Achsen der Kolonialität 118 3 Machtbeziehungen Achsen der Koloniali‐ tät auseinandersetzt, muss ebenfalls immer wieder diese Vervielfältigung von Methoden, Perspektiven und vernetztem Denken argumentativ rechtferti‐ gen. Umgekehrt wird feministischen und antirassistischen Argumentationen innerhalb des postkolonialen Spektrums immer wieder von anderen Theo‐ retikerInnen vorgeworfen, mit scheinbar sekundären ‚Identitätsproblemen‘ von den ‚wichtigsten‘ postkolonialen Herausforderungen abzulenken. Was in solchen Vorwürfen als ‚wichtig‘ gelten soll, kann dabei auch wieder sehr unterschiedlich sein. In einer umfassenden Perspektive betrachtet zeigt sich jedoch, dass gerade die Verschränkung und wechselseitige Kom‐ plementarität unterschiedlicher ↗ intersektionaler Herangehensweisen an postkoloniale Fragestellungen diesen am besten gerecht wird. Auch die in den letzten beiden Kapiteln vorgenommene methodische Un‐ terscheidung von diskursiven und Machtstrategien gibt in postkolonialen Debatten immer wieder Anlass zu Diskussionen und gegenseitigen Abgren‐ zungen, je nachdem ob jemand sich stärker für politische und wirtschaftliche oder für kulturelle Herausforderungen der Kolonialität interessiert. Die viel‐ schichtigen Möglichkeiten für interdisziplinäres und intersektionales Ar‐ beiten stellen jedoch eine wichtige Ressource dar, mit deren Hilfe postko‐ loniale Theorien (und auch Theologien) Kontexte analysieren können, die von Kolonialität geprägt sind. Die verschiedenen Achsen der Kolonialität der Macht müssen nicht gegeneinander ausgespielt werden, wenn sie in ih‐ rer wechselseitigen Interdependenz betrachtet und in ihren vielfältigen Be‐ zügen bearbeitet werden. Zu diesen vielfältigen Achsen treten in den postkolonialen Theologien auch noch religiöse, theologische und kirchliche Aspekte der Kolonialität hinzu. Speziell durch die Missionsgeschichte sind diese Aspekte praktisch in allen postkolonialen Kontexten - und damit beinahe überall auf der Welt - präsent. Oft standen oder stehen sie unmittelbar mit kolonialen Machtbeziehungen und Diskursstrategien in Verbindung, da die Theologie ja Legitimation, Inhalte und Methodologien für die Mission und für die Kolonisierung bereitstellte. Die Kolonialität der Macht ist damit auch ein wichtiges Thema für Theologie und Kirche. Während in der Vergangenheit koloniale Machtverhältnisse häufig mit sakralem Anspruch versehen wurden und Eroberung, Unterwerfung, kul‐ turelle Zerstörung und Ausbeutung - ja, nicht selten sogar Mord und Ge‐ nozid - religiös und theologisch legitimiert werden konnten, setzt sich heute in vielen theologischen Bereichen die Überzeugung durch, dass Gott auf der 119 3.8 Kolonialität der Macht. Zusammenfassung 86 Quijano, Colonialidad y modernidad/ racionalidad, 19f. Koloniali‐ tät der Theologie Seite der Machtlosen, der Leidenden, der Ausgeschlossenen und der Ver‐ stummten zu finden ist und die Kirche sich ebenfalls auf diese Seite begeben muss. Trotz dieser Neuorientierung lässt sich in vielen Bereichen immer noch nachweisen, dass die Kolonialität der Macht auch zu einer Kolonialität der Theologie geführt hat. Konflikte in der Theologie lassen sich teilweise auf den Kampf um die Aufdeckung des kolonialen Erbes in der Theologie und der ihr zugrundeliegenden Epistemologie zurückführen. Postkoloniale Theologien sind daher - und das haben sie mit dem Postkolonialismus ins‐ gesamt gemein - kein automatischer Selbstreinigungsprozess, sondern füh‐ ren zu Konflikten, Widerstand und Auseinandersetzungen. Dieser konfliktive Weg ist von der postkolonialen Theorie vorgezeichnet, denn es ist offensichtlich, dass die machtvolle Kolonialität sich diese gut getarnte Macht nicht einfach so streitig machen lassen will. Aníbal Quijano fordert daher eine grundlegende, an der Erkenntnistheorie ansetzende kritische Auseinandersetzung mit Inhalten und Methoden, die auch als Programm für eine Erneuerung der Theologie gelten kann: „Die Alternative ist folglich klar: die Zerstörung der Kolonialität der weltweiten Macht. Zunächst eine epistemologische Entkolonialisierung, um Platz für eine neue interkulturelle Kommunikation, einen Austausch von Erfahrungen und Bedeutungen zu machen, als Grundlage einer anderen Rationalität, die legitimer‐ weise eine gewisse Universalität beanspruchen kann. Nicht weniger rational schließlich als der Anspruch, dass die spezifische Weltanschauung einer bestimm‐ ten ethnischen Gruppe als universelle Rationalität gelten könne, selbst wenn eine solche ethnische Gruppe Westeuropa heißen sollte. Denn wirklich: Das bedeutet, für einen Provinzialismus den Titel der Universalität zu beanspruchen.“ 86 In den beiden folgenden Kapiteln wird es zunächst um Wege und Methoden des Widerstands gehen, mit dem die Kolonialität der Macht herausgefordert und - im Sinn Quijanos - ‚zerstört‘ werden kann, und anschließend um die von ihm angedeuteten Alternativen, also die „neue interkulturelle Kommunikation […] als Grundlage einer anderen Rationalität“. 120 3 Machtbeziehungen Passive Opfer Bereit‐ schaft zum Perspektiv‐ wechsel 4 Widerstand Das Erkennen und Anerkennen der prägenden Kraft der ↗ Kolonialität in unserer Gegenwart und die Analyse ihrer vielfältigen und miteinander verwobenen Auswirkungen fordern zu einer Stellungnahme heraus: Im postkolonialen Diskurs geht es deswegen nicht nur darum, Effekte des Kolonialismus, die über die formalen Unabhängigkeitserklärungen hinaus‐ reichen, aufzudecken und zu hinterfragen, sondern auch um die Überlegung, wie sie transformiert werden können, um ihre zerstörerischen Konsequen‐ zen möglichst unschädlich zu machen. Aus der profunden Analyse von Macht- und Diskursstrukturen folgen im postkolonialen Denken daher auch Überlegungen zum Widerstand gegen die Kolonialität der Macht und die Frage nach möglichen praktischen und theoretischen Alternativen zu ihr. Eine wichtige Rolle spielt dabei auch derjenige Widerstand, der schon in der kolonialen Geschichte von den Betroffenen der Kolonialität tatsächlich bereits geleistet wurde und auch in der Gegenwart praktiziert wird, auch wenn er häufig nicht als solcher gekennzeichnet oder bewusst eingesetzt wird. Postkoloniale Studien können aber zeigen, dass die von Kolonialität Betroffenen nicht einfach passive Opfer sind, denen Macht angetan wird, sondern dass ihre Beziehungen zur Macht vielfältig sind, ebenso wie die der Verantwortlichen. Denn auch diese, also MachthaberInnen in Vergangenheit und Gegenwart, können auch Teil von Widerstandspraktiken sein. Ein ein‐ faches Täter-Opfer-Schema verdeckt die Vielfalt dieser Beziehungen und damit auch die Handlungsmacht, die in unterschiedlichen Formen des Wi‐ derstands wahrgenommen wird oder werden kann. Dies macht häufig einen Wechsel der Perspektive oder sogar häufige Per‐ spektivwechsel notwendig. In der eurozentrischen postkolonialen Welt ist jedoch die Bereitschaft zum Perspektivwechsel selbst schon ein Akt des Wi‐ derstandes, denn geisteswissenschaftlich beansprucht die europäische Per‐ spektive Universalität und Einzigartigkeit. Die Vielfalt der postkolonialen Erfahrungen und die unterschiedlichen Konstellationen der Kolonialität las‐ sen sich aber auch nur mit einer grundlegenden Bereitschaft, Perspektiven zu wechseln, überhaupt in den Blick nehmen. Dabei gibt es im Sinn des Widerstands gegen hegemoniale Diskurse durchaus privilegierte Perspek‐ tiven, die deutlicher die Erfahrungen der Subalternen hervortreten lassen. Auch bei der Suche nach diesen bevorzugten Blickwinkeln bedarf es der Offenheit für die Pluralität und die grundlegende Bereitschaft, die Perspek‐ tive gegebenenfalls neu zu wechseln (4.1). Widerständige Perspektivwechsel können dabei auch eine völlige Abkehr von bestimmten traditionellen theo‐ logischen Perspektiven einschließen (4.2). Diese Abkehr kann mit der aus‐ drücklichen Zuwendung zu alternativen Lebenserfahrungen einhergehen (4.3). Dabei entsteht die Gefahr des Paternalismus und der Bevormundung vormals ausgeschlossener Subjekte durch diese Zuwendung (4.4). Die Frage nach Grenzen und Zwischenräumen hat sich im Postkolonia‐ lismus als eine besonders fruchtbare Strategie herauskristallisiert. Denn Grenzen und Zwischenräume werden als besonders kreative Orte betrach‐ tet, um Beziehungen zu knüpfen und auszuhandeln, Verschiedene zu ver‐ binden, Differenzen zu überwinden und Machtstrukturen zu untergraben. Grenzgebiete und Zwischenräume gelten daher im metaphorischen wie im materiellen Sinn als wichtiges Instrument im Widerstand gegen die Kolonialität und in der Suche nach Alternativen (4.6). Sie sind auch Orte des Dialogs und der Aushandlung zwischen unterschiedlichen Perspektiven (4.5). Die theologischen Beispiele in den folgenden Abschnitten greifen häu‐ fig auf die Analyse von Diskurspraktiken und Machtbeziehungen zurück und verweisen zugleich bereits auf mögliche Alternativen, die in ihnen sichtbar werden. Wie immer dienen die Zuordnungen zu den Kapiteln nur dem didaktischen Zweck, einzelne Aspekte postkolonial-theologischer Praxis stärker in den Vordergrund zu rücken. In diesem Kapitel stehen die Strategien und Werkzeuge der widerständigen Praxis im Postkolonialismus im Mittelpunkt, die sich häufig stark von traditionellen theologischen Vorgehensweisen unterscheiden und sich ihnen widersetzen. Aus der Sicht traditioneller Theologien mag ein solches Vorgehen jedoch reichlich undis‐ zipliniert wirken (4.7). 4.1 Wechselnde Perspektiven Während der Kolonialzeit waren Theologie, Glaube und Bibelinterpretation unhinterfragt eine Angelegenheit der EuropäerInnen, die - bedingt durch die missionarische Konstellation - als selbstverständliche ExpertInnen für das Christentum galten. Die zentralistischen Kirchenstrukturen, verstärkt durch finanzielle Abhängigkeit vom Norden, trugen dazu bei, dass diese Selbstverständlichkeit häufig bis in die Gegenwart anhält. Die europäische 122 4 Widerstand 1 Donaldson, Native Women’s Double Cross, 106. Zitat aus Cajetes Buch Native Science. Die Per‐ spektive bestimmt die Wahr‐ nehmung und eurozentrische Perspektive gilt vielen nach wie vor als normativ und maßgeblich. Auch wenn in der Gegenwart immer offensichtlicher wird, dass es vielfältige und widersprüchliche Perspektiven in Europa gibt, die sich ihren Einfluss auf postkoloniale Kontexte durchaus auch gegenseitig streitig machen, bleiben eine gewisse Vorherrschaft und höhere Legitimität jeder einzelnen dieser europäischen Perspektiven gegenüber einheimischen Blickwinkeln spürbar. Perspektivwechsel können jedoch helfen, Verborgenes sichtbar zu ma‐ chen und Fehlinterpretationen aufzudecken. Dies gilt auch für prinzipielle ↗ epistemologische und methodologische Fragestellungen: Ausschließlich aus europäischer Perspektive betrachtet, lassen sich viele Tatsachen, Bezie‐ hungen und Konzepte nichteuropäischer Kulturen schlichtweg nicht ange‐ messen erkennen, da europäische Epistemologien andere Voraussetzungen mitbringen. Außereuropäische Kulturen bleiben dann vielfach einfach un‐ verständlich. Die US-amerikanische postkoloniale Wissenschaftlerin Laura Donaldson macht darauf aufmerksam, dass jede Wahrnehmung von der Perspektive abhängt, in der man sich befindet. Für die Erkenntnis ist es daher notwendig, sich zu bewegen und unterschiedliche Perspektiven einzunehmen. Mit die‐ ser Vorstellung grenzt sie sich gegenüber einem eurozentrischen Denken ab, dem ein abstraktes, scheinbar objektives Wahrnehmen der Dinge unabhän‐ gig von der Perspektive möglich erscheint. Donaldson verweist darauf, dass nichteuropäisches Denken, wie etwa die nordamerikanische indigene Phi‐ losophie, auf wechselnde Perspektiven setzt. Sie zitiert den indigenen Theo‐ retiker Gregory Cajete aus der Tewa-Nation: „Die Idee, sich zu bewegen, um aus einer anderen Perspektive zu schauen, aus dem Norden, dem Süden, dem Osten und dem Westen und manchmal von oben, unten oder von innen, ist im kreativen Prozess enthalten. Alles ist wie ein Hologramm; man muss aus verschiedenen Blickwinkeln schauen, um es zu verstehen. Im indigenen Kausalparadigma ist Bewegung relational oder vorwärts und rückwärts in einem Beziehungsfeld, im Gegensatz zur Linearität der westlichen Wissenschaft (von A nach B nach C usw.). Indigene Logik bewegt sich zwischen Beziehungen, kommt zurück, geht dorthin, wo es notwendig ist, zu lernen oder Verstehensweisen zusammenzubringen.“ 1 123 4.1 Wechselnde Perspektiven 2 Ebd., 100; Donaldson zitiert hier Chrestien le Clercq aus seiner New Relation of Gaspesia. 3 Ebd. Double cross Der Erkenntnisprozess selbst ist also zu verändern, um sich der Realität angemessener zu nähern. Lineare, abstrakte und verallgemeinernde Heran‐ gehensweisen, wie sie in der europäischen Epistemologie vorherrschen, sind zu diesen Perspektivwechseln nicht so leicht in der Lage, weil sie eine bestimmte Perspektive universalisieren oder die Perspektivität der Wahrnehmung schlichtweg ignorieren, indem sie die eigene Epistemologie für ‚objektiv‘ erklären. Sich im Erkenntnisprozess von einer Perspektive zur anderen zu bewegen, zurückzukehren und die Erkenntnisse aus den unterschiedlichen Perspekti‐ ven miteinander in Dialog zu bringen, kann jedoch den Wahrnehmungs- und Verstehensvorgang bereichern und verbessern. In den postkolonialen Theologien wird daher auf diese Perspektivwechsel und auf häufig wechselnde Perspektiven gesetzt. Laura Donaldson führt selbst ein instruktives Beispiel für diesen prinzi‐ piellen Perspektivwechsel an: Sie greift einen kolonialzeitlichen Bericht eines französischen Missionars im Nordamerika des 17. Jahrhunderts auf, der Begegnungen mit einer Frau aus der Mi’kmaq-Nation schildert. Diese besaß ein nach indigenen Designs gestaltetes Kreuz, das Muster, Figuren und Symbole aus ihrer indigenen Religion aufwies, aber zugleich von ihr als christliches Symbol verehrt und an einem speziellen Ort in ihrem Wigwam aufbewahrt wurde. Bei den Begegnungen „stellte sie es gewöhnlich zwischen sich und die Franzosen, wodurch diese gezwungen waren, vor ihrem Kreuz zu beten, während sie von ihrer Seite ihre eigenen Gebete nach ihrem eigenen Brauch verrichtete, vor dem König der Herzen und ihren anderen Gottheiten“. 2 Donaldson verweist in einem englischen Wortspiel auf das double cross der Mi’kmaw-Frau: Das „doppelte Kreuz“ ist zugleich ein „doppelter Betrug“ 3 , denn aus ihrer Perspektive ist das mit indigener Symbolik versehene Kreuz ein Ort indigener Religionsausübung. Die französischen MissionarInnen und/ oder KolonistInnen, die davor niederknien, um nach christlicher Auf‐ fassung zu beten, lässt die Frau zugleich vor sich niederknien, indem sie das Kreuz zwischen sie aufstellt. Durch den Perspektivwechsel ist Donaldson in 124 4 Widerstand 4 Ebd., 96. ‚Maismütter‘, ‚corn mothers‘ (andere Übersetzungsmöglichkeit: Kornmütter) sind Mutterund/ oder Fruchtbarkeitsgottheiten in verschiedenen nordamerikanischen indigenen Traditionen; oft im Singular. 5 Dube, Postcolonial Feminist Interpretation, 184-195. 6 Ebd., 193. Eigenstän‐ dige Inter‐ pretatio‐ nen des Christli‐ chen der Lage, die Doppelbödigkeit und Widerstandskraft der Vorgehensweise der Mi’kmaw-Frau zu benennen. Solche Reaktionen auf die koloniale Missionierung lassen sich häufig aufdecken, wenn Perspektivwechsel vollzogen werden. Indigene Menschen, schreibt Donaldson, „haben die Namen und Gesten ihrer Feinde übernommen, aber haben an ihren eigenen, geheimen Seelen festgehalten; darin liegen ein Widerstand und ein Überstehen, ein langes Durchhalten. Als Jesus kam, sind die Maismütter nicht verschwunden; sie haben einfach einen weiteren Sohn adoptiert.“ 4 Solche Perspektivwechsel lassen sich auch unmittelbar in der Gegenwart praktizieren. → Musa Dube wertet in einer Studie Interviews mit Frauen aus, die Führungspositionen in African Independent Churches (AIC) einneh‐ men. AIC sind unabhängige christliche Kirchen, die in Afrika gegründet wurden, häufig unter der Leitung von Frauen stehen und eigenständige In‐ terpretationen des Christlichen entwickeln, die auch indigene Traditionen einschließen können. Diesen Frauen wurden für die Studie Fragen zur mat‐ thäischen Version der Begegnung Jesu mit der kanaanäischen Frau vorgelegt (Mt 15,21-28) bzw. ihre Predigten ausgewertet 5 . Dubes eigene Interpretation des Textes bewertet die Befürwortung einer Heidenmission durch den Evangelisten kritisch und korreliert die Benen‐ nung der heidnischen Menschen als „Hunde“ mit der Abwertung der Afri‐ kanerInnen durch die Mission. Dagegen stellen die Frauen aus den AIC die Wertschätzung heraus, die Jesus der kanaanäischen Frau und ihrem Glauben entgegenbringt. Sie sehen keinen Gegensatz zwischen Israel und Kanaan, sondern beziehen den von Jesus anerkannten Glauben der Kanaaniterin auf die Verheißung von „Milch und Honig“, die im Land Kanaan fließen, und nach denen sich das Volk Israel gesehnt habe 6 . Die im Matthäusevangelium geschilderte Begegnung wird von den Frauen aus den AIC als Heilungserzählung und Weg der Versöhnung gele‐ sen, auf dem die Übel der Kolonisierung therapiert und korrigiert werden können. Dube versteht die positive und ermächtigende Interpretation des 125 4.1 Wechselnde Perspektiven 7 Ebd. 8 Segovia, Grenzüberschreitendes Interpretieren, 88. Verweige‐ rung der Opferrolle Position und Inter‐ esse Textes durch diese Frauen als Ausdruck ihres Widerstandes und der Wei‐ gerung, sich zu Opfern machen zu lassen. Darin kommt ihrer Interpretation zufolge das Erbe afrikanischer Traditionen zur Wirkung: „Historisch in imperialer Zeit entstanden, in der die Menschen durch die Förde‐ rung des Christentums als universaler Religion ihrer kulturellen und religiösen Integrität beraubt wurden, untergraben die AIC diese imperiale Strategie. Sie lehnen die Auferlegung des Christentums als die eine und einzig gültige Religion ab und ernten frei aus beiden religiösen Kulturen jegliche Weisheit, die diese Traditionen zur Verbesserung des Lebens und zur Förderung von Unterschieden anbieten.“ 7 Dube verweist in ihren Schlussfolgerungen auch auf die reiche Vielfalt der Interpretationen, die aus den unterschiedlichen Perspektivwechseln ent‐ standen sind: Die mannigfaltigen Interpretationen der Frauen aus den AIC zu der matthäischen Erzählung lassen sich nicht einfach vereinheitlichen oder systematisieren, sondern bezeugen die andauernde Kreativität afrika‐ nischer Frauen in der Auseinandersetzung mit dem kolonialen Patriarchat und ihrem Widerstand zu ihm. Auf die prinzipielle Bedeutung solcher Perspektivwechsel macht auch der aus Kuba stammende und in den USA lehrende Theologe → Fernando Se‐ govia aufmerksam. Er betont - unter Berufung auf die Cultural Studies - dass jeder „Leser aus Fleisch und Blut […] immer positioniert […] und in‐ teressiert ist“ 8 . Jeder Leser und jede Leserin der Bibel - und dies ließe sich erweitern auf jede andere Form der Interpretation der christlichen Tradition - vertritt also eine jeweils eigene kulturelle Position und ein eigenes politi‐ sches Interesse. Mit der Unterscheidung von Position und Interesse ist es möglich, auf die Breite und Komplexität dessen hinzuweisen, was hier als ‚Perspektive‘ betrachtet wird: Während Segovia mit dem Wort ‚Position‘ auf die relative Stabilität kultureller Einflüsse verweist, richtet sich das politi‐ sche ‚Interesse‘ auf den Willen zur Veränderung, also auf das, was eine Per‐ son durch ihr Handeln erreichen will. Beides, Position und Interesse, ist aber in postkolonialen Kontexten von ↗ Kolonialität geprägt: Sowohl die kulturelle Situation, in der eine Leserin, ein Leser sich befindet, als auch seine/ ihre politischen Interessen dieser Situation gegenüber lassen sich nicht von ihrer Prägung durch die Kolonial- 126 4 Widerstand 9 Vgl. Donaldson, The Sign of Orpah. und Unabhängigkeitsgeschichte lösen. Position und Interesse prägen daher nicht nur die Lektüre der Bibel (und der Tradition), sondern sind selbst durch Kolonialität gekennzeichnet. Auf diese Weise beeinflusst die Kolonialität die Lektüre der Bibel in vielfacher Weise. Leserinnen und Leser unterscheiden sich nun zudem untereinander sowohl hinsichtlich ihrer Position als auch ihres Interesses, so dass auch ihre Interpretationen desselben biblischen Textes zueinander sehr stark differieren können. Selbst in der Wissenschaft zeigt sich dieser Einfluss von Interessen und Positionen - und damit der Kolonialität - auf die Interpre‐ tation von Texten der Bibel. Eine Konsequenz aus dieser Problematik könnte es daher sein, jeweils eine Vielzahl von Interpretationen aus verschiedenen Perspektiven aktiv zu suchen und miteinander in Dialog zu bringen. Auf diese Weise können sie sich nicht nur gegenseitig erhellen, sondern auch die jeweiligen Prägungen von Interessen und Positionen durch die Kolonialität zum Vorschein bringen. 4.2 Den Rücken kehren Eine radikale Form des Perspektivwechsels besteht darin, sich von den vertrauten Interpretationen eines biblischen oder theologischen Textes ab‐ zuwenden, ihnen gewissermaßen den Rücken zuzudrehen. Laura Donaldson nennt eine biblische Namensgeberin für diese Lesestrategie: Orpa, die andere Moabiterin, die anders als ihre Schwägerin Rut nicht mit ihrer Schwiegermutter Noemi nach Bethlehem auswandert, sondern zurück zu ihrer eigenen Mutter geht (vgl. Rut 1,6-14) 9 . Die hebräische Wurzel des Namens deutet sie (mit anderen) auf den ‚Nacken‘ oder den ‚Rücken‘ und damit auf die Aktion des Sich-Abwendens. Orpa wird in der biblischen Geschichte als die vorgestellt, die den Rücken kehrt und zu ihrer Mutter, ihren Verwandten, ihrer Kultur, ihrer Heimat zurückkehrt. Donaldson liest die Rutgeschichte als die Erzählung von einer Frau, die kulturelle Grenzen überwindet. Dabei kontextualisiert sie jedoch die Beziehungen zwischen Moab und Israel als feindselig und kriegerisch, wie es tatsächlich in vielen Texten der Bibel der Fall ist. Darüber hinaus werden Do‐ naldson zufolge moabitische Frauen in Bibeltexten als „hypersexualisierte 127 4.2 Den Rücken kehren 10 Ebd., 134. 11 Jione Havea spricht sich in seiner Interpretation der Erzählung ausdrücklich gegen eine solche negative Charakterisierung Moabs aus: Diese dürfe nicht einfach aus anderen biblischen Erzählungen eingetragen werden. Im Rutbuch werde das Land (und seine BewohnerInnen) vielmehr als gastfreundlich und hilfreich beschrieben. Vgl. Havea, Stirring Naomi, 116. Für Donaldson ist jedoch darüber hinaus die traditionelle Interpretation des Buches Rut durch weiße US-AmerikanerInnen bedeutsam. 12 Ebd., 135. [Text in Klammern von mir ergänzt]. Behaup‐ tete Hypersexualität Malinche und Poca‐ hontas Bedrohung israelitischer Männer“ 10 gezeichnet, ausgehend von der bibli‐ schen Genealogie der MoabiterInnen in Gen 19,30-38, in der die Entstehung Moabs auf einen Inzest zwischen Lot und seinen Töchtern zurückgeführt wird. Die einschlägige Erzählung von der Untreue der Israeliten in Num 25,1-3 (vgl. Ps 106,28-31), in der sexuelle Beziehungen mit Moabiterinnen und Götzendienst ineinander verwoben sind, wird dabei von Donaldson gar nicht erwähnt 11 . Diese vorgebliche Hypersexualisierung wird nun von männlichen Aus‐ legern in der Geschichte auch den beiden Moabiterinnen Rut und Orpa zu‐ geschrieben. In der Zeit der Eroberung und Kolonisierung Nordamerikas verglichen weiße Männer darüber hinaus dieses vorgebliche sexuelle Ver‐ halten der Moabiterinnen mit der sexuellen Aktivität indianischer Frauen. Donaldson nennt als einen nicht unbedeutenden Zeugen dafür den zweiten US-Präsidenten Thomas Jefferson, der die behauptete Hypersexualität in‐ dianischer Frauen zudem einer angeblichen sexuellen Zurückhaltung indi‐ gener Männer zuordnet und damit eigene männliche Ängste offenbart: „Sowohl [nord-]amerikanische indigene als auch moabitische Frauen werden nicht nur als Akteurinnen von Bosheit und Unreinheit, sondern auch der sexuel‐ len Frigidität von Männern dargestellt.“ 12 Aus einer nordamerikanisch-indigenen Perspektive heraus interpretiert Donaldson Rut nun als eine Figur, die feindliche kulturelle Grenzen über‐ schreitet, um sich in der fremden (aber mächtigeren) Kultur der Herrschaft zu unterwerfen und so von ihr zu profitieren. Während sie beim Abschied aus Moab ins Haus ihrer Mutter hätte zurückkehren können, entscheidet sie sich für das Leben im Patriarchat, im Haus des Boas, und als Mutter einer männlich-patriarchalen Königsdynastie (Rut 4,17-22). Donaldson vergleicht diese Erzählung mit Geschichten aus der nordamerikanischen Kolonialzeit, die starken Einfluss in der Populärkultur gewonnen haben: Malinche, die 128 4 Widerstand 13 Ebd., 141. 14 Donaldson, Native Women’s Double Cross, 107. Vgl. zum theoretischen Hintergrund unten 5.1. 15 Donaldson, The Sign of Orpah, 143. Antwort‐ fähigkeit Dolmetscherin des Hernán Cortez bei der Eroberung Mexikos, und Poca‐ hontas als Beispiel für die ‚gute Indianerin‘ in der US-Kultur. Vor diesem Hintergrund, schlussfolgert Donaldson, ist es nicht verwun‐ derlich, wenn indigene Leserinnen des Rutbuches heute mit Trauer und Entrüstung darauf reagieren. Aufgrund der konkreten historischen und kontextuellen Bedingungen, unter denen diese Lektüre stattfindet, liegt die Interpretation zu sehr auf der Hand, dass auch hier eine Geschichte erzählt wird, in der „wieder eine Verwandte sich […] der hegemonialen Kultur unterworfen hat.“ 13 Sie bewertet diesen Text daher als einen von mehreren, die für nordamerikanische Indigene „unlesbar“ 14 geworden seien. Aus dieser Leseperspektive ist die andere Moabiterin, die diesem Schicksal ‚den Rücken kehrt‘, Orpa, in Donaldsons Augen die eigentliche Heldin der Geschichte. Sie bringt den Mut auf, der bedrohlichen kolonialen und patriarchalen ↗ Hegemonie zu widerstehen und in das Haus ihrer Mutter zurückzukehren. „Für Cherokee-Frauen, zum Beispiel, konnotiert Orpa Hoffnung […], denn sie ist diejenige, die ihre Traditionen und ihre heiligen Vorfahren nicht zurückweist“ 15 . Der Perspektivwechsel entspricht in diesem Beispiel für Donaldson der klaren Zurückweisung einer Fehlinterpretation biblischer Texte und ihres Missbrauchs für die kolonialistische ↗ Veranderung unterworfener Men‐ schen. Die Kritik an diesem Missbrauch geht so weit, dass dem Text selbst - in diesem Fall der Erzählung von Rut - ‚der Rücken zugewendet‘ und der Gegenheldin der Geschichte - Orpa - der Vorzug gegeben wird. Der Grund dafür liegt darin, dass diese Fehlinterpretation tiefe Wurzeln im gegenwärtigen postkolonialen kulturellen Kontext besitzt, wie der Vergleich mit Malinche und Pocahontas deutlich macht. Diese grundlegende Abkehr von traditionellen Interpretationen der Rut‐ erzählung - und damit auch von denjenigen Traditionen, die sich nicht auf Sexismus und Rassismus stützen - bezeichnet Donaldson mit einem Begriff der indigenen Dichterin Kimberly Blaeser als Ausdruck der „response-abi‐ lity“ oder „Antwortfähigkeit“ indigener Leserinnen, die sich der Herausfor‐ derung stellen, „neu zu überdenken, neu zu bewerten, sich neu vorzustellen, 129 4.2 Den Rücken kehren 16 Ebd., Zitat aus Blaeser, Pagans Rewriting the Bible. Eckige Klammer in Donaldsons Original. 17 Londoño, Hermenéuticas postcoloniales, 154. Der Begriff lector rebelde stammt offenbar von Londoño und nicht von Mosala; vgl. Mosala, The Implications, 136. 18 Londoño, Hermenéuticas postcoloniales, 154. Rebelli‐ sche Lese‐ rInnen was [religiöse] Begriffe für indianische Völker bedeuten oder bedeutet ha‐ ben könnten und auch was sie für alle Menschen bedeuten könnten“ 16 . Während in dem vorstehenden Beispiel von Laura Donaldson eine kul‐ turell tief verwurzelte Fehldeutung eines Bibeltextes im Mittelpunkt steht, macht der kolumbianische Theologe Juan Esteban Londoño darauf auf‐ merksam, dass es darüber hinaus auch Texte in der Bibel gibt, die selbst kritisch, ja ‚rebellisch‘ gelesen werden können: Mit Verweis auf den süd‐ afrikanischen Bibelwissenschaftler Itumeleng J. Mosala spricht Londoño vom „rebellischen Leser“ und von der „rebellischen Leserin“ 17 der Bibel. Mosala nennt als Beispiel Dtn 6,10f. In diesen beiden Versen werden der Landraub und die Aneignung fremder Städte, Häuser und landwirtschaftli‐ cher Güter als Verheißung Gottes dargestellt. Aus südafrikanischer Sicht lässt sich - so Mosala - der Text nicht von der Interpretation derjenigen lösen, die mit solchen und ähnlichen Bibeltexten Kolonialismus und Land‐ raub in Afrika rechtfertigten. Aber auch exegetische Erklärungen des Textes befriedigen ihn nicht: Weder die konservative Deutung, dass die israelitische Landnahme als Strafe für die Sünden der Kanaaniter gelten könne, noch die liberale Suche nach den befreienden und vermenschlichenden Aspekten des Textes hält er für überzeugend: Der rebellische Leser lehnt sich gegen den Autor dieses Bibeltextes selbst auf, denn auf der narrativen Ebene legitimiert dieser den Landraub als eine Verheißung des biblischen Gottes. Londoño kommentiert: „Der rebellische Leser versucht, die heiligen Schriften exegetisch zu verstehen. Er will die Texte nicht hermeneutisch transformieren, damit sie etwas Befreiendes sagen, denn es gibt tatsächlich Texte, die nicht befreiend sind. Was er dann tut, ist lesen und interpretieren, aber das bedeutet nicht, dass er am Ende der Lektüre ‚Amen‘ sagen muss: Er stimmt nicht zu, er gehorcht nicht.“ 18 Der Grund hierfür liegt in der Vielfalt der Bibel, der biblischen Texte und der biblischen AutorInnen. Die Vielstimmigkeit der Bibel selbst wird auch in ihrer Widersprüchlichkeit und teilweise Gegensätzlichkeit ernst genommen, ohne dass die Autorität der Heiligen Schrift prinzipiell in Frage gestellt würde. Daher ist es möglich, dass biblische Texte - aus Gründen 130 4 Widerstand 19 Ebd., 156. 20 Vgl. zum theoretischen Hintergrund auch unten 5.1. 21 Dube, Liberating the Word, 425; vgl. 425-435. der kulturellen, politischen und sozialen Kontexte seiner verschiedenen Redaktionsphasen - auf einer narrativen Ebene Haltungen und Praktiken rechtfertigen, die aus heutiger Sicht als ungerecht wahrgenommen werden. Die rebellische Leserin kann solche Ungerechtigkeiten auch als solche benennen und muss sie nicht weginterpretieren: „Der große Wert dieser postkolonialen Lesart ist die hermeneutische Ehrlichkeit. Es geht nicht darum, den Text zu verkleiden oder für die Gläubigen leichter verdaulich zu machen. Man geht direkt an den Text und gegebenenfalls gegen den Text. Die Bibel ist eine vielfältige Erinnerung, die nicht nur die Stimmen der Unterdrückten enthält, sondern auch die der Unterdrücker.“ 19 Der rebellische Leser nimmt also für sich die Autorität in Anspruch, nicht nur den Missbrauch und die Fehlinterpretation der biblischen Texte in der Kolonialgeschichte aufzudecken und zurückzuweisen, sondern sich auch gegen unterdrückerische Haltungen, die sich exegetisch fundamentiert im biblischen Text nachweisen lassen, aufzulehnen und ihnen ‚nicht zu gehor‐ chen‘. Dabei vergessen Londoño und Mosala nicht, dass auch die rebellische Leserin von ihrem eigenen kulturellen Kontext geprägt ist. Die kritisierten Bibeltexte werden daher nicht als ‚unbiblisch‘ abgetan. Vielmehr lehnt sich der rebellische Leser in einem konkreten kontextgebundenen Leseakt gegen eine bestimmte Interpretation des Textes auf, die Unterdrückung (Landraub, Diebstahl, Mord…) fördern könnte und lässt die verschiedenen Stimmen der Bibel selbst miteinander in Dialog treten 20 . Ein weiteres anschauliches Beispiel für eine solche rebellische Leserin wurde im 1. Kapitel vorgestellt: Die chinesische Frau, die mit einer Nadel Verse aus den Paulusbriefen entfernt, weil sie in ihrer Interpretation frau‐ enfeindlich sind, lehnt sich ebenfalls - auf ihre Weise und mit ihren Mitteln - gegen diese biblischen Texte auf und weigert sich, ihnen zu gehorchen. → Musa Dube warnt vor biblischen Texten (und die Argumentation ließe sich gut auch auf andere theologische Traditionen erweitern), die den Keim für eine gefährliche Missinterpretation bereits in sich tragen. Als Beispiel führt sie die Redekomposition in Mt 23 an. In diesem Text, den sie als „ein‐ zigartige Schöpfung des Autors des Matthäusevangeliums“ 21 interpretiert, 131 4.2 Den Rücken kehren 22 Vgl. ebd., 418. 23 Ebd., 434. 24 Ebd., 435. 25 Ebd., 436. Verurtei‐ lende, un‐ versöhnli‐ che Sprache Metapher des gela‐ denen Ge‐ wehrs lenkt sie den Blick auf die verurteilende, unversöhnliche Sprache, mit der sich der Text gegen die Pharisäer richtet. Der Evangelist, so Dube, grenzt sich und seine Gruppe von Jüdinnen und Juden, die an Jesus glauben, mit scharfen Worten gegen eine andere jüdische Gruppe ab. Die gleichzeitig im selben Kontext wirkende zerstörerische und spaltende Macht des römischen Imperialismus wird jedoch im Matthäusevangelium nach ihrer Interpreta‐ tion weitgehend vernachlässigt 22 . Aus ihrer postkolonialen Perspektive verbietet sich jedoch eine solche einseitige Betrachtung ineinander verwobener Konflikte. Zugleich erkennt sie in diesem Text des Evangelisten Strukturen kolonialer Konflikte wieder, in denen sich diejenigen auf die Sprache der Bibel berufen könnten, die eine ähnliche ausschließende und spaltende Sprache verwenden. Sie erkennt an, dass Matthäus in seinem Kontext am Schutz und am Überleben seiner eige‐ nen Gruppe interessiert war. „Aber seine Überlebensstrategie hing in erster Linie am Disqualifizieren der anderen Gruppen.“ 23 Drastische Formulierun‐ gen wie „Nattern“ und „Schlangenbrut“ (v. 23), die eine Entmenschlichung des Gegners beinhalten, hält Dube für charakteristisch für christliche Pole‐ mik in Kontexten von Kolonialismus und Gender bis in die Gegenwart. Das biblische ‚Vorbild‘ einer solchen diffamierenden Sprache wird für Dube zum „geladenen Gewehr, das jederzeit losgehen kann“ 24 : „Solange solche geladenen Texte entsichert bleiben, behalten sie das Potenzial zu explodieren und zu töten, wann immer ein Leser sich dazu entschließt, abzudrücken. Es erscheint daher wesentlich, als erster Schritt, um die Ideologie der Unterdrückung und Herrschaft aufzuhalten, dass solche Killerideologien, die einige Bibeltexte herausheben und durchdringen, von allen an der Befreiung orientierten Interpreten immer identifiziert und als gefährlich markiert werden.“ 25 Die genaue exegetische Analyse der Aussageabsicht des Textes und der Kontexte des Evangelisten muss daher die Ideologien und rhetorischen Strategien, die sich in einem Text verbergen, aufdecken und - wenn nötig - kritisieren. Gleichzeitig stellt Dube dem ‚geladenen Text‘ einen Gegentext aus demselben Evangelium an die Seite, der mit ihm in Dialog tritt und so die bedrohlichen Auswirkungen des Textes unschädlich machen kann: 132 4 Widerstand 26 West, The Academy of the Poor, 10; vgl. Akper, The role. Ordinary readers Die Feindesliebe (vgl. Mt 5,43f) öffnet sich für die Andersheit des Gegners und hält dessen Menschlichkeit fest. Auf diese Weise wird der geladene Text ‚entschärft‘ und kann nicht mehr so leicht als Waffe in der Gegenwart dienen. ‚Geladene Gewehre‘, ‚rebellische LeserInnen‘ und die sich abwendende Orpa sind drastische Beispiele für eine widerständige Bibellektüre, die sich dem im Kolonialismus erfahrenen Missbrauch der Bibel für die Macht‐ ausübung widersetzt und auf die Gefahren aufmerksam macht, die einen unkritischen Gebrauch der Bibel in der Kirche angesichts der Herausfor‐ derungen der im Verborgenen wirkenden ↗ Kolonialität zum Problem machen können. Sie sind nur ein Beispiel für postkoloniale Kritik christlicher Traditionen, aber sie verweisen darauf, dass diese Kritik auch ein Element des Bruchs beinhalten kann. Mit diesem Bruch als einer möglichen Strategie des Widerstands übernehmen postkoloniale Subjekte Handlungsmacht und gewinnen die Freiheit, sich anderen Subjekten und ihren Erfahrungen zuzuwenden. 4.3 Sich zuwenden und zuhören Jemandem den Rücken kehren und sich abwenden ist häufig auch damit verbunden, sich zugleich jemand anders zuzuwenden. Postkoloniale Per‐ spektivwechsel entziehen sich daher in der Regel nicht nur der ↗ Hegemo‐ nie dominanter Perspektiven, sondern wenden sich gezielt auch anderen, vielfältigen Perspektiven zu. Gerade solche Perspektiven, Orte und Subjekte, die von den hegemonialen Diskursen vernachlässigt, ausgeblendet oder zum Schweigen gebracht werden, stehen dabei im Mittelpunkt der Aufmerksam‐ keit. Der südafrikanische Exeget Gerald O. West entwickelt eine Strategie des Perspektivwechsels unter dem Stichwort der ‚Gewöhnlichen LeserInnen‘ bzw. ‚ordinary readers‘  26 . Diese charakterisiert er als nicht-professionelle, nicht exegetisch geschulte Christinnen und Christen, die gleichzeitig ge‐ sellschaftlich, politisch und kulturell benachteiligt oder unterdrückt sind. Ordinary readers bringen ihre eigenen Werkzeuge für die Interpretation der Bibel zum Tragen und können in einem Dialog mit westlich-kritisch ge‐ schulten BibelwissenschaftlerInnen Neues und Entscheidendes beitragen. 133 4.3 Sich zuwenden und zuhören 27 West, Wir werden nicht mehr schweigen, 164-168. 28 Cooper-White, The Rape of Tamar, 27. 29 Ebd., 26. Hervorhebungen im Original. 30 West et al., Rape, 36. Die Verge‐ waltigung Tamars Die Perspektiven der Gewöhnlichen LeserInnen sind dabei selbst wieder vielfältig und untereinander verschieden. Ein Beispiel für ein erfolgreiches Bibelprojekt auf dieser Grundlage stellt die südafrikanische Tamar-Kampagne dar. Vom Jahr 2000 an führte das Ujamaa Bibelzentrum der Kwa-Zulu-Na‐ tal-Universität in Südafrika mit der Tamar-Kampagne ein groß angelegtes Projekt zur biblischen Bildung durch, das gleichzeitig auf sexuelle und Gendergewalt aufmerksam machte und zu ihrer Überwindung beizutragen suchte. West beschreibt die Vorgeschichte und Entwicklung dieser Kampagne 27 . Die Erzählung von der Vergewaltigung Tamars durch ihren Halbbruder Amnon in 2 Sam 13,1-22 spielt eine wichtige Rolle in dem weit ausholenden narrativen Bogen um die Thronfolge Davids. Zugleich ist sie aber auch eine Geschichte vom Argumentieren, vom Protest, von der Klage und vom Ver‐ stummen einer Frau angesichts der Gewalt, die ihr angetan wird. Der fami‐ liäre Kontext, das Nichtrespektieren des Neins, die Mechanismen, die eine Frau in einer patriarchalen Gesellschaft zum Verstummen bringen und pas‐ siv machen und die Lenkung der Aufmerksamkeit von der Frau weg und hin zu den männlichen Protagonisten - sowohl durch die Figuren der Erzählung als auch den Erzähler selbst - machen Tamar zu „jemand, deren Geschichte immer noch sehr modern ist“ 28 , wie Pamela Cooper-White schreibt. Die US-amerikanische Theologin kommentiert: „In Tamars Geschichte finden wir eine Vergewaltigung, die Elemente von Inzest und häuslicher Gewalt kombiniert. Es gibt eine Verschwörung von Männern, die dem Täter des Verbrechens helfen und ihn decken, und eine männliche Verschwörung des Schweigens nach der Tat. Schließlich gibt es am Ende eine rohe Form der Vergeltung, aber dieser brutale Racheakt geschieht weit vom Opfer entfernt. Alle Macht zu handeln oder sogar zu sprechen wird Tamar genommen.“ 29 Die „Gewöhnlichen BibelleserInnen (alphabetisiert oder auch nicht)“ 30 , denen der Text während des Kurses in drei Sprachen vorgelesen wurde, reagierten von Beginn an mit Überraschung und wiedererkennendem Ver‐ ständnis: Hier lernten sie einen Text kennen, von dem sie nicht erwartet 134 4 Widerstand 31 Vgl. ebd., 39-41. 32 Vgl. West, Wir werden nicht mehr schweigen, 168-170. 