eBooks

Bildungsphilosophie für den Unterricht

2021
978-3-8385-5706-9
UTB 
Philipp Thomas

Weshalb soll ich ständig selbst denken? Lohnt es sich, moralisch zu sein? Kann ich durch Bildung ich selbst werden? Weshalb soll ich politisch denken lernen? Mit Fragen wie diesen werden Lehrkräfte in der täglichen Unterrichtspraxis konfrontiert - und müssen ihren Schüler:innen klug und informiert antworten können. Dabei behandeln sie zugleich kulturelle Grundfragen. Daher sind Grundkenntnisse in Bildungstheorie Teil aller Lehramtsstudiengänge, egal für welche Schulart und für welche Fächer. Dieses Buch bietet eine fundierte Einführung zu zentralen Fragen, Themen und Positionen aus Bildungsphilosophie und -theorie. Es spricht angehende Lehrer:innen direkt an und hilft, dieses Wissen konkret im eigenen Unterricht anzuwenden.

Philipp Thomas Bildungsphilosophie für den Unterricht Kompetente Antworten auf große Schülerfragen utb 5706 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Brill | Schöningh - Fink · Paderborn Brill | Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen - Böhlau Verlag · Wien · Köln Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Narr Francke Attempto Verlag - expert verlag · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München transcript Verlag · Bielefeld Verlag Eugen Ulmer · Stuttgart UVK Verlag · München Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld Wochenschau Verlag · Frankfurt am Main Prof. Dr. Philipp Thomas lehrt Philosophie/ Ethik an der Pädagogischen Hochschule Weingarten. Philipp Thomas Bildungsphilosophie für den Unterricht Kompetente Antworten auf große Schülerfragen Narr Francke Attempto · Tübingen © 2021 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart CPI books GmbH, Leck utb-Nr. 5706 ISBN 978-3-8252-5706-4 (Print) ISBN 978-3-8385-5706-9 (ePDF) ISBN 978-3-8463-5706-4 (ePub) Umschlagabbildung: Mentale Kraft-Konzept. DrAfter123 © iStock Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® 9 11 12 14 1 19 1.1 20 1.2 23 1.3 25 1.4 29 2 33 2.1 34 2.2 42 2.3 44 2.4 45 3 49 3.1 50 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung: Warum muss ich das alles wissen? Ich will doch nur Lehrer: in werden! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Warum muss ich das alles wissen? Um Botschafter: in für unsere Kultur zu werden! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischen Schulverwaltung und Wissenschaft: Weshalb gehört das Lehramtsstudium an die Universität? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weshalb sollen wir lernen, selbst zu urteilen und zu denken? . . . Wir brauchen junge Menschen, die selbst denken können, denn die Wahrheit ist nie fertig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstdenken ist ein Menschenrecht (Kant) . . . . . . . . . . . . . Der Wahrheit verpflichtet. Das Ethos moderner Wissenschaft (Weber) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstdenken, Wahrheitssuche und Argumentieren . . . . . . Ist Vernunft wirklich so wichtig? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aristoteles zeigt, wie das vernünftige Leben das beste Leben ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epikur: Das richtige Leben beginnt, wenn wir innerlich unabhängig werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auch Epiktet sieht in der inneren Unabhängigkeit und Freiheit das eigentliche Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vernunft ist großartig. Aber es gibt im Menschen auch noch anderes Großartiges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lohnt es sich, moralisch gut zu sein? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das gute Leben und die Unterscheidung zwischen dem für uns Guten und dem an sich Guten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 51 3.3 55 3.4 61 4 67 4.1 68 4.2 69 4.3 72 4.4 75 4.5 78 5 83 5.1 83 5.2 85 5.3 89 6 95 6.1 95 6.2 98 6.3 100 6.4 102 7 107 7.1 107 7.2 112 Das Gute tun, weil man sofort spürt und weiß: Das Gute ist das Richtige ( Jonas, Levinas) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Gute als Vernunft, das Gute als Pflicht (Kant) . . . . . . . Das Gute tun, weil wir damit ein Gleichgewicht zwischen dem Guten und dem Unrecht, zwischen Liebe und Tod immer wieder neu erkämpfen (Camus) . . . . . . . . . . . . . . . . ‚Ich weiß, dass ich nichts weiß‘ - wieso gilt der Satz als weise? . Was ist gemeint mit den Grenzen des Wissens? . . . . . . . . . Sokrates bevorzugt Bescheidenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unser sicheres Wissen ist begrenzt wie eine Insel (Kant) . Lyotard denkt Kants Kritizismus postmodern weiter . . . . . Nichtwissen kann etwas sehr Gutes sein, auch im ethischen Sinn: einige Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reicht die Wissenschaft aus, um uns Orientierung zu geben? . . Die Grenzen des reinen Denkens und der berechtigte Ruf nach der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie können wir mit Szientismus und dem naturalistischen Fehlschluss umgehen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildung, in die wissenschaftliche Ergebnisse eingehen . . . Wozu soll intuitives Wissen gut sein? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was heißt Intuition? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Platons Höhlengleichnis und was es heißt, etwas von innen heraus zu verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zhuangzi: Intuitives Wissen in der daoistischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Intuitives Wissen in unserem Alltag: Beispiele . . . . . . . . . . Kann ich durch Bildung ich selbst werden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die eigenen Interessen und den eigenen Willen entdecken (Humboldt, Herbart) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Meine eigenste Perspektive entwickeln (Nietzsche) . . . . . . 6 Inhalt 7.3 116 7.4 120 8 125 8.1 126 8.2 127 8.3 130 9 135 9.1 136 9.2 142 9.3 145 10 151 10.1 152 10.2 153 11 167 11.1 167 11.2 169 11.3 171 11.4 172 11.5 174 11.6 175 Die moderne Kultur überfordert uns und lässt Selbstwerdung durch Bildung nicht mehr zu (Simmel) . . . Eine Mischung aus Verschiedenem und zugleich etwas Neues sein (Anzaldúa) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wieso soll ich meine Sicht der Dinge einbringen und ‚meine Stimme erheben‘? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Kulturprozess braucht jede Stimme . . . . . . . . . . . . . . . . Mitbestimmen darüber, was Normalität ist (Foucault) . . . . Mitbestimmen darüber, was Normalität ist: Das Beispiel der ‚neuen Deutschen‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was heißt ‚Das Sein bestimmt das Bewusstsein‘? . . . . . . . . . . . . . Marx und die materialistische Pädagogik . . . . . . . . . . . . . . . Klasse bestimmt über Lebensstil (Bourdieu) . . . . . . . . . . . . Frau sein - Frau sein? (Butler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weshalb sollen wir politisch sein? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Politik ist mühsam und eine milde despotische Versorgung durch den Staat erscheint bequem (Tocqueville) . . . . . . . . . Politik bedeutet Engagement aus Liebe zur Welt (Arendt) Sollen wir die Werte unserer Kultur verlebendigen und verteidigen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein großes Potenzial für jeden Unterricht: die Werte unserer Kultur besser zu verstehen (Taylor) . . . . . . . . . . . . Die Moderne ist eine Kultur unter anderen . . . . . . . . . . . . . Wofür man die moderne Kultur kritisieren kann . . . . . . . . Der gute Kern der modernen Werte hinter den verflachten Praktiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weshalb wir über unsere Werte sprechen, sie pflegen und verteidigen sollten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Werte der Moderne verlebendigen: eine Aufgabe für alle Lehrpersonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Inhalt 12 179 12.1 180 12.2 185 12.3 189 12.4 192 13 197 13.1 198 13.2 200 13.3 202 14 209 14.1 209 14.2 212 14.3 214 14.4 216 14.5 219 15 225 16 227 Wieso sollen wir uns dekolonisieren und fremde Kulturen wertschätzen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dekolonisieren wir uns! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Miteinander fürsorglich verbunden sein: die afrikanische Ubuntu-Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sein Leben nähren und nicht dem Glück hinterherjagen: Selbstkultivierung bei Zhuangzi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . In der Liebe etwas Göttliches erfahren: Ibn Arabi und die islamische Liebesmystik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Können wir die Welt lieben? Wir dachten, es kommt darauf an, alles zu kritisieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist das Gegenteil von Zynismus und Unernst? ( James) Post-Critical Pedagogy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Tiefe des Lebens erfahren und resonant werden für die Welt (Rosa) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ist Herzensbildung wichtiger als Selbstdurchsetzung? . . . . . . . . . Was ist mit Herzensbildung gemeint? . . . . . . . . . . . . . . . . . Wir Menschen haben einen Sinn dafür, was anderen guttut, den Moral Sense (Hume) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was können wir aus wissenschaftlichen Ergebnissen zur Empathie lernen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Es kommt darauf an, unseren Sinn für das Gute auszubilden und auszudehnen auf die ganze Welt (Menzius, Wang Yangming) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . An einen Menschen glauben. Herzensbildung als Fähigkeit zu lieben (Scheler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Statt eines Nachworts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt Vorwort Dieses Buch ist entstanden aus einer Wahlpflicht-Vorlesung im Modul Grundfragen der Bildung an der Pädagogischen Hochschule Weingarten. Das Modul ist Pflicht für die Studierenden aller Lehramtsstudiengänge. Alternativ zu meiner Vorlesung zur Bildungsphilosophie kann auch eine Vorlesung zu den Grundfragen der Bildung aus theologischer oder politik‐ wissenschaftlicher Sicht besucht werden. Das Modul umfasst noch weitere Elemente, etwa Bildungssoziologie. Das Buch behandelt bildungstheoretische und bildungsphilosophische Fragen. Im nächsten Kapitel möchte ich veranschaulichen, worum es sich bei diesem ganz eigenen Gebiet der Lehramtsausbildung handelt: weder Fachwissenschaft noch Fachdidaktik ist das Thema, weder Erziehungswis‐ senschaft noch Psychologie - und doch sind die Grundfragen wesentlich. Kurz gesagt geht es nicht um Fragen vom Typ: Wie gelingt der Unterricht? Und wie erreichen wir bestimmte Bildungsziele am besten? Sondern es geht um Fragen vom Typ: Welche grundsätzlichen Werte und Ziele stehen hinter unserer Arbeit im Bereich der Bildung insgesamt? Worauf kommt es unserer Kultur eigentlich an - was zählt? Es geht also um Orientierung. Es geht darum, für die Werte unserer Gesellschaft zu werben: für Werte der Freiheit und der Menschlichkeit. Am Ende jedes Kapitels werden Möglichkeiten für die weitere Auseinan‐ dersetzung vorgeschlagen, auch für Hausarbeiten oder Bachelorarbeiten. Das Buch ist nicht disziplin-, sondern professionsbezogen. Nicht um die Disziplin Bildungsphilosophie geht es, sondern um den Lehrberuf. Hinter dem Text stand nicht die Überlegung, von welchen ‚Ansätzen‘ Lehramts‐ studierende unbedingt einmal etwas gehört haben sollten, sondern leitend war die Frage: Wie können spätere Lehrpersonen kompetent antworten auf Fragen von Schüler: innen zu den großen kulturellen Themen? Wie können sie Bildungsexpert: innen für Orientierung durch Bildung werden? Thematisch fiel die Beschränkung auf 14 Themen in kurzen Kapiteln schwer. Viele weitere Themen wären interessant gewesen, auch hätte alles mehr Tiefe verdient. Ich habe mich um Anschaulichkeit, Klarheit und Kürze bemüht - ständig begleitet von der Furcht, zu stark zu vereinfachen. Allen meinen eigenen Lehrer: innen, Schüler: innen, allen meinen früheren und heutigen Studierenden und Kolleg: innen möchte ich in diesem Buch sagen: danke! Hinweis für Dozierende Das Studienbuch umfasst 14 Kapitel und kann gut die Grundlage für die Arbeit eines Semesters sein. Es ist einsetzbar in jenen Anteilen der verschiedenen Lehramtsstudiengänge, in denen es um sehr grundsätz‐ liche Fragen geht: um Bildungsphilosophie und Bildungstheorie, um die Grundfragen unserer Kultur und um Orientierung. Die einzelnen Kapitel sind teilweise umfassender, als es für eine Doppelstunde sinnvoll ist. Dies gibt Dozierenden oder auch Studierenden die Möglichkeit, aus dem Stoff auszuwählen. Wenn die Lehrveranstaltung wiederholt angeboten wird, lässt sich so der Lehrinhalt von Semester zu Semester variieren. Dies kann auch mit Blick auf eine Abschlussklausur sinnvoll sein. Weingarten, im August 2021 Philipp Thomas 10 Vorwort Einführung: Warum muss ich das alles wissen? Ich will doch nur Lehrer: in werden! … wenn wir wüßten, wovon der weiße Mann träumt, welche Hoffnungen er seinen Kindern an langen Winterabenden schil‐ dert und welche Visionen er in ihre Vorstel‐ lungen brennt, so daß sie sich nach einem Morgen sehnen … H ÄU P T L I N G S E A T T L E (http: / / www.humanistische-aktion.de/ seattle.htm) Worum geht es? Wie könnten wir dem Häuptling Seattle unsere Kultur erklären? Wie können wir duch Bildung Orientierung geben? Zwar hat Häuptling Seattle (Eingangszitat) 1854 bei einer Anhörung vor dem Gouverneur des Washington-Territoriums (die Stadt Seattle ist nach ihm benannt) tatsächlich eine kritische Rede gegen die weißen Siedler gehalten. Doch die heute bekannte Version ist eine Nachdich‐ tung aus der Ökologiebewegung der 1970er Jahre, die unseren Umgang mit der Natur kritisiert, der von Macht und Gier geprägt ist. Hat die westliche Kultur mehr zu bieten? Auch darum geht es in diesem Buch. Doch der erste Schritt sind Ihre kritischen Fragen an Ihr Studium: Reicht es nicht, wenn Sie einfach die Fächer studieren, die Sie später unterrichten, sowie Fachdidaktik, Erziehungswissenschaft und Psychologie? Weshalb zusätzlich zu all dem noch Bildungsphilosophie? In diesem Kapitel erhalten Sie darauf eine Antwort, genauer geht es um Folgendes: ▸ In welchen konkreten Situationen in der Schule nützt Ihnen Bil‐ dungsphilosophie? ▸ Inwiefern gehört Bildungsphilosophie zur Profession Lehrer: in? ▸ Um welche Art von Wissen geht es in der Bildungsphilosophie - im Vergleich zu Fachwissenschaft und Fachdidaktik Ihrer Fächer und im Vergleich zum Wissen in Erziehungswissenschaft und Psychologie? ▸ Wie können Sie Ihren Schüler: innen Orientierung geben? Wie können Sie einführen in die Hoffnungen, Visionen und Werte unserer Kultur - die der Häuptling Seattle (Eingangszitat) nicht spüren kann? Warum muss ich das alles wissen? Um Botschafter: in für unsere Kultur zu werden! Meine Kollegin, die Kulturbotschafterin. Als ich Lehrer war, hatte meine Kollegin mit dem Fach Spanisch einen eigenen Unterrichtsraum. Alle Spanischlerngruppen mussten zu diesem Raum kommen, und sie war die Gastgeberin. Ihren Raum hatte sie nicht nur mit spanischsprachiger Lektüre ausgestattet, sondern auch mit schönen Bildern aus Spanien und Südamerika dekoriert. Ich kann mich noch an Flamenco-Kostüme erinnern, die etwas wild, aber schön an den Wänden hingen. Die Kollegin verstand sich als Kulturbotschafterin. Sie wollte ihren Schüler: innen nicht nur die Sprache beibringen, sondern auch für die spanische Kultur werben. Nicht nur für eine Fachkultur, sondern für unsere Kultur als Ganzes werben. Egal, welches Fach Sie später unterrichten, auch Sie sind sozusagen Kultur‐ botschafter: innen. Zum einen vermitteln Sie Ihre Fächer und begeistern für diese. Genauso wie meine frühere Kollegin für ihr Fach Spanisch. Doch da‐ neben haben alle Lehrpersonen noch eine weitere Aufgabe und um die geht es in diesem Buch. Ähnlich wie Eltern ihre Kinder in unsere Welt einführen, führen auch Sie Kinder und Jugendliche in unsere Welt, in unsere Kultur ein. Weshalb ist das so wichtig? Weil Kultur das ist, wovon wir träumen, wofür wir leben und was uns wichtig ist. Weil Kultur die großen Erzählungen umfasst, all das Bedeutende, wofür das Leben lohnt, und all die großen, ewig ungelösten Fragen, die wir der nächsten Generation doch weitererzählen. Der indianische Häuptling Seattle sagt im Eingangszitat, dass er den weißen Mann nicht versteht, der im Amerika des 19. Jahrhunderts Land von ihm kaufen will. Er spürt immer nur Macht und Gier und Ausbeutung der Natur. Er spürt nicht, wofür das alles gut ist: Welche Hoffnungen und Visionen gibt der weiße Mann seinen Kindern weiter? Dies Ihren Schüler: innen zu erklären, auch das gehört zu Ihrer Aufgabe. 12 Einführung: Warum muss ich das alles wissen? Ich will doch nur Lehrer: in werden! Sie sollen Fachleute werden - auch für sehr allgemeine Fragen. Für die erste Aufgabe (für Ihr Fach begeistern) müssen Sie Expert: innen Ihrer Fächer werden. Für die zweite Aufgabe (Werbung für die Kultur als Ganzes) sollen Sie Fachleute für diese allgemeine Kulturbotschaftsaufgabe werden. Im Fachstudium erarbeiten Sie sich fachliches und fachdidaktisches Wissen. Außerdem erwerben Sie pädagogisch-psychologisches Wissen, z. B. über Themen wie Heterogenität oder Motivation. All dieses Wissen brauchen Sie für Ihren täglichen Unterricht. Doch daneben gibt es noch einen weiteren Bereich Ihrer Lehramtsausbildung und das ist die Bildungsphilosophie oder Bildungstheorie. Hier werden Sie Expert: innen für sehr allgemeine Fragen, die aber auch zur Bildung Ihrer Schüler: innen gehören und die hier, etwas vereinfacht, als Kulturbotschaftsaufgabe bezeichnet werden. Um welche Orientierungsfragen geht es? Und was heißt das, Ihre Schü‐ ler: innen in unsere Kultur einzuführen? Die Antwort fällt leichter, wenn wir zu den Flamenco-Kostümen zurückkehren. Angenommen, auch Sie würden später einen eigenen Unterrichtsraum bekommen, so wie damals meine Spanisch-Kollegin. Wie würden Sie diesen Raum einrichten und dekorieren, um für Ihr Fach zu begeistern? Als Geographielehrer: in wür‐ den Sie allerlei Landkarten und einen Globus haben, als Kunstlehrer: in vielleicht künstlerische Objekte. Doch wie würden Sie Ihren Raum für jene andere Aufgabe schmücken, nämlich die, Ihre Schüler: innen in die großen Orientierungsfragen unserer Kultur einzuführen? Wie können Sie das veranschaulichen, wovon unsere Kultur träumt und was ihr wichtig ist? Hier kommt dieses Buch ins Spiel. Um seine Aufgabe zu veranschaulichen, dient folgendes Bild: Sie könnten große Bilderrahmen aufhängen und in diese jeweils ein großes Thema schreiben. In einem stünde Selbstdenken! , in einem anderen Vernunft! In einem besonders großen Rahmen stünde Moralisch gut sein! und in einem besonders bunten Rahmen Durch Bildung man selbst werden! Wie soll ich diese Themen unterrichten? Vielleicht nicht so sehr als eigene Unterrichtsstunden. Orientierungsfragen gehen über Ihren Fachunterricht meist hinaus. Doch ‚zwischen den Zeilen‘ kommen diese großen Themen in Ihrer Arbeit mit den Lerngruppen laufend vor. Auch in Ihrem Verhalten, in dem, worauf Sie Wert legen und auch in den Hoffnungen und Visionen, die Sie Ihren Schüler: innen weitergeben. Daher die fiktiven Bilderrahmen. In einem stünde Ich weiß, dass ich nichts weiß, in einem anderen Die Werte unserer Kultur verlebendigen! und in einem besonders schönen stünde Herzensbildung. Jedes Orientierungsthema an der Wand Ihres fiktiven Un‐ 13 Warum muss ich das alles wissen? Um Botschafter: in für unsere Kultur zu werden! terrichtsraums ist ein Kapitel in diesem Buch. Und jedes Kapitel können Sie für die tägliche Unterrichtspraxis verwenden. Ihre Schüler: innen werden nicht gleich begeistert sein. Das waren die meiner früheren Spanisch-Kollegin auch nicht. O je, so mögen sie geklagt haben, jetzt sollen wir uns auch noch für Flamenco begeistern, was denn noch alles! Und ebenso werden die Kinder und Jugendlichen kritisch sein, wenn es um die großen Orientierungsfragen geht. Ist das nicht alles bloß bildungsbür‐ gerlicher Ballast? Werde ich durch diese ganze Kultur nicht allzu brav? Sollte ich nicht stattdessen wild und gefährlich leben? Doch wir Lehrpersonen werden jeden Tag unser Bestes geben, um unsere Schüler: innen einzuführen in die großen Fragen und Themen der Kultur. Es gilt, junge Menschen zu begeistern. Menschliche Kultur ist etwas Kostbares. Etwas, das sich nicht von selbst versteht, etwas, das von vielen Voraussetzungen abhängt, das verletzlich ist und immer wieder erneuert werden muss. Leider auch etwas, das ganz leicht zerstört werden kann und das dann lange Pflege braucht, um wieder zu gedeihen. Sie werden später vielleicht keinen eigenen Unterrichtsraum bekommen wie meine Spanisch-Kollegin damals. Und Sie werden für die schönen, fiktiven Bilderrahmen mit den großen Orientierungsthemen kei‐ nen Platz an den Wänden haben, weil diese schon voll sind. Und dennoch: Wenn Sie und wenn alle Lehrer: innen zusammen jeden Tag nicht nur für unsere Fächer, sondern auch für die großen kulturellen Themen und Werte begeistern, dann können wir den Staffelstab später einmal an die neue Generation weitergeben. Denn dann haben wir den Kindern und Jugendlichen erzählt, „wovon der weiße Mann träumt, welche Hoffnungen er seinen Kindern an langen Winterabenden schildert und welche Visionen er in ihre Vorstellungen brennt, so daß sie sich nach einem Morgen sehnen“, wie es im Eingangszitat hieß (www.humanistische-aktion.de/ seattle.htm). Bildung ist mehr als Information und Wissen und Kompetenz, Bildung ist mehr als Ausbildung. Nur wenn wir groß und weit denken, wird unsere Arbeit wirklich sinnvoll. Zwischen Schulverwaltung und Wissenschaft: Weshalb gehört das Lehramtsstudium an die Universität? Aber geht die Lehramtsausbildung nicht auch eine Nummer kleiner? Sollte die Ausbildung von Lehrpersonen nicht einfach an einem Lehrer: innenseminar 14 Einführung: Warum muss ich das alles wissen? Ich will doch nur Lehrer: in werden! erfolgen? Die Kluft zwischen dem, was Sie im Studium lernen und wie Sie an der Hochschule wissenschaftlich arbeiten einerseits und andererseits dem Schulstoff und seiner konkreten Vermittlung, ist sehr groß. Viele Lehramts‐ studierende fragen sich, weshalb sie so viel und so grundsätzlich studieren müssen, ob in der Fachwissenschaft, ob in der Bildungsphilosophie. Die unbedingte Universität. Der französische Philosoph Jacques Derrida (1930-2004) formuliert in seiner Schrift Die unbedingte Universität: Nur die möglichst ganz frei gelassene Universität kann der Gesellschaft ein Geschenk machen, nämlich das Geschenk, auf dem Weg zu Wahrheit und Wahrhaftigkeit voranzuschreiten, indem neue Lösungen zu neuen Proble‐ men frei debattiert und immer wieder neu gefunden werden. Hintergrund: Wahrheit heißt hier, keinem anderen Ziel oder Interesse verpflichtet zu sein, als die ursprünglichen Zusammenhänge der Dinge herauszubekommen. Wahrhaftigkeit bedeutet, das Leben der Wahrheit zu widmen und zu leben und zu handeln, wie es der Wahrheit oder der eigenen Überzeugung entspricht. Es geht um einen Forschritt nicht nur an instrumentellem und pragmati‐ schem Wissen. Sondern es geht um Orientierung im Bereich der ganz grundsätzlichen Fragen der Kultur. Derrida fordert, […] daß die moderne Universität eine unbedingte, daß sie bedingungslos, von jeder einschränkenden Bedingung frei sein sollte. […] Was diese Universität beansprucht, ja erfordert und prinzipiell genießen sollte, ist über die sogenannte akademische Freiheit hinaus eine unbedingte Freiheit der Frage und Äußerung, mehr noch: das Recht, öffentlich auszusprechen, was immer es im Interesse eines auf Wahrheit gerichteten Forschens, Wissens und Fragens zu sagen gilt. […] Die Universität macht die Wahrheit zum Beruf - und sie bekennt sich zur Wahrheit, sie legt ein Wahrheitsgelübde ab. Sie erklärt und gelobt öffentlich, ihrer uneingeschränkten Verpflichtung gegenüber der Wahrheit nachzukommen. (Derrida 2016, 9 f., Hervorhebung i. O.) Die Freiheit und das Neue. Es gibt einen guten Grund, weshalb das Lehramts‐ studium an Universitäten und Hochschulen stattfindet. Die Gesellschaft stattet die Universitäten und Hochschulen mit einer besonderen Freiheit aus. Der Fachbegriff lautet Freiheit von Forschung und Lehre. 15 Zwischen Schulverwaltung und Wissenschaft Hintergrund: Im deutschen Grundgesetz, Art. 5 (3), heißt es: Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung. Diese wird im Grundgesetz garantiert. Auf die universitäre Forschung und Lehre soll kein äußerer, etwa ideologischer Zwang wirken. Damit verbindet sich auch eine Hoffnung, nämlich dass die Universität in dieser Freiheit immer wieder neue Ideen hervorbringt. Die Freiheit ist Vorausset‐ zung für das wirklich Neue. Die Lehrer: innenbildung soll auch deshalb an Universitäten und Hochschulen stattfinden, damit neue Impulse aus den Fachwissenschaften, aus der Fachdidaktik, aus den Bildungswissenschaften, der Psychologie und aus der Bildungsphilosophie in die schulische Bildung gelangen. Wahrheit. Derrida sagt, die Universität sei der Wahrheit verpflichtet. Das ist ein großes Wort. Sie als Lehrpersonen arbeiten an den fachlichen und sozialen Kompetenzen der Jugendlichen, welche diesen ein gutes berufliches und privates Leben ermöglichen soll. Zugleich sollen Sie auch in der Lage sein, allgemeine Werte und Ziele zu vermitteln. Und das bedeutet, diese ins Bewusstsein zu heben, sie immer wieder neu zu diskutieren, zu kritisieren und zu verlebendigen - und dabei vielleicht auch neu zu denken. Was soll gelten? Was ist das Gute? In welche Richtung soll es weitergehen? Diese Fragen sind der Wahrheit verpflichtet. In Ihrem Beruf geht es nicht nur um Methodik, nicht nur um Praxis. Sie fragen nicht nur: Wie bringe ich meine Schüler: innen am besten von A nach B, von der noch nicht vorhandenen Kompetenz zur vorhandenen Kompetenz? Sondern Sie fragen auch: Weshalb überhaupt diese oder jene Kompetenz, weshalb ist sie das richtige Ziel, weshalb soll es gelten, weshalb erscheint es uns als wahr? Deshalb studieren Sie an Universitäten und Hochschulen. 16 Einführung: Warum muss ich das alles wissen? Ich will doch nur Lehrer: in werden! Dieses Buch vermittelt Ihnen die Kompetenz, auf große Fragen Ihrer Schüler: innen reflektiert zu antworten. Als Lehrperson haben Sie neben Ihrem Fachunterricht auch die Aufgabe, kritisch in die Kultur als Ganzes einzuführen: in ihre Werte und großen Themen. Sie studieren an Universitäten und Hochschulen, deren Forschung und Lehre frei ist - im Dienste der Wahrheit. Weshalb Bildungsphilosophie? Warum muss ich das alles wissen? Ich will doch nur Lehrer: in werden! ▸ Bildungsphilosophie gehört zu Ihrer Professionalität als Lehrer: in‐ nen. Sie hilft Ihnen in konkreten Unterrichtssituationen: Wenn Ihre Schüler: innen kritisch nachfragen, etwa nach bestimmten Werten unserer Kultur, dann können Sie Orientierung geben und den Jugendlichen neue Türen öffnen. ▸ Als Expert: innen für Bildung müssen Sie auch auf diesem Gebiet kompetent sein - durch ein spezielles und vertieftes Wissen vom Allgemeinen. Wenn Sie sich noch weiter interessieren Zwei sehr gute und vertiefte Einführungen in die Bildungstheorie und Bil‐ dungsphilosophie finden Sie in REICHENBACH 2018 (b) und RIEGER-LA‐ DICH 2020. Wenn Sie sich für das Ethos von Lehrpersonen interessieren, also für die moralische oder sittliche Gesinnung, die zu Ihrer Profession gehört, bieten CRAMER/ OSER 2019 einen guten Überblick. Um die Frage wichtiger Werte unserer Kultur und weshalb wir sie immer wieder formulieren, diskutieren und auch verteidigen sollten, geht es explizit in Kapitel 11. Andere Kapitel beschäftigen sich mit allgemeinen Bildungszielen wie Selbstdenken (Kap. 1), Selbstwerdung (Kap. 7) oder verschiedenen Wissenstypen (Kap. 4-6). Doch auch diese Themen sind Antworten unserer Kultur auf die Frage, welche Ziele letztlich richtig sind und worauf es uns eigentlich ankommt. 