33 Ebd., 170. Kampf ge‐ gen das Schweigen Eigene An‐ teile an strukturel‐ ler Verant‐ wortlich‐ keit hätten, ihn in der Bibel zu finden, und der in vieler Hinsicht ihre postkolo‐ nial-patriarchalen Erfahrungen widerspiegelte. Mit gezielt eingesetzten Fragen und viel Zeit zum Gespräch in Kleingrup‐ pen, die nach Frauen und Männern (die deutlich in der Minderheit waren) getrennt verliefen, wurden nicht nur exegetische Details der Geschichte herausgearbeitet, sondern konnte vor allem ein Dialog zwischen der Erzäh‐ lung und den Erfahrungen der LeserInnen geführt werden. In den Frauen‐ gruppen wurden eigene Erfahrungen von sexueller Gewalt, aber auch von Solidarität und von Entsolidarisierung angesprochen. Bestärkt oder trans‐ formiert durch den Bibeltext und das Gespräch in der Gruppe äußerten Frauen ihre Bereitschaft, den Kampf gegen das Schweigen angesichts der sexuellen Gewalt in ihren Gemeinden aufzunehmen und sich mit den Opfern zu solidarisieren 31 . In den Männergruppen kam es ebenfalls zu einer Identifikation der Leser mit den verschiedenen männlichen Figuren der Erzählung: v. a. mit Amnon, seinem Freund Jonadab, seinem Halbbruder Abschalom und deren Vater David. Die Gruppe um West vertiefte diese Erfahrungen, indem sie diesen Text später auch allein mit Männergruppen und gezielt dafür erarbeiteten Fragen lasen 32 . Der biblische Text, der viele Jahrhunderte zuvor in einer völlig anders strukturierten patriarchalen Kultur entstanden war, entfaltete ein kritisches und transformierendes Potential, indem er Möglichkeiten schaffte, eigene Anteile an struktureller und kultureller Verantwortlichkeit und Schuld zu erkennen und zu benennen. Auf diese Weise konnten auch aktuelle patri‐ archale und postkoloniale Machtstrukturen und Verdrängungsmechanis‐ men / Tabuisierungen thematisiert und überwunden werden. Dabei ist das offene und selbstkritische Gespräch unter Männern über sexuelle Gewalt und Männlichkeitsideale durchaus nicht selbstverständlich, wie West anmerkt: „Durch alle Altersgruppen der männlichen Teilnehmer hinweg gab es eine echte Bereitschaft, über diese Dinge zu sprechen, was auch für die Männer selbst überraschend war.“ 33 135 4.3 Sich zuwenden und zuhören 34 Caldeira, Theo-Quilombismus, 59; vgl. 58-60. 35 Ebd. Wechsel der Akteu‐ rInnen Der Perspektivwechsel zu den Gewöhnlichen LeserInnen ermöglicht viel‐ fältige Identifikationen mit dem Bibeltext und seinen einzelnen Protagonis‐ tInnen. Die realen Lebenserfahrungen von Menschen in postkolonialen Kontexten können mit Hilfe des Bibeltextes thematisiert und mit der bibli‐ schen Erzählung in einen Dialog gebracht werden. Auf diese Weise können die Gewalterfahrungen, von denen der biblische Text spricht, ebenfalls aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet werden. Die Bibel wird so in den Händen postkolonialer Subjekte zu einem Instrument des Widerstands gegen die realen Gender- und Gewaltkonstellationen ihres Kontextes. Gerade auch ein zutiefst von Gewalt, Ausschluss und Schweigen gepräg‐ ter biblischer Text muss hier also nicht als geladene Waffe im Sinn von → Musa Dube (vgl. im letzten Abschnitt) gelten, auch wenn er natürlich in einem anderen Kontext und unter anderen Subjekten diese Funktion ein‐ nehmen könnte. Durch die Konfrontation mit der realen Erfahrung der Ge‐ wöhnlichen LeserInnen und aus ihrer Perspektive wird sein Potential in Richtung auf Widerstand und Heilung transformiert. Entscheidend ist, dass zu diesem Perspektivwechsel auch ein Wechsel der AkteurInnen gehört: Die Gewöhnlichen LeserInnen sind selbst Subjekte ihrer Bibelinterpretation; die professionellen BibelwissenschaftlerInnen wechseln in die Rollen des Zu‐ hörens und Lernens. Dadurch wird ein Dialog ermöglicht, in dem beide Sei‐ ten hören und lernen können. Grundlegend ist dafür aber, dass mit den Per‐ spektiven auch die Subjekte wechseln. Ein anderes Beispiel dafür, wie ein Perspektiv- und Subjektwechsel in postkolonialen Kontexten den Blick auf Kirche und Glaube verändern und durch Identitätsprozesse auch befreiend wirken kann, beschreibt und analysiert die brasilianische Theologin Cleusa Caldeira: „die Kirche der schwarzen heiligen Frauen“ 34 . Diese Kirche im doppelten Wortsinn - ein Kirchengebäude, das zugleich von einer kirchlichen Gemeinschaft getragen wird - ist aus einer Initiative von 14 Schwarzen Frauen, die in einer Favela wohnten, entstanden. Caldeira schreibt: „Es ist vielleicht die erste von Patriarchat befreite und antirassistische Kirche. Sie stellt bei Weitem die originellste afro-brasilianische spirituelle Widerstands‐ erfahrung im Schoß des katholischen Christentums dar.“ 35 136 4 Widerstand 36 Ebd. 37 Ebd. 38 Ebd. 39 Ebd., 57. Kirche der Schwarzen heiligen Frauen Die ‚Kirche der schwarzen heiligen Frauen‘ entstand aus den regelmäßigen Treffen von Frauen - seit den 1960er Jahren -, die in einer Baracke gemein‐ sam kochten, sich unterhielten, arbeiteten und beteten. Diese Nähe zum ge‐ lebten Alltag der armen Schwarzen Frauen stellt auch bis heute eines der wichtigsten Kennzeichen der Kirche dar. Im Widerstand zu „der klerikalen patriarchalen Macht“ 36 setzten die Frauen den Bau eines Kirchengebäudes durch, dessen ikonografische Gestaltung das zweite wichtige Kennzeichen der Kirche der Schwarzen heiligen Frauen ist: Das Fresko, das beinahe den gesamten Innenraum gestaltet, zeigt Bilder verschiedener Szenen aus dem Leben von Jesus und Maria, fast alle dargestellt von Schwarzen Menschen, „denn die Gemeinde selbst ist in der Tat schwarz. Das Gemälde setzt die 14 schwarzen Frauen, die die Gemeinde gründeten, mit dem Leben Marias, der Mutter Jesu, in Beziehung. Es sind 14 Szenen, die den sieben Schmerzen und den sieben Freuden Marias zugeordnet werden. Die Gemeinde wollte nämlich die Geschichte des Schreckens in Verbindung mit der Geschichte der Hoffnung erzählen.“ 37 Von diesen Bildern umgeben, können die Schwarzen Frauen in der Ge‐ meinde sich selbst „als imago Dei, als Abbild Gottes, zur Geltung bringen - ein Bild, das das rassistische System so sehr entstellen wollte“ 38 . Das dritte Charakteristikum dieser Kirche stellen die spezifische Spiritualität und Liturgie dar, in denen katholisch-christliche Formen mit dem spirituellen Erbe Afrikas in Beziehung gesetzt wird. Auch auf diese Weise ist es den Frauen möglich, sich intensiv mit dieser Gemeinde, mit diesem Gebäude zu identifizieren. Diese Kirche hilft Schwarzen Menschen dabei, ‚Schwarz zu werden‘. Dies ist in einer rassistischen und postkolonialen Gesellschaft keine Selbstver‐ ständlichkeit: „Eine Schwarze und ein Schwarzer zu werden stellt also die harte Arbeit dar, die afrobrasilianische Identität zur Welt zu bringen. Und diese kann nicht als eine bereits vorab begrifflich erfasste Identität aufgefasst werden.“ 39 137 4.3 Sich zuwenden und zuhören 40 Vgl. Kern, Theologie der Befreiung, 36-43; Silber, Pluralität, 18-21, 69-74. 41 Vgl. Taylor, Subalternität und Fürsprache, 284-287. Der Begriff der Subal‐ ternen Durch diesen Prozess der Identitätsbildung ist aber nach Ansicht Caldeiras Befreiung möglich, auch wenn er ‚harte Arbeit‘ darstellt und sich im Widerstand gegen Rassismus, Patriarchat und Klerikalismus durchsetzen muss. 4.4 Option für die Subalternen? Sich von kolonialistischen Interpretationen des Christentums abkehren und sich ausgeschlossenen und unterdrückten Perspektiven zuwenden - daraus wird eine methodologische Umkehr, die sich mit der befreiungstheologi‐ schen Option für die Armen 40 vergleichen lässt. In dieser Option, die in den 1970er Jahren vertieft theoretisiert wurde, ging es um eine grundlegende ↗ epistemologische Bevorzugung der Perspektive der Armen, die zugleich durch einen echten Ortswechsel zu den Armen, tiefe Solidarität mit ihrem Leben und das Bemühen um ihre Subjektwerdung und Ermächtigung gekennzeichnet war. Diese Option zeitigt inhaltliche und methodische Konsequenzen in allen Bereichen der Theologie. Die Option für die Armen wird in den postkolonialen Theologien zugleich problematisiert, kritisiert und vertieft. Während der Begriff der Option für die Armen außerhalb der Theologie der Befreiung und ihrer aktuellen Weiterentwicklungen kaum verwendet wird, lässt sich doch innerhalb der postkolonialen Theologien eine ähnliche methodologische Umkehr identifizieren, die jedoch vielfach komplexer und selbstkritisch reflektiert erscheint. Der US-amerikanische Theologe Mark Lewis Taylor verdeutlicht diese Umkehr und ihre inneren Schwierigkeiten am Begriff der Subalternen und einer Auseinandersetzung mit Gayatri Spivak. Für Taylor bezeichnet der Begriff der ‚Subalternen‘ zwei wichtige As‐ pekte, die sich gegenseitig ergänzen: Das lateinische ‚sub‘ verweist auf die Unterordnung und Unterworfenheit der Subalternen, während der zweite Teil des Begriffs - ‚alter‘ - sich auf ihre Andersheit, Differenz und interne Pluralität bezieht 41 . Die Armen, die in der frühen Befreiungstheologie in erster Linie als ökonomisch arm und darum sozial ausgeschlossen verstan‐ den wurden, sind also auch ‚andere‘: Sie sind durch ihre Kultur, ethnische und soziale Zugehörigkeiten, ihre Religion, ihr Gender, ihre sexuelle Praxis 138 4 Widerstand 42 Ebd., 282. 43 Ebd., 281. 44 Ebd., 283. 45 Ebd., 277. Wende zur Perspek‐ tive der Subalter‐ nen usw. so unterschiedlich und befinden sich zugleich jeweils wieder in neuen, beweglichen Machtkonstellationen, dass die reine sozioökonomische Ana‐ lyse nicht ausreicht, um ihrer Lebenswirklichkeit gerecht zu werden. Gleichzeitig verweist der Begriff der Subalternen für Taylor aber auch dar‐ auf, dass die ‚Anderen‘ ‚arm‘ sind: Die Vielfalt ihrer Kulturen und sozialen Bezüge darf nicht zu einer postmodernen „Feier von Differenz und Spiel“ 42 missbraucht werden. Taylor spricht hier von einer „Fetischisierung“ 43 im Differenzdiskurs, der dann missbraucht wird, wenn Differenz, Vielfalt, Spiel und Feier isoliert von unterdrückenden und repressiven Beziehungen als per se positive Pluralität betrachtet werden. Die Subalternen sind in diesem Verständnis eben nicht nur vielfältig und ‚anders‘, sondern durch die Vorsilbe ‚sub-‘ ist es möglich, zugleich ihre soziale Rolle und das Potential an Ungerechtigkeit, das in der kulturellen Vielfalt angelegt ist, mit zu benennen und analytisch zu berücksichtigen. Die Wende hin zur Perspektive der Subalternen ist für Taylor entschei‐ dend für eine Theologie, die in postkolonialen Kontexten befreiend wirken möchte. Nur aus dieser Perspektive lassen sich sowohl kulturelle und soziale Differenzen als auch Armut und Unterdrückung so beschreiben, dass sie die Theologie in einer Weise transformieren können, dass sie in die Lage versetzt wird, die befreiende und lebendigmachende Botschaft des Evangeliums in einem konkreten Kontext Wirklichkeit werden zu lassen. Taylor nennt diese Wende zu den Subalternen ein „befreiendes a priori“ und versteht darunter „die Weise […], wie das Verlangen nach und der Antrieb zu völliger, struk‐ tureller Freiheit die tiefen Orte unseres Denkens, unseres Handelns und un‐ seres Lebens heimsuchen“ 44 können. Taylor problematisiert aber zugleich diese Wende als die Praxis derjeni‐ gen, die selbst nicht subaltern sind. Es sind Menschen, „die - gewöhnlich aufgrund einer Gruppenzugehörigkeit (Klasse, ethnische Identität, Gender, Bildungserfahrung, politische Position) oder durch eine Kom‐ bination dieser Zugehörigkeiten - Zugang zu einer Ermächtigung haben, den andere nicht besitzen“ 45 . 139 4.4 Option für die Subalternen? 46 Vgl. Spivak, Can the Subaltern Speak. „The subaltern“ im Titel kann sowohl männlich als auch weiblich, sowohl im Plural als auch im Singular übersetzt werden. Da Spivak über subalterne, indigene Frauen anhand eines konkreten Falles nachdenkt, halte ich die Übersetzung „Kann die subalterne Frau sprechen? “ für angemessen. Vgl. Kerner, Postkoloniale Theorien, 104-106; Castro-Varela/ Dhawan, Postkoloniale Theorie, 72-77. 47 Ebd., 87, Hervorhebung und Großschreibung im (englischen) Original. Vgl. Taylor, Subalternität und Fürsprache, 277. 48 Vgl. ebd., 70f. 49 Ebd., 104. „Kann die subalterne Frau spre‐ chen? “ Für diese Menschen - und hier greift Taylor eine Argumentation von Gayatri Spivak auf - ist es gerade nicht leicht, das Sprechen der Subalternen wirklich zu hören. In ihrem wichtigen Essay „Kann die subalterne Frau sprechen? “ 46 untersucht sie die Probleme der ↗ Repräsentation der Subalternen durch einen „wohlwollenden Westlichen Intellektuellen“ 47 . Dieser wohlwollende Intellektuelle unterscheidet sich in seiner Haltung beim Sprechen ‚über‘ die Subalternen nur unwesentlich von einem ‚wohlwollenden‘ Kolonisten, der seiner eigenen Meinung nach auch nur ‚das Beste‘ für die von ihm eroberten oder verdrängten Subalternen will. Beide sprechen ‚für‘ und ‚über‘ andere, und beide repräsentieren jemanden, der oder die sich offenbar nicht selbst vertreten kann oder darf. Repräsentation, führt Spivak unter Rückgriff auf Karl Marx und Michel Foucault aus, lässt sich im Sinn von ‚Vertretung‘, aber auch im Sinn von ‚Darstellung‘ interpretieren, beide Bedeutungen dürfen aber nicht verwech‐ selt werden, auch wenn sie aufeinander bezogen sind 48 . Beide Arten von Repräsentation der Subalternen führen aber - nach Spivak - nicht dazu, dass ihre Stimme wirklich gehört wird. Die Repräsentation führt vielmehr dazu, dass die Stimme der Subalternen auch von den ‚wohlwollenden‘ Intellektu‐ ellen interpretiert, transformiert und im schlimmsten Fall verfälscht wird. „Die Subalterne kann nicht sprechen“ 49 folgert Spivak daher provokativ auf der letzten Seite ihres Essays und grenzt sich damit auch ausdrücklich gegen Foucault ab, der ein solches Sprechen für möglich hält, wenn die Bedingungen dafür geschaffen werden könnten. Für Mark L. Taylor ist dieses Problem auch in postkolonialen Theologien virulent, wenn sie von Menschen betrieben werden, die selbst nicht Subal‐ terne sind. Er verknüpft die Problematik mit der Auseinandersetzung um die Frage, ob die ‚Option für die Armen‘ der Theologie der Befreiung nicht auch eine Option westlicher oder westlich geprägter Intellektueller ‚für‘ Menschen ist, die aufgrund globaler Konstellationen nicht so privilegiert 140 4 Widerstand 50 Taylor, Subalternität und Fürsprache, 290. 51 Ebd., 291; Taylor zitiert hier John Beverley, Subalternity and Representation. Problem der Reprä‐ sentation Lösungs‐ strategien sind. Für die Option für die Armen trifft mithin ebenfalls das Problem der Repräsentation zu, durch die Menschen (schlimmstenfalls) zum Schweigen gebracht werden, indem man ‚für sie‘ zu sprechen meint. Er schreibt: „So kommt es, dass der wohlwollende Intellektuelle, selbst wenn er als Kritiker schreibend Befreiung fordert, in einer Klemme steckt: Wie ist es möglich, die Stimme und Sprache der Subalternen zu hören und anzuerkennen, ohne sich an der Ausübung von Kontrolle zu beteiligen, die ihre Sprachlosigkeit verstärkt? “ 50 Dabei ist das Problem hier selbstredend aus der Perspektive eben dieser ‚wohlwollenden Intellektuellen‘ formuliert - für postkoloniale TheologIn‐ nen, die biografisch aus subalternen Kontexten stammen, stellt es sich natürlich anders dar. In diesem Buch - einer Einführung in postkoloniale Theologien in deutscher Sprache - müssen wir uns aber vor allem mit die‐ ser Perspektive westlicher (und hoffentlich wohlwollender) Intellektueller auseinandersetzen. Mark Taylor schlägt Lösungsstrategien für das von ihm beschriebene Di‐ lemma vor. Sie beginnen mit dem Eingeständnis, dass dieses Problem exis‐ tiert. Ohne dieses kritische Selbstbewusstsein ist für Taylor überhaupt kein Weg aus der Problematik denkbar: „Wir können niemals der Tatsache aus‐ weichen, […] dass ‚akademisches Wissen eine Praxis ist, die aktiv Subalter‐ nität produziert‘“ 51 . Wenn es nicht möglich ist, diesem Problem auszuwei‐ chen, so sollte es doch auch nicht verschwiegen oder beschönigt werden. Nur mit einem selbstkritischen Eingeständnis der Verwobenheit in postkoloniale, patriarchale, rassistische und andere globale und lokale Strukturen von Ungerechtigkeit können westliche TheologInnen überhaupt versuchen, sich die Anliegen der Subalternen zu eigen zu machen - ohne dass sie diese Verwobenheit durch die Anerkennung des Problems schon überwunden hätten. Dieses Eingeständnis schließt das selbstkritische Be‐ wusstsein dafür ein, dass westliche Intellektuelle eben selbst nicht die Subalternen sind, für die sie sprechen möchten, und dass ihre Kenntnis der Lebenswirklichkeiten und Erfahrungen der Subalternen nur vermittelt und daher stark begrenzt ist. Als zweite Strategie der Solidarität mit den Subalternen nennt Taylor die Beteiligung an deren Widerstand, und zwar ausdrücklich nicht nur dort, wo die Subalternen selbst Widerstand leisten (oder Ausschluss erfahren), 141 4.4 Option für die Subalternen? 52 Ebd., 295. Der Begriff wird aus dem Werk von Spivak zitiert. Die Ver‐ wundbar‐ keit der wohlwol‐ lenden In‐ tellektuel‐ len Wider‐ stand ge‐ gen die Solidarität sondern auch im eigenen Lebens- und Arbeitsbereich. Taylor bezieht sich damit nicht nur auf die global orientierte Solidarität, die sich beispielsweise gegen weltweite Wirtschaftsstrukturen richtet, sondern auch auf den kon‐ kreten lokalen Widerstand gegen Ungerechtigkeit und Ausbeutung im persönlichen Kontext des/ der westlichen Intellektuellen. Eine dritte Lösungsstrategie für das Repräsentationsdilemma ist die Ent‐ wicklung eines kritischen Selbstbewusstseins dafür, dass es bei der Anwalt‐ schaft für die Subalternen nicht nur um diese geht, sondern auch um die Infragestellung, Weiterentwicklung und Verwundbarkeit der wohlwollen‐ den Intellektuellen selbst. Diese sind nicht die heldenhaften, selbstlosen und erfolgreichen ‚Retter‘ der Subalternen, die sich nicht selbst helfen könnten, sondern haben es selbst nötig, von ihren Verstrickungen in koloniale, euro‐ zentrische, rassistische und patriarchale Stereotypen befreit und bekehrt zu werden. Sie müssen sich daher auch von der Kritik, vom Ressentiment und sogar vom Widerstand derjenigen, für die sie sich einsetzen wollen, anfragen und verändern lassen. Dann kann es auch zu der vierten Strategie kommen, die Taylor mit einem Begriff von Jacques Derrida als „Delirium“ 52 bezeichnet. In diesem ‚Delirium‘ zeigen sich die intensiven und wechselseitigen Beziehungen zwischen Repräsentierten und Repräsentierenden. Beide werden als dyna‐ misch aufeinander bezogen aufgefasst, so dass sie sich als innere Stimmen des Intellektuellen verdoppeln und gewissermaßen ein inneres Gespräch beginnen. Taylor formuliert diese vierte Strategie bewusst sehr vage, weil er ein prekäres Delirium beschreiben will, das gerade nicht von der Initiative der Intellektuellen ausgeht, sondern dem sie sich eher unterwerfen, um auf diese Weise der Objektivierung der Subalternen im Prozess der Fürsprache für sie zu widerstehen. Ein wichtiger Punkt, der von Taylor meines Erachtens nicht ausführlich genug betrachtet wird, ist die Bedeutung, die dem Widerstand der Subal‐ ternen gegen die Solidarität und die Fürsprache der wohlwollenden Intel‐ lektuellen zukommt. Denn an diesem Widerstand, der häufig als ärgerlich, störend und kontraproduktiv wahrgenommen wird, zeigen sich die Kraft ihrer Subjektivität und ihre Fähigkeit zur Resilienz. Gleichzeitig verweist dieser Widerstand auf die Tatsache, dass diese Intellektuellen, die zur Soli‐ darität, zu Befreiung und für die Gerechtigkeit antreten möchten, selbst Teil einer globalen postkolonialen Struktur sind und auch durch ihre (selbst-)kri‐ 142 4 Widerstand 53 Vgl. meine Reflexionen zum Thema im Bereich der Missionstheologie: Silber, Synoda‐ lität, 267-270. 54 La Puente Tapia, Widerstand, 74. Der Wider‐ stand ge‐ gen jede Art westli‐ cher Einmi‐ schung tische akademische Arbeit für die Reproduktion dieser Strukturen Mitver‐ antwortung tragen. Durch diesen Widerstand - so unproduktiv er im Einzelnen erscheinen mag - unterbrechen die Subalternen die Selbstverständlichkeit der postko‐ lonialen Hierarchien und ermöglichen auf diese Weise die Selbstreflexion und die Transformation der befreienden und solidarischen Strategien. Der Widerstand gegen jede Art westlicher Einmischung (auch die der wohlwol‐ lenden Intellektuellen), gegen jede Form der Begegnung mit dem Christen‐ tum (auch mit seinen befreienden Versionen) oder sogar der Widerstand gegen die Berufung auf die (im Westen formulierten) Menschenrechte hat hier eine wichtige Bedeutung für die Rekonfiguration und Rekonstruktion befreiender westlicher Praktiken. Der selbstkritische Respekt vor dem Wi‐ derstand der Subalternen gegen die Solidarität der wohlwollenden Intellek‐ tuellen gehört daher ganz entschieden zur Haltung und Praxis dieser Soli‐ darität selbst dazu 53 . Als weitere wichtige Strategie, um die Fallen der Repräsentation bewusst zu umgehen, die von Taylor ebenfalls nicht so benannt wird, nennt der in den USA lebende Peruaner Juan Carlos La Puente Tapia, kirchlicher Berater und Aktivist, die Pflege von Freundschaft und Gemeinschaft mit subalternen Menschen. Er hält einen „epistemischen Wandel“ für möglich, wenn das Handeln und das Leben der Menschen, um die es geht, wirklich ernst genommen wird. Er schreibt: „Auf die Stimme der Opfer zu hören ist entscheidend für die Frage, wie wir uns in den Widerstandsformen anderer Menschen erkennen“ 54 . Daraus ergibt sich nach La Puente die Notwendigkeit, echte Beziehungen und Freundschaften zu leben und pflegen, um sich gegenseitig zuhören, voneinander lernen und einander korrigieren zu können. Schließlich erge‐ ben sich gerade auch in kirchlichen Kontexten darüber hinaus wichtige spirituelle Verbindungen, die dazu beitragen können, das gemeinsame und solidarische Engagement miteinander und füreinander zu vertiefen und zu verändern: „Andere Personen ins Netz unseres Widerstandes aufzunehmen und tief einzu‐ beziehen wird dann zu einer machtvollen Einladung, in die wir uns mit unseren 143 4.4 Option für die Subalternen? 55 Ebd., 78. 56 Said, Kultur und Imperialismus, 92. Kontra punkt‐ isches Lesen offenen und dargebotenen Wunden einbezogen finden: Leib und Blut, symboli‐ siert durch Brot und Wein, die, dargeboten in Gemeinschaft, das messianische Festmahl ankündigen und verwirklichen.“ 55 4.5 Kontrapunktisches Lesen In den Postkolonialen Theorien werden auch konkrete Methoden benannt, wie unterschiedliche Perspektiven miteinander in Dialog zu bringen sind. Vor allem in den Literaturwissenschaften, die ja ein wichtiger Diskursraum für die Entstehung und Entwicklung der postkolonialen Studien waren, wurden verschiedene Methoden entwickelt, die nicht nur für die Analyse von Machtverhältnissen in Diskursen und Narrativen dienen, sondern auch den Widerstand gegen die herrschenden Perspektiven ermöglichen, indem sie Räume eröffnen, die durch den Kolonialismus verschlossen waren. Auf Edward Said, der nicht nur Literaturwissenschaftler, sondern auch Musiker war und als Musikkritiker arbeitete, geht die postkoloniale litera‐ turwissenschaftliche Methode des „kontrapunktischen Lesens“ zurück. Er bezeichnete sie nach einer Kompositionstechnik der europäischen klassi‐ schen Musik, in der ein musikalisches Thema mehrfach oder mehrere The‐ men gleichzeitig und in unterschiedlichen Stimmen einander zugeordnet werden. Sie können sich dabei dissonant und/ oder harmonisch ergänzen und interpretieren sich wechselseitig. In ähnlicher Weise regt Said an, koloniale Literatur oder Texte über die Ko‐ lonien mit anderen Texten kontrapunktisch zu verbinden, die Erfahrungen, Ansichten oder Personen ins Spiel bringen, die im ersten Text ausgeblendet oder entstellt werden. Auf diese Weise werden unterschiedliche Perspekti‐ ven miteinander in Dialog gebracht und können sich auf diese Weise - ähnlich wie im musikalischen Kontrapunkt - wechselseitig interpretieren: „Beginnen wir damit, das kulturelle Archiv nicht als univokes Phänomen neu zu lesen, sondern kontrapunktisch, mit dem Bewußtsein der Gleichzeitigkeit der metropolitanischen Geschichte, die erzählt wird, und jener anderen Geschichten, gegen die (und im Verein mit denen) der Herrschaftsdiskurs agiert.“ 56 144 4 Widerstand 57 Ebd., 112. 58 Ebd., 148. 59 Sugirtharajah, Eine postkoloniale Untersuchung, 126. 60 Ebd., 138. 61 Ebd., 139. Neutesta‐ mentliche und bud‐ dhistische Schriften Ein wichtiges Ziel dieser Lesestrategie besteht darin, „die Lektüre des Textes so [zu] erweitern, daß sie einschließt, was einst gewaltsam ausgeschlossen worden war“ 57 , aber nicht in der Weise, dass die gewaltsam ausschließende Literatur nun ihrerseits ausgeschlossen würde, sondern im dialogischen Nebeneinander des Kontrapunkts, also „zu lesen, was da steht und was nicht da steht“ 58 . Ein solches Lesen ist eine Praxis des Widerstands, da der um die Erfahrungen der Marginalisierten erweiterte Kontext die ursprüngliche Bedeutung des Textes verändert und bis zum Gegensatz verfremden kann. Es destabilisiert, stört, stellt koloniale Narrative in Frage. Es zeigt aber auch Verbindungen auf, Überlappungen, unscharfe Grenzen und ↗ Hybridität. Der Bibelwissenschaftler → Rasiah S. Sugirtharajah schreibt: „Kontrapunktisch zu lesen bedeutet, sich gleichzeitig der etablierten Gelehrsam‐ keit und anderer Gelehrsamkeit bewusst zu sein, die der herrschende Diskurs zu domestizieren versucht und gegen die er spricht und handelt.“ 59 Kontrapunktisches Lesen bringt also nicht nur die koloniale Perspektive und den Widerstand dagegen zur Sprache, sondern darüber hinaus beide miteinander in Dialog; ihre wechselseitigen Verwobenheiten können ana‐ lysiert und aufgedeckt werden. Sugirtharajah greift das Saidsche Konzept des kontrapunktischen Lesens auf, um die von ihm in der Bibelwissenschaft beobachtete „tief sitzende eu‐ rozentrische Voreingenommenheit“ zu kritisieren, derzufolge „alles theolo‐ gisch Lohnende nur von griechisch-jüdischen Traditionen bereitgestellt werden kann“ 60 . Zu diesem Zweck verweist er auf Untersuchungen verglei‐ chender Religionswissenschaften, in denen neutestamentliche und buddhis‐ tische Schriften auf ihre „textuellen und konzeptuellen Affinitäten“ 61 hin analysiert werden und so miteinander in Dialog treten. Um den Einfluss asiatischer spiritueller Traditionen auf die Entstehung des Neuen Testaments zu illustrieren, zitiert Sugirtharajah den kanadischen Religionswissenschaftler Roy C. Amore, der die Bedeutung buddhistischen Denkens auf die Entstehung der Spruchquelle Q untersucht: 145 4.5 Kontrapunktisches Lesen 62 Ebd., 140. Sugirtharajah zitiert aus Amores Buch Two masters, one message. Auflösung der Duali‐ tät zwi‐ schen Christen‐ tum und Buddhis‐ mus „Es gibt verschiedene Anzeichen dafür, dass Lukas und Matthäus sich auf eine Quelle oder Quellen stützten, die zusätzlich zu Aussagen über das Ende der Zeit auch Aussagen enthielten, die eigentlich jüdische-christliche Versionen buddhistischer Lehren waren. Die Bergpredigt enthält die größte Häufung dieser buddhistischen Aussprüche.“ 62 Amore liest auch die neutestamentlichen Aussagen über Jesu Präexistenz, Inkarnation, Geburt und Himmelfahrt kontrapunktisch mit buddhistischen Avatar-Vorstellungen und vermutet, dass der Dialog jüdisch-christlicher Glaubensvorstellungen mit buddhistischen Anschauungen dem frühen Christentum geholfen habe, im pluralistischen religiösen Milieu der grie‐ chisch-römischen Antike Fuß zu fassen. Sugirtharajah führt neben Amore noch weitere Autoren an, die neutesta‐ mentliche Texte, insbesondere aus den Evangelien, kontrapunktisch zusam‐ men mit buddhistischen Texten unterschiedlicher Traditionen lesen. Dabei geht es weder ihm noch den vorgestellten Autoren darum, eine unmittelbare literarische Abhängigkeit der neutestamentlichen von buddhistischen Tex‐ ten zu behaupten. Vielmehr soll die Vorstellung vom Neuen Testament als einem rein westlichen Text dekonstruiert werden, um eine vielfältigere und hybride Vorstellung von der Entstehung des Neuen Testaments und damit auch des Christentums zu gewinnen. Die jüdische und die hellenistische Kontextualisierung der biblischen Texte bleiben jeweils erhalten, werden jedoch durch eine Beschreibung ihres hybriden und interkulturellen Cha‐ rakters ergänzt. Aus postkolonialer Perspektive ist für Sugirtharajah entscheidend, dass auf diese Weise die Dualität zwischen Christentum und Buddhismus aufge‐ löst wird. Das Christentum verliert seinen Charakter als exklusiv westliche Religion, die fremd in Asien wäre und sich gegen den Buddhismus und an‐ dere Religionen und religiöse Traditionen durchsetzen müsste. Vielmehr ist es möglich, das Neue Testament als einen hybridisierten jüdisch-hellenisti‐ schen und buddhistischen sowie westlichen und asiatischen Text zu verste‐ hen. Die kontrapunktische Lektüre der Bibel als eines Basistextes des europäi‐ schen Kolonialismus, der im Verbund mit der christlichen Mission in Asien auftrat, und buddhistischer Schriften als einer möglichen Repräsentation asiatischer Religiosität, kann die Überlappungen, Berührungen, Harmonien 146 4 Widerstand 63 Ebd., 139. und Dissonanzen beider religiöser Traditionen sichtbar machen. Die histori‐ sche Forschung kann nach Sugirtharajah darüber hinaus auch geschichtlich sichtbar machen, wie es zu diesen Übereinstimmungen und ↗ Hybridisie‐ rungen gekommen ist: „Der christliche Glaube entstand in einem kulturellen und literarischen Milieu, das tatsächlich von indischen, buddhistischen und hinduistischen Denkmustern beeinflusst worden ist. Die Handelsbeziehungen zwischen Indien und dem me‐ diterranen Römischen Reich waren intensiver als dies oftmals geglaubt worden ist. Zusammen mit der Handelsware reisten religiöse Ideen sowohl zur als auch von der mediterranen Welt.“ 63 Über die Anwesenheit buddhistischer Mönche in Westasien und Nordafrika informieren antike Dokumente. Der indische Emissär Zarmanochegas, der sich kurz vor der Zeitenwende in Athen selbst verbrannte, und dessen Geschichte Paulus bekannt gewesen sein könnte, wurde bereits oben er‐ wähnt (vgl. 2.5). Auch wenn sowohl der Buddhismus wie das Christentum sich in vieler Hinsicht seit jener Zeit weiterentwickelt haben, lassen diese historischen Tatsachen eine historische und inhaltliche Verwandtschaft beider Religionen plausibel werden. Ähnliche Prozesse des kontrapunktischen Lesens wurden bereits in frü‐ heren Abschnitten vorgestellt, ohne sie mit diesem Begriff zu bezeichnen: So demonstrieren zahlreiche der Beispiele für postkolonialen Widerstand aus diesem Kapitel auch, dass Bibeltexte, aber auch christliche Symbole (wie das Kreuz, vgl. 4.1 oder ein Kirchengebäude, vgl. 4.3) und theologische Begriffe (z. B. Erlösung, vgl. 3.6) durch kontrapunktisches Lesen mit den Erfahrungen der Subalternen in Dialog gebracht werden können. Dazu müssen sie nicht - wie die buddhistischen Texte in Sugirtharajahs Beispiel - in einen unmittelbaren historischen Zusammenhang mit dem Neuen Testament oder dem Christentum gebracht werden können. Viel‐ mehr ist das kontrapunktische Lesen nach Said eine Strategie, mit der Texte, Symbole und Strukturen, die in ihrem althergebrachten Sinn die Macht des Kolonialismus repräsentieren, kontrapunktisch mit Texten, Symbolen und Traditionen in Dialog gebracht werden können, welche die Erfahrungen derjenigen repräsentieren, die vom Kolonialismus zum Schweigen gebracht, lächerlich gemacht, verfälscht dargestellt oder gar getötet wurden. Es kön‐ nen daher auch Texte kontrapunktisch gelesen werden, die ursprünglich 147 4.5 Kontrapunktisches Lesen 64 Pratt, Imperial Eyes, 6. Wirkmäch‐ tige Wider‐ stands‐ strategie Grenzen als über‐ windliche Barrieren keine Verbindung miteinander besitzen, aber sich angesichts des Kolonia‐ lismus gegenseitig erhellen. Kontrapunktisches Lesen stellt sich insofern als eine wirkmächtige Widerstandsstrategie gegen den Missbrauch (und den scheinbar legitimen Gebrauch) biblischer, christlicher und theologischer Texte, Symbole und Konzepte für die Zwecke des Kolonialismus heraus. 4.6 Kontaktzonen Der statischen Festlegung von Identitäten, die die postkolonialen Theorien ausgiebig kritisieren (vgl. Kapitel 2.1 und 2.2), wird häufig mit dem Konzept der ↗ ‚Kontaktzonen‘ entgegengetreten. Grenzen zwischen verschiedenen Gruppen werden weniger als Barrieren denn als Beziehungsfelder betrach‐ tet, in denen sich Räume für Kontakt, Austausch und ↗ Hybridisierung öffnen. Diese differenziertere Betrachtung von Identitäten und Beziehungen zwischen ihnen wird im Postkolonialismus als ein wichtiges Instrument des Widerstandes eingesetzt. Der Begriff der ‚Kontaktzonen‘ wird meist auf die US-amerikanische Sprach- und Literaturwissenschaftlerin Mary Louise Pratt zurückgeführt. Diese führt ihn ein, „um sich auf den Raum kolonialer Begegnungen zu beziehen, den Raum, in dem geografisch und historisch getrennte Völker miteinander in Kontakt kommen und fortlaufende Beziehungen aufbauen, die normalerweise Bedingungen von Zwang, radikaler Ungleichheit und unlösbaren Konflikten beinhalten. […] ‚Kon‐ taktzone‘ ist in meinem Gebrauch oft synonym mit ‚Kolonialgrenze‘“ 64 . In diesem Kontakt, dessen Gewaltförmigkeit von Pratt nicht vernachlässigt, sondern unterstrichen wird, bleiben die kulturellen Gruppen nicht unver‐ ändert, sondern erfahren unterschiedliche wechselseitige Transformations‐ prozesse, in denen sie sich einander annähern, gegeneinander abgrenzen, sich oder andere unterwerfen, einander nachahmen, voneinander lernen usw. Grenzen werden nicht als unüberwindliche Barrieren betrachtet, son‐ dern als Orte oder Räume, die vielfältige Kontakte ermöglichen und not‐ wendig machen. Der Begriff wird über die rein räumliche Bedeutung von ‚Grenzen‘ hinaus ausgeweitet. Auch in den Abgrenzungen zwischen Menschen und Gruppen 148 4 Widerstand Kollabora‐ tion unterschiedlicher Identitäten können Kontaktzonen ausgemacht werden. Durch diese Beschreibung der Kontakte und Beziehungen werden Identitä‐ ten in erster Linie nicht so sehr voneinander unterschieden und getrennt. Vielmehr stehen ihre Berührungen, Ähnlichkeiten und Verwobenheiten, auch ihre Herrschaftsverhältnisse, Gewaltbeziehungen und Widerstände im Vordergrund. Die Analyse dieser wechselseitigen Beziehungen wird als Akt des Wider‐ stands gegen die starre und herrschaftsorientierte binäre Struktur einander gegenüberstehender Identitäten dargestellt. Der Festlegung der Menschen auf ihre Rollen als ‚Täter‘ und ‚Opfer‘ kann zugunsten einer Beschreibung ihrer vielfältigen Eigenschaften, einschließlich ihrer unterschiedlichen Ver‐ antwortung für einen kolonialen Konflikt, vermieden werden. Innerhalb der Gruppe der ‚Weißen‘, ‚Kolonialherren‘ entsteht Raum für die Analyse von sozialen und Genderbeziehungen (und -konflikten), ebenso wie inner‐ halb der Gruppe der ‚Unterdrückten‘ auf spezifische Formen konkreter Unterdrückung aufmerksam gemacht werden kann. Auch Widerstand in der Gruppe der Herrschenden und Kollaboration auf Seiten der Unterworfenen kann auf diese Weise thematisiert werden. Die Gefahr liegt auf der Hand, dass durch diese differenzierte Betrach‐ tungsweise ein tatsächlich vorhandener Konflikt auch zerredet und ver‐ schleiert werden kann. Die offensichtliche Ausbeutung der Kolonisierten durch die ‚Kolonialherren‘ wird nicht beseitigt, indem man auf Fälle von Kollaboration und Partizipation von einzelnen aus der Gruppe der Ausge‐ beuteten aufmerksam macht. Ein solches Vorgehen kann aber zu dem Ver‐ such führen, die Opfer selbst für die Konflikte verantwortlich zu machen und die TäterInnen aus ihrer Verantwortung zu entlassen. Hier ist also eine sorgfältige Analyse geboten, die auch nach den ↗ epis‐ temologischen Interessen derjenigen fragt, die jeweils diese Differenzierun‐ gen vornehmen: Soll mit dem Blick auf einheimische Kollaboration die Verantwortung für den Kolonialismus abgeschoben werden oder dient er der genaueren Beschreibung der Pluralität der kolonialen Herrschaftsformen? Können in den konkreten Formen der ‚Kollaboration‘ möglicherweise auch verborgene Elemente des ‚Widerstands‘ zum Vorschein kommen, die darauf verweisen, dass die Unterworfenen nicht rein passiv in der Opferrolle zu sehen sind? Jede Differenzierung der Analyse an den Kontaktzonen muss die Konfliktivität der kolonialen Herrschaftsverhältnisse im Blick behalten. Ohne auf Mary Louise Pratt zurückzugreifen, stellt Homi Bhabha eine sehr ähnliche Interpretation des Phänomens der Grenze vor, die jedoch noch 149 4.6 Kontaktzonen 65 Bhabha, Die Verortung der Kultur, 56; vgl. Kerner, Postkoloniale Theorien, 125-131. 66 Vgl. Castro Varela / Dhawan, Postkoloniale Theorie, 239-271. 67 Kerner, Postkoloniale Theorien, 126. Der Dritte Raum Hybridität stärker darauf verweist, dass Grenzen nicht als Linien gedacht werden dür‐ fen, sondern als Räume (vgl. Kapitel 3.4). Auch wenn Grenzen als Linien auf der Landkarte (oder in anderen diskursiven Bereichen) erscheinen, stellen sie in Wirklichkeit doch ein Netz von Beziehungen, ↗ Verhandlungen und Machtverhältnissen dar. Homi Bhabha nennt sie einen ↗ „Dritten Raum“ 65 , von dem aus gesehen die Identitäten auf beiden Seiten der Grenze eine neue Bedeutung erlangen. Es ist ein Raum der Verhandlungen, in dem aktive und passive Rollen nicht von vornherein festgelegt sind, auch wenn konfliktive Machtstrukturen das suggerieren. Vielmehr arbeitet Bhabha heraus, wie diese Machtstrukturen in der Verhandlung zwischen den Beteiligten konstruiert und verändert werden. In seiner Studie „Die Verortung der Kultur“ beschreibt er Nachah‐ mung oder ↗ Mimikry, Ambivalenz, ‚Schlaue Höflichkeit‘ (‚sly civility‘) und andere Phänomene dieser Verhandlungen, durch die die statische Identität der Beteiligten verunsichert und destabilisiert werden kann. Die Grenze öffnet einen Raum für den Widerstand 66 . In den postkolonialen Theorien und Theologien werden diese Überlegun‐ gen vielfach aufgegriffen mit Konzepten wie ‚Zwischenraum‘, ‚Schwellen‐ bereich‘, ‚liminaler Raum‘, ‚In-between‘, ‚Ränder‘ oder ‚margins‘. Gemeinsam ist diesen Konzepten zumeist, dass sie die statische, essentialistische Dua‐ lität von Identitäten und ihre Abgrenzung untereinander aufbrechen und zugunsten einer vielfältigen, lebendigen und dynamischen Interdependenz verflüssigen. Der konfliktive Charakter der ‚Grenze‘ wird dabei in eine ge‐ nauere Analyse des (konfliktiven und pluralen) Zusammenspiels zwischen Herrschaft, Widerstand und all ihren Zwischentönen überführt. Bhabhas Begriff der ↗ Hybridität darf dabei nicht in einem biologisti‐ schen Sinn als Kreuzung oder Produktion einer neuen Identität betrachtet werden, sondern steht für die Beschreibung „komplexer kultureller Formationen, die in einer kolonialen und damit einer deutlich hierarchisierten, asymmetrischen Konstellation entstehen und diese Konstellation zugleich destabilisieren“ 67 . Sie befinden sich im Prozess konstanter Transformation und Neuinterpre‐ tation. Der Raum kolonialer Herrschaft, in dem sie sich ereignen, führt dazu, 150 4 Widerstand 68 Rivera Cusicanqui, Sociología de la imagen, 295; vgl. dies., Un mundo ch’ixi es posible. 69 Pilario, Mapping, 49, mit einem Zitat von R.S. Sugirtharajah, aus The Bible and the Third World. 70 Mit der Schreibweise wird die im Spanischen mögliche Dopplung „Latinos und Latinas“ vermieden; zugleich versuchen Latinxs und LateinamerikanerInnen damit, Menschen jenseits der Geschlechterbinarität einzuschließen. 71 Rivera, God at the Crossroads. Ch’ixi Sophia im Grenzland dass sie stets neu ausgehandelt werden, da sie zu Verunsicherungen und damit zu Reorganisationen des kolonialen Raums führen. Die bolivianische Soziologin Silvia Rivera Cusicanqui nennt solche Hyb‐ ridisierungen mit einem Begriff aus der Aymara-Sprache „ch’ixi“  68 . Darunter muss man sich ein Grau vorstellen, das aus winzigen Punkten von Schwarz und Weiß (oder anderen Farben) zusammengesetzt ist: Der Gesamteindruck ist der einer ‚Vermischung‘; die einzelnen Farbpunkte behalten jedoch ihre Identität. Für Rivera Cusicanqui zeigt dieser Begriff besser als die Konzepte Hybridität und Mestizität, dass sich in der kulturellen Vermischung tradi‐ tionelle Identitäten erhalten und nicht von einer neuen, hybriden Identität einfach ersetzt werden. Auf diese Weise lassen sich auch in der Hybridisie‐ rung transformierte Macht- und Widerstandskonstellationen beschreiben. Solche Formen des Widerstands an den Kontaktzonen werden auch in der postkolonialen Theologie aufgegriffen. In den Worten von Daniel Franklin Pilario entscheidet diese „sich für eine Hermeneutik des Widerstands, d. h. nicht nur zu lesen, wie die Kolonialmächte die Kolonisierten konstruieren, sondern auch, wie die Subalter‐ nen dieselbe Macht untergraben, mit der sie dominiert werden. Sie versucht aufzuzeigen, ‚wie die Eroberten, die oft als missbrauchte Opfer oder dankbare Be‐ günstigte karikiert wurden, diese Vorstellungen überwunden und den Invasoren die Interpretation entrungen haben, um Prozesse der Selbstfindung, Aneignung und Subversion in Gang zu setzen.