17 Wenn Sie sich noch weiter interessieren 1 Weshalb sollen wir lernen, selbst zu urteilen und zu denken? (Kant, Weber) Es ist so bequem, unmündig zu sein. I M M A N U E L K A N T (1923, 35) Worum geht es? Zwar diskutieren Ihre Schüler: innen gern - doch irgendwann langweilt es sie auch, dass sie laufend dazu aufgefordert werden, sich eine eigene Meinung und ein eigenes Urteil zu bilden. Sie als Lehrperson geben sich ja nicht zufrieden damit, einfach die Meinung der Schüler: innen abzufragen wie in einer Radiomoderation. Sondern Sie haken immer wieder nach und beharren auf guten Argumenten. In dieser Situation äußern ihre Schüler: innen einen gewissen Unmut. Sie fragen: Können Sie uns nicht einfach sagen, wie es richtig ist? Dieses ständige Pro und Kontra, dieses ewige Argumentieren und das ‚eigene Urteil‘! Und laufend heißt es, dass es nicht nur einen, sondern dass es verschiedene Standpunkte gibt. In diesem Kapitel erfahren Sie, wie Sie auf solche Äußerungen Ihrer Schüler: innen reagieren können. Genauer geht es um Folgendes: ▸ Weshalb ist das Selbstdenken für unsere Kultur ein so hoher Wert, weshalb ist es sogar überlebenswichtig? ▸ Weshalb sehen einige (z. B. Immanuel Kant) das Selbstdenken als eine Art Menschenrecht? ▸ Was bedeutet Ethos der Wissenschaft und der Wahrheitssuche (Max Weber) und was können Ihre Schüler: innen von diesem Ethos lernen? ▸ Wie können Sie Ihre Schüler: innen für das Selbstdenken motivie‐ ren? 1.1 Wir brauchen junge Menschen, die selbst denken können, denn die Wahrheit ist nie fertig Ein Generationenvertrag. Es gehört zum Kernbestand unserer modernen Kultur, dass es nur ganz wenige immer schon bestehende und in alle Ewigkeit geltende Wahrheiten gibt. Eine Generation kann nicht einfach für die nächste entscheiden, was für diese unzweifelhaft richtig sein soll. Sie kann nicht für sie entscheiden - und doch kann die ältere etwas für die jüngere Generation tun: Sie kann ihr das Selbstdenken und Argumentieren beibringen. Und sie muss für die nächste Generation den Rahmen dafür sichern: die Freiheit, sich immer weiter eine eigene Meinung bilden zu können und auch zu dürfen. Wir brauchen junge Menschen, die es gelernt und trainiert haben, selbst zu denken. Dies ergibt sich unter anderem aus dem modernen Bewusstsein eines Nichtwissens. Hintergrund: Moderne bezeichnet hier nicht die gesamte Zeit seit dem Mittelalter und auch nicht die Moderne in der Kunst und Literatur des 20. Jahrhunderts, sondern die Zeit seit der Aufklärung (18. Jahrhun‐ dert) und der industriellen Revolution (19. Jahrhundert) bis heute. Traditionelle Wahrheitsgewissheit. Die moderne Kultur hat sich von etwas verabschiedet, nämlich von einer bestimmten Form von Wahrheitsgewiss‐ heit. Solch eine Wahrheitsgewissheit ergibt sich aus einer geoffenbarten transzendenten Wahrheit, wie sie etwa in der Bibel als einer Heiligen Schrift vorliegt. Die mittelalterliche Gesellschaft, die noch viel stärker traditionell und religiös geprägt war, kannte in weit geringerem Maße die Anforderung, dass die Wahrheit immer erst mühsam gefunden werden muss. Stattdes‐ sen gab es eine traditionelle und geoffenbarte Wahrheit, die bezogen auf die Herausforderungen einer Gegenwart lediglich neu ausgelegt werden musste. Eine andere Quelle absoluter Wahrheit neben der religiösen war die Institution der erblichen Monarchie. Dass genau diese eine Herrscherfamilie über ein Land herrschen sollte, das schien unantastbar. Auch die Hierarchie der Gesellschaft wurde nicht angezweifelt. Herrschaft und Struktur der Ge‐ sellschaft wurden oft genug sogar zurückgeführt auf einen quasi göttlichen Ursprung. 20 1 Weshalb sollen wir lernen, selbst zu urteilen und zu denken? Was ist mit Nichtwissen gemeint? Nichtwissen in einem sehr grundsätzli‐ chen Sinn (Wissen ist prinzipiell begrenzt) wird in Kapitel 4 behandelt. Hier in Kapitel 1 geht es eher um das Bewusstsein der modernen Kultur, dass das traditionelle (religiöse, überlieferte etc.) Wissen nie ausreicht für die sich wandelnden Probleme. Laufend muss neues Wissen hervorgebracht werden. Auch dies ist ein Bewusstsein von Nichtwissen. Die moderne Gesellschaft, in der diese ältere Wahrheitsgewissheit zurücktritt, wird sich einer bestimmten Dynamik bewusst. Das ist die neue Idee eines laufenden historischen Wandels. Dieser umfasst alle Bereiche, nicht nur die Gesellschaft, sondern etwa auch die Wissenschaft. Denn diese gelangt immer wieder zu neuen Erkenntnissen. Schließlich betrifft die laufende Erneuerung auch dasjenige, was jeweils als die richtige Lösung für die anstehenden Probleme einer Zeit gesehen wird, also die sozialen und politischen Lösungsversuche. Doch mehr noch, die Dynamik umfasst sogar die Probleme und Herausforderun‐ gen selbst, auch diese befinden sich in ständiger Entwicklung, sie bleiben nicht einfach immer die alten. Das ist mit dem Begriff Nichtwissen gemeint: ein Bewusstsein für lauter noch nicht gelöste Probleme und die Erfahrung, dass Wissen nicht einfach vorhanden ist, sondern dass es erst gesucht und dass es auch immer wieder erneuert werden muss. Und diese neue Situation braucht die Fähigkeit der neuen Generationen, selbst denken und selbst Lösungen finden zu können. Neue ethische Fragen. Wissenschaft und Technik verändern ihrerseits unsere Welt und durch diese Veränderung entstehen neue Fragestellungen und auch neue ethische Herausforderungen und Probleme, die es früher noch gar nicht geben konnte. Eine neue Technik in der Medizin etwa könnte so teuer sein, dass ungewiss ist, ob sie überhaupt allen Menschen zugute‐ kommen kann. Wenn sie nur für eine begrenzte Anzahl von Menschen zur Verfügung steht, ergeben sich neue ethische Fragen: Soll sie nur für Menschen angewandt werden, die noch eine lange Lebenserwartung haben? Oder ist es gerecht, sie den Kräften des Marktes zu überlassen, sodass zahlungskräftige Patient: innen zum Zuge kommen? Neue Landwirtschafts- oder Kommunikationstechniken könnten Folgen haben, die noch weitge‐ hend unbekannt sind oder aber, zum Beispiel als Gefährdung der natürlichen Ressourcen, die Gesellschaft definitiv vor neue Probleme stellen. Wieder entstehen neben neuen technischen auch neue ethische Fragen. Wandel der Ansichten und Überzeugungen. Die Dynamik ist sogar noch umfassender. Sie betrifft auch die allgemeinen und vorherrschenden An‐ sichten darüber, was als sinnvolles und gutes Leben gelten soll; ja sogar, 21 1.1 Wir brauchen junge Menschen, die selbst denken können was als ethisch gut und ethisch schlecht bezeichnet werden muss. Nach einigen Jahrzehnten haben sich Ansichten in unserer Gesellschaft schon wieder leicht oder sogar gravierend geändert. Als Beispiele lassen sich das Verhältnis der Geschlechter nennen oder die Form, die Struktur und die Bedeutung der Familie. Was hier Norm und was Normalität ist, diese Ansichten sind im Wandel. Selbstdenken ist überlebenswichtig. In dieser Lage, also mitten in einer grundsätzlichen Dynamik, welche Veränderungen in den meisten Bereichen mit sich bringt, braucht die Gesellschaft weniger junge Menschen, deren Kompetenz darin besteht, dass sie alte Lösungen und alte Entscheidun‐ gen über Richtig und Falsch kennen und vertreten, ohne diese weiter zu hinterfragen. Sondern die Gesellschaft braucht in dieser Lage Menschen, welche die Kompetenz mitbringen, durch kluge Informationsbeschaffung und Auswertung dieser Informationen sowie durch kluge Argumentation zu einem eigenständigen Urteil in den neu sich ergebenden Herausforderungen gelangen zu können. Hinzukommen muss die Fähigkeit, mit einer gewissen Pluralität von Meinungen umgehen zu können, das heißt zunächst einfach: daran gewöhnt zu sein, dass es verschiedene Ansätze zur Lösung von Problemen gibt. Hintergrund: Pluralistisch nennt man eine Gesellschaft, die ganz un‐ terschiedliche Individuen und Gruppen und ihre Ansichten toleriert, ja diese Pluralität sogar wertschätzt: Der Wettbewerb der Meinungen kann die Gesellschaft weiterbringen. Bildung in der sich verändernden Welt. Die moderne Gesellschaft muss also in ihrem Bildungsbereich für vieles Sorge tragen. Sie braucht etwa immer genügend Menschen, welche die Technik wissenschaftlich weiter‐ entwickeln können. Sie braucht ebenso immer genügend Menschen, die über hervorragende sprachliche, kulturelle oder politische Kompetenzen verfügen, um neue Aufgaben in der sich globalisierenden Welt anzugehen. Doch über eine Fähigkeit sollten möglichst alle jungen Menschen verfügen, nämlich über die Fähigkeit, selbst zu denken, selbstständig sich ein Bild der Herausforderungen zu verschaffen und zu einem eigenen Urteil zu kommen. Denn nur so können dann in einem fruchtbaren Streit um die besten Lösungen nach und nach und immer wieder neu auch tatsächlich 22 1 Weshalb sollen wir lernen, selbst zu urteilen und zu denken? sehr gute Lösungen gefunden werden und sich durchsetzen - Lösungen, die nicht Teil einer absoluten Wahrheit sind, Lösungen, die es nicht einfach schon gibt, sondern die in einem pluralen System gefunden werden müssen. Wir müssen jungen Menschen das Selbstdenken beibringen, denn in der modernen Kultur kann eine Generation nicht für die nächste schon wissen, welche neuen Herausforderungen es geben wird und welche Lösungen richtig sein werden. 1.2 Selbstdenken ist ein Menschenrecht (Kant) Selbstdenken nicht nur aus pragmatischen Gründen. Der Denker der Aufklä‐ rung, Immanuel Kant, sieht aber noch einen anderen Grund dafür, dass jede Generation selbst und immer wieder neu die Wahrheit suchen soll. Hintergrund: Aufklärung meint seit dem 18. Jahrhundert die Ablösung aus den alten Bindungen an die staatliche und kirchliche Obrigkeit, stattdessen setzt man auf laufende Fortschritte durch rationales Denken und Wissenschaft; starkes Bewusstsein von Freiheit und Menschenrechten (siehe Kap. 11.2). In der Aufklärung voranzuschreiten, so sagt Kant, das sei ein Menschen‐ recht. Exemplarisch lässt sich dieser Zusammenhang in Kants Schrift Beant‐ wortung der Frage: Was ist Aufklärung? Von 1784 gut nachvollziehen. Ein Zeitalter kann sich nicht verbünden und darauf verschwören, das folgende in einen Zustand zu setzen, darin es ihm unmöglich werden muß, seine […] Erkenntnisse zu erweitern, von Irrthümern zu reinigen und überhaupt in der Aufklärung weiter zu schreiten. Das wäre ein Verbrechen wider die menschliche Natur, deren ursprüngliche Bestimmung gerade in diesem Fortschreiten besteht; und die Nachkommen sind also vollkommen dazu berechtigt, jene Beschlüsse, als unbefugter und frevelhafter Weise genommen, zu verwerfen. (Kant 1923, 39) 23 1.2 Selbstdenken ist ein Menschenrecht Selbstdenken als Menschenrecht. Kant fragt sich selbst und damit uns, seine Leser: innen, ob nicht etwa eine oberste Versammlung von Expert: innen ein für alle Mal entscheiden könnte über die wichtigsten Fragen der Gesell‐ schaft, um auf diese Weise tragfähige Antworten festzuschreiben? Kants Antwort ist eindeutig: Nein, dies sei auf keinen Fall möglich und solle auch nicht versucht werden. Hintergrund: Mehr als 150 Jahre später, in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen (1948) heißt es: Artikel 18: Jeder hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Reli‐ gionsfreiheit […]. Artikel 19: Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung […] (https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Allg emeine_Erklärung_der_Menschenrechte, 19.07.2021). Welche Gründe nennt Kant für seine Ablehnung? Im Text lassen sich, so scheint mir, zwei verschiedene Gründe für die Ablehnung finden: Zum einen ist da, eher zwischen den Zeilen angedeutet, aber für den Forschrittsdenker Kant typisch, der eben ausführlich dargestellte pragmatische Grund. Auf‐ grund der Dynamisierung der modernen Gesellschaft kann eine Generation, wie geschildert, unmöglich ein für alle Mal für die nächste entscheiden. Der andere Grund, von Kant explizit vertreten, ist grundsätzlicher Natur. Es gehöre zu menschlichem Leben notwendig ein Recht, durch eigenes Nach‐ denken immer weiter voranzuschreiten. Dieses Recht leite sich sogar aus der Natur des Menschen ab. Kant behauptet also nicht weniger, als dass die Aufklärung und das Fortschreiten in der Aufklärung zum Menschsein selbst dazugehören. Es geht um ein Menschenrecht: das Recht auf Selbstdenken, auf Selbstbestimmung und auf den eigenen Fortschritt im Denken. Die Idee der Aufklärung: Bildung zum Selbstdenken ist notwendig, um ein Recht zu verwirklichen, welches der Mensch von Natur aus besitzt, nämlich das Recht auf Selbstdenken und Selbstbestimmung. 24 1 Weshalb sollen wir lernen, selbst zu urteilen und zu denken? 1.3 Der Wahrheit verpflichtet. Das Ethos moderner Wissenschaft (Weber) Wahrheitssuche in der Scientific Community. In diesem Kapitel geht es um die moderne Wissenschaft und ihr Selbstverständnis. Der Zusammenhang zwi‐ schen Wissenschaft und Selbstdenken wird weiter unten klar werden. Zum Ethos (im Sinne von attitude oder Einstellung) der modernen Wissenschaft gehört es, einer objektiven oder auch intersubjektiven Wahrheit verpflichtet zu sein, welche niemand für sich allein herausfinden und besitzen kann. Seit Francis Bacon (1561-1626) entfernt sich die moderne Wissenschaft vom Vorbild des einzelnen genialen Forschers, seinen besonderen Ideen und Einfällen und seinem exklusiven Zugang zur Wahrheit. Hintergrund: Einiges am erfolgreichen Vorgehen der modernen Wis‐ senschaft geht auf Francis Bacon zurück. Man solle nicht immer weiter Gründe dafür suchen, was man für wahr halte, sondern solle versuchen, es zu widerlegen. Denn dazu reiche ein einziges Gegen‐ beispiel. Auch sollten die Forschenden skeptisch gegenüber ihren Grundannahmen über die Welt bleiben, es könnten Vorurteile sein. Stattdessen wird die Wahrheitssuche auf viele Schultern verteilt. Eine Community der Forschenden, so die neue Idee, produziert Hypothesen und Forschungsergebnisse und stellt sie einander vor. Die gegenseitige Kritik an den Hypothesen und an den Ergebnissen garantiert ein möglichst objektives Wissen, aus dem alle subjektiven Anteile entfernt worden sind. Denn indem die einzelnen Forscher: innen und die einzelnen Arbeitsgruppen stets damit rechnen müssen, von den anderen, mit ihnen konkurrierenden Wissenschaftler: innen auch noch der kleinsten Fehler überführt zu werden, kommt es erst gar nicht zu Behauptungen, die nicht abgesichert sind. Die Forschung geht immer weiter. Prinzipiell ist diese Art und Weise, wie moderne Wissenschaft vorgeht, unabschließbar. Sie kommt nie an ein Ende, weil jedes Ergebnis neue Fragen aufwirft und weil die Community der Forschenden immer wieder ganz neue Perspektiven einbringt. Dieses objektive, in der Scientific Community immer weiter vertiefte Wissen gehört zum Ideal und zum Paradigma der modernen Wissenschaft. 25 1.3 Der Wahrheit verpflichtet. Das Ethos moderner Wissenschaft Das Ethos der Forschenden. Aber auch die einzelnen Forschenden sind einem bestimmten Ethos verpflichtet. Sie setzen die Sache an die erste Stelle. Sie versuchen, ihre Ergebnisse möglichst verständlich darzustellen, um so gemeinsam mit anderen das beste Argument oder die beste Lösung zu finden. Die Forschenden beugen sich dem besseren Argument, der besseren Deutung und Interpretation bestimmter Ergebnisse oder auch dem besseren wissenschaftlichen Modell. Und die eigenen Vorschläge für solche Modelle müssen möglichst objektiv sein, man muss sie reinigen von subjektiven Urteilen oder Vorannahmen, die einem unterlaufen, ohne dass man sie überhaupt bemerkt. Die Wahrheit über die Wirklichkeit herauszufinden, das ist stets wichtiger als man selbst. Der Soziologe Max Weber (1864-1920) hat diesen Zusammen‐ hang für das Ethos der modernen Forschenden exemplarisch formuliert. Hintergrund: Max Weber hat gezeigt, wie durch und durch rational unsere moderne Kultur ist. Prinzipiell kann alles wissenschaftlich erklärt werden (Entzauberung der Welt). Wissenschaft darf nicht in eine bestimmte Richtung gedrängt werden, die irgendjemand als wünschenswert erscheint (Wertfreiheit). Als Wissenschaftler: innen möchten wir vielleicht für geniale Ergebnisse gefeiert werden. Noch wichtiger ist uns aber, dass diese Ergebnisse kleine Bausteine der Forschung sind, auf denen andere weiter aufbauen können. Wir arbeiten für die Sache, nicht für uns selbst. […] jede wissenschafliche ‚Erfüllung‘ bedeutet neue ‚Fragen‘ und will ‚überboten‘ werden und veralten. […] Wissenschaftlich aber überholt zu werden, ist […] nicht nur unser aller Schicksal, sondern unser aller Zweck. Wir können nicht arbeiten, ohne zu hoffen, daß andere weiter kommen werden als wir. (Weber 1922 (b), 534, Hervorhebung i. O.) Uns selbst durchschauen und in der Forschung Wertfreiheit anstreben. Doch Weber geht noch einen Schritt weiter. Bescheidenheit bedeutet nicht nur zurückzutreten, wenn andere Forschende weiterkommen als wir. Sondern Bescheidenheit meint auch, sich darüber klar zu werden, wo in der eigenen Forschung die Tatsachen aufhören und die eigenen Bewertungen anfangen. Als Forschende, insbesondere in den Sozial-, Kultur- und Geisteswissen‐ 26 1 Weshalb sollen wir lernen, selbst zu urteilen und zu denken? schaften, sollen wir immer besser auch uns selbst und unser Denken durch‐ schauen: Was ist objektive Tatsache und was ist subjektive Bewertung? Weber fordert, […] sich selbst unerbittlich klar zu machen: was von seinen jeweiligen Ausführun‐ gen entweder rein logisch erschlossen oder rein empirische Tatsachenfeststellung und was praktische Wertung ist. Dies zu tun allerdings scheint mir direkt ein Gebot der intellektuellen Rechtschaffenheit […]. (Weber 1922 (a), 452 f., Hervor‐ hebung i. O.) […] daß wenn der Lehrer praktische Wertungen sich nicht versagen zu sollen glaubt, er diese als solche den Schülern und sich selbst absolut deutlich mache. (Weber 1922 (a), 460, Hervorhebung i. O.) Was aber heute der Student im Hörsaal doch vor allen Dingen von seinem Lehrer lernen sollte, ist: 1. die Fähigkeit, sich mit der schlichten Erfüllung einer gegebenen Aufgabe zu bescheiden; - 2. Tatsachen, auch und gerade persönlich unbequeme Tatsachen, zunächst einmal anzuerkennen und ihre Feststellung von der bewertenden Stellungnahme dazu zu scheiden; - 3. seine eigene Person hinter die Sache zurückzustellen […]. (Weber 1922 (a), 455, Hervorhebung i. O.) Zur modernen Wissenschaft und ihrer Wahrheitssuche gehört es also, Tatsachen einerseits und bewertende Urteile andererseits voneinander zu trennen. Das bedeutet, den eigenen, individuellen Standpunkt zunächst zurückzunehmen. Intellektuelle Rechtschaffenheit als Tugend. Bescheiden sein, sich gegen‐ seitig Rechenschaft geben, sich dem besseren Argument beugen, unbequeme Tatsachen akzeptieren und Tatsachen von Bewertungen trennen - Weber nennt dies intellektuelle Rechtschaffenheit. Er hat das Ethos moderner Wissenschaft exemplarisch in seinen Aufsätzen Der Sinn der ‚Wertfreiheit‘ in den soziologischen und ökonomischen Wissenschaften (1917/ 18) und Wis‐ senschaft als Beruf (1919) formuliert. Mit Wertfreiheit ist gemeint, dass die Wahrheitssuche der Wissenschaft keinen ideologischen Interessen oder Weltbildern folgen, sondern sich nur an eine Tugend, die intellektuelle Rechtschaffenheit, halten soll. Weber spricht davon, […] daß deshalb die ‚intellektuelle Rechtschaffenheit‘ die einzige spezifische Tugend sei, zu der sie [die Wissenschaftler: innen ihre Studierenden, Ph.Th.] zu erziehen haben. (Weber 1922 (a), 453) 27 1.3 Der Wahrheit verpflichtet. Das Ethos moderner Wissenschaft […], daß innerhalb der Räume des Hörsaals nun einmal keine andere Tugend gilt als eben: schlichte intellektuelle Rechtschaffenheit. (Weber 1922 (b), 555) Aber ich will gar keine Wissenschaft betreiben. Blicken Sie von hieraus zurück auf die Frage Ihrer Schüler: innen, weshalb sie das Selbstdenken und das Argumentieren lernen sollen. In diesem Kapitel (1.3) ging es nicht um Lösungen in einer sich laufend ändernden Welt (1.1) und auch nicht um Selbstdenken als Menschenrecht (1.2). Zudem möchten Ihre Schüler: innen später vielleicht gar keine Wissenschaft betreiben. Doch vieles spricht dafür, dass der Erfolg und die Geschwindigkeit, mit der die moderne Wissenschaft fortschreitet, nicht zuletzt auf ihr spezifisches, hier beschriebenes Vorgehen zurückzuführen ist: Alles muss nachvollziehbar begründet sein, alles muss jederzeit von allen kritisierbar sein. So funktioniert eine effektive Lösungs‐ suche. Diese Effektivität ist an einen Ethos gebunden, Weber spricht von der intellektuellen Rechtschaffenheit. Dies ist ein Ideal, ein moderner Wert und soll das Bildungsziel des Selbstdenkens beflügeln. Wissenschaftliche Wahrheitssuche und Selbstdenken. Das Vorgehen der Wissenschaft hat viele Parallelen zum Selbstdenken und Argumentieren, denn der eigene Standpunkt muss stets gegenüber der möglichen Kritik anderer vertreten werden, er muss durch Argumente gestützt werden, die man selbst vielleicht entwickelt hat, die aber von den anderen auch verstan‐ den und akzeptiert werden müssen. Wer immer Lösungen sucht, die besser sind als die konkurrierenden Vorschläge anderer zur Lösung derselben Probleme, ob in der Wissenschaft oder wenn es um die eigene Meinung zu einer wichtigen Frage geht, sollte dem Ethos der wissenschaftlichen Wahrheitssuche folgen. Selbstdenken und intellektuelle Rechtschaffenheit sind Ideale schon in der Schule. Argumentieren, Begründen, Kritisieren, der Wahrheit verpflichtet sein - dies sind Fähigkeiten, welche die moderen Kultur braucht (Kap. 1.1), welche die Aufklärung als Menschenrecht entdeckt (Kap. 1.2) und welche die moderne Wissenschaft erfolgreich machen (Kap. 1.3). Daher ist Selbstdenken ein Bildungsziel. 28 1 Weshalb sollen wir lernen, selbst zu urteilen und zu denken? 1.4 Selbstdenken, Wahrheitssuche und Argumentieren Selbstdenken ist mehr als eine private Ansicht zu äußern. Ihre Schüler: innen sollen lernen, ihre eigene Meinung durch Gründe zu stützen und für andere nachvollziehbar zu machen. Sie sollen lernen, mit Kritik und mit Gegenar‐ gumenten umzugehen. Sie sollen auch lernen, den Zwang des besseren Arguments anzuerkennen. Sie sollen lernen, was es heißt, gemeinsam nach der Lösung eines Problems oder gar nach dem besten Modell der Wirklichkeit, ja, nach der Wahrheit zu suchen. Regeln des Argumentierens einerseits. Geht es hier nicht einfach um bestimmte Regeln des Argumentierens, die erlernt werden sollen? Das richtige Argumentieren scheint einfach eine formale Fähigkeit zu sein (Schleichert 2004): So darf man sich in seiner Argumentation zum Beispiel nicht widersprechen, man muss stringent und folgerichtig seine Gedanken entwickeln und weitere Regeln beachten, um eine gewisse Fairness der Diskussion zu gewährleisten. Oder man soll mit seinen Argumenten nicht persönlich werden und die sogenannten Argumente ad hominem vermeiden, also Argumente, die auf die Person selbst zielen und diese etwa in ihrer Glaubwürdigkeit angreifen, statt sich auf die Sache zu beziehen, die sie mit Argumenten vertritt (Schleichert 2004, 43 ff.). Ethos des Argumentierens andererseits. Doch beim Bildungsziel Selbstden‐ ken und Ethos der Wahrheitssuche geht es um mehr als um Argumentations‐ regeln. Denn im Fokus steht nicht einfach ein erfolgreiches Argumentieren, sondern ein Wert, ein Ethos, eine moralische Gesinnung. Genauer gesagt geht es um die Unterscheidung zwischen einem Argumentieren, das der Wahrheitssuche dient und einem ganz anderen Argumentieren, das der möglichst effektiven Durchsetzung bestimmter Interessen dient. Letzteres können wir vom Ethos der Wahrheitssuche dadurch unterscheiden, dass wir es als instrumentelles, also als zweckgerichtetes Argumentieren bezeichnen. Wahrheit versus Interesse. Was genau unterscheidet die Wahrheitssuche mit der Tugend der intellektuellen Rechtschaffenheit (Weber) einerseits (und für diese wollen Sie Ihre Schüler: innen begeistern) und andererseits das zweckgerichtete Argumentieren? Hier stoßen wir wieder auf die moderne Einsicht ins Nichtwissen. Nichtwissen im prinzipiellen Sinn behandelt das Kapitel 4 (Kant: Erkenntnistheorie). Hier ist mit Nichtwissen dagegen gemeint: Eine Generation kann nicht für die nächste entscheiden (s. o.; Kant: Was ist Aufklärung? ). Während wir bei der intellektuell redlichen Wahrheitssuche die Wahrheit noch nicht kennen, sondern sie in der Aus‐ 29 1.4 Selbstdenken, Wahrheitssuche und Argumentieren einandersetzung mit anderen suchen und ihr näher kommen wollen, scheint in der instrumentellen Vernunft die ‚Wahrheit‘ schon bekannt zu sein und soll nun von ihren Vertreter: innen argumentativ durchgesetzt werden. Oft ist diese ‚Wahrheit‘ eine Art Interesse. Beim Ethos der Wahrheitssuche, die gewissermaßen stets ‚auf dem Weg‘ ist, sagen wir sinngemäß: Dies ist mein Argument, ich habe versucht, es sehr stark und überzeugend zu machen. Aber vielleicht habt Ihr ein besseres Argument, das mich überzeugen könnte? Dann werde ich es akzeptieren. Im Rahmen des zweckgerichteten Argumentierens dagegen bedienen wir uns einer ganz anderen Argumenta‐ tion und Kommunikation, man kann sie persuasive (überredende) Kommu‐ nikation nennen. Hier versuchen wir, unser Gegenüber von einer ‚Wahrheit‘ zu überzeugen, die für uns schon feststeht. Wir sind nicht mehr offen, weil wir von einem vermeintlichen Wissen ausgehen und nicht, wie bei der Wahrheitssuche, vom Nichtwissen. Persuasives Argumentieren. Persuasiv kommunizieren wir zum Beispiel, wenn wir etwas verkaufen wollen, sogar, wenn wir uns selbst sozusagen ‚verkaufen‘ wollen, etwa wenn wir flirten (Schönbach 2019). Auch wenn wir zum Beispiel ein Team führen müssen, werden wir eher persuasiv kommunizieren und argumentieren und meist im Dienste bestimmter In‐ teressen sprechen (Schönbach 2019). Diese Interessen und Ziele können durchaus legitim sein. Entscheidend ist, dass wir, anders als beim Ethos der Wahrheitssuche, in der persuasiven Argumentation schon am Ziel sind. Zuerst steht fest, was richtig ist, zuerst ist klar, dass wir bestimmte Interessen durchsetzen möchten. Dann suchen wir die richtigen Argumente dazu und versuchen, die anderen von unserem Standpunkt, also von unserem Ziel, unserem Interesse, zu überzeugen. Was soll die Jugend lernen? Beim Ethos der Wahrheitssuche dagegen sind wir keinem Interesse verpflichtet, sondern allein der Wahrheit, konkret der bestmöglichen Antwort auf eine offene Frage. Selbst wenn diese Antwort für uns unbequem sein sollte und unseren Interessen im Extremfall sogar zuwiderläuft: Das Argumentieren wird nicht in den Dienst von Interessen, sondern in den Dienst eines Zwangs des besseren Arguments gestellt, in den Dienst der bestmöglichen Lösung. Schauen Sie von hieraus wieder zurück auf die Fragen Ihrer Schüler: innen. Jetzt können Sie genauer sagen, was es ist, dass die junge Generation lernen soll. Zunächst: Es geht nicht einfach um die Abfrage privater Meinungen, sondern um das Argumen‐ tieren und Begründen. Die junge Generation soll das Selbstdenken und das Argumentieren nicht im Sinne der geschickten Durchsetzung eigener 30 1 Weshalb sollen wir lernen, selbst zu urteilen und zu denken? Interessen lernen. Sondern es kommt darauf an, dass sie eingeführt wird in das Ethos der Wahrheitssuche. Dass sie lernt, im Dienste von Lösungen zu argumentieren, welche es nicht schon gibt. Kulturelle Werte. Über dem Kapitel Einführung steht das Zitat von Häuptling Seattle. Er spüre nicht, so der Indianerhäuptling, was der weiße Mann seinen Kindern an langen Winterabenden erzähle. Das Ethos der Wahrheitssuche und das Selbstdenken sind Werte - und Beispiele für solche Erzählungen. Argumentieren im Dienste der Wahrheitssuche kennt die Wahrheit noch nicht und unterwirft sich dem Zwang des besseren Arguments. Persuasives Argumentieren kennt die ‚Wahrheit‘ bereits (meist: eigene Interessen) und sucht nach dazu passenden Argumenten so lange, bis die anderen ‚überzeugt‘ sind. Ihre Antwort auf die Frage Ihrer Schüler: innen: Weshalb soll ich lernen, selbst zu urteilen und zu denken? Steht nicht schon fest, was richtig und was falsch ist? So könnten Sie antworten: ▸ Unsere Generation kann für Eure nicht einfach alles entscheiden. Wir können Euch aber das Selbstdenken und Argumentieren beibringen. ▸ Das ist nötig, weil die besten Lösungen für neue Probleme nur im Austausch der besten Argumente gefunden werden können. Dazu ist auch Pluralität wichtig, dass es also eine Art ‚Pool‘ verschiedener Ansichten gibt. ▸ Irgendwann, wenn wir Lehrkräfte alt geworden sind, müssen wir mit einem guten Gefühl ‚den Staffelstab übergeben‘ können an Euch. ▸ Selbstdenken und Selbstbestimmung ist für unsere Kultur der Moderne auch ein Wert an sich, ja, Euer Menschenrecht. ▸ Begründen und Argumentieren bedeutet mehr als andere zu über‐ reden. Es glaubt nicht, die Wahrheit schon zu besitzen, sondern folgt dem Ethos der gemeinsamen Wahrheitssuche. 31 1.4 Selbstdenken, Wahrheitssuche und Argumentieren Wenn Sie sich noch weiter interessieren Als Einführung in das formal richtige Argumentieren siehe SCHLEICHERT 2004. Interessant ist besonders der Versuch des Autors, richtige Argumenta‐ tionsstrategien im Umgang mit fundamentalistischen Positionen zu finden. Für Persuasive Kommunikation siehe SCHÖNBACH 2019. Das Ethos der modernen Wahrheitssuche hat insbesondere auch KARL POPPER beschrieben, siehe POPPER 2013 für den Bereich Wissenschaft und POPPER 1992 für den Bereich Gesellschaft. Dass Wissenschaft völlig frei von Werturteilen sein soll, wie MAX WEBER forderte, ist auch bestritten worden und hat zum sogenannten Werturteils‐ streit und Positivismusstreit geführt, siehe einführend Wikipedia. 32 1 Weshalb sollen wir lernen, selbst zu urteilen und zu denken? 2 Ist Vernunft wirklich so wichtig? (Aristoteles, Epikur, Epiktet) Die Vernunft nämlich ist das Beste in uns. A R I S T O T E L E S (Nikomachische Ethik, 1177a19) Worum geht es? Was ist der Mensch? Im Fach Biologie heißt es, Tiere seien durch ihre Instinkte gesteuert, nur der Mensch habe Vernunft. In Geschichte wer‐ den besondere Zeitalter der Vernunft gepriesen, etwas die griechische Antike oder die moderne Aufklärung. In Fächern wie Gemeinschafts‐ kunde oder Ethik präsentieren Sie Ihren Schüler: innen anschauliche Fälle, in denen es um schwierige Entscheidungen geht. Und die ver‐ nünftige Lösung scheint immer die bessere Lösung zu sein. Schließlich: In Deutsch oder den Fremdsprachen lernen Ihre Schüler: innen in der Literatur Menschen kennen, die durch Vernunft ihre Schwächen oder ihre Leidenschaften überwinden und vernünftig und zugleich besonders gut handeln. Überall scheint zu gelten: Auf die Vernunft kommt es an! Irgendwann wird Ihren Schüler: innen das zu einseitig. Sie sagen: Wir lernen immer, dass alles Emotionale unwichtig und erst die vernünfti‐ gen Gedanken gut sind. Dabei funktioniert die Welt doch ganz anders. Es geht um Spaß und Lust, auch mal um Lust an der Rache! Die Schule soll uns auf das Leben vorbereiten - und uns nicht in irgendwelche höheren Welten führen, die uns nachher doch nichts nützen. Weshalb sollen wir immer vernünftig sein? Ist Vernunft wirklich so wichtig? In diesem Kapitel erfahren Sie, wie Sie auf solche Fragen Ihrer Schü‐ ler: innen antworten können. Genauer geht es um Folgendes: ▸ Woher kommt diese Traditon und was ist von ihr zu halten, dass die Vernunft immer das Höhere im Vergleich zu allem anderen ist? ▸ Wie können Sie Ihren Schüler: innen anschaulich machen, dass die Vernunft tatsächlich etwas Großes ist, auf das wir stolz sein können und das wir entwickeln sollen - dass es aber auch noch anderes Großes gibt? ▸ Wie können Sie Ihre Schüler: innen ganz konkret für das Vernünf‐ tigsein motivieren? 