‘“ 69 Die puerto-ricanische Theologin → Mayra Rivera beschreibt die biblische Figur der Sophia als jemand, die die Kontaktzonen zu ihrem Lebensraum und die Ambivalenz zu ihrer Identität macht. Ähnlich wie Latinxs 70 in den USA - Menschen mit lateinamerikanischen oder karibischen Wurzeln - lebt Sophia im kulturellen und oft auch im wörtlichen Sinn im Grenzland, „an den Wegkreuzungen“ 71 . Rivera verweist darauf, dass auch in der Bibelwis‐ senschaft nicht abschließend geklärt ist, ob Sophia - die biblische Weisheit - nun aus Ägypten stammt, aus Israel, aus Babylon oder aus einer Grenzen 151 4.6 Kontaktzonen 72 Ebd., 193. 73 Vgl. ebd., 193. 74 Ebd., 196. Bibeltext aus dem englischen Text übersetzt; die Einheitsübersetzung formu‐ liert an dieser Stelle ganz anders. 75 Müßig, Die Jungfrau im Silberberg. Verhand‐ lungen und Kulturen überschreitenden Region. „Ist die Sprache Israels ihre Mut‐ tersprache? “ 72 , fragt Rivera in deutlicher Anspielung auf die Zweisprachig‐ keit der Latinxs in den USA. Auch im biblischen Text zeigt Sophia ihre Ungebundenheit und ↗ Hyb‐ ridität: Anders als die gepriesene Hausfrau aus Spr 31, die das Haus bestellt, während ihr Mann sich „in den Torhallen“ aufhält und im Rat sitzt (v. 23), steht Sophia, die Weisheit, selbst „auf der Straße“ und „auf den Plätzen“, „an den Stadttoren hält sie ihre Reden“ (Spr 1,20f; vgl. 8,2), anstatt sich im Haus nützlich zu machen 73 . Sophia nimmt für sich eine Rolle in Anspruch, die das Buch der Sprichwörter ansonsten als die einer gefährlichen und zu meidenden „fremde[n] Frau“ (Spr 7,5) vorstellt: wie diese ist Sophia „bald auf den Gassen, bald auf den Plätzen, an allen Straßenecken lauert sie“ (Spr 7,12). Sophia überschreitet Grenzen, verlässt die ihr von patriarchalen Genderverhältnissen zugeschriebene Rolle und wird doch der (männlichen, lesenden) Jugend als Vorbild ans Herz gelegt: „Alles, was du ersehnen könntest, kann sich mit ihr nicht messen“ (Spr 8,11) 74 . Auch gegenwärtige BibelleserInnen können durch diese Interpretation Mayra Riveras in Sophia ein Vorbild für die Überwindung von Grenzen und von zugeschriebenen Identitäten finden. Der deutsche Theologe Dietmar Müßig beschreibt mit der „Jungfrau im Silberberg“ 75 ebenfalls ein interessantes Beispiel für ↗ Verhandlungen an religiösen Kontaktzonen. Anhand eines Gemäldes aus der Kolonialzeit Bo‐ liviens, das die Jungfrau Maria in der Form des von Silberminen durchzo‐ genen Bergs der Stadt Potosí darstellt, zeigt Müßig, wie vorspanische und koloniale Religionen durch ambivalentes ↗ Mimikry oder Nachahmung im Sinn Bhabhas in die Ikonographie des Bildes eingetragen wurden. Dem Ma‐ ler des Bildes gelang es, wichtige Elemente vorkolonialer Religiosität in die‐ sem Marienbild zu verankern und gleichzeitig zu verschleiern, so dass sie zwar für die Angehörigen der indigenen Kulturen lesbar waren, dem spa‐ nisch-christlichen Blick jedoch verborgen blieben. Mithilfe der postkolonialen Methodik, insbesondere von Homi Bhabha, macht Müßig die wechselseitigen Beziehungen von Macht und Widerstand, 152 4 Widerstand 76 Keller/ Nausner/ Rivera, Introduction, 14. Zwi‐ schen‐ räume Sichtbarem und Verborgenem, Identität und ↗ Hybridität sichtbar, durch die es dem Autor des Bildes möglich war, eine widerständige, hybride indigene Theologie in Bildform zu entwickeln. Während in der Vergangenheit dieses Bild vor allem hinsichtlich seiner interkulturellen Bedeutung, als Dokument der Verschmelzung und wechselseitigen Adaptation von Kulturen und Religionen gedeutet wurde, wird in der postkolonialen Analyse von Müßig auch die Dimension von Unterwerfung und Widerstand und die Bedeutung der Verhandlungen an dieser Kontaktzone der Herrschaft von spanischen Eroberern über die indigene Bevölkerung deutlich. Grenzen als Kontaktzonen aufzufassen trägt - wie in diesen Beispielen deutlich wird - selbst schon den Keim von Widerstand in sich. Es ermöglicht es auch, in Bibel, Kirchengeschichte und Tradition den Widerstand und die Kreativität aufzudecken, die in den verschiedenen Kontaktzonen der Geschichte zum Tragen gekommen sind. Diese Betrachtungsweise kann die kirchliche Haltung zu Grenzen auch in der Gegenwart prägen, wie Catherine Keller, → Michael Nausner und → Mayra Rivera in der Einführung zu ihrem Buch „Postcolonial Theologies“ schreiben: „Eine Theologie, die die Zwischenräume unserer gegenseitigen Abhängigkeit entkolonisiert, wird ihre Aufgabe vom Schutz der Grenzen zu ihrer Übertretung hin verlagern: kaum eine ‚fremde‘ Metapher für das Christentum. Die Aufgabe einer postkolonialen Theologie wird nicht darin bestehen, die Barrieren zwischen dem Christlichen und dem Nichtchristlichen, dem Heiligen und dem Profanen, Kirche und Welt, dem Ethischen und dem Unmoralischen, ja sogar zwischen dem Schöpfer und der Schöpfung zu stützen. Die Aufgabe wird auch nicht sein, sie einfach abzureißen. Wir werden stattdessen sorgfältig darauf achten wollen, was an all diesen Zwischenorten passiert.“ 76 4.7 Disziplinlosigkeit. Zusammenfassung Disziplinlosigkeit klingt im Deutschen nicht nach einer Tugend. Im Zu‐ sammenhang mit dem postkolonialen Widerstand gegen die hegemoniale ↗ Kolonialität der Macht lässt sich jedoch der Begriff mit der Befreiung aus der disziplinären Macht des Kolonialismus in Verbindung bringen, die sich unter anderem in den westlichen Definitionen der wissenschaftlichen 153 4.7 Disziplinlosigkeit. Zusammenfassung 77 Walsh/ Schiwy/ Castro-Gómez, Indisciplinar, 13. Hervorhebungen im Original. 78 Ruoff, Foucault-Lexikon, 120. Zum Disziplinbegriff und anderen Kernelementen Fou‐ caultscher Theorie, die für das Verständnis des Postkolonialismus oftmals wichtig sind, stellt diese Einführung ein hilfreiches Werkzeug dar, das auch auf Primärtexte und weiterführende Literatur verweist. Entdiszipli‐ nierung Disziplinen und ihrer Methoden äußert. Die dekolonialen TheoretikerInnen Catherine Walsh, Freya Schiwy und Santiago Castro-Gómez schreiben daher im Vorwort ihres Buches „Indisciplinar las ciencias sociales“: „Unsere Verwendung von entdisziplinieren (indisciplinar) bezieht sich auf die Notwendigkeit, die Disziplinierung, die Disziplin und die Disziplinformationen deutlich zu machen, die in den Sozialwissenschaften seit dem 19. Jahrhundert aufgebaut wurden, insbesondere aber in ihrer Institutionalisierung in Lateiname‐ rika im 20. Jahrhundert, und ihr koloniales Erbe hervorzuheben. Sie erinnert an Foucaults Disziplinarmacht - eine Macht, die nicht nur bestraft, sondern auch belohnt, eine Macht, die auf ÜbertreterInnen von innen her einwirkt und die Reihen des ‚Normalen‘ festigt.“ 77 Was hier für die Sozialwissenschaften gesagt wird, gilt für die akademische Wissenschaftstheorie und -praxis insgesamt, auch für die Theologie: Die Abgrenzung der Disziplinen und Fächer, ihr Kanon, ihre Inhalte, ihre Methoden, was als ‚wissenschaftlich‘ gilt und was nicht, die äußeren Formen von Lehre, Forschung und wissenschaftlicher Karriere - all das hat sich in Europa annähernd zur selben Zeit entwickelt und verfestigt, in der Europa durch den Kolonialismus die eigene Kultur in die Großstädte der Welt zu exportieren suchte. Die universitäre Wissenschaft im größten Teil der Welt ist daher bis heute von dieser europäischen akademischen Kultur geprägt, und es kann nicht verwundern, dass sie in den postkolonialen Ländern als kolonial wahrgenommen und kritisiert wird. Sich zu ‚entdisziplinieren‘ heißt für postkoloniale Wissenschaften daher, der ‚Disziplinierung‘ durch die Kolonialität der Wissenschaft Widerstand entgegenzubringen. Walsh, Schiwy und Castro-Gómez spielen dabei mit ih‐ rer Verwendung des Begriffs der ‚Disziplin‘ nicht nur auf die wissenschaft‐ lichen Disziplinen an, sondern verbinden diese mit der ‚Disziplinarmacht‘ von Michel Foucault. Dieser versteht ‚Disziplin‘ als eine „Technik der Macht‐ ausübung“ 78 , die es ermöglicht, die Gesellschaft und die Individuen zu kon‐ trollieren. Disziplin ist dabei derjenige Aspekt der Machtausübung, der un‐ mittelbar auf die Kontrolle des Individuums als kleinstem Element der Gesellschaft zielt, aber die Gesellschaft als Ganze im Auge hat. Foucault 154 4 Widerstand 79 Walsh/ Schiwy/ Castro-Gómez, Indisciplinar, 13 f. Hervorhebungen im Original. 80 Vgl. Mignolo, Epistemischer Ungehorsam. 81 Mignolo, El pensamiento decolonial, 25. Vgl. auch unten 5.7. Disziplinie‐ rung in der Wissen‐ schaft Epistemi‐ scher Un‐ gehorsam schließt auch die gebräuchlichen Verständnisse von ‚Disziplin‘ - etwa im Sport, im Militär, im Kloster, im Gesundheitswesen usw. - in diese Form der Machtstrategie ein. Für Walsh, Schiwy und Castro-Gómez stellen die wissenschaftlichen Dis‐ ziplinen und ihre interne Machtstruktur einen weiteren Fall solcher Herr‐ schaftsausübung dar, die im postkolonialen Kontext eben auch von Koloni‐ alität geprägt ist. Um dieser Disziplinierung in der Wissenschaft Widerstand entgegenzubringen, sind verschiedene Schritte der Entdisziplinierung not‐ wendig: „Entdisziplinieren bedeutet, die Grenzen der Sozialwissenschaften zu öffnen […]. Es impliziert die Anerkennung anderer Wissensformen, insbesondere des lokalen Wissens, das von der kolonialen Differenz her erzeugt wurde, und der dialogischen Schnittpunkte und Flüsse, die zwischen ihnen und disziplinarischem Wissen auftreten können.“ 79 Es geht also nicht darum, die westlich-koloniale Wissenschaft zu verwerfen, sondern sie zu kritisieren und zu hinterfragen, ihre Kolonialität aufzudecken und sie mit alternativen Formen des Wissens, insbesondere solchen, die vom Kolonialismus verdrängt, angeeignet oder verfälscht wurden, in einen echten kritischen Dialog zu bringen. Dazu ist es aber auch notwendig, ihre absolute Autorität und ihren Anspruch der Universalität in Frage zu stellen. Walter Mignolo fasst diese Infragestellung der Autorität westlicher Wis‐ senstraditionen unter den Begriff des epistemischen Ungehorsams 80 . Dieser ‚Ungehorsam‘ trifft die grundlegenden Voraussetzungen des eurozentri‐ schen und kolonialen Wissens, nämlich seine Erkenntnisweisen. Mignolo legt dar, dass die Kolonialität des Wissens bereits von der ↗ Epistemologie her wirksam ist, und dass es für die Entkolonisierung des Wissens notwendig ist, sich von dieser Erkenntnisweise zu lösen. Mignolo schlägt daher eine doppelte Methode wissenschaftstheoretischer Entkolonisierung vor: „Los‐ lösung und Offenheit“ 81 . Der „Loslösung“ von eurozentrischen Denkweisen entspricht die „Offenheit“ für Alternativen, die aus den vielfältigen kultu‐ rellen Traditionen der Menschheit schöpfen, und zwar nicht nur auf inhalt‐ licher und thematischer Ebene, sondern auch in Fragen der Methodologie und Erkenntnislehre. 155 4.7 Disziplinlosigkeit. Zusammenfassung 82 Mendoza-Álvarez, Die Entstehung von Rationalität, 55, Hervorhebungen im Original. Indigener Wider‐ stand Es ist offensichtlich, dass auch für Mignolo die Loslösung von europäi‐ schen Paradigmen und der Ungehorsam ihnen gegenüber keine absolute Zurückweisung oder vollständige Aufgabe westlich-akademischer Metho‐ den impliziert. Schließlich ist er selbst Teil des westlichen akademischen Netzwerks und rezipiert auch in seinen Schriften AutorInnen aus vormali‐ gen Kolonialstaaten. Mignolo postuliert aber eine grundsätzliche Freiheit gegenüber den Vorgaben, Vorstellungen und auch akademischen Standards europäischer Wissenschaften, um Raum für den Widerstand und für die Offenheit gegenüber alternativen Wissensformen zu schaffen. Auf diese Weise können sich an den disziplinären Grenzen kreative ↗ ‚Dritte Räume‘ öffnen, die sich zu Bereichen des Kontakts mit Wissensformen entwickeln und westliche Wissenschaftsstandards sprengen können. Das Prinzip der wechselnden Perspektiven, von dem in diesem Kapitel die Rede war, stellt eine wichtige postkoloniale Strategie des Widerstands dar. Mit dynamischen, teils überraschenden und unvorhersehbaren Veränderun‐ gen des Standorts und des Blickwinkels ist es möglich, die eurozentrische Perspektive zu ergänzen, zu entlarven oder - in manchen Fällen - zu überwinden. Die Abwendung von kolonialen Perspektiven geht dabei Hand in Hand mit der Hinwendung zu den Perspektiven der Marginalisierten und Ausgeschlossenen. In Lateinamerika sind das historisch in erster Linie die indigenen Völker, und der mexikanische Theologe Carlos Mendoza-Álvarez verweist daher auch darauf, dass der Widerstand gegen den Kolonialismus eine Geschichte vorweisen kann, die bereits so alt ist wie der Kolonialismus selbst. Der in‐ digene Widerstand repräsentiert für Mendoza-Álvarez - ähnlich wie jeder andere einzelne Widerstand auch - einen „Bezugspunkt für viele andere Widerstandsformen verletzlicher und resilien‐ ter Gruppen angesichts der systemischen Gewalt, wie etwa der Frauen, der Queer-Gemeinschaften, der zur Mobilität gezwungenen Migranten, der afrika‐ nischstämmigen Gemeinschaften und vieler anderer Gruppen, die aus ihrer Ausgrenzung ein Prinzip der Veränderung der Welt machen“ 82 . Resilienz ist ein wichtiges Stichwort zum Verständnis der Formen und Mo‐ tivationen des entkolonisierenden Widerstands. Juan Carlos La Puente Tapia nennt Beispiele dafür, dass Widerstand oftmals nach außen hin irrational oder ineffizient erscheint, auf der personalen Ebene jedoch Würde und 156 4 Widerstand 83 La Puente Tapia, Widerstand, 72f. 84 Spivak, The Post-Colonial Critic, 109; vgl. Castro Varela/ Dhawan, Postkoloniale Theo‐ rie, 201-203. Weige‐ rung, sich entwürdi‐ gen zu las‐ sen Wider‐ stand als Verhand‐ lungspro‐ zess Selbstbehauptung zum Ausdruck bringt 83 . Solcher Widerstand gründet dann möglicherweise in der Weigerung, sich entwürdigen zu lassen, einen letzten Rest personaler Autonomie aufzugeben oder die gruppenbezogene Identität zu verlieren. Aufbauend auf dieser Verweigerung, die als nicht konstruktiv erscheinen kann, ist es möglich, wie von Mendoza-Álvarez zitiert, die eigene Ausgrenzung zum „Prinzip der Veränderung der Welt“ zu machen. Eine andere Form der theologischen „Disziplinlosigkeit“ lässt sich darüber hinaus in einem prinzipiellen Ökumenismus erkennen, der in den postkolo‐ nialen Theologien anzutreffen ist. Die konfessionelle Kirchenbindung spielt bei den meisten Autorinnen und Autoren allenfalls eine sekundäre Rolle. Gelegentlich lassen sich thematische Besonderheiten erkennen, die einzel‐ nen christlichen Konfessionen zugeordnet werden können, wie Reflexionen über Marienfrömmigkeit oder Kreuzestheologie. In der Regel rezipieren sich jedoch TheologInnen wechselseitig über konfessionelle Grenzen hinweg und arbeiten in konkreten Projekten zusammen, ohne dass methodisch oder hermeneutisch ein Unterschied zwischen Angehörigen verschiedener christlicher Konfessionen erkennbar wäre. Ein wichtiger Aspekt bei dieser interkonfessionellen Zusammenarbeit mag dabei sein, dass postkoloniale TheologInnen derzeit in allen christlichen Kirchen eine Minderheitenposi‐ tion einnehmen. Entscheidend bei den post- und dekolonialen Analysen der Widerstands‐ praxen ist ihre nicht-dualistische Konzeption: Widerstand wird als ↗ Ver‐ handlungsprozess, als kreative Gestaltung der ↗ Kontaktzone, als Verfrem‐ dung und ↗ Hybridisierung gedeutet. Es ist kein Widerstand, der nur das eine oder das andere gelten lassen würde, sondern widersetzt sich gerade der ↗ Veranderung, dem Dualismus und der Unsichtbarmachung des Ver‐ schiedenen. Sein Ziel ist nicht die Auslöschung des Unterdrückers oder der unterdrückenden Wissenschaftstheorie, sondern ihre profunde Kritik und ihre kreative Transformation. Dazu bedarf es manchmal der Abwendung, der Loslösung und des Ungehorsams. Die Konstruktion neuer binärer Gegensätze kann eine vorübergehende Strategie zur Überwindung dieser Gegensätze sein. Sie lässt sich mit dem von Gayatri Spivak vertretenen „strategischen Gebrauch des Essentialis‐ mus“ 84 in Verbindung bringen: Darunter versteht sie einen zielgerichteten, 157 4.7 Disziplinlosigkeit. Zusammenfassung 85 Panotto, Descolonizar o saber teológico, 76, Hervorhebungen im Original. 86 Mendoza-Álvarez, Die Entstehung von Rationalität, 57. 87 Ebd. Kenotische Rationali‐ tät vorübergehenden Gebrauch essentialistischer Zuschreibungen in einem aktivistischen oder politischen Zusammenhang, der dazu dient, Menschen kollektiv ansprechen zu können. Dieser Gebrauch muss jedoch in einer selbstkritischen Haltung geschehen, die um die Gefahr solcher essentialis‐ tischen Zuordnungen weiß. Deswegen fordert der argentinische Theologe → Nicolás Panotto zwar ebenfalls eine „Haltung der Konfrontation“, um jedoch zugleich Verände‐ rung und Transformation anzumahnen. Das Ziel lautet, „andere Arten und Weisen erschaffen, um Theologie zu betreiben. Die Verän‐ derung ruft uns dazu auf, eine kritische theologische Haltung bezüglich der etablierten Formen und Diskurse einzunehmen, auf der Suche nach der Konstruk‐ tion anderer Sprachen, anderer Räume, anderer Institutionalitäten und anderer Praktiken. Wir können keine Transformation hinsichtlich dieser Elemente er‐ reichen ohne einen epistemologischen Verdacht darüber, wie wir die göttliche Ökonomie definieren. Deswegen benötigen wir einen Prozess der wechselseitigen Beziehungen zwischen Praxis, der Existenz im öffentlichen Raum, Kenosis, als Beispiel für Selbstreinigung, Selbstkritik und beständige Dekonstruktion von Diskursen, Weltsichten und Praktiken, und Perichoresis, die das ‚dazwischen‘ der Existenz einschließt, das heißt, alle Elemente, die benötigt werden, um von Gott zu sprechen, der beständig die Prozesse der Selbstbehauptung dekonstruiert.“ 85 Auch Mendoza-Álvarez spricht von „einer antihegemonialen theologischen - besser noch: einer kenotischen - Rationalität, die dazu geeignet ist, mit denen in Dialog zu treten, die vom hegemonialen Denken unsichtbar gemacht worden sind“ 86 . Denn der Widerstand gegen traditionelle wissen‐ schaftstheoretische Elemente der Theologie, die als mit der ↗ Kolonialität behaftet kritisiert werden, ist noch keine ausreichende Transformations‐ strategie, wenn sie nicht mit einer Zuwendung, einem neuen Dialog, einer Suche nach theologischen Alternativen und der Konstruktion von entkolo‐ nisierten, gegenhegemonialen Theologien begleitet wird. Eine solche theo‐ logische Praxis wird von Mendoza-Álvarez mit einer hohen theologischen Wertung versehen: „Diese messianischen Akte, die die Mauern des Hasses niederreißen, ermöglichen die ursprüngliche Erfahrung der Erlösung, die vom lebendigen Gott her kommt“ 87 . 158 4 Widerstand Außereuro‐ päische Denkwei‐ sen 5 Alternativen Postkoloniale Theologien bleiben nicht bei der Kritik an der ↗ Kolonialität in Kirche und Theologie sowie beim Widerstand dagegen stehen. Sie zeigen auch, dass es theologische Alternativen zur Kolonialität gibt. Es gab und gibt diese Alternativen außerhalb der Reichweite sowohl des historischen Kolo‐ nialismus als auch seiner gegenwärtigen Nachwirkungen. Darüber hinaus verweisen postkoloniale Theologien auf neu geschaffene Alternativen in der Theologie und bemühen sich selbst darum, sie hervorzubringen. Diese theologischen Alternativen können sowohl den methodischen als auch den inhaltlichen Bereich der Theologie betreffen. Auf diese Weise entsteht und präsentiert sich ein vielfältiges und breites Panorama postko‐ lonialer Theologien, das kaum sinnvoll zu systematisieren ist. Durch die im letzten Kapitel beschriebene ‚Disziplinlosigkeit‘ postkolonialer Theologien widersetzen sie sich ja auch geradezu jeder Systematisierung. In diesem Kapitel sollen daher exemplarisch einige dieser Alternativen vorgestellt werden, um die Bandbreite des postkolonial-theologischen Spek‐ trums aufzuzeigen. Darüber hinaus wird sichtbar werden, wie die Suche nach alternativen Methoden, ↗ Epistemologien, Subjekten, Erfahrungsbe‐ reichen, Sprachwelten, Machtbeziehungen und Diskurspraktiken und die Offenheit für diese zu einer Transformation der Theologie auf sehr vielen verschiedenen hermeneutischen und methodischen Ebenen führt. Auch die Beispiele aus den drei letzten Kapiteln machen ja bereits deutlich, dass es bei den postkolonialen Theologien nicht um eine neue theologische Methode (oder Mode), eine weitere Disziplin in der Theologie oder eine zusätzliche kontextuelle Theologie geht, sondern darum, die europäische Theologie der letzten fünfhundert Jahre grundsätzlich zu kritisieren, neu zu denken und so zu transformieren. Eine zentrale Bedeutung besitzen dabei - wie bereits deutlich wurde - Kosmovisionen und Denksysteme derjenigen Kulturen, die vom Kolonialis‐ mus an den Rand gedrängt, abgewertet und vernachlässigt wurden. Außer‐ europäische Denkweisen weltweit wurden von der kolonialen Ideologie oft‐ mals verurteilt, ignoriert oder offen bekämpft. Dies betraf u. a. indigene Kulturen, die Volksreligiosität, nichtchristliche Religionen und christliche Gemeinschaften, die einmal als häretisch bezeichnet wurden, aber außerhalb des Römischen Imperiums weiter existierten. Viele von ihnen wurden nicht Keine Rückkehr zu einer vorkolonia‐ len Religio‐ sität Wider‐ stand durch Ver‐ handlun‐ gen vollständig zerstört und werden heute als Erfahrungshintergrund, als me‐ thodischer, hermeneutischer oder epistemischer Rahmen betrachtet, um christliche Theologie anders zu denken, zu formulieren und zu leben. Aus dem Dialog mit ihnen speisen sich sehr viele kreative Bewegungen in den postkolonialen Theologien. Dabei geht es nicht um eine Rückkehr zu einer vorkolonialen Religiosität oder Kultur. Selbst wenn diese zweifelsfrei aus historischen Dokumenten oder zeitgenössischen Erinnerungen rekonstruierbar wäre (was sie in den allermeisten Fällen nicht ist), muss sie mit den Gegebenheiten der Gegen‐ wart in einen Dialog, bzw. - um den postkolonialen Ausdruck dafür zu ver‐ wenden - in ↗ Verhandlungen treten. Denn die Rekonstruktion einer vor‐ geblich ‚reinen‘ vorkolonialen Kultur ist ein anachronistisches Unterfangen, das diese Rekonstruktion zu einem sterilen Museumsstück entwerten würde, wenn sie vom Dialog mit der Gegenwart ausgeschlossen bliebe. Postkoloniale Alternativen zur Kolonialität der Theologie stellen daher zumeist kreative und dynamische Verhandlungen von Machtbeziehungen und Diskurspraktiken an den Grenzen und Rändern kolonialer Theolo‐ gien dar. Als Hybridisierungen zwischen verschiedenen europäischen und nichteuropäischen, zwischen hegemonialen und unterdrückten, zwischen dominanten und widerständigen Reflexionen über den christlichen Glauben leisten sie der Kolonialität der Theologie Widerstand. Je nachdem, aus welcher Perspektive diese Verhandlungen durchgeführt werden, welche Methoden und Sprachspiele überwiegen und welche For‐ men der kolonialen Unterdrückung und Exklusionen konkret thematisiert werden, lassen sie sich - wie es in diesem Kapitel praktiziert wird - eher indigenen (5.2), synkretistischen (5.3), ökofeministischen (5.4) oder queeren (5.5) Theologien zuordnen, ohne dass damit Berührungen mit anderen Perspektiven und Methodologien ausgeschlossen werden sollen. Gemeinsam ist all diesen alternativen theologischen Entwürfen, dass sie sich unter den Bedingungen der Kolonialität als widerständige Verhandlun‐ gen oder als Widerstand durch Verhandlungen charakterisieren lassen und sowohl eine befreite Theologie als auch die Befreiung und Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen, aus deren Perspektive sie formuliert werden, im Blick haben. Ein besonderes Augenmerk liegt in diesem Kapitel auf alternativen biblischen Lektüren (5.1), während abschließend die grund‐ sätzliche Frage untersucht wird, ob das Aufgreifen alternativen Wissens durch die Theologie nicht wieder als eine Form des Neokolonialismus auf‐ gefasst werden muss (5.6). Zusammenfassend werden postkoloniale theo‐ 160 5 Alternativen 1 Pilario, Mapping, 49. 2 Vgl. López Hernández, Teología India, 103-107. 3 de Jong‐Kumru, Postcolonial Feminist Theology, 103f. Freiheit und Radi‐ kalität logische Alternativen als kreative und konstruktive Form der Grenzverlet‐ zung gewürdigt (5.7). Daniel Franklin Pilario unterscheidet diese postkolonial-theologische Strategie vom ↗ Nativismus, der gelegentlich in nachkolonialen Szenarien praktiziert wird: „Anders als das nativistische Projekt der romantischen Rückkehr nimmt postkoloniale Theologie Hybridität in den Dienst der theo‐ logischen Konstruktion.“ 1 Vor allem manche nationalistische Bewegungen und Parteien der Epoche der Unabhängigkeit der afrikanischen Staaten hat‐ ten eine solche ‚Rückkehr‘ zu einer imaginierten ‚nativen‘, also ursprünglich afrikanischen Kultur propagiert, was sich aber in der Praxis der staatlichen Unabhängigkeit und in der Auseinandersetzung mit den postkolonialen Problemen als undurchführbar erwiesen hatte. Die Proklamation einer ‚Rückkehr‘ zu vorkolonialen Religionen und Theologien erweist sich in der Gegenwart denn auch in der Regel als eine weitere Form der widerständigen Verhandlungen unter dem ideologischen Deckmantel des Nativismus, der zugleich zahlreiche Zugänge zu befreienden Transformationen verstellt 2 . Die Freiheit und Radikalität, mit der in den postkolonialen Theologien auch Denktraditionen aufgegriffen werden, die über Jahrhunderte hinweg abgelehnt wurden oder schlichtweg als fremd erscheinen, bereitet Theolo‐ gInnen, die in einer europäischen Tradition ausgebildet wurden, nicht selten große Verständnisschwierigkeiten. Wietske de Jong‐Kumru lädt dazu ein, diese Schwierigkeiten als positive Herausforderung anzusehen: „Für westliche LeserInnen macht es diese Einbeziehung nicht-westlicher Quellen unglücklicherweise vielleicht etwas schwierig, mit postkolonialen Schriften ‚um‐ zugehen‘. Aber vielleicht sollte das als positiver Nebeneffekt angesehen werden. Der Gebrauch, den Dube, Kwok und andere von nicht-westlichem Wissen machen, ist imstande, westliche LeserInnen mit den Grenzen ihres eigenen erkenntnistheoretischen Horizonts zu konfrontieren.“ 3 Schließlich, so argumentiert sie weiter, wird es in der Regel für selbstver‐ ständlich gehalten, dass TheologInnen weltweit sich mit der gesamten europäischen Denktradition auseinandersetzen müssen. Es sollte daher auch von westlichen TheologInnen nicht als Zumutung aufgefasst werden, wenn sie sich auf nicht-westliches Wissen einlassen sollen, und zwar zu den 161 5 Alternativen 4 Vgl. ebd. 5 Vgl. nur die wichtigen Sammelbände von R.S. Sugirtharajah: Voices from the Margin (1991), The Postcolonial Biblical Reader (2006) und Still at the Margins (2008) und die darin vertretenen AutorInnen, sowie Moore/ Segovia, Postcolonial Biblical Criticism. 6 Kwok, Die Verbindungen herstellen, 324, unter Verweis auf Segovia, Decolonizing Biblical Studies. In der Übersetzung des Zitats ist natürlich korrigierend die ‚Leserin‘ zu ergänzen. Dieser Ansatz an der Perspektive der Leserin und des Lesers berührt sich mit der auch in Deutschland bekannten exegetischen Richtung der Rezeptionsästhetik. 7 Ebd. Bedingungen, die von den TrägerInnen dieses Wissens selbst aufgestellt werden 4 . 5.1 Die Bibel anders lesen In verschiedenen Abschnitten dieser Einführung ist bereits deutlich gewor‐ den, dass es ein wesentliches Anliegen postkolonialer Theologien ist, die Bibel anders zu lesen: Aus anderen Perspektiven, mit anderen Augen, alternativen Fragestellungen und Herangehensweisen. Postkoloniale Bibelinterpretationen sind inzwischen so weit verbreitet und so vielschichtig geworden, dass es sich lohnen würde, eine eigene Einführung nur in diesen konkreten Bereich postkolonialer Theologien zu verfassen 5 . An dieser Stelle geht es noch einmal darum, konkreter nach den alternativen Methoden postkolonialer Bibellektüre und Exegese zu fragen. → Kwok Pui-lan hebt unter Berufung auf → Fernando Segovia heraus, dass ein wichtiger Ausgangspunkt für die Entwicklung postkolonialer Bibel‐ wissenschaften das Aufgreifen von Literarkritik und anderen kulturwissen‐ schaftlichen Methoden gegen Ende des 20. Jahrhunderts gewesen sei. Dies habe dazu geführt, dass „der universale, objektive Leser allmählich durch den interessierten, lokalen und perspektivischen Leser ersetzt“ 6 werde: „Die Aufnahme von westlichen Frauen, von Männern und Frauen von außerhalb des Westens sowie auch von nichtwestlichen Minderheiten im Westen hat eine Vielfalt von Methoden und Theorien zur Folge gehabt, eine Erweiterung des Untersuchungsumfangs und eine Explosion der interpretierenden Stimmen.“ 7 Durch die Praxis, die Stimmen dieser zuvor ausgeschlossenen Subjekte der Bibellektüre nicht länger zu ignorieren, sondern sie in einen Dialog mit der westlichen Bibelwissenschaft zu bringen (in diesem Sinn lässt sich die ‚Auf‐ 162 5 Alternativen 8 Vgl. Dube, Postcolonial Feminist Interpretation, 40 f; 115-117; 186 f; 192f. 9 Dube, To push the boundaries, 163. Kontexte und Sub‐ jekte Aktuelle und histo‐ rische In‐ terpretati‐ onen der Bibel nahme‘ aus dem Zitat anders denn als patriarchaler Gnadenakt deuten) konnte der biblische Text zugleich mit einer großen Anzahl unterschiedli‐ cher Kontexte der Gegenwart in einen Dialog treten. Aus diesen Kontexten und durch diese Subjekte werden aber auch sehr verschiedene Anfragen an den Text und seinen Entstehungskontext gerichtet. → Muse Dube zeigt auf, dass Leserinnen aus African Independent Chur‐ ches (vgl. Kapitel 4.1) ihre eigene Leseperspektive mit einer Autorität begründen, die sie sowohl aus biblisch-christlichen als auch aus traditionell afrikanischen Wurzeln herleiten: Indem sie ihre Bibelinterpretation auf den Dialog mit dem Geist zurückführen und diesem einen afrikanischen Namen (moya) und Attribute aus afrikanischer Tradition geben, leisten sie dem europäischen und akademischen Anspruch, die Bibel korrekt und universal interpretieren zu können, Widerstand. Aus diesem Geist (se-moya), der/ die für Prophetie, Heilung, Fruchtbarkeit und Lebenskraft steht, legen diese Leserinnen die Bibel auf ihre Weise und für ihren Kontext aus. Diese semoya-Qualitäten werden so auch in der Interpretation biblischer Texte aus der Sicht dieser Leserinnen erkennbar 8 . Solche Art der LeserInnenorientierung öffnet die Grenzen der biblischen Hermeneutik für alternative Interpretationen und Verstehensweisen. Dube schreibt: „Ich versuche, Innovationen einzubringen, andere Arten zu lesen: Weissagungen, Geschichten erzählen, Lesen mit primären LeserInnen, was für mich eine be‐ wusste, subversive Art zu lesen ist, die von westlicher Wissenschaft unabhängig macht. […] Ich [bitte] meine StudentInnen, einen Bibeltext in die Gemeinden zu nehmen, und mit vier oder fünf Leuten zu lesen, und dann ein Essay darüber zu schreiben, wie die Leute an der Basis diesen Text lesen. […] Wir müssen die Vorstellung dekonstruieren, dass es nur eine richtige Art gibt, die Bibel zu lesen.“ 9 In postkolonialen Kontexten wird durch die Orientierung an der Perspektive der Lesenden eine Vielzahl von postkolonialen Fragestellungen an die Bi‐ beltexte herangetragen, seien es Diskursstrategien, Machtkonstellationen oder der Widerstand gegen die koloniale Herrschaft. Diese postkolonialen kritischen Analysen können dabei sowohl aktuelle als auch historische In‐ terpretationen der Bibel betreffen. Postkoloniale Bibelwissenschaft fragt auch nach den Machtverhältnissen, die sich im Text der Bibel selbst wie‐ 163 5.1 Die Bibel anders lesen 10 Sugirtharajah, Postcolonial Biblical Interpretation, 67. Vgl. eine detailliertere, im Ein‐ zelnen etwas abweichende Beschreibung mit Einzelbeispielen in Sugirtharajah, The Bible and the Third World, 250-259. Drei haupt‐ sächliche Ebenen postkolo‐ nialer Bi‐ belkritik Wurzeln in den Ent‐ stehungs‐ kontexten derfinden, weil sie zu den Zeiten ihrer Abfassung die Kultur der AutorInnen der biblischen Bücher bestimmten. → R. S. Sugirtharajah charakterisiert daher drei hauptsächliche Ebenen postkolonialer Bibelkritik: „1. Sie versucht, Kolonialismus am Zentrum der Bibel und der Bibelinterpretation zu verorten. Die Bibel entstand als literarisches Produkt verschiedener kolonialer Kontexte - ägyptischer, assyrischer, persischer, hellenistischer und römischer. Postkoloniale Kritik versucht diese Erzählungen zu betrachten und sie auf koloniale Vorannahmen, imperiale Impulse, Machtbeziehungen, hegemoniale Absichten, die Behandlung der Subalternen, Stigmatisierung von Frauen und Marginalisierten, Landaneignung und die Verletzung von Minderheitskulturen hin zu erforschen. Beim Lesen dieser Texte unternimmt sie es, zum Schweigen gebrachte Stimmen, an den Rand gedrängte Themen und verlorene Anliegen wiederzubeleben und einzufordern. 2. Sie versucht Bibelinterpretation zu durchleuchten und den ideologischen Inhalt bloßzulegen, der hinter ihrem offenbaren Anspruch auf Neutralität besteht. Postkoloniale Bibelkritik fokussiert auf die gesamte Thematik von Expansion, Herrschaft und Imperialismus als zentrale Mächte sowohl von biblischen Erzäh‐ lungen wie ihrer Interpretation. 3. Sie versucht, die Bibel im Licht von postkolonialen Anliegen und Bedingungen - Pluralität, Hybridität, Multikulturalität, Nationalismus, Diaspora, Geflüchtete und Asylsuchende - neu zu lesen. Die Bibel wird nicht in Anspruch genommen, weil sie Rezepte für Probleme im Nachklang des Kolonialismus hätte, sondern um zu sehen, ob sie […] sich als ein angemessenes Wort Gottes entwickeln kann, das auf Fragestellungen antwortet, die nicht das primäre Anliegen dieser Erzählungen waren.“ 10 Sugirtharajahs Charakterisierung offenbart die vielfältige Bandbreite post‐ kolonialer Bibelwissenschaften, nicht nur in thematischer Hinsicht, sondern vor allem auch in ihrer historischen Tiefe, denn koloniale Interpretationen der Bibel sind nach seiner Interpretation nicht nur Fehldeutungen aus der Zeit des europäischen Kolonialismus, sondern finden sich bis in die Gegen‐ wart und verweisen überdies auf Wurzeln in den Entstehungskontexten der biblischen Schriften selbst. Auch wenn man sie nicht - wie Sugirtharajah es 164 5 Alternativen 11 Vgl. ebd., 68. 12 Warrior, A Native American Perspective, 236. Dieser Text wurde bereits 1989 zuerst veröffentlicht. 13 Ebd., 240. Konflikte Miss‐ brauch der Texte tut - als ‚koloniale‘ Kontexte bezeichnen mag, weil dieser Begriff sehr stark an der konkreten Ausprägung des europäischen Kolonialismus der vergan‐ genen fünf Jahrhunderte ausgerichtet ist, so lassen sich doch auch in den Imperien der biblischen Zeit, die oben von Sugirtharajah genannt wurden, Diskurs- und Machtstrukturen aufzeigen, die Parallelen zur Kolonialität der Gegenwart aufweisen und die ihre Spuren in den Erzählungen der biblischen Schriften hinterlassen haben. Gerade diese historischen imperialen Kontexte werden jedoch nach Sugirtharajahs Ansicht in der zeitgenössischen Exegese allzu oft übersehen oder vernachlässigt 11 . In der Praxis der kolonialen und postkolonialen Bibelinterpretation über‐ lappen sich darüber hinaus die drei historischen Ebenen der Entstehungs‐ kontexte, der kolonialen Interpretation und der Gegenwart. Die verschie‐ denen Kontexte und ihr jeweiliger Gebrauch des biblischen Textes können daher in der heutigen Konfrontation postkolonialer Bibellesender mit den Texten zu Konflikten führen, die dem biblischen Text und seiner histo‐ risch-kritisch erforschten Bedeutung nicht gerecht zu werden scheinen. So liest der nordamerikanische indigene Literatur- und Kulturwissen‐ schaftler Robert Allen Warrior aus der Osage-Nation die biblische Ge‐ schichte des Exodus (und der Landnahme) aus der Perspektive eines Volkes, das von einem fremden Volk erobert und vertrieben wurde. Er schreibt: „Ich glaube, dass die Exodusgeschichte für nordamerikanische Indigene eine unangemessene Weise ist, über Befreiung nachzudenken.“ 12 Warrior anerkennt die befreiende Bedeutung, die derselbe Text in unmittelbarer Vergangenheit für die Schwarzen Befreiungsbewegungen der 1960er Jahre in den USA und für die Befreiungstheologie Lateinamerikas in den 1970er und 80er Jahren ausgeübt hat. Es ist ihm aber nicht möglich, den Text anders als aus der Perspektive der KanaaniterInnen zu lesen. Denn die historische Erfahrung seines eigenen indigenen Volkes findet nach seiner Ansicht einen allzu starken Widerhall in der Rolle, die in den Landnahmeerzählungen narrativ den BewohnerInnen Kanaans zugeschrieben wird. Warrior erklärt, dass der Missbrauch der Texte durch „puritanische Pre‐ diger“ 13 in den Zeiten der nordamerikanischen Eroberungen diese Identifi‐ kation nur noch verstärkt. Die Erfahrung des Landraubs ist aber narrativ in 165 5.1 Die Bibel anders lesen 14 Ebd., 237. JHWH, der biblische Gottesname, im englischen Original: Yahweh. 15 Ebd., 241. „Let my people go“ (i. O.) spielt zustimmend auf den Gebrauch der Exoduser‐ zählung durch die Schwarze Bürgerrechtsbewegung an. Ergebnisse historischkritischer Exegese diesen Texten bereits angelegt und lässt sich auch durch wissenschaftliches Studium der Texte nur teilweise beseitigen oder entschärfen. Denn „das Narrativ bleibt“: „JHWH der Befreier wird zu JHWH dem Eroberer“ 14 , kri‐ tisiert Warrior. Aus nordamerikanisch-indigener Perspektive gelesen, bleibt der Text für ihn in dieser Interpretation gefangen und kann seine befreiende Bedeutung nicht entfalten: „Mit welcher Stimme werden wir, die Kanaani‐ terInnen der Welt, sagen: ‚Lass mein Volk ziehen und lass mein Volk in Ruhe‘? “ 15 Postkoloniale Bibelinterpretation versucht solche Widersprüche und Engpässe nicht aufzulösen, sondern macht auf sie aufmerksam und ver‐ deutlicht auf diese Weise, wie problematisch es in der Gegenwart sein kann, biblische Interpretationen aus einem Kulturkreis in einen anderen zu übertragen, auch wenn es sich hier - wie im Beispiel von Schwarzen und indigenen Befreiungsbewegungen in den USA - um sehr benachbarte und verwandte Problemkreise handelt. Selbst Ergebnisse historisch-kritischer Exegese können nicht einfach auf jeden beliebigen Kontext angewendet werden. Auch wenn die Leistungen der historischen Kritik und anderer in Europa entwickelter bibelwissen‐ schaftlicher Methoden in der postkolonialen Bibelkritik prinzipiell aner‐ kannt (und genutzt) werden, so wird doch zum einen ihre Universalität und ihre allgemeine Anwendbarkeit in Frage gestellt. Zum anderen fragen post‐ koloniale KritikerInnen auch - wie oben in 2.4 gezeigt - nach den histori‐ schen Voraussetzungen der kritischen europäischen Bibelwissenschaften und ihrer Vernetzung mit dem Kolonialismus. Postkoloniale Exegese insistiert daher auf der Konfrontation mit dem aktuellen Kontext und seinen Anfragen an den Text. Durch diesen Dialog ist es möglich, diejenigen Aspekte des Bibeltextes zu entdecken, die in die‐ sem Kontext entfremdend, unterdrückend, befreiend oder heilsam wirken können. Entsprechend kann die Interpretation des Textes den einen oder anderen Aspekt in den Vordergrund rücken und muss andere Aspekte klären oder neutralisieren. Der Alttestamentler Archie Lee aus Hongkong beschreibt diesen postko‐ lonial-exegetischen Dialog anhand eines Vergleichs der Texte des Tritojesaja ( Jes 56-66) mit seinem eigenen Kontext, der Perspektive der ‚Rückgabe‘ 166 5 Alternativen 16 Lee, Returning to China, 284. Postkolo‐ niale ‚Kreuzung‘ zweier Texte der britischen Kolonie Hongkong an die Volksrepublik China Ende des 20. Jahrhunderts. Der Vergleichspunkt ist die mit der Rückkehr ( Jesaja) bzw. Rückgabe (Hongkong) verbundene Begegnung zweier Gemeinschaften, die sich über Jahrzehnte hinweg kulturell und politisch getrennt entwickelt hatten, ihre Risiken und ihre Verheißungen. Er nennt dabei seinen Kontext einen eigenen ‚Text‘, der mit dem biblischen Text ‚kreuzweise‘ in Dialog kommt: „Wenn die beiden Texte zusammengebracht und über Kreuz (cross-textually) gelesen werden, stellt man Kreuzungen (crossings) zwischen beiden her und versucht, sie kreativ zu integrieren. Ein Text fungiert als Kontext, von dem aus der andere gelesen wird. Der Horizont, den ein Text bereithält, wird den anderen erhellen, und es wird eine Verschmelzung (fusion) erreicht, durch die das Verständnis der Leserin und des Lesers bereichert wird.