2.1 Aristoteles zeigt, wie das vernünftige Leben das beste Leben ist Vernunft ist Unabhängigkeitskompetenz. Weshalb hat Vernunft in unserer Tradition einen so hohen Stellenwert? Dies lässt sich gut anhand eines einzigen Werkes verständlich machen, nämlich der Nikomachischen Ethik des Aristoteles (Kap. 2.1), ergänzt durch Gedanken anderer Philosophen, nämlich Epikur (Kap. 2.2) und Epiktet (Kap. 2.3). Diese aus der griechischen Antike stammenden Gedanken sind für unsere Kultur überaus bedeutend und einflussreich. Um gleich anzudeuten, wohin die Reise geht: Bei der Vernunft geht es um so etwas wie Unabhängigkeitskompetenz. Ja, die Welt funktioniert nicht unbedingt nach Prinzipien der Vernunft und dies gilt auch für uns selbst. Unser Leben ist zunächst einmal nicht vernünftig. Und gerade deshalb ist es gut, über die Kompetenz zu verfügen, immer wieder frei zu werden von den ‚unvernünftigen‘ Kräften und Leidenschaften, nämlich durch die Kraft der Vernunft. Hintergrund: Vernunft, das ist hier kein anthropologisch-beschrei‐ bender Begriff, er bezeichnet nicht das Wesen des Menschen. Er bezeichnet auch nicht einfach unsere kognitiven Fähigkeiten, dafür sagt man eher Verstand. Sondern hier geht es um die Fähigkeit einer bestimmten Beziehung zu uns selbst, z. B., dass wir uns durch Vernunft immer wieder befreien können von unseren Ängsten oder Antrieben. Die Nikomachische Ethik. Aristoteles (384-322) war Schüler Platons in dessen Akademie in Athen, wurde später Lehrer Alexander des Großen in Makedonien, danach lehrte und forschte er in Athen. Aristoteles ist durch seine Werke in der Philosophie bedeutend und er wurde von der christlichen und der islamischen Theologie rezipiert. Zugleich aber ist Aristoteles ebenso bedeutend in der Wissenschaft. 34 2 Ist Vernunft wirklich so wichtig? Hintergrund: Logik: Wie muss man formal richtig argumentieren? Rhetorik: Wie kann man überzeugend reden? Metaphysik: Aus was besteht die Welt im Innersten? Ob Logik oder Rhetorik, ob Metaphysik oder Staatslehre, ob Theorie der Dichtkunst oder Naturwissenschaft, Aristoteles hat in all diesen Bereichen Werke verfasst, die für Jahrhunderte einen sehr großen Einfluss gehabt haben. Bis heute erforschen weltweit Philosoph: innen sein Denken und versuchen es weiterzuentwickeln. Ein besonders bedeutendes Werk ist seine Nikomachische Ethik, deren Name sich vielleicht auf seinen Sohn bezieht, der Nikomachos hieß. Viele Themen sind es, die Aristoteles in dieser Ethik behandelt, sie reichen von der Frage nach dem Glück, der Bestimmung der Tugenden, dem Nachdenken über Staatsformen und über die Bedeutung der Freundschaft bis hin zur Frage, welche Lebensform für den Menschen als die höchste gelten kann. Und hier wird Aristoteles’ Antwort sein, dass der Mensch dann sein eigentliches Ziel erreicht, wenn er sein Leben nach der Vernunft ausrichtet. Wie ist dies gemeint, was hat das mit dem gerade verwendeten Begriff Unabhängigkeitskompetenz zu tun und wie kann uns Aristoteles’ Aussage weiterhelfen, das beste Leben sei das gemäß der Vernunft geführte? Worin besteht das wahre Leben? Schauen wir Aristoteles dabei zu, wie er in seiner Nikomachischen Ethik nach dem richtigen Leben fragt und wie er das Leben sucht, das uns Menschen eigentlich angemessen ist. Am Ende wird seine Antwort sein, dass die Eudaimonia, meist übersetzt als Glückseligkeit, das höchste Ziel des menschlichen Lebens ist. Und wenn wir ihn fragen, in welchem Zustand oder in welcher Tätigkeit genau die Glückseligkeit, die Eudaimonia, besteht, dann wird Aristoteles antworten: Glückseligkeit besteht für uns Menschen nicht darin, worin wir sie vermuten, nämlich in körperlichem Genuss oder in Reichtum oder in Erfolg und sozialer Anerkennung, auch nicht in großer Macht oder großem Einfluss - sondern Glückseligkeit besteht darin, dass wir uns selbst durch Vernunft bestimmen. Aber gehen wir Schritt für Schritt vor und verfolgen wir mit, wie Aristoteles zu diesem überraschenden Ergebnis kommt. Schritt Eins: Finde Handlungen, die kein äußeres Ziel mehr haben, sondern sich selbst genügen. Aristoteles schickt uns auf die Suche nach derjenigen Tätigkeit, die ihren Zweck in sich selbst hat, die Ziel und Ende all unseres 35 2.1 Aristoteles zeigt, wie das vernünftige Leben das beste Leben ist Handelns ist und dieses Ziel wird zunächst noch ganz formal bezeichnet als Eudaimonia, als Glückseligkeit. […] Es zeigt sich aber ein Unterschied in den Zielen: denn die einen sind Tätig‐ keiten, die andern sind bestimmte Werke außer ihnen. Wo es Ziele außerhalb der Handlungen gibt, da sind ihrer Natur nach die Werke besser als die Tätigkeiten. […] Wenn es aber ein Ziel des Handelns gibt, das wir um seiner selbst willen wollen und das andere um seinetwillen; wenn wir also nicht alles um eines andern willen erstreben […], dann ist es klar, daß jenes das Gute und das Beste ist. (Aristoteles 1986, 55) Praktisch alles tun wir nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zu einem der Handlung äußeren Zweck. So studieren Sie nicht als Selbstzweck, sondern um später einen Beruf ausüben zu können, um dabei Geld zu verdienen, um davon wiederum Ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Denkt man so über das eigene Leben nach, dann stellt sich tatsächlich bald die Frage nach dem Sinn des Ganzen: Wozu sollen wir denn unseren Lebensun‐ terhalt verdienen? Um Kinder zu bekommen und diesen zu ermöglichen aufzuwachsen? Oder für teure Urlaube und Hobbys? Und der Sinn der Existenz unserer Kinder? Auf diese Weise ließe sich immer weiter fragen. Die philosophische Analyse menschlicher Handlungen in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles durchbricht diese trüben und endlosen Gedanken, denen früher oder später alles sinnlos vorkommt. „Fast alles begehren wir als Mittel, ausgenommen die Glückseligkeit. Denn sie ist das Ziel“ (Aristoteles 1986, 294). Tugendhaftes Handeln ist nicht auf äußere Zwecke bezogen, sondern genügt sich selbst. Doch Handlungen, die wir nicht um eines äußeren Ziels, sondern um ihrer selbst willen tun, gibt es einige - die Glückseligkeit ist nur deren höchste. Wir sind im Flow, sagt man in der Psychologie, wenn wir in einer Handlung ganz aufgehen. Dies erinnert an Aristoteles’ selbstzweckhafte Handlungen. Aber Achtung: Eudaimonia ist dem Leben gemäß der Vernunft vorbehalten, also nicht einfach gleichbedeutend mit Flow. Daher: der Reihe nach. Aristoteles beschreibt verschiedene Handlungen, die wir nicht als Mittel, sondern als Zweck tun. Solche Handlungen sind Kandidat: innen für den Sinn in unserem Leben. Ein Beispiel für sich selbst genügende Handlungen sind tugendhafte Handlungen. Bei denen wissen wir, dass unser Handeln einfach so und so sein soll, hier fragen wir nicht nach einem äußeren Sinn, einem Zweck. 36 2 Ist Vernunft wirklich so wichtig? Und an sich begehrenswert sind die Tätigkeiten, bei denen man nichts weiter sucht als die Tätigkeit selbst. Diesen Charakter scheinen die tugendgemäßen Handlungen zu haben, da es an sich begehrenswert ist, schön und tugendhaft zu handeln. (Aristoteles 1986, 293) Wir wissen, dass es sich einfach gehört, dass wir uns tugendhaft verhalten. Ein sehr einfaches Beispiel, die Tugend der Gastfreundschaft: Stellen Sie sich vor, Sie halten Ihr Geld zusammen, Sie lieben es, sparsam zu sein. Da kündigen sich spontan Gäste an. Plötzlich fällt es Ihnen leicht, etwas Gutes zu Essen oder zu Trinken zu besorgen und dafür auch einiges an Geld auszugeben. Denn das gehört sich so. Und das meinen Sie nicht nur in einem äußerlichen Sinn und Sie schielen auch nicht auf einen Nutzen für sich selbst, zumindest nicht, wenn Ihnen an Ihren Gästen wirklich etwas liegt. Sondern die Gastfreundschaft macht Ihnen Freude, ein Stück Leben geht hier gewissermaßen auf wie eine Blüte und kommt an sein Ziel. Ein Stück Lebenssinn: die selbstzweckhafte Handlung. Gehen Sie in sich und fragen sich genauer, was Sie damit meinen, wenn Sie sagen, es gehöre sich, Gäste gut zu empfangen und zu bewirten. Vielleicht denken Sie dann an das Folgende. Mit dieser tugendhaften Handlung, so könnten Sie es beschreiben, identifiziere ich mich maximal, in ihr komme ich gewissermaßen selbst vor. An dieser kleinen Stelle meines Lebens erfüllt sich dieses Leben, hier scheint alles fraglos, hier ist die Kette durchbrochen, in der jede Handlung im Dienste von etwas anderem getan wird. Meine Gäste liebevoll und aufwändig zu empfangen und zu bewirten, das ist ein Stück Lebenssinn. Sie könnten es auch so ausdrücken: Bei tugendhaften Handlungen müssen wir nicht weiter fragen, wozu das gut ist, sondern diese Handlungen tragen ihren Sinn, ihren Zweck schon in sich. Genau das möchte Aristoteles damit sagen, dass wir zwar fast alles als Mittel zu einem anderen Zweck tun, dass aber tugendhafte Handlungen selbstzweckhafte Handlungen sind. Schritt zwei: Finde innerhalb des tugendhaften Handelns die höchste Form, finde die höchste Tugend. Im Feld der selbstzweckhaften Handlungen, also der tugendhaften, müssen wir nun die oberste dieser Handlungen suchen und das ist dann die Eudaimonia, die Glückseligkeit. Diese Suche kann dadurch gelingen, dass wir fragen, was die höchste und eigentliche Tugend des Menschen ist oder auch: die dem Menschen angemessenste. Es gibt für Aristoteles also eine gewisse Hierarchie der Tugenden im Menschen und es ist unschwer zu erkennen, dass eine bestimmte Anthropologie hinter dieser Hierarchie steckt. Aristoteles schreibt: 37 2.1 Aristoteles zeigt, wie das vernünftige Leben das beste Leben ist Nun ist jedem [gemeint sind die verschiedenen Gruppen von Lebewesen, Ph.Th.] diejenige Tätigkeit am liebsten, die seiner eigentümlichen Art entspricht. (Aristoteles 1986, 294) Welche mag sie [die für den Menschen wichtigste Tätigkeit, die seiner eigentüm‐ lichen Art entspricht, Ph.Th.] nun wohl sein? Das Leben offenbar nicht, denn dies besitzen auch die Pflanzen, wir suchen aber das dem Menschen Eigentümliche. Das Leben der Ernährung und des Wachstums ist also auszuscheiden. Es würde darauf das Leben der Wahrnehmung folgen, aber auch dieses ist uns gemeinsam mit dem Pferde und Rinde und allen Tieren überhaupt. Es bleibt also das Leben in der Betätigung des vernunftbegabten Teiles übrig. (Aristoteles 1986, 66) Der Geist [νους, Geist, Vernunft, Ph.Th.] nämlich ist das beste in uns, und die Objekte des Geistes sind wieder die besten im ganzen Bereich der Erkenntnis. (Aristoteles 1986, 295) Das Vernunftwesen Mensch ist am meisten in der Vernunft es selbst. Wenn das Wichtigste am Menschen das Erkennen durch die Vernunft ist (also nicht etwa nur sinnliche Erfahrung), dann müssen wir hier, in diesem Bereich suchen, wenn wir das höchste selbstzweckhafte Handeln finden wollen, die Eudaimonia. Während wir mit allen Lebewesen das Leben und Wachsen und mit den Tieren die Wahrnehmungsfähigkeit gemeinsam haben, kommt nur den Menschen die Vernunftbegabung zu. Die angemessenste Tätigkeit des Menschen ist für Aristoteles daher die der Vernunft gemäße: Denn mag es [die Vernunft als das Beste im Menschen, Ph.Th.] auch klein an Umfang sein, ist es doch an Kraft und Wert das bei weitem über alles Hervorragende. […] Was einem Wesen von Natur eigentümlich ist, ist auch für es das beste und genußreichste. Für den Menschen ist dies das Leben gemäß dem Geiste, da ja dieses am meisten der Mensch ist. (Aristoteles 1986, 297 f.) Verwirklichung als Vernunftwesen. Worin besteht der Zusammenhang zwi‐ schen der Tugend und der Tätigkeit der Vernunft? Aristoteles meint, dass auch die Vernunft eine Tugend ist. Vereinfacht gesagt: Der Mensch ist ein soziales Wesen und (unter anderem) in der Gastfreundschaft verwirklicht er dieses Wesen. Dafür muss er z. B. seine egoistische Sparsamkeit überwinden. Er ist aber nicht nur ein soziales, sondern vor allem ein Vernunftwesen - und im Leben gemäß der Vernunft verwirklicht er sich als Vernunftwesen. Dafür muss der Mensch frei werden von seinen Leidenschaften, etwa seinen übertriebenen Ängsten und Begierden, frei werden von seinen Bedürfnissen 38 2 Ist Vernunft wirklich so wichtig? nach Anerkennung und Erfolg. Wie in der Gastfreundschaft ist das Leben hier momentweise am Ziel, die Frage nach einem äußeren Ziel, für das das Vernünftigsein ein Mittel wäre, ist überflüssig. Innerhalb der selbstzweck‐ haften, der tugendhaften Handlungen gibt es eine Hierarchie. Hier steht die Vernunft ganz oben - weil sie dem Menschen das Angemessenste ist, weil einzig der Mensch Vernunft hat. Wunderbare Vernunft. Was heißt Vernunft nun konkret? Die Tätigkeit der Vernunft, verstanden auch als menschliche Sinnerfüllung, besteht im Erkennen und Verstehen der Welt und in einem Leben, das der Weisheit folgt. Dieses Erkennen und Verstehen ist z. B. eine sehr genussreiche Tätig‐ keit. Nun ist aber unter allen tugendgemäßen Tätigkeiten die der Weisheit zugewandte eingestandenermaßen die genußreichste. Und in der Tat bietet die Philosophie Genüsse von wunderbarer Reinheit und Beständigkeit. (Aristoteles 1986, 295 f.) Weiter begeistert sich Aristoteles für mehrere günstige Eigenschaften der Vernunft (Aristoteles 1986, 296 f.): Zum Betrachten, Erkennen und Nach‐ denken braucht man nur sich selbst - und keine weiteren Gegenstände oder Umstände, welche unsere Hobbys oft so teuer machen. Und, noch ein Argument, mit der Muße ist eigentlich nur die Tätigkeit der Vernunft vereinbar. Das Theoretisieren, das Nachdenken, die Betrachtung von Weis‐ heiten, es stört die Muße nicht, ist sogar förderlich für diese - anders als Krieg zu führen, den Staat zu lenken, anders als Streben nach Ehre und Macht. Letztere Tätigkeiten schließen die Muße aus. Ein letzter Vorteil der Vernunft: Man kann sie völlig ermüdungsfrei ausüben, das Denken geht von selbst immer weiter. Zugegeben, die Vernunft hat einige prinzipielle Vorteile, doch ist sie deshalb gleichbedeutend mit Glückseligkeit? Zwar können wir nachvollziehen, wie Aristoteles dies ungefähr meint, aber wenn wir nicht ohnehin schon seiner Meinung waren, wird uns diese Ableitung aus der Definition des Menschen als vernünftiges Lebewesen, dass nämlich die Eudaimonia in der Vernunft liegt, nicht ohne weiteres überzeugen. Doch es gibt noch einen anderen Weg, uns und unsere Schüler: innen von den Vorzügen der Vernunft zu überzeugen. Schritt drei: Eudaimonia ist Leben gemäß der Vernunft - gemäß der Unabhängigkeitskompetenz. Vernunft bedeutet frei zu werden von dem, was normalerweise unser Leben bestimmt. Ruhm und Ehre, Vergnügungen und Zeitvertreib, Anerkennung und Bewunderung und vieles mehr: In unserem Alltag jagen wir vielen Zielen hinterher und sind Spielball unserer 39 2.1 Aristoteles zeigt, wie das vernünftige Leben das beste Leben ist Bedürfnisse. Immer haben wir Angst, zu kurz zu kommen und schauen ängstlich auf die anderen. Aristoteles möchte uns zeigen, worauf es wirklich ankommt. Und dies ist nichts Übliches, also gerade nicht Ruhm, Ansehen usw. Alle normalen Lebensziele werden eingeklammert und sind nicht mehr wichtig. Es geht um eine Art Verwesentlichung des Lebens, die vor allem in einer großen Souveränität und Freiheit gegenüber unseren mächtigen Bedürfnissen besteht. So müssen wir uns das freie, vernunftgeleitete Leben vorstellen, Aristoteles’ Ideal. Vernunft ist nicht normal. Noch einmal in aller Deutlichkeit: Indem die üblichen und alltäglichen Zwecke unseres Lebens eingeklammert werden, wird jenes, worauf es für Aristoteles in unserem Leben eigentlich ankommt, gerade jenseits von dem gesucht, was für uns zunächst normal ist. Man kann also sagen, Aristoteles verabschiede Normalität - und bestimme stattdessen das richtige Leben anders: Wir sollen uns eine neue Normalität schaffen und diese ist das Leben, das sich von der Vernunft leiten lässt. Vernunft bedeutet Unabhängigkeitskompetenz. Waren die Vorteile des theoretischen, des betrachtenden Lebens bisher vielleicht nur für Menschen überzeugend, welche selbst in diese Richtung veranlagt sind, kommt mit der Frage der Lebensform eine so grundsätzliche Ebene ins Spiel, dass Aristoteles’ Argumente immer überzeugender werden: Die Mehrzahl der Leute und die rohesten wählen die Lust. Darum schätzen sie auch das Leben des Genusses. […] Die große Menge erweist sich als völlig skla‐ venartig, da sie das Leben des Viehs vorzieht […] Die gebildeten und energischen Menschen wählen die Ehre. Denn dies kann man als das Ziel des politischen Lebens bezeichnen. Aber es scheint doch oberflächlicher zu sein als das, was wir suchen. [Denn man scheint] die Ehre zu suchen, um sich selbst zu überzeugen, daß man gut sei. […] Die dritte Lebensform ist die betrachtende [θεωρητικός, die theoretische]. (Aristoteles 1986, 59 f.) Sein Leben dem Genuss zu widmen, das bedeutet für Aristoteles, zu leben wie das Vieh, bzw. sich freiwillig zum Sklaven der eigenen Leidenschaft und Begierde zu machen. Die Mutigen und Energischen, so Aristoteles, wählen ein anderes Leben, nämlich ein solches, das ihnen Ruhm und Ehre einbringt, wir würden vielleicht sagen: viel Anerkennung und höchstes soziales Prestige. Doch Aristoteles ist überzeugt: Dies kann noch nicht das letzte Wort sein, noch nicht die gesuchte höchste Lebensform. Denn beim Streben nach Ruhm und Ehre sind wir nicht wirklich frei, vielmehr verhalten wir uns so, dass wir möglichst viel Erfolg haben und eine möglichst große 40 2 Ist Vernunft wirklich so wichtig? Anerkennung bekommen. Mitunter verhalten wir uns wie außengesteuert, ja wie ferngelenkt. Denn wir sind abhängig von der Anerkennung durch die anderen. Erst die durch Vernunft geprägte Lebensform bringt uns, so Aristoteles, die eigentliche innere Freiheit. Es ist normal, von seinen Leidenschaften und vom Wunsch nach Anerkennung und Bewunderung beherrscht zu werden. Doch Aristoteles plädiert dafür, neu zu definieren, was normal heißen sollte. Vernunft ist die möglichst große Freiheit und Unabhängigkeit von jenen Bedürfnissen, deren Spielball wir üblicherweise sind. Vernunft ist eine neue, befreite Normalität. Aristoteles als Kollege an Ihrer Schule. Übertragen wir dies auf die Schule, dann lautete Aristoteles’ Empfehlung: Sie sollen die Unabhängigkeitskompe‐ tenz Ihrer Schüler: innen stärken. Diese sollen lernen, frei zu werden von der Jagd nach dem Vergnügen, auch von der Sucht nach Anerkennung und Er‐ folg. Und Sie als Lehrkräfte sollen ihnen diese Freuden der Unabhängigkeit nahebringen. Ein Beispiel, das Sie alle kennen: Wie schaffe ich es, meinen ‚inneren Schweinehund‘ zu überwinden und angestrengt zu trainieren oder endlich eine neue Sprache zu lernen oder etwas anzugehen, das ich schon lang angehen will? Indem ich mich dazu entschließe und es einfach mache. Dies zu erleben heißt, sozusagen auf elementarer Ebene zu erleben, dass ich mich durch das, was ich frei entscheide, gegen alle anderen Antriebe selbst bestimmen kann. Diese Erfahrung einer Unabhängigkeitskompetenz kennen Ihre Schüler: innen. Und dies gilt auch auf komplexerer Ebene. Falls ich nach langer Überlegung zu dem Schluss komme, meine Ernährung umzustellen oder meinen Lebensstil zu ändern, dann ist es möglich, dies auch wirklich zu tun. Und auf wieder anderer Ebene kann ich versuchen, die Dinge zu verstehen und zu erklären, wie sie wirklich sind, und durch vernünftiges Nachdenken über vernünftige Argumente selbst zu urteilen - wodurch wir wieder auf das Ideal des Selbstdenkens stoßen, siehe Kapitel 1 - nicht verzerrt durch Ideologien, die mir eine falsche Sicherheit geben. All das sind Erfahrungen der Vernunft als Unabhängigkeitskompetenz. In der Nikomachischen Ethik führt Aristoteles vor, wie wir zum höchsten Ziel menschlicher Existenz (Eudaimonia, Glückseligkeit) nur gelangen, wenn wir die Vernunft in uns ganz stark werden lassen. Das Ideal ist ein selbstständiges und freies, durch Vernunft gesteuertes Leben. 41 2.1 Aristoteles zeigt, wie das vernünftige Leben das beste Leben ist 2.2 Epikur: Das richtige Leben beginnt, wenn wir innerlich unabhängig werden Epikur war kein Epikureer. Epikur (341-270) ist heute bekannt für eine Mei‐ nung, die er selbst so nie vertreten hat, nämlich dass wir ein ausschweifendes Genussleben führen sollen. Auf Englisch heißt Genussmensch epicurean. Tatsächlich fragte Epikur eher danach, welche innere Haltung wir brauchen und wie wir unser Leben führen sollen, wenn wir zufrieden und frei von unnötiger Sorge leben möchten. Verfolgen wir ernsthaft dieses Ziel, so Epikur, dann sollten wir gerade nicht unseren Begierden folgen und unsere Genüsse immer noch steigern, sondern, im Gegenteil, wir sollen uns unabhängig machen von unseren Begierden und Wünschen. Dass dies dazu führen wird, dass uns die Genüsse ganz neu zugänglich werden, das vertieft unser Leben: Wenn wir sehr durstig sind, schmeckt Wasser besser als das teuerste Getränk schmeckt, wenn wir gar keinen Durst haben. Wie aber können wir loskommen von unseren Begierden, Wünschen und Leidenschaften? Indem wir in uns die Vernunft stark machen und uns selbst durch Vernunft führen. Klug mit den Bedürfnissen umgehen. Es geht darum, sich wohlzufühlen beim einfachen Dasein. Und diese besondere Lust ist Ursprung und Ziel des wirklich glücklichen Lebens. Manchen Genuss müssen wir vermeiden, weil er auf Dauer nicht zuträglich ist. Und manche Schmerzen müssen wir auf uns nehmen, um später davon zu profitieren. Eine kluge Selbstführung ist viel wichtiger als die immer weitere Steigerung der Lust. Wir wählen auch nicht jede Lust, sondern übergehen von Zeit zu Zeit viele Lustempfindungen, wenn aus ihnen für uns in höherem Maße Unangenehmes folgt; und viele Schmerzen halten wir für vorteilhafter als Lustempfindungen, wenn für uns größere Lust folgt, nachdem wir die Schmerzen lange Zeit ertragen haben. (Epikur 2014, 139) Unsere Vernunft besiegt unsere Angst. Epikur gibt uns Hinweise, wie das von Aristoteles beschriebene Vernunftleben aussehen kann. Nehmen wir als Beispiel die Angst vor dem Tod. Den Tod müssen wir nicht fürchten, wenn wir uns klar machen, dass das Nicht-Leben bzw. das Nicht-am-Leben-sein weder gut noch schlecht ist, sondern einfach nicht vorstellbar und außerhalb jeden Vergleichs. 42 2 Ist Vernunft wirklich so wichtig? Demnach betrifft das schauderhafteste Übel, der Tod, uns nicht: denn der Tod ist nicht da, solange wir leben, doch wenn der Tod da ist, dann sind wir nicht mehr. (Epikur 2014, 133) Oder wir haben Angst vor der Zukunft. Doch das Zukünftige liegt nicht in unserer Macht, darüber müssen wir uns immer wieder klar werden. Stattdessen liegt es in unserer Macht, hier und jetzt für Körper und Seele zu sorgen: Denn die unbeirrte Betrachtung dieser Zusammenhänge kann jede Entscheidung über Tun und Lassen an der körperlichen Gesundheit und dem störungsfreien Zustand der Seele orientieren, da dies das Ziel eines glücklichen Lebens ist. […] Wenn uns dies einmal gelingt, löst sich der ganze Sturm in der Seele auf. (Epikur 2014, 137) Der Sturm legt sich. Epikur rät also dazu, uns emotional zu distanzieren von dem, was uns Sorgen macht. Unsere Angst lässt sich durch Vernunft einklammern und immer wieder verabschieden. Nicht muss die Angst uns beherrschen, sondern wir können durch Vernunft die Angst beherrschen. Der Sturm legt sich nach und nach. Diesen Zustand des ungetrübten Genusses, der Angstfreiheit, überhaupt der Freiheit von Sorge, Unruhe, Leidenschaften und Antrieben, diesen Zustand nennt Epikur Lust - und meint damit gerade keine ausschweifenden Genüsse. Vernunft ist Unabhängigkeitskompetenz. Dies sind Epikurs Antworten auf die Frage, was es heißt, das richtige, das in vollem Sinn gute Leben zu erreichen. Es handelt sich nicht um ein Leben, das einfach unseren Wünschen und Antrieben folgt. Sondern um ein Leben, das durch viel Reflexion und Bewusstsein geprägt ist sowie auch durch ständiges Üben. Wenn wir das, was wir zunächst vorfinden, Normalität nennen, also unsere Ängste und Unruhe, unsere Leidenschaften und Begierden, dann rät uns nach Aristoteles nun auch Epikur: Gebt Euch mit dieser Normalität nicht zufrieden, baut an einer neuen, an einer eigenen und vor allem freien Normalität. Euer Ziel ist eine durch Vernunft geprägte Lebensform, in der ihr Euch maximal unabhängig gemacht habt von all dem, was Euch normalerweise beunruhigt, ob im negativen oder im positiven Sinn. Durch vernünftiges Nachdenken und Uns-selbst-Bestimmen zu verändern, was Normalität heißt, das ist auch ein Ziel Foucaults (siehe Kap. 8). Epikur als Kollege an Ihrer Schule. Was erhofft sich Epikur für Ihre Schüler: innen? Vielleicht kann man wieder sagen: Sie sollen die Unabhän‐ 43 2.2 Epikur: Das richtige Leben beginnt, wenn wir innerlich unabhängig werden gigkeitskompetenz Ihrer Schüler: innen stärken. Die Kinder und Jugendlichen sollen lernen, frei zu werden von der Sucht nach Vergnügen, auch von der Sucht nach Anerkennung. Nicht weil diese Süchte moralisch schlecht sind, sondern weil sie abhängig, unfrei und unglücklich machen. Stattdessen sollen Ihre Schüler: innen ein Leben einüben, das frei und unabhängig ist, weil es sich selbst durch Vernunft bestimmt. Wenn sich das Leben nicht durch übermäßigen Ehrgeiz, Machtgier und Anerkennungssucht führen lässt, sondern durch Vernunft, wird es zu einem eher bescheidenen Leben, das sich verwirklicht als Freude einer unerschütterten Seele am Dasein. Epikur trat für eine vernünftige Lebensführung ein, welche sich mög‐ lichst unabhängig macht von Begierden und Ängsten. Klug und überlegt gilt es das zu tun, was unserem Wohlbefinden wirklich zuträglich ist. Dazu gehört auch der Verzicht auf kurzfristiges Vergnügen zugunsten von längerfristigem Nutzen. 2.3 Auch Epiktet sieht in der inneren Unabhängigkeit und Freiheit das eigentliche Ziel Epiktet im Freibad. Epiktet (50-138), ein Vertreter der Stoa, einer spätantiken Philosophenschule in Griechenland und Rom, die besonderen Wert auf Seelenruhe und Gelassenheit durch vernünftige Selbstbeherrschung legte, ist bekannt für genau das, worum es in Kapitel 2 geht: Die Fähigkeit, sich zu befreien von seinen Ängsten, Leidenschaften und Begierden und sich ganz der Leitung seiner Vernunft anzuvertrauen. Schon ein kleines Beispiel kann das erläutern: Stellen Sie sich vor, Sie besuchen ein Freibad, das aufgrund des schönen Wetters und der Schulferien, die gerade begonnen haben, viel zu voll ist. Kaum haben sie ihr Handtuch ausgebreitet, nerven Sie die anderen Besucher: innen, die viel zu nah bei Ihnen liegen: ihr lautes Reden, ihr aufdringliches Lachen, ihr rücksichtsloses Benehmen. Was können Sie gegen ihren aufkommenden Zorn tun? Epiktet hält einen Ratschlag bereit. Es ist zu erwarten, dass wir im vollen Schwimmbad von unseren Mitmenschen genervt sein werden und dass sich Ablehnung, Zorn und Groll in uns erheben werden. Doch wir können uns gegen diese Gefühle wappnen, 44 2 Ist Vernunft wirklich so wichtig? wenn wir uns ganz unter unsere Vernunft stellen, die Gefühle antizipieren und sie so einklammern und verabschieden: Wenn du zum Beispiel zum Baden gehst, dann stell dir vor, wie es in einem öf‐ fentlichen Bad zugeht, wie sie dich naßspritzen, hin und her stoßen, beschimpfen und bestehlen. Du wirst daher mit größerer Ruhe und Sicherheit hingehen, wenn du dir von vornherein sagst: „Ich will baden und meiner sittlichen Entscheidung treu bleiben, durch die ich mich in Übereinstimmung mit der menschlichen Vernunftnatur befinde“. (Epiktet 2006, 13 f.) Vernunft ist Unabhängigkeitskompetenz. Hier ist sie wieder: die Vernunft als eine Instanz in uns selbst, die uns führen kann. Üblicherweise führt sie uns nicht, üblicherweise werden wir, bezogen auf dieses Beispiel, beherrscht von Ärger, Zorn oder Aggression. Doch indem wir üben, die Stimme der Vernunft stark zu machen und ihr immer mehr zu vertrauen und auf sie zu hören, kann es uns gelingen, das Band zu durchtrennen, das uns von einem wirklich unabhängigen Leben abhält. Oft wissen wir, was gut für uns wäre, doch wir sind zu schwach es einfach zu tun. So gesehen ist es eine Bewegung des empowerment, der Selbstermächtigung, jene Instanz in uns zu stärken, welche uns Freiheit geben kann, nämlich unsere Vernunft. Auch Epiktet geht es um eine vernüftige Lebensführung, in der wir uns unabhängig machen von den Stimmungen, die unser Wohlergehen trüben, z. B. Sorge und Angst, Begehren und Ärger. Für ihn beginnt das menschliche Leben ebenfalls erst richtig, wenn es durch Vernunft bestimmt ist. 2.4 Vernunft ist großartig. Aber es gibt im Menschen auch noch anderes Großartiges Unabhängig zu werden durch Vernunft ist gut. In diesem Kapitel ist deutlich geworden, weshalb in unserer Kultur, die stark beeinflusst wurde von der Antike, Vernunft so hoch im Kurs steht. Wir können nachvollziehen, was Aristoteles, Epikur und Epiktet damit meinen, wenn sie sagen, der Mensch komme dort ganz zu sich selbst, wo er sich durch Vernunft unab‐ hängig macht von seinen übertriebenen Ängsten und seinen übertriebenen 45 2.4 Vernunft ist großartig. Aber es gibt im Menschen auch noch anderes Großartiges Begierden, von seinen Wünschen nach Anerkennung und nach Erfolg. Normalerweise sind wir Menschen in diesem Sinne, wie man sagt, ‚Fässer ohne Boden‘. Die Vernunft kann uns helfen, uns davon unabhängig selbst zu bestimmen. Unsere Kultur hat dies als Lebens- und Bildungsziel auch aus der Antike übernommen. Liebesfähig zu werden, ist auch gut. Die antike Anthropologie, derzufolge der Mensch vor allem durch Vernunft ausgemacht wird, können wir heute ergänzen. Auch die Liebe ist etwas Großartiges bei uns Menschen (Kap. 13), dazu gehören Herzensbildung (Kap. 14) und der Sinn für das bedingungslos Gute, die Fähigkeit, füreinander das Beste zu wollen und zu tun (Kap. 3 und 14). Und es gibt noch anderes Großartiges: Das Ideal, ein ganz eigenes Leben zu führen und seine individuellen Eigenschaften zu verwirklichen (Kap. 7 und 11). Zu diesem Ideal gehört es auch, für dieses Eigenste die Stimme zu erheben und dadurch ein wenig zu verändern, was Normalität heißt (Kap. 8). Ihre Antwort auf die Frage Ihrer Schüler: innen: Warum steht die Vernunft so hoch im Kurs? Ist Vernunft wirklich so wichtig? So könnten Sie antworten: ▸ Beim Vernünftigsein geht es erstmal nicht um etwas Moralisches, sondern um Unabhängigkeitskompetenz: um Eure Fähigkeit, inner‐ lich frei zu sein. ▸ Als lebendige und soziale Wesen sind wir alle getrieben und beherrscht von Leidenschaften und Bedürfnissen: Wir haben Angst um unseren Körper. Wir sind abhängig von sozialer Anerkennung. Wir wollen Ruhm und Ehre. All das gehört zum normalen Leben dazu. Vernunft kann Euch immer wieder aus dieser Abhängigkeit befreien. ▸ Je stärker Eure Vernunft ist, je besser Ihr sie ‚trainiert‘ habt, desto freier werdet Ihr - und desto besser könnt Ihr Euch selbst bestimmen. 