“ 16 Die Nähe zu Saids Konzept des ‚kontrapunktischen Lesens‘ (vgl. Kapitel 4.5) ist unübersehbar. Biblischer Text und aktueller Kontext entfalten durch die‐ sen Dialog neue Bedeutungen. Die traditionellen Bedeutungen des bibli‐ schen Textes werden dadurch nicht außer Kraft gesetzt, und die neu ent‐ standene Bedeutung kann keine Allgemeingültigkeit für alle gegenwärtigen und zukünftigen Kontexte der Interpretation dieses Textes beanspruchen. Aber diese postkoloniale ‚Kreuzung‘ zweier Texte vermag Licht in das Ver‐ ständnis eines biblischen Textes in der Gegenwart zu bringen, so dass der Text in die Lage versetzt wird, die gute Nachricht der Bibel im heutigen postkolonialen Kontext neu zu buchstabieren. Zugleich kann der Bibeltext auf diese Weise neue Klarheit über die Bedeutung konkreter gegenwärtiger (post-)kolonialer Kontexte eröffnen. Dieser Dialog verfügt über das Poten‐ zial, koloniale Diskurspraktiken und Machtverhältnisse aufzudecken, so dass Widerstand gegen sie möglich wird. Auf diese Weise können die Bibel und ihr aktueller Kontext mit neuen Augen, anders gelesen werden. 5.2 Indigene Theologien In der Vorbereitung auf das Gedenken der 500 Jahre der Eroberung La‐ teinamerikas 1992 haben die indigenen Bewegungen des Kontinents ein verstärktes Selbstbewusstsein gegenüber ihrer Kolonialgeschichte und ge‐ 167 5.2 Indigene Theologien 17 Vgl. bes. López Hernández, Teología India; Estermann, Apu taytayku; Weiler, Gut leben; zur Geschichte der Teología india in Lateinamerika vgl. Caero Bustillos, Für Christen ist es ein Vorrecht. 18 Es gibt darüber hinaus auch regionale Bezeichnungen wie z. B. „Andine Theologie“ (vor allem in Bolivien und Peru) und „Mayatheologie“ (in Mittelamerika). Alternative Formen der Ent‐ wicklung von Theo‐ logie genüber ihren eigenen Nationalstaaten gewonnen. Seitdem entwickelt sich eine theologische Strömung, die den Dialog mit den indigenen Kulturen und Religionen zu ihrem Ausgangspunkt nimmt 17 . Sie nennt sich (auf Spanisch) Teología India, also eigentlich ‚indianische Theologie‘, wird aber im Deutschen besser als ‚indigene Theologie‘ bezeichnet und häufig mit indigenen Theologien Nordamerikas und anderer postkolonialer Regionen in Beziehung gesetzt 18 . Inzwischen kann man von indigenen Theologien auf allen Kontinenten außerhalb Europas und in zahlreichen kulturellen Regionen der Welt sprechen, auch wenn sie in der Regel nicht so gut organisiert und dokumentiert sind wie in Lateinamerika. Einige Beispiele in diesem Abschnitt werden diese Vielfalt illustrieren. Indigene Theologien entstehen aus ↗ Verhandlungen zwischen indigener Spiritualität, Religion, Kultur und Lebenserfahrung einerseits und dem Christentum in seiner europäischen Form andererseits. Die indigenen Kul‐ turen umfassen dabei auch je eigene grundlegende Auffassungen von Welt und Leben, die mit verschiedenen europäischen Begriffen wie Philosophie, Kosmovision, Weltsicht, Weisheit, Ontologie, Episteme usw. jeweils nur un‐ zureichend beschrieben werden können. Entscheidend ist aber, dass es sich in jedem Fall um eine von den westlichen Sichtweisen verschiedene Art und Weise handelt, die Welt, das Leben und die Menschen zu betrachten und zu bewerten. Indigene Theologien stellen daher häufig die westliche Art, Theo‐ logie zu betreiben, auch in methodischer und ↗ epistemologischer Hinsicht grundlegend in Frage und praktizieren alternative Formen der Entwicklung von Theologie. Dabei sind die indigenen Weltanschauungen in der Gegenwart nicht mehr dieselben wie vor dem Kolonialzeitalter. So wie sich Kulturen im‐ mer weiterentwickeln, vor allem im Kontakt mit anderen Kulturen, aber auch durch historische Prozesse und die Auseinandersetzung etwa mit natürlichen Gegebenheiten, veränderte natürlich auch der Kolonialismus als eine intensive, gewalttätige und bedrohliche Form des Kulturkontakts Strukturen und Werte der indigenen Kulturen. Dennoch lassen sich auch in der Gegenwart noch indigene Vorstellung beschreiben, die vom westlichen 168 5 Alternativen 19 Vgl. López Hernández, Teología India, 103-107. Theologien in der Kon‐ taktzone Denken prinzipiell verschieden sind, sich diesem widersetzen und sich als Alternative zu ihm präsentieren. Indigene Theologien sind insofern schon alleine durch ihre Existenz ein Projekt des Widerstands gegen den Kolonialismus und der Alternative zu ihm. Sie widersetzen sich der kolonialen Abwertung und Entfremdung der indigenen Kulturen und Völker. Sie wertschätzen das Eigene, das vom ko‐ lonialen Christentum abgewertet, verandert und essentialisiert dargestellt wurde. Sie begreifen ihre eigene christlich-indigene Spiritualität dagegen als etwas Lebendiges und Dynamisches, das zu einer befreienden Entkolo‐ nisierung beitragen kann. Durch ihren engen Bezug zu lokalen Kulturen verstehen sie sich als kontextuelle Theologien und dadurch konsequenterweise vielfältig. Sie treten jedoch untereinander und mit anderen christlichen Theologien in Dialog, um voneinander zu lernen und sich wechselseitig anzuregen. Es gibt vor allem in Lateinamerika, jedoch inzwischen auch weltweit einen lebhaften Austausch zwischen verschiedenen indigenen Theologien. Diese sind jeweils hybride Theologien, Theologien in der ↗ Kontaktzone, die aus indigenen Spiritualitäten und religiösen Überzeugungen schöpfen und zugleich mit dem traditionell europäischen Christentum in kritische und kreative Verhandlungsprozesse eintreten, aus denen neue religiöse For‐ men, Denkweisen und Inhalte entstehen. Eine nativistische ‚Rückkehr‘ zu vorkolonialen Formen indigener Religio‐ nen wird in der Regel als illusorisch, unhistorisch und der interkulturellen Dynamik von Kulturen nicht angemessen zurückgewiesen 19 . Vielmehr be‐ stimmt man die Konstruktion von indigenen Theologien mit Vorstellungen, die den ‚Verhandlungen‘ Bhabhas, den ‚Kontaktzonen‘ Pratts oder dem ch’ixi Rivera Cusicanquis entsprechen (s. o. 4.6). → Nicolás Panotto spricht hin‐ sichtlich der indigenen Theologien von einer „symbolischen Verhandlung“: „Die Verschmelzung mit dem Christentum löscht die indigenen Kosmovisionen nicht aus, sonder erhält sie und gibt ihnen eine neue Bedeutung.“ Dies bringt auch „eine Neuinterpretation verschiedener Elemente der christlichen Kosmovision mit sich. Zum Beispiel wird die Figur Jesu als jemand verstanden, mit dem man im Alltag unterwegs ist, […] er steht für den Schutz des Hauses, die Sicherheit 169 5.2 Indigene Theologien 20 Panotto, Descolonizar lo divino, 149f. 21 Bischofssynode, Amazonien Nr. 17, vgl. Silber, Synodalität, 262-265. 22 Vgl. z. B. Chipana Quispe, Relationale Wissensbestände, 48-50. Kritisch‐ konstrukti‐ ver Dialog Bischofs‐ synode für Amazonien 2019 Postkolo‐ niale Alter‐ nativen auf dem Weg, ihm muss man für die Ernte, die Nahrung, den Regen, die Weisheit danken.“ 20 Bei der Konstruktion indigener Theologien geht es nie nur um die Freiheit zu Alternativen, sondern immer auch um einen kritisch-konstruktiven Dia‐ log, der auch die Transformation des Christentums in seinen verschiedenen europäischen kulturellen Formen anstrebt. Insofern ist ihnen grundlegend ein kritischer postkolonialer Charakterzug eigen. Die Vorbereitungsphase vor der katholischen Bischofssynode für Ama‐ zonien 2019 hat dies exemplarisch deutlich gemacht: Im Konsultationspro‐ zess wurden unter anderem auch Gemeinschaften und einzelne Vertrete‐ rInnen aus mehr als 170 indigenen Völkern Amazoniens befragt. Deren Anfragen an die Bischöfe wurden im Schlussdokument der Synode als theo‐ logische und spirituelle Herausforderung bewertet: „Das Hören auf die Klage der Erde und den Schrei der Armen und der Völker Amazoniens, mit denen wir auf dem Weg sind, ruft uns zu einer wahrhaft ganzheitlichen Umkehr auf “ 21 , schreiben sie im Schlussdokument der Bischofssynode. Das heißt: Die Bischöfe bekennen, dass sie sich angesichts der Anfragen, die unter anderem von Seiten der indigenen Völker Amazoniens an sie gerichtet werden, selbst zur Umkehr aufgerufen fühlen, und rücken nicht mehr - wie in den vergangenen Jahrhunderten - die Bekehrung der kolonisierten Völ‐ ker in den Mittelpunkt. Indigene Theologien thematisieren daher immer auch Machtdifferenzen, vergangene und gegenwärtige Unterdrückungen und ihnen dienende Dis‐ kurspraktiken. Auch feministische indigene Theologien vernetzen und formieren sich, um die Frage der Ungerechtigkeit in den Geschlechterver‐ hältnissen und andere spezifisch feministische Fragestellungen in diesen Dialog einzubringen 22 . Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass indigene Theologien in vier‐ facher Hinsicht postkoloniale Alternativen zu europäischen theologischen Traditionen darstellen: 1. Auf der Ebene der ↗ Epistemologie greifen sie andere Sichtweisen auf Welt, Mensch und Gemeinschaft auf als die aus Europa importierten Philosophien und Wissenschaften. Dadurch formulieren sie alterna‐ 170 5 Alternativen 23 Vgl. z. B. 2.5, 2.6, 2.7, 3.1, 3.4, 4.1, 4.2, 5.1, 5.4 für Beispiele aus verschiedenen Regionen der Welt. tive theologische Aussagen über die Beziehungen zwischen Gott und Mensch, Gemeinschaft und Schöpfung, Schuld und Erlösung usw. Diese Differenzen auf der inhaltlichen Ebene sind oft nicht zu verstehen, wenn die grundlegenden Unterschiede auf der epistemischen Ebene nicht betrachtet werden. 2. Weitere Alternativen finden sich auf methodischer und formaler Ebene: Indigene Theologien greifen weit über das Spektrum an wis‐ senschaftlichen Methoden, Orten und Subjekten hinaus, das in der europäischen Theologie für regulär gehalten wird. Auch Menschen außerhalb der akademischen Theologie und außerhalb der Universität können als Subjekte der Theologie anerkannt werden. Ebenso werden die Methoden, die diesen Menschen traditionellerweise zur Verfügung stehen, wie Erzählung, Gesang, Weisheitslehre, Ritual, Tanz usw. für die Entwicklung indigener Theologien aufgegriffen. 3. Dadurch entsteht ein breites Spektrum alternativer Inhalte in den indi‐ genen Theologien, die sich auf das - kontextuell und kulturell bedingte - Alltagsleben der Menschen beziehen, aber auch auf Widerstand und Resilienz im Angesicht der ↗ Kolonialität. 4. Schließlich vertreten indigene TheologInnen einen anderen Anspruch hinsichtlich ihrer Theologien: Weder behaupten sie eine universale Geltung ihrer Theologie für alle Menschen und alle Kulturen noch geben sie vor, eine unveränderliche und für alle Zeiten gültige Theologie zu entwerfen. Indigene Theologien beanspruchen eine vorübergehende, kontextuell und kulturell eingehegte Bedeutung für Menschen, die auf der Suche nach der Weiterentwickelung und Verbesserung theolo‐ gischer Ausdrucksformen in ihrem Kontext sind. Theologie als Herr‐ schaftswissen wird sowohl gegenüber dem kolonialen Christentum als auch gegenüber der eigenen Produktion abgelehnt und kritisch überprüft. Zwei Beispiele - das erste eher aus dem epistemischen Bereich, das andere auf der Ebene der Methoden - sollen diese Überlegungen nun noch greifba‐ rer machen. Zahlreiche weitere Beispiele finden sich in den verschiedenen Abschnitten und Kapiteln dieses Buches 23 . 171 5.2 Indigene Theologien 24 Vgl. dazu grundlegend: Federici, Calibán y la bruja und theologisch: Merchant, Der Tod der Natur. 25 Vgl. ausführlicher Silber, Kirche, die aus sich herausgeht, 188-197; Bascopé, Espiritua‐ lidad originaria, 11-16; Estermann, Apu Taytayku, 66-73. 26 Vgl. Weiler, Gut leben, 35-59. Überzeu‐ gung von der tiefen Zusam‐ mengehö‐ rigkeit aller Dinge In vielen indigenen Kulturen der Welt lässt sich eine grundlegende Über‐ zeugung von der tiefen Zusammengehörigkeit aller Dinge aufzeigen. Sie äußert sich als Vernetzung, Bezogenheit, Entsprechung, Wechselseitigkeit oder auf andere Weise. Häufig wurde in der Zeit der kolonialen Eroberungen diese Weltsicht als magisch interpretiert und als mit dem Christentum nicht vereinbar bekämpft. Die Tatsache, dass es im europäischen Mittelalter ein ähnlich ‚holistisches‘ oder ‚organisches‘ Denken gab, das (gleichzeitig mit dem Kolonialismus) sowohl durch die Hexenverfolgung wie durch Huma‐ nismus und Aufklärung streng bekämpft wurde, mag dabei eine Rolle ge‐ spielt haben 24 . Im indigenen Denken der bolivianischen und peruanischen Anden stellt die wechselseitige Bezogenheit von allem einen zentralen Baustein der Welt‐ sicht dar 25 . Nicht nur sind alle Lebewesen wechselseitig und vernetzt aufein‐ ander bezogen, sondern auch alle Dinge der unbelebten Natur, die Vorfahren und lokale spirituelle Wesen, die nur schwer mit europäischen Konzepten zu erfassen sind. In diesen vielfältigen Beziehungsnetzen herrscht eine dynamische Harmonie, die sowohl durch klimatische, astronomische und tektonische Ereignisse als auch durch menschliches Handeln immer wieder aus dem Gleichgewicht gebracht wird. Rituale, Erzählungen, Erinnerungen, Wallfahrten, Spenden an die lokalen ‚Gottheiten‘ und andere kulturelle Praktiken können der Wiederherstellung des Gleichgewichtes ebenso die‐ nen wie politische und gerichtliche Entscheidungen zur Wiederherstellung von Gerechtigkeit innerhalb der indigenen Gemeinschaft. Indigene Theologien im Andenraum zielen daher auch darauf, diese traditionellen Praktiken der Suche nach Harmonie und Gerechtigkeit mit der christlichen Botschaft von Heil und Erlösung in Dialog zu bringen, um den Alltagsbezug dieser christlichen Begriffe kontextuell erfahrbar zu machen. Ähnliche Überlegungen lassen sich im angrenzenden peruanischen Amazonasraum aufzeigen 26 . → Jione Havea, Bibelwissenschaftler aus Tonga, beleuchtet für den Raum der pazifischen Inseln eine sehr ähnliche ↗ epistemologische Grundeinstel‐ lung: Er beschreibt die kulturelle Vorstellung von tapu - aus diesem Begriff hat sich unser umgangssprachliches ‚Tabu‘ entwickelt - als den heilen, har‐ 172 5 Alternativen 27 Vgl. Havea, The Politics of Climate Change, 347-351. 28 Ebd., 349 Erzählge‐ meinschaft monischen Zusammenhang zwischen Land und Meer, Mensch und Natur, der einzelnen Person und der Gemeinschaft 27 . Ohne tapu wächst nichts, ge‐ deiht nichts, ist alles bedroht. Deswegen muss diese heile wechselseitige Beziehung zwischen allem, was ist, geschützt und bewahrt werden. Zu den traditionellen Praktiken, die in der Lage sind, tapu aufrechtzuerhalten, ge‐ hören auch Verbote, also das, was wir uns unter einem ‚Tabu‘ vorstellen, aber mehr als das: Ein wichtiges gemeinschaftliches Ritual, das auf dem Land praktiziert wird, während ein Teil der Dorfgemeinschaft auf dem Meer Haie fängt, ist das lang andauernde ununterbrochene Erzählen von traditionellen Geschichten in einer Erzählgemeinschaft, die nicht verlassen werden darf. Ansonsten kann es zu Schwierigkeiten auf der offenen See kommen, oder der Fischfang geht möglicherweise erfolglos zu Ende. Eine solche Erzählge‐ meinschaft kann - ebenso wie der Fischzug - den ganzen Tag dauern: „Ein Ritual, das den ganzen Tag andauert, ist für die Zeitrechnung der Inseln keine verlorene Zeit.“ 28 Havea entwickelt aus solchen und ähnlichen traditionell indigenen Vorstellungen eine theologische Ethik der Auseinandersetzung mit dem Klimawandel. In ähnlicher Weise treten in den verschiedenen indigenen Theologien alternative ↗ Epistemologien immer wieder in vergleichbare Auseinandersetzungen mit aktuellen politischen und theologischen Frage‐ stellungen. Durch die andersartige Weltsicht, von der sie ausgehen, gelangen sie zu anderen Lösungen für die Probleme als dies innerhalb europäischer Paradigmen möglich wäre. Die von Jione Havea geschilderte Erzählgemeinschaft zur Stabilisierung des tapu verweist auf das zweite Beispiel, mit dem die Andersartigkeit indigener Theologien im Vergleich zu Theologien europäischer Tradition erläutert werden soll: Es geht um die Bedeutung narrativer Theologie. Havea wehrt sich gegen die kolonialistische Abwertung des Narrativen: „Geschichtenerzählen und mündliche Kulturen werden in akademischen Kreisen zu Unrecht romantisiert und diskreditiert, wenn Wissenschaftler zwischen Ge‐ schichten und Geschichte, Sprache und Schrift, Oralität und Textualität usw. unterscheiden. Es gibt auch eine Tendenz, Geschichtenerzählen und mündliche Kulturen zu rassifizieren, insbesondere wenn Menschen unkritisch davon ausge‐ 173 5.2 Indigene Theologien 29 Havea, The Politics of Climate Change, 346. 30 Ebd. 31 Narrativität ist auch in anderen kulturellen Regionen eine von der Theologie gerne aufgegriffene Praxis. Mercy Amba Oduyoye bringt sie mit traditionell von Frauen ausgeübten Kunsthandwerken wie Weben und Knüpfen in Verbindung, vgl. Oduyoye, Beads and Strands, 102-109; vgl. auch den Titel eines von Havea mitherausgegebenen Buches: Brett/ Havea, Storyweaving. Talanoa hen, dass es sich um Aktivitäten brauner, farbiger oder schwarzer AnalphabetIn‐ nen handelt.“ 29 Zum einen stellt er fest, dass die Konzepte unzureichende Bildung und Analphabetismus immer auch von der Frage abhängig sind, in welcher Kultur und in welcher Sprache jemand wenig oder viel gebildet ist. Zum anderen betont er auch, dass die pazifische Kultur des Erzählens, „Talanoa nicht mit dem verwechselt werden sollte, was manche Menschen im Westen unter Geschichtenerzählen verstehen, nämlich - in ihren Augen - dem Nacherzählen von Geschichten.“ 30 Talanoa ist vielmehr ein kreativer und dynamischer Prozess des Neuerzäh‐ lens, zu dem die Geschichte selbst, die Praxis des Erzählens und die Reaktion der Hörerinnen und Hörer gleichermaßen dazugehören. Keines der drei Elemente kann entfallen. Die Geschichten werden in talanoa an den gegen‐ wärtigen Moment angepasst und von den ZuhörerInnen kreativ, kritisch und ironisch kommentiert. Talanoa kann und soll provozieren und in Frage stellen. Havea betont aus bibelwissenschaftlicher Sicht, dass dies auch bei biblischen Erzählungen der Fall sein kann. Die Kultur des talanoa kann daher leicht mit biblischem Denken in Dialog treten. Laura Donaldson stellt ihrerseits ebenfalls die Bedeutung des Erzählens in ihrer eigenen nordamerikanischen indigenen kulturellen Tradition her‐ aus 31 . Die Möglichkeiten, in einer Erzählung unterschiedliche Standpunkte einzunehmen oder beim wiederholten Erzählen Variationen, Abweichungen und unterschiedliche Erzählverläufe oder gar Ergebnisse zu konstruieren, erlauben Widerspruch und Kritik, Kreativität und Überraschung, Reflexion und Diskussion auf eine ganz andere Art und Weise als im westlichen, rational geprägten Diskurs. Das Erzählen von Geschichten kann daher eine Widerstandspraxis sein und kann kreativ befreiende Alternativen konstruieren, um mit veränderten Kontexten und Situationen umzugehen. Donaldson zitiert die afroamerikanische Theoretikerin Barbara Christian: 174 5 Alternativen 32 Donaldson, Native Women’s Double Cross, 103. Zitat aus The Race for Theory. 33 Ebd., 112. Andere Praxisfor‐ men Christli‐ cher Fun‐ damenta‐ lismus „Ich neige dazu zu sagen, dass unser Theoretisieren (und ich verwende absichtlich das Verb anstelle des Substantivs) oft in narrativen Formen geschieht, in den Ge‐ schichten, die wir erschaffen, in den Rätseln und Sprichwörtern, im Spiel mit der Sprache, da dynamische Ideen uns mehr zu gefallen scheinen als feste. Wie sonst haben wir es geschafft, den Angriff auf unsere Körper, sozialen Institutionen, Länder und selbst unsere Menschlichkeit so beherzt zu überleben? “ 32 In einer indigenen Version der Weihnachtsgeschichte nach Lukas, so Do‐ naldson, könnten beispielsweise die Tiere eine noch größere Rolle spielen und statt der Engel die Verkündigung der Geburt des Messias übernehmen. Dies würde der engen Beziehung zwischen Mensch und Tier in der Na‐ vajo-Kultur entsprechen und diese zugleich zum Ausdruck bringen: „Die Menschen erfahren von diesem besonderen Ereignis nur durch das Wissen, das von Tieren vermittelt wird.“ 33 Das Erzählen von Geschichten ist nur ein Beispiel für die Vielzahl der Praktiken, die von den indigenen Theologien aufgegriffen werden, um Al‐ ternativen zu einer Theologie zu konstruieren, die im Kolonialismus als ent‐ fremdend und unterdrückend erfahren wurde und bis heute unter den Fol‐ gen der Kolonialität leidet. Andere Praxisformen, die über die europäische Rationalität hinausgehen, wie das Theater, die Performance, der Tanz, das Lied, die Malerei usw. wären ebenso zu nennen wie Fragen der politischen und wirtschaftlichen Organisation der Gemeinschaft und die Gestaltung des Jahres nach dem Agrarzyklus. Indigene Praktiken, die unmittelbar mit einer nichtchristlichen Gottes‐ vorstellung in Verbindung gebracht werden können wie Rituale, Gebete, der Gebrauch von Masken, Figuren usw. sind von diesem kreativen theologi‐ schen Dialog nicht von vornherein ausgeschlossen. Vielfach werden sie ebenfalls in die Verhandlungen integriert. Doch dies wird nicht von allen Angehörigen der traditionellen christlichen Kirchen verstanden und tole‐ riert. Romi Márcia Bencke, die Generalsekretärin des brasilianischen Rates der Kirchen, schreibt über die Intoleranz des christlichen Fundamentalismus in Brasilien: „Dieses Hereinbrechen der verschütteten Götter und Göttinnen geschieht nicht ohne Spannungen und Konflikte. Die Fälle religiöser Intoleranz haben signifikant zugenommen, und zwar speziell gegenüber Religionen der Ureinwohner[Innen] 175 5.2 Indigene Theologien 34 Bencke, Die Irruption des Sakralen, 173f. 35 Ebd., 177. 36 Vgl. Castro-Varela/ Dhawan, Postkoloniale Theorie, 62-72. 37 Vgl. die Schwierigkeiten, die die Verwendung des Religionsbegriffs selbst nach sich ziehen: s. o. 2.5. 38 Vgl. Silber, Pluralität, 109-133, auch i.F. und der afrobrasilianischen Völker. […] Das deutet darauf hin, wie leicht es in Brasilien geworden ist, einen Diskurs der Delegitimierung und der öffentlichen Vernichtung des anderen im Namen Gottes oder Jesu anzuheizen.“ 34 Sie plädiert dagegen für eine ökumenische Öffnung auch auf die verschiede‐ nen Formen brasilianischer synkretistischer Religionsausübung hin, denn: „Der Glaube an Jesus Christus ist dynamisch. Er friert nicht mit der Zeit ein, seine Botschaft aktualisiert sich ständig. Daher darf theologisches Handeln nicht durch Doktrin, Dogmen und institutionelle Macht bedingt sein.“ 35 5.3 Autonomie und Kreativität der subalternen Religionen In den säkularen postkolonialen Studien werden Religionen weithin als entfremdend abgelehnt. Insbesondere das Christentum, das meist im Ver‐ bund mit dem Kolonialismus von außen kam und bis heute in vielen Teilen der Welt als ‚westliche‘ oder europäische Religion gilt, wird verdächtigt, die Komplizenschaft mit dem Kolonialismus niemals aufgegeben zu haben. Trotz der in allen Jahrhunderten vorhandenen kritischen Haltungen, die RepräsentantInnen des Christentums gegenüber dem Kolonialismus gezeigt haben, wird sein befreiendes Potenzial nicht sehr hoch eingeschätzt 36 . Postkoloniale Theologien fragen hingegen nicht nach den Religionen im Allgemeinen 37 sondern eher nach den konkreten Konsequenzen, die bestimmte Religionspraktiken und religiöse Überzeugungen für das Leben der Subalternen nach sich ziehen. Sie verweisen sowohl auf entfremdende als auch auf befreiende Aspekte des Religiösen, auch des Christentums. Es stellt sich daher die Frage nach den realen Effekten der konkreten Praxis von Religion 38 : Führt sie zur Abwertung oder zum Ausschluss bestimmter Men‐ schen? Trägt sie zu Gewalt und Verarmung bei? Ermöglicht sie Widerstand und Befreiung? Fördert sie Selbstbewusstsein und Respekt für die eigene Würde? Diese Fragen nach der richtigen Praxis entwickeln für postkoloniale 176 5 Alternativen Praktiken der Subal‐ ternen Anerken‐ nung der Religionen der Subal‐ ternen TheologInnen meist einen höheren Stellenwert als Fragen nach einer durch religiöse Autoritäten bestimmten Orthodoxie. Aufgrund dieses unmittelbaren Ansatzes bei den Erfahrungen und Prak‐ tiken der Subalternen findet sich in der postkolonialen Theologie auch eine hohe Wertschätzung deren eigener religiöser Konstruktionen. Denn die Subalternen schaffen sich häufig eigene religiöse Überzeugungen, Praktiken und sogar Institutionen, wenn auch nur kurzlebig und vergänglich, in jedem Fall aber dynamisch und veränderbar. Solche subalterne Religionspraktiken wurden und werden als Volksfrömmigkeit, Synkretismus, Aberglaube oder Zauberei belächelt, verächtlich gemacht oder aktiv bekämpft. In sehr vielen Kulturen weltweit verstehen sich die Subalternen unmit‐ telbar und oft zuerst als religiöse Menschen und praktizieren Religion in unterschiedlichen Formen. Häufig sind das hybride oder vermischte Formen oder es werden Praktiken unterschiedlicher religiöser Systeme nebenein‐ ander ausgeübt. Dieses Selbstverständnis der Subalternen als religiöse Menschen wird von der postkolonialen Theologie aufgegriffen und der prinzipiellen Ablehnung des Religiösen durch andere postkoloniale Theo‐ retikerInnen entgegengesetzt. Durch die Anerkennung der Religionen der Subalternen sollen diese von der Abwertung der Vergangenheit befreit und in diesem Sinn entkolonisiert werden. Gerade die Personen, die durch Kolonialismus und ↗ Kolonialität abge‐ wertet wurden (und werden), rücken mit ihren Religionen und religiösen Ausdrucksformen in den Fokus. Diese religiösen Praktiken werden als bereits existierende postkoloniale Alternativen zu einer kolonisierenden Re‐ ligion betrachtet, nicht als Abweichung von einer gedachten oder behaupten Reinform einer Religion. Dabei geht es nicht um eine Folklorisierung dieser Religiosität oder um die bloße Feier einer erwünschten Vielfalt, sondern um die Anerkennung der religiösen Würde, Kreativität und Subjektivität der Menschen, die von der Abwertung ihrer Religionspraxis betroffen sind. Ein gewichtiges Argument für diese Anerkennungspraxis finden die postkolonialen TheologInnen in der Kirchengeschichte. Denn die Vielfalt, Veränderbarkeit und ↗ Hybridität des Christentums findet sich bereits in den Zeiten des Neuen Testaments. Das Christentum integrierte sich darüber hinaus bereits in dieser Zeit nicht nur in den hellenistischen Kontext, son‐ dern zugleich - worauf der US-amerikanische Theologe William Dyrness aufmerksam macht - auch in syrische, ägyptische und asiatische Kulturen. Auf diese Weise entstanden sehr unterschiedliche Ausdrucksformen des Christentums, die sich auch in zentralen Fragen unterscheiden konnten, 177 5.3 Autonomie und Kreativität der subalternen Religionen 39 Dyrness, Listening for Fresh Voices, 34. 40 Ebd., 35. 41 Vgl. Lai, Teaching Global Theology, 92-95. 42 Ebd., 94. Ablehnung von Vielfalt und Diffe‐ renz wie der Christologie. Diese Unterschiede führt Dyrness auf kulturelle und kontextuelle Gegebenheiten zurück: „Diese Differenzen spiegelten bedeutsame lokale Unterschiede und kulturelle Erwartungen wider, nicht Unwissenheit und Unglauben. Darüber hinaus verur‐ sachte ihre Unterdrückung Spaltungen, die sich als schädlich für den Fortschritt des Evangeliums erweisen sollten.“ 39 Für Dyrness führte damals die Suche nach der Einheit in der Lehre zu einer Spaltung in der Kirchengemeinschaft und nicht zum Dialog und besseren Verständnis des Christentums. In seiner (selbstkritischen) Analyse sind das „Insistieren auf Einheit und [die] Intoleranz gegenüber Verschiedenheit […] eine typisch westliche Charakteristik“ 40 der römischen im Unterschied zur byzantinischen Kirche. In der Ablehnung von Vielfalt und Differenz habe sich das Christentum jedoch geschwächt. Die Vielfalt lebte dagegen außer‐ halb der Grenzen des römischen Imperiums weiter, worauf Lai Pan-chiu aufmerksam macht, der Spuren des als heterodox geltenden antiken Chris‐ tentums in China und Südostasien aufzeigt 41 . Das Überleben von archäolo‐ gischen und symbolischen Spuren des frühen chinesisch-nestorianischen Christentums verweist für Lai einerseits auf eine Jahrhunderte alte christ‐ liche Prägung der chinesischen Kultur, die nicht auf den Kolonialismus zu‐ rückgeht. Chinesische Kulturen besitzen somit eine Identifikationsmöglich‐ keit mit dem Christentum jenseits des Kolonialismus. Andererseits machen diese Spuren die prinzipielle Vielfalt sichtbar, die den unterschiedlichen kul‐ turellen Formen des Christentums eigen ist: „Eine Theologie, die von den westlichen Kirchen als Häresie zurückgewiesen oder verurteilt wurde, muss nicht notwendigerweise irrig oder falsch sein. […] Es ist daher problematisch, in einer globalisierten Welt die westliche theologische Tradition gegenüber anderen theologischen Traditionen zu bevorzugen.“ 42 Diese grundsätzliche historische Pluralität des Christentums in den ver‐ schiedenen Kulturen und Kontexten geht damit einher, dass es als eine Re‐ ligion betrachtet werden muss, die immer schon hybrid und synkretistisch war, also unterschiedliche religiöse Traditionen in sich aufgenommen und 178 5 Alternativen 43 Vgl. Sugirtharajah, Eine postkoloniale Untersuchung, 138-141; vgl. Kapitel 2.5. 44 Nanko-Fernández, From Pájaro to Paraclete, 14. Der Buchstabe x in der Selbstbezeich‐ nung ‚latinx‘ steht für eine gendergerechte sprachliche Inklusion. 45 Ebd. Synkretis‐ tisch und vielfältig Glaube und Reli‐ gion im Alltag transformiert hat 43 . Auch das europäische Christentum hat eine synkretis‐ tische und vielfältige Entwicklungsgeschichte durchlaufen. Heutige Syn‐ kretismen und ↗ Hybridisierungen dürfen daher prinzipiell denselben Re‐ spekt und dieselbe Würdigung erwarten wie das historisch in Europa gewachsene und verankerte Christentum und dürfen nicht als Abweichung oder Verfälschung abgewertet werden. Zwei Beispiele sollen den bekannten Raum der Volksfrömmigkeit und der synkretistischen Religionen um das Phänomen der dynamischen und flexi‐ blen Erweiterung und Neuinterpretation traditioneller Religionen weiten. Das erste stammt aus dem Christentum der spanischsprachigen Minderheit der USA und wird von der in New York geborenen Latinx-Theologin Carmen Nanko-Fernández angeführt: „Flackernde Kerzen, Gebetsgraffiti, Heiligenfiguren aus Plastik und künstliche Rosen, Bilder der Jungfrau von Guadalupe und andere Vírgenes [Marienfiguren] kennzeichnen diesen ungewöhnlichen Raum als heiligen Boden.“ 44 Dieser „heilige Boden“ ist der Raum vor einer Betonwand an einer Schnell‐ straße in Chicago. An dieser Wand wurde im April 2005 „eine Erscheinung oder ein Fleck“ sichtbar, „je nach deiner Perspektive“ 45 . Diese Erscheinung der Jungfrau Maria nahm ihren Ausgangspunkt am Stoßgebet einer jungen Latinx-Frau, die wegen ihrer Doppelbelastung aus Schule und Arbeit keinen Gottesdienst besuchen konnte, aber sich der Hilfe der Jungfrau bei ihrer Abschlussprüfung versichern wollte. Daraus entwickelte sich ein reger Wallfahrtsbetrieb mit Gebeten und Wundern, Heiligenbildern und Kerzen. Die Graffiti-Attacke eines Latinx-Protestanten, der die katholische Wunder‐ gläubigkeit angreifen wollte, dabei aber von der Polizei verhaftet wurde, und die nachfolgende Überstreichaktion durch die Verkehrsverwaltung lösten jedoch wiederum eine weitere katholische Basisaktion einer professionellen Reinigungstruppe aus. Nanko-Fernández interpretiert diese Ausdrucksweisen der Volksfröm‐ migkeit als typische Elemente der Latinx-Spiritualität: Glaube und Religion sind im Alltag erfahrbar und anwesend, sei es als spürbare Begleitung durch das Heilige, sei es durch die Unterbrechung, das wundersame Eingreifen des 179 5.3 Autonomie und Kreativität der subalternen Religionen 46 Ebd., 13. 47 Vgl. Althaus-Reid, Schlimmes Sterben, 524. 48 Ebd. Mittel der politischen Demons‐ tration Heiligen, das erhofft und um das gebetet werden kann. Religion und Spiri‐ tualität gehören nicht nur in die Gotteshäuser und andere offiziell als heilig geltende Räume, sondern sind gerade auch im Alltag wirksam und helfen, resilient und widerständig zu sein. Denn Latinx-Spiritualität ist für Nanko-Fernández nicht nur dadurch gekennzeichnet, dass sie eine ‚Volksfrömmigkeit‘ ist, sondern auch durch ihren sehr realistischen Bezug zu einem herausfordernden und gefährlichen Alltag. Und dies gilt offenbar nicht nur für ihre katholische Variante. Nanko-Fernández verwendet ein Zitat von Elizabeth Conde-Frazier, aus deren Beitrag über ‚Hispanic Protestant Spirituality‘, das „genauso gut auf den Volkskatholizismus zutreffen“ könnte: „Ein besonderer Schwerpunkt der protestantisch-hispanischen Spiritualität liegt darin, dass sie dem Volk oder den Laien gehört, im Gegensatz zu den ordinierten oder professionellen Klerikern. Sie ist keine betuliche Kontemplation, sondern das Werkzeug des Überlebens und des Kampfes für Menschen, die Teil der geschäftigen Rhythmen von Arbeit und Leben sind.“ 46 Religiöse Ausdrucksformen der Subalternen können nicht nur ‚Werkzeug ihres Überlebens und Kampfes‘ in einem komplexen und ihnen feindlich gesinnten kulturellen Kontext sein. → Marcella Althaus-Reid zeigt auf, wie bestimmte Weiterentwicklungen der lateinamerikanischen Volksreligiosität auch als Mittel der politischen Demonstration eingesetzt werden können und dabei nicht nur politische, sondern auch religiöse Werte vertreten. Sie beschreibt eine freiwillige Selbstkreuzigung zweier Angestellter eines Kran‐ kenhauses in Paraguay Anfang des 21. Jahrhunderts 47 . Solche Selbstkreuzi‐ gungen werden nicht nur in Lateinamerika immer wieder zu politischen Zwecken eingesetzt. „Angesichts der Tatsache, dass die Theologie (und die Hermeneutik) immer kontextgebunden sind, sind die Volkskreuzigungen in Lateinamerika eine Ergän‐ zung des Evangeliums im 21. Jahrhundert. […] Dies bedeutet keine Schmälerung des Geheimnisses und der Grausamkeit der Kreuzigung, sondern es bringt uns Golgata [sic! ] als Ort des Todes und der Verzweiflung viel näher.“ 48 180 5 Alternativen 49 Ebd. Subalterne Spirituali‐ tät Tod und Verzweiflung können auf diese Weise in der postkolonialen Gesell‐ schaft größere Sichtbarkeit gewinnen. Zugleich verweist der Akt auf die Heiligkeit der Opfer der Gegenwart sowie auf ihre Hoffnung, die sie auf den schweigenden Gott, aber auch auf die „göttlichen Gesten der Solidarität der Armen untereinander“ 49 setzen. Solche drastischen Aktionen besitzen ihre Basis in einer verbreiteten und gelebten subalternen Spiritualität, die sich dynamisch aus hybriden Quellen speist. Zu diesen gehört das koloniale Christentum ebenso wie indigene und afroamerikanische Religionen, globalisierte Spiritualitäten des New Age und nichtchristlicher Religionen, die beispielsweise über die Medien kennenge‐ lernt werden, sowie kreative Auseinandersetzungen mit aktuellen kulturel‐ len und politischen Herausforderungen, die zu neuen religiösen und spiri‐ tuellen Transformationen nötigen. Die subalternen Religionen integrieren diese und andere Formen von Spiritualität und Religion und transformieren sich in einem andauernden Prozess des Dialogs mit den Herausforderungen ihrer Kontexte. Sie ent‐ wickeln dadurch auch manche Fehlformen und sind anfällig für gezielte Manipulationen, Ausbeutung und Entfremdung. Dennoch sind andere Aus‐ drucksformen dieser Religionen durch ↗ Hybridisierung, ↗ Mimikry und andere Strategien des Widerstands und der Resilienz sehr wohl in der Lage, Lebensräume zu schaffen und Mittel für den politischen Kampf be‐ reitzustellen. Nicht nur in antikolonialen Befreiungskämpfen, sondern auch in zahlreichen postkolonialen Veränderungsprozessen im Alltag erweisen sich manche dieser Phänomene als spirituelle Wege, die unter Verwendung traditioneller kultureller Mittel Auswege aus den Fesseln der ↗ Kolonialität bieten. 5.4 Ökofeministische Theologien Ökofeminismus und Theologien, die sich auf ihn berufen, können nicht in jedem Fall als eine postkoloniale Strömung oder als postkoloniale theologi‐ sche Alternative betrachtet werden. Ökofeministische Theologien, die in Kontexten entstanden, die vom Kolonialismus und seinen Nachwirkungen betroffen sind, beziehen jedoch häufig post- und dekoloniales Denken mit ein. Oftmals integrieren sie auch indigene, afroamerikanische und 181 5.4 Ökofeministische Theologien 50 Kwok, What Has Love to Do with It, 35. 51 Vgl. zur ökofeministischen Theorie und ihrer Geschichte u. a. Mellor, Feminismo y ecología, 58-94; Graneß/ Kopf/ Kraus, Feministische Theorie, 268-303; Gebara, Intuicio‐ nes Ecofeministas, 17-27. 52 Vgl. Graneß/ Kopf/ Kraus, Feministische Theorie, 285. 53 Mies/ Shiva, Ökofeminismus, 70. 54 Mellor, Feminismo y ecología, 64. Drei „Kolo‐ nien des Weißen Mannes“ synkretistische Vorstellungen, wie sie in den letzten beiden Abschnitten besprochen wurden, und verbinden sie mit ökologischen und feministischen Anliegen. Durch die ausdrückliche Bezugnahme auf ökofeministische Theo‐ rien und Theologien lassen sie sich als eigenständige theologische Alterna‐ tive im Postkolonialismus charakterisieren. → Kwok Pui-lan macht darauf aufmerksam, dass es eine große Ähnlichkeit zwischen ökofeministischem Denken und ökologischen Überlegungen im jüngeren Werk von Gayatri Spivak gibt, die noch vertieft ausgelotet werden könnte 50 . Ökofeministische Theorien sind weltweit seit etwa Mitte der 1970er Jahre in der Diskussion 51 . Sie verbinden ökologisches und feministisches Denken und unterstreichen, dass sowohl die Ausbeutung und Zerstörung der Natur als auch die Unterdrückung und Ausbeutung von Frauen ihre Wurzel im gleichen patriarchalen Denken besitzen. Der Ökofeminismus des Südens fügt dem noch die Ausbeutung durch den Kolonialismus hinzu und charak‐ terisiert das kritisierte Patriarchat genauer als europäisch-koloniale Denk‐ weise. Mit der deutschen Ökofeministin Maria Mies 52 kann man von drei „Kolonien des Weißen Mannes“ 53 oder einer dreifachen Kolonisierung spre‐ chen, deren Achsen miteinander verwoben und verschränkt sind: die Kolo‐ nisierung des Südens, der Frauen und der Natur. Die britische Soziologin Mary Mellor unterscheidet im Ökofeminismus grundlegend zwei Strömungen (ohne sie voneinander trennen oder einander entgegensetzen zu wollen): Die eine legt den Schwerpunkt eher spirituell und kulturell auf die Vertiefung von als ‚weiblich‘ gekennzeichneten Ei‐ genschaften, während die andere eher politisch und sozioökonomisch an einer grundlegenden Veränderung der Gesellschaft interessiert ist. Beide Strömungen kritisieren sich zwar gegenseitig, verweisen jedoch auch auf die Breite ökofeministischer Ansätze, die grundsätzlich Spiritualität, Kultur, Politik und Wissenschaft umfassen 54 . Der Ökofeminismus wendet sich im Allgemeinen gegen Dualismen in der europäischen Weltsicht: Weithin herrschen Entgegensetzungen von Kultur und Natur, Mensch und Natur, Mann und Frau, Verstand und Gefühl, Europa 182 5 Alternativen 55 Gebara, Intuiciones Ecofeministas, 83. Interrelati‐ onalität Interde‐ pendenz und dem Rest der Welt. Diese Dualismen gehen immer auch mit Über- und Unterordnungen einher. Die Perspektiven des weißen, europäischen, sich ‚rational‘ dünkenden Mannes auf die Natur, auf die Frauen und auf die Kolonien ähneln sich daher strukturell: Das jeweils ‚andere‘ wird als untergeordnet, minderwertig, hilfsbedürftig und zum Ausbeuten bestimmt aufgefasst. Sexismus, Kolonialismus und die Ausbeutung der Natur lassen sich daher in der Auffassung des Ökofeminismus nur gemeinsam über‐ winden, da sie gemeinsame Wurzeln und vielfältige Überschneidungen aufweisen. Den Dualismen setzen ökofeministische AutorInnen das Prinzip der ↗ Interrelationalität entgegen, das bereits als Beispiel für das indigene Den‐ ken vorgestellt wurde (vgl. Kapitel 5.2). Die vielfache wechselseitige Bezie‐ hung zwischen allen Dingen, zwischen Natur und Mensch, zwischen Men‐ schen verschiedener Geschlechter und verschiedener ethnischer und kultureller Herkunft wird als Reichtum und Chance für das jeweilige Wachs‐ tum aufgefasst. Gerade postkoloniale ökofeministische AutorInnen greifen dafür häufig auf existierende indigene Erzählungen und Konzepte zurück, um das Prinzip der Interrelationalität mit lokalen Mitteln anschaulich zu machen. Die brasilianische Theologin und Ordensfrau Ivone Gebara entwickelt ihre ökofeministische Theologie ebenfalls aus der Beobachtung einer Über‐ schneidung von Patriarchat, Kolonialismus und Zerstörung der Natur. Denn der Kolonialismus führte ihrer Analyse zufolge nicht nur zur Unterwerfung von Menschen, speziell der Frauen, und zur Ausbeutung und Zerstörung der Natur in den Kolonien, sondern auch zur Entfremdung von der traditionellen Weltsicht der kolonisierten Menschen, nicht zuletzt durch die christliche Mission 55 . Die überlieferte Gemeinschaft mit den Vorfahren und der leben‐ dige Austausch mit der Mitwelt wurde zugunsten einer dualistischen und scheinbar rationalen Haltung der Nutzung und Ausbeutung aufgegeben. Dieser Haltung stellt sie die Überzeugung von der Verbundenheit und gegenseitigen Abhängigkeit (Interdependenz) aller Dinge gegenüber, die sie sowohl in den traditionellen Weltsichten der UreinwohnerInnen als auch im Ökofeminismus findet: „Der zentrale Punkt der ökofeministischen Epistemologie ist die Interdependenz zwischen allen Elementen, die die menschliche Welt berühren. Dies ist eine 183 5.4 Ökofeministische Theologien 56 Ebd., 74. 