46 2 Ist Vernunft wirklich so wichtig? Wenn Sie sich noch weiter interessieren Die Vernunft als kulturelles Ideal sowohl in der Antike als auch in der Moderne ist stark verbunden mit dem Ideal des Selbstdenkens (Kap. 1) und jener Richtung des moralischen Gutseins, bei der es um die Unabhängigkeit von Leidenschaften oder Bedürfnissen und die Selbstbestimmung geht (Kap. 3.3). Das Ideal der Vernunft hat ebenso enge Verbindungen zum Ideal der Selbstbestimmung (Kap. 11). Charakteristisch für Vernunft ist es auch, dass unser vernünftiges, d. h. freies und kritisches Nachdenken seine eigenen Grenzen immer wieder wahrnimmt, in Frage stellt und so diese Grenzen denkend überschreitet. Ein Beispiel: Das kritische Entlarven scheinbarer Wahrheiten ist wichtig - doch es kann auch zur Pose werden, wenn es andere allzu sehr belehrt. Also wird das Kritisieren durch Vernunft überschritten in Richtung eines bewusst zugelassenen Ernstes (Kap. 13.2). Der kritische Blick auf die eigenen Grenzen ist Teil der Vernunft und macht diese so attraktiv. Hier kann es auch um prinzipielle Grenzen des sicheren Wissens gehen. Dann wird das Wissen durch Vernunft überschritten in Richtung der Weisheit (Kap. 4). Doch die laufende Selbstkritik der Vernunft geht sogar so weit, dass Vernunft sich selbst fragt, ob es vielleicht zu ihrem Kern gehört, anderes auszuschließen: kulturell Fremdes (Kap. 12), Gefühle, Leiblichkeit oder das Weibliche, siehe BÖHME/ BÖHME 1983. 47 Wenn Sie sich noch weiter interessieren 3 Lohnt es sich, moralisch gut zu sein? (Jonas, Levinas, Kant, Camus) Sieh hin und du weißt. H A N S J O N A S (1984, 235) Worum geht es? Ganz unabhängig davon, welches Fach Sie unterrichten, in der ein oder anderen Hinsicht fordern Sie Ihre Schüler: innen immer wieder dazu auf, gut zu handeln, das Gute zu tun, gut zu sein oder einfach, sich gut zu verhalten. Oft geht es dabei um den normalen Unterricht, z. B. möchten Sie von Ihren Lerngruppen, dass sie miteinander gerecht umgehen, dass sie sich gegenseitig helfen oder dass sie einander nicht die Unwahrheit sagen. Aber das Gute und das Gutsein ist mitunter auch ein eigenes Thema: in Ethik, Religion, Gemeinschaftskunde, Geschichte oder Deutsch, in Sport oder Fremdsprachen. Angesichts dieser täglichen Forderung, gut zu sein, fragen Ihre Schü‐ ler: innen eines Tages: Weshalb sollen wir eigentlich immer gut sein und uns moralisch richtig verhalten? Können Sie uns da einen einzigen wirklich zwingenden Grund nennen? Oder läuft es darauf hinaus, dass wir gehorchen, höflich sind und uns richtig benehmen? Ist das Gute einfach Erziehung? Jedenfalls funktionieren unser Leben und auch die Welt ganz anders. Dort geht es eher darum, stark oder clever zu sein - und das ist dann ‚gut‘. Wie können Sie auf solche Fragen antworten? Genauer geht es um Folgendes: ▸ Wenn wir ein ‚gutes Leben‘ führen - gehört es dann zwingend dazu, dass wir moralisch gut sind? ▸ Wie können wir philosophisch begründen, dass wir moralisch gut sein sollen, obwohl die Welt ganz anders funktioniert? ▸ Wenn das Gute ein Bildungsziel ist: wie können wir dafür motivie‐ ren? 3.1 Das gute Leben und die Unterscheidung zwischen dem für uns Guten und dem an sich Guten Gut leben - heißt das auch: moralisch gut? Offensichtlich gibt es das Gute als etwas, das in unserem eigenen Interesse liegt - und neben diesem Guten gibt es so etwas wie das Gute selbst, also das Gute unabhängig von unseren eigenen Interessen. Leicht lässt sich diese Unterscheidung am Begriff des guten Lebens erklären. Das gute Leben, das wir uns alle wünschen, ist ein Leben, in dem wir Glück, Zufriedenheit und Sinn erfahren. Meist geht es um das Gute für uns. Wie kann ich mein Leben für mich selbst günstig einrichten? Wo sollte ich auf meinen Vorteil achten, wo kann ich etwas für mich tun? Allzu restriktive moralische Vorschriften und allzu überzogene und anstrengende ethische Ideale könnten dem eigenen guten Leben durchaus abträglich sein. Gut leben - ja, das heißt auch: moralisch gut! Andererseits ist uns auch klar, dass etwa sehr ungerechte Verhältnisse, in denen wir gesamtgesellschaftlich leben, unser gutes Leben verderben, selbst wenn wir selbst nicht darunter zu leiden haben. Offensichtlich wollen wir in unserem guten Leben auch in einer guten Welt leben, es geht uns nicht nur um unseren Vorteil. Hinzukommt, dass wir aus Erfahrung wissen, wie beglückend es sein kann, Gutes zu tun: Geben ist seliger als nehmen. Auch das gute Gewissen ist hier wichtig. Zwar wollen wir uns nicht durch allzu äußerliche oder altmodische moralische Ansprüche ein schlechtes Gewissen machen lassen. Doch wir spüren andererseits, dass wir ein schlechtes Gewissen haben, wenn andere unter uns leiden müssen, etwa wenn wir andere verletzt haben. Echte Schuldgefühle passen nicht zu unserem Wunsch nach einem guten Leben. Das Gute selbst gehört zu unserem guten Leben. Nicht nur unsere Freuden und unser Vorteil, für die wir clever sorgen. Was genau bedeutet ‚gut‘? Die Frage Why be moral? ist eine klassische Frage der philosophischen Ethik (Bayertz 2014). Die Kapitel 3.2-3.4 stel‐ len hierzu drei Antworten vor. Zunächst ist fraglich, ob die bisherigen Überlegungen wirklich schon echte Begründungen dafür sind, weshalb wir moralisch gut sein sollen? Geht es nicht immer noch allzu sehr um uns selbst, wenn wir zum Ergebnis kommen: Damit unser Leben gut ist, brauchen wir wirklich Gutes? Die Frage ist auch: Wenn es stimmt, dass Bildung mehr ist als Ausbildung, inwiefern ist das Gute ein notwendiger Teil der Bildung? 50 3 Lohnt es sich, moralisch gut zu sein? Wenn wir ein ‚gutes Leben‘ führen möchten, gehören dazu auch ein gutes Gewissen, gerechte Verhältnisse und das schöne Erlebnis, Gutes zu tun. So zu begründen, dass wir gut sein sollen, ist allerdings noch nicht genug. 3.2 Das Gute tun, weil man sofort spürt und weiß: Das Gute ist das Richtige (Jonas, Levinas) Sieh’ hin und du weißt, was zu tun ist! Der erste philosophische Begründungs‐ versuch für das Gutsein, den ich Ihnen vorstellen will, geht davon aus, dass wir gewissermaßen unmittelbar von unserer Umwelt aufgefordert werden, das Gute zu tun und wir darauf nur reagieren müssen. Es ist nicht etwa der Ruf unseres Gewissens, sondern etwas noch Ursprünglicheres. Etwas in der Welt stellt eine Forderung an uns, tritt also als ein Sollen an uns heran. Hintergrund: Philosophie unter Hitler. Bevor Jonas, geboren in Mön‐ chengladbach, in New York Philosophieprofessor und weltberühmt wurde, kämpfte er fünf Jahre lang in verschiedenen Armeen gegen Hitlerdeutschland. Studiert und promoviert hatte er bei Martin Hei‐ degger. 1933 war er aus Deutschland geflohen. Seine Mutter wurde nach Auschwitz deportiert und ermordet. Der Philosoph Hans Jonas (1903-1993) nennt in seinem Werk Das Prinzip Verantwortung das Beispiel eines Säuglings ( Jonas 1984, 235). Vom neuge‐ borenen Kind gehen die Forderung und der Anspruch aus, sich um dieses Wesen zu kümmern. Tatsächlich fiele es uns nicht im Traum ein, diesen Anspruch des Säuglings für überzogen oder für ungerechtfertigt zu halten. Ein moralischer Anspruch ist zusammen mit dem Säugling in der Welt, hier und jetzt. Wir selbst sind gemeint. Das Gute besteht darin, im Sinne dieses Anspruchs zu handeln. Zeigt uns einen einzigen Fall […] wo jener Zusammenfall stattfindet [von Sein, also dem Dasein des Säuglings, und dem Sollen, das von diesem Sein ausgeht, also etwa der Aufforderung, dem Säugling zu helfen, Ph.Th.], so kann man auf 51 3.2 Das Gute tun, weil man sofort spürt und weiß: Das Gute ist das Richtige das Allervertrauteste hinzeigen: das Neugeborene, dessen bloßes Atmen unwi‐ dersprechlich ein Soll an die Umwelt richtet, nämlich: sich seiner anzunehmen. Sieh hin und du weißt. Ich sage „unwidersprechlich“, nicht „unwiderstehlich“: denn natürlich läßt sich der Kraft dieses wie jedes Soll widerstehen, sein Ruf kann auf Taubheit stoßen […] oder durch andere „Rufe“, wie etwa vorgeschriebene Kindesaussetzung, Erstgeburtsopfer und dergleichen […] übertönt werden - an der Unwidersprechlichkeit des Anspruchs als solchen und seiner unmittelbaren Evidenz ändert dies nichts. Ich sage auch nicht: eine „Bitte“ an die Umwelt („nehmt euch meiner an“), denn der Säugling kann noch nicht bitten […]. So ist auch von Mitgefühl, Erbarmen, oder welche Gefühle unsererseits ins Spiel kommen mögen, sogar von der Liebe hier nicht die Rede. Ich meine wirklich strikt, daß hier das Sein eines einfach […] Daseienden ein Sollen für andere immanent und ersichtlich beinhaltet. ( Jonas 1984, 235) Der moralische Anspruch ist schon in der Welt. Tatsächlich kennen wir alle solche Situationen, in welchen aus einem Sein ein Sollen folgt, wie man in philosophischer Begrifflichkeit sagt. Wichtig ist: Dieses ‚Folgen‘ des Sollens aus dem Sein ist kein kognitives Folgern oder logisches Schließen. Vielmehr ist hier das Sein, also eine bestimmte Situation in der Welt, identisch mit dem Sollen. Weshalb sollen wir gut sein? Lohnt sich das denn? Jonas’ Begründungsversuch des Guten zielt darauf, dass das Sein selbst schon ein Sollen ist. So ließe sich auch sagen: In der Wahrnehmung des Seins, wie z. B. des Säuglings, liegt schon die Erfahrung, die Einsicht und das Wissen darum, was von uns verlangt wird und was hier und jetzt das Gute ist. Eigens begründen müssten wir allenfalls, weshalb wir trotz dieses Wissens das Gute nicht einsehen oder tun. Von meinem Gegenüber geht etwas Absolutes aus, eine ethische Forderung. Ähnlich denkt der Philosoph Emmanuel Levinas (1906-1995). Hintergrund: Philosophie unter Hitler. Bevor Levinas, geboren in Kau‐ nas/ Litauen, in Paris Philosophieprofessor und weltberühmt wurde, war er fünf Jahre in deutschen Arbeitslagern inhaftiert. Als Juden wurden seine Eltern und Brüder während dieser Zeit ermordet. Stu‐ diert hatte er u. a. bei Martin Heidegger in Freiburg. Levinas spricht vom Antlitz des Anderen, welches uns gewissermaßen in Beschlag nimmt, und zwar, noch bevor wir denken oder abwägen können. 52 3 Lohnt es sich, moralisch gut zu sein? Das Antlitz meint mehr als das menschliche Gesicht des Gegenübers, es stellt so etwas wie dessen eigentümliche Präsenz dar, eine Art Aura. Und von dieser Aura, die uns fordert und in Anspruch nimmt, sagt Levinas, dass sie eine kontextlose und damit absolute Bedeutung hat. Was ist damit gemeint? Üblicherweise ergibt sich die Bedeutung von etwas immer aus dem Kontext. Die Bedeutung von Wörtern oder Zeichen verweisen immer auf das Ganze eines Satzes, seinen Sinn und Inhalt, wodurch der Satz erst seine bestimmte Bedeutung erhält. Wenn Sie etwa sagen: ‚Das ist mir zu schwer‘, dann ist die Bedeutung des Satzes und auch der Satzteile nur aus dem Kontext heraus zu verstehen. ,Das‘ kann ein schwerer Gegenstand, eine komplizierte Rechenaufgabe oder ein schwerer Schicksalsschlag sein. Entsprechend ändert sich auch die Bedeutung von ‚schwer‘. Beim Antlitz aber scheint es anders zu sein. [Interviewer, Ph.Th.]: Kriegserzählungen besagen tatsächlich, daß es schwer ist, jemanden zu töten, der einem ins Gesicht blickt. [Levinas, Ph.Th.]: Das Antlitz ist Bedeutung, und zwar Bedeutung ohne Kontext. Ich will damit sagen, daß der Andere in der Geradheit seines Antlitzes nicht eine Person innerhalb eines Kontextes darstellt. Normalerweise ist man eine ‚Person‘: man ist Professor an der Sorbonne, Vize-Präsident im Staatsrat, Sohn eines Soundso, alles das, was im Paß vermerkt ist, die Art sich zu kleiden, sich zu präsentieren. Und jede Bedeutung, im üblichen Sinn des Begriffs, bezieht sich auf einen derartigen Kontext: Der Sinn einer Sache beruht in ihrer Beziehung zu etwas anderem. Hier hingegen ist das Antlitz für sich allein Sinn. Du, das bist du. In diesem Sinn kann man sagen, daß das Antlitz nicht ‚gesehen‘ wird. Es ist das, was nicht ein Inhalt werden kann, den unser Denken umfassen könnte; […] Aber die Beziehung zum Antlitz ist von vornherein ethischer Art. Das Antlitz ist das, was man nicht töten kann oder dessen Sinn zumindest darin besteht, zu sagen: ‚Du darfst nicht töten.‘ (Levinas 1996, 65 f., Hervorhebung i. O.) Das Antlitz des Anderen. Jonas spricht vom Beispiel des Neugeborenen, Levinas dehnt dies aus auf jedes Gegenüber und seine Präsenz oder Aura, sein Antlitz. Das Antlitz ist schon der Anspruch des Anderen an uns, sich seiner anzunehmen. Wir müssen nicht erst folgern vom Sein, vom Antlitz, auf ein Sollen, die Fürsorge. In diesem Sinne kann Levinas sagen, dass wir das Antlitz nicht sehen - nämlich nicht in der Art, wie wir ein Objekt sehen und wie wir es dabei als etwas Bestimmtes, zum Beispiel als eine bestimmte Person, erkennen und wiedererkennen, einordnen und identifizieren. Wir nehmen nicht die ganze Situation wahr, von der unser 53 3.2 Das Gute tun, weil man sofort spürt und weiß: Das Gute ist das Richtige Gegenüber ein Teil ist, um diese dann ethisch zu analysieren, zu bewerten und schließlich begründet einen möglichen Entschluss zu fassen, hier müsse so oder so gehandelt werden. Sondern bevor wir überhaupt ein neutrales Erkenntnissubjekt sein können, das dann ethisch nachdenkt, stehen wir schon im Anspruch des Anderen. Wir entwickeln uns nicht unabhängig zu Subjekten. Wir werden Subjekte erst durch den Anspruch des Anderen. Das Ethische geht allem voraus und liegt ihm zugrunde. Philosophen wie Jonas oder Levinas geht es darum, dass wir das Gute nicht durch eine philosophische Ethik rational begründen müssen. Die ethische Reflexion einer möglichen Handlung fragt, ob diese gut oder schlecht ist, ob man zu ihr verpflichtet ist oder nicht. Der Anspruch eines Seins, das zugleich ein Sollen ist, geht einer solchen ethischen Reflexion voraus. Natürlich werden wir oft taub für diesen Anspruch sein, natürlich haben wir viele Gründe, um uns auf die eine oder andere Weise diesem Anspruch zu entziehen. Doch Jonas und Levinas beharren darauf, dass wir diesen Anspruch dennoch erfahren. Eine solche philosophische Ethik ist nicht naiv, sie setzt das Gute nur viel grundsätzlicher an und sieht es als etwas, das als ein Sollen unser Leben bestimmt, noch vor aller Reflexion. Sich dem Anspruch des Anderen zu öffnen, heißt ganz Mensch zu werden. Fragen wir uns von hier aus, weshalb wir eigentlich gut sein sollen, dann ließe sich so antworten: Zwar können wir dem Anspruch des Anderen nicht immer entsprechen, doch es gehört ein gewisser Aufwand dazu, diesen Anspruch des Anderen laufend zu verdrängen. Anders gesagt: Ohne dass wir das Sollen (uns des Anderen anzunehmen), welches uns mit dem Sein des Anderen unmittelbar gegeben ist, zumindest erfahren und fühlen, werden wir als Menschen nicht ganz Menschen sein können. Ohne dass wir dem Sollen wahrnehmend, erfahrend oder handelnd entsprechen, kann unser Leben nur auf eine eingeschränkte Weise ein gutes Leben werden. Öffnen wir uns dagegen dem Anspruch des Anderen, dann öffnen wir uns für so etwas wie die Tiefe des Lebens, die immer auch unbequem ist, die uns aber überhaupt erst richtig leben und, so ließe sich sagen, die uns überhaupt erst richtig Mensch sein lässt. 54 3 Lohnt es sich, moralisch gut zu sein? Weshalb sollen wir gut sein? Ethiken, die schon im Dasein unseres Gegenübers selbst (Sein) einen Anspruch an uns (Sollen) beschreiben, geben diese Antwort: Weil wir nur auf volle Weise Mensch sein können, indem wir diesen Anspruch wahrnehmen und ihm folgen. 3.3 Das Gute als Vernunft, das Gute als Pflicht (Kant) 3.3.1 Etwas tun, weil wir spüren, dass es unsere Pflicht ist Der Selbsterhaltungstrieb ist stärker als alles andere. In folgendem Beispiel aus seinem ethischen Hauptwerk Kritik der praktischen Vernunft fordert uns Kant (1724-1804) dazu auf, uns einen Mann vorzustellen, der von sich behauptet, sein Geschlechtstrieb sei so stark, dass er diesem nichts entge‐ gensetzen könne. Er ist gerade dabei, ein Bordell zu betreten. Nun zeigt man ihm vor dem Bordell einen Galgen. An diesem soll er aufgehängt werden, gleich wenn er das Haus verlässt. Wie wird sich der Mann entscheiden? Ist der Geschlechtstrieb die stärkste Kraft in seinem Inneren? Nein, der Selbsterhaltungstrieb ist stärker als der Geschlechtstrieb, und der Mann verzichtet aufgrund der angedrohten Todesstrafe auf den Bordellbesuch. Setzet, daß jemand von seiner wollüstigen Neigung vorgiebt, sie sei, wenn ihm der beliebte Gegenstand und die Gelegenheit dazu vorkämen, für ihn ganz unwiderstehlich: ob, wenn ein Galgen vor dem Hause, da er diese Gelegenheit trifft, aufgerichtet wäre, um ihn sogleich nach genossener Wollust daran zu knüpfen, er alsdann nicht seine Neigung bezwingen würde. Man darf nicht lange rathen, was er antworten würde. (Kant 1908 (a), 30) Noch stärker als der Selbsterhaltungstrieb kann der Sinn für das ethisch Richtige, das Gute sein. In einem zweiten, ganz anderen Szenario droht man einem Mann dieselbe Todesstrafe für einen anderen Fall an. Eine ehrliche Person soll aus politischem Kalkül von den Machthabern vernichtet werden. Gegen diese Person soll der Mann, um den es im Beispiel geht, ein falsches Zeugnis aussprechen, damit sie verhaftet und zu Unrecht verurteilt werden kann. Tut er dies nicht, so soll er gehenkt werden. Kant fordert uns nun auf, die innere Situation des Mannes nachzuvollziehen. Insbesondere möchte er, dass wir die enorme Kraft spüren, die im menschlichen Pflichtgefühl liegt. 55 3.3 Das Gute als Vernunft, das Gute als Pflicht Der Mann im Beispiel spürt, wir spüren, dass die ganze Situation ein riesiges Unrecht bedeutet und wir spüren auch, dass wir bei diesem Unrecht auf keinen Fall mitspielen dürfen. Es wäre, nein, es ist unsere unbedingte Pflicht, das falsche Zeugnis gegen die unschuldige Person zu verweigern. Zugleich erfährt der Mann und erfahren wir, wenn wir in uns gehen, dass prinzipiell die Freiheit bestünde, dem zu folgen, was wir als unsere Pflicht sehen, also trotz der angedrohten Strafe beim geplanten Unrecht nicht mitzumachen. Zwar mögen wir aus Angst vor dem Tod am Galgen schließlich doch anders handeln. Aber wir wissen, was richtig wäre, was richtig ist und wir wissen zugleich, dass wir es in einem enormen Akt der Selbstüberwindung auch wirklich tun könnten. Wir haben die Freiheit dazu. Fragt ihn aber, ob, wenn sein Fürst ihm unter Androhung derselben unverzöger‐ ten Todesstrafe zumuthete, ein falsches Zeugniß wider einen ehrlichen Mann, den er gerne unter scheinbaren Vorwänden verderben möchte, abzulegen, ob er da, so groß auch seine Liebe zum Leben sein mag, sie wohl zu überwinden für möglich halte. Ob er es thun würde, oder nicht, wird er vielleicht sich nicht getrauen zu versichern; daß es ihm aber möglich sei, muß er ohne Bedenken einräumen. Er urtheilt also, daß er etwas kann, darum weil er sich bewußt ist, daß er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre. (Kant 1908 (a), 30) Mit diesem Beispiel will Kant zeigen, wie stark unser Pflichtgefühl und unser Sinn für das ethisch Gute ist. Pflicht ist für Kant ein wichtiger Begriff. Gemeint ist immer eine innere Pflicht, die alle Vernunftwesen in sich entdecken und die uns nicht anerzogen ist. Wenn wir diesen Sinn für das Gute, die Pflicht, vergleichen mit unseren stärksten Antrieben, nämlich dem Geschlechtstrieb und dem Selbsterhaltungstrieb, und wenn wir erkennen, dass unser Pflichtgefühl noch stärker ist, dann können wir die Kraft ermessen, welche das Gute für uns darstellt. Hier erleben wir eine innere Instanz, und diese scheint völlig unabhängig zu sein von unseren Ängsten und Neigungen, von unserem Selbsterhaltungstrieb. Faktisch wird dieser dennoch gegen die Pflicht oft den Sieg davontragen. Aber auch dann können wir nicht vergessen, was wir eigentlich hätten tun sollen und wir können auch nicht vergessen, dass wir prinzipiell frei dazu gewesen wären, das Richtige, das Gute zu tun. 56 3 Lohnt es sich, moralisch gut zu sein? Oft tun wir, so Kant, aus Angst oder anderen Gründen nicht das, von dem wir tief in uns ahnen, ja sogar wissen, dass es eigentlich moralisch richtig wäre. Unsere moralische Intuition, die Gewissheit unserer Pflicht, scheint sehr stark zu sein. Das Wissen um das Gute gehört zum Innersten des Menschen. 3.3.2 Die Fähigkeit unserer inneren Instanz zu wissen, was wir eigentlich tun müssten, nötigt uns Respekt für diese Instanz ab. Es ist eine Achtung vor etwas in uns, das mehr ist als Natur Der kategorische Imperativ. Kant stellt sich vor, dass wir alle als Vernunft‐ wesen in uns die allgemeine Regel für das gute Handeln vorfinden, er verwendet die Begriffe kategorischer Imperativ (etwa: Befehl, der keinen Widerspruch duldet) oder auch Sittengesetz, inneres Gesetz oder innere Pflicht. Er spricht von einer großen Bewunderung, die wir gegenüber unserer inneren Instanz der Pflicht haben. Das innere Gesetz lebendig zu spüren, gibt uns als Menschen große Selbstachtung. Damit ist kein staatliches Gesetz gemeint, sondern das allgemeine, für alle vernünftigen Wesen geltende Gesetz des ethischen Handelns selbst, der kategorische Imperativ: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“ (Kant 1908 (a), 30). Um zu verstehen, was gemeint ist, machen Sie sich am besten folgenden Reim darauf: Das vernünftige Gesetz des ethischen Handelns folgt einem einzigen rein logischen Kriterium, nämlich dem Kriterium der Verallge‐ meinerbarkeit der Handlungsmaxime. Wird die Maxime einer Handlung (‚immer wenn ich x möchte, dann tue ich y‘, also eine Art Lebensregel) verallgemeinert zum allgemeinen Gesetz (,wer immer x möchte, soll und muss y tun‘), dann darf sich, wenn die Handlung ethisch gut sein soll, in diesem Gesetz kein logischer Selbstwiderspruch ergeben. Die Widerspruchsfreiheit der verallgemeinerten Handlungsmaxime zeigt die gute Handlung. Ein Beispiel. Fragen wir uns etwa, ob es erlaubt ist zu lügen (Kant 1903, 402 f.), dann probieren wir, was passiert, wenn wir die Maxime unseres Lügens zum Gesetz verallgemeinern. Maxime: ,immer, wenn ich mir einen Vorteil davon verspreche (x), dann lüge ich (y)‘ (= dann setze ich die Sprachhandlung ‚Lüge‘ ein). Verallgemeinerung zum Gesetz: ‚wer 57 3.3 Das Gute als Vernunft, das Gute als Pflicht immer sich einen Vorteil davon verspricht (x), soll und muss lügen (y)‘. Was passiert? Kommt es zu einem logischen Selbstwiderspruch in dem aus der Maxime verallgemeinerten Gesetz oder nicht? Im Fall der Lüge tritt ein solcher tatsächlich ein: Wäre es für jeden Menschen Gesetz, dass er die Unwahrheit sagen soll und muss, wenn das für ihn von Vorteil ist, dann zerstörte sich sozusagen die Bedeutung einer wahren Aussage und damit auch einer Lüge selbst, darin liegt der Widerspruch. Unsere gemeinsame Sprachwelt würde den Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge einebnen. Auch könnte niemand davon ausgehen, dass irgendeine Aussage wahr ist, niemand würde mehr dem anderen glauben. Jede Kommunikation, welche auf Wahrheit beruht, wäre zerstört. Allein aufgrund dieses logischen Selbstwiderspruchs, so Kant, kann es nie erlaubt oder gut sein zu lügen. Ob uns Kants Begründung restlos überzeugt, ist hier nicht das Wichtigste, darüber wird seit Jahrhunderten viel geschrieben. Hier soll nur klar werden, von welcher Art Kants Ethik ist: Ihr Kern ist rational und logisch. Die gute Handlung ist eine, die der Vernunft selbst nicht widerspricht. Für Kant ganz wichtig: Wir finden all das in unserer Vernunft schon vor. Unsere innere Gewissheit des Guten nötigt uns Respekt ab. Auf diese recht logisch anmutende Weise zeigt Kant auf, wie klar wir Menschen uns darüber sein können, was richtig und was falsch ist. Kant ist nun wichtig, dass uns diese innere Gewissheit Respekt abnötigt. In uns lebt eine Stimme, eine Instanz, welche unabhängig von unseren Interessen, Neigungen und Ängs‐ ten völlig unbestechlich das Gute kennt. Jene Bewunderung für die innere Instanz, die uns sagt, was eigentlich unsere Pflicht wäre, diese Bewunderung ist in Kants ethischen Schriften lebendig und stark und sie ist mehr als die Bewunderung für ein ethisches Kalkül, für den kategorischen Imperativ als logischen Denkakt. Kant nennt diesen Respekt, diese Bewunderung Achtung (Kant 1903, 400 f.). Es gibt offenbar etwas in uns, das noch schwerer wiegt als der stärkste natürliche Trieb, der Selbsterhaltungstrieb. Tief in uns gibt es die Stimme der Vernunft. Unbestechlich und unerbittlich fordert diese Stimme das Gute. Die Achtung vor dieser inneren Instanz ist die Achtung vor uns selbst als Wesen, die mehr sind als Wunsch und Neigung und Angst: mehr als Natur. Pflicht ist die Nothwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz. (Kant 1903, 400) Eigentlich ist Achtung die Vorstellung von einem Werthe, der meiner Selbstliebe Abbruch thut. […] Der Gegenstand der Achtung ist also lediglich das Gesetz und 58 3 Lohnt es sich, moralisch gut zu sein? zwar dasjenige, das wir uns selbst und doch als an sich nothwendig auferlegen. (Kant 1903, 401) Wir empfinden Achtung vor derjenigen Instanz in uns, die sieht, was zu tun ist, auch wenn unsere Selbstliebe (z. B. unsere Angst um uns) zu etwas anderem rät. Dass wir uns das Gesetz selbst geben, heißt lediglich, dass es für Vernunftwesen identisch unmittelbar aus der Vernunft hervorgeht und weder vom Staat noch von der Kirche o.ä. kommt. Es heißt nicht, dass wir uns individuell eigene Gesetze geben. Als Lebewesen sind wir schwache Menschen, sind Natur, doch als die innere Instanz, die wir als Vernunftwesen auch sind, sind wir mehr als Lebewesen, mehr als Natur. Kant spricht von der Menschheit in uns. Ihr gilt unsere Achtung. Fragen wir uns von hier aus, weshalb wir gut sein sollen, können wir sagen: um ganz Menschen zu sein, um jeder Instanz des Guten in uns gerecht zu werden. Mit großer Sicherheit, so Kant, können wir wissen, was gut ist und was wir eigentlich tun müssten. Diese innere Instanz unseres unbestechli‐ chen ethischen Urteils, die ‚Menschheit in uns‘, nötigt uns eine große Achtung ab. 3.3.3 Unsere Pflicht und unsere Fähigkeit zum Guten lassen uns mehr sein als Natur, mehr sein als einfach nur Lebewesen Naturgewalten sind stärker als wir. Ein letztes Beispiel, um uns verständlich zu machen, was Kant mit der inneren, vernünftigen und unabhängigen Instanz meint, die vollkommen sicher um das Gute weiß: Stellen Sie sich vor, wie ohnmächtig und verletzlich Sie sich gegenüber den Gewalten der Natur fühlen, etwa wenn Sie schutzlos im Gebirge den Blitzen eines Gewitters ausgeliefert sind oder einem reißenden Fluss bei einer Überschwemmung. Nichts können Sie der Natur hier entgegensetzen. Im Gegenteil, Sie können nur hoffen, dass Sie sich retten können und am Leben bleiben. Kühne, überhangende, gleichsam drohende Felsen, am Himmel sich aufthür‐ mende Donnerwolken, mit Blitzen und Krachen einherziehend, Vulcane in ihrer ganzen zerstörenden Gewalt, Orkane mit ihrer zurückgelassenen Verwüstung, der gränzenlose Ocean, in Empörung gesetzt, ein hoher Wasserfall eines mächti‐ 59 3.3 Das Gute als Vernunft, das Gute als Pflicht gen Flusses u. d. gl. machen unser Vermögen zu widerstehen in Vergleichung mit ihrer Macht zur unbedeutenden Kleinigkeit. (Kant 1908 (b), 261) Doch stärker als die Naturgewalten ist unsere innere Instanz des Guten. Zusam‐ men mit unserer physischen Ohnmacht als natürliche Lebewesen entdecken wir aber auch jene andere Seite in uns und erleben sie als eine Macht, die über alle Naturgewalten hinausgeht und von diesen vollkommen unabhängig ist. Im Augenblick unserer Todesangst ist uns klar: Als Individuen können wir von den übermächtigen Naturgewalten jederzeit vernichtet werden. Doch jene innere Vernunftinstanz, welche Kant als die Menschheit in unserer Person bezeichnet, sie ist unvergänglich, sie steht außerhalb der Macht der Natur. […] so giebt auch die Unwiderstehlichkeit ihrer Macht [der Natur, Ph. Th.] uns, als Naturwesen betrachtet, zwar unsere physische Ohnmacht zu erkennen, aber entdeckt zugleich ein Vermögen, uns als von ihr unabhängig zu beurtheilen, und eine Überlegenheit über die Natur, worauf sich eine Selbsterhaltung von ganz andrer Art gründet, als diejenige ist, die von der Natur außer uns angefochten und in Gefahr gebracht werden kann, wobei die Menschheit in unserer Person unerniedrigt bleibt, obgleich der Mensch jener Gewalt unterliegen müßte. (Kant 1908 (b), 261 f.) Natur kann uns als Menschen vernichten, nicht aber die innere Instanz des Guten, nicht die Menschheit in uns. Es ist, als ob ein von einem Diktator zum Tode verurteilter Mensch vor seiner Exekution noch ausruft: ‚Mich könnt ihr vernichten, doch die Idee der Gerechtigkeit könnt ihr nicht vernichten, solange es Menschen gibt, wird diese Idee weiterleben! ‘ Auch in diesem Beispiel und Gedankenexperiment kommt es Kant nicht so sehr auf das rationale Kalkül des kategorischen Imperativs an als vielmehr auf die Bewunderung für und die Achtung vor jenem Kern der menschlichen Vernunft. Weshalb sollen wir moralisch sein? Warum sollen wir das Gute tun? Weil wir darin uns überhaupt erst als diejenigen Wesen erweisen, die wir eigentlich sind, nämlich als Wesen, welche die Menschheit in sich beherbergen: als jene innere Instanz des Wissens um das Gute. Diese nimmt uns in die Pflicht, doch wir bewundern und achten sie, weil sie völlig unabhängig von unseren Ängsten und Neigungen zu uns spricht. Das Gute gehört zu uns Menschen, doch es gehört zu uns gerade, indem wir mehr sind als bloße Naturwesen. Das Gute erreicht uns über die alle Menschen verbindende universale Vernunft. 60 3 Lohnt es sich, moralisch gut zu sein? Die innere Instanz des Guten, so Kant, lässt uns mehr sein als Na‐ turwesen. Diese Instanz macht uns Menschen erst zu Menschen im eigentlichen Sinn. Moralisch gut sollen wir sein, um der Menschheit in uns würdig zu sein. 3.4 Das Gute tun, weil wir damit ein Gleichgewicht zwischen dem Guten und dem Unrecht, zwischen Liebe und Tod immer wieder neu erkämpfen (Camus) Das Gute tun, um ihm im Kampf gegen das Böse zu helfen. Um diese letzte Begründung des Guten zusammenzufassen, ließe sich vorläufig sagen, dass Menschen in der Lage sind, das Gute zu sehen, zu tun und selbst gut zu sein, aus einer Haltung ohnmächtiger und trotziger Solidarität und Liebe heraus. Schon in Kants Beispiel von dem mit dem Tod am Galgen bedrohten Mann, der dabei mithelfen soll, einen Unschuldigen zu vernichten, ist sofort klar, dass die Macht der Obrigkeit, welche den einzelnen mit dem Tode bedrohen kann, zusammen mit der enormen Angst vor dem Tod, d. h. zusammen mit dem Selbsterhaltungstrieb, letztlich wohl oft die größte Macht ist. Und dieser Zusammenhang beherrscht weite Teile der Menschheitsgeschichte: Die Mächtigen können durch die Angst der Unterdrückten herrschen. Dennoch wird schon in diesem Beispiel eine Gegenmacht sichtbar, die Macht dessen nämlich, was eigentlich das Richtige und das Gute ist. Es ist, als habe die Macht, grausam und ungerecht, überall das letzte Wort. Zugleich aber gibt es eine Gegenmacht und, so ließe sich sagen, auch diese hat das letzte Wort oder kann es zumindest haben. Als Menschen können wir all dies vor uns sehen wie einen ungleichen Kampf. Indem wir uns dafür entscheiden, dem Guten zu helfen, entscheiden wir uns dafür, dass die Macht der Herrschaft und der Angst zumindest nicht immer das letzte Wort hat. Ohnmächtig und trotzig versuchen wir, ob erfolgreich oder nicht, eine Art Gleichgewicht herzustellen. Dies betrifft auch die Macht des Todes selbst, es betrifft Krankheit und Sterblichkeit. Das Gute tun, ohne einen höheren Grund dafür zu brauchen. In Albert Camus’ (1913-1960) Roman Die Pest von 1947 wird solch ein ohnmächtiger Kampf gegen die Macht des Todes beschrieben. In der Stadt Oran wütet die Pest und verlangt tausende Todesopfer. Die Stadt wird von der Außenwelt 61 3.4 Das Gute tun, weil wir damit ein Gleichgewicht erkämpfen abgeriegelt. Der Tod zeigt sich als Übermacht. Die Krankheit tötet Alte und Kinder, sie tötet gute wie schlechte Menschen. In dieser Situation kämpft der Arzt Bernard Rieux einen ungleichen, einen sinnlos anmutenden Kampf, um, so gut er kann, Menschen zu retten. Der Priester Paneloux vertritt in seinen Predigten die Meinung, die Pest sei eine Strafe Gottes, er gibt also den Menschen mehr oder weniger selbst die Schuld an ihrem Schicksal. Rieux, der Atheist ist, verfügt über keine derartige Erklärung der schrecklichen Situation und damit nicht über die Möglichkeit, diese in einen größeren, irgendwie sinnvollen Zusammenhang einordnen zu können. Ihn trifft die Ohnmacht, die Vergeblichkeit und die schier unerträgliche Sinnlosigkeit des menschlichen Schicksals umso härter. Absurd ist daher sein Kampf gegen den Tod: grundlos, sinnlos, aussichtslos. Absurd: widersinnig. Angesichts der Sinnsuche Rieux’ ist sein erfolg‐ loser Kampf gegen die Pest sinnlos. Doch gerade in diesem widersinni‐ gen Handeln findet er Sinn. Der Kampf der ohnmächtigen Liebe gegen den übermächtigen Tod ist sinnvoll, weil er ein Zeichen menschlicher Solidarität und Revolte gegen das Böse ist. Camus schildert in seinem Roman Rieux’ Handeln als eine Art grundlose, trotzige und zugleich solidarische und liebende Haltung, die sich in den Dienst einer ohnmächtigen Macht gegen den Tod stellt. Rieux kämpft für das Gute - scheinbar ohne Grund. Als sein junger Nachbar Tarrou ihn fragt, woher er die Kraft nimmt, diesen aussichtslosen Kampf zu kämpfen, erklärt Rieux seinen trotzigen, atheistischen und engagierten Standpunkt. Das Elend und das Leiden der Menschen ist Grund genug, das Gute zu tun, auch wenn es aussichtslos ist. „Wissen Sie, daß es Leute gibt, die sich weigern zu sterben? Haben Sie je eine Frau ‚Nein! ‘ schreien hören, die im Sterben lag? Ich schon. Und dann habe ich gemerkt, daß ich mich nicht daran gewöhnen konnte. Ich war damals noch jung, und mein Ekel glaubte sich gegen die Weltordnung selber zu richten. Seither bin ich bescheidener geworden. Nur habe ich mich einfach immer noch nicht daran gewöhnt, sterben zu sehen. […] Aber schließlich…“ […] „Schließlich? “ sagte Tarrou sanft. „Schließlich…“ begann der Arzt, und wieder zögert er und blickte Tarrou aufmerksam an, „ist es etwas, das ein Mann wie Sie verstehen kann, nicht wahr; aber da die Weltordnung durch den Tod bestimmt wird, ist es vielleicht 62 3 Lohnt es sich, moralisch gut zu sein? besser für Gott, wenn man nicht an ihn glaubt und dafür mit aller Kraft gegen den Tod ankämpft, ohne die Augen zu dem Himmel zu erheben, wo er schweigt.“ „Ja“, stimmt Tarrou zu, „ich verstehe. Nur werden ihre Siege immer vorläufig bleiben, das ist alles.“ Rieux’ Gesicht schien sich zu verdüstern. „Immer, ich weiß. Das ist kein Grund, den Kampf aufzugeben.“ „Nein, das ist kein Grund. Aber nun kann ich mir vorstellen, was die Pest für Sie bedeuten muß.“ „Ja“, sagte Rieux, „eine endlose Niederlage“. (Camus 1995, 104 f.) Das Gute als trotziges Zeichen der Solidarität. Die Menschen kommen viel‐ leicht nicht an gegen die Übermacht der Ungerechtigkeit und der Willkür menschlicher Gewaltherrschaft, gegen die Macht des Stärkeren, der eigent‐ lich kein Recht hat, der sich das ‚Recht‘ jedoch rücksichtslos nimmt. Und, wie bei Camus, das Handeln der Menschen kommt nicht an gegen die Macht des Todes, der Krankheit und Sterblichkeit. In ihrer trotzigen Entscheidung für das Gute können Menschen dennoch ein Zeichen setzen, ein Zeichen nämlich für die Gegenmacht gegen den Tod, für die Liebe. Ein Zeichen für das Recht und gegen das Unrecht, gegen das ‚Recht‘ des Stärkeren. Es ist ein Zeichen für die Solidarität und Liebe unter den Menschen. Selbst angesichts hoffnungsloser Zustände können Menschen eine Art absurden Sinn in der ohnmächtigen Liebe und im ohnmächtigen Guten erfahren und behaupten. Absurd (widersinnig) ist dieser Sinn, weil der trotzige Einsatz gegen die Macht des Todes erfolglos bleiben mag. Dennoch kann er als nie aufhörendes Engagement für das Gute Hoffnung geben. Es ist, als seien wir erst dann richtig Menschen, wenn wir das Ungleichgewicht zwischen dem übermächtigen Tod und der ohnmächtigen Liebe immer wieder korrigieren helfen (Thomas 2020, 235 ff.). Indem wir trotz aller Vergeblichkeit das Gute tun, setzen wir ein Zeichen der Solidarität und der Liebe. In dieser trotzigen Solidarität gegen Unrecht und Leiden werden wir auf ganz besondere Weise Menschen. Wir gewinnen eine Haltung angesichts des Ganzen und unserer Frage nach Sinn: Wir helfen immer wieder dem Guten gegen das Schreckliche und Böse. 63 3.4 Das Gute tun, weil wir damit ein Gleichgewicht erkämpfen Ihre Antwort auf die Frage Ihrer Schüler: innen: Warum sollen wir moralisch gut sein, lohnt sich das überhaupt? So könnten Sie Ihren Schüler: innen antworten: ▸ Wenn Ihr ein ‚gutes Leben‘ führen wollt, sucht Ihr nicht nur Euren Vorteil, sondern Ihr möchtet in einer gerechten Welt leben, möchtet ein reines Gewissen haben und freut Euch auch daran, Gutes zu tun. ▸ Es gibt viele Situationen, in denen wir uns von dem, was wir wahr‐ nehmen, herausgefordert fühlen, z. B. zu helfen. Das zu verdrängen, macht uns unmenschlich, das immer stärker zu erfahren, macht uns menschlich. (Erst durch das Gute wird der Mensch richtig zum Menschen I ( Jonas, Levinas)). ▸ In Situationen großer Ungerechtigkeit haben wir spontan eine Einsicht, was jetzt zu tun eigentlich unsere Pflicht wäre, unabhän‐ gig davon, ob wir uns das dann auch trauen oder nicht. Hier erfahren wir eine innere unbestechliche Instanz. Vor dieser inneren Gegenmacht können wir Respekt und Achtung empfinden. Ihr zu folgen macht uns menschlich. (Erst durch das Gute wird der Mensch richtig zum Menschen II (Kant)). ▸ Schließlich können wir einen Sinn in menschlicher Solidarität erfahren - gegen die Übermacht des Unrechts und des Todes, die in unserer Welt immer das letzte Wort zu haben scheinen. Der oft ohnmächtigen Liebe zu helfen gegen diese Übermacht, das macht uns menschlich. (Erst durch das Gute wird der Mensch richtig zum Menschen III (Camus)). ▸ Bildung ist mehr als Ausbildung. Zur Bildung gehört die Kultivie‐ rung der menschlichen Möglichkeit, das Gute zu erfahren und das Gute zu tun. Wenn Sie sich noch weiter interessieren Warum sollten wir überhaupt moralisch sein? Wenn Sie sich für diese Frage als Grundfrage der Philosophie interessieren, empfehle ich Ihnen BAYERTZ 2014. Hier bekommen Sie einen umfassenden, gut verständlichen und zugleich fundierten Überblick und Einblick in alle Ebenen dieser Frage, 64 3 Lohnt es sich, moralisch gut zu sein? inklusive der religiösen. Denn natürlich lässt sich die Frage auch durch den Hinweis auf eine göttliche Autorität und Offenbarung beantworten. Wenn Sie sich intensiver mit dem Begründungstyp ‚Sieh hin und du weißt‘ in der Tradition JONAS’ und LEVINAS’ (Kap. 3.2) beschäftigen möchten, kommt noch ein weiterer Autor in Frage, den ich aus Platzgründen überge‐ hen musste: Der dänische Pfarrer KNUD EJLER LØGSTRUP (LØGSTRUP 1989). Meine eigene Sicht auf das Thema ist derjenigen CAMUS’ verwandt (Kap. 3.4): Einerseits haben der Tod, die Macht und die Angst das letzte Wort. Doch wir Menschen müssen laufend versuchen, zugunsten der ohn‐ mächtigen Liebe ein Gleichgewicht zu erstreiten, damit zugleich auch sie das letzte Wort hat (THOMAS 2020, 235 ff.). So kann unser Leben einen Sinn behaupten. Indem wir versuchen, dem Guten zu helfen, wird ein Glaube an das Leben und an die Welt möglich, der durch das Schreckliche, durch Tod und Angst nicht widerlegt wird. Um das Gute geht es auch im Kontext politischen Engagements und kul‐ tureller Werte (Kap. 10 und 11), der Liebe zur Welt und der Herzensbildung (Kap. 13 und 14). 65 Wenn Sie sich noch weiter interessieren 4 ‚Ich weiß, dass ich nichts weiß‘ - wieso gilt der Satz als weise? (Sokrates, Kant, Lyotard) Es gibt kein Denken, das all unser Denken umfasste. M A U R I C E M E R L E A U -P O N T Y (1966, 11) Worum geht es? Ihre Schüler: innen hören Sie manchmal sagen: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Genau genommen hat Sokrates gesagt, er sei sich seines Nichtwissens im Sinne eines begrenzten Wissens bewusst (Platon 1990 (a), 15). Jahrhunderte nach seinem Tod, in der römischen Antike, wurde daraus: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Sokrates’ eigentliche Aussage ist also weder ein logischer Widerspruch noch die Behauptung, dass er überhaupt nichts weiß. Sondern Sokrates möchte sagen, dass er sich (im Gegensatz zu vielen anderen Menschen) sehr bewusst darüber ist, dass er viele große Fragen prinzipiell nicht beantworten kann. Dieses Bewusstsein können wir Weisheit nennen. Wir sollten uns alle sehr bewusst darüber sein, wie begrenzt unser Wissen tatsächlich ist! Das hat schon Sokrates gesagt. Solche Sätze kommen Ihren Schüler: innen fremd vor. Sie sagen: Natürlich wissen wir nicht alles. Aber prinzipiell lässt sich doch sagen, ob etwas richtig oder falsch ist. Noch ist nicht alles wissenschaftlich erforscht. Aber grundsätzlich ist alles erforschbar. Bei so viel Zuversicht fragen Sie sich: Ahnen Ihre Schüler: innen noch nicht, dass es prinzipielle Grenzen des Wissens gibt? Und dass die Einsicht in Wissensgrenzen auch einen positiven Sinn hat, gerade für die Bildung? In diesem Kapitel erfahren Sie, wie Sie auf solche Fragen antworten können. Genauer geht es um Folgendes: ▸ Wie können Sie Ihrer Lerngruppe an guten Beispielen erklären, was Nichtwissen bedeutet: dass wir nämlich prinzipiell nicht alles wissen und nicht alle Fragen sicher beantworten können? ▸ Was genau bedeutet der Satz ‚Ich weiß, dass ich nichts weiß‘ und was bedeutet er nicht? ▸ Wie können Sie Ihren Schüler: innen veranschaulichen, dass Nicht‐ wissen auch etwas Gutes sein kann, ja sogar für die Ethik und die Bildung relevant ist? 4.1 Was ist gemeint mit den Grenzen des Wissens? In einem einzigen Moment kann sich plötzlich zeigen, wie geheimnisvoll alles ist. Der Schriftsteller und Politiker François-René de Chateaubriand reiste 1791 über den Atlantik. Er beschreibt den besonderen Moment, wenn zwei Schiffe sich begegnen - ein melancholisches Innehalten: Auf der Straße des Ozeans […], deren Begrenzung nur die Wellen, deren Aufent‐ haltsstationen nur die Winde und deren Beleuchtung nur die Sterne sind, gibt es […] kein schöneres Erlebnis als die Begegnung zweier Schiffe. Mit dem Fernrohr entdeckt man sich gegenseitig am Horizont: man steuert aufeinander zu. Die Mannschaften und die Passagiere drängen sich an Deck. Die beiden Fahrzeuge kommen sich näher, hissen ihre Flagge, raffen ihre Segel zur Hälfte und legen sich breitseits. Sobald Ruhe herrscht, verständigen sich die beiden Kapitäne auf dem Hinterdeck durch ihre Sprachrohre: „Name des Schiffes? Von welchem Hafen? Name des Kapitäns? Woher kommt ihr? Wie lange seid ihr unterwegs? Breiten- und Längengrad? Adieu, gute Reise! “ Man lockert die Taue, die Segel werden wieder gesetzt. Matrosen und Passagiere beider Schiffe beobachten wortlos, wie sie sich voneinander entfernen, die einen der Sonne Asiens, die anderen der Sonne Europas entgegen; beide Sonnen aber werden die Menschen gleichermaßen sterben sehen. […] Man gibt sich von fern ein Zeichen: Adieu, gute Reise! Der gemeinsame Hafen ist die Ewigkeit. (Chateaubriand 1968, 130 f.) Die Kapitäne der beiden Schiffe möchten ‚alles‘ wissen: Herkunft- und Zielhafen, Name des Schiffs und des Kapitäns usw. Doch was wissen wir eigentlich, wenn wir das alles wissen? In diesem melancholischen Moment ist uns klar: wir wissen im Grunde immer noch nichts. Die Menschen auf den Schiffen sind einander fremd, sie teilen einen kurzen Augenblick, dann verlieren sie sich wieder. Die Menschen sind sich auch selbst fremd: Sie sind geboren worden, ohne darum gebeten zu haben, sie leben langsam auf ihren Tod zu. Gibt es einen Sinn in dieser Existenz? Wozu leben wir eigentlich? In unseren kurzen Leben jagen wir dem Glück hinterher, versuchen etwas aufzubauen, vielleicht Anerkennung zu bekommen - dann lösen uns andere Menschen ab, die ihrerseits versuchen, etwas vom Glück 68 4 ‚Ich weiß, dass ich nichts weiß‘ - wieso gilt der Satz als weise? zu erhaschen. Ein einziger kurzer Moment offenbart die Abgründigkeit und Geheimnishaftigkeit der Welt. Weitere Beispiele für die Begrenztheit unseres Wissens. Wie können Sie Ihren Schüler: innen erklären, was Nichtwissen bedeutet und wie wenig wir wissen, obwohl wir so viel zu wissen scheinen? Ein Beispiel für den individuellen Bereich: Lebe ich im richtigen, in meinem eigenen, selbstge‐ wählten Leben, oder habe ich nur gemacht, was andere mir geraten haben? Für den Bereich Politik: Wird es immer Kriege geben? Für den Bereich Weltanschauung: Es gibt viele verschiedene Religionen. Wie sind diese in die Welt gekommen? Ist nur eine davon wahr? Gibt es Götter - oder nur einen Gott oder gar keinen? Oder nehmen Sie diese simplen Fragen: Was wird in einer Stunde sein? Was habe ich alles vergessen aus meiner Kindheit? Über all diese Fragen können wir nur spekulieren. Sicher beantworten lassen Sie sich nicht. Unser Wissen scheint eine Art Insel im Meer des Nichtwissens zu sein. Diese Einsicht hat in der Philosophie eine bedeutende Tradition. Im Folgenden möchte ich Ihnen daher philosophische Positionen vorstellen (Kap. 4.2-4.4). Danach können Sie leichter verstehen, wie wichtig die Einsicht in unser Nichtwissen ist, auch für die Bildung. Weshalb? Weil uns diese Einsicht bescheidener und menschlicher machen kann (Kap. 4.5). Wenn wir meinen, über eine Sache alles zu wissen, dann vergessen wir, wie wenig wir insgesamt wissen. Viele große Fragen bleiben offen, insbesondere die ganz großen Fragen nach dem Warum und dem Wozu. 4.2 Sokrates bevorzugt Bescheidenheit Ein Angeklagter verteidigt sein Nichtwissen. Sokrates (469-399 v. Chr.) ist als ein Verderber der Jugend angeklagt sowie auch der Gottlosigkeit und soll zum Tode verurteilt werden. In einer langen Verteidigungsrede, der Apologie, rechtfertigt er sich. Hierzu erzählt er, wie er sich verhasst gemacht hat: Er hat jene Personen besucht und in Gespräche verwickelt, welche allen als Experten gelten. Und er hat dann gezeigt, dass diesen Menschen allen etwas Entscheidendes fehlt. Sokrates ist zu dem Ergebnis gekommen, dass ihnen die Einsicht in die Begrenztheit ihres Wissens fehlt - und dass sie daher nicht weise sind. Das kam nicht gut an. 69 4.2 Sokrates bevorzugt Bescheidenheit Ich ging zu einem von den für weise Gehaltenen. […] es war aber einer von den Staatsmännern […]. Im Gespräch mit ihm schien mir dieser Mann zwar vielen andern Menschen auch, am meisten aber sich selbst sehr weise vorzukommen, es zu sein aber gar nicht. Darauf nun versuchte ich ihm zu zeigen, er glaubte zwar weise zu sein, wäre es aber nicht; wodurch ich dann ihm selbst verhaßt ward und vielen der Anwesenden. Indem ich also fortging, gedachte ich bei mir selbst, als dieser Mann bin ich freilich weiser. Denn es mag wohl eben keiner von uns beiden etwas Tüchtiges oder Sonderliches wissen; allein dieser doch meint zu wissen, da er nicht weiß, ich aber, wie ich eben nicht weiß, so meine ich es auch nicht. […] Nach den Staatsmännern […] ging ich zu den Dichtern […] Schämen muß ich mich nun freilich, ihr Männer, euch die Wahrheit zu sagen […]: Fast sprachen alle Anwesenden [d. h.: die Drumrumstehenden, Ph.Th.] besser als sie selbst [d. h.: die Dichter, Ph.Th.] über das, was sie gedichtet hatten. […] zugleich merkte ich, daß sie glaubten, um ihrer Dichtung willen auch in allem übrigen sehr weise Männer zu sein, worin sie es nicht waren. […] Zum Schluß nun ging ich auch zu den Handarbeitern. […] sie wußten wirklich, was ich nicht wußte [d. h. sie hatten dem Sokrates viel handwerkliches Wissen voraus, Ph.Th.] […]. Aber, ihr Athener, denselben Fehler wie die Dichter, dünkte mich, hatten auch diese trefflichen Meister. Weil er seine Kunst gründlich erlernt hatte, wollte jeder auch in den anderen wichtigsten Dingen sehr weise sein; und diese ihre Torheit verdeckte jene ihre Weisheit. So daß ich mich selbst […] befragte […], welches ich wohl lieber möchte, so sein, wie ich war, gar nichts verstehend von ihrer Weisheit, aber auch nicht behaftet mit ihrem Unverstande, oder aber […] so sein wie sie. Da antwortete ich denn […], es wäre mir besser, so zu sein, wie ich war. (Platon 1990 (a), 13-17) Die Unterscheidung zwischen Wissen und Weisheit. Sokrates berichtet in seiner Verteidigungsrede von einem wichtigen Grund des Hasses gegen ihn: nämlich, dass er sich für weiser hält als die anderen. Und das, gerade weil er nicht mitrennt im großen Hamsterrad des Bescheidwissens. Dadurch stört Sokrates die Gewissheit der Gemeinschaft. Staatsmänner, Dichter oder Meister der Handwerkskunst, sie gelten viel in der Gemeinschaft, weil sie durch ihre Expertise, durch ihr spezielles Wissen die Stützen der Gesellschaft sind. Auf ihr Urteil wird auch in Fragen gehört, in denen sie nicht Experten sind. Doch diesen Zusammenhang kritisiert Sokrates. Mit der Einsicht, wie wenig er wisse, hielt sich Sokrates für weiser, nicht für wissender. Er warf den Experten vor, nur ihr Wissen und nicht ihr Nichtwissen zu sehen. Doch das kam an als Behauptung, noch mehr zu wissen als die 70 4 ‚Ich weiß, dass ich nichts weiß‘ - wieso gilt der Satz als weise? Experten. Darauf aber kam es Sokrates nicht an, sondern auf Weisheit, auf die Einsicht in Nichtwissen. Wenn sich jemand in einem Feld auskennt, also Expert: in ist, dann müsste doch gerade die Begrenztheit des Wissens entdeckt werden - und sich nicht in allen anderen Feldern ebenfalls für klug halten. Daher macht Sokrates die Unterscheidung zwischen Wissen und Weisheit. Auch heute sitzen in Talkshows Menschen, die prominent sind und deswegen häufig eingeladen werden. Oft meinen diese Menschen, sie hätten zu allen Fragen sehr viel Wichtiges und Richtiges zu sagen. Sie haben die Grenzen Ihres Wissens vergessen. Demgegenüber steht die Einsicht in die Begrenztheit des Wissens. Und das ist Weisheit. Philosophie als Liebe zur Weisheit. Dies ist auch heute die typische Rolle der Philosophie, wenn es um öffentliche Stellungnahmen geht. Sinngemäß sagt die Philosophie: Ihr fragt uns, wie das gesellschaftliche oder politische Problem xy zu beurteilen ist? Aber das ist Politik. Wir können vor allem vorschnelle Lösungen kritisieren. Vor allem möchten wir auf die enorme Menge der offenen Fragen hinweisen. Solche Stellungnahmen machen der Philosophie eher keine Freunde, manche empfinden sie als arrogant oder als zu wenig engagiert. Solidarität als ethische Haltung - anstelle des Wissens. Wer, wie Sokrates und mit ihm das philosophische Denken, auf Weisheit zielt und nicht auf Wissen, dem kommt es so vor, als sei das viele Wissen zwar wichtig - aber gewissermaßen noch nicht das letzte Wort. Erst wenn das Wissen kombiniert ist mit einem Bewusstsein für die Grenzen des Wissens, wird Wissen richtig wertvoll, es wird zur Weisheit. Dieser Zusammenhang wird hier nur kurz angesprochen und in Kapitel 4.5 ausgeführt. Wenn Sie Ihre Oma besuchen, die in der Klinik im Sterben liegt, dann ist es besser, ihre Hand zu halten als unaufhörlich über mögliche Ursachen ihrer Krebserkrankung zu reden. In vielen Situationen ist Menschlichkeit wichtiger als Bescheidwissen. Dabei kann die Einsicht in Wissensgrenzen helfen. Denken wir zurück an Chateaubriands Beispiel, an jenen seltsam verlorenen Moment der Begegnung zweier Schiffe mitten im Ozean, in welchem uns unter anderem auch klar wurde, wie geheimnisvoll die Welt und unsere eigene Existenz ist. Das Nichtwissen betrifft nicht nur uns, sondern alle Menschen. Wir können so etwas wie Solidarität mit allen fühlen, die in derselben Lage sind. Und dieses Gefühl ist schon eine Frucht des Nichtwissens. 71 4.2 Sokrates bevorzugt Bescheidenheit Sokrates hält das Bewusstsein des Nichtwissens (Ich weiß, dass ich nichts weiß) für ein wertvolles menschliches Wissen. Wem dieses Wissen des Nichtwissens fehlt, dem fehlt etwas Wichtiges. Philosophie verweist darauf, wie unsicher und begrenzt unser vermeintlich sicheres Wissen ist. Doch ihr Ziel ist nicht Besserwisserei, sondern der Schritt vom Wissen zur Weisheit. 4.3 Unser sicheres Wissen ist begrenzt wie eine Insel (Kant) Jede biologische Art lebt in ihrer eigenen Welt. Immanuel Kant (1724-1804) ist berühmt für seine kritische Philosophie. In seinem ersten Hauptwerk, der Kritik der reinen Vernunft (1781/ 1787), versucht Kant, ein für alle Mal jene Grenze zu bestimmen, bis zu der es noch sicheres Wissen geben kann und ab der all unser Wissen im Grunde Spekulation ist. Der Weg, um diese Grenze bestimmen zu können, ist für Kant folgender: Er weist auf, wie groß die Rolle unseres Erkenntnisapparates, und damit unserer Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit, für unsere Sicht auf die Welt ist. Seine Ergebnisse sind weitreichend: Ganz vieles von dem, was und wie wir in der Welt erkennen, hat seinen Ursprung eigentlich in uns selbst. Verschiedene Tierarten leben aufgrund ihrer verschiedenen neuronalen Ausstattungen und aufgrund ihrer verschiedenen Sinnesorgane jeweils in ihren je eigenen Welten. So geht es auch uns. Wir leben in einer Welt, die der Ausstattung unseres Erkenntnisapparates entspricht. In welcher ‚eigenen Welt‘ lebt die menschliche Spezies? Hier geht es nicht nur um Sinnesorgane, sondern um Denkformen. In unserer Welt, so Kants Beobachtung, ist alles zeitlich geordnet und an irgendeinem Platz im Raum: Zeit und Raum sind Merkmale der menschlichen Welt, weil Zeit und Raum als Anschauungsformen zum Menschen gehören (Kant 1948, 49 ff.). Weiter (Kant 1948, 93): In unserer Welt hat alles eine Ursache und ist selbst wiederum Ursache für anderes. In unserer Welt können wir für vieles nur in sehr einfachen Alternativen denken - und so beschreibt Kant weitere Denkformen, die wir Menschen gewissermaßen auf die Welt projizieren: Entweder etwas existiert oder es existiert nicht. Entweder etwas ist möglich oder es ist unmöglich. Entweder etwas ist notwendig (z. B. Eltern für die 72 4 ‚Ich weiß, dass ich nichts weiß‘ - wieso gilt der Satz als weise? Existenz von Kindern) oder es ist zufällig (z. B. Kinder für Eltern). Unser Verstand gibt vor, wie die Dinge sind. Wie ist die Welt wirklich, also ohne, dass wir Menschen sie wahrnehmen und erkennen? Daher sagt Kant, dass die Objekte, die wir in der Welt erkennen, gewissermaßen nicht das sind, was sie ‚an sich‘ sind, sondern sie sind nur Objekte ‚für uns‘ (Kant 1948, 57 u.ö.). Kant nennt die Objekte ‚für uns‘ Erscheinungen. Die Dinge ‚an sich‘ können wir nicht erkennen, nur den Gedanken fassen, dass es etwas geben muss, von dem wir nichts wissen können. Auch dies ist Einsicht ins Nichtwissen. Könnten wir die Dinge ‚an sich‘ wahrnehmen und erkennen, d. h. ohne die Besonderheiten unseres Erkenntnisapparats, dann sähen die Dinge wohl auch ganz anders aus, beziehungsweise sie würden wohl anders als in den engen, uns zugänglichen logischen Kategorien (Ursache und Wirkung, Existenz und Nichtexistenz etc.) erkannt. Kant sieht die Formung unserer Welt durch unseren Erkennt‐ nisapparat nicht als Nachteil. Für unser normales Leben besteht vielmehr ein Vorteil. Zwar wissen wir nicht, wie die Dinge ‚an sich‘ sind. Aber weil dieser Erkenntnisapparat bei allen Menschen derselbe ist, verfügen wir intersubjektiv über sicheres Wissen. Wir können uns klar und sicher darüber verständigen, dass eine Blüte weiß ist. Eine Aussage dazu kann richtig oder falsch sein, selbst wenn bestimmte Insekten in dieser Blüte andere Farben sehen könnten. Die Grenzen des sicheren Wissens sind eng; philosophische Fragen gehen meist über diese engen Grenzen hinaus. Damit es intersubjektiv sicheres Wissen geben kann, brauchen wir erstens Sinnesdaten. Und zweitens müs‐ sen unsere Denkformen sinnvoll anwendbar sein. Wo das nicht der Fall ist, können wir nur spekulieren. Fragen wir zum Beispiel nach Gott oder der Unsterblichkeit der Seele oder danach, weshalb die Welt entstanden ist, dann gibt es keine Sinnesdaten, keine Sinnesorgane und auch keine passenden Denkkategorien: Unser Erkennen läuft ins Leere. Anders als räumlich oder zeitlich und anders als in den logischen Kategorien können wir nicht denken und erkennen. Von einer irgendwie jenseitigen Welt können wir kein sicheres Wissen haben. Da wir aber laufend von metaphysischen Fragen bedrängt werden (z. B.: Warum gibt es die Welt und mich selbst überhaupt? Wie ist das alles entstanden? Gibt es ein übergeordnetes Ziel? ), bleibt uns nichts anderes übrig, als uns Spekulationen hinzugeben. Schade, so mögen wir sagen, die Grenzen unseres sicheren Erkennens und Denkens lassen viele Fragen unbeantwortet. Doch andererseits: Gut, dass wir wissen, wo unsere Grenzen sind. 73 4.3 Unser sicheres Wissen ist begrenzt wie eine Insel (Kant) Unsere Wissenswelt ist eine Insel. Gegen Ende der Kritik der reinen Vernunft, als Kant die meiste Arbeit schon geleistet hat, um die Grenze aufzuzeigen, die zwischen sicherem Wissen und bloßer Spekulation liegt, entwirft er das Bild einer Insel in den Weiten des Ozeans. Das Wissen ist die Insel, das Nichtwissen beziehungsweise die bloße Spekulation ist der unendliche Ozean. Kant schreibt: Wir haben jetzt das Land des reinen Verstandes […] durchreiset und jeden Theil davon sorgfältig in Augenschein genommen […]. Dieses Land aber ist eine Insel und durch die Natur selbst in unveränderliche Grenzen eingeschlossen. Es ist das Land der Wahrheit (ein reizender Name), umgeben von einem weiten und stürmischen Oceane, dem eigentlichen Sitze des Scheins, wo manche Nebelbank und manches bald wegschmelzende Eis neue Länder lügt und, indem es den auf Entdeckungen herumschwärmenden Seefahrer unaufhörlich mit leeren Hoff‐ nungen täuscht, ihn in Abenteuer verflechtet, von denen er niemals ablassen und sie doch auch niemals zu Ende bringen kann. (Kant 1948, 202) Ich weiß, dass ich nichts weiß. Kants berühmtes Bild ist ein Bild für die Situa‐ tion menschlichen Erkennens angesichts der unauslotbaren Welt, angesichts der unermesslichen Fragen, die Menschen stellen. Er führt die Tradition des Sokrates fort, die Einsicht ins Nichtwissen als eine bedeutende Einsicht der Philosophie zu entwickeln. Im Unterschied zu Sokrates aber versucht er, ganz genau aufzuzeigen, wo die Grenzen des sicheren Wissens liegen. Gibt es einen Gott? Sind wir in unseren Handlungen frei? Ist die Seele unsterblich? Darüber wurde viel geschrieben, diese Themen gehörten zur Metaphysik. Im Grunde gab es einen ewigen Streit über diese Frage, der nie entschieden werden konnte und auch nie entschieden werden wird. Kant wollte nun nicht den Streit entscheiden. Sondern Kant wollte zeigen, dass alle diese Streitfragen zwar interessant sind und uns immer beschäftigen werden, dass sie aber nicht entscheidbar sind. Das ‚Plus‘ des Nichtwissens. Wenn es so ist, dass unser sicheres Wissen begrenzt ist, dann ist es ein Vorteil, uns dies einzugestehen. Es ist gut, im Bewusstsein zu behalten, wie viel wir tatsächlich nicht sicher wissen. Wir könnten uns der Illusion hingeben, nicht nur absolut sicher sagen zu können, dass eine Blüte weiß ist, sondern auch absolut sicher sagen zu können, weshalb zum Beispiel die ganze Welt entstanden ist oder ob die Seele unsterblich ist. Dann wären wir vielleicht weniger tolerant. Denn worüber wir nur spekulieren können, darüber sind immer verschiedene Ansichten möglich, man muss sie irgendwie tolerieren. Hier sind sich Sokrates und 74 4 ‚Ich weiß, dass ich nichts weiß‘ - wieso gilt der Satz als weise? Kant einig: Das Bewusstsein des Nichtwissens ist ein Plus gegenüber dem fehlenden Bewusstsein des Nichtwissens. Philosophie denkt immer weiter, Philosophie ist radikal. Das wirklich Radikale ist nicht die Spekulation über die Unsterblichkeit der Seele oder das Jenseits, sondern das wirklich Radikale ist das Bewusstsein des Nichtwissens. Wir sind gewissermaßen immer auf der Insel und können uns nicht von außen oder von oben sehen, eine Vogelperspektive existiert nicht. Aber wir können die Begrenztheit der Insel beschreiben und im Bewusstsein behalten. Kant beschreibt, wie das, was für uns ‚die Welt‘ ist, vor allem davon abhängt, welche angeborenen Formen des Wahrnehmens und Erken‐ nens wir auf die Welt projizieren (z. B. Zeit, Raum, Ursache/ Wirkung). Insofern diese Formen für alle Menschen dieselben sind, gibt es ein begrenztes sicheres Wissen. Doch weil diese Formen ihre festen Anwen‐ dungsgrenzen haben, gehen die meisten typisch philosophischen Fragen über diese Grenzen hinaus. Hier gibt es immer verschiedene Meinungen, diese sollten daher toleriert werden. 