57 Vgl. ebd. 86 f., 111-114. 58 Gebara, Ökofeminismus, 422; vgl. dies., Intuiciones Ecofeministas, 74-77. 59 Gebara, Intuiciones Ecofeministas, 76. Gottesauf‐ fassung Feststellung, die […] aus unserer eigenen Erfahrung kommt. Es reicht, dass wir aufmerksam auf das achten, was mit unserem Körper geschieht, zum Beispiel wenn wir irgendeinen heftigen Schmerz empfinden. Es scheint, dass [dann] sogar die gewöhnlichsten Dinge schwer zu verwirklichen sind.“ 56 Diese Interdependenz findet Gebara nicht nur in der mit den Menschen verbundenen Welt, sondern insgesamt in der Natur und im gesamten Kosmos: Auch die unbelebte Natur, auch der Raum, an dem etwas oder jemand sich befindet, sind in diese Verbundenheit einbezogen: Anstelle der Trennung in Subjekt und Objekt, die von der eurozentrischen Rationalität vollzogen wird, herrscht eine ökologische Gemeinschaft aller mit allen. Diese ökologisch-kosmische Gemeinsamkeit zeichnet Gebara auch in der Anthropologie nach: Auch hinsichtlich des Menschen ist alles mit allem verbunden: Körper und Geist, Seele und Leib, Männliches und Weibliches, Rationales und Emotionales. Jede Unterordnung, jeder Ausschluss bringen diese wechselseitige Verbundenheit in Gefahr. Gebara widmet daher sowohl der Emotionalität des Menschen als auch der Beziehung zwischen den Menschen in der Gemeinschaft besondere Aufmerksamkeit 57 . Darüber hinaus verbindet Gebara die kosmische mit der anthropologi‐ schen Interdependenz: Auch die Einheit und intensive Verbundenheit der Menschheit und jedes Menschen mit der Natur darf nicht durch Unterord‐ nungen oder Objektivierungen in Gefahr gebracht werden. Sie schreibt daher über den Ökofeminismus: „Er betont die Vorstellung, dass wir (die ganze Schöpfung) ein einziger heiliger Körper sind. Patriarchale Systeme dagegen trennen unsere sozialen Körper in verschiedene Teile, von denen die einen über die anderen herrschen.“ 58 Diesen umfassenden „Heiligen Körper der Erde und des Kosmos“ 59 bezieht sie schließlich auch auf Gott. Denn auch eine Gottesauffassung, die Gott getrennt von der Welt und im Gegensatz zu dem Menschen, der Schöpfung oder dem kosmischen Körper beschreibt, muss ihrer Überzeugung nach überwunden werden, da sie ansonsten menschliche Herrschaft der einen über die anderen oder über die Natur legitimieren würde. Gott wird vielmehr als eine in der Schöpfung gegenwärtige Kraft gedacht, die auch den Men‐ 184 5 Alternativen 60 Ebd., 143. 61 Ebd., 60; vgl. 60-69. 62 Ebd., 15. 63 Kaunda, Towards an African ecogender theology. 64 Ebd., 182. Männer schen durchströmt und auf die Verbundenheit aller Dinge hin drängt. Diese Kraft lässt sich so als „der Gott des Alltags“ 60 erfahren. Für Gebara hat der Ökofeminismus auch grundlegende Konsequenzen für die theologische Methode: Das starre, selbstsichere und letztlich patri‐ archaler Herrschaft dienende traditionelle Modell von Theologie als der Darstellung und Diskussion „ewiger Wahrheiten“ 61 wird von ihr in Frage gestellt und mit Hilfe alternativer theologischen Methoden einer fundamen‐ talen Kritik unterzogen. Im Vorwort zur spanischsprachigen Ausgabe ihres Buches über ökofeministische Theologie schreibt sie: „Ich wage es, die Begriffe der klassischen ‚gelehrten‘ Wissenschaft im Durchein‐ ander mit den alltäglichen Seufzern, den trivialen Dingen des Lebens, meinen Beobachtungen und Gedanken zu gebrauchen. Erwartet also nicht, klare und unterschiedene Konzepte in perfekten Dialektiken zu finden, noch Diskurse von außergewöhnlicher Rationalität, mit vielen Zitaten der Klassiker, moderner und postmoderner AutorInnen.“ 62 Neben den ‚alltäglichen Seufzern‘ bezieht sie - wie auch andere postkolo‐ niale TheologInnen - daher auch Gedichte und Erzählungen, spontane Interviews mit NachbarInnen, Zeitungsberichte und andere alltägliche Er‐ fahrungen in die Ausarbeitung ihrer Theologie mit ein. Chammah Kaunda, afrikanischer Theologe, der in Südkorea lehrt, erar‐ beitet auf der Grundlage des Ökofeminismus eine „Ökogendertheologie“ 63 , die nicht nur die Erfahrungen der Frauen, sondern auch der Männer aus postkolonialer Perspektive integriert. Er versteht diese nicht als Kritik oder Gegensatz zur ökofeministischen Theologie, sondern als eine sinnvolle und aus afrikanischer Sicht notwendige Ergänzung. Denn durch den Kolonia‐ lismus wurden auch Männer von ihrer Beziehung zur Natur entfremdet, und zwar durch patriarchale Gottesbegriffe: „Durch die Kolonisierung afrikanischer Gottesvorstellungen gelang es den euro‐ päischen MissionarInnen und KolonisatorInnen, ein anderes Modell der mensch‐ lichen Beziehung zur Umwelt einzuführen.“ 64 185 5.4 Ökofeministische Theologien 65 Ebd., 191. 66 Ebd., 180. 67 Ebd. 68 Vgl. ebd., 183-192. 69 Ebd., 180. Kolonialis‐ mus ent‐ fremdet Männer Dieses koloniale Modell beinhalte die Vorstellung eines einzelnen, von der Schöpfung losgelösten Gottes, der auch vom Menschen losgelöst ist. Dieser wiederum repräsentiere als Krone der Schöpfung den souveränen Gott gegenüber der Schöpfung und losgelöst von ihr. In der vorkolonialen afrikanischen Weltsicht habe aber die Überzeugung von der Bezogenheit aller Dinge aufeinander geherrscht. Die Abwertung dieser Weltsicht durch den Kolonialismus schloss nicht nur afrikanische Frauen in die dualistische Abwertung von Seiten der Kolonialherren ein, sondern entfremdete auch afrikanische Männer von ihrer angestammten Verbindung mit der Natur: „Sowohl Frauen als auch Männer waren mit der Umwelt verbunden und auf sie bezogen. Diese wurde nicht als unabhängiges Wesen wahrgenommen, dem sich die Menschen aufzwingen sollten, sondern als Familienmitglied, das sich um die Menschen kümmerte und umgekehrt.“ 65 Kaunda interpretiert den Kolonialismus daher als „ungezügelten Angriff auf das Wesen der afrikanischen Menschheit“ 66 , auf ihre Kulturen, Religionen und ihre lebendigen „verwandtschaftlichen Beziehungen“ 67 zur Mitwelt. An zwei Beispielen arbeitet er heraus, wie der Kolonialismus Männer von der Landwirtschaft und der lebendigen Beziehung zur Schöpfung entfremdete und zur Arbeit im Bergbau verpflichtete, so dass letztlich sogar die Ernäh‐ rungssicherheit in Frage gestellt war 68 . Durch eine postkoloniale Ökogendertheologie ist es für Kaunda aber möglich, die Last des Kolonialismus zu überwinden: „Das Ziel der Konstruktion einer afrikanischen Ökogendertheologie besteht darin, afrikanischen Frauen und Männern zu ermöglichen, einige afrikanische ge‐ genwärtige Realitäten als Fortsetzung kolonialer Machtmatrizen zu verstehen.“ 69 Es geht Kaunda dabei jedoch nicht darum, ein holistisches Naturverhältnis, das möglicherweise in der Vergangenheit existierte, in anachronistischer Weise wiederherzustellen. Vielmehr plädiert er für einen hybridisierenden Lernprozess, in dem die Erfahrungen und Kontexte der Gegenwart mit der Weisheit und Weltsicht der Vorfahren in einen konstruktiven Dialog treten können. Auch für Kaunda zieht dies erhebliche Konsequenzen für 186 5 Alternativen 70 Ebd., 195. 71 Ebd., 196. 72 Knauss/ Mendoza-Álvarez, Queer-Theorien, 493 f. Die Verwendung des Begriffs ‚Behin‐ derung‘ und des Ausdrucks ‚intersektionell‘ statt intersektional gehen wohl auf die Übersetzung zurück. 73 Vgl. de Jong‐Kumru, Postcolonial Feminist Theology, 104-114; 149-152; Althaus-Reid, Queer-Theorie, 90 f; Musskopf, So queer, 498-503. das christliche Gottesbild nach sich: Gott kann nicht länger als jemand verstanden werden, der über der Schöpfung steht, sondern „Gott ist Teil der Gemeinschaft des Lebens“ 70 , „ist in der Schöpfung und mit der Schöpfung“ 71 . 5.5 Theologie als Transgression: Queere Alternativen Auch für queere Theologien gilt - ähnlich wie für ökofeministische Theo‐ logien -, dass sie nicht grundsätzlich alle postkolonial arbeiten. Umgekehrt sind auch postkoloniale Theologien nicht alle queer. Es gibt aber klare Überschneidungen beider Strömungen, und diese stehen im Zentrum dieses Abschnittes. Sie zeigen, dass zu den Erblasten des Kolonialismus auch eine Abwertung anderer als heterosexueller Praktiken von menschlicher Sexualität gehört und dass umgekehrt diese Abwertung sich unter dem Einfluss der ↗ Kolonialität verstärken kann. Dies gilt nicht zuletzt für kirchliche und theologische Kontexte, in denen die Geschlechterdualität und die Höherbewertung heterosexueller Praxis eine lange Tradition besitzen. Stefanie Knauss und Carlos Mendoza-Álvarez bemerken in ihrer Einfüh‐ rung zu einer im Ganzen lesenswerten Ausgabe der Zeitschrift „Concilium“, die sich unter der Überschrift „Zum queeren Leib Christi werden“ queeren Theologien widmet, dass Queer-Theorien ihre methodische und inhaltliche Ausrichtung in der Gegenwart ausweiten: „vom ursprünglichen Fokus auf Geschlecht und Sexualität im Westen zum epis‐ temologischen Süden hin. Damit werden nun - im breiteren Kontext des Projekts der Entkolonialisierung - auch Ethnizität, Hautfarbe, Klasse, Behinderung und andere Kategorien thematisiert, die bei der Klassifizierung und Marginalisierung von Menschen in ihren intersektionellen Interaktionen verwendet werden.“ 72 Queer-Theorien gehen über klassische Studien zur Homosexualität deutlich hinaus 73 . Sie kritisieren nicht nur die Abwertung nicht-heterosexueller Prak‐ 187 5.5 Theologie als Transgression: Queere Alternativen 74 Vgl. Althaus-Reid/ Isherwood, Introduction, 5. 75 Musskopf, So queer, 499 f. Markern: Übersetzung korr. nach dem englischen Original. 76 Althaus-Reid/ Isherwood, Introduction, 6. Soziale Konstruk‐ tion des Sexuellen Kulturkritik tiken, sondern analysieren die soziale Konstruktion des Sexuellen insgesamt und fragen nach den Machtinteressen, die hinter geschlechtlichen ↗ Essen‐ tialisierungen sichtbar werden. Über die Gender-Theorien hinaus werden nicht nur die kulturelle Konstruktion des sozialen Geschlechts (gender), sondern auch die des biologischen Geschlechts (sex) und der konkreten se‐ xuellen Praxis hinterfragt. Diesen Kategorien werden grundlegend plurale und dynamische, fluide Eigenschaften zugewiesen; jede Festlegung ent‐ spricht konkreten Machtinteressen 74 . Der brasilianische Theologe André Musskopf schreibt über den Begriff ‚queer‘, dass er „eine theoretische Perspektive repräsentiert, die die binären Identitätskategorien überwindet, die in der akademischen Welt und in sozialen Bewegungen geschaf‐ fen und gepflegt werden. Seine Verwendung beschränkt sich nicht nur auf die Identitätskonstruktion im Hinblick auf Sex, Geschlechtlichkeit und Sexualität, sondern schließt auch die multiplen Unterverbindungen zu anderen Marke[r]n der Identität, wie Rasse und Ethnizität, soziale Klasse, Glauben usw. ein.“ 75 Darüber hinaus entfaltet sich aus dieser prinzipiellen Kritik geschlechtlicher Konstruktionen eine tiefe Kulturkritik, die sich gegen Prozesse der Essenti‐ alisierung und ↗ Veranderung, gegen Ausschlüsse und Abwertungen in vielen gesellschaftlichen Bereichen wendet und dabei grundlegend ↗ inter‐ sektional arbeitet. Es ist daher nachvollziehbar, dass eine große Offenheit für postkoloniale Theorien, die ähnlich arbeiten, besteht. Dies gilt auch für viele Theologien, die sich an queeren Theorien orien‐ tieren. → Marcella Althaus-Reid und Lisa Isherwood schreiben daher: „Queer-Theologie ist […] eine sexuelle Theologie mit einem gewissen Unter‐ schied: eine Leidenschaft für die Ausgegrenzten. Diese Leidenschaft ist Com-Pas‐ sion, aber auch Engagement für soziale Gerechtigkeit, weil es ein breiteres Verständnis der involvierten menschlichen Beziehungen gibt.“ 76 Im Fall von Althaus-Reid verbinden sich dabei lateinamerikanische und eu‐ ropäische, feministische und befreiungstheologische, postkoloniale und queere Perspektiven zu einer sehr kreativen und teils explosiven Theologie. Sie kritisiert beispielsweise auch die Praxis der Jesuitenmissionare in den kolonialen Reduktionen, die in der Geschichtswissenschaft und in der Mis‐ 188 5 Alternativen 77 Althaus-Reid, Queer I Stand, 102. Über‐ schreitung der Regel Transgres‐ sion sionstheologie meist positiv bewertet wird. Denn die Jesuiten setzten dort strikt europäische Vorstellungen einer heterosexuellen Ehe durch und bra‐ chen dafür auch polygame und enge verwandtschaftliche Beziehungen auf. Die tradierte Überschreitung dieser strengen Regeln durch Angehörige der indigenen Bevölkerung der Reduktionen wertet sie nicht nur als legitimen Widerstand, sondern als alternative theologische Praxis: „Es ist wichtig, über diese Geste des sexuellen Trotzes der Kolonien als Heraus‐ forderung für die christliche Theologie nachzudenken, denn dadurch können wir sehen, wie die Menschen wahrgenommen haben, dass christliche Dogmen durch Rebellion gegen die Auferlegung von Monogamie oder heterosexuellen affektiven Verträgen destabilisiert werden konnten. Das ist ein methodologisches Thema, denn dies war damals die Volkstheologie: die unterdrückenden Strukturen der Kirche abbauen, nicht indem über die Dreifaltigkeit gestritten, sondern indem das christliche Sexualprojekt delegitimiert wurde.“ 77 Der enge Zusammenhang zwischen religiöser Autorität, kolonialer Macht und sexueller Gewalt konnte in diesem Fall als Hebel des Widerstands gegen die Unterdrückung und Entfremdung gesehen werden. In ähnlicher Weise, argumentiert Althaus-Reid, können auch in der Gegenwart die Gegnerschaft zu Regeln des sexuellen Anstands und ihre Übertretung in ihrer Beziehung zum Widerstand gegen religiöse, politische und soziale Autoritäten gelesen werden. Diese Übertretung oder Transgression ist keine einmalige Angelegenheit, sondern nimmt in der queeren Theorie und Theologie einen grundsätzlichen Charakter an: Auch neu erreichte Praktiken oder neu konstruierte Realitäten bedürfen der erneuten Transgression, da sie ansonsten in die Gefahr der Essentialisierung geraten. So können auch erreichte Ziele einer queeren Praxis zu neuen Unterdrückungen und Exklusionen führen, wenn sie nicht erneut ‚gequeert‘ oder übertreten werden. André Musskopf schreibt daher mit Bezug auf die Theologie: „In dem, was ‚queer theologies‘ erzeugen, gibt es keinen Fixpunkt, keinen geschlossenen Raum, keine stabile Zugehörigkeit. Bei jedem Schritt ist der Zustand der Fremdheit offensichtlich, der Zustand derer, die nicht an ihrem Platz 189 5.5 Theologie als Transgression: Queere Alternativen 78 Musskopf, So queer, 503. 79 Vgl. Avendaño, Brief eines Indios. Vgl. auch zu einem ähnlich gelagerten Beispiel aus Asien: Culbertson/ Maliko, Ein G-String-Tanga; s.a. am Ende dieses Abschnittes. 80 Avendaño, Brief eines Indios, 527. 81 Vgl. ebd., 526. Das dritte Geschlecht sind und die jeden Platz zu ihrem eigenen machen, offen für Kommunikation, Hybridisierung, Einmischung, Synkretismus.“ 78 Der mexikanische Anthropologe und Performance-Künstler Lukas Aven‐ daño zeigt an einem Beispiel, das ihn selbst betrifft, dass kulturelle Realitäten sowohl postkolonial als auch queer gelesen werden können. Beide Perspek‐ tiven sind in seiner Interpretation hilfreich und notwendig für Befreiung und Gerechtigkeit. Avendaño beschreibt und analysiert theologisch seine eigene Erfahrung als ‚Muxe‘, als Angehörige* eines ‚dritten Geschlechts‘ 79 . In der zapotekischen Kultur gibt es seit vorkolonialer Zeit eine Gruppe von Menschen, die weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zu‐ gehörig sind; sie übernehmen wichtige und spezifische Rollen und Aufgaben in der Gemeinschaft, werden von dieser in ihrer sexuellen Identität aner‐ kannt und pflegen sie selbst. Avendaño ist sich bewusst, dass dies eine geo‐ grafisch und kontextuell gebundene Identität ist: „Muxe-Sein ist außerhalb der Landenge von Tehuantepec ‚Polygamie‘, ‚Inzest‘, ‚Schändung‘, Irrationalität, Aberglaube, Heidentum, Götzendienst, Sodomie und abscheuliche Sünde“ 80 . Er selbst betrachtet das Muxe-Sein dagegen als eine Praxis des Widerstands gegen koloniale, kapitalistische und religiöse Ausgrenzung. Es hat eine umfassende soziale und personale Bedeutung und ist nicht auf eine sexuelle Praxis oder Identität beschränkt. Avendaño verbindet sie über den spani‐ schen Begriff der ‚gracia‘ sowohl mit der in der Gemeinschaft anerkannten ‚Grazie‘ als auch mit der theologischen und religiösen ‚Gnade‘. Gerade in ihrer gnadenhaften Form als ‚Gabe‘ kann diese ‚Grazie‘ als ein Element des Widerstands gegen den auf Wettbewerb und Tauschwert setzenden gnaden‐ losen Kapitalismus dienen 81 . Während jedoch der Kolonialismus und das Christentum die kulturelle Gestalt des Muxe-Seins nicht zerstören konnten, bedroht gegenwärtig ausgerechnet die Begegnung mit der globalisierten 190 5 Alternativen 82 Vgl. Graul, Das dritte Geschlecht, 70-73. Das Kürzel LGBT (Lesbisch-Gay-Bisexu‐ ell-Transsexuell) wird von der Autorin als Verweis auf eine plurale und vielfältig bezeichnete globale Strömung von Menschen verwendet, die ihre sexuelle Orientierung nicht heteronormativ verstehen. 83 Vgl. West/ van der Walt, Eine queere Eröffnung. 84 Ebd., 587. 85 Ebd., 589. 86 Vgl. Althaus-Reid, The Queer God, 164-166. Biblische Erzählun‐ gen queer lesen LGBT-Community die kulturelle und sexuelle Identität der zapotekischen Muxe 82 . Gerald West (vgl. oben 4.3) und die ebenfalls in Südafrika lehrende Reli‐ gionswissenschaftlerin Charlene van der Walt zeigen mit queerer Methodik auf, dass biblische Erzählungen sowohl selbst queere Elemente aufweisen als auch neue Aspekte freigeben, wenn sie queer gelesen werden 83 . Sie tun dies zudem aus einer afrikanisch-postkolonialen Perspektive heraus. In der Josephserzählung stechen daher aus dieser Kombination von Perspektiven der bunte Rock und die nicht-dominante Männlichkeit Josephs heraus, die von seinen Brüdern als anders aufgefasst und mit Gewalt beantwortet wer‐ den. In einer queeren Interpretation der Erschaffung von Mensch und Frau in Gen 2 weisen sie darauf hin, dass nicht Gott, sondern das Menschenwesen entscheidet, ob eines der Tiere oder dann doch die Frau eine „passende Be‐ gleitung“ 84 für es ist, und fragen sich, was geschehen wäre, wenn dieses zuerst geschaffene Menschenwesen anders entschieden hätte, bzw. wenn ein Mensch sich heute die Freiheit nimmt zu entscheiden, welches seine*ihre ‚passende Begleitung‘ ist. Angesichts der Erzählung von Sodom in Gen 18f wurden sie von ‚gewöhnlichen LeserInnen‘ (s. oben 4.3) gefragt, ob der Text nicht „als Geschichte über das Annehmen und Willkommen-Heißen Ho‐ mosexueller in unseren Kirchen gelesen werden“ 85 könnte. Es zeigt sich, dass die Texte aus diesen Perspektiven durchaus gegen den Strich und in gewisser Weise transgressiv gelesen werden und genau dadurch Interpretationen zu‐ lassen, die befreiend und befähigend wirken können. → Marcella Althaus-Reid zeigt an einem anderen Beispiel, wie die traditionelle Theologie von Sünde, Gnade und Erlösung sowohl aus postko‐ lonialer wie auch aus queerer Perspektive einer Kritik unterzogen werden muss. Die koloniale Mission brachte - in Althaus-Reids Interpretation - die Definition der Sünden erst mit sich, von denen sie anschließend zu erlösen vorgab. Was im kirchlich-imperialen Zentrum als Sünde galt, konnte für die Menschen, die kolonisiert werden sollten, als richtig gelten 86 . Umgekehrt 191 5.5 Theologie als Transgression: Queere Alternativen 87 Ebd., 165. 88 Althaus-Reid, The Queer God, 165. 89 Althaus-Reid, Gnade und Anderssein, 426. 90 Musskopf, So queer, 497. Wege der Heiligkeit queeren Christen‐ tums Übertre‐ tung in der Sprache konnte die missionarische Theologie dagegen nicht die Heiligkeit und Gottesnähe der Menschen, zu denen sie gelangte, erkennen und anerkennen, weil ihr die sprachlichen und methodischen Mittel dazu fehlten. „Die Wege der Heiligkeit außerhalb der anständigen Ordnung der kolonialen Christenheit müssen deswegen die Abwesenheit Gottes erdulden.“ 87 Etwas Ähnliches geschieht mit den ‚Wegen der Heiligkeit‘ queeren Chris‐ tentums, das sich ebenfalls außerhalb der ‚anständigen Ordnung‘ befindet. Es lässt sich mit den Mitteln der traditionellen Theologie nicht als Raum der Gnade erkennen, sondern gilt im Gegenteil als von Gott getrennter Ort: „Queere Spiritualität ist eine Feststellung der Handlungsfähigkeit und ein Ent‐ kolonialisierungsprozess an sich. Sie kann behaupten, dass Gott, der Fremde in unserer Gemeinschaft von Fremden, uns als in den Augen der Kirche und der christlichen Ethik für unrettbar verloren erklärt hat. Aber es sind nicht wir, die verloren sind.“ 88 Die Menschen, die auf diese Weise für ‚unrettbar verloren‘ (irredeemably lost) erklärt werden, erhalten jedoch durch die queere Theologie die Hand‐ lungsfähigkeit zurück, ihre Nähe zu Gott selbst zu erkennen und zu erklären. Dadurch überschreiten sie zwar die Grenzen der ‚anständigen‘ theologi‐ schen Sprache, finden jedoch eine neue Ausdrucksweise, in der sie die Begriffe mit neuem Leben füllen. So kann etwa aus dem theologischen Abstraktum der Gnade eine „körperliche, konkrete, sinnliche Glaubenser‐ fahrung,“ werden, „die man in Predigten und Universitätskursen nicht machen kann“ 89 . Die Sprache selbst wird von der Transgressivität der queeren Theologien bis an ihre Grenzen (und teilweise darüber hinaus) strapaziert. „Das Wort‐ spiel oder der Wortwitz ist Teil der Epistemologie und der Methoden“ 90 queerer Theologien, schreibt André Musskopf. Durch Verfremdungen, Ver‐ zerrungen, Karikaturen und andere stilistische Mittel wird die Übertretung auch in der Sprache selbst praktiziert, um die Gewohnheiten, an die tradi‐ tionelle Theologien sich klammern, zu durchbrechen und Selbstverständ‐ lichkeiten zu hinterfragen. Auf diese Weise können sich neue theologische 192 5 Alternativen 91 Culbertson/ Maliko, Ein G-String-Tanga, 59 f. Gemeint sind die „Blackfeet-Stämme“ der USA. Räume öffnen, in denen andere Regeln gelten und daher auch andere menschliche und spirituelle Erfahrungen zur Sprache kommen können. Ein Experiment in theologischer Metaphorik wagen die Theologen Phi‐ lip Culbertson (USA) und Tavita Maliko (Samoa) nach einer anthropolo‐ gisch-theologischen Erkundung der fa‘afafine, Menschen dritten Geschlech‐ tes auf Samoa: „Was könnten wir von Gott verstehen, wenn wir metaphorisch vom Göttlichen Fa‘afafine sprechen würden, dem Bewohner der Zwischenräume, anstatt vom Vater und Herrn oder von Mutter Gott? […] Der/ die Göttliche Fa‘afafine könnte in der Kleidung von Männern oder Frauen erscheinen, je nach Lust und Laune, und für uns wäre das völlig in Ordnung. […] Der/ die Göttliche Fa‘afafine würde unsere Kirchen heimsuchen, […] Sopran im Chor singen und […] die Möbel umstellen, aber auch regelmäßig von der Kanzel herab beschimpft werden, weil unsere menschlichen und kulturellen Vorurteile und Erwartungen ihr in den Weg geraten. […] Im Himmel […] würde sie/ er vielleicht Ninawaki, die Frau mit dem männlichen Herzen treffen, die - nach den Erzählungen der Blackfeet-Stämme - Spaß an Politik hat, gerne schmutzige Witze erzählt und Pferde besitzt. Und dann würde alles, alles gut werden.“ 91 5.6 Postkolonialer Neokolonialismus? In den postkolonialen Studien findet sich immer wieder eine wichtige Form der Selbstkritik, in der die eigene diskursive Haltung kritisch betrachtet wird: Mit welchem Recht repräsentieren nichtindigene WissenschaftlerIn‐ nen die Weltsichten und die Weisheit indigener Völker im westlichen Wissenschaftsdiskurs? Kann die Bezugnahme postkolonialer Intellektueller auf nichtwestliches Wissen selbst wieder koloniale Züge annehmen? Ma‐ chen sich postkoloniale TheologInnen, die theologische Alternativen aus nichtwestlichen Kirchen aufgreifen, nicht einer Art von Neokolonialismus schuldig? Lässt sich eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen dem Gebrauch indigener epistemischer Ressourcen durch westliche Intellektuelle und der Ausbeutung materieller Ressourcen durch den Kolonialismus erkennen? 193 5.6 Postkolonialer Neokolonialismus? 92 Grosfoguel, Del extractivismo. Das Interview von Klein mit Simpson erschien unter dem Titel „Dancing the World into Being“ 2013 beim Yes! Magazine. 93 Vgl. Grosfoguel, Del extractivismo, 35-38. 94 Ebd., 38. Entfrem‐ dung und Aneignung Extrakti‐ vismus Diese selbstkritische Frage ist eine Konsequenz aus den Schwierigkeiten, die das Konzept der ↗ Repräsentation im Postkolonialismus aufwirft (vgl. oben 4.4). Die Problematik besteht darin, dass die Parteinahme für die Sub‐ alternen, das Aufgreifen ihrer Weltsichten und Lernen von ihnen, die Re‐ präsentation ihrer Interessen in fremden Foren und Diskurszusammenhän‐ gen und das stellvertretende Sprechen für sie in einen anmaßenden, paternalistischen Vertretungsanspruch umschlagen kann, der die Subalter‐ nen erneut zum Schweigen verurteilt. Daher muss auch an dieser Stelle die Frage gestellt werden, ob das ‚Aufgreifen von Alternativen‘, das in diesem Kapitel als eine postkoloniale Strategie vorgestellt wird, nicht in Wirklich‐ keit eine Entfremdung und Aneignung des traditionellen geistigen Eigen‐ tums eines kolonisierten Volkes darstellt. Ramón Grosfoguel, aus Puerto Rico stammender und in den USA lehren‐ der Soziologe, greift zur Erörterung dieser Frage ein Interview auf, das die Autorin Naomi Klein mit der Soziologin Leanne Betasamosake Simpson aus dem indigenen Volk der Mississauga Nishnaabeg, beide aus Kanada, führte 92 . Grosfoguel vergleicht (ebenso wie Simpson) das Aufgreifen indi‐ genen Wissens durch Nichtindigene mit der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen im Kolonialismus. Diese Ausbeutung von Rohstoffen und ihre Konsequenzen werden von beiden unter dem Stichwort des Extraktivismus beschrieben, also des zerstörerischen Abbaus dieser Ressourcen mit dem Ziel der Aneignung und Bereicherung. Dieser (neo-)koloniale Extraktivismus beruht auf der westlichen Vorstellung von Dualismen zwischen Mensch und Natur, Zentrum und Peripherie, Kolonisierten und Kolonisatoren, Wirt‐ schaft und Umwelt, Rohstoffe und Industrieprodukt usw., die es ermögli‐ chen, dasjenige rücksichtslos auszubeuten, was in diesen Dualismen jeweils als das Minderwertige verstanden wird 93 . In ähnlicher Weise klagen Simpson und Grosfoguel einen „kognitiven“ (Simpson) bzw. „epistemischen Extraktivismus“ 94 in kulturellen Bereichen an. Grosfoguel zitiert von Simpson eine ausführliche Beschreibung dieser Art der Ausbeutung: „Als in den späten 1980er Jahren versucht wurde, traditionelles Wissen in das Umweltdenken […] einzubringen, war dies ein sehr extraktivistischer Ansatz: 194 5 Alternativen 95 Ebd. 96 Ebd. 97 Ebd., 39; er bezieht sich auf Riveras Buch von 2010, Ch’ixinakak utxiwa: una reflexión sobre prácticas y discursos descolonizadores. 98 Ebd., 40. Vgl. dazu auch eine Überlegung unten im Abschnitt 5.7. ‚Nehmen wir alle Lehren von euch, die uns helfen könnten; direkt aus eurem Kontext heraus, direkt von euren WissensinhaberInnen, direkt aus eurer Sprache heraus und integrieren wir sie in diese assimilatorische Denkweise.‘ Das ist die Idee, dass traditionelles Wissen und indigene Völker eine Art Geheimnis darüber besitzen, wie man auf dem Land auf eine nicht ausbeuterische Weise lebt, das eine breitere Gesellschaft sich aneignen muss. In der extraktivistischen Denkweise geht es jedoch nicht darum, ein Gespräch zu führen, einen Dialog zu führen und indigenes Wissen zu den Bedingungen indigener Völker einzubringen. Es geht vielmehr darum, diejenigen Ideen zu extrahieren, die WissenschaftlerInnen oder UmweltschützerInnen für gut hielten, und sie sich anzueignen … schreib es auf Toilettenpapier und verkaufe es an Leute.“ 95 Grosfoguel kommentiert, dass ähnlich wie beim industriellen Extraktivis‐ mus die indigenen Ideen aus ihrem Kontext herausgelöst werden, um sie an die Interessen der Machthabenden anpassen zu können. Auf diese Weise verlieren sie ihre „politische Radikalität“ 96 und das kritisch-alternative Potential, mit der sie das Mensch-Natur-Verhältnis der Industriestaaten tatsächlich verändern könnten. Stattdessen sollen sie nur der Bereicherung einiger weniger und der Effizienzsteigerung einer zerstörerischen Lebens‐ weise dienen. Ähnliche ausbeuterische Haltungen prangert Grosfoguel bei manchen VertreterInnen post- und dekolonialen Denkens an. Unter Verweis auf die bolivianische Soziologin Silvia Rivera Cusicanqui übernimmt er deren Kritik an Walter Mignolo, der - nach Ansicht Riveras - zahlreiche Ideen von anderen TheoretikerInnen Asiens und Lateinamerikas sowie von den indigenen Völkern übernommen habe, ohne diese Quellen anzugeben, um sie unter eigenem Namen und entpolitisiert zu vermarkten 97 . Grosfoguel zitiert diese Vorwürfe nicht nur, sondern bestätigt sie aus eigener Erfahrung in der Zusammenarbeit mit Mignolo. Gleichzeitig zieht er eine über Mignolo hinausreichende prinzipielle Konsequenz: „Dies erinnert uns daran, dass der epistemische Extraktivismus sogar bei AutorInnen vorkommen kann, die im Namen der epistemologischen Entkolonisierung sprechen“ 98 . 195 5.6 Postkolonialer Neokolonialismus? 99 Ebd., 41. 100 Zit. ebd. 101 Havea, Jione 2010. The Politics of Climate Change, 352f. Kriterien und Me‐ thoden Schwierig‐ keiten Es stellen sich daher drängende Fragen nach Kriterien und Methoden, durch welche eine solche unberechtigte Aneignung vermieden und verhin‐ dert werden kann. Grosfoguel zitiert dafür noch einmal Leanne Betasamo‐ sake Simpson, die „eine Änderung der Denkweise“ einfordert: „von der Sicht auf indigene Völker als wären sie eine Ressource, die ausgebeutet werden kann zu einer Sicht auf uns als intelligente, artikulierte, relevante, lebendige, atmende Menschen und Nationen. Ich denke, das erfordert, dass Einzelpersonen, Gemeinschaften und Völker faire, bedeutungsvolle und authentische Beziehungen zu uns aufbauen.“ 99 Auf diese Weise kann es zu einem Austausch kommen, der mehr oder weniger auf Augenhöhe stattfindet. „Die Alternative zum Extraktivismus“, sagt Simpson, stellt „tiefe Gegenseitigkeit“ 100 dar. Ob diese Gegenseitigkeit oder Reziprozität in der Praxis immer gegeben sein oder hergestellt werden kann, ist eine andere Frage. Sie stellt sich jedoch im Anschluss an diese Überlegungen unmittelbar. Denn gerade in postkolonialen Kontexten sind Beziehungen, die auf ‚tiefer Gegenseitigkeit‘ beruhen, eher die Ausnahme als die Regel. Beispiele für die Schwierigkeiten, die sich ergeben, wenn diese ‚tiefe Ge‐ genseitigkeit‘ zum Tragen kommen soll, erörtert → Jione Havea im Kontext des Klimawandels und seiner Auswirkungen auf die Menschen Ozeaniens, deren Lebensraum, die Inseln, vom Anstieg der Meeresoberfläche bedroht sind. Havea kritisiert, dass bei internationalen Konferenzen die Interessen dieser Menschen nicht wirklich vertreten werden. Denn häufig werden sie gar nicht zu den internationalen Konferenzen eingeladen. Ihre Interessen werden dann von anderen vertreten, die durch eine andere Weltsicht als sie selbst geprägt sind und daher die Einstellungen der Inselbevölkerung gar nicht wirklich repräsentieren. So werde der Ozean in der jüngeren Zeit häu‐ fig „als Feind“ oder als Bedrohung betrachtet und gefürchtet und nicht - wie im ozeanisch-indigenen Verständnis - „als Kontext, Heimat, als das, was wir sind“ 101 . Die BewohnerInnen der Inseln hätten aber in jahrhundertelangem Zu‐ sammenleben mit dem Ozean Beziehungen der Wechselseitigkeit entwi‐ ckelt, die nicht einfach wegen einer neuen klimatischen Situation in eine 196 5 Alternativen 102 Ebd., 353. 103 Ebd. 104 Zit. bei Grosfoguel, Del extractivismo, 42. 105 Vgl. aber anders: Ashcroft/ Griffiths/ Tiffin, Post-Colonial Studies, 15-17. Der Begriff der ‚appropriation‘ wird hier als kritisches und widerständiges Aufgreifen von kulturellen Elementen der kolonisierenden Kultur durch die Kolonisierten verstanden. Für sich selbst sprechen Kulturelle Aneignung Feindschaft umkippen müsse. Vielmehr sei für viele indigene Menschen in dieser Region nach wie vor „der Ozean auch ein Schutzraum des Rückzugs und des Überlebens“ 102 . Andererseits kritisiert Havea, dass Inselbewohne‐ rInnen, wenn sie denn an internationalen Konferenzen teilnehmen könnten, allzu häufig „die Interessen ihrer SponsorInnen“ vertreten, „auch wenn dies bedeutet, dass sie dadurch die Interessen, Stimmen und Gesichter ihrer eigenen Leute vernachlässigen“ 103 . Der von Simpson mit Recht geforderte Dialog auf Augenhöhe, die ‚tiefe Gegenseitigkeit‘ Grosfoguels, die von der Gefahr des kognitiven Extrakti‐ vismus befreien könnten, sind - wie in diesen Beispielen - selbst von der herrschenden globalen ökonomischen Ungleichheit und von der ↗ Koloni‐ alität bedroht, die es erheblich erschweren oder verhindern können, dass indigene Menschen für sich selbst sprechen. Umso selbstkritischer müssen sich postkoloniale TheoretikerInnen und TheologInnen fragen, wann das Aufgreifen nichtwestlicher alternativer epistemischer und theologischer Konzepte und Programme den Respekt vor den AutorInnen und Eigentü‐ merInnen dieser Alternativen vermissen lässt und zu einem Extraktivismus wird. Denn, wie Leanne Simpson sagt: „Extrahieren ist eigentlich Stehlen. Es ist Wegnehmen ohne Zustimmung, ohne darüber nachzudenken, zu sorgen oder auch nur zu wissen, welche Auswirkun‐ gen es auf die anderen Lebewesen in dieser Umgebung haben kann.“ 104 Dies bezieht sie sowohl auf die Ausbeutung von Rohstoffen als auch auf den kognitiven Extraktivismus. In der postkolonialen Theorie spricht man in diesem Zusammenhang auch von ↗ Kultureller Aneignung. Während in der Anthropologie dieser Begriff weitgehend neutral die wechselseitige Aneignung und Transforma‐ tion kultureller Tatsachen und Objekten bei der Begegnung verschiedener Kulturen bezeichnet, werden in postkolonialen Zusammenhängen damit meist Prozesse der ungerechtfertigten, unerlaubten und rücksichtslosen Übernahme kultureller Elemente durch die jeweils mächtigere Partei be‐ zeichnet 105 . Häufig stehen solche Prozesse kultureller Aneignung im Dienst 197 5.6 Postkolonialer Neokolonialismus? der Kommerzialisierung kultureller Produkte; teilweise können sie aber auch anderen Zwecken, wie der Stabilisierung der Herrschaft oder der Ab‐ wertung der unterworfenen Kultur, etwa durch ihre Folklorisierung dienen. Kognitiver Extraktivismus und kulturelle Aneignung sind Gefahren in der postkolonialen Praxis, die insbesondere auch von TheologInnen, die sich mit den Konsequenzen der Jahrhunderte alten Praxis von Unterwerfung, Entfremdung und Ausbeutung, die mit Kolonisierung und Mission verbun‐ den waren, kritisch und selbstkritisch reflektiert werden. Theologische Alternativen zur Kolonialität aufzugreifen kann erneut zur Ausbeutung, Entmündigung und Marginalisierung der Subalternen beitragen. Ob es gelingt, im Dialog mit alternativen Wissensformen den kognitiven Extraktivismus zu vermeiden, lässt sich dabei weder durch die Einhaltung bestimmter methodischer Schritte garantieren noch durch Beobachtung bestimmter Kriterien einwandfrei sicherstellen. Vielmehr wird die Frage, ob epistemischer Extraktivismus vorliegt oder nicht, immer wieder umstritten und Gegenstand von ↗ Verhandlungen sein. Die kritische und streitbare Auseinandersetzung über diese Frage kann Teil eines Verhandlungsprozes‐ ses sein, in dem mögliche epistemische Alternativen in den Lernprozess akademischer Theologien eingreifen und ihn verändern. Der von Simpson intendierte Dialog in ‚tiefer Gegenseitigkeit‘ kann auch konfliktiv ablaufen, wenn die institutionellen Rahmenbedingungen Ungleichheit produzieren, wie das in postkolonialen Kontexten regelmäßig der Fall ist. Auch das Zulassen und Austragen solcher Konflikte garantiert nicht das Vermeiden des kognitiven Extraktivismus. Vielmehr muss die reale Gefahr solcher extraktivistischer Herangehensweisen postkoloniales akademisches Lernen auch in der Theologie immer neu zu vertiefter Selbst‐ kritik führen, die die Bereitschaft einschließt, Kritik an der eigenen Position unvoreingenommen anzunehmen. Die Lösungsstrategien, die Mark Lewis Taylor für das postkoloniale Dilemma der ↗ Repräsentation in der Theologie vorschlägt (vgl. Kapitel 4.4), können auf diesem Weg hilfreich sein. 5.7 Jenseits der Grenze. Zusammenfassung Der lernende Dialog mit nichtwestlichen Alternativen, der postkoloniale Theologien prägt, steht im Dienst der Befreiung von der ↗ Kolonialität der Theologie und des Christentums und der Überwindung der Erblasten des Kolonialismus insgesamt. Denn es geht bei diesem Dialog nicht darum, 198 5 Alternativen 106 Die Vorstellung einer „Befreiung der Theologie“ orientiert sich grundsätzlich an Juan Luis Segundo, der Befreiungstheologie als einen fundamentalen Prozess der Neustruk‐ turierung oder ‚Befreiung‘ der Theologie insgesamt verstand: Vgl. Segundo, Liberation of Theology. Kulturelle Entwick‐ lung und interkultu‐ reller Aus‐ tausch Grenzver‐ letzung Alternativen zur Geltung zu bringen oder zu schaffen, um eine kulturelle Vielfalt zu erreichen, die ihrer selbst willen erstrebenswert wäre. Das Ziel ist es vielmehr, Machtverhältnisse, die sich in kultureller und interre‐ ligiöser Abwertung und Exklusion, sowie in kolonialen Diskurspraktiken ausdrücken und durch sie stabilisieren, zu durchbrechen, ihnen nicht nur Widerstand entgegenzubringen, sondern auch die Möglichkeit und die Existenz von echten Alternativen zur Kolonialität aufzuzeigen. Wenn solche Alternativen aufgegriffen und zur Geltung gebracht werden, kann dies dazu beitragen, Ungerechtigkeiten zu beenden, Unterdrückung aufzuheben und Exklusionen zu überwinden. Alternativen können dabei bereits seit Jahrhunderten existieren oder im Zuge der Entkolonialisierung neu geschaffen werden. Darin besteht kein grundsätzlicher Unterschied. In beiden Fällen lösen die koloniale und post‐ koloniale Begegnung sowie die entkolonisierende Dynamik ↗ Hybridisie‐ rungsprozesse aus, durch welche die kulturelle Entwicklung und der inter‐ kulturelle Austausch beschleunigt werden. ‚Alternativen‘ im Sinn dieses Kapitels sind keine statischen Identitäten, die sich neben einer als ebenso statisch vorgestellten kolonialen oder postkolonialen Identität behaupten könnten, sondern stehen mit den herrschenden Weltanschauungen in dy‐ namischen Verhandlungen, auch durch den Widerstand und die bewusste Unterscheidung. Auch indigene, vorkoloniale Kulturen haben sich ja über die Jahrhunderte des Kolonialismus gerade auch im Kontakt, im Konflikt und in der widerständigen Auseinandersetzung mit diesem immer wieder weiterentwickelt. Ähnlich wie queere Theologien (vgl. oben 5.5) bedienen sich auch die postkolonialen Theologien der Praxis von Übertretung, Überschreitung und Grenzverletzung. Sie nehmen sich die Freiheit, sowohl in methodischer und inhaltlicher Hinsicht als auch hinsichtlich der Subjekte und Orte der Theo‐ logie, Alternativen zu den in Europa oder in den verschiedenen kolonialen und kirchlichen Zentren der Gegenwart üblichen und für richtig gehaltenen Praktiken einzusetzen. Das Ziel ist dabei nicht die theologische Anarchie, sondern die Befreiung der Theologie 106 , damit sie den Erfahrungen, Nöten und befreienden Praktiken der Menschen besser gerecht werden kann. 199 5.7 Jenseits der Grenze. Zusammenfassung 107 Mignolo, El pensamiento decolonial, 33. Grenzden‐ ken Postkoloniale Theologien orientieren sich dabei häufig bewusst an indi‐ genem, afroamerikanischem, populärem, synkretistischem und anderem Wissen, das durch die Herrschaftsverhältnisse der westlichen Kolonisierung abgewertet wurde. Auf diese Weise machen sie zugleich darauf aufmerksam, dass es jenseits der Grenzen des westlichen und kolonialen Wissens immer schon auch andere, alternative Wissenssysteme und Wissenspraktiken gegeben hat. Diese Praxis der Grenzüberschreitung und der Kritik des kolonialen Wissens durch epistemische Alternativen wird durch das Konzept des ‚Grenzdenkens‘ von Walter Mignolo sehr gut theoretisiert und von vielen AutorInnen aufgegriffen. Der Rekurs auf Mignolo gibt Anlass zu einer nicht unwichtigen Neben‐ bemerkung: Es erscheint auf den ersten Blick als Widerspruch, wenn Mignolo im letzten Abschnitt als Beispiel für die neokoloniale Vereinnah‐ mung alternativen Denkens genannt wurde, nun aber als Anwalt für die Aufmerksamkeit für Alternativen behandelt werden soll. In einer genaueren Analyse stellt dieser Fall jedoch exemplarisch vor, wie im postkolonialen Denken zwischen den theoretischen Beiträgen eines Autors und seiner konkreten Praxis durchaus auch selbstkritisch unterschieden werden kann. Ein wertvolles Theorieelement, das von einem Autor (zumal einem so breit rezipierten wie Mignolo) vorgeschlagen wird, bleibt hilfreich und wird durch eine gegenteilige Praxis nicht entwertet. Vielmehr kann es sogar als Element der Kritik gerade einer solchen neokolonialen Praxis - und sei es desselben Autors - dienen. Der Widerspruch besteht hier also zwischen einer bestimmten Theorie und einer bestimmten Praxis und muss nicht auf die Person Mignolos hin verallgemeinert und personalisiert werden. Walter Mignolos ↗ ‚Grenzdenken‘ interessiert sich für die (epistemi‐ schen) Regionen jenseits der Grenzen des Wissens, die von der kolonialen Kultur gezogen wurden. Es sind keine Grenzen, die innerhalb des Wissens selbst bestehen, sondern die diesem Wissen durch koloniale Interessen auf‐ erlegt wurden. Jenseits dieser Grenzen öffnet sich ein „anderer Raum“, ein alternativer Raum: „der Raum des dekolonialen Denkens“ 107 , ein Raum, in dem anders gedacht und konzipiert werden kann als im Raum der westlichen Denkweise. Wer sich von der Festlegung auf westliches Denken loslösen kann, für den oder die öffnen sich neue Möglichkeiten des Wissens und der Praxis: 200 5 Alternativen 108 Mignolo, Habitar la frontera, 177. Vgl. zur ‚Loslösung‘ oben 4.7. 