4.4 Lyotard denkt Kants Kritizismus postmodern weiter Begrenzte Inseln, begrenzte Diskurse. François Lyotard (1924-1998) greift in seinem Werk Der Widerstreit Kants Bild von der Insel im Ozean auf (Lyotard 1987, 218 f.). Statt einer Insel sieht Lyotard mehrere Inseln. Jede Insel ist ein so genannter Diskurs oder eine Diskursart, jede Insel ist eine begrenzte und in sich abgeschlossene Möglichkeit, über die Dinge zu sprechen und sich über sie aus verschiedenen Perspektiven auszutauschen. Hintergrund: Diskurs und Diskursart bedeutet hier so etwas wie eine begrenzte sprachliche Bedeutungswelt. In dieser gibt es eine ganz eigene Art und Weise, auf die Welt zu schauen, eine bestimmte Begrifflichkeit und bestimmte Dinge, die als selbstverständlich gelten. Unterscheiden könnten wir z. B. die Diskursart Hirnphysiologie (Liebe als biochemisches Geschehen) und die Diskursart inneres Erleben (Liebe als Sehnsucht). Beide wären getrennte Inseln, zwischen denen 75 4.4 Lyotard denkt Kants Kritizismus postmodern weiter man hin- und herwechseln kann. Doch eine kann die andere nicht ersetzen. In unserer Verständigung und in unserer Sprache gibt es demnach verschie‐ dene Welten, die jeweils ihre eigene Logik und ihre eigene Berechtigung haben, die aber voneinander abgegrenzt und nicht einfach ineinander überführbar sind. Ein gutes Beispiel für zwei Inseln sind der beschreibende und deskriptive Diskurs einerseits und der ethische und normative Diskurs andererseits. Lyotards Vorstellung ist nun, dass wir wie mit einem kleinen Schiff zwischen den Inseln hin und her fahren können. Wir können zum Beispiel eine Sache vollständig beschreiben oder erklären und haben dabei noch nichts über ethische Fragen im Zusammenhang mit dieser Sache gesagt. Dann verlassen wir diese Art des Diskurses und fahren zur anderen Insel, bleiben aber thematisch bei demselben Gegenstand, wir wechseln vom beschreibenden in den ethischen Diskurs. Hier gibt es ganz eigene Regeln und eine eigene Logik. Nicht die Sache, über die wir sprechen, haben wir gewechselt. Sondern wir haben uns ihr in zwei völlig verschiedenen Weisen genähert. Diese sind getrennt voneinander wie die Inseln. Ein Beispiel. Stellen wir uns vor, im Biologiepraktikum zerlegen wir einen einfachen Plattwurm, und zwar vollständig. Wir finden dort eine große Vielfalt von Organen, Strukturen und Geweben. Aber wir finden dort nicht die Begriffe gut oder schlecht. Wir finden keine Beurteilung, ob der Platt‐ wurm gut oder schlecht und wie groß sein Lebensrecht ist. Wir finden keine Hinweise darauf, ob wir das überhaupt dürfen, z. B. einen Wurm töten und zerlegen, um Biologiestudierende auszubilden. Mit der Zeichnung, die wir vom Wurm anfertigen, befinden wir uns im deskriptiven Diskurs. Anders, wenn wir nach ethisch richtig oder ethisch falsch fragen. Es liegt auf der Hand, dass wir im Zuge dieser ethischen Überlegungen grundsätzlich andere Begriffe verwenden, als wir sie beim Beschreiben des Wurms benutzen. Sobald wir den Diskurs wechseln, haben wir gewissermaßen sprachlich eine Welt hinter uns gelassen und betreten eine ganz neue Welt, eben die normative oder ethische Welt. Jede der Diskursarten [z. B. deskriptiv oder normativ, Ph.Th.] wäre gleichsam eine Insel; das Urteilsvermögen wäre, zumindest teilweise, gleichsam ein Reeder oder Admiral, der von einer Insel zur anderen Expeditionen ausschickte […] Diese Interventionsmacht […] besitzt […] keine eigene Insel, sondern erfordert 76 4 ‚Ich weiß, dass ich nichts weiß‘ - wieso gilt der Satz als weise? ein Medium, das Meer, den Archipelagos, das Ur-oder Hauptmeer, wie einst die Ägäis genannt wurde. (Lyotard 1987, 218 f., Hervorhebung i. O.) Im Unterschied zu einem Rechtsstreit [litige] wäre ein Widerstreit [différend] ein Konfliktfall zwischen (wenigstens) zwei Parteien, der nicht angemessen entschieden werden kann, da eine auf beide Argumentationen anwendbare Urteilsregel fehlt. (Lyotard 1987, 9) Es gibt keine Vogelperspektive. Lyotards Bild des Archipelagos mit seinen ver‐ schiedenen Inseln ist ebenso radikal wie Kants Bild der Insel. Es handelt sich um die Einsicht in Wissensgrenzen. Genauer: um die Einsicht, immer ‚innen‘ zu sein, d. h. in unserem Erkenntnisapparat (Kant) oder in einer Diskursart (Lyotard). Weder für Kant noch für Lyotard gibt es eine Vogelperspektive, die unserem Denken erlauben würde, die Insel und das sie umgebende Meer (Kant) bzw. die jeweilige Insel und zugleich die anderen Inseln (Lyotard) so zu sehen und zu verstehen, dass gewissermaßen alles aus einem Guss ist und alles in denselben Kategorien und Begriffen verstanden wird. Für Kant gibt es einen prinzipiellen Bruch zwischen dem sicheren Wissen unseres Verstandes und dem spekulativen metaphysischen Wissen. Für Lyotard gibt es einen prinzipiellen Bruch zwischen den Diskursarten; darin besteht der unlösbare Widerstreit (différend). Wir sind stets gefangen in einer bestimmten Erkenntnisperspektive - aber wir können uns darüber bewusst sein, dass dies der Fall ist. Und dies ist das Bewusstsein der Begrenztheit unseres Wissens, dies ist Weisheit. Sokrates mahnt zu Weisheit, zum Bewusstsein der Grenzen unseres Wissens. Kant weist darauf hin, wie wichtig es ist, uns stets darüber bewusst zu bleiben, dass wir immer in einer Erkenntniswelt gefangen sind, mit deren Mitteln wir nicht zur ‚Wahrheit selbst‘ gelangen. Und Lyotard beschreibt die Grenzen unseres Wissens als die Binnengrenzen in einem heterogenen Diskurs-Land, dessen Diskurs-Regionen radikal geschieden sind. 77 4.4 Lyotard denkt Kants Kritizismus postmodern weiter 4.5 Nichtwissen kann etwas sehr Gutes sein, auch im ethischen Sinn: einige Beispiele Das Bewusstsein des Nichtwissens zielt auf Weisheit - und gehört zur Bildung. Sokrates sah es als wichtig an, dass wir bescheiden bleiben und uns stets vor Augen führen, wie begrenzt unser Wissen ist. Ähnlich wollte Kant den unfruchtbaren Streit zwischen verschiedenen metaphysischen Schulen entschärfen: indem alle ihre Erkenntnisgrenzen einräumen. Und sich mit Lyotard darüber bewusst zu werden, wie wenig verschiedene Diskursarten ineinander übersetzbar sind, das zeigt, wie sehr alles von unserer jeweiligen Perspektive abhängt. Weisheit verändert unser Bild der Welt und unsere Lebenseinstellung. Gerade in der Bildung, in der es ja laufend um Wissen geht, ist das Bewusstsein von Wissensgrenzen wichtig. Die Früchte der Weisheit sind dabei auch ethische. Wie kann man nur so denken? Kulturelle Fremdheit. Andere Kulturen oder frühere Epochen der eigenen Kultur sind uns fremd. Wir verstehen nicht, wie man so denken kann. Doch wir müssen zugeben, dass wir, bei aller Vertrautheit mit der eigenen Kultur, auch nicht vollständig begründen könnten, weshalb wir selbst so denken, wie wir denken. Weshalb haben wir genau diese kulturellen Werte? In unserer Kultur gilt jemand viel, der dieses oder jenes Verhalten an den Tag legt. In einer anderen Epoche oder Kultur galt oder gilt jemand viel, der ein ganz anderes Verhalten an den Tag legt. Weder wir noch die Menschen der Vergangenheit noch die Angehörigen fremder Kulturen können mathematisch genau begründen, weshalb gerade so oder so gedacht, gefühlt, empfunden und gehandelt wird. Das Gefühl der Fremdheit kann also nicht nur gegenüber dem Fremden, sondern auch gegenüber dem Eigenen bestehen. Damit ist nicht gemeint, dass wir unsere Kultur ablehnen, sondern dass wir das Normale nur begrenzt begründen können. Wie erklären Sie kleinen Kindern auf einer Beerdigung, weshalb sie sich so oder so zu verhalten haben? Schon bald ist der Punkt erreicht: Es ist eben so! Dieser Gedanke der Fremdheit des Eigenen ist ungewohnt. Doch es geht mir um Fremdheit als Erfahrung von Erkenntnis- und Begründungsgrenzen - und um den Eindruck von Fremdheit als den ersten Schritt zur Weisheit. Wir können zugeben, dass wir gut verstehen können, wie fremd anderen Kulturen und Epochen das vorkommen mag, was wir als normal empfinden. Wie kann man nur so denken? Individuelle Fremdheit. Das Gefühl der Fremdheit betrifft uns auch als Individuen. Auch ein vertrauter und geliebter 78 4 ‚Ich weiß, dass ich nichts weiß‘ - wieso gilt der Satz als weise? Mensch bleibt uns im Grunde fremd. Seine ganz eigene Art, die Welt zu sehen und in der Welt zu sein, seine individuelle Melodie, sie ist einfach nicht die unsrige. Und unsere eigene Art, unsere eigene Melodie, sie scheint uns zwar gewohnt und richtig. Aber wir sehen ein, dass wir sie nicht logisch ableiten und gewissermaßen beweisen könnten. Im Grunde ist auch sie nicht alternativlos, noch nicht einmal für uns selbst. Diese Einsicht bezeichnet wieder ein Bewusstsein von Begrenzheit. Das Gefühl kultureller und individueller Fremdheit (i.S.v. Einsicht in Begründungsgrenzen) ist ein Teil der Weisheit. Worin besteht der praktische, ja der ethische Wert des Gefühls der Fremdheit? Die Antwort ist einfach: Als Rückseite der Fremdheit zeigt sich eine ganz eigene Gemeinsamkeit zwischen den Menschen aller Kulturen und Epochen. Denken Sie an das Beispiel der sich auf dem Ozean begegnenden Schiffe aus Kapitel 4.1. Die Menschen teilen in diesem Moment auch, dass sie alle nicht wissen, welche Zukunft sie erwartet und was der Sinn ihres kurzen Daseins auf Erden ist. Auch dies kann eine ganz eigene Verbundenheit bedeuten. Wir teilen das Gefühl der Fremdheit und der fehlenden Begründbarkeit. Nicht unsere Sicherheit, sondern unsere Unsicherheit schafft etwas Gemeinsames. Und dies kann uns öffnen für neue Formen der Nähe zueinander. Im Wissen einander fremd, im Nichtwissen einander verwandt und nah. Bei diesen neuen Formen der Nähe geht es nicht um Erklärungen, sondern um Empathie. Es geht nicht um begriffliches Verstehen, sondern um ein, man könnte sagen: leiblich-seelisches Mitgehen mit dem anderen Menschen. Hier stoßen wir auf den praktischen und ethischen Wert der Fremdheit und der Begründungsgrenzen. Wenn wir uns selbst und einander eingestehen, wie fremd, wie unsicher und wie nichtwissend wir uns fühlen, wenn wir aufhören, immer Bescheid zu wissen und uns ständig wissend und besserwissend zu behaupten - dann kann zwischen uns ein Gefühl der Verbundenheit entstehen, der Solidarität und der Empathie. Dann begegnen wir einander nicht als argumentierende Köpfe, sondern als lebende Wesen (Thomas 2006, 241 ff., 259 ff.). Gewissheit im Einzelnen, doch Nichtwissen im Ganzen. Wir können und sollen nicht so tun, als seien alle Werte und alle Perspektiven für uns in gleicher Weise gültig. Natürlich werden wir die Werte unserer Kultur hochhalten und für sie werben (Kap. 11). Doch mit dem Bewusstsein des Nichtwissens ist etwas anderes gemeint als die Behauptung, alles sei in gleicher Weise gültig. Es ist die Erfahrung, dass zwischen Menschen eine neue Art von Gemeinsamkeit entsteht, wenn sie sich gegenseitig die 79 4.5 Nichtwissen kann etwas sehr Gutes sein, auch im ethischen Sinn: einige Beispiele Grenzen der Begründbarkeit ihrer Sicht der Welt eingestehen. Es scheint fast, als mache Weisheit die Menschen menschlicher, ja erst eigentlich zu Menschen. Ein Beispiel. Stellen wir uns vor, wir könnten mit einer unserer direkten genetischen Vorfahren sprechen, die im 16. Jahrhundert gelebt hat, vielleicht als die Frau eines Dorfschmieds, Tochter eines Bauern aus dem Nachbardorf. Fremd wären uns ihre Sorgen über die konfessionelle Spaltung in katholisch und protestantisch, fremd ihre Ansichten über Himmel und Hölle, fremd wäre uns ihr Wissen über die gottgegebene Monarchie und Gesellschafts‐ ordnung, zu der auch die Rolle von Mann, Frau und Kindern gehört. Fremd wäre uns sicher auch ihre Vorstellung über Gesundheit und Krankheit und den eigenen Körper. Und doch könnte eine solche Unterhaltung auch zum Gefühl einer grundsätzlichen Gemeinsamkeit führen: ‚Da stecken wir nun in unseren so ganz verschiedenen Welten‘, so könnten wir einander sagen, ‚und versuchen doch dasselbe. Wir versuchen, unser Leben möglichst richtig zu führen und folgen dabei dem, was in unserer Welt für wahr gilt. Und wir kennen beide das Gefühl, dass uns gar nichts anderes übrigbleibt, als das Beste aus unserem Leben zu machen, obwohl wir in den großen Fragen nur hoffen und bangen und spekulieren können. Ach, wenn doch nur den Kindern nichts zustößt! Das ist doch das Wichtigste.‘ In einem solchen fiktiven Gespräch könnten wir verstehen, was ‚Gewissheit im Einzelnen, doch Nichtwissen im Ganzen‘ bedeutet. Und wir könnten verstehen, wie gerade Letzteres zu einer ganz eigenen Nähe führen kann: zu Toleranz, Solidarität, Empathie, ja vielleicht gar zu einer Art von Liebe. Nichtwissen ist ethisch relevant. Wie lassen sich die ethischen Früchte des Nichtwissens noch etwas genauer formulieren (Thomas 2006, 260 ff.)? Erstens: Zu sagen ‚ich kann dich und deine kulturellen Vorstellungen erklären‘ scheint weniger menschlich als zu sagen ‚ich erkenne dich in deiner Unergründlichkeit an‘. Wenn wir erfahren, dass wir Menschen beim Begründen des kulturell Gewohnten stets an Grenzen stoßen, werden wir auch darauf verzichten, einen Menschen oder einen Gegenstand, der uns kulturell fremd ist, in unser eigenes Weltbild zu zwingen und seine Fremd‐ heit mit unseren vertrauten Begriffen zu vereinnahmen und ‚wegzuerklä‐ ren‘. Stattdessen werden wir versuchen, ihn in seiner Unergründlichkeit anzuerkennen. Zweitens: Zu sagen ‚Eure kulturellen Vorstellungen, wie Kinder großgezogen werden, sind verkehrt‘ scheint weniger menschlich als zu sagen ‚Wir stehen alle vor derselben Aufgabe und wollen alle die Kinder möglichst gut großziehen. Wie das geht, ‚wissen‘ wir letztlich alle nur 80 4 ‚Ich weiß, dass ich nichts weiß‘ - wieso gilt der Satz als weise? durch Tradition‘. Wenn wir erfahren, dass wir Menschen beim Begründen des kulturell Gewohnten stets an Grenzen stoßen, werden wir aufmerksam auf die alle Menschen verbindende Naturhaftigkeit menschlichen Lebens. Ob Geborenwerden und Sterben, ob Fortpflanzung oder Aufziehen von Kindern, ob Krankwerden oder Gesundwerden, ob Lebensschmerz oder Lebenslust - auch Menschen, die sich kulturell fremd sind, teilen große Lebensthemen. Und im Bedeutungshorizont dieser Themen können sie einander nachvollziehen und einander nah sein. Dass ihr Leben außer der kulturellen auch eine irgendwie stärkere, natürliche Seite hat, das kann Menschen verbinden. Beides ist ethisch relevant: einander in seiner Unergründlichkeit zu ‚lassen‘ und anzuerkennen sowie einander in den großen überkulturellen Themen menschlicher Existenz nachzuvollziehen. Die Möglichkeit, unsere eigene Weltsicht logisch herzuleiten, ist sehr begrenzt. Uns darüber bewusst zu werden, das kann dazu führen, dass wir nicht bei dem Eindruck stehenbleiben, wie fremd uns die Menschen anderer Epochen und Kulturen oder auch unsere Mitmen‐ schen sind. Vielmehr können wir auf der Rückseite dieser Fremdheit Gemeinsamkeiten entdecken: zum einen die Unergründlichkeit unserer einander fremden Existenzen, zum anderen die großen überkulturellen Lebensthemen. Nichtwissen ist daher ethisch relevant. Ihre Antwort auf die Frage Ihrer Schüler: innen: Der Satz ‚Ich weiß, dass ich nichts weiß‘ gilt als weise - weshalb? So könnten Sie die Frage Ihrer Schüler: innen beantworten: ▸ Sokrates möchte sagen, dass die höchste Stufe des Wissens darin besteht, aufmerksam zu werden darauf, wie wenig wir eigentlich wissen (Weisheit). ▸ Ähnlich möchten uns Kant und Lyotard zeigen, dass wir in unse‐ rem Erkennen immer in bestimmten Perspektiven gefangen sind und dass eine völlig losgelöste Vogelperspektive nicht möglich ist. ▸ Die Einsicht in die Grenzen unseres Wissens bringt uns Menschen einander näher, sie macht uns menschlicher. Sie lehrt uns Vorsicht und Bescheidenheit. Sie lehrt uns, offen und tolerant zu sein für Neues und Fremdes. 81 4.5 Nichtwissen kann etwas sehr Gutes sein, auch im ethischen Sinn: einige Beispiele ▸ Nicht das Besserwissen, sondern die Einsicht in unser Nichtwissen bringt uns einander näher. Nicht die eigene Sicherheit, welche andere ausschließt, sondern die miteinander geteilte Unsicherheit macht uns menschlich. ▸ Vor diesem Hintergrund sind andere Weisen der Nähe zueinander möglich: gegenseitige Anerkennung, Solidarität, Empathie, ja so‐ gar Liebe. Wenn Sie sich noch weiter interessieren Wenn Sie sich für Sokrates als Figur interessieren, der für die abendländische Philosophie in ganz besonderer Weise wichtig ist, empfehle ich Ihnen das Buch meines ersten philosophischen Lehrers GERNOT BÖHME (BÖHME 1992). THOMAS RENTSCH (er war mein zweiter philosphischer Lehrer) hat aus dem Nichtwissen eine eigenständige philosophische Ethik entwickelt (RENTSCH 2000), die er auch in Richtung einer Religionsphilosophie aus‐ gearbeitet hat (RENTSCH 2011). Zentral für RENTSCHs Philosophie ist die Frage, wie uns die tiefe, unsere ganze Existenz erschütternde und befreiende Einsicht in Nichtwissen und Begründungsgrenzen verändert. Wie in Kapitel 4.5 formuliert, kann uns diese Einsicht transformieren in unserer Art und Weise, wie wir Menschen sind. Dies ist auch Thema von THOMAS 2006. Aus diesem philosophischen Hintergrund erklärt sich, welch wichtiges Thema für meine Bildungsphilosophie die Einsicht in Nichtwissen hat. Vor allem bin ich an neuen Lebensformen und Lebenspraktiken interessiert, welche aus der Weisheit als Einsicht in Nichtwissen entstehen. Das Ende des Wissens kann nämlich der Anfang sein von ganz neuen und ungewohnten Aspekten einer Nähe zur Welt: Gewissheit des Guten (Kap. 3), Umgang mit den täglichen Dingen (Kap. 6), Heimat finden im Reichtum anderer Tradi‐ tionen (Kap. 12). Und auch Empathie und Herzensbildung (Kap. 14) sind Formen der Nähe, welche das Gute jenseits rationaler Gewissheiten finden, jenseits von Wissen und Begriffen. Eine Art Weisheit ist oft Voraussetzung für das in diesen Kapiteln Beschriebene. 82 4 ‚Ich weiß, dass ich nichts weiß‘ - wieso gilt der Satz als weise? 5 Reicht die Wissenschaft aus, um uns Orientierung zu geben? Es gibt eine Wahrheit des Naturalismus, doch ist diese Wahrheit nicht der Naturalismus selbst. M A U R I C E M E R L E A U -P O N T Y (1973, 98) Worum geht es? Egal, welches Fach Sie unterrichten, wenn es um Fragen unseres Menschseins geht, beziehen Sie sich auch auf die Wissenschaft. Doch da schwingt oft eine gewisse Vorsicht mit. Sie sagen etwa: Wenn man der Evolutionstheorie glauben darf, hat die große Bedeutung der Sexualität für uns Menschen auch etwas mit unserer Naturgeschichte zu tun. Oder Sie sagen: Diese Bereitschaft zur Aggression ist wohl auch unser biologisches Erbe, doch das allein sagt nicht viel aus. Ihre Schüler: innen fragen Sie: Glauben Sie den Wissenschaften nicht, oder weshalb sind Sie so zögerlich? Sagt die Wissenschaft nicht schon zur Genüge, wie der Mensch ist? Welche Antwort könnten Sie geben? Genauer geht es um Folgendes: ▸ Wie können Sie Ihren Schüler: innen zeigen, worin genau der große Fortschritt wissenschaftlicher Aussagen über den Menschen besteht im Vergleich zu früheren ‚philosophischen Spekulationen‘? ▸ Wie erklären Sie, dass wir Szientismus (Wissenschaftsgläubigkeit) vermeiden, aber dennoch wissenschaftliche Ergebnisse einbezie‐ hen wollen? ▸ Welche Beispiele zeigen, dass wissenschaftliche Ergebnisse allein noch nicht ausreichen, wenn es um Fragen des Menschseins geht? 5.1 Die Grenzen des reinen Denkens und der berechtigte Ruf nach der Wissenschaft Der Rationalismus begnügt sich mit dem reinen Denken. Traditionell schätzte die abendländische Philosophie die Bedeutung der Vernunft sehr hoch ein. Rationalismus bedeutet, dass wir allein durch Nachdenken sichere Erkenntnis erlangen. So schreibt der Philosoph René Descartes (1596-1650): Es folgt daraus, daß ich Gott nur als existierend denken kann, daß das Dasein von Gott untrennbar ist und demnach, daß er in Wahrheit existiert, - nicht als ob mein Denken dies bewirkte […] sondern […] deshalb, weil die Notwendigkeit der Sache selbst, nämlich des Daseins Gottes, mich zu diesem Gedanken bestimmt. (Descartes 1976, 60) Descartes vertraut dem rationalen Denken maximal: Dass wir Gott nicht anders als existierend denken können, beweise, dass es ihn gibt. An einer anderen Stelle schreibt Descartes über die Frage, ob wir sicher wissen können, dass wir überhaupt einen Körper haben: […] ebendaraus schließe ich mit Recht, daß mein Wesen auch allein im Denken besteht. […] so ist, sage ich, soviel gewiß, daß ich von meinem Körper wahrhaft verschieden bin und ohne ihn existieren kann. (Descartes 1976, 70) Weil beim Denken unser Körper nicht genauso lebendig erfahren wird wie der Denkvorgang selbst, ist er nur ein unwichtiges Beiwerk. Die sinnliche Erfahrung des Körpers zählt nicht. Was früheren Zeiten noch als evident galt, nämlich dass Denken die Wahrheit erreiche, das genügt uns heute nicht mehr. Die Rede vom ‚Wesen des Menschen‘ ist problematisch. Ein prominenter Vertreter der geisteswissenschaftlichen Pädagogik, Otto Friedrich Bollnow (1903-1991), beschreibt, wie der Raum zur menschlichen Existenz gehört. Dazu könnte auch eine Art Richtung in unserem Lebens gehören, nämlich immer zu sich selbst, seinem Innersten und zu seinen Ursprüngen zurück‐ zukehren. Die Romantiker haben in einer sehr tiefsinnigen Weise die Aufgabe des Menschen darin gesehen, den ‚Weg zurück‘, den ‚Weg nach Hause‘ zu finden, und sicher ist diese Aufgabe, den Weg zurück zu finden, tief im Wesen des Menschen begründet. (Bollnow 1960, 400) Ist der Gedanke, der Mensch wolle immer auch den ‚Weg zurück‘ und ‚nach Hause‘ einschlagen, wirklich in allen Kulturen und Epochen so sehr gegenwärtig, dass wir sagen können, er gehöre zum Wesen des Menschen? Hier könnten nur kulturvergleichende empirische Forschungen weiterhel‐ fen. Sollten wir nicht besser auf eine Formulierung wie ‚das Wesen des Menschen‘ ganz verzichten? 84 5 Reicht die Wissenschaft aus, um uns Orientierung zu geben? Bildung ohne empirische Wissenschaft ist naiv. Wissenschaftliche For‐ schungsergebnisse sind eine eigene, wertvolle Art von Wissen, gerade weil sie weder rein subjektive Meinungen sind noch einfach das Ergebnis eines reinen Nachdenkens und sei dies noch so objektiv und logisch zwingend. Vielmehr gehen sie zurück auf Beobachtungen und Experimente, sie haben also etwas mit den Objekten und Phänomenen zu tun, mit der ‚Welt da draußen‘. Und sie können überprüft werden, indem sie wiederholt werden. Solche Ergebnisse in die Bildung und Erziehung nicht einzubeziehen, wäre naiv. Daß sie dem jugendlichen Menschen verheimlicht, welche Rolle die Sexualität in seinem Leben spielen wird, ist nicht der einzige Vorwurf, den man gegen die heutige Erziehung erheben muß. Sie sündigt außerdem darin, daß sie ihn nicht auf die Aggression vorbereitet, deren Objekt er zu werden bestimmt ist. Indem sie die Jugend mit so unrichtiger psychologischer Orientierung ins Leben entläßt, benimmt sich die Erziehung nicht anders, als wenn man Leute, die auf eine Polarexpedition gehen, mit Sommerkleidern und Karten der oberitalischen Seen ausrüsten würde. (Freud 1948, 494) Der Arzt und Psychoanalytiker Sigmund Freud (1856-1939) hatte in seiner Forschung und Praxis so viel mit den Themen Sexualität und Aggression zu tun, dass er die übliche Erziehung als viel zu ‚idealistisch‘ und naiv empfand. Sie leugnete, was ihr nicht passte und war deshalb nicht wirklich gut. Über Jahrhunderte hinweg meinte man, ohne wissenschaftliche For‐ schung zu sicherer Erkenntnis kommen zu können. Freud kritisierte, dass diese falsche Einstellung u. a. zu einem naiven, idealisierten Men‐ schenbild führe. 5.2 Wie können wir mit Szientismus und dem naturalistischen Fehlschluss umgehen? Was bedeutet Szientismus, wenn es um Fragen des menschlichen Lebens geht? Szientismus, von lateinisch scientia, Wissen oder Wissenschaft, und -ismus, im Sinne von Geisteshaltung, bezeichnet eine ganz auf Wissenschaft fokussierte Einstellung bis hin zur Wissenschaftsgläubigkeit. Für den Szi‐ 85 5.2 Wie können wir mit Szientismus und dem naturalistischen Fehlschluss umgehen? entismus können alle wichtigen Fragen durch die Ergebnisse der exakten Wissenschaften gelöst werden. Ist das die Lösung? Nein, auch diese Haltung lässt sich als naiv kritisieren. Szientismus kann selbst ein Problem sein. Nach der im letzten Kapitel (5.1) dargestellten traditionellen Einseitigkeit (sichere Erkenntnisse über das ‚Wesen des Menschen‘ allein durch Nachdenken) stellt der Szientismus (Kap. 5.2) das andere Extrem dar: sichere Erkenntnisse über das ‚Wesen des Menschen‘ allein durch Wissenschaft. Das meint Merleau-Ponty im Eingangszitat des Kapitels: Natur und Naturwissenschaft sind wichtig, wenn es um den Menschen geht. Aber nicht in einem naiven Sinn. Die Lösung wird, wie so oft, in der Differenzierung liegen. Wir müssen uns von den einfachen Wahrheiten und ihren trügerischen Sicherheiten verabschieden (Kap. 5.2, 5.3), um zu einem wertvollen Wissen im Rahmen einer guten Bildung zu gelangen. Ein Beispiel für Szientismus. Für Fragen des menschlichen Verhaltens und Zusammenlebens besonders problematisch ist es, wenn Beobachtungen aus dem Tierreich und Mutmaßungen über die Urmenschen unmittelbar über‐ tragen werden auf unser Leben. Hat nicht alles, was in der Naturgeschichte entstanden ist, irgendwie einen Sinn? Aus einem Buch über A Natural History of Rape: The males of most species-including humans-are usually more eager to mate than the females, and this enables females to choose among males who are competing with one another for access to them. But getting chosen is not the only way to gain sexual access to females. In rape, the male circumvents the female‘s choice. (Thornhill et al. 2000, 53) Hier wird Vergewaltigung nicht als Verbrechen bezeichnet, sondern als eine in der Evolution entstandene Verhaltensweise (vgl. kritisch dagegen Travis 2003). Das ist verstörend, verharmlosend und sehr problematisch. Ihre Schüler: innen werden ähnliche vereinfachende Übertragungen von wissenschaftlichen Beobachtungen und Theorien auf gesellschaftliche De‐ batten aus dem Internet kennen. So sollten wir nicht mit populärwissenschaftlichen Vereinfachungen umge‐ hen. Ungünstig ist es erstens, die wissenschaftliche Richtigkeit anzuzwei‐ feln. Im Einzelfall mag tatsächlich nicht stimmen, was behauptet wird. Doch selbst wenn es in der Naturgeschichte keine Vergewaltigung gegeben hätte oder deren Interpretation als Fortpflanzungsstrategie falsch ist, dann gab es anderes, das zu unserem naturgeschichtlichen Erbe gehört. Das Problem liegt nicht in der Un-/ Richtigkeit der Wissenschaft, sondern in 86 5 Reicht die Wissenschaft aus, um uns Orientierung zu geben? der unreflektierten Übertragung ihrer Ergebnisse. Und wir sollten einen zweiten, ganz anderen Fehler vermeiden: nämlich, verstört durch Beispiele wie die Natural History of Rape, vollständig zu leugnen, dass wir Menschen auch Naturwesen geblieben sind. In einer Art Abwehrhaltung gegenüber diesem Erbe und gegenüber populärwissenschaftlichen Vereinfachungen würden wir dann zu jenem Fehler tendieren, den Freud (s. o.) kritisiert: uns ein moralisierendes und idealisierendes Bild des Menschen zu machen. Dieses könnte von der Populärwissenschaft dann wieder als dominierender Mainstream kritisiert werden, gegen den sie sich dann ‚rebellisch‘ zur Wehr setzt. Daher: Wir sollten die Frage nach richtig und falsch vermeiden. Und wir sollten immer sehen, dass der Mensch auch ein Naturwesen ist. Sondern so sollten wir mit populärwissenschaftlichen Vereinfachungen umgehen. Es geht nicht darum, das Menschliche freizuhalten von Natur. Sondern es geht um den richtigen Umgang mit unserer Natur und den wissenschaftlichen Ergebnissen zu ihnen. Erstens: Nicht Wahrheitsgewissheit, sondern selbstkritisches Suchen. Dies ist ein Stil und ein Stück Kultur, das in Kapitel 1 Ethos der Wahrheitssuche genannt wird: Nicht auftrumpfend, überredend und zwingend ist eine gute Argumentation - sondern vorsichtig, selbstkritisch, zweifelnd und immer bereit, die eigenen Argumente nur so lange zu vertreten, bis einen bessere überzeugen. Wir benutzen Argumente nicht als Waffen und wollen nicht um jeden Preis recht behalten, sondern wir suchen gemeinsam die Wahrheit. Zweitens: Uns dem schönen, aber auch schmerzlichen eigenen Naturerbe stellen. Dass Essen so ein großes Thema ist für uns Menschen, hat sicher auch mit seiner Bedeutung für uns als Naturwesen zu tun. Freude und Genuss des Essens sind wunderschön. Doch auch unsere Gier nach Speisen, der riesige Markt an Diäten und die gesundheitlichen Probleme der Überer‐ nährung haben mit unserer Naturgeschichte zu tun. Dass Sexualität ein so großes Thema ist für uns Menschen, auch daran ist unsere Naturgeschichte beteiligt. Wie wunderschön ist dieser Teil von uns. Doch wie problematisch kann unser Sexualtrieb in vielen Situationen andererseits sein. Ja, wir sollen den Menschen auch als Naturwesen verstehen. Doch nein, das heißt nicht, dass z. B. Essen oder Sexualität im Zusammenleben der Menschen immer Vorfahrt haben. Nur weil die Naturgeschichte (in ihr entstanden unsere Antriebe) älter ist als die Kulturgeschichte (in ihr entstanden die Verhal‐ tensregeln unserer Gesellschaft) hat sie kein größeres Recht. Wir können unseren Antrieben nicht immer folgen. Manchmal ist unser Naturerbe auch schmerzlich. Es entstehen für uns durch das nicht zu leugnende Naturerbe 87 5.2 Wie können wir mit Szientismus und dem naturalistischen Fehlschluss umgehen? einerseits und durch die gesellschaftlich ebenso unverzichtbaren Regeln andererseits auch Konflikte, die wir aushalten müssen. Drittens: Natur heißt nicht automatisch gut. In der Philosophie spricht man vom naturalistischen Fehlschluss von einem Sein (etwas in der Natur) auf ein Sollen (dass dieses Etwas auch ethisch gut ist und auch aus ethischen Gründen so sein soll). Wir Menschen sind auch Naturwesen. Doch nur, weil etwas in unserer Natur steckt, z. B. unsere Gier nach Essen oder nach sozialer Anerkennung oder unsere Flucht- oder Aggressionsinstinkte (= Sein), ist es noch nicht automatisch begrüßenswert, förderlich, günstig, ethisch gut oder unantastbar (= Sollen). Hintergrund: Der Schritt vom Sein zum Sollen bei Jonas und Levi‐ nas. Auch den Ethiken von Hans Jonas und Emmanuel Levinas (Kap. 3.2) könnte man einen naturalistischen Fehlschluss vorwerfen, weil sie die Begründung des Guten (z. B. Sorgen) aus dem faktisch Vorhandenen (z. B. Säugling) gewinnen. Doch ihnen geht es einfach um die Anerkennung des elementaren Lebensrechts eines anderen Menschen und die Sorge für ihn (Sollen) aus seinem faktischen Leben (Sein). Es geht ihnen nicht darum, alles an diesem Naturwesen (z. B. seine Krankheitsanfälligkeit oder Sterblichkeit) als richtig und gut zu behaupten, weil es naturhaft ist. Viertens: Nicht das Recht des Stärkeren, sondern gleiches Recht für alle! Eine Gesellschaft, in der es kein formalisiertes Recht gibt, in der Anarchie herrscht und das ‚Recht‘ des Stärkeren, wäre eine Gesellschaft, aus der die meisten Menschen versuchen würden zu fliehen. Dystopische Filme entwerfen ein Bild davon, wenn sie z. B. die Menschen nach einer globalen Katastrophe ohne funktionierende Gesellschaft zeigen. Hintergrund: Utopie und Dystopie. Der meist positiven Utopie (wie schön könnte die Gesellschaft in Zukunft einmal sein! ) wird die negative Dystopie gegenübergestellt (was, wenn sich die Gesellschaft in Gewalt, Unterdrückung und Chaos verwandelt? ). 88 5 Reicht die Wissenschaft aus, um uns Orientierung zu geben? Und in Kriegen fliehen Menschen nicht nur vor Bomben, sondern auch vor dem ‚Recht‘ des Stärkeren, vor Kriegsfürsten, denen sie ausgeliefert sind. Dass es ein gleiches Recht für alle gibt und ein staatliches Gewaltmonopol, sind große Errungenschaften und keine Dekadenz. Menschen sind auch Naturwesen! Aus der Naturgeschichte lassen sich aber keine ethischen Regeln für unser Zusammenleben ableiten. Unser Naturerbe hat keine Sonderrechte. Wir sollten unser schönes und konfliktreiches Naturerbe sehen, es begrüßen und mit ihm klug und umsichtig umgehen. 5.3 Bildung, in die wissenschaftliche Ergebnisse eingehen Aus dem bisher Gesagten ergibt sich: Wir brauchen wissenschaftliche Er‐ gebnisse für Bildung und Orientierung. Doch an populärwissenschaftlichen Beispielen wurde deutlich: Es ist problematisch, diese eins zu eins zu über‐ nehmen. Im Folgenden möchte ich beschreiben, wie Sie wissenschaftliche Ergebnisse in Bildung einbeziehen, indem Sie und Ihre Schüler: innen diese Ergebnisse kritisch reflektieren (siehe ausführlicher Thomas 2019). Erstens: Wissenschaftliche Ergebnisse müssen ethisch reflektiert werden. Betrachten wir das Beispiel der Keimbahntherapie, die beim Menschen allerdings bisher noch nicht realisiert worden ist. Hier werden genetische Defekte in den Zellkernen der Keimzellen (männliche Samen- und weibliche Eizelle) geheilt. Hintergrund: Was hat als genetischer Defekt zu gelten? Das ist teil‐ weise eine medizinische Frage, teilweise eine Frage gesellschaftlicher Werte: Was ist mit unerwünschten Eigenschaften, welche in späteren Zeiten vielleicht wieder als erwünscht gelten? Weil aus der Verschmelzung dieser Zellen später der ganze neue Organismus entsteht, und damit auch dessen neue Keimzellen in den Geschlechtsorga‐ nen, vererbt sich die Korrektur der Gene (Erbanlagen) für alle Zukunft 89 5.3 Bildung, in die wissenschaftliche Ergebnisse eingehen weiter. So könnten genetisch bedingte Krankheiten geheilt werden (Blu‐ terkrankheit, Farbenblindheit u. a.). Die Kenntnis und medizinische Beherr‐ schung dieser Mechanismen als solche sagt noch nichts darüber aus, ob diese Möglichkeit erstrebenswert ist und wie die vielen ethischen Fragen entschieden werden sollen. So muss etwa geklärt werden, was der Begriff Krankheit genau bedeutet. Soll zum Beispiel eine besonders helle Haut mit einer erhöhten Anfälligkeit für Hautkrebs schon als Krankheit gelten? Eine weitere Frage betrifft die Eltern. Dürften diese definieren, was sie als Krankheit ansehen? Hier besteht die Gefahr eines Designerbabys. Oder müsste diese Entscheidung auf höherer Ebene getroffen werden? Zweitens: Naturwissenschaftlich-technische Verbesserungen der Effizienz sind nicht ‚von Natur aus‘ gut. Angenommen, Sie organisieren einen Work‐ shop Lerneffizienz und Zeitmanagement mit Ihren Schüler: innen der Klasse 10, der auf ganz neuen Ergebnissen der Hirnforschung basiert. In immer kürzerer Zeit soll es möglich sein, immer mehr zu lernen. Scheinbar gibt es hier nichts zu reflektieren. Schauen wir jedoch genauer hin, dann ergibt sich: Die Autorität und der Erfolg der Hirnforschung in der Effizienzsteigerung erstrecken sich eigentlich nicht auf die Frage, welches Leben wir als das richtige und gute ansehen. Hintergrund: Poiesis und Praxis. Die Antike unterschied ein effekti‐ ves, also auf das herzustellende Ergebnis zielende Vorgehen (Poiesis, hier der Lernerfolg) von einem Vorgehen, in dem das Tun selbst im Zentrum steht (Praxis, hier ein interessiertes Eindringen in den Lernstoff mit Muße und einem Interesse, das über den Erfolg in der Abschlussprüfung hinausgeht). Grundsätzlich wäre es sogar in einer Abschlussklasse auch möglich, sich für ein langsameres Lernen mit viel Muße zu entscheiden, nämlich dann, wenn man diese Art zu arbeiten eher als Teil eines guten Lebens betrachten würde. Ihre Schüler: innen könnten diskutieren, ob Effektivität ‚von Natur aus‘ anstrebenswert ist oder nur in unserer Gesellschaft oder in bestimmten Situationen. Drittens: Verborgene Interessen müssen reflektiert werden. Wissenschaft geschieht nicht unabhängig von oder außerhalb der Gesellschaft. Es geht nicht einfach um Neugier, sondern um bestimmte Interessen. Beispiele: Weil 90 5 Reicht die Wissenschaft aus, um uns Orientierung zu geben? weltweit eine große und zahlungskräftige Nachfrage besteht nach Kosme‐ tikprodukten, welche z. B. die Hautalterung aufhalten, ist die Zytologie (Zell‐ forschung) sehr weit entwickelt - und nicht, weil hier die Neugier besonders groß ist. Es geht um den Transport von Stoffen durch die Zellmembran der Hautzellen, welche eine günstige Wirkung entfalten. Andererseits: Weil bestimmte Epidemien v. a. Menschen in armen Regionen der Welt betreffen, ist die passende Impfstoffforschung weniger weit entwickelt als es möglich wäre, wenn ein zahlungskräftiger Markt bestünde. Ein weiteres Beispiel: Firmen wie Amazon, BMW, Bosch, Daimler, IAV, Porsche und ZF stellen den Universitäten Stuttgart und Tübingen Mittel zur Verfügung, um Möglichkeiten des maschinellen Lernens und der Robotik zu erforschen: das Projekt Cyber Valley (https: / / uni-tuebingen.de/ forschung/ kooperations partner/ cyber-valley/ , 19.07.2021). Es geht um künstliche Intelligenz und die Autoindustrie, um Marktmacht und Einfluss. Wissenschaft ist nicht neutral, sondern interessengeleitet. Daher ist es umgekehrt wichtig zu fragen, welche Interessen hinter wissenschaftlichen Ergebnissen stehen könnten. Viertens: Der Sinn für die prinzipielle Begrenztheit des wissenschaftlichen Wissens muss Teil der Bildung sein. Im Zuge der großen Fortschritte der empirischen Wissenschaft entsteht oft der Eindruck, wir kämen einem Zustand näher, in dem alle wichtigen Fragen beantwortet sein werden. Die Philosophie schätzt dies ganz anders ein. Viele existenzielle Fragen können wissenschaftlich nicht beantwortet werden: Worauf kommt es im Leben eigentlich an? Soll ich meine: n Freund: in heiraten? So ist es auch bei den ethischen Fragen. Auch eine immer genauere Erforschung der Keimbahn‐ therapie (s. o.) und die Erhöhung ihrer Erfolgsaussichten geht nicht einher mit Fortschritten in den mit ihr zusammenhängenden ethischen Fragen. Schließlich gibt es noch das Bewusstsein der Zeitbedingtheit des Wissens. Die Geschichte lehrt, dass sich die Menschen jeder Epoche überschätzen, was ihre Möglichkeit angeht, die Welt richtig zu erklären. Bewohner: innen späterer Jahrhunderte sehen das meiste ganz anders, ihnen kommt auch die vergangene Wissenschaft altmodisch vor. Den Ärzt: innen vergangener Jahrhunderte galt der Aderlass als wichtiges Mittel gegen viele Krankheiten. In der modernen naturwissenschaftlichen Medizin spielt er keine große Rolle mehr. Wie wird die Medizin der fernen Zukunft auf unsere Heilver‐ fahren blicken? In seinem Buch Geist und Kosmos fragt der amerikanische Philosoph Thomas Nagel nach jener weltanschaulichen ‚Blase‘, in welcher wir uns heute befinden und die wir für die Wahrheit halten, und zwar, 91 5.3 Bildung, in die wissenschaftliche Ergebnisse eingehen für die amerikanische Gesellschaft noch wichtiger, sowohl hinsichtlich des wissenschaftlich-evolutionären Weltbildes als auch hinsichtlich des religiös-kreationistischen Weltbildes (also der Überzeugung, dass die Welt und die Lebewesen direkt von Gott geschöpft wurden). Nagel schreibt: Ich würde darauf wetten wollen, dass der gegenwärtige Konsens, was zu denken richtig ist [also die Kontroverse zwischen der wissenschaftlichen Evolutionstheo‐ rie und der religiösen Kritik daran, Ph. Th.], in einer oder zwei Generationen lachhaft wirken wird - auch wenn er vielleicht durch einen neuen Konsens ersetzt werden wird, der ebenso wenig triftig ist. Des Menschen Wille, zu glauben, ist unerschöpflich. (Nagel 2014, 183) Nagel will sagen: So richtig plausibel scheint ihm weder, dass etwa unser seelisches Leben per Zufall in der Evolution entstanden ist, noch, dass der Bericht der Weltentstehung in der Bibel stimmt. Er setzt auf die Zukunft. Spätere Generationen werden vielleicht viel komplexere und bessere Vor‐ stellung von der Entstehung und Entwicklung der Welt und der Menschen haben. Nagel will auch sagen: Klug ist es, dieses vorläufige Nichtwissen auszuhalten - und dem Bedürfnis zu widerstehen, sich unbedingt ein Bild zu machen, um so vermeintliche Sicherheit zu haben. Auch dieser Aspekt gehört dazu, wenn wir Ergebnisse der Wissenschaften in Bildung einbeziehen: Wissen ist zeitbedingt und vieles werden wir erst in ferner Zukunft besser verstehen. In der Bildung sollten wir wissenschaftliche Ergebnisse kritisch reflek‐ tieren: Welche neuen ethischen Fragen ergeben sich? Entsprechen die Ziele, die wir durch wissenschaftliche Ergebnisse besser und effizienter erreichen können, überhaupt unseren Vorstellungen von einem guten Leben? Welche Interessen stehen hinter wissenschaftlichen Ergebnis‐ sen? Existenzielle und ethische Fragen sind naturwissenschaftlich kaum zu beantworten. Schließlich: Wissen ist zeitbedingt. Die Zukunft korri‐ giert laufend die Antworten der Vergangenheit. 92 5 Reicht die Wissenschaft aus, um uns Orientierung zu geben? Ihre Antwort auf die Frage Ihrer Schüler: innen: Reicht die Wissenschaft aus, um uns Orientierung zu geben? So könn‐ ten Sie Ihren Schüler: innen antworten: ▸ Bei den meisten Fragen unseres Lebens ist es wichtig, die Wis‐ senschaft mit einzubeziehen. Das ist ein Fortschritt gegenüber früheren Zeiten. ▸ Um klug mit unserem Naturerbe umgehen zu können, müssen wir den Menschen auch als Naturwesen verstehen. ▸ Doch nur, weil etwas in unserer Natur steckt (= Sein, z. B. unsere Gier nach Essen oder nach sozialer Anerkennung; z. B. unsere Flucht- oder Aggressionsinstinkte etc.), ist es noch nicht automa‐ tisch begrüßenswert, förderlich, günstig, ethisch gut oder unan‐ tastbar (= Sollen). ▸ Um für Bildung interessant zu sein, müssen wissenschaftliche Ergebnisse kritisch reflektiert werden. Es geht um ethische Fragen, welche die Wissenschaft allein nicht lösen kann. Es geht um Fragen des guten und richtigen Lebens. Und auch um die Interessen, welche hinter der Wissenschaft stehen. ▸ Wir sollten auch die Grenzen der Wissenschaft im Blick haben. So sind existenzielle und ethische Fragen enorm wichtig, aber nicht Gegenstand der Wissenschaft. Und: Manche große Frage muss heute noch offenbleiben. Wenn Sie sich noch weiter interessieren Ihre Schüler: innen kommen heute ganz anders in Ihren Unterricht als noch vor einigen Jahrzehnten. Sie ‚wissen alles schon‘, sie haben (populär-)wis‐ senschaftliche Erklärungen für praktisch alles in ihrem Leben und in der Welt. Was früheren Generationen der religiöse Kosmos war mit seinen Sinn‐ deutungen und moralischen Regeln und Antworten auf alle möglichen Fra‐ gen, das ist heute der wissenschaftliche Kosmos. Daher ist es im Unterricht wichtig, auf die richtige Weise wissenschaftliche Ergebnisse mit einzubezie‐ hen. Wie dies gelingen kann, hat die Philosophin BETTINA BUSSMANN ausführlich und tiefgründig vor allem für den Philosophie-/ Ethikunterricht untersucht, siehe BUSSMANN 2014, 2019, BUSSMANN/ KÖTTER 2018. 93 Wenn Sie sich noch weiter interessieren Orientierung über unsere Lebenswelt muss heute davon ausgehen, dass die Schüler: innen „ihre wissenschaftliche Brille nicht ablegen“ (BUSSMANN 2019, 233). Dies hat Auswirkungen bis hin zu den grundlegenden Bildungs‐ zielen. So sollen Ihre Schüler: innen eine grundlegende Kompetenz im Um‐ gang mit wissenschaftlichen Ergebnissen erwerben. BUSSMANN/ KÖTTER (2018, 95) sprechen von „Epistemic competence: The ability to understand and critically reflect aspects of the methods, results, history and relevance of scientific knowledge in relation to other forms of knowledge“. 94 5 Reicht die Wissenschaft aus, um uns Orientierung zu geben? 6 Wozu soll intuitives Wissen gut sein? (Platon, Zhuangzi) … man kann es in den Fingern erlangen und im Herzen dafür resonanzfähig (ying) werden, aber der Mund kann es nicht ausdrücken. Z H U A N G Z I (2012, 180 f.) Worum geht es? Ihre Schüler: innen sind genervt von Sätzen, die sie von Ihnen und anderen Lehrpersonen hören: Dafür muss man einfach ein Gefühl haben. Oder: So etwas kann man nicht erklären, so etwas muss man einfach spüren. Oder: Meine Intuition sagt mir, dass … Ihre Schüler: in‐ nen protestieren: Wir brauchen kein ‚höheres Wissen‘, sondern wir möchten praktische Probleme lösen. Können Sie nicht einfach klar sagen, was Sache ist? Tun Sie bitte nicht so, als hätten Sie manchmal eine Art sechsten Sinn, der Ihnen sagt, was richtig ist, für den wir aber zu dumm sind. Welche Antwort könnten Sie Ihren Schüler: innen geben? Genauer geht es um Folgendes: ▸ An welchen Beispielen können Sie Ihren Schüler: innen erklären, was Intuition ist und weshalb es sich hier um eine eigene, wichtige Wissensform handelt? ▸ Wie können Sie selbst sicherer werden im Umgang mit Intuition? Wie können Sie in Ihrem eigenen Leben spontane, kreative Ein‐ sichten nutzen? ▸ Inwiefern ist Ihr Unterrichten auch eine Kunst, die man nicht restlos erklären kann, für die Sie aber ein Gespür entwickeln können? 6.1 Was heißt Intuition? Wir alle kennen so etwas. Nämlich, dass wir intuitiv wissen, was in einer Situation passt und richtig ist, doch mit noch so vielen Worten können wir es nur ungenau begründen. Oder wir beobachten andere. Ob beim Musizieren, Malen, Handwerken oder bei Sportarten, ob beim ‚genialen‘, perfekt gelingenden Unterricht einer erfahrenen Lehrperson: Oft scheint es so, dass man für die Ausübung einer anspruchsvollen Tätigkeit ein besonderes, ganzheitliches Wissen braucht, ein Situationswissen, das sich zwar weitgehend, aber nicht vollständig beschreiben lässt. Im Folgenden möchte ich Ihnen erläutern, was es mit diesem besonderen Wissenstyp auf sich hat und weshalb er kein überflüssiger Luxus, sondern etwas ist, über das wir alle verfügen sollten. Der Begriff. Intuition kommt vom mittellateinischen intuitio und bedeutet unmittelbare Anschauung. Also nicht vermittelt über einzelne Denkschritte mit Schlussfolgerungen, sondern eine ganzheitliche und kreative Einsicht: wenn auf einmal ‚der Groschen fällt‘ und man, im Bild gesprochen, etwas ‚von innen‘ nachvollziehen kann. Intuition kann auch Bauchgefühl heißen: traumsicher einzusehen, was ein Mensch braucht oder gerade nicht gebrau‐ chen kann. Das geht bis hin zu einem Sinn für das Gute, dieser wird als Moral Sense in Kapitel 14 behandelt. Und schon in Kapitel 3 wurde deutlich, dass wir das ethisch Gute manchmal klar einsehen - aber wenn wir es dann wortreich begründen und herleiten, dann sind wir unsicher, ob unsere Worte überhaupt alles wiedergeben, was hier wichtig ist. Intuition, unmittelbare Anschauung, das heißt, etwas auf einmal so nachvollziehen zu können, dass wir produktiv damit umgehen. Etwas aus der eigenen Erfahrung und Anschauung kennen. Interessant ist die Rolle der Erfahrung. Wenn Sie Sport unterrichten, dann können Sie Ihren Schüler: innen eine bestimmte Bewegung zwar erklären, ob beim Schwimmen, Turnen oder beim Ballsport. Aber richtig verstanden wird sie erst, wenn Sie die Bewegung vormachen, Ihre Schüler: innen diese dabei mit dem eigenen Körper nachvollziehen und dann selbst immer wieder ausführen - bis sie eigene Erfahrungen damit gemacht und ein eigenes Gefühl für die Bewegung entwickelt haben: Aha, so fühlt sich das an. Wenn Sie später über diese Bewegung sprechen, denken Ihre Schüler: innen an die selbst ausgeführte Bewegung und nicht an Ihre ersten erklärenden Worte. Dies scheint in ähnlicher Weise für sehr viele Bereiche zu gelten, ob Sie Mathematik oder Englisch unterrichten oder an Ihre ersten eigenen Reiseerfahrungen denken: Erst wenn man ‚hineinschlüpft‘ in etwas und eigene Erfahrungen damit macht, hat man es verstanden - und kann damit intuitiv umgehen. 96 6 Wozu soll intuitives Wissen gut sein? Schule und Intuition. Unsere Bildungskultur geht eher Schritt für Schritt vor und erklärt lieber Wort für Wort - als von vornherein kreative Einsichten anzusteuern, die man nicht restlos in Sprache fassen kann. Intuition scheint kein Bildungsziel zu sein. Ich kann es Euch nicht bis ins Letzte erklären, so müsste die Lehrperson sagen, ich werde aber versuchen, Euch ein Gefühl dafür zu vermitteln. Doch das klingt fast so, als müsse sie zugeben, dass sie den Stoff selbst nicht beherrscht. Allenfalls im Sport-, Kunst- oder Musikunterricht könnte sich die Lehrperson trauen, ohne Autoritätsverlust so vorzugehen: auf etwas lediglich zu zeigen und hinzuweisen, statt alles in Sprache zu übersetzen. Oder etwas ohne Worte durch eine Geste zu korrigieren, statt es wortreich zu analysieren. Zwei verschiedene Arten, etwas nicht erklären zu können. Dabei ist es ein großer Unterschied, ob Sie als Lehrperson etwas nicht erklären können, weil Sie es gerade selbst nicht parat haben, oder ob das, was Sie nahebringen möchten, selbst von der Art ist, dass es nicht restlos erklärt werden kann, denken wir an die Bewegung im Sportunterricht. Während der erste Fall allen bekannt ist, fehlt in der Schule meist das Verständnis für den zweiten Fall, außer vielleicht in Sport. In der Schulwelt scheint alles erklärbar und ohne Verlust in Sprache übersetzbar. Was sollte das auch sein, das man nicht erklären kann? So denken wir dann. Unsere Kultur ist rational und wissenschaftlich geprägt. Wenn etwas als unerklärlich gilt, steht es schnell im Verdacht, ein irrationales Phänomen zu sein, an das sich letztlich nur glauben lässt, und das in der Bildung daher, außer in Religion, nichts zu suchen hat. So wird das wichtige intuitive Wissen übersehen und kann sein Potenzial für den Unterricht nicht entfalten (siehe Kap. 6.4). Doch ein Gespür für den Stoff zu entwickeln und unsere Intuition zu schulen, das ist nicht nur für den Sport-, Musik- oder Kunstunterricht interessant. Intuition ist unmittelbare Anschauung, wir kennen sie z. B. als plötzli‐ che kreative Einsicht, wenn ‚der Groschen fällt‘. Intuition heißt auch, durch eigene praktische Erfahrung ein genaues Gefühl für etwas zu entwickeln. Was man intuitiv weiß, das lässt sich zwar auch sprachlich erklären - aber wohl doch nicht ganz. Intuitives Wissen hat mit eigenen Erfahrungen zu tun. In der Schule wird dieser Unterschied selten beachtet, meist wird alles begrifflich abgeleitet und erklärt. Intuition scheint kein eigenes Lernziel zu sein. 97 6.1 Was heißt Intuition? 6.2 Platons Höhlengleichnis und was es heißt, etwas von innen heraus zu verstehen Etwas intuitiv verstehen ist so, wie aus einer dunklen Höhle hinauszukommen. Ziel des Höhlengleichnisses ist es, nachvollziehbar zu machen, dass das wahre Wesen aller Dinge in der hinter ihnen liegenden ‚Idee‘ (Urbild) besteht, von denen die Dinge Abbilder sind. ‚Idee‘ wird unten anschaulich erklärt. Die ‚Idee‘ kann nur intuitiv verstanden werden - daher dient sie hier dem weiteren Verständnis von ‚Intuition‘. Im Höhlengleichnis erzählt der griechische Philosoph Platon (428-348) von Menschen, die Zeit ihres Lebens in einer Scheinwelt leben, denn sie sind in einer Höhle mit dem Gesicht zu einer Wand gefesselt. Hinter ihnen, zwischen einer Lichtquelle und ihren Rücken, werden Gegenstände vorbeigetragen. Deren Schatten auf der Wand halten diese Menschen für die Gegenstände selbst. Sie leben also in einer zweidimensionalen Welt, denn sie kennen nur zweidimensionale Bilder der Gegenstände, eben die Schatten. Einer von ihnen wird nun das wahre Wesen der Dinge sehen. Wenn einer entfesselt wäre und gezwungen würde, sogleich aufzustehen, den Hals herumzudrehen, zu gehen und gegen das Licht zu sehen und, indem er das täte, immer Schmerzen hätte und wegen des flimmernden Glanzes nicht recht vermöchte, jene Dinge zu erkennen, wovon er vorher die Schatten sah. (Platon 1990 (b), 557) Diese plötzliche und alles bisher für wahr Gehaltene umwerfende Entde‐ ckung wiederholt sich, wenn der Befreite die Höhle verlassen hat. Gewöhnung also, meine ich, wird er nötig haben, um das Obere zu sehen. Und zuerst würde er Schatten am leichtesten erkennen, hernach die Bilder der Menschen und der anderen Dinge im Wasser und dann erst sie selbst. (Platon 1990 (b), 559) Es braucht einige Zeit, um die ‚Ideen‘ hinter den Dingen zu entdecken (s. u.). Bezogen auf das Bild der Höhle: Außerhalb der Höhle ist es zu hell für einen Höhlenbewohner. Der Befreite durchschaut, dass, was er bisher sah, die Schatten, nur zweidimensionale Abbilder von eigentlich dreidimensionalen Gegenständen waren. Zudem durchschaut er, dass seine Gefährten und er die ganze Zeit in einer Art Unterwelt gelebt haben und dass es noch eine richtige Welt gibt, nämlich die freie Welt unter der Sonne. Dies sollen wir nun auf uns übertragen. Auch wir leben, das möchte Platon uns sagen, 98 6 Wozu soll intuitives Wissen gut sein? die ganze Zeit in einer Höhle. Denn wir begnügen uns mit der materiellen Fassade der Dinge. So wie der befreite Höhlenbewohner oben die wahre Welt entdeckt, können wir hinter der materiellen Fassade der Dinge ihr eigentliches Wesen und damit eine neue Welt ‚schauen‘. Wir können etwas intuitiv wissen. Etwas von innen heraus verstehen, sein Wesen (Idee) ‚schauen‘: ein Beispiel. Platon selbst gibt das Beispiel des Zaumzeugs. Angenommen, ein Sattler oder Schuster ist selbst kein Reiter, kann aber auf Anfrage und Bestellung jedes beliebige Zaumzeug herstellen. Ein Kunde wird vielleicht sagen, er brauche das bestmögliche Zaumzeug. Der Sattler muss nun vom Reiter erfahren, worauf es im Einzelnen ankommt bei einem sehr guten Zaumzeug. Notwendig also ist auch der Gebrauchende immer der Erfahrenste und muß dem Verfertiger Bericht erstatten, wie sich das, was er gebraucht, gut oder schlecht zeigt im Gebrauch. (Platon 1990 (b), 813) Wir stellen uns vor, dass der Reiter durch eine jahrelange Praxis sofort weiß oder intuitiv spürt, ob ein Zaumzeug etwas taugt. Vieles davon wird der Reiter benennen können, weil er erfahren ist in der Handhabung des Zaum‐ zeugs beim Reiten. Doch nicht alles ist vollständig in Worten auszudrücken. Es gibt zweifellos ein Optimum für diesen Gebrauchsgegenstand. Der Reiter spürt im Gebrauch, ob das Zaumzeug nah an das Optimum heranreicht. Dieses Optimum stellt die ‚Idee‘ dar, die hinter dem einzelnen Zaumzeug liegt. Es ist selbst nur ein Abbild, eine Realisierung des Optimums neben anderen möglichen Realisierungen. Eine Ahnung oder Intuition von diesem Optimum zu haben, das heißt, die Höhle plötzlich zu verlassen und hinter die Dinge zu schauen. Ein anderes bekanntes Beispiel ist der materielle, stets ungenaue Kreis an der Tafel oder im Heft als Abbild seines eigentlichen Wesens, nämlich der immateriellen geometrischen Gegebenheit, ‚Kreis‘ (Platon 1983, 415 ff.). Wenn Ihre Schüler: innen irgendwann intuitiv erfassen, was ein Kreis eigentlich ist (der geometrische Zusammenhang hinter den Abbildern), haben Sie die ‚Idee‘ des Kreises geschaut und die Höhle mit den Abbildern verlassen. Innovation: dem Optimum näher kommen. Im intuitiven Gespür liegt auch die Möglichkeit zur Innovation. Vielleicht lässt sich ein neues Material oder eine neue Verarbeitungsmethode finden? Und zwar, um näher an das immer schon existierende Optimum heranzukommen, um eine bessere Verkörperung der Idee zu erreichen. Bezogen auf das Höhlengleichnis: Der Sattler muss vom Reiter mühsam aus der Höhle hinausgeführt werden, 99 6.2 Platons Höhlengleichnis und was es heißt, etwas von innen heraus zu verstehen zur Schau des hinter dem konkreten, materiellen Zaumzeug liegenden Optimums (Idee), von dem er ein möglichst gutes Abbild herstellen soll. Am einfachsten ginge das, wenn der Handwerker selbst reiten und die Idee intuitiv erfahren könnte. Platon sieht die höchste Form von Wissen in der langwierigen (Gang aus der Höhle, Abschied von bisherigen Annahmen) Schau des Wesens (Idee) eines Dinges. Wir können etwas intuitiv verstehen, wenn wir (Beispiel Gebrauchsgegenstand) sein Optimum, von dem das Ding ein möglichst gutes Abbild sein soll, im Gebrauch ganzheitlich erfassen. Intuition heißt hier, Dinge zu durchschauen, auf das hin, was sie ‚eigentlich‘ sind, auf die nur mühsam sichtbaren Strukturen (z. B. Funk‐ tionszusammenhänge) hinter ihnen. 6.3 Zhuangzi: Intuitives Wissen in der daoistischen Philosophie Zum Handwerk des Wagenmachers Pian gehört intuitives Wissen. Vom chine‐ sischen Philosophen Zhuangzi (365-290) stammt folgende Geschichte: Herzog Huan las in seiner Halle ein Buch. Da kam der Wagenmacher Pian, der im Hof unten ein Rad anfertigte. Er legte Hammer und Meißel beiseite und ging hinauf in die Halle. Er fragte den Herzog folgendes: „Darf ich fragen, wessen Worte es sind, die Sie da lesen? “ Der Herzog antwortete: „Es sind die Worte der Berufenen.“ „Leben denn die Berufenen noch? “ Der Herzog antwortete: „Nein, die sind schon lange tot.“ „Dann ist ja das, was Sie da lesen, der Abfall von toten Leuten und weiter nichts.“ Der Herzog erwiderte darauf [erbost]: „Seit wann hat ein Wagner das Recht, darüber zu diskutieren, welche Bücher ich lese? Wenn du [darauf] etwas zu sagen hast, dann antworte, wenn nicht, dann mußt du sterben! “ Der Wagenmacher antwortete: „Ich betrachte es von meinem Handwerk aus. Wenn ich ein Rad meißle und die Stöße des Hammers zu sanft sind, dann rutscht der Meißel ab und findet keinen Halt. Wenn die Stöße des Hammers zu hart sind, dann klemmt der Meißel fest und bewegt sich nicht mehr. Weder zu weich noch zu hart - man kann es in den Fingern erlangen und im Herzen dafür resonanzfähig (ying) werden, aber der Mund kann es nicht ausdrücken. Es gibt 100 6 Wozu soll intuitives Wissen gut sein? eine Kunstfertigkeit dabei, die ich nicht einmal meinem Sohn vermitteln kann, und er kann sie auch nicht von mir lernen. So halte ich es seit siebzig Jahren und mache in meinem Alter immer noch Räder. Als die Menschen des Altertums gestorben sind, starb mit ihnen das, was sie nicht übermitteln konnten, deswegen ist das, was Sie lesen, nichts als der Abfall der Alten! “ (Zhuangzi 2012, 180 f.) Der Wagenmacher Pian beschreibt die Kunst des Wagen- und Räderbaus ähnlich wie Platon die Kunst, das richtige, das optimale Zaumzeug anzufer‐ tigen. Bei beiden Autoren ist gut nachvollziehbar, dass es ein intuitives Wissen gibt, welches sich nicht vollständig in Sprache überführen lässt. Wie kann das Handwerk erlernt werden? Der Wagenmacher Pian spricht von zweierlei: zum einen davon, dass dieses Wissen sich mit der Zeit in der Praxis und in unserem Körper entwickelt. Und zum anderen spricht er von einer Resonanz. zwischen den Lernenden und der Aufgabe. Es ist einfach so, dass nicht alles möglich ist, dass das Material und das Werkzeug nicht alles zulassen. Doch um jene eine Möglichkeit zu finden, welche sich auftut inmitten all der Unmöglichkeiten (meist sind die Schläge zu weich oder zu hart), müssen die Lernenden nicht nur kontinuierlich suchen, sie müssen auch sensibel bzw. resonant sein. Nach und nach entsteht so ein Sinn für das Mögliche, für das Richtige, für das Optimum. Im Erlernen des intuitiven Wissens kommt es darauf an, nach und nach erspüren zu können, wann sich diese Möglichkeit auftut. Es ist wie ein versteckter Eingang, der geduldig gesucht werden muss und nur durch eine sensible Resonanz gefunden werden kann. Zhuangzi beschreibt ein intuitives Wissen. In Kapitel 13 geht es um das Bildungsziel, die Welt in ihrer Tiefe erfahren zu können. Dazu wird kurz Hartmut Rosas Resonanztheorie vorgestellt (Rosa 2020 (a)). In ihr sehe ich eine Parallele zu Zhuangzi. Zhuangzi möchte am Beispiel des Handwerks zeigen: Nicht alles Wissen lässt sich versprachlichen, und Lernen funktioniert nicht ausschließlich vermittelt durch Begriffe. Vielmehr gilt es, in der Praxis (auch in der Lebenspraxis) unsere Resonanzfähigkeit auszubilden, um so ein intuitives Gespür für Möglichkeiten zu finden, die sich auftun inmitten all der Unmöglichkeiten. 101 6.3 Zhuangzi: Intuitives Wissen in der daoistischen Philosophie 6.4 Intuitives Wissen in unserem Alltag: Beispiele Das Beispiel des Reisens. (Siehe für das Folgende Thomas 2020, 160 ff.) ‚Man sieht nur, was man weiß‘, mit diesem Satz wirbt der Dumont Verlag seit mehr als 50 Jahren für seine Reiseführer (www.dumontreise.de/ reisefueh rer/ index.html, 19.07.2021). Leicht lässt sich verstehen, inwiefern dieser Gedanke auf Zustimmung stoßen wird. Auf Reisen sind wir, noch dazu unter Zeitdruck, dankbar für alle Informationen. Denn erst wenn wir wissen, was es zum Beispiel mit bestimmten Gebäuden auf sich hat, erschließen sich die geschichtlichen Bedeutungen und weitere Zusammenhänge, welche den besuchten Ort für uns interessant machen: Erst wenn wir wissen, sehen wir auch. Doch es gibt noch eine andere Art zu reisen. Wir begeben uns etwa an einen weit entfernten Ort und buchen eine Unterkunft nur für die erste Nacht. Alles andere überlassen wir unserer Intuition vor Ort: den Möglichkeiten, die sich uns in jenem neuen Hier und Jetzt auftun, wo unsere Reise beginnt. Bei dieser Art des Reisens ist nicht mehr das Wissen entscheidend, sondern das Erfahren. Förderlich ist es, wenn wir nicht mehr wiedererkennen möchten (Reiseführer) und die ängstliche Frage verabschieden, was wir vielleicht übersehen, weil wir es nicht wissen, wenn wir stattdessen zufällige Entdeckungen machen. Es geht um Resonanz. Sensibel können wir uns öffnen für Atmosphären, für Möglichkeiten, aber auch für das, was die Situation eher nicht hergibt, also für Grenzen. Nach einer Weile, in der alles noch ungewohnt ist, haben wir das Gefühl, dass sich langsam eine Art Intuition herausbildet. Wir gleiten sozusagen hinein in unser neues Hier und Jetzt wie in eine Tätigkeit, welche wir lange geübt und für die wir ein feines Gespür haben. Hier können wir an den Wagenmacher Pian zurückdenken. Das Beispiel der Alltagsaufgaben. Bei der Bewältigung unserer Alltags‐ aufgaben müssen wir oft viel Kraft aufwenden. Schwierigkeiten, welche den Arbeitsablauf verzögern, der Zeitdruck, unter dem wir beim Lernen oder Arbeiten stehen - all dem müssen wir mit Willen und Konsequenz begegnen, um unsere Ziele zu erreichen. Arbeit ist anstrengend. Doch muss sie das immer sein? Es gibt eine ganz andere Art des Umgangs mit den Alltagsaufgaben. In dieser alternativen Art suchen wir gewissermaßen den ‚Eingang‘. Wir packen nicht den Stier bei den Hörnern oder bohren das Brett an der dicksten Stelle - sondern finden die Stelle an der Arbeit, mit der wir uns identifizieren und die uns leicht von der Hand geht. Wie der Wagenmacher Pian suchen wir jenes richtige Maß zwischen zu weich und 102 6 Wozu soll intuitives Wissen gut sein? zu hart, wir suchen die Möglichkeit zwischen all dem Unmöglichen, wir suchen die Stelle, an der alles leicht wird und von selbst zu gelingen scheint. Wir haben dann gar nicht das Gefühl, dass wir viel geleistet haben, denn die Arbeit war weniger anstrengend als gedacht. Wir alle haben solche Erfahrungen schon gemacht, wenn wir eine ‚geniale‘ und einfache Lösung für eine Aufgabe finden. Das Beispiel des richtig guten und gelingenden eigenen Unterrichts. Stellen Sie sich vor, Sie sind im Referendariat und haben den Eindruck, nichts Gutes hinzubekommen. Sicher geben ihre Ausbilder: innen zahlreiche Hinweise. Sie nennen Ihnen bestimmte pädagogische und fachdidaktische Vorgehens‐ weisen, mit denen Sie ihr Unterrichten verbessern können - und das ist gut so. Doch lässt sich wirklich alles Misslingen und Gelingen vollständig rekonstruieren in Begriffen und Gründen? Stellen Sie sich nun vor, Sie werden Musiker: innen oder Künstler: innen. In der Musik- oder Kunstaka‐ demie wird man etwas anders vorgehen. Im Unterricht wird man neben der Theorie auch darauf zielen, dass Sie ein Gefühl für die Kunst und Ihr eigenes Optimum entwickeln. Irgendwann sollen Sie spüren, ob ihre Performance so gut war, wie bisher noch nie oder ob sie hinter ihren Möglichkeiten zurückgeblieben sind. Vieles, aber nicht alles geht auf im Erklären, es gibt nicht für jeden Schritt ein Rezept, das man zunächst mental versteht und anschließend umsetzt. Der Wagenmacher Pian würde sagen, Unterrichten sei wie sein Handwerk: nicht vollständig zu vermitteln. Platon würde sagen, es gebe die ‚Idee‘ eines wirklich gelingenden Unterrichts, doch diese sei nicht vollständig beschreibbar, sondern müsse intuitiv ‚geschaut‘ werden. Eine einzige gelingende Stunde könne sein wie der Ausgang aus der Höhle, wie diese ‚Schau‘. Stellen Sie sich vor, auch Ihr Unterrichten werde als Kunst angesehen. Dann würde man in Ihrem Referendariat vor allem versuchen, Ihnen ein Gespür dafür zu vermitteln, wann der Kontakt zur Klasse plötzlich da ist und wie es ist, mit einem Mal das eigene Optimum zu spüren in der Kunst des Erklärens oder Einübens. Solche Rückmeldungen wären Ermutigungen dazu, wie es oben hieß, den Eingang zu finden, jene Stelle, an der die schwierige Kunst, das Unterrichten, plötzlich leicht wird. Die Kunst des Unterrichtens müsste vor allem geübt werden. Das Wesentliche dabei wäre nur intuitiv zu erfassen. Nice to have? Die Beispiele sollten illustrieren, was intuitives Wissen kann. Aber ist das wirklich wichtig oder nur nice to have? Ich bin überzeugt, dieses intuitive Verstehen des Ganzen ohne Worte, das ist kein überflüssiger Luxus, sondern in sehr elementaren praktischen Kontexten ist die intuitive 103 6.4 Intuitives Wissen in unserem Alltag: Beispiele Herangehensweise eine wichtige Ergänzung und ein Ziel der Bildung und Entwicklung. Intuition im Unterricht? Intuitives Wissen gilt Platon und Zhuangzi als höher im Vergleich zum begrifflich-sprachlichen Wissen. Auch die Beispiele sprechen dafür. Doch unsere (Bildungs-)Kultur favorisiert meist das begriff‐ liche Erklären und Verstehen. Der Tafelaufschrieb als Ergebnissicherung und deren sprachliche Reproduktion in der Klassenarbeit sind das Bildungs‐ ziel. Ich möchte Sie dazu ermutigen, bei der Vermittlung des Stoffs immer wieder auch Intuition als Lernziel zu verstehen: Ihr sollt ein Gespür für die Sache bekommen, so könnten Sie zu Ihren Schüler: innen sagen, Ihr sollt am Stoff selbst üben, bis ‚der Groschen fällt‘ und Ihr ‚den Eingang findet‘. Nicht meine Worte sind wichtig, sondern haltet Euch an Eure Erfahrung, an Eure kreative Einsicht. Und ich möchte Sie dazu ermutigen, Ihr eigenes Unterrichten auch als Kunst anzusehen und sich für diese sensibel und resonant zu halten. Intuition kann in wichtigen Lebensbereichen sehr wertvoll sein, doch allzu oft steht sie im Schatten des üblichen Erklärens mit Hilfe von Begriffen und Modellen. Demgegenüber können wir intuitives Wissen eigens kultivieren. Ihre Antwort auf die Frage Ihrer Schüler: innen: Wozu soll intuitives Wissen gut sein? Ist Intuition nicht rein subjektiv? So könnten Sie Ihren Schüler: innen antworten: ▸ Als Lehrperson, so könnten Sie sagen, bin ich auch Expert: in für Bildung insgesamt. Es ist wichtig für Euch zu wissen, dass es auch ein intuitives Wissen gibt. Dieses ist sehr alltäglich, es wird oft übersehen, hat aber ein großes Potenzial. Ihr sollt einen Sinn dafür entwickeln. ▸ Zur Erklärung können Sie auf Beispiele aus der Schule verweisen: Fragen des Werkunterrichts ebenso wie bestimmte Bewegungsab‐ läufe im Schulfach Sport oder intuitive Lösungen von Problemen in der Lerngruppe. Oder: ▸ Die Trainerin sagt: Ich weiß nicht genau, wie Du das gemacht hast, aber versuche, Dich intuitiv an dieses Gefühl des Gelingens zu 104 6 Wozu soll intuitives Wissen gut sein? erinnern, um beim nächsten Mal das wiederzuerkennen, was Dir tatsächlich möglich ist. ▸ Im Unterricht wertschätzen und pflegen Sie auch Sensibilität, Re‐ sonanz und Intuition. Es geht Ihnen nicht nur um Wissensbestände. Beim Einüben des Stoffs ermuntern Sie Ihre Schüler: innen, sich von Ihren Erklärungen wieder zu lösen, ein eigenes Gespür zu entwickeln und ‚den Eingang zu finden‘. Wenn Sie sich noch weiter interessieren Für Hausarbeiten oder für Ihre Bachelorarbeit könnte die Frage der Intuition in den Fachdidaktiken Ihrer Unterrichtsfächer interessant sein. In der Ma‐ thematikdidaktik ist etwa die Entwicklung des intuitiven probabilistischen Denkens von Jugendlichen untersucht worden von WEIXLER 2010. In der Biologiedidaktik gibt es Ansätze für ein eher intuitives Erlernen natürlicher Zusammenhänge, siehe GEBHARD/ OSCHATZ 2019. Und in der Sportdi‐ daktik ist das Zusammenspiel von Intuition und verbalen Erklärungen u. a. beim Bewegungslernen ein Thema, siehe NITSCH 1996. Auch die Politikdidaktik hat die Rolle der Intuition untersucht, siehe GEORGE 1993. Über eine Datenbank können Sie weitere Literatur für alle Fächer finden, z. B. Fachportal Pädagogik (www.fachportal-paedagogik.de/ literatur/ produ kte/ fachinformationsdienst/ fachinformationsdienst.html, 19.07.2021). Wenn Sie sich speziell dafür interessieren, wie man sich PLATONs ‚Idee‘ vorstellen und Jugendlichen erklären kann, lesen Sie THOMAS 2005. Und wenn Sie mehr lernen möchten über das intuitive Wissen in der daoistischen Philosophie, empfehle ich Ihnen BILLETER 2015. Bei Interesse an Knowledge How (tacit knowledge) lesen Sie für einen ersten Überblick den Eintrag in der Stanford Encyclopedia of Philosophy (https: / / plato.stanford.edu/ entries/ knowledge-how/ , 19.07.2021). 105 Wenn Sie sich noch weiter interessieren 7 Kann ich durch Bildung ich selbst werden? (Humboldt, Herbart, Nietzsche, Simmel, Anzaldúa) … daß das Selbst, je mehr es erkennt, um so mehr sich selber erkennt. S ØR E N K I E R K E G AA R D (1992, 28) Worum geht es? Ihre Schüler: innen fragen Sie: Nützt uns schulische Bildung auch auf unserem eigenen Weg, wenn es etwa um wichtige Entscheidungen geht? Kann uns Bildung persönlich weiterbringen - können wir durch Bildung wir selbst werden? Vielleicht haben Sie sich dies auch schon in Bezug auf Ihr Studium gefragt. Was bringen Ihnen persönlich all die Theorien und Ansätze, mit denen Sie sich beschäftigen müssen? Und in Ihrem Beruf: Können Sie Ihre Schüler: innen eigentlich auch als Menschen bilden und sie als Individuen zu sich selbst bringen? Genauer geht es um Folgendes: ▸ Was bedeutet das genau: Selbstwerdung durch Bildung? Welche bildungstheoretische und philosophische Vorstellung davon brau‐ chen Sie, um Ihren Schüler: innen eine gute Antwort geben zu können? ▸ Wie können Sie Ihren Schüler: innen erklären, dass Bildung ihnen dabei helfen kann, sich selbst zu entdecken, ihre Interessen und ihren eigenen Weg? ▸ Wie können Sie Bildung, die nicht immer zur Selbstwerdung beitragen kann, ergänzen durch eine andere, die stärker ein Weg zum Selbst ist? 7.1 Die eigenen Interessen und den eigenen Willen entdecken (Humboldt, Herbart) Bildung wozu und weshalb? Würden wir Geistliche egal welcher Religion fragen, worauf es in der Bildung vor allem ankomme, dann würde die Antwort wohl lauten: Es kommt darauf an zu lernen, ein frommes, got‐ tesfürchtiges und spirituell tiefes Leben führen zu können. Würden wir Führungsfiguren egal welchen Staates fragen, worauf es in der Bildung vor allem ankomme, dann würde die Antwort wohl lauten: Es kommt vor allem darauf an zu lernen, ein gesetzestreues, sozial denkendes und handelndes und engagiertes Mitglied der staatlichen Gemeinschaft zu werden, das für den Staat Verantwortung übernimmt. Diese religiöse und staatliche Sicht auf Bildung war lange ohne Alternative. Sie mag nicht einfach falsch sein, aber es sind noch ganz andere Bildungsziele denkbar und diese gehen auch in Richung Selbstwerdung. Bildung für den Menschen, Erziehung des Menschen. Für die europäische Geistesgeschichte ist die Zeit Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts sehr bedeutend. In der Frage, wofür Bildung eigentlich organisiert wird und wozu sie dienen soll, wurden nun plötzlich ganz neue und revolutionäre Ideen entwickelt. Diese Zeit der Aufklärung sah in den Menschen und in der ganzen Menschheit nicht länger etwas, das vor allem funktionieren, gehorchen und einem bestimmten Zweck dienen sollte. Etwas anderes, bisher offensichtlich völlig Übersehenes, schien jetzt viel wichtiger: Es galt, durch Erziehung und Bildung die Potenziale jedes einzelnen Menschen und damit der Menschheit insgesamt ans Licht zu bringen. Der Mensch‐ heitsfortschritt wurde im Sinne eines größeren Wohlstands, einer besseren, gerechteren Gesellschaft und auch als ein moralischer Fortschritt gedacht. Der Zweck der Bildung war für den einzelnen Menschen und für die Menschheit nicht länger äußerlich. Die Menschen sollten sich selbst befreien von alten Bevormundungen, etwa staatlichen oder kirchlichen (Kap. 1). Die Menschheit sollte sich durch Fortschritt und Bildung überhaupt erst zu sich selbst entwickeln. Und jede: r einzelne sollte aus sich selbst das Beste machen, sollte die eigenen und individuellen Anlagen entwickeln und verwirklichen. Bildung wozu und weshalb? Bildung für die Menschheit und für jeden Menschen selbst! Wilhelm von Humboldt (1767-1835): Der hoch gebildete Adlige Wilhelm von Humboldt, der später als eine Art Wissenschafts- und Kultusminister in der Hauptstadt Berlin wichtige Bildungsreformen für Preußen durchführte, verfasste schon früh grundsätzliche bildungsphilosophische Schriften. Hier vertrat er offensiv die Idee, der Staat solle zwar Bildung organisieren und finanzieren, er solle sie aber nicht vor allem auf rein staatliche Zwecke hin ausrichten und einfach Untertanen erziehen. Vielmehr sei wichtig, dass die Menschen sich umfassend bilden und dabei eine größtmögliche 108 7 Kann ich durch Bildung ich selbst werden? Selbstständigkeit im Denken und Handeln erlangen (Benner 1990, 77 ff., 176 ff.). Der wahre Zwek des Menschen […] ist die höchste und proportionirlichste [ausgewogenste, also nicht einseitige, Ph.Th.] Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerlässliche Bedingung. […] Ueberhaupt wird der Verstand des Menschen doch, wie jede andre seiner Kräfte, nur durch eigne Thätigkeit, eigne Erfindsamkeit, oder eigne Benuzung fremder Erfindungen gebildet. Anordnungen des Staats aber führen immer, mehr oder minder, Zwang mit sich, und selbst, wenn diess der Fall nicht ist, so gewöhnen sie den Menschen zu sehr, mehr fremde Belehrung, fremde Leitung, fremde Hülfe zu erwarten, als selbst auf Auswege zu denken. (Humboldt 1980, 64, 73) Humboldt kommt es auf die Entwicklung und Ausbildung der in den Menschen liegenden Anlagen an. Diese könnten zwar auch für staatliche Zwecke ausgebildet und genutzt werden. Doch viel besser ist es, wenn die Menschen frei von allen äußerlichen Zwecken ihre Fähigkeiten aktiv einsetzen und sie dabei vervollkommnen. Sie selbst kennen dies aus ihrer Lebenserfahrung und wissen es von Ihren Schüler: innen. Am meisten lernt man, wenn man sich in Situationen befindet, in denen man wirklich gefordert ist und seine Kräfte einsetzen muss. Die Fähigkeit, sich fließend auf Englisch zu unterhalten, haben Sie vielleicht erst richtig im Ausland gelernt, als es wirklich darauf ankam. Humboldt denkt aber nicht nur an sprachliche Kompetenzen, sondern an die umfassende Ausbildung aller Kräfte, die in uns schlummern. Dazu gehören alle Fächer, auch die künstlerischen, und ebenso gehört die moralische Entwicklung dazu. Johann Friedrich Herbart (1776-1841): Dem Professor für Philosophie und Pädagogik in Göttingen und Königsberg, wo er Nachfolger Immanuel Kants wird, kommt es darauf an, zu wissen nämlich, was man will, indem man die Erziehung anfängt! […] Woran dem Erzieher gelegen sein soll: das muss ihm wie eine Landkarte vorliegen. (Herbart 1894, 7) Und diese Landkarte muss aus der Sache der Bildung selbst gewonnen werden, nicht die Kirche oder der Staat sollen über die Erziehungsziele bestimmen. Doch bei Herbart kommt noch etwas Neues hinzu: Nicht einmal die Lehrperson kennt diese Ziele im Detail, weil jeder Mensch verschiedene Begabungen hat und unterschiedliche Interessen entwickelt. Doch dass er überhaupt auf sich selbst und auf seine Begabungen aufmerksam wird, dass 109 7.1 Die eigenen Interessen und den eigenen Willen entdecken er eigene Interessen entwickelt, ja, einen eigenen Willen und schließlich einen eigenen Charakter, dieses Ziel kennt die Lehrperson: „welche Zwecke der Zögling künftig als Erwachsener sich selbst setzen wird, diese muß der Erzieher seinen Bemühungen jetzt setzen“ (Herbart 1894, 24). Der Jugendliche soll sich also selbst finden und der Erzieher soll ihm dabei helfen. Wie kann der Erzieher sich die bloß möglichen künftigen Zwecke des Zöglings im voraus zueignen? Das Objektive dieser Zwecke [also: worin genau diese künftigen Ziele, die der Jugendliche sich später selbst setzen wird, bestehen, Ph.Th.] […] hat für den Erzieher gar kein Interesse [denn die wird der Jugendliche selbst finden, Ph.Th.]. Nur das Wollen des künftigen Mannes selbst [an Frauen denkt Herbart hier leider noch nicht, Ph.Th.] […] ist dem Erzieher Gegenstand seines Wohlwollens; und die Kraft, die ursprüngliche Lust, die Aktivität [des Zöglings, Ph.Th.] […]. Also schwebt uns hier nicht eine gewisse Anzahl einzelner Zwecke, (die wir überall nicht vorher wissen können), sondern die Aktivität des heranwachsenden Menschen überhaupt vor. (Herbart 1894, 24 f., Hervorhebung i. O.) Bildung ist Selbstwerdung ist Charakterbildung. Das Ziel der Lehrperson ist es, den inneren Kern der Kinder und Jugendlichen zu wecken, um ein Gefühl für sich selbst entstehen zu lassen. Zweierlei ist dazu nötig: Zum einen muss die Lehrperson möglichst vielfältige Angebote machen und viel Stoff leben‐ dig vermitteln, damit für die Jugendlichen immer etwas dabei ist, für das sie sich begeistern und das sie zu ihrer eigenen Sache machen können. Doch dies reicht noch nicht. Herbart weiß, wie bequem wir Menschen sind. Einfach nur zu sagen, was man interessant oder uninteressant findet, das ist noch keine ambitionierte Bildung, keine echte Charakterbildung. Hinzukommen muss daher, dass die Jugendlichen einen eigenen Willen ausbilden. Und dafür braucht es das, was wir heute Selbstwirksamkeitserwartung nennen, die sich aus der positiven Erfahrung ergibt, dass man das, was man selbst machen will, auch tatsächlich machen kann und, trotz Schwierigkeiten, auch schaffen wird. Fassen wir zusammen: Zuerst sollen die Jugendlichen frei und ohne Bevormundung durch die Lehrperson ihre Interessen entdecken, indem sie viele verschiedene Angebote bekommen. Dann gilt es aber, einen eigenen Willen zu entwickeln, der es erst möglich macht, diese Interessen auch zu verfolgen. Ein Beispiel passend zu unserer Zeit. Ein Mädchen entdeckt im Schultheater ihre Leidenschaft für die Bühne. Schauspielerin zu werden, dieses Ziel wird ihr als Verwirklichung ihrer Anlagen und Interessen immer klarer 110 7 Kann ich durch Bildung ich selbst werden? und wichtiger. Jetzt muss sie einen großen Willen entfalten, wenn sie eine reale Chance haben will. Niemand anderes wird es ihr abnehmen, sich selbst so weit zu entwickeln, dass man ihren unbedingten Willen und ihr Können spüren und sehen kann. Dieser Wille aber entsteht aus dem Tun. Das Mädchen wird jede Rolle übernehmen, wird jede Chance ergreifen zu spielen, besser zu werden und sich zu beweisen. Die Lehrpersonen können dem Mädchen helfen, indem sie es ermutigen, ihm schwierige Rollen geben, sie ehrlich kritisieren und loben und ihr damit langsam die Erfahrung vermitteln, was genau sie wie gut kann. Wichtig ist vor allem die Erfahrung des Mädchens, was sie alles lernen und leisten kann, wenn sie es tatsächlich versucht. Der Erfolg der Bildung besteht darin, dass Kinder und Jugendliche ihre Anlagen entdecken und schließlich den Willen entwickeln, das zu verwirklichen, was sie unbedingt tun müssen. Wie individuell soll Bildung sein? Ging es Humboldt und Herbart wirklich schon in unserem modernen Sinn darum, in der Bildung ganz individuelle Ziele zu verfolgen, sodass schließlich eine recht heterogene Gesellschaft entsteht, in der sich die Menschen auf ganz unterschiedliche Weise selbst verwirklichen können? Auch wenn der spätere Gedanke einer eigenen, authentischen Selbstverwirklichung potenziell schon in den um 1800 ent‐ wickelten Gedanken steckt (Benner 1990, 77 ff., 176 ff.) - damals ging man noch davon aus, dass die gebildeten, die charakterstarken Männer, welche eine erfolgreiche Erziehung genossen haben, sich in vieler Hinsicht gleichen. Durchaus sollten individuelle Anlagen ausgebildet werden. Doch man erwartete, dass ein hervorragender Staatsmann, ein tüchtiger Wirt‐ schaftsführer, ein vollendeter Künstler oder ein genialer Wissenschaftler in gewisser Weise ähnlich sind. Sie alle dringen durch ihren Willen und ihre Charakterbildung in einen Bereich des klassischen Guten, Wahren und Schönen vor, der selbst nicht weiter zur Debatte stand, sondern von dem man einfach annahm, dass es ihn gibt. Es handelt sich um Ideale der Antike, der christlichen Religion und der damals modernen Ethik Kants. Es geht um Vernunft, um Ordnung, um den Fortschritt des Guten, um die Erhebung der Einzelnen zu allgemeinen wahren Einsichten. Und als Personen sollten die gebildeten Männer möglichst vollkommen sein: ohne charakterliche Widersprüche, gewissermaßen ohne ungelöste Reste in ihrer Seele (Herbart 1894, 85 ff.). Erst später, etwa bei Nietzsche, in der Romantik, Kunst und Psychologie des 20. Jahrhunderts, entdeckte man, wie individuell verschieden auch die höchstentwickelten Menschen sind. Bildung konnte sich nun ganz neu auf das wirklich Individuelle der Menschen einlassen. 111 7.1 Die eigenen Interessen und den eigenen Willen entdecken Für Humboldt und Herbart bedeuteten Bildung und ihr höchstes Ziel noch, etwas sehr Allgemeines in den einzelnen Individuen zu entwickeln, wenn auch auf individuellem Weg und auf individuellem Gebiet: klassische Ideale eben, rund um Vernunft, Einheit, Vollkommenheit, Sittlichkeit und Humanität. Humboldt und Herbart machten sich stark für eine Bildung, die endlich frei sein sollte von den Interessen des Staats, der Kirche und der Wirtschaft. Stattdessen sollte jedes Individuum sich in der Bildung selbst entdecken und seinen Charakter entwickeln. 7.2 Meine eigenste Perspektive entwickeln (Nietzsche) Zu viel ewige, zu wenig eigene Wahrheit. Der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche (1844-1900) war der Auffassung, die Philosophie und darüber hinaus die ganze übliche Bildung an Schule und Hochschule, insbesondere auch die historische, entferne uns eher von uns selbst, anstatt uns Mut dazu zu machen, wir selbst zu werden. Die klassische Philosophie war immer davon ausgegangen, dass es unveränderliche Wahrheiten gebe und dass diese sicher nicht mit unseren Sinnen, mit unseren Neigungen und mit unserem Begehren erkannt werden können - sondern mit jenem Teil in uns, der selbst Teil hat am unveränderlich Wahren: mit der Vernunft. Nietzsche sieht die Tendenz seiner Zeit, insbesondere im Bildungssystem, überaus kritisch: nämlich, so ließe sich vereinfacht sagen, die Jugendlichen zu einem Fokus allein auf unveränderliche und überindividuelle Wahrheiten zu zwingen - und dabei zu verhindern, dass die Jugendlichen ihre eigenen Wahrheiten finden, ihre eigene Perspektive entdecken. Hüten wir uns nämlich, meine Herrn Philosophen, von nun an besser vor der gefährlichen alten Begriffs-Fabelei, welche ein „reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntniss“ angesetzt hat, hüten wir uns vor den Fangar‐ men solcher contradiktorischen [sich selbst widersprechenden, Ph.Th.] Begriffe wie „reine Vernunft“, „absolute Geistigkeit“, „Erkenntnis an sich“. (Nietzsche 2005, 365) 112 7 Kann ich durch Bildung ich selbst werden? Nietzsche will sagen: Es gibt keine reine, absolute, losgelöste Vernunft, weil Vernunft immer situiert, d. h. immer an einen konkreten Menschen mit seiner Perspektive gebunden ist. Jenes erkennende Subjekt, welches allein die unveränderlichen Wahrheiten erkennen kann, gibt es gar nicht oder vielleicht nur in der mathematischen Erkenntnis. Vielmehr sind wir immer leibliche Subjekte, wir nehmen ein konkretes Hier und Jetzt ein, sind geschlechtliche Wesen, haben einen spezifischen Erfahrungshintergrund, kurz: In unserem Erkennen sind wir immer an eine individuelle Perspektive gebunden. Doch dies ist kein Nachteil, sondern macht unser Erkennen erst möglich, weil wir das, was wir sehen, immer aus einem bestimmten Blickwinkel verstehen: Es gibt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches „Erkennen“; und je mehr Affekte [Gefühle, ob wir etwas als angenehm oder unangenehm empfinden, Ph.Th.] wir über eine Sache zu Worte kommen lassen, je mehr Augen, verschiedne Augen [verschiedene Perspektiven, Ph.Th.] wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger wird unser „Begriff “ dieser Sache, unsre „Objektivität“ sein. Den Willen [unsere Neigungen, unsere Absichten, Ph.Th.] aber überhaupt eliminiren [auslöschen, wie dies die klassische Philosophie möchte] […] hiesse das nicht den Intellekt castriren? (Nietzsche 2005, 365, Hervorhebung i. O.) Die eigene Perspektive. Wir kastrieren unsere Erkenntnis, wenn sie eine ab‐ solute, reine, ewige Erkenntnis sein muss. Unsere Erkenntnis wird dagegen fruchtbar, wenn sie eine ganz eigene sein darf. Wie gelingt dies? Es ist die eine Sache, sich darüber klar zu werden, dass Erkenntnis fast immer perspektivisch ist. Leicht lässt sich dies verstehen, wenn wir an verschiedene Sprachen denken. Manche Ausdrücke oder Redewendungen scheinen kaum übersetzbar in eine andere Sprache, wir spüren eine ganz eigene Perspektive auf die Wirklichkeit. Ähnlich geht es uns, wenn wir an Praktiken einer uns fremden Kultur und Religion teilhaben, etwa an einer religiösen Feier. Hinter dem Gefühl der Fremdheit entdecken wir eine uns neue Perspektive auf das Leben, auf die Menschen, ja auf die Welt. Doch eine andere Sache ist es, wenn wir uns nach und nach dem Gedanken öffnen, dass auch wir selbst eine ganz eigene Perspektive auf die Welt haben und dass dies auch auf jeden anderen Menschen zutrifft. Unsere Perspektive hängt zusammen mit unserer spezifischen Situation, unserem Erfahrungshintergrund und ebenso mit unseren Neigungen und Begabungen. Unsere Perspektive ist Teil einer eigenen Melodie, die unser Leben durchzieht. Doch statt uns schon 113 7.2 Meine eigenste Perspektive entwickeln als Jugendliche dieser eigenen Perspektive und Melodie widmen zu dürfen, trägt die Erziehung pausenlos alle möglichen Ideen unserer Kultur an uns heran, mit denen wir uns beschäftigen und die wir anerkennen sollen. Das Ergebnis ist oft genug Verwirrung. Wir möchten dem folgen, was man uns als das Gute und Wichtige vorstellt. Doch weil wir dabei keine Zeit haben, nach unseren eigenen Zielen zu fragen, kann sich schließlich das Gefühl einstellen, uns selbst laufend zu verfehlen. Perfekt im Erfüllen fremder Maßstäbe haben wir nicht gelernt, eigene Maßstäbe zu entwickeln. Dies kann uns traurig machen, im Extremfall macht uns unser Leben kaum noch Freude. Sonderlich der starke, tragsame Mensch [der viel tragen kann, viel lernen, Ph.Th.] […]: zu viele fremde schwere Worte und Werthe lädt er sich auf, - nun dünkt das Leben ihm eine Wüste. (Nietzsche 1988 (b), 243, Hervorhebung i. O.) Nietzsches Gegenprogramm. Wir müssen nicht stark und ‚tragsam‘ sein, wie Nietzsche dies ausdrückt - wir dürfen leicht werden. Wer aber leicht werden will und ein Vogel, der muss sich selber lieben. (Nietzsche 1988 (b), 242) Wagt es doch erst, euch selber zu glauben - euch und euren Eingeweiden! Wer sich selber nicht glaubt, lügt immer. (Nietzsche 1988 (b), 158) Diese Forderung ist radikal und für den Bildungsbereich ungewohnt: sich selbst zu lieben. Selbstliebe, Eigenliebe, ist das nicht Egoismus? Es geht Nietzsche darum, unsere Neigungen und Abneigungen, unsere Wünsche und Anliegen nicht sofort durch die Brille des Fremden und Angelernten zu sehen. Das ist der Sinn, wenn es heißt, es gelte, den eigenen Eingeweiden zu glauben. Unsere Bedürfnisse sind real. Wir dürfen sie zunächst einfach wahrnehmen. Dadurch verhindern wir, dass wir sie sofort durch fremde Maßstäbe ersticken. Sich selbst, seiner eigenen Idiosynkrasie zu glauben, das kann ein erster Schritt sein in Richtung Wahrhaftigkeit, jener Wahrheit, die nur lebend und nicht denkend erreicht werden kann. Selbstverständlich müssen wir in einem weiteren Schritt unsere