109 Lorde, The Master’s Tools. Der englische Begriff ‚master‘ kann im Deutschen auch als „Meister“ wiedergegeben werden. I.O.: „The master’s tools will never dismantle the master’s house“. 110 Ebd., 373 f; vgl. ders., El pensamiento decolonial, 28f. 111 Müßig, Die Jungfrau im Silberberg. Selbstbe‐ zogenheit der Mo‐ derne „Wenn wir uns losgelöst haben - wohin gehen wir dann? Man muss sich auf das Reservoir jener Lebensformen und Denkweisen hin bewegen, die entwertet wurden durch eine christliche Theologie, die sich seit der Renaissance in Gestalt der säkularen Philosophie und Wissenschaften weiter ausbreitete. Im Reservoir der Moderne (Griechenland, Rom, Renaissance, Aufklärung) findet sich kein Ausweg. Wenn wir uns dorthin wenden, bleiben wir an die Illusion gekettet, es gäbe keine andere Möglichkeit zu denken, zu handeln und zu leben.“ 108 Denn das ‚Reservoir der Moderne‘ besitzt für Mignolo diese universalistische Tendenz, Alternativen zu sich selbst zu verleugnen, abzuwerten und ver‐ ächtlich zu machen. Zugleich mangelt es der Moderne jedoch nach Ansicht von Mignolo an der selbstkritischen Haltung, die eine echte Veränderung in dem Maß ermöglichen wurde, die für einen Ausweg aus der Kolonialität nötig wäre. Vielmehr führt die Selbstbezogenheit der eurozentrischen Mo‐ derne dazu, dass die eigene Denkweise als einzige mögliche Basis für eine Selbstkritik und für eine Entwicklung angenommen wird. Parallelen zu dem bekannten Diktum der US-amerikanischen Feministin Audre Lorde, „Die Werkzeuge des Herrn werden niemals das Haus des Herrn einreißen“ 109 , fallen ins Auge. Das Grenzdenken ermöglicht es, alternative Werkzeuge zu ergreifen. Mignolo führt zwei historische Beispiele an, in denen sichtbar wird, wie das alternative Denken von jenseits der Grenze über Hybridisierungspro‐ zesse in das westliche Denken kritisch eindringt und es so von innen her prinzipiell in Frage stellen kann: Ottobah Cugoano, ein in Ghana geborener ehemaliger britischer Sklave und der peruanische indigene Chronist Felipe Huamán Poma de Ayala nahmen jeweils das Christentum an und bedienten sich kolonialer Sprachen und Ausdrucksweisen, brachten aber innerhalb dieses Denkens ihre eigenen Werte und Anschauungen zum Ausdruck und konnten so die europäischen Kolonialherren gewissermaßen ‚von außen‘ kritisieren. 110 Ähnlich lässt sich Dietmar Müßigs Analyse von der „Jungfrau im Sil‐ berberg“ 111 , die oben in Abschnitt 4.6 vorgestellt wurde, als eine Praxis 201 5.7 Jenseits der Grenze. Zusammenfassung 112 Mignolo, Habitar la frontera, 374. Hervorhebung i. O.; „wider-existieren“, i.O.: „re-exis‐ tir“. Alternati‐ ven außer‐ halb des westlichen Denkens Postkolo‐ niale Theo‐ logien des ↗ Grenzdenkens werten: Das hybride Bild zeigt vordergründig eine Darstellung der Gottesmutter, verweist aber zugleich auf die traditionelle andine Religiosität, deren öffentliche Zurschaustellung und Praxis vom Kolonialismus abgewertet wurde, in Gestalt dieses ‚christlichen‘ oder ‚ka‐ tholischen‘ Gemäldes jedoch spirituelle Verehrung erfahren darf. Diese historischen Beispiele verweisen darauf, dass es diese Alternativen außerhalb des westlichen Denkens gibt und dass mit ihnen bereits von Be‐ ginn der kolonialen Epoche an eine Kritik des Kolonialismus betrieben wurde. Dieses kritische Grenzdenken nimmt auch in der Gegenwart unter‐ schiedliche hybride Formen an, handelt aber unter den aktuellen sozialen Bedingungen häufig nicht mehr so verdeckt und getarnt, wie es in kolonialen Zeiten aus Gründen des Selbstschutzes notwendig war. Vielmehr treten die ↗ epistemologischen Alternativen zur Kolonialität heute vielfach sehr viel offener auf. Für Mignolo kulminieren in diesem Grenzdenken die dekonstruktive und die konstruktive Praxis des postkolonialen Denkens und ergänzen sich. Er schreibt: „Das ist nicht mehr und nicht weniger als die zentrale Herausforderung des Seins und Denkens an der Grenze: Außerhalb des Rassismus und des imperialen epistemischen Patriarchats [zu sein], an dem die Regeln des guten Erkennens, des guten Lebens, der sexuellen und ethnischen Hierarchien, der heterosexuellen Normativität und der weißen Überlegenheit hängen. Für diejenigen, die nicht willens sind, das imperiale Haus zu bewohnen und die darauf setzen, zu wi‐ der-existieren (und nicht nur zu widerstehen, woran uns der afro-kolumbianische Künstler und Denker Adolfo Albán […] erinnert hat), ist die Grenzepistemologie eine Option, die zugleich die dekoloniale Option ist. 112 “ Die in diesem Kapitel vorgestellten Beispiele aus alternativer Bibellektüre, indigenen, afroamerikanischen und volksreligiösen sowie aus ökofeminis‐ tischen und queeren Theologien machen dies deutlich: Postkoloniale Theologien kritisieren Diskurspraktiken und Machtbeziehungen in der tradi‐ tionellen Theologie, um sie aus der Kolonialität zu befreien, in die sie der Jahrhunderte währende koloniale ↗ Eurozentrismus gebracht hat. Sie leisten der Kolonialität und den gegenwärtigen Machtverhältnissen, die sich auf sie stützen, Widerstand, um die Unfreiheit und Ungleichheit, die 202 5 Alternativen in postkolonialen Kontexten herrschen, zu beenden. Und sie greifen dazu auf Alternativen zurück, weil diese es sind, die vom Außen des Kolonialen her die Fähigkeit besitzen, die Kolonialität zu überwinden, und weil es den Menschen, die nach den epistemischen Voraussetzungen dieser Alternativen leben, das Recht zurückgibt, ihre eigene kulturelle, religiöse und politische Identität weiterzuentwickeln. Diese Alternativen von jenseits der kolonialen Grenzen des Wissens sind in der Lage, die Kolonialität des Wissens auch in der Theologie grundsätzlich in Frage zu stellen und Wege zu ihrer Überwindung aufzuzeigen. Die koloniale Ausgrenzung, Abwertung und Dämonisierung dieser Alternativen gerade auch durch die koloniale Theologie und Mission stellt jedoch bis in die Gegenwart ein schwer zu überwindendes Hindernis vor allem für die Theologie dar. Die ehrliche Wahrnehmung und offene Auseinandersetzung mit den Alternativen, die im theologischen Grenzdenken geschehen kann, erfordert daher immer auch eine selbstkritische Bereitschaft zu Korrektur und Umkehr. In der Offenheit für das Grenzdenken und die epistemischen Alternativen, die sich seit Jahrhunderten dem Kolonialismus widersetzen, eröffnen sich jedoch ↗ Verhandlungs- und Handlungsspielräume für postkoloniale Theologien. Solche Grenzräume oder ↗ ‚Dritten Raume‘ der postkolonial-theo‐ logischen Verhandlung schaffen kreative, experimentelle und dynamische Grundlagen für eine Theologie, die einen Beitrag zur Befreiung aus der Gefangenschaft der Kolonialität leisten kann. 203 5.7 Jenseits der Grenze. Zusammenfassung 1 Alle Zitate: Gruber, Wider die Entinnerung, 24; vgl. 23-25. 2 Ebd., 23. Hinder‐ nisse in Europa 6 Anstoß oder Anstöße für Theologien in Europa? Können europäische Theologien postkolonial werden? Können Theologin‐ nen und Theologen in Europa etwas von den postkolonialen Theologien der Welt lernen? Können wir uns zur Veränderung, gar zum Umkehr anregen lassen? In welcher Weise geschieht dies evtl. schon? Welche Herausforde‐ rungen ergeben sich aus den postkolonialen Theologien für die europäische Theologieproduktion? Als letzter Schritt in dieser Einführung in postkolo‐ niale Theologien für den deutschsprachigen Kontext geht es um die wichtige Frage, welche Lern- und Reflexionsprozesse durch postkoloniale Theologien in Europa angestoßen werden können. Dabei ist nicht nur zu bedenken, auf welche Weise das möglich ist, son‐ dern auch, welche Hindernisse dem in Europa selbst entgegenstehen. Denn es ist im deutschsprachigen akademischen Betrieb nicht selbstverständlich, sich von einer theologischen Strömung anregen oder anstoßen zu lassen, die kritisch mit fundamentalen theologischen, methodischen und ↗ epistemo‐ logischen Voraussetzungen umgeht. Judith Gruber bringt in diesem Kontext in narrativer Weise verschiedene Erfahrungen aus dem akademischen Alltag ins Spiel, die exemplarisch zeigen, wie in Deutschland und Österreich interkulturelle, feministische, befreiungstheologische und eben auch postkoloniale Theologien vom domi‐ nanten Diskurs als „provinziell“, „nicht […] repräsentativ“ und „marginal“ 1 eingestuft werden und auf diese Weise leicht ignoriert werden können. So berichtet sie anekdotisch von dem vermeintlich gut gemeinten Rat, sie solle sich für ihr „nächstes Projekt nicht wieder ein Randthema wählen, wie es die Interkulturelle Theologie ist, sondern sich nun wirklich einem Kernthema der Theologie zuwenden“ 2 . Solche Erfahrungen lassen sich leicht wiederholen, wenn man versucht, befreiende, feministische oder interkulturelle Theologien in theologischen Zeitschriften, Verlagen, Modulhandbüchern oder wissenschaftlichen Le‐ bensläufen unterzubringen. Gerade wenn solche Theologien mit einem kritischen Anspruch gegenüber traditionellen europäischen Diskursformen auftreten, wie dies bei den postkolonialen Theologien der Fall ist, wird diese 3 Ebd., 24. 4 Ebd., 26. Machtver‐ hältnisse in der Wis‐ senschaft Kritischer Blick von außen Kritik gerne mit dem Hinweis auf eine scheinbare Marginalität kontextueller Theologien gegenüber der angenommenen Universalität der europäischen Theologie vom Tisch gewischt. Gruber macht demgegenüber darauf aufmerksam, „dass eine Tendenz zur Ausblendung von Machtverhältnissen in der theologischen Wissenspro‐ duktion“ selbst „ein machtvolles Moment im deutschsprachigen Diskurs darstellt“ 3 . Machtverhältnisse in der Wissenschaft werden offenbar gerade von dieser Wissenschaft selbst sehr ungern thematisiert. Ein zentraler An‐ stoß, der von den postkolonialen Theologien ausgeht, besteht daher nach Gruber genau darin, diese Machtverhältnisse - nicht nur in der Marginali‐ sierung nicht-abendländischer theologischer Entwürfe, aber auch hier - aufzudecken und kritisch zu hinterfragen. Unter Rekurs auf Gayatri Spivak legt Gruber dabei dar, dass es um die Kri‐ tik der Machtförmigkeit der theologischen Wissensproduktion insgesamt geht, und nicht darum, eine bestimmte theologische Methode als falsch und eine andere als richtig darzustellen. Vielmehr sollen die Tatsache und die Strukturen dieser Machtverhältnisse aufgedeckt und transparent gemacht werden, anstatt sie zu verschweigen und damit unantastbar zu machen. Postkoloniale Theologien würden demgegenüber diese Machtkonstellatio‐ nen nicht verschwinden lassen oder ersetzen, sondern sich konstruktiv und konzeptionell mit ihnen auseinandersetzen und damit sich selbst in ein Verhältnis innerhalb dieser Machtausübung einbringen 4 . Postkoloniale Theologien stellen insofern einen prinzipiellen, fundamen‐ talen Anstoß für die Produktion und Lehre der Theologie in Europa dar und sollen kein Fach neben anderen oder ein intellektueller Zeitvertreib neben der als ‚eigentlich‘ apostrophierten akademischen Theologie werden. Sie stellen diese vielmehr fundamental in Frage, kritisieren ihre epistemo‐ logischen Grundlagen und fragen nach den ihr zugrundeliegenden Macht‐ verhältnissen in Wissenschaft und Gesellschaft. Sie blicken von außen auf europäische ↗ Epistemologie und Geistesge‐ schichte. Dies ist ein kritischer Blick, der von der Erfahrung ausgeht, abge‐ wertet und ausgebeutet zu werden. Mit diesem kritischen Blick von außen wollen postkoloniale Theologien nicht den moralischen Zeigefinger gegen‐ über europäischen Theologien erheben, sondern ihre eigenen Abhängigkei‐ ten von der Kolonialität der Theologie erkennen, analysieren und ihnen wi‐ 206 6 Anstoß oder Anstöße für Theologien in Europa? 5 Zit. nach Kerner, Postkoloniale Theorien, 76. Vgl. Kapitel 1.2. 6 Becka, Welcher (V)Erkenntnisgewinn, 138. Umkehr und Selbst‐ kritik derstehen. Es geht ihnen nicht um die Korrektur europäischer Theologien, sondern um die Befreiung von ihnen. Es ist für die Rezeption in Europa entscheidend, dass diese Haltung wahrgenommen, verstanden und akzep‐ tiert wird. Postkoloniale Theologien blicken von außen auf Europa, auch wenn sie europäische Wissenstraditionen verwenden und sogar wenn sie (in man‐ chen Fällen) an europäischen Hochschulen entwickelt und gelehrt werden. Denn mit Hilfe des ↗ Grenzdenkens (vgl. oben 5.7) distanzieren sie sich von europäischen Traditionen und stellen sich ihnen (selbst-)kritisch gegenüber, auch wenn sie sich in einen Diskurs mit ihnen begeben. Sie weichen aber dem von Dipesh Chakrabarty beschriebenen postkolonialen Dilemma, dass westliche Denktraditionen für den Postkolonialismus „ebenso unverzicht‐ bar wie ungenügend“ 5 sind, nicht aus. Der kritische postkoloniale Blick auf Europa lässt sich auch nicht durch das Argument abwehren, dass Europa ausreichend eigene Selbstkritik auf‐ bringt oder dass einzelne Elemente der postkolonialen Kritik auch in Europa schon einmal geäußert wurden. Postkoloniale Theologien wollen Alterna‐ tiven zu der theologischen Tradition konstruieren, die sie als Verbündete des Kolonialismus entlarvt haben. Deswegen geht es ihnen nicht in erster Linie darum, dass die europäischen Theologien etwas lernen oder sich weiterent‐ wickeln können, sondern um die Freiheit, im Widerstand zu ihnen theolo‐ gische Alternativen zu erarbeiten. Wenn wir in Europa daraus lernen wollen, kann dies meines Erachtens nur in der Haltung der Umkehr und Selbstkritik geschehen. Ansonsten bleiben europäische Theologien in der Gefahr der traditionellen Überheblichkeit. Ähnlich argumentiert auch die deutsche Theologin und Sozialethikerin Michelle Becka, „dass durch die Erkenntnisse postkolonialer Studien etwas fraglich wird oder in Bewegung gerät - oder geraten könnte, wenn man diese Anfragen zuließe. […] Die erste Forderung wäre, die Erkenntnisse postkolonialer Theorien und Studien wahr und ernst zu nehmen. Die zweite Forderung wäre, eigene Positionen, Begriffe und Konzepte der Ethik von daher zu überdenken.“ 6 In diesem Kapitel werden über diese beiden Forderungen hinaus weitere grundlegenden Anfragen aufgezeigt. Auch dies geschieht jedoch wieder nicht abschließend und mit dem Anspruch auf Vollständigkeit. Vielmehr 207 6 Anstoß oder Anstöße für Theologien in Europa? 7 Zur Kritik der ‚Schulbildung‘ in der europäischen Theologietradition vgl. Estermann, Südwind, 169. 8 Die Strukturierung dieses Panoramas in die hier folgenden vier Punkte unterscheidet sich im Detail von der Kapiteleinteilung dieses Buches und von der Gliederung dieses Kapitels. Diese Unterschiede dienen dazu, dem Eindruck entgegenzuwirken, dass postkoloniale Theologien in klaren Systematiken beschrieben werden können. Es gibt jeweils diese unterschiedlichen Schwerpunkte, jedoch sind sie vielfach aufeinander be‐ zogen und ergänzen einander. Sie lassen sich auf verschiedene Weisen systematisieren. Eine einheitliche Systematik würde diese innere Dynamik und Verwobenheit verdecken und postkoloniales Denken seiner Kreativität und ‚Disziplinlosigkeit‘ berauben. Postkolo‐ niale Be‐ kehrung der Theo‐ logie dient auch dieses Kapitel wieder der Einführung in die kritischen Anfragen der postkolonialen an die europäischen Theologien. Innerhalb bestimmter theologischer Fachbereiche und Einzelthemen sowie aus unterschiedlichen postkolonialen Perspektiven, die in dieser Einführung vorgestellt wurden, werden jeweils auch noch einmal detailreichere, genauere und konkretere kritische Auseinandersetzungen geleistet. Auch europäische Theologien dürfen dabei nicht als einheitliches, homo‐ genes Gebilde verstanden werden, auch wenn sie in diesem Kapitel teilweise im Singular genannt werden. Gerade die unmittelbare Kritik an ‚der euro‐ päischen Theologie‘ von Seiten postkolonialer Theologinnen und Theologen stellt oft undifferenziert eine essentialistische Karikatur der Vielfalt euro‐ päischer Theologien in den Vordergrund. Die eine oder andere europäische theologische Strömung oder ‚Schule‘ 7 mag von der postkolonialen Kritik mehr oder weniger betroffen sein. Es ist dennoch wichtig, sich mit diesen Kritiken prinzipiell auseinanderzusetzen, um im gemeinsamen Dialog zu einer postkolonialen Bekehrung der Theologie insgesamt zu kommen. Wie in diesem Buch schon mehrfach sichtbar wurde, wird auch auf den folgenden Seiten erkennbar sein, dass dies in Europa teilweise schon ernsthaft disku‐ tiert wird. Innerhalb der postkolonialen Theologien werden - wie in den letzten Kapiteln gezeigt wurde - unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt, die sich konkreten kontextuellen Herausforderungen sowie einzelnen Problemati‐ ken kolonialer Theologien verdanken und die sich gegenseitig ergänzen und bereichern. Sie spiegeln damit auch die notwendige Breite und Komplexität postkolonialer kritischer Strategien wider. Aus diesen unterschiedlichen Schwerpunkten heraus ergeben sich auch jeweils verschiedene Anstöße an europäische Theologien. Der folgende Überblick dient dazu, zunächst das Panorama notwendiger und möglicher Lern- und Dialogstrategien in Europa in den Blick zu nehmen 8 . 208 6 Anstoß oder Anstöße für Theologien in Europa? 9 Vgl. den Titel des Buches von Castro-Gómez/ Grosfoguel, El giro decolonial. 1. Postkoloniale Theologien analysieren und kritisieren die ver‐ schiedenen Dimensionen der ↗ Kolonialität. Diese Kritik erfolgt entlang verschiedener Achsen diskursiver, kultureller, gesellschaftli‐ cher, wirtschaftlicher und politischer Machtverhältnisse und regt euro‐ päische Theologien dazu an, sich der eigenen Kolonialgeschichte zu stellen und kritisch auf fortwährende Machtverhältnisse und Machtan‐ sprüche in theologischer und kirchlicher Praxis zu achten. 2. Postkoloniale Theologien beschreiben eine „Dekoloniale Wende“ 9 hin zu den Perspektiven der von Kolonialität negativ Betroffenen. Diese Wende betrifft die Theologie insgesamt, von den ↗ epistemologischen Voraussetzungen über die Themen und die Art ihrer Erörterung bis hin zu einer Wende bezüglich der Subjekte und Orte der Theologie und fordert daher auch Theologien in Europa zu einer Stellungnahme heraus. 3. Postkoloniale Theologien leisten Widerstand gegen die Koloni‐ alität in Gesellschaft und Theologie. Dieser Widerstand kann auch die Form eines Widerspruchs oder des Widerstands gegen traditionelle westliche Theologien und Kirchenstrukturen annehmen. Theologien in Europa sind aufgerufen, sich mit diesem Widerspruch konstruktiv auseinanderzusetzen. 4. Postkoloniale Theologien greifen nichtwestliche theologische und epistemische Alternativen auf, um im hybridisierenden Dialog mit ihnen Theologie so neu zu konstruieren, dass sie Kolonialität zu überwinden vermag. Für Theologien in Europa birgt dies den Anstoß, sich ebenfalls von nichtwestlichem Wissen und ↗ Grenzdenken inspi‐ rieren und kritisieren zu lassen. Aus europäischer Perspektive können diese Anstöße in ähnliche und im Detail komplementäre theologische Strategien münden, die notwendig sind, um aus der Herausforderung durch postkoloniale Theologien zu lernen und selbst auf eine europäisch-postkoloniale Denkweise und Theologie hinzuarbeiten. Für TheologInnen in Europa ist es dabei entscheidend, zur Einsicht zu gelangen, dass wir - nicht als Personen, sondern als reflektierende Subjekte in einer bestimmten theologischen und epistemologischen Tradition - auf die Seite der Verantwortlichen für Kolonialismus und Kolonialität gehören. 209 6 Anstoß oder Anstöße für Theologien in Europa? 10 Natürlich kann man von kolonialen Expansionsbestrebungen auch im Fall der USA, Russlands, Chinas, Japans und anderer Großmächte in der Vergangenheit sprechen. Deren Politiken der Expansion und Kolonisierung werden teilweise auch in den postkolonialen Studien und Theologien ausdrücklich untersucht. In keinem Fall führten aber solche Kolonialprojekte wie in Europa zu weltumspannenden Imperien wie etwa in den Fällen Spanien, Portugal, England, Frankreich und Deutschland. Die Theologien, die uns prägen oder zumindest in unserer Ausbildung geprägt haben, stehen in unmittelbarer Verbindung mit der Theologie, die auch den Kolonialismus legitimiert und teilweise erst ermöglicht hat. Die postkolonialen Kritiken der Theologie und der Widerstand gegen koloniale Theologien müssen von uns europäischen TheologInnen insofern in Selbstkritik übersetzt werden, die innerhalb Europas selbst wieder auf Widerstand und Widerspruch treffen wird, ebenso wie das Ansinnen, auch in Europa von nichtwestlichen Alternativen zu lernen. Dabei geht es nicht darum, europäische Theologien zu ersetzen. Vielmehr fordern uns postkoloniale Theologien meiner Ansicht nach dazu heraus, aufeinander zu hören, gemeinsam zu lernen, wechselseitige Kritiken ernst zu nehmen und ↗ ‚Dritte Räume‘ zu eröffnen, aus denen Theologien wachsen können, die die verschiedenen Ausprägungen der Kolonialität auf allen Kontinenten, also auch in Europa, überwinden. 6.1 Sich der eigenen kolonialen Vergangenheit stellen Europa ist der Kontinent, von dem im Wesentlichen der Kolonialismus der letzten fünf Jahrhunderte ausgegangen ist 10 . In den meisten Fällen waren koloniale Expansionsprojekte, die auf diesem Kontinent, der sich selbst als christlich verstand, ihren Ursprung nahmen, auch mit missionarischen Bestrebungen verbunden oder wurden in anderer Weise theologisch legiti‐ miert. Die europäische Theologie schöpfte - wie wir gesehen haben - in vielfacher Hinsicht aus Ideologien, die auch den Kolonialismus beförderten, wie etwa in den Bereichen Exegese, Religionstheologie und Missionswissen‐ schaft. Wer sich in Europa mit postkolonialen Theologien auseinandersetzt, kommt daher nicht an einer selbstkritischen Aufarbeitung der eigenen Kolonialgeschichte vorbei. Postkoloniale Studien und Theologien halten europäisch geprägten Theologien einen Spiegel vor, der nicht immer das zeigt, was man selbst im Spiegel 210 6 Anstoß oder Anstöße für Theologien in Europa? Schatten‐ seiten Europäi‐ sche Überlegenheitsansprüche sehen möchte. Vielmehr offenbaren diese Spiegel historische Schattenseiten, die Konsequenzen bis in die Gegenwart nach sich ziehen. Sich diesem Spie‐ gel zu entziehen, ihn zu verhüllen oder einfach nicht hinzuschauen, ist weder wissenschaftlich redlich noch ist es praktikabel, da der Postkolonialismus global gesehen bereits eine viel größere Rolle spielt als es seine Rezeption im deutschsprachigen Raum vermuten ließe. Es ist daher notwendig, sich mit diesen historischen Schattenseiten zu befassen und die Bereitschaft zu entwickeln, geeignete Konsequenzen aus dieser Begegnung zu ziehen. Hierbei muss in Rechnung gestellt werden, dass die Abhängigkeit und Beeinflussung zwischen Kolonialismus und Theologie in der Vergangenheit eine doppelte, eine wechselseitige war: Einerseits beeinflusste die geistes‐ wissenschaftliche Entwicklung, die den Kolonialismus förderte und durch ihn befördert wurde, auch die Theologie: Europäische Überlegenheitsan‐ sprüche prägten auch die Theologie und führten beispielsweise dazu, dass BibelwissenschaftlerInnen in Europa sich berechtigt fühlten, den kanoni‐ schen Bibeltext durch Umstellung und Korrekturen ‚verbessern‘ zu können (vgl. oben 2.4). Solche Fehlentwicklungen in der Theologie - die sich auch in versteckten Rassismen, Universalansprüchen und im Zentralismus äu‐ ßern - können durch ein aufmerksames Studium der postkolonialen Theo‐ logien aufgebrochen und korrigiert werden. Andererseits stellte die Theologie der Kolonialzeit auch Argumente und Überzeugungen zur Verfügung, die den Kolonialismus rechtfertigten und kulturelle Herrschaftsmacht begründeten. Die Überzeugung, dass Mission sich durch Eroberung und kulturelle Assimilation praktizieren ließe, zer‐ störte zahlreiche indigene Kulturen, Religionen und Völker und stellte sich teilweise sogar explizit in den Dienst der kolonialen Unterwerfung (vgl. 3.3). Das in Europa herrschende Patriarchat wurde als scheinbar christliche Lebensform in die kolonisierten Länder exportiert und beeinflusst bis heute Genderbeziehungen in zahlreichen Kulturen der Welt, auch noch in den christlichen Theologien Europas. In ähnlicher Weise decken postkoloniale Theologien bei vielen unterschiedlichen theologischen Überzeugungen, die zum traditionellen europäischen Kanon gehören, auf, wie sie in der Vergangenheit Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse begünstigt haben und - über Konstellationen der Kolonialität auch noch in der Gegenwart - begünstigen, wie beispielsweise das Gottesbild und das Mensch-Natur-Ver‐ hältnis (vgl. 3.1, 3.2 und 5.4). Die Kritik an der kolonialen Praxis der christlichen Mission aus Europa trifft auch die kirchliche Praxis der Gegenwart, insofern sie vielfach noch 211 6.1 Sich der eigenen kolonialen Vergangenheit stellen 11 Casaldáliga, Auf der Suche, 13f. ‚Entevan‐ gelisie‐ rung‘ Umkehr europäi‐ scher Theologie und kirchli‐ cher Praxis immer zentralistisch von Europa (oder Nordamerika) aus gelenkt wird. Der brasilianische Bischof Pedro Casaldáliga bringt bereits Ende der 1980er Jahre, im Kontext der Vorbereitung auf die Erinnerung an die 500 Jahre der Eroberung Amerikas 1992, eine Verbindung von Entkolonisierung und ‚Ent‐ evangelisierung‘ ins Gespräch: „‚Entevangelisieren‘ würde bedeuten, die Evangelisierung zu entkolonisieren. […] Das schlecht Evangelisierte zu entevangelisieren kann für uns in Latein‐ amerika nur bedeuten, aufzubrechen zu einer vollen sozialen, politischen, öko‐ nomischen, kulturellen, ganzheitlichen Befreiung; es kann nur bedeuten, die historischen Prozesse unserer Völker befreiend zu evangelisieren.“ 11 Die provokative Rede von der ‚Entevangelisierung‘ meint dabei keine Abkehr von der Praxis der Evangelisierung, die gerade auch für Casaldáliga die zentrale Aufgabe der Kirche ist, sondern eine Wende, eine Umkehr in der Evangelisierung, verbunden mit der Korrektur der Fehlformen, die in fünfhundert Jahren falscher oder fehlerhafter Evangelisierung angehäuft und damit teilweise auch potenziert wurden. ‚Entevangelisierung‘ trifft aber selbstverständlich auch die Protagonisten dieser ersten, fehlerhaften oder ‚schlechten‘ (wie Casaldáliga schreibt) Evangelisierung, und das ist die Kirche in Europa: Auch diese muss sich in diesem Sinn ‚entevangelisieren‘, also diejenigen Praktiken und Theologien aufdecken und kritisieren, die zu einer kolonialistischen ‚Evangelisierung‘ geführt habe, sich von ihnen abwenden und in diesem Sinn umkehren. Das Hören auf die Kritik der postkolonialen Theologien kann dabei ein wichtiges Element sein. Neben den bereits erwähnten Bibel-, Religions- und Missionswissen‐ schaften gibt es viele andere Bereiche, in denen postkoloniale Kritik zu einer Umkehr europäischer Theologie und kirchlicher Praxis führen könnte. So ist der Alltagsrassismus in Gesellschaft und Kirche ein drängendes Problem, das sich vielfach in Ausgrenzung und/ oder Herablassung gegenüber Men‐ schen aus den Kontinenten des Südens (und Asiens) äußert, aber auch - beispielsweise - in einer teils noch immer paternalistischen Haltung in der Entwicklungshilfe und kirchlichen Partnerschaften. Sogar Priester und TheologInnen, die aus südlichen Ländern nach Europa kommen, sind häufig von diesem Rassismus betroffen, auch wenn er sich teilweise in fataler Weise vor allem in katholischen Kontexten mit Klerikalismus überschneidet. 212 6 Anstoß oder Anstöße für Theologien in Europa? Provinziali‐ tät Das kritische Selbstbewusstsein für eine aus dem Kolonialismus erwach‐ sene globale Weltverantwortung lässt sich auch bei der Rolle beobachten, die Gemeinden zuerkannt wird, die nicht Deutsch als erste Sprache pflegen. Sie werden oft freundlich geduldet, aber selten als Teil der Weltkirche oder gar als gleichberechtigte Gemeinden in der eigenen ‚deutschen‘ Ortskirche anerkannt. Darüber hinaus lassen sich sehr viele weitere Einzelbeispiele nennen, in denen postkoloniales Denken zu einer Umkehr führen könnte: Berück‐ sichtigung nichteuropäischer Literatur in theologischen Bibliotheken, Ein‐ ladung postkolonialer WissenschaftlerInnen, Aufmerksamkeit für in der Kolonialzeit geraubte Artefakte in Missionsmuseen und -archiven (und ihre Rückgabe), kritische Sichtung der Würdigung von MissionarInnen und WissenschaftlerInnen der Vergangenheit (und der Gegenwart) usw. Beim Blick auf diese konkreten und notwendigen Konsequenzen in der alltäglichen Praxis darf die Notwendigkeit von grundlegenden Korrekturen in der theologischen ↗ Epistemologie, die Fragen des Universalismus, ↗ Essentialismus und ↗ Eurozentrismus betreffen, nicht übersehen werden. Damit befasst sich der folgende Abschnitt. 6.2 Europäische Theologien als kontextuelle Theologien Es wird vielen europäischen TheologInnen schwer fallen zu akzeptieren, dass europäische Theologien kontextuelle Theologien sind (vgl. oben 2.4). Die Vorstellung davon, dass die europäische Geistesgeschichte zu einer universalen Klärung des Menschseins beigetragen hat und sich mit Philoso‐ phie und Theologie in Europa etwas Allgemeingültiges über das Verhältnis von Gott, Mensch und Welt aussagen lässt, ist allzu tief verwurzelt und verdeckt zugleich die Tatsache, dass dieser universalistische Anspruch des europäischen Denkens die Expansions- und Unterwerfungspolitik des Kolonialismus mit begünstigt und legitimiert hat. Mit Dipesh Chakrabarty muss daher eine ↗ ‚Provinzialisierung‘ nicht nur Europas, sondern speziell auch der europäischen Theologie erfolgen. ‚Pro‐ vinzialität‘ meint in diesem Sinn ja nichts Abwertendes oder Negatives, sondern die Anerkennung der Kontextualität europäischer Theologien, ihre interne Pluralität und - positiv - die Leistungen der europäischen Theolo‐ gien im Dialog mit den jeweiligen konkreten kontextuellen Herausforde‐ rungen in der Auseinandersetzung mit ihren Zeichen der Zeit. 213 6.2 Europäische Theologien als kontextuelle Theologien 12 Estermann, Südwind, 158. 13 Klinger, Theologie im Horizont, 48. Essentia‐ lismus Josef Estermann anerkennt dennoch, dass dieses erneuerte Selbstver‐ ständnis der europäischen Theologien als kontextuell ihnen „einen epistemologischen Akt der Demut“ abverlangt, „und zwar in dem Sinne, dass die unausgesprochene oder explizit verteidigte ‚Universalität‘ der eigenen abendländisch-europäischen Tradition zur Diskussion gestellt wird.“ 12 Elmar Klinger beschreibt bereits im Jahr 1980 - angesichts der Auseinan‐ dersetzung mit der lateinamerikanischen Theologie der Befreiung - die profunde Bedeutung der Frage, ob sich die europäische Theologie als eine europäische verstehen kann: „Die Titulierung unserer Theologie als einer europäischen hat […] kritischen Charakter. Ihre Kritik bezieht sich auf sie selbst als Theologie […]. Sie betrifft den Horizont, in dem sie steht und sich ereignet. Denn Horizont der Auslegung gegenwärtiger europäischer Theologie ist das Sein des Menschen überhaupt, seine Existenz, Horizont der Auslegung gegenwärtiger lateinamerikanischer Theologie ist das Praktischsein des Menschen, seine Existenz, sofern er durch sie die Welt, in der er lebt, gestaltet. Dieser Unterschied hat Seinscharakter.“ 13 Der Anspruch der europäischen Theologie, für „das Sein des Menschen überhaupt“ sprechen zu können, macht sie in den Augen Klingers unfähig, für konkrete Herausforderungen des Menschseins - sei es in Europa oder in der Welt - zu sprechen. Mit dem Hinweis auf „das Praktischsein des Menschen“ in der lateinamerikanischen Theologie jedoch ist die konkrete, auch kulturell vermittelte Beziehung der Theologie zu ihrem Kontext, zu der ‚Welt, in der sie lebt‘, und dem Willen, diesen zu gestalten verbunden. Nur eine kontextuelle Theologie kann daher etwas zur Gestaltung ihrer Welt beitragen. Neben dem Anspruch des Universalismus steht für die europäische Theo‐ logie auch immer noch die Überzeugung zur Disposition, dass sich mit den Mitteln europäischer Theologie und Philosophie Tatsachen der Welt und der Theologie adäquat und zutreffend beschreiben könnten. Deswegen kritisie‐ ren postkoloniale Theologien bis in die Gegenwart Tendenzen des ↗ Es‐ sentialismus in der europäischen Theologie. So schreibt etwa → Ivone Ge‐ bara: 214 6 Anstoß oder Anstöße für Theologien in Europa? 14 Gebara, Intuiciones Ecofeministas, 42; vgl. 35-89. 15 Ebd., 60. 16 Ebd., 51. 17 Ebd., 47. 18 Ebd., 69. Estermann, Südwind, 160, spricht in diesem Zusammenhang in ähnlicher Weise von der Notwendigkeit der „Enthellenisierung der Theologie“. Pluralis‐ mus der Wahrhei‐ ten „Wir müssen […] den Eurozentrismus des Wissens und die verschiedenen impe‐ rialistischen Herrschaften über die Wahrheiten, die von der westlichen Welt aufrechterhalten werden, hinter uns lassen.“ 14 Denn Wahrheiten, insbesondere die immer wieder von Gebara kritisierten „so genannten ewigen Wahrheiten“ 15 , sind ein Herrschaftsmittel. Sie können die Herrschaft von Männern über Frauen, von Kolonialmächten über Kolo‐ nisierte, von Menschen über die Natur begründen und absichern. Solche ‚ewigen Wahrheiten‘ sind jedoch gerade in der westlichen Theologie immer noch eine Konstante. Gebara korreliert sie mit dem Essentialismus: „Eines der wichtigsten Merkmale der patriarchalen Erkenntnistheorie, das in der christlichen Theologie wirksam ist, ist ihr essentialistischer Charakter. […] Wir suchen immer das konstitutiv Essentielle für jedes Ding oder die Art und Weise, wie Gott jedes Wesen haben wollte.“ 16 Diesem essentialistischen Verständnis von Erkenntnis und Wahrheit setzt sie ein dezidiert kontextuelles entgegen, in das sie die traditionelle europäi‐ sche Theologie ausdrücklich einschließt: „Der Erkenntnisakt ist kontextuell, er ist geschlechtlich, räumlich und zeitlich bedingt.“ 17 Auch der Erkennt‐ nisakt, der zu einer Theologie führt, die sich als universal und überall gültig versteht, besitzt diese Charakteristik und bringt - wenn er nicht offen gelegt wird - ausschließende Herrschaftsverhältnisse hervor, die theologisch legitimiert werden. Die Alternative dazu ist ein prinzipieller und dynamischer Pluralismus der Wahrheiten, der dem wechselnden Charakter der Kontexte und Subjekte gerecht wird. Gebara schreibt: „Ein anderer Weg als der der klassischen griechischen Philosophie und der thomistischen Philosophie ist möglich, auch wenn wir dann vielleicht im Meer der Unsicherheiten und Lehrdiskussionen schwimmen.“ 18 Diese Alternative bedeutet nicht, dass ‚alternative absolute Wahrheiten‘ konstruiert oder postuliert würden, sondern dass die Essentialität, die 215 6.2 Europäische Theologien als kontextuelle Theologien 19 Zum Pluralismus vgl. Silber, Pluralität, 78-97. 20 Althaus-Reid, Queer-Theorie, 88. ‚Andere‘ Subjekte als ‚unre‐ präsenta‐ bel‘ Absolutheit der Wahrheit und der theologischen Überlegungen zugunsten einer diskursiven, dynamischen und kontextuellen prinzipiellen Pluralität aufgegeben wird. Sollten sich solche ‚Wahrheiten‘ untereinander wider‐ sprechen, so ist dies kein Beweis für die Falschheit der einen, sondern eine Herausforderung zu einer vertieften Auseinandersetzung, die auch die Macht-Asymmetrien zwischen den unterschiedlichen Subjekten dieser Auseinandersetzung nicht aus dem Blick verliert 19 . Einen weiteren wichtigen Aspekt der Problematik einer Theologie, die ihre kontextuelle Gebundenheit nicht anerkennen will und universelle Ansprüche erhebt, beschreibt → Marcella Althaus-Reid. Sie verweist darauf, dass die als ‚universal‘ auftretende akademische Theologie - wobei sie nicht ausdrücklich die europäische Theologie nennt - unvollständig und einseitig ist, weil sie bestimmte Subjekte nicht respektiert, zum Schweigen bringt oder von der Diskussion ausschließt: „Das Anderssein mit an Bord zu nehmen heißt, sich auch den hermeneutischen und kirchlichen Herausforderungen eines Subjekts zu stellen, das bis dato zum Schweigen gezwungen war. Ein so definiertes Subjekt ist in einem System, das einen symbolischen und apriorischen Ausschluss praktiziert, unrepräsentiert und unrepräsentabel. Mithin steht uns nicht nur ein thematischer Wandel, sondern eine radikale Kritik an bestehenden theologischen Methoden bevor, die unvollständig sind, weil sie das lebendige Potential des Anderen aus unserer Mitte herausschneiden.“ 20 Während Althaus-Reid konkret queere Subjekte vor Augen hat, die sie hier provokativ als ‚unrepräsentabel‘ bezeichnet, zeigt sich, dass die europäische Theologie immer wieder ‚andere‘ Subjekte als ‚unrepräsentabel‘ übergangen hat. Vor allem Subjekte, deren Menschsein nicht vollständig anerkannt wurde (Frauen, Indigene, AfrikanerInnen … ) galten in der Vergangenheit der Theologie als unrepräsentabel. Bis in die Gegenwart gilt dies jedoch häufig für Menschen, die einen gewissen europäischen Bildungsstandard nicht erfüllen, die in ‚unrepräsentablen‘ Berufen arbeiten oder einen ande‐ ren kulturellen Hintergrund als den mitteleuropäischen besitzen. Zahlreiche Diskussionen in akademischen Gremien, Redaktionen und Bildungseinrich‐ tungen, die sich mit der unterstellten ‚Unrepräsentabilität‘ bestimmter Per‐ sonen befassen müssen, aufgrund derer sie nicht als AutorInnen oder Vor‐ 216 6 Anstoß oder Anstöße für Theologien in Europa? 21 Vgl. z. B. die interdisziplinäre Auseinandersetzung mit der Machtfrage in Prüller-Jagen‐ teufel et al., Macht und Machtkritik. tragende eingeladen werden, zeugen von der breiten Gültigkeit dieses Verdikts von Althaus-Reid bis in die Gegenwart. Diese eurozentrische, pa‐ triarchale, weiße oder heteronormative Überheblichkeit führt jedoch - so die Kritik von Althaus-Reid - zu einer unvollständigen und damit fehler‐ haften Theologie. Andere Beispiele für die Auswirkungen des Essentialismus in der euro‐ päischen Theologie finden sich im Bereich der verandernden Beschreibung der Religionen (vgl. oben 2.5), in der essentialisierenden Interpretation der verschiedenen nationalen, ethnischen, kulturellen und politischen Gruppen in der Bibel (vgl. 2.1 u. ö.) und nicht zuletzt auch in der bildlichen Darstellung sowohl von biblischen Szenen als auch von weltkirchlichen Beziehungen. Wie werden Frauen, wie werden Menschen in/ aus Afrika, Asien und Latein‐ amerika dargestellt? In welchen Rollen erscheinen sie gegenüber weißen, europäischen Menschen, insbesondere Männern? Die im Jahr 2020 medial sehr breit diskutierte Frage, ob ein König mit schwarzer oder dunkler Hautfarbe an den Weihnachtskrippen oder als Figur bei den SternsingerIn‐ nen dabei sein sollte, hat einige dieser Probleme im deutschsprachigen Raum zum Teil erstmals in den Gemeinden und in der breiten kirchlichen Öffentlichkeit ins Bewusstsein gebracht. Zugleich wurde auch deutlich, wie steinig der Weg einer postkolonialen oder entkolonisierenden Wende in Kirche und Theologie sein kann, gerade auch in ganz praktischen Fragen. 6.3 Machtpositionen aufdecken Die Analyse von Machtfragen ist zentral für die Entwicklung postkolonialer Theologien. Sie wird aber gerade in mitteleuropäischen Theologien eher vernachlässigt, insbesondere, wenn es um die selbstkritische Untersuchung eigener Machtpositionen geht 21 . Anstöße aus postkolonialen Theologien, die auf die Deutungsmacht europäischer Theologien und kirchlicher Struk‐ turen verweisen, werden daher nicht selten ignoriert, zurückgewiesen oder verharmlost. Ohne das Eingeständnis eigener Macht, sowohl in der Form vergangener Kolonialmacht als auch in gegenwärtigen kirchlichen, akademischen und ökonomischen Machtstrukturen, ist es schwer oder 217 6.3 Machtpositionen aufdecken 22 Jahnel, Religion kann Brücken bauen, 316. Zentralis‐ mus sogar unmöglich, kritische Anregungen aus den postkolonialen Theologien aufzunehmen und konstruktiv zu verarbeiten. Dabei geht es einerseits um die Kolonialität der Macht auch in europäi‐ schen theologischen Räumen, also in Strukturen, Diskursen und anderen Machtverhältnissen, die auch bei uns aus der Kolonialzeit übriggeblieben sind und immer noch Geltung und Gültigkeit beanspruchen. Andererseits hat sich die Kolonialität der Macht jedoch auch in Europa durch die wechselvolle Geschichte von Kolonialismus, staatlichen Unabhängigkeiten und Neokolonialismus so transformiert, dass sie vielfach nicht mehr einfach zu erkennen ist. Schließlich haben auch kirchliche und theologische Transformationen, v. a. im 20. Jahrhundert, Machtbeziehungen so verändert, dass ihre Koloni‐ alität heute vielfach verschleiert und verdeckt ist. Die Kritik von außen, die durch postkoloniale Theologien vorgetragen wird, kann dazu helfen, diese Strukturen selbstkritisch zu durchleuchten und aufzuarbeiten. Die finanzi‐ elle Abhängigkeit ehemaliger Kolonien von europäischen Staaten und Kir‐ chen, die sich in Entwicklungshilfe und Missionsprojekten zeigt, sowie der vor allem in der katholischen Kirche vorherrschende europäische (römische) Zentralismus haben zudem neue Machtverhältnisse geschaffen, die nicht selten unmittelbar an den Kolonialismus anknüpfen, auch wenn dies der äußeren Form nach nicht sofort ersichtlich ist. Im Bereich der Theologie lässt sich weltweit eine Dominanz europäischer und nordamerikanischer theologischer Entwürfe beobachten, durch die die Entwicklung kontextueller, lokaler Theologien auf anderen Kontinenten oft nicht gefördert, sondern eher verhindert wird. Nicht zuletzt führen auch Studienaufenthalte von DoktorandInnen und anderen theologischen Nach‐ wuchskräften aus postkolonialen Staaten in Deutschland (oder in anderen Staaten Europas) zu einer Vertiefung und Erneuerung dieser Machtverhält‐ nisse, wenn sie mit einer Überbewertung europäischer theologischer oder philosophischer Traditionen (und damit nicht selten unausgesprochen mit einer Abwertung nichteuropäischer Denkweisen) verbunden sind. Glückli‐ cherweise sind hier in den letzten Jahrzehnten teilweise Tendenzen eines Umdenkens zu erkennen. Die deutsche Theologin Claudia Jahnel kritisiert im Kontext der Entwick‐ lungszusammenarbeit „die Naivität hinsichtlich der Dynamik von Macht und Machtverteilung“ 22 . Dies lässt sich meines Erachtens genauso auf theo‐ 218 6 Anstoß oder Anstöße für Theologien in Europa? 23 Jahnel, The Future, 187. 24 Field, Über das (Wieder-)Zentrieren, 245. Eigene Machtposi‐ tionen an‐ erkennen logische Abhängigkeiten übertragen: Jahnel bemängelt, dass Machtverhält‐ nisse nicht ausreichend thematisiert oder gar verschleiert und in ihrer Be‐ deutung hinsichtlich der Wirksamkeit von einzelnen Maßnahmen unterschätzt werden. Vor allem diejenigen, die in Machtzusammenhängen strategisch im Vorteil sind, haben oftmals das geringste Interesse daran, diese Beziehungen aufzudecken und zu klären. Postkoloniale Kritik muss daher die Bereitschaft westlicher, europäischer TheologInnen fördern, ei‐ gene Machtpositionen zu erkennen und anzuerkennen. Auf diese Weise kann es möglich werden, Beziehungen und institutionelle Strukturen von Macht zu transformieren und von der Kolonialität zu befreien. Jahnel betont - wiederum im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit, aber dies gilt auch für anderen Machtkonstellationen - die Notwendigkeit einer erhöhten Aufmerksamkeit für „die Agency der Betroffenen, ihre Fähigkeit und Handlungsmacht in der Gestal‐ tung eigener Vorstellungen für die Zukunft. Wenn diese Vorstellungen und kulturellen Konzepte den westlichen Vorstellungen von Entwicklung und Le‐ bensqualität (wie auch westlich-ökonomischen Interessen) widersprechen, wird die Frage nach Entwicklung zu einer Machtfrage.“ 23 Widerstand von Seiten der Betroffenen, die Behauptung eigener Interessen und Vorstellungen und die Kritik an der Macht der Kolonialität können daher den Widerstand derjenigen hervorrufen, die in den globalen Macht‐ verhältnissen bevorteilt sind. Die Schwierigkeiten bei der Rezeption post‐ kolonialer Kritik in europäischen Theologien lassen sich zumindest zum Teil mit solchen Prozessen der unerwünschten Aufdeckung von Machtverhält‐ nissen erklären. In ähnlicher Weise kritisiert auch der südafrikanisch-schweizerische Theologe David N. Field, „dass die Kirchen und die Theologie der sozioökonomischen Zentren weiterhin das Christentum weltweit kontrollieren. Der Grund dafür liegt genau darin, dass sie befreit sind vom Überlebenskampf, der das Leben der Ausgebeuteten und Vergessenen charakterisiert. Wenn das Eingreifen Gottes jedoch die Zentren und die Ränder neu ordnet, muss uns klar werden, dass jene von uns, die Teil der Elite sind, sich in einem schwerwiegenden theologischen Nachteil befinden.“ 24 . 219 6.3 Machtpositionen aufdecken 25 Ebd., 246. 26 Ebd. 27 Ebd. Eliten Mit dem Begriff der ‚Elite‘ bezieht er sich dabei ausdrücklich auch auf die Eliten der ehemals kolonisierten Länder, die bis heute von der ungleichen Verteilung von Macht und Geld profitieren. Diese sozioökonomischen Un‐ gleichheiten und Ungerechtigkeiten stehen in einem komplexen wechsel‐ seitigen Verhältnis zu den Beziehungen von politischer, kirchlicher und auch theologischer Macht. Zugleich befinden sie sich im offenen Konflikt mit der theologischen Überzeugung von der Bevorzugung der Peripherien durch „das Eingreifen Gottes“ in der Inkarnation. Field versteht daher Theologie insgesamt als eine „Pilgerfahrt zu den Rändern“ 25 , zu der auch die Theologien der ‚Zentren‘ herausgefordert sind. Für Field „beginnt die Pilgerreise da, wo wir unsere Komplizenschaft mit den Mächten, die vergessen, unterdrücken und ausschließen, annehmen und die Verantwortung dafür übernehmen.“ 26 Das Aufdecken und kritische Annehmen von Machtpositionen schließt also die Kritik der eigenen „Komplizenschaft“ mit den sozioökonomischen und politischen Beziehungen von Ungerechtigkeit und Ausbeutung ein, die ebenso wie andere Strukturen der Kolonialität der Macht verschleiert und verharmlost werden, vor allem in den historisch hauptverantwortli‐ chen Ländern Europas, aus denen der Kolonialismus hervorging. Auch die Theologie und die Kirchen insgesamt müssen sich zu ihrem „Anteil an einer gemeinsamen Mittäterschaft“ 27 bekennen, wie Field schreibt, und mit den Betroffenen gemeinsam dafür arbeiten, dass die Kolonialität der internationalen wirtschaftlichen, politischen und eben auch kirchlichen Beziehungen überwunden werden kann. Dies ist auch eine theologische Aufgabe. Sie fördert eine Transformation der Lehren von Gott, von Jesus, von der Erlösung und von der (globalen) Gemeinschaft im Heiligen Geist, die der Kritik gerecht wird, die in den postkolonialen Theologien an diesen (und anderen) zentralen Aussagen des Christentums geäußert wird. In dieser Transformation müssen die realen Machtverhältnisse in der Welt zu Zeichen der Zeit werden, durch die diese traditionellen Themen neu kontextualisiert werden. Zugleich lässt eine Hinwendung zu diesen Zeichen der Zeit alternative theologische Überlegungen, die sich auf die Erfahrung ehemals kolonisierter Kirchen 220 6 Anstoß oder Anstöße für Theologien in Europa? Kreativer Dialog stützen, zu ihrem Recht kommen. Eine solcherart transformierte und be‐ kehrte europäische Theologie kann sich auf den ‚Pilgerweg‘ machen, selbst eine postkoloniale Theologie zu werden. Globale Machtfragen wie Frieden, Ökologie, Migration, Rassismus, Weltwirtschaft, Multilateralismus usw. können auf diese Weise zu einer theologischen Aufdeckung, Anerkennung und Auseinandersetzung mit der jeweils eigenen Machtposition führen. Europäische Theologien könnten auf diese Weise ganz neu Relevanz und Wirksamkeit unter Beweis stellen. 6.4 Alternativen und Widerstand zulassen Vor allem im fünften Kapitel wurde das Anliegen postkolonialer Theolo‐ gien verdeutlicht, Alternativen zum traditionellen theologischen Denken zu entwickeln, die sich nicht nur kritisch mit der kolonialen Erbschaft der Theologie auseinandersetzen, sondern vor allem auch konstruktive Strategien entwickeln, die Kolonialität zu überwinden oder zumindest zu transformieren. Diese Alternativen betreffen nicht nur die Ausdrucksfor‐ men der Theologie, sondern auch ihre Inhalte und Methoden sowie die ihr zugrundeliegende ↗ Epistemologie. Vorkoloniale, indigene Denkweisen stellen in diesen Alternativentwürfen einen wichtigen Ausgangspunkt dar, ebenso wie synkretistische und volks‐ nahe Ausdrucksformen der Religionen und Kulturen derjenigen, die vor al‐ lem unter Kolonialismus und Kolonialität zu leiden haben. Dabei geht es nicht - wie oben ausführlicher erklärt wurde - um das Wiederaufleben alter Kulte und Religionen, sondern um Prozesse von ↗ Verhandlung und ↗ Hy‐ bridisierung, durch die diese nichtwestlichen Traditionen, die sich ja auch schon über die Jahrhunderte des Kolonialismus (und im Kontakt mit diesem) weiterentwickelt haben, in einen neuen kreativen Dialog mit den Heraus‐ forderungen der Gegenwart und mit aktuellen kritischen Theorien (wie dem Feminismus, der Ökologie, dem religiösen Pluralismus usw.) gebracht wer‐ den können. Postkoloniale Theologien fordern auch Theologien in Europa zu einer Auseinandersetzung mit diesen theologischen und epistemologischen Al‐ ternativen heraus. Es genügt nicht, sie als kontextuelle Theologien wertzu‐ schätzen, aber ihre Bedeutung außerhalb dieser Kontexte zu minimieren oder zu ignorieren. Sie stellen eine prinzipielle Herausforderung an die Frage der Kontextualität der Theologie insgesamt dar: Gibt es kontextuelle 221 6.4 Alternativen und Widerstand zulassen 28 I. S. v. Chakrabarty, Provincializing; vgl. 2.4 und 6.2. 29 Estermann, Südwind, 158. Offenheit und Lern‐ bereit‐ schaft und ‚nicht-kontextuelle‘ Theologien? Kann die europäische Theologie für sich reklamieren, nicht nur eine europäische im Sinn einer kontextuellen Theologie zu sein, sondern ‚Theologie‘ in einem allgemeinen Sinn? Gibt es eine ‚universale‘ und daneben auch kontextuelle Theologien? Oder stellt die Kontextualität der kontextuellen Theologien nicht auch die europäi‐ sche Theologie vor die Herausforderung, ihre eigenen Beziehungen zum europäischen Kontext zu untersuchen, die Pluralität dieser europäischen Kontexte und damit auch die Pluralität europäischer Theologien und in einem gewissen Sinn ihre eigene Provinzialität 28 anzuerkennen? Neben dieser Abkehr vom europäischen Universalismus und Hegemoni‐ alanspruch - der sich zwar seit der Kolonialzeit gewandelt hat, aber in vieler Hinsicht noch immer einflussreich ist, gerade in der Theologie - fordern postkolonial-theologische Alternativen aus dem Süden Theologien in Eu‐ ropa auch inhaltlich und methodisch heraus. Diese sollen von alternativen theologischen Entwürfen auch lernen und darüber hinaus lernen wollen. Hier ist der von Josef Estermann ins Spiel gebrachte „Akt der Demut“ 29 notwendig, um nach Jahrhunderten der kolonialen Exklusion oder Gering‐ schätzung indigener Weltsichten und Spiritualitäten zur Offenheit und Lern‐ bereitschaft zu gelangen. Diese Offenheit verlangt nicht, die eigene Tradi‐ tion und eigene Positionen vollständig aufzugeben, aber doch, sie der postkolonialen Kritik auszusetzen und sie auch im Licht von alternativen Entwürfen zu überprüfen. Europäische Theologien müssten sich dafür sehr viel stärker als in der Vergangenheit einer Haltung der weltweiten Gemeinschaftlichkeit, Geschwisterlichkeit und Solidarität öffnen. Dies bedeutet auch, theologische Entwürfe aus anderen Kontinenten nicht als Widerhall oder Abklatsch des Eigenen abzuwerten, sondern sie in ihrer Eigenständigkeit und ihrem Eigenwert anzuerkennen, auch und gerade wenn sie von europäischen theo‐ logischen Standpunkten abweichen oder ihnen gar widersprechen. Diese Vorstellung einer globalen theologischen Gemeinschaft, in der nicht immer alle dieselben Standpunkte vertreten, aber alle Ansichten Würdigung und Respekt erfahren und zum gemeinsamen Lernprozess des globalen Chris‐ tentums beitragen können, entspricht einer gemeinschaftlich orientierten Ekklesiologie und kann als Leitbild für globale theologische Dialogprozesse dienen. 222 6 Anstoß oder Anstöße für Theologien in Europa? 30 Vgl. oben 5.6. 31 Vgl. 4.7. Vereinnah‐ mung Spiegel der Gewalt Im Prozess der Verhandlungen, des Dialogs, der Hybridisierungen kann es für TheologInnen aus Europa auch nötig sein, eigene theologische Vorstel‐ lungen zu korrigieren, sie in einem neuen Licht oder aus neuen Perspektiven zu sehen, sie gemeinschaftlich zu transformieren oder kreativ zu ergänzen. Postkoloniale Prozesse und Strategien wie ↗ Mimikry, Hybridisierung, Synkretismen, Verfremdung, Ambivalenz und viele andere können den europäischen Theologien helfen, ihrerseits in einen kreativen und konstruk‐ tiven Dialog mit postkolonial-theologischen Alternativen einzutreten. Eine nicht zu unterschätzende Gefahr in diesem Prozess stellt die Verein‐ nahmung dar. Die Machtverhältnisse im postkolonialen Zeitalter lassen es auch in der Theologie nicht zu, dass ein wirklicher Dialog unter Gleichbe‐ rechtigten stattfinden kann. Das Aufgreifen theologischer Alternativen aus dem Süden kann daher sehr schnell als ↗ Kulturelle Aneignung missver‐ standen werden oder tatsächlich eine solche darstellen 30 . Dies erfordert von europäischen Theologien, die sich auf ein Lernen vom Postkolonialismus einlassen wollen, eine ständige Haltung der Selbstkritik und eine ehrliche Offenheit gegenüber tatsächlich geäußerter Kritik aus dem Süden. Denn nach Jahrhunderten der kolonialen Ausbeutung und Fremdbestim‐ mung sind viele Menschen im Globalen Süden wenig zuversichtlich, dass diese europäische Haltung sich geändert haben könnte und bringen nicht nur der theologischen ↗ Hegemonie Widerstand entgegen, sondern äußern auch Misstrauen gegenüber Dialogbereitschaft und ungewohnter Offenheit. Dieser Widerstand kann uns irrational erscheinen, aber er hat mit Sub‐ jektbehauptung, Selbstwertschätzung und Würde zu tun, die jahrhunderte‐ lang durch Kolonialismus und Kolonialität in Frage gestellt oder behindert wurden 31 . Er ist daher selbst wieder ein Spiegel der Gewalt, die durch den Kolonialismus von Europa selbst ausgegangen ist und bis heute tiefgreifende Wirkung zeigt. Solcher Widerstand lässt sich nicht einfach wegerklären oder auflösen, schon gar nicht durch europäische AkteurInnen, die sich damit in die Tradition anderer Widerstandsbrecher aus Europa stellen würden. Postkolonialer Widerstand muss insofern von europäischen TheologIn‐ nen selbstkritisch aufgenommen und in eine Transformation eigener theo‐ logischer Standpunkte übersetzt werden. Denn dem Widerstand gegen die europäischen Theologien kommt ein prophetischer Charakter zu. Dieser Widerstand kann nicht einfach als Rückständigkeit, Verschlossenheit und 223 6.4 Alternativen und Widerstand zulassen Propheti‐ scher Cha‐ rakter Fortschrittsfeindlichkeit abgewertet werden. Im Gegenteil müssen dialog‐ bereite Vertreterinnen und Vertreter europäischer Theologien sich fragen, ob der Widerstand, auf den sie treffen - und der ja sehr unterschiedlich aussehen kann - nicht gerade als ernstzunehmender Anstoß zur Selbstkritik und zur eigenen Umkehr aufgegriffen werden kann. Selbst die Verweigerung oder der Abbruch eines Dialogs und andere konfliktive Äußerungen des Widerstands können diesen prophetischen Charakter besitzen oder entwi‐ ckeln. Der Widerstand von Seiten postkolonialer gegenüber europäischen The‐ ologien kann helfen, in Europa selbst einen Perspektivwechsel und eine theologische Umkehr zu bewirken, wenn TheologInnen bereit sind, die kriti‐ schen Herausforderungen aus den postkolonialen Theologien aufzunehmen und sie als Ansporn für die Neukontextualisierung europäischer Theologien in einer postkolonialen Welt zu nutzen. Solches Aufgreifen postkolonialer Positionen und Alternativen durch kritische europäische TheologInnen wird andererseits jedoch auch in Europa selbst und in vielen Bereichen europäischer Theologien seinerseits zu Widerstand und Widerspruch füh‐ ren. Denn es ist nicht einfach, eine hegemoniale Theologie auf die eigene Hegemonialität aufmerksam zu machen. Postkoloniale theologische Alternativen könnten in einen solchen span‐ nungsreichen und konfliktgeladenen ↗ Verhandlungsprozess nicht nur sich selbst weiterentwickeln, sondern würden auch zu einer notwendigen Neuevangelisierung europäischer Theologien beitragen. Die Bereitschaft, theologische Alternativen zuzulassen, könnte eine grundlegend erneuerte theologische Reflexion über die fundamentale Kontextualität, Pluralität und Geschichtlichkeit von Theologie insgesamt befördern und den Abschied von linear sich entwickelnden oder gar ewig gültigen theologischen Wahrheiten beschleunigen. Durch einen solchen epistemologischen Transformations‐ prozess würden europäische Theologien immer stärker in die Lage versetzt werden, Alternativen aus dem Globalen Süden zuzulassen und bereitwillig von ihnen zu lernen. 6.5 Parteiisch und deswegen relevant Eng mit dem Thema der Kontextualität der Theologie verbunden ist die Frage nach ihrer Parteilichkeit. Wenn man die Unterscheidung von ‚Posi‐ 224 6 Anstoß oder Anstöße für Theologien in Europa? 32 Vgl. Segovia, Grenzüberschreitendes Interpretieren, 88; vgl. oben 4.1. 33 Vgl. Kern, Theologie der Befreiung, 15; Segundo, Liberation of Theology, 69-96. 34 Vgl. Silber, Pluralität, 18-21; 30-39; 43-57; 69-74. Verschleie‐ rung und Tabuisie‐ rung von Interessen tion‘ und ‚Interesse‘ bei → Fernando Segovia 32 vom Bereich der Bibellektüre auf die Theologie insgesamt ausdehnt, wird deutlich, dass der ‚Position‘ eines Theologen oder einer Theologin in einem bestimmten Kontext ein je verschiedenes ‚Interesse‘ entsprechen kann, das die theologische Reflexion in diesem Kontext prägt. Politisch engagierte Theologien wie die Befreiungstheologie weisen schon seit langem darauf hin, dass prinzipiell jede Theologie durch ein sol‐ ches parteiisches Interesse geleitet wird, auch solche Theologien, die sich als neutral verstehen und das eigene Interesse nicht reflektieren und expli‐ zieren 33 . Die Weigerung, die eigene Position und das eigene Interesse zu analysieren, führt nur zu einer Verschleierung und Tabuisierung dieser In‐ teressen, die dadurch umso wirksamer werden können (vgl. oben 3.7). Auch europäische Theologien werden daher von der postkolonialen Kritik dazu herausgefordert, sich nicht nur der Kontextualität ihrer jeweiligen eigenen Argumentation, sondern auch ihren versteckten oder offenen Interessen zu stellen und diese selbstkritisch in den eigenen Diskurs einzubeziehen. Über diese grundsätzlichen Überlegungen hinaus machen postkoloniale Theologien sehr häufig transparent, dass sie aus der Perspektive und im Interesse bestimmter subalterner Gruppen sprechen, wobei das bereits mehrfach diskutierte Problem der ↗ Repräsentation Berücksichtigung fin‐ det (vgl. 4.4). Wie in den Beispielen der vorangegangenen Kapitel deutlich wurde, können dies Gruppen und Menschen sein, die von Rassismus, Sexismus, wirtschaftlicher Ausbeutung und anderen Nachwirkungen des Kolonialismus sowie auch von mehreren sich überschneidenden Achsen der Unterdrückung betroffen sind. Die Parteinahme der postkolonialen Theologien für diese Menschen weist daher eine große Ähnlichkeit mit der in der Befreiungstheologie wiederentdeckten Option für die Armen 34 auf, vor allem in deren weiterentwickelten, ↗ intersektional profilierten Version, die sich seit den 1990er Jahren dokumentieren lässt. Aus postkolonial-theologischer Perspektive zeigt Mark L. Taylor, dass solche Parteilichkeit und ein ausgesprochenes Interesse an der (Selbst-)Be‐ freiung der Subalternen notwendig ist, um einer Beliebigkeit der Stand‐ punkte und Interessen zu entkommen. Er nennt diese Parteilichkeit der 225 6.5 Parteiisch und deswegen relevant 35 Taylor, Subalternität und Fürsprache, 283; vgl. oben 4.4. 36 Vgl. ausführlicher Silber, Pluralität, 18-21; Silber, Die Befreiung der Kulturen, 112-128. 37 Shannahan, Voices from the Borderland, 227. Mit dem ‚Verschwinden‘ sind die Ver‐ schleierung und Verharmlosung unterdrückender Strukturen sowie die vielfältigen Beziehungen zwischen UnterdrückerInnen und Unterdrückten gemeint. 38 Ebd., 12. Parteilich‐ keit Gottes Organi‐ sche Intel‐ lektuelle Theologie wie bereits zitiert „ein befreiendes a priori“ 35 . Ähnlich wie die befreiungstheologische Option für die Armen geht dieses explizierte Inter‐ esse an der Befreiung der Menschen der theologischen Analyse und Argu‐ mentation voraus, es ist a priori bereits vorhanden. Juan Luis Segundo nennt die Option für die Armen einen ‚hermeneutischen Schlüssel‘ und schreibt ihr spirituelle Qualitäten zu. Die Parteilichkeit der Theologie erklärt sich als Nachfolge und Konsequenz aus der Parteilichkeit Gottes, der sich ebenfalls auf die Seiten der Armen, Subalternen und Unterdrückten stellt. Sie entsteht nicht aus der theologischen Reflexion, sondern begründet sie 36 . Der britische Theologe Chris Shannahan kann als Beispiel für eine konsequente Umsetzung postkolonialer und befreiungstheologischer Me‐ thodiken in kulturellen und sozialen Kontexten Europas dienen. Mit den theoretischen Mitteln des Globalen Südens erforscht er die soziale Situation einer globalen europäischen Großstadt (wie London und Birmingham) und lenkt den Blick auf kulturelle Differenzen und Pluralität, interkultu‐ relle Beziehungen und Machtfragen, Dynamik und Liquidität der urbanen Strukturen, globale ökonomische Interdependenzen und die öffentliche und individuelle Bedeutung von Religionen. Eine wichtige Konsequenz seiner Studie ist, dass sie als Voraussetzung die Option für die Armen benötigt: Um befreiend wirken zu können, muss eine solche theologische Studie in „der göttlichen Voreingenommenheit für die Unterdrückten“ verwurzelt sein und zugleich „der Komplexität urbaner Unterdrückung, dem Verschwinden des Unterdrückers und der Unterdrückten“ 37 gerecht werden. Aus dieser Parteinahme und der Perspektivität der postkolonialen Theo‐ logien erwächst ihre politische und öffentliche Relevanz. Denn sie geht von konkreten Kontexten aus und analysiert theologisch Machtverhältnisse und diskursive ↗ Hegemonien, mit dem Ziel, sie zu verändern. Shannahan nimmt von Gustavo Gutiérrez (und dieser von Antonio Gramsci) das Kon‐ zept der ‚organischen Intellektuellen‘ auf und wendet es auf TheologInnen an, die selbst Teil einer gesellschaftlichen Bewegung sind und mit anderen zusammen um die Transformation ungerechter Strukturen kämpfen 38 . Durch die Teilnahme an diesen Bewegungen und ihren Kämpfen wird die 226 6 Anstoß oder Anstöße für Theologien in Europa? 39 Nehring/ Tielesch, Theologie und Postkolonialismus, 23. Sie übernehmen diesen Begriff von Andreas Hepp / Carsten Winter, Die Cultural Studies Kontroverse. 40 Nehring/ Tielesch, Theologie und Postkolonialismus, 24. Interventi‐ onscharak‐ ter Parteilichkeit der Theologie ausdrücklich sichtbar. Zugleich kann dieses En‐ gagement dazu beitragen, dass die Werte, die in der Theologie diskutiert werden, auch in der Öffentlichkeit praktiziert werden können. Dieser explizite Rekurs auf die notwendige Relevanz der Theologie un‐ terscheidet die postkolonialen auch von vielen interkulturellen Theologien, in denen es - ohne dass dies verallgemeinert werden kann - eher herme‐ neutisch um das wechselseitige Verstehen und Verständnis füreinander geht, häufig aber Machtfragen nicht in den Blick genommen oder sogar methodisch ausgeklammert werden. Während interkulturelle Theologien häufig eher deskriptiv und hermeneutisch arbeiten, legen die postkolonia‐ len Theologien ein Hauptaugenmerk auf den transformativen Charakter ihrer Diskurse. Kolonialität und ihre vielen verschiedenen Gesichter der Unterdrückung, Ausbeutung und Exklusion sollen verändert, am besten überwunden werden, um der grundlegenden Gleichheit aller Menschen und der zwischen ihnen anzustrebenden Gerechtigkeit und Solidarität möglichst nahe zu kommen. Andreas Nehring und Simon Wiesgickl sprechen daher vom „interventi‐ onistischen Charakter“ 39 postkolonialer Theologien: Diese wollen, sollen et‐ was verändern, in den sozialen, kulturellen und damit auch religiösen Struk‐ turen intervenieren und diese transformieren: „Postkoloniale Theologien, so der Anspruch, beschäftigen sich mit ihren Gegen‐ ständen nicht um ihrer selbst willen, sondern um kulturelle, soziale, politische und wirtschaftliche Verhältnisse, und damit auch Glaubensverhältnisse, kritisch zu hinterfragen, aufzubrechen und Kontroversen auszulösen, die dazu beitragen, Strukturen zu verändern.“ 40 Für → Namsoon Kang hat dies befreiende Konsequenzen auch im Innern der Theologie und der Kirchen: „Die postkoloniale und feministische Theologie arbeitet innerhalb und jenseits des religiösen Erbes - Schrift, Tradition, Lehre, Glaubensbekenntnis usw. - wie auch dagegen, um das befreiende Erbe zu bewahren und gleichzeitig die Hinterlassenschaften zu dekonstruieren, aufzulösen und zu entlarven, die die Imperialmacht über das alltägliche Leben sichtbar wie unsichtbar, innerlich wie 227 6.5 Parteiisch und deswegen relevant 41 Kang, Jenseits, 188. Zitat um ein fehlerhaftes Komma gekürzt. Relevanz äußerlich und persönlich wie institutionell erzeugen, verewigen, rechtfertigen und heiligen.“ 41 Ihre Relevanz beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Kirchen. In der Zu‐ sammenarbeit mit anderen sozialen und politischen Bewegungen, seien es postkoloniale, feministische, antirassistische oder andere, zielt die transfor‐ matorische oder interventionistische Relevanz postkolonialer Theologien auf die Überwindung der Kolonialität in der Gesellschaft allgemein. Die Relevanz der postkolonialen Theologien erwächst aus ihrer Parteilichkeit. Diese ermöglicht es durch ihre kontextuelle Verortung und ihre politische Positionierung, dass die Theologie sich in relevanter Weise an der Trans‐ formation der Kolonialität beteiligt. In Europa muss diese Relevanz sich explizit auch auf die Transformation des eigenen Kontextes richten, denn auch europäische Kulturen sind von Kolonialität geprägt. Allerdings lässt diese Kolonialität sich nicht einfach parallel oder spiegelbildlich zur Kolonialität der ehemals unterworfenen Staaten bestimmen. Vielmehr herrschen zwischen den kulturellen Prägun‐ gen der verschiedenen Beteiligten am komplexen System des Kolonialismus äußerst vielschichtige und vernetzte Beziehungen. Die Untersuchung der kolonialen Prägung der Kultur Europas als des Kontinentes, von dem der Kolonialismus der vergangenen Jahrhunderte weitgehend ausgegangen ist, stellt daher eine wichtige Herausforderung dar, die der Postkolonialismus insgesamt an die europäische Wissenschaft richtet. Auf diese Weise kann auch die Kolonialität europäischer Theologien kritisiert und transformiert werden. Denn nach Jahrhunderten des Kolonia‐ lismus und der nicht ausreichenden theologischen Auseinandersetzung mit ihm mindert diese Kolonialität die Relevanz der Theologie. Dies gilt sowohl für europäische wie für koloniale Kontexte. Um relevant wirksam sein zu können, ist es notwendig, dass europäische Theologien ihre je eigene Parteilichkeit selbstkritisch reflektieren und offenlegen. In einzelnen Fällen mag eine ausdrückliche und klare Neupositionierung im Sinn der Option für die Armen erforderlich sein. Sie wäre eine spirituelle Basis für eine relevante Neuevangelisierung der Theologie. 228 6 Anstoß oder Anstöße für Theologien in Europa? Verunsi‐ cherung theologi‐ scher Me‐ thoden 6.6 Befreiende Verunsicherungen. Fazit Postkoloniale Theologien können verunsichern. Das ist durchaus auch angezielt. Denn die Sicherheit, Gewissheit, Klarheit und Eindeutigkeit, die vielfach in der Theologie in Europa angestrebt wird, wird außerhalb Euro‐ pas, vor allem in den ehemals kolonisierten Staaten und ihren Kirchen, als Verhärtung, Versteinerung und fortgesetzte ↗ Hegemonie wahrgenommen. Eine Verunsicherung dieser Hegemonie kann zur Befreiung führen. Eine Befreiung, die aber anschließend wieder zu einer neuen Herrschaftsstruktur, zu einer neuen Eindeutigkeit und Sicherheit führen würde, käme in Gefahr, erneut unterdrückend, ausschließend und ausbeuterisch wirksam zu sein. Deswegen besitzt die Strategie der Verunsicherung in den postkolonialen Theologien teilweise einen grundsätzlichen Charakter. Dieser ist deswegen nur ‚teilweise‘, weil auch Unsicherheit, Ambiguität und Uneindeutigkeit nicht zur Norm oder zum Ziel erklärt werden: Verunsicherung dient als Mittel zur Befreiung, um Verhärtungen zu lösen oder aufzubrechen, um Herrschaft zu hinterfragen und ihr Widerstand entgegenzubringen, um Grenzen zu überschreiten und dadurch in ↗ Kontaktzonen zu verwandeln. Für postkoloniale Theologien ist es daher kein Problem, wenn sie wi‐ dersprüchlich oder inkonsistent erscheinen, sondern eher sogar ein Quali‐ tätsmerkmal. Aber es geht ihnen nicht darum, nur alle Sicherheiten und Konsistenzen aufzulösen. Das Ziel besteht vielmehr darin, eine tiefere Sen‐ sibilität für verandernde und versteinernde Diskurspraktiken zu gewinnen, versteckte und tabuisierte Herrschaftsstrukturen zu analysieren, diesen Pro‐ zessen entgegenzuwirken, wenn sie die Lebensmöglichkeiten von Menschen beschneiden und Alternativen aufzuzeigen, die jenseits der Grenzen des kolonialen Denkens und Handelns zu befreiten Beziehungen führen können. Postkolonialismus ist in diesem Sinn eher eine Methode als eine Materie, eher ein Werkzeugkoffer als ein Stoff. Postkoloniale Theologien beanspru‐ chen nicht, als ein weiteres theologisches Fach in Europa Anerkennung zu finden, sondern beabsichtigen, die theologischen Methoden grundsätzlich zu verunsichern und damit im Ganzen anzufragen und zu transformieren. Eine der grundlegenden Kritiken, die von den postkolonialen an die europäischen Theologien herangetragen werden, richtet sich gegen den ausschließenden Charakter der hegemonialen theologischen Diskurse. Jede grundsätzliche Kritik an dieser ↗ Hegemonie läuft Gefahr, als ideologisch oder als unwissenschaftlich gekennzeichnet zu werden. Für Judith Gruber besitzen postkoloniale Theologien die Macht, den Theologien Europas 229 6.6 Befreiende Verunsicherungen. Fazit 42 Gruber, Wider die Entinnerung, 28. ‚Entinnern‘ bezeichnet für sie die Weigerung, Erinnerung (hier konkret an den Kolonialismus) zuzulassen und die Tilgung und Tabuisierung von Erinnerung. 43 Vgl. Pittl, Anspruch und Wirklichkeit. (des ‚Zentrums‘ in ihrer Diktion) den Spiegel vorzuhalten und sie so zu verunsichern, denn sie „sind jene Gegenerzählungen, die die dominante Machtartikulation des Schwei‐ gens aufbrechen, mit der sich das Zentrum seiner Machtförmigkeit entinnert und seine Provinzialität ausblendet“ 42 . Der Widerstand gegen diese Entinnerung beinhaltet die aktive Erinnerung an den Kolonialismus und seine wechselseitigen Beziehungen zu Theolo‐ gie, Mission und Kirche. Dazu ist es wichtig, auch die Beziehungen der heutigen Theologie zu derjenigen des Kolonialzeitalters zu analysieren und zu kritisieren. Er beinhaltet darüber hinaus den ungetrübten Blick auf die eigenen kontextuellen und historischen Grenzen: Die kulturelle Hegemonie Europas über den größten Teil der Welt war (und ist) Konsequenz einer militärischen und wirtschaftlichen Dominanz und lässt sich nicht mit einer Überlegenheit der europäischen Geistesgeschichte und ihrer behaupteten universellen Geltung begründen. Vielmehr muss das europäische Denken ein positives, wertschätzendes Bewusstsein für die eigene Provinzialität wiederentdecken. Die Verunsicherung der europäischen Theologien durch den Postkolonia‐ lismus betrifft auch die globalen akademischen und weltkirchlichen Macht‐ strukturen, die für die Gegenwart Geltung besitzen. Durch die wachsende kirchliche und theologische Unabhängigkeit der ehemals kolonisierten Völker, die sich in der weltweiten Ökumene in den Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg beobachten lässt, 43 wird die europäische und nordameri‐ kanische Dominanz immer mehr in Frage gestellt und in der Gegenwart vor allem noch durch ökonomische Abhängigkeiten aufrechterhalten. Kirchli‐ che und theologische Netze, die sich weltweit zunehmend bilden, und die teilweise nordatlantische AkteurInnen allenfalls noch als gleichberechtigt einschließen, transformieren jedoch auch diese Machtstrukturen in viel‐ schichtiger Weise. Judith Gruber bilanziert daher: „Eine postkoloniale Reperspektivierung setzt Theologie damit einer massiven epistemologischen Verunsicherung aus. Sie fördert eine grundlegende Ambiva‐ 230 6 Anstoß oder Anstöße für Theologien in Europa? 44 Gruber, Wider die Entinnerung, 36; Hervorhebungen i.O. Abschied vom hege‐ monialen Alleinver‐ tretungs‐ anspruch Verhei‐ ßung lenz zu Tage, die die christliche Tradition durchzieht: sie ist nie einfach vorgege‐ ben oder abgeschlossen, sondern ein Diskurs, in dem hegemoniale und subversive Narrative unter asymmetrischen Machtbedingungen um Interpretationshoheit rin‐ gen.“ 44 Diese verunsichernde Ambivalenz kann lähmen, sie kann aber auch zu einer grundlegenden Befreiung der Theologie führen. Denn der Abschied vom hegemonialen Alleinvertretungsanspruch und von der exklusiven Eindeu‐ tigkeit der Theologie befreit auch zu der Offenheit, mit anderen gemeinsam eine vielfältige, dynamische, lebendige und relevante Theologie immer wie‐ der neu zu entwickeln. Eine europäische Theologie, die sich der eigenen kolonialen und hegemonialen Bedeutung bewusst ist, kann sich in die soli‐ darische und wechselseitige Lerngemeinschaft der pluralen und wider‐ sprüchlichen weltweiten theologischen Prozesse eingliedern lassen. In dieser Gemeinschaft kann es zu Perspektivwechseln kommen, Alter‐ nativen und Widerstände können aufgegriffen und thematisiert werden, Diskurspraktiken und Machtstrukturen auf den Prüfstand gestellt werden. Diese Chance einer echten weltkirchlichen Theologie als ↗ Verhandlung, als dynamischer und widersprüchlicher Prozess, als wechselseitige Verun‐ sicherung und als fruchtbare Disziplinlosigkeit kann die Theologie zu poli‐ tischer und pastoraler, kultureller und sozialer Relevanz befreien. In dieser Befreiung liegt die Verheißung auf Lebendigkeit, die sich mit der postkolo‐ nialen Verunsicherung verbindet. Widersprüchlichkeit und Widerständigkeit, Disziplinlosigkeit und scheinbar fehlende Ernsthaftigkeit der postkolonialen Theologien eröffnen auch wieder eine neue Erfahrung der Lust an der Theologie. Postkoloniale Theologien entwickeln sich vielfach spielerisch, lebendig, leidenschaftlich, lustvoll: Sie arbeiten mit ungewohnten Erzählungen, Bildern und Meta‐ phern, kommen zu unerwarteten (Zwischen-)Ergebnissen und stellen Alt‐ gewohntes überraschenderweise in Frage. Sie experimentieren mit Sprach‐ spielen, Methoden und DialogpartnerInnen, und nicht immer gelingen die Experimente, so dass auch Irrwege, Schlingerkurse und Umkehrprozesse zu den produktiven Erfahrungen der Theologie gehören. Theologie wird hier nicht für die Ewigkeit produziert, sondern ad experimentum, vorläufig, bis zur nächsten Idee, durch die eine Fragestellung besser vertieft werden kann. Das macht es bisweilen schwer, dem Verlauf einer postkolonial-theo‐ 231 6.6 Befreiende Verunsicherungen. Fazit Anstoß oder An‐ stöße? logischen Debatte zu folgen. Im Überblick zeigt sich jedoch, dass aus der Vielfalt, Vielschichtigkeit und Vieldeutigkeit der unterschiedlichen postko‐ lonialen theologischen Diskurse weltweit das Bild einer bunten, lebendigen und sehr relevanten Theologie entsteht, die auch zahlreiche Anstöße und Anknüpfungspunkte für Theologien in Europa enthält. ‚Anstoß oder Anstöße für Theologien in Europa? ‘ ist dieses Kapitel über‐ schrieben: Nehmen europäische Theologien Anstoß an postkolonialen Theologien oder akzeptieren sie Anstöße von ihnen? Lassen wir die befrei‐ ende Verunsicherung zu, die von postkolonialen und dekolonialen Bewe‐ gungen, Studien und Theorien ausgeht oder fühlen wir uns verunsichert und reagieren mit Abwehr? Hier wird sich keine einheitliche und abschließende Antwort geben lassen. Postkoloniale Theologien bieten jedenfalls nach mei‐ ner Überzeugung eine Gelegenheit zur Umkehr für Theologinnen und Theo‐ logen in Europa. Sie können Anstöße geben, wenn wir keinen Anstoß an ihnen nehmen, sondern es zulassen, dass wir angestoßen werden - auch die Passivform ist hier wichtig: Zur Umkehr gehört es zu akzeptieren, dass in diesem Anstoßprozess EuropäerInnen nicht die Subjekte sind. Die Verunsi‐ cherung durch die Postkolonialen Theologien und die Verheißung der ↗ Provinzialisierung Europas, für die sie stehen, können uns zu neuen, postkolonialen Weisen, Theologie zu betreiben, befreien. 232 6 Anstoß oder Anstöße für Theologien in Europa? 7 Schluss: Abschied vom Kolonialwarenladen Im Hessenpark, einem Freilichtmuseum bei Neu-Anspach im Taunus, gibt es auch einen Kolonialwarenladen. Neben vielen anderen historischen Relikten und Einrichtungsgegenständen, die bei BesucherInnen über fünfzig lebhafte Erinnerungen wachrufen können, finden sich dort auch rassistische und kolonialistische Darstellungen auf Verpackungen und Werbematerial. Es ist gut, wenn solche Dinge einen Platz im Museum haben, wo sie Besuche‐ rInnen daran erinnern können, dass der Kolonialismus zu einer verzerrten und entwürdigen Darstellung und Behandlung von Menschen, Ländern und Völkern geführt hat. Sie sollten jedoch keinen Platz mehr in Läden und Supermärkten haben, in denen wir tatsächlich noch einkaufen. Ähnliches gilt für die ‚Kolonialwaren‘ in der Theologie. Kritische Studien aus dem Postkolonialismus können uns dazu anleiten, diese kolonialen Relikte zu identifizieren, entsprechend zu kennzeichnen und möglichst aus dem Sortiment zu nehmen. Sie machen uns auf ‚Kolonialwarenladenhüter‘ aufmerksam, die sich in der gewohnten europäischen Theologie eingenistet haben und von denen einige in dieser Einführung benannt, analysiert und kritisiert wurden. Über diese Einführung hinaus werden in postkolonialen Theologien noch zahlreiche weitere Ladenhüter beschrieben, andere kön‐ nen auch in der Zukunft noch aufgedeckt werden. Auch wenn es in der Gegenwart keine Kolonialwarenläden mehr gibt, bereichern nach wie vor Kolonialwaren wie Kaffee und Tee, Bananen und Kakao unseren Speiseplan. Globale Netze des Fairen Handels versuchen seit Jahrzehnten, das weltweite ökonomische Machtgefälle wenigstens so weit auszugleichen, dass diese Produkte nicht mehr in dem Maß zur Ausbeutung der Menschen, die sie anbauen, beitragen müssen, wie dies in der Vergan‐ genheit geschehen ist, auch wenn es bis zu gerechten Handelsbeziehungen noch ein sehr weiter Weg sein wird. Übertragen auf die Theologie bedeutet dies: Es braucht auch hier eine Art fairen ‚Handel‘, faire theologische und kirchliche Beziehungen, eine so‐ lidarische und selbstkritische Anerkennung der (theologischen) Produktion außerhalb Europas. Wie im letzten Kapitel diskutiert, reicht dabei aber die Idee des bewussten oder fairen Konsumierens nicht aus. Vielmehr muss es zu einer Umkehr unserer theologischen Konsum- und Produktionsgewohn‐ Selbstver‐ sorgung in der Theo‐ logie heiten kommen. Die Metapher der fair gehandelten Schokolade kann hier auf Abwege führen. Auch die lokale und kommunale Selbstversorgung in der Theologie ver‐ dient eine Stärkung und Berücksichtigung. Denn Europa ist ein Raum sehr vieler unterschiedlicher Kontexte, in denen sehr verschiedene Theologien für den lokalen Gebrauch produziert werden müssen. Regionale Vorlieben und Geschmacksrichtungen, aber auch die jeweils vor Ort vorhandenen Traditionen und Bedarfe müssen dabei Vorrang haben vor einer globalen Vereinheitlichung. Theologische Eigenproduktion, Gartenbau und Subsis‐ tenzwirtschaft sollten ebenfalls gefördert und gewürdigt werden. Der Supermarkt der weltweit gleichen theologischen Markenartikel stellt jedenfalls nicht die Alternative zum (theologischen) Kolonialwarenladen dar, die von den postkolonialen Theologien befürwortet wird. Vielmehr ist es für die Reisende, den Reisenden viel spannender und lustvoller, auf jedem lokalen Markt die je eigenen Produkte zu kosten und sich von ihnen inspirieren zu lassen. Manches davon kann auch über internationale Netzwerke miteinander in Verbindung gebracht und ausgetauscht werden und dadurch zur Nachahmung, zur Vermischung, zur ↗ Hybridisierung anregen. Die koloniale Unterwerfung und Ausbeutung aber gehört ins Museum. Dort ist es auch erlaubt, nostalgische Erinnerungen zu pflegen. Das Museum ist aber auch ein Ort der kritischen und transformierenden Erinnerung, ein Anstoß zur Umkehr. Der Kolonialwarenladen muss daher nicht abgerissen und zerstört werden. Vielmehr kann er zu einer Gedenkstätte, einem Erinnerungsort, einem Mahnmal werden, das die Vergangenheit nicht ins Vergessen fallen lässt, sondern als gefährliche, als konstruktive, als befrei‐ ende Erinnerung die Erneuerungsprozesse der Gegenwart befördert. Theologische ↗ Kolonialität gehört ebenso ins Museum wie der Kolonial‐ warenladen. Sie sollte nicht mehr die theologische, pastorale und kirchliche Praxis bestimmen. Eine kritische Bestandsaufnahme und Etikettierung sind hier notwendig und unumgänglich. Die postkolonialen Theologien geben uns dafür zahlreiche Methoden und Hilfsmittel an die Hand. Wir sollten diese Herausforderung annehmen. 234 7 Schluss: Abschied vom Kolonialwarenladen 8 Kurzbiografien Hier werden einige der wichtigsten AutorInnen postkolonialer Theologien vorgestellt. Die Auswahl zielt vor allem auf die Verschiedenartigkeit und Breite dieser weltweiten dynamischen Strömung. Sie kann weder vollstän‐ dig sein noch beansprucht sie, ausschließlich die ‚wichtigsten‘ Repräsentan‐ tInnen zu beinhalten. Mit den Hinweisen auf die ausgewählte Literatur (vgl. auch die Literaturüberblicke im ersten Kapitel und die Bibliografie) sowie die bei den meisten AutorInnen angegebenen Internetseiten in den QR-Codes lässt sich die Recherche leicht weiterführen. Sofern vorhanden, werden auch Aufsätze oder Bücher in deutscher Sprache angegeben. Marcella Althaus-Reid Marcella María Althaus-Reid (1952-2009) wurde in Rosario/ Argentinien geboren und studierte in Buenos Aires evangelische Theologie. Sie arbeitete in Armenvierteln in Schottland und promovierte an der dortigen Universität St. Andrews über den Einfluss Paul Ricœurs auf die Befreiungstheologie. Sie lehrte als Professorin für Kontextuelle Theologie an der Universität Edinburgh. Ihr Buch Indecent Theology (2000) machte sie als Vertreterin einer feministisch-queeren Befreiungstheologie weltbekannt. In ihren vor allem an der theologischen Methodik und Hermeneutik orientierten Arbeiten ver‐ band sie die Aufmerksamkeit für Kontextualität, Genderfragen, Sexualität und Armut mit der Frage der Entkolonisierung der Theologie. Wichtige Veröffentlichungen Indecent Theology. Theological Perversions in Sex, Gender and Politics, London: Routledge 2000 The Queer God, London: Routledge 2003 From Feminist Theology to Indecent Theology. Readings on Poverty, Sexual Identity and God, London: SCM 2004 Gnade und Anderssein. Eine postkoloniale Reflexion über Ideologie und Lehrsys‐ teme, in: Concilium 36 (2000) 4, 426-433 Schlimmes Sterben. Kreuzigungen im Volk und nicht beherrschbare Auferstehungen in Lateinamerika, in: Concilium 42 (2006) 5, 523-532 Queer-Theorie und Befreiungstheologie. Der Durchbruch des sexuellen Subjekts in der Theologie, in: Concilium 44 (2008) 1, 83-97 Musa Dube Musa Wenkosi Dube (*1964 in Botswana) ist Bibelwissenschaftlerin und Professorin der University of Botswana. Sie studierte u. a. in Großbritannien und den USA und arbeitete in verschiedenen Institutionen wie dem Ökume‐ nischen Rat der Kirchen in Genf und an der Universität Bamberg. Dube ist vor allem durch ihre Dissertation zu postkolonialen feministi‐ schen Bibelinterpretationen (Postcolonial Feminist Interpretation of the Bible, 2000) für ihre Beiträge sowohl zur postkolonialen wie zur feministischen Exegese bekannt. Darüber hinaus hat sie durch ihre Arbeit zusammen mit HIV-Infizierten und AIDS-Erkrankten auch zu einer Ausweitung der rezeptionsorientierten Bibelhermeneutik wichtige Beiträge geleistet. 2017 wurde sie mit dem Gutenberg Teaching Award der Universität Mainz ausgezeichnet. Wichtige Veröffentlichungen Postcolonial Feminist Interpretation of the Bible, Saint Louis: Chalice 2000 The HIV and AIDS Bible: Some Selected Essays, Scranton: Scranton Press 2008 „To push the boundaries“. Die Grenzen des Wissens weiten. Interview durch Bernhard Offenberger, in: Bibel und Kirche 67 (2012) 3, 160-163 Postkolonialität, Feministische Räume und Religion, in: Nehring, Andreas / Tielesch, Simon (Hg.): Postkoloniale Theologien. Bibelhermeneutische und kulturwissen‐ schaftliche Beiträge (ReligionsKulturen 11) Stuttgart: Kohlhammer 2013, 91-111 236 8 Kurzbiografien Jione Havea Jione Havea ist Ureinwohner Tongas und methodistischer Pastor. Nach Studien und Promotion an der Southern Methodist University in Dallas (USA) lehrte er Altes Testament/ Hebräische Bibel an der Charles Sturt University in Parramatta (Australien) und arbeitet seit 2016 als Forscher für Religionswissenschaften am Trinity Methodist Theological College (Aotearoa Neuseeland). Haveas postkoloniales Forschungsinteresse bezieht sich auf interkultu‐ relle Fragestellungen, mit einem Schwerpunkt auf mündlichen und pazifi‐ schen Traditionen, biblischen und anderen schriftlichen Überlieferungen und Machtbeziehungen in (post-)kolonialen Kontexten wie Landaneignung, Widerstand und Religion. Zusammen mit anderen WissenschaftlerInnen hat Havea eine große Zahl von Sammelbänden zu postkolonialer und biblischer Theologie herausgegeben. Wichtige Veröffentlichungen (mit Mark Brett, Hg.): Colonial Contexts and Postcolonial Theologies. Storyweaving in the Asia-Pacific (Postcolonialism and Religions), New York: Palgrave Macmil‐ lan 2014 (Hg.): Postcolonial voices from downunder. Indigenous matters, confronting rea‐ dings, Eugene: Pickwick 2017 (Hg.): People and land. Decolonizing theologies (Theology in the Age of Empire 3), Lanham: Lexington 2019 (Hg.): Religion and Power (Theology in the Age of Empire), Minneapolis: Fortress 2020 237 Jione Havea Namsoon Kang Namsoon Kang studierte Theologie in Südkorea und den USA, wo sie auch in Theologie promovierte. Sie lehrte in Südkorea und Cambridge (UK) und seit 2006 als Professorin für Theologie und Religion an der Brite Divinity School in Texas (USA). In Kangs theologischer Arbeit überschneiden sich Feminismus, postkolo‐ niale Studien, Weltreligionen und Postmoderne. In ihrer Forschung über eine kosmopolitische Theologie bezieht sie transdisziplinäre Fragen aus Recht, Gerechtigkeit und Gastfreundschaft ein. Darüber hinaus ist sie in internationalen ökumenischen Organisationen engagiert und weltweit als Rednerin gefragt. Wichtige Veröffentlichungen: (mit Des van der Water, Isabel Phiri, Roderick Hewitt und Sarojini Nadar, Hg.): Postcolonial Mission. Power and Partnership in World Christianity, Cambridge: Sopher 2011 Cosmopolitan Theology. Reconstituting Neighbor-Love, Hospitality, and Solidarity in an Uneven World, Saint Louis: Chalice 2013 Diasporic Feminist Theology. Asia and Theopolitical Imagination, Minneapolis: Fortress 2014 Cosmopolitanism and Religion. In Search of Perpetual Peace in the 21st Century, Seoul: New Wave Plus 2015 Jenseits von Ethno-/ Geozentrismus, Androzentrismus, Heterozentrismus. Theolo‐ gie aus einer Perspektive der Überschneidung von Postkolonialismus und Femi‐ nismus, in: Concilium 49 (2013) 2, 181-190 Wer oder was ist asiatisch? Eine postkoloniale theologische Lektüre über Orienta‐ lismus und Neo-Orientalismus, in: Nehring, Andreas / Tielesch, Simon (Hg.): 238 8 Kurzbiografien Postkoloniale Theologien. Bibelhermeneutische und kulturwissenschaftliche Bei‐ träge (ReligionsKulturen 11) Stuttgart: Kohlhammer 2013, 203-220 Kwok Pui-lan Kwok Pui-lan (*1952 in Hongkong) war Professorin für christliche Theologie und Spiritualität in Cambridge und Atlanta (beides USA). Sie war außerdem Präsidentin der American Academy of Religion. Wichtige Veröffentlichungen Postcolonial Imagination and Feminist Theology, Louisville: Westminster John Knox 2005 Farbcodierungen für Jesus. Interview mit Kwok Pui-lan, in: Nehring, Andreas / Tielesch, Simon (Hg.): Postkoloniale Theologien. Bibelhermeneutische und kul‐ turwissenschaftliche Beiträge (ReligionsKulturen 11) Stuttgart: Kohlhammer 2013, 112-122 (mit Laura Donaldson, Hg.): Postcolonialism, Feminism, and Religious Discourse, New York / London: Routledge 2002 (mit Cecilia González-Andrieu und Dwight N. Hopkins, Hg.): Teaching Global Theologies: Power & Praxis, Wako: Baylor University Press 2015 Michael Nausner Michael Nausner (*1965 in Wien) ist methodistischer Wissenschaftler der Einheit für Forschung und Analyse der Kirche von Schweden. Nach Studien in Deutschland, Schweden und den USA promovierte er 2005 in den USA. Bis 239 Kwok Pui-lan 2017 lehrte er Systematische Theologie an der Theologischen Hochschule Reutlingen. Nausner verbindet interkulturelle und postkoloniale Fragestellungen und richtet seinen Blick besonders auf die Problematik der Grenzen und ↗ Kontaktzonen. Zuletzt befasste er sich auch mit Fragen der religiösen Identität, der Migration und der Teilhabe. Wichtige Veröffentlichungen (mit Catherine Keller und Mayra Rivera, Hg.): Postcolonial Theologies. Divinity and Empire, Saint Louis: Chalice 2004 Heimat als Grenzland. Territorien christlicher Subjektivität, in: Nehring, Andreas / Tielesch, Simon (Hg.): Postkoloniale Theologien. Bibelhermeneutische und kul‐ turwissenschaftliche Beiträge (ReligionsKulturen 11) Stuttgart: Kohlhammer 2013, 187-202 Koloniales Erbe und Theologie. Postkoloniale Theorie als Ressource für deutsch‐ sprachige Theologie, in: Salzburger Theologische Zeitschrift 17 (2013) 1, 65-83 Eine Theologie der Teilhabe (Reutlinger Beiträge zur Theologie, Nr. 2), Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2020 Nicolás Panotto Nicolás Esteban Panotto (*1982) ist ein baptistischer Theologe aus Argenti‐ nien. Er leitet das von ihm gegründete internationale theologische Institut GEMRIP (Gruppe für multidisziplinäre Studien zu Religion und öffentliche Wirksamkeit). Er studierte Theologie, Soziologie und Anthropologie, pro‐ movierte in Sozialwissenschaften und lehrt an Universitäten in Chile und Argentinien. 240 8 Kurzbiografien Neben einer breiten Rezeption post- und dekolonialer Theorien in die Theologie sind ihm die Öffentlichkeit und die öffentliche Wirksamkeit einer politischen Theologie ein wichtiges Anliegen. Ein weiteres Thema ist die Bedeutung der Religion in einem säkularen (laizistischen) Staat und für diesen. Wichtige Veröffentlichungen Teología y espacio público, Buenos Aires: GEMRIP 2015 (Hg.): Pope Francis in Postcolonial Reality: Complexities, Ambiguities and Parado‐ xes, [s.l.] Borderless Press 2015 (Hg.): Indecent Theologians: Marcella Althaus-Reid and the Next Generation of Postcolonial Activists, [s.l.] Borderless Press 2016 Descolonizar o saber teológico na América Latina. Religi-o, educaç-o e teologia em chaves pós-coloniais, S-o Paulo: Recriar 2019 Jörg Rieger Jörg Rieger, geb. 1963 in Deutschland, studierte Theologie an der Theologi‐ schen Hochschule Reutlingen und in Durham (USA), wo er auch zum Ph.D. promovierte. Er wurde in der United Methodist Church ordiniert. Er war Professor für Constructive Theology an der Southern Methodist University in Dallas und lehrt seit 2016 an der Vanderbilt University in Nashville, ebenfalls in den USA. Rieger vertritt in seinen über zwanzig publizierten Büchern und zahlrei‐ chen Artikeln eine profunde und umfassende Kritik der Macht in Religion, Politik und Wirtschaft, zu der auch postkoloniale Fragestellungen gehören. 241 Jörg Rieger 1 Rivera, God at the Crossroads, 187. 2 Ebd. Wichtige Veröffentlichungen Christus und das Imperium. Von Paulus bis zum Postkolonialismus (Theologie: Forschung und Wissenschaft 26), Zürich/ Berlin: Lit 2009 (mit Néstor Míguez und Jung Mo Sung): Beyond the Spirit of Empire: Theology and Politics in a New Key (Reclaiming Liberation Theology), London: SCM 2009 (mit Kwok Pui-lan): Occupy Religion: Theology of the Multitude (Theology in the Modern World), Lanham: Rowman and Littlefield 2012 Jesus vs. Caesar: For People Tired of Serving the Wrong God, Nashville: Abingdon 2018 Gemeinsam sind wir stärker: „Tiefe Solidarität“ zwischen Religion und Arbeit, Hamburg: VSA 2019 Mayra Rivera Mayra Rivera Rivera (Schreibweise sowohl mit einem als auch mit zwei Nachnamen) wurde 1968 auf Puerto Rico geboren und versteht sich selbst als „Frau, die sich immer auf kreuz und quer laufenden Pfaden bewegt“ 1 . In einer postkolonialen Situation aufgewachsen, ist sie (als Puerto-Ricanerin) US-Bürgerin ohne nationales Wahlrecht, von afrikanischen, indianischen und spanischen Vorfahren, Latina und Protestantin: „Ich kann die Komple‐ xitäten, Perplexitäten und Subtilitäten, die postkoloniale Theorie behandelt, kaum ignorieren.“ 2 Sie studierte Theologie und Religionswissenschaften in den USA. Als Professorin für Religion und Latinx Studies der Harvard-Universität (USA) verbindet sie Theologie, Literatur, Feminismus und postkoloniale Studien 242 8 Kurzbiografien zu einer kritischen theologischen Auseinandersetzung mit Differenzen und Beziehungen, Klassifikationen und der Überwindung von Grenzen. Einer ihrer Schwerpunkte sind postkoloniale Fragen der Karibik. Wichtige Veröffentlichungen (mit Catherine Keller und Michael Nausner, Hg.): Postcolonial Theologies. Divinity and Empire, Saint Louis: Chalice 2004 The Touch of Transcendence: A Postcolonial Theology of God, Louisville: West‐ minster John Knox 2007 (mit Stephen D. Moore, Hg.): Planetary Loves. Spivak, Postcoloniality, and Theology. Transdisciplinary Theological Colloquia, New York: Fordham 2010 Fleisch der Welt. Leiblichkeit in Beziehung, in: Concilium 49 (2013) 2, 171-180 Ränder und die sich verändernde Spatialität von Macht. Einführende Notizen, in: Nehring, Andreas / Tielesch, Simon (Hg.): Postkoloniale Theologien. Bibelherme‐ neutische und kulturwissenschaftliche Beiträge (ReligionsKulturen 11) Stuttgart: Kohlhammer 2013, 149-164 Fernando F. Segovia Der 1948 auf Kuba geborene US-amerikanische Bibelwissenschaftler Fer‐ nando Segovia lehrt seit 1984 Neues Testament und Frühes Christentum an der Vanderbilt Universität (Nashville, USA). Segovia griff als einer der ersten postkoloniale Methodik auf, um die Interpretation der Bibel auch aus dieser Perspektive zu transformieren. Seine Schwerpunkte liegen dabei auf lateinamerikanischen und karibischen Kontexten, sowie der Diaspora- und Minderheiten-Situation von Latinxs in den USA. Außerdem hat er Forschungen zum johanneischen Schrifttum publiziert. 243 Fernando F. Segovia Wichtige Veröffentlichungen Decolonizing Biblical Studies: A View from the Margins, Maryknoll: Orbis 2000 (Hg.): Interpreting Beyond Borders (The Bible and Postcolonialism 3), Sheffield: Sheffield University Press 2000 (mit Stephen D. Moore, Hg.): Postcolonial Biblical Criticism. Interdisciplinary Interventions, London/ New York: T&T Clark 2005 (mit R.S. Sugirtharajah, Hg.): A Postcolonial Commentary on the New Testament Writings, London/ New York: T&T Clark 2007 Grenzüberschreitendes Interpretieren. Postkolonialismus-Studien und Dia‐ spora-Studien in historisch-kritischer Bibelexegese, in: Nehring, Andreas / Tie‐ lesch, Simon (Hg.): Postkoloniale Theologien. Bibelhermeneutische und kultur‐ wissenschaftliche Beiträge (ReligionsKulturen 11), Stuttgart: Kohlhammer 2013, 70-90 Rasiah S. Sugirtharajah Rasiah S. Sugirtharajah, meist abgekürzt R. S. Sugirtharajah, wurde auf Sri Lanka geboren, studierte Theologie in Indien und promovierte in Bir‐ mingham (UK), wo er bis zu seiner Emeritierung als Bibelwissenschaftler lehrte. Er ist Pastor der methodistischen Kirche. Sugirtharajah kann als einer der Pioniere in der Anwendung postkolonialer Methodik in der Bibelwissenschaft und der Theologie überhaupt bezeichnet werden und hat früh mehrere wichtige Sammelwerke zur postkolonialen Theologie herausgegeben. Ein weiteres wichtiges Element seiner theologischen Arbeit besteht darin, marginalisierten Stimmen in Theologie und Bibelinterpreta‐ tion Aufmerksamkeit zu verleihen. 244 8 Kurzbiografien Wichtige Veröffentlichungen (s. auch die Titel in der Bibliografie) Asian Biblical Hermeneutics and Postcolonialism: Contesting the Interpretations. Maryknoll: Orbis 1998 Postcolonial Criticism and Biblical Interpretation, Oxford: Oxford University Press 2002 Postcolonial Reconfigurations: An Alternative Way of Reading the Bible and Doing Theology, London: SCM 2003 The Bible and Empire: Postcolonial Explorations, Cambridge: Cambridge University Press 2005 Konvergente Trajektorien? Befreiungshermeneutik und postkoloniale Bibelkritik, in: Nehring, Andreas / Tielesch, Simon (Hg.): Postkoloniale Theologien. Bibel‐ hermeneutische und kulturwissenschaftliche Beiträge (ReligionsKulturen 11) Stuttgart: Kohlhammer 2013, 51-69 Eine postkoloniale Untersuchung von Kollusion und Konstruktion in biblischer Interpretation, in: Nehring/ Tielesch, Postkoloniale Theologien, a. a. O. 123-144. 245 Rasiah S. Sugirtharajah 9 Glossar Appropriation ↗ Kulturelle Aneignung Dritter Raum, ein Begriff, der auf Homi Bhabha zurück geht, beschreibt die Beziehungen zwischen als binär oder gegensätzlich gedachten ↗ Identitäten und steht in enger Verbindung mit seinem Konzept der ↗Hybridität und der Idee der ↗ Kontaktzonen. ↗ 4.6 Epistemische Gewalt bezeichnet die tiefen Zusammenhänge zwischen Erkennt‐ nisweisen und Wissen einerseits und den gewalttätigen Konsequenzen, die dieses Wissen nach sich zieht oder ziehen kann, andererseits. Der Begriff macht auch darauf aufmerksam, dass bereits durch die Weise der Erkenntnis und durch das Wissen selbst strukturelle Gewalt ausgeübt werden kann. ↗ 1.2 Epistemologie ist die Lehre von der Erkenntnis. Im wissenschaftlichen Bereich wird damit auch die Lehre von der wissenschaftlichen Erkenntnisbildung be‐ zeichnet. Episteme/ epistemisch bezieht sich dabei auf die Erkenntnis und den Erkenntnisakt selbst; epistemologisch steht in Beziehung zur Lehre darüber. Essentialisierung, Essentialismus bezeichnet die starre Zuschreibung bestimm‐ ter Eigenschaften aufgrund eines äußeren Merkmals wie Hautfarbe oder Ge‐ schlecht. ↗ 2.2 Eurozentrismus ist die Vorstellung einer Zentralität oder Vorrangstellung Europas, europäischer Geschichte oder Geisteshaltung in verschiedenen Bereichen. Auch die Idee einer besonderen Bezogenheit aller Phänomene und Ereignisse in der Welt auf Europa und die Unverzichtbarkeit europäischer Ideen werden so genannt. ↗ 2.4 Grenzdenken bezeichnet v. a. bei Walter Mignolo ein Denken, das sich den herr‐ schenden Grenzen, v. a. durch die ↗ Kolonialität und/ oder die Moderne, nicht unterwirft, sondern über sie hinausgeht. ↗ 5.7 Hegemonie wird im Gefolge von Antonio Gramsci als eine subtile Herrschaftsform verstanden, in der durch kulturelle Mittel ein scheinbar selbstverständliches All‐ gemeininteresse konstruiert wird, das von der Gesamtbevölkerung unhinterfragt akzeptiert wird, obwohl es nur die Interessen der Herrschenden widerspiegelt. ↗ 2.9 Hybridität, hybrid bezeichnet anders als in der Biologie keine neue ↗ Identität, die durch Verschmelzung oder Kreuzung entsteht, sondern (nach Homi Bhabha) eine soziale oder kulturelle Formation, die durch die Transformation von Macht‐ verhältnissen zwischen verschiedenen Subjekten bedingt ist. ↗ 4.6 Identität kann ↗ essentialistisch missverstanden werden, als klar umrissene, starre, unveränderliche Struktur von Eigenschaften und nicht als soziale Konstruktion in Beziehungen. In diesem starren, ideologischen Sinn verwendet man auch kritisch das Adjektiv identitär. Interrelationalität verweist auf die wechselseitige Bezogenheit der Dinge, Men‐ schen, Konzepte usw. aufeinander. Sie steht im Kontrast zu dualistischen, aus‐ schließenden und/ oder hierarchischen Vorstellungen. ↗ 5.2 Intersektionalität nennt man die Theorie der Überschneidung, Überlappung und wechselseitigen Beeinflussung verschiedener Achsen gesellschaftlicher Un‐ terdrückung wie Sexismus, Rassismus, Armut usw. sowie die Analyse dieser Beziehungen. ↗ 2.8 Kolonialität bezeichnet kulturelle, soziale, wirtschaftliche und andere Erblasten des Kolonialismus, nicht zuletzt in Mentalität und ↗Epistemologie. Der Begriff geht auf Aníbal Quijano zurück und wird inzwischen in sehr vielen Zusammen‐ hängen verwendet. ↗ 1.2; 3.8 Kontaktzone kann ein Raum oder ein Ort sein, muss aber nicht. Mit diesem Begriff werden Kontaktmöglichkeiten zwischen benachbarten Kulturen, die ggf. in einem Dominanz- oder Abhängigkeitsverhältnis stehen, und ihr wechselseitiger Austausch, der ggf. von Machtstrukturen beeinflusst ist, bezeichnet. ↗ 4.6 Kulturelle Aneignung oder Appropriation nennt man eine Übernahme von kulturellen Mustern, Werten, Ausdrucksformen durch eine überlegene Kultur ohne das Einverständnis derjenigen, die in der unterlegenen Kultur leben. ↗ 5.6 Mimikry bezeichnet im Gefolge von Homi Bhabha die Nachahmung in einem ko‐ lonialen Abhängigkeitsverhältnis, mit der zugleich Verfremdungen einhergehen. Modernität/ Kolonialität (span. Modernidad/ Colonialidad, engl. Modernity/ Coloni‐ ality) ist der Name einer wichtigen lateinamerikanischen Arbeitsgruppe, die etwa seit der Jahrtausendwende die dekolonialen/ postkolonialen Studien in Lateinamerika vorangetrieben hat. Mit diesem Namen verweisen die Wissen‐ schaftlerInnen zugleich auf das enge wechselseitige Abhängigkeitsverhältnis beider Größen. ↗ 1.2 Nativismus bezeichnet eine angestrebte Rückkehr zu einer ↗ essentialistisch verstandenen ‚ursprünglichen‘ kulturellen Realität und/ oder ↗ Identität vor dem Beginn der Kolonisierung. Dieses Projekt wurde vor allem in den Unabhän‐ gigkeitsprozessen einiger afrikanischer Staaten vertreten, wird heute aber aus postkolonialer Sicht häufig kritisch bewertet. Othering oder Veranderung beschreibt die sozial konstruierte Zuschreibung von ↗ Identitätsmerkmalen an Menschen einer Gruppe, die bestimmte (teils nur behauptete) Differenzen zum definierenden Subjekt aufweisen. Durch das 248 9 Glossar Verandern werden diese Menschen zu „Anderen“; die Differenzen werden stärker betont als die Ähnlichkeiten oder Übereinstimmungen. ↗ 2.1 People of Colour (auch: People of Color, Person(s) of Colo(u)r, PoC) ist eine aktuelle Selbstbezeichnung von Menschen in Nordamerika und Europa, deren Hautfarbe nicht als ‚weiß‘ betrachtet wird. Sie stammt ursprünglich aus den USA, wird aber auch in Deutschland immer häufiger verwendet. Inhaltlich wird sie grundlegend mit der Erfahrung von Rassismus verbunden. Provinzialisierung bezieht sich auf einen Buchtitel von Dipesh Chakrabarty, der damit die Strategie bezeichnet, Europa als kulturell vielfältiges und weltweit nur regionales Phänomen zu beschreiben. Auf diese Weise soll dem ↗Eurozentrismus entgegengewirkt werden. ↗ 2.4; 6.2 Repräsentation ↗ subalterner Stimmen im akademischen Diskurs wird in den postkolonialen Studien prinzipiell (selbst-)kritisch gesehen, weil hier Nicht-Sub‐ alterne das Wort für andere ergreifen (an sich reißen) und es dadurch transfor‐ mieren oder gar verfälschen. ↗ 4.4; 5.6 Subalterne, Subalterner, subaltern bezeichnet im Gefolge Antonio Gramscis Menschen, die in unterschiedlicher Weise unterworfen und ausgegrenzt sind und/ oder ausgebeutet werden. Für Gramsci bedeutsam ist die Vorstellung, dass die Subalternen nicht organisiert und sicher ihres Status und ihrer Möglichkeiten nicht bewusst sind. In den postkolonialen Studien wird der Begriff häufig sehr allgemein verwendet, um viele Arten hierarchischer (kolonialer) Beziehungen gleichzeitig zu benennen. ↗ 4.4 Veranderung ↗ Othering Verhandlungen ist ein Begriff, mit dem ausgehend von Homi Bhabha zum einen auf wechselseitige Machtbeziehungen im Dialog aufmerksam gemacht und zum anderen die Abhängigkeit von ↗ Identitätsvorstellungen von den sich verändern‐ den Zuschreibungen durch andere gekennzeichnet wird. ↗ 4.6 Viktimisierung beschreibt die Festlegung eines Opfers auf die Opferrolle. Während es einerseits wichtig ist, Gewalt, Unterdrückung und Ausbeutung zu benennen und nicht zu verschweigen, besteht andererseits die Gefahr, die Person, die solches Unrecht erfährt, einzig auf diese Erfahrung hin zu reduzieren und so als ‚Opfer‘ zu ↗ essentialisieren. Andere Erfahrungen und Eigenschaften dieser Person sowie ihre Fähigkeit zu Widerstand und Resilienz bleiben so ausgeblendet. 249 9 Glossar 10 Bibliografie Ackermann, Cordula 2019. Die Identität „der Armen“ in der Befreiungstheologie unter postkolonialer Kritik, in: Gruber, Judith / Pittl, Sebastian / Silber, Stefan / Tauchner, Christian (Hg.): Identitäre Versuchungen. Identitätsverhandlungen zwischen Emanzipation und Herrschaft (CONCORDIA Monographien 73), Aa‐ chen: Verlag Mainz, 104-114 Akper, Godwin I. 2005. The role of the ‚Ordinary Reader‘ in Gerald O. West’s Hermeneutics, in: Scriptura 88, 1-13 Althaus-Reid, Marcella María 2000. Gnade und Anderssein. Eine postkoloniale Reflexion über Ideologie und Lehrsysteme, in: Concilium 36/ 4, 426-433 Althaus-Reid, Marcella María 2003. The Queer God, London: Routledge Althaus-Reid, Marcella María 2004. Queer I Stand. Lifting the Skirts of God, in: dies. / Isherwood, Lisa (Hg.): The Sexual Theologian. 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Anknüpfungen an die feministische Befreiungstheologie von Christine Schaumberger (Edition ITP-Kompass 15), Münster: ITP, 141-157 266 10 Bibliografie 11 Bibelstellenverzeichnis Gen 9,20-27 58 Gen 10,6 58 Gen 10,31 90 Gen 11,1-9 89 Gen 18f 191 Gen 19,30-38 128 Ex 1,13 90 Num 25,1-3 128 Dtn 6,10f 130 Ri 1,24-26 49 Ri 3,31 49 Ri 19,25 49 Rut 1,6-14 127 Rut 4,17-22 128 2 Sam 13,1-22 134, 253 1 Kön 21,1-19 93 Ps 106,28-31 128 Spr 1,20f 152 Spr 7,5 152 Spr 7,12 152 Spr 8,2 152 Spr 8,11 152 Spr 31 152 Hld 1,5 55f., 252 Jes 56-66 166 Mt 5,43f 133 Mt 15,21-28 125 Mt 23 131, 254 Mt 25,31-46 80 Lk 10,29-37 114 Joh 5,1-9 93 1 Kor 13,3 68 Eph 5,22 72 12 Namensverzeichnis Ackermann, Cordula 39, 251 Adams, Alfons 58 Akper, Godwin 133, 251 Albán, Adolfo 202 Althaus-Reid, Marcella 54, 109, 180, 187ff., 191f., 216f., 235, 241, 251 Amore, Roy 145f. Ashcroft, Bill 81f., 103, 197, 251 Avendaño, Lukas 190, 251 Babka, Anna 47, 53, 251 Bachmann, Claudius 38, 256 Barth, Karl 65 Bascopé, Víctor 172, 251 Baumann, Martin 67, 252 Bechhaus-Gerst, Marianne 23, 252 Becka, Michelle 207, 252 Becker, Josef 38, 256 Bencke, Romi 175f., 252 Berner, Ulrich 66, 252 Bessis, Sophie 12f., 46, 252 Beverley, John 141 Bhabha, Homi 18, 21ff., 40, 47, 59, 102, 104, 149f., 152, 169, 247ff., 252 Bilimoria, Purushottama 258 Blaeser, Kimberly 129 Bochmann, Klaus 256 Bosch, David 98, 252 Bourdieu, Pierre 66 Boyarin, Daniel 69 Brenner, Athalya 254 Brett, Mark 237, 251f. Bronfen, Elisabeth 252 Brunner, Claudia 252 Budden, Chris 99f., 102f., 252 Caero Bustillos, Bernardeth 168, 252 Cajete, Gregory 123 Caldeira, Cleusa 55, 136, 138, 252f. Casaldáliga, Pedro 212, 253 Castillo, Fernando 258 Castillo Morga, Alejandro 76f., 253 Castro-Gómez, Santiago 20f., 154f., 209, 253, 259f., 262, 266 Castro-Varela, María do Mar 17f., 22, 41f., 47, 55, 104, 140, 150, 157, 176, 253 Catelli, Laura 261 Chakrabarty, Dipesh 21, 61f., 75, 207, 213, 222, 249, 253 Chipana, Sofía 170, 253 Chitando, Ezra 92f., 100, 253f. Chrisman, Laura 265 Christian, Barbara 174 Clark, Elizabeth 75, 253 Conde-Frazier, Elizabeth 180 Conrad, Sebastian 22f., 67, 253 Contreras Colín, Juan Manuel 60, 253, 264 Cooper-White, Pamela 134, 253 Cortez, Hernán 129 Cugoano, Ottobah 201 Culbertson, Philip 190, 193, 254 Daniel, Anna 66, 254 Degele, Nina 78f., 266 de Jong‐Kumru, Wietske 66, 74, 107, 109f., 161, 187, 254 de la Calle, Claudia Pilar 55f., 259 De La Torre, Miguel 103f., 254 de Medeiros, Paulo 19, 255 Derrida, Jacques 17, 142 Dhawan, Nikita 17f., 22, 41f., 47, 55, 104, 140, 150, 157, 176, 253 Donaldson, Laura 123ff., 127-130, 174f., 239, 254 Dube, Musa 71, 74, 82f., 87, 95ff., 99, 103, 106, 125f., 131f., 136, 161, 163, 236, 254 Duggan, Joseph 32, 254 Dunker, Axel 23, 251, 255 Dürbeck, Gabriele 23, 251, 255 Dussel, Enrique 19, 76, 254 Dyrness, William 177f., 255 Espín, Orlando 260 Espinosa Miñoso, Yuderkys 259 Estermann, Josef 39, 61, 168, 172, 208, 214f., 222, 255 Fabian, Johannes 59 Fanon, Frantz 13f., 18, 255 Febel, Gisela 19, 255 Federici, Silvia 109, 172, 255 Field, David 219f., 255 Foucault, Michel 40, 140, 154, 263 Frank, Francesca 23, 262 Franziskus, Papst 241 Fung, Jojo 70, 255 Gandhi, Leela 80 Garbe, Sebastian 116, 262 Gebara, Ivone 182-185, 214f., 255 Geck, Philip 24, 255 Gill, Sam 101 Gómez Correal, Diana 259 Gonçalves, Alfredo 64, 255 González-Andrieu, Cecilia 105, 239, 254f., 258 González Casanova, Pablo 28, 91, 255 Gössmann, Elisabeth 255 Göttsche, Dirk 23, 251, 255 Gramsci, Antonio 17, 41, 81, 83, 85, 226, 247, 249, 256 Graneß, Anke 17, 182, 256 Grau, Marion 93f., 256 Graul, Stefanie 191, 256 Gregor von Nyssa 93 Griffiths, Gareth 81f., 197, 251 Grosfoguel, Ramón 20, 194-197, 209, 253, 256, 259f., 262 Gruber, Judith 36, 205f., 229ff., 251, 256, 261 Gründer, Horst 23, 256 Guha, Ranajit 17 Gunda, Masiiwa Ragies 253f. Gutiérrez, Gustavo 91f., 226, 256 Gutiérrez Rodríguez, Encarnación 25, 265 Harasym, Sarah 264 Hardt, Michael 87, 256 Haug, Wolfgang Fritz 256 Havea, Jione 128, 172ff., 196f., 237, 251f., 256 Healy, Susan 99f., 256 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 27, 64 Heimbach-Steins, Marianne 38, 256 Hewitt, Roderick 238 Hidalgo, Jacqueline 95, 256 Hölzl, Richard 24, 58f., 96f., 257 Hopkins, Dwight 239, 254f., 258 Horner, Anton 58, 97 Irvine, Andrew 258 Isherwood, Lisa 109, 188, 251 269 12 Namensverzeichnis Jahnel, Claudia 218f., 257 Jarosch, Sabine 24f., 257 Jefferson, Thomas 128 Jensen, Sune Qvotrup 47, 257 Jesus 54, 88f., 99f., 102, 109, 125, 132, 137, 176, 220, 239, 242, 252 Joh, Wonhee Anne 110f., 257 Jost, Renate 256 Kang, Namsoon 51ff., 78ff., 112, 227f., 238, 257 Kant, Immanuel 27 Karentzos, Alexandra 22, 263 Kaunda, Chammah 185f., 257 Keller, Catherine 153, 240, 243, 257, 263 Kern, Bruno 91, 138, 225, 257 Kerner, Ina 17, 20ff., 25, 50, 62, 75, 140, 150, 207, 257 Kim, Uriah 47-50, 257 King, Richard 68, 258 Klein, Naomi 194 Klinger, Elmar 62f., 214, 258 Knauss, Stefanie 187, 258 Konz, Britta 38, 258 Kopf, Martina 17, 182, 256 Krämer, Klaus 252 Kraus, Magdalena 17, 182, 256 Kügler, Joachim 253f. Kwok, Pui-lan 14f., 64ff., 68ff., 72, 74, 96, 106, 109f., 161f., 182, 239, 242, 254f., 258 Lai, Pan-chiu 67, 178, 258 Lander, Edgardo 20, 117, 258, 262 Laporta, Héctor 73, 259 La Puente, Juan Carlos 143, 156f., 258 Las Casas, Bartolomé de 31, 89, 96 Lau, Peter 256 le Clercq, Chrestien 124 Lee, Archie 166f., 259 Lehr, Fabian 59, 259 Liew, Benny 87 Livingstone, David 95 Londoño, Juan Esteban 130f., 259 López Hernández, Eleazar 161, 168f., 259 Lorde, Audre 201, 259 Lucero, María Elena 261 Lugones, María 20, 116f., 259 Lukas 146, 175 Lüthi, Barbara 23, 262 Lutz, Ronald 264 Mabanza, Boniface 51, 98, 259 Maldonado-Torres, Nelson 20, 118, 259 Maliko, Tavita 190, 193, 254 Malinche 128f. Maluleke, Tinyiko 103 Mananzan, Mary John 72, 259 Marrero, Luis Carlos 259 Marx, Karl 27, 140 Matthäus 131f., 146 Mbembe, Achille 18, 57, 259 Mellor, Mary 182, 259 Memmi, Albert 74f. Mena López, Maricel 55f., 65, 259 Mendoza-Álvarez, Carlos 156ff., 187, 258, 260 Merchant, Carolyn 172, 260 Metz, Johann Baptist 62, 256, 260 Mies, Maria 182, 260 Mignolo, Walter 20f., 155f., 195, 200ff., 247, 260 Míguez, Néstor 242 Mohanty, Chandra Talpade 52, 260 Monroy, Juan Bosco 89f., 260 270 12 Namensverzeichnis Montgomery, Taryn 253 Moore, Stephen 162, 243f., 258, 260 Mosala, Itumeleng 130f., 260 Mudimbe, Valentin-Yves 97 Müller-Fahrenholz, Geiko 261 Müßig, Dietmar 152, 201, 260 Musskopf, André 187-190, 192, 260 Nadar, Sarojini 238 Nanko-Fernández, Carmen 179f., 260 Nausner, Michael 24ff., 37, 101f., 153, 239f., 243, 257, 260f., 263 Negri, Antonio 87, 256 Nehring, Andreas 22, 29, 33, 37f., 82, 227, 236, 238ff., 243ff., 254-258, 260f., 263-266 Nyabera, Fred 253 Ochoa Muñoz, Karina 259 Oduyoye, Mercy Amba 114f., 174, 261 Offenberger, Bernhard 236, 254 Origenes 56 Ortmann, Bernhard 38, 258 Pannenberg, Wolfhart 61, 261 Panotto, Nicolás 158, 169f., 240, 261 Paulus 15, 68, 88, 131, 147, 242, 263 Perintfalvi, Rita 262 Phiri, Isabel 238 Pieris, Aloysius 53 Pilario, Daniel Franklin 36, 41, 151, 161, 261 Pittl, Sebastian 27, 37, 81, 230, 251, 253f., 257, 261f. Pocahontas 129 Poma de Ayala, Felipe Huamán 201 Porto-Gonçalves, Carlos Walter 29, 262 Pratt, Mary Louise 148f., 262 Prüller-Jagenteufel, Gunter 217, 262 Purtschert, Patricia 23, 262 Quijano, Aníbal 19, 29f., 57, 82, 115ff., 120, 248, 262 Quintero, Pablo 116, 262 Randeria, Shalini 22f., 67, 253 Rettenbacher, Sigrid 39, 42, 66f., 69, 263 Reuter, Julia 22, 47, 263 Ricœur, Paul 235 Rieger, Jörg 39, 61, 88, 241, 263 Rivera, Mayra 102, 151ff., 240, 242, 257f., 263 Rivera Cusicanqui, Silvia 20, 151, 169, 195, 263 Rott, Gerhard 264 Ruether, Rosemary Radford 52 Rufín Pardo, Daylíns 259 Rühling, Anton 24, 255 Ruoff, Michael 154, 263 Ruthner, Clemens 23, 263 Said, Edward 17f., 21ff., 51, 63, 144f., 147, 167, 263 Sardiñas Iglesias, Loida 55f., 259 Schaumberger, Christine 266 Schelkshorn, Johann 262 Schillebeeckx, Edward 61, 263 Schiwy, Freya 21, 154f., 266 Schleiermacher, Friedrich 61 Schmidlin, Joseph 97 Schüssler Fiorenza, Elisabeth 256 Segato, Rita 20, 263 Segovia, Fernando 126, 162, 225, 243, 260, 263 Segundo, Juan Luis 199, 225f., 264 Shannahan, Chris 226, 264 271 12 Namensverzeichnis Shiva, Vandana 182, 260 Silber, Stefan 19, 40, 43, 61, 66, 83, 92, 96, 112ff., 138, 143, 170, 172, 176, 216, 225f., 251, 261, 264 Simpson, Leanne Betasamosake 194, 196ff. Smith, Linda Tuhiwai 75f., 264 Sobrino, Jon 92, 264 Spivak, Gayatri 17, 22f., 27, 40, 47, 53, 55, 108, 138, 140, 142, 157, 182, 206, 243, 251, 258, 264f. Steyerl, Hito 25, 265 Stolz, Jörg 252 Strabb, Ute 264 Strobel, Katja 266 Styers, Randall 74f., 77f., 265 Suess, Paulo 62, 265 Sugirtharajah, R.S. 39, 55, 68, 145ff., 151, 162, 164, 179, 244, 259f., 265f. Sung, Jung Mo 242 Tamayo, Juan José 38, 265 Tauchner, Christian 251, 261 Taylor, Mark Lewis 107, 138-143, 198, 225f., 265 Tielesch, Simon siehe Wiesgickl, Simon Tiffin, Helen 81f., 197, 251 Tinker, George 89, 101, 265 Titizano, Cecilia 72f., 265 Togarasei, Lovemore 253f. van der Walt, Charlene 191, 266 van der Water, Des 238 Vellguth, Klaus 252 Wallerstein, Immanuel 19 Walsh, Catherine 21, 154f., 266 Warrior, Robert 165, 266 Weiler, Birgit 168, 172, 266 West, Gerald 133ff., 191, 251, 266 Wetz, Christian 38, 258 Wiesgickl, Simon 22, 26, 33, 37ff., 42, 63f., 82, 227, 236, 238ff., 243ff., 254- 258, 260f., 263-266 Williams, Patrick 265 Wind, Renate 87, 266 Winker, Gabriele 78f., 266 Wollrad, Eske 95, 266 Zarmanochegas 68, 147 Zeller, Joachim 23, 252 272 12 Namensverzeichnis ,! 7ID8C5-cfggjc! ISBN 978-3-8252-5669-2 Stefan Silber Postkoloniale Theologien Postkoloniale und dekoloniale Studien machen immer mehr von sich reden. In den letzten beiden Jahrzehnten entwickelten sich in unterschiedlichen Kontexten und Sprachräumen weltweit verschiedene Versuche, die Lernfortschritte der postkolonialen Studien auch für die Theologie fruchtbar zu machen. Dieses Lehrbuch gibt einen grundlegenden Einblick in dieses Gebiet, indem es sich an zentralen Begriffen und Methoden orientiert. Zahlreiche Beispiele, vorgestellte Autorinnen und Autoren sowie weiterführende Literaturhinweise regen dazu an, sich vertieft mit einzelnen Themenbereichen auseinanderzusetzen. Zuletzt widmet sich das Buch auch möglichen Konsequenzen für Theologie und Kirche in Mitteleuropa. Theologie | Religionswissenschaft Postkoloniale Theologien Silber Dies ist ein utb-Band aus dem Narr Francke Attempto Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel 56692 Silber_M-5669.indd 1 56692 Silber_M-5669.indd 1 10.06.21 15: 06 10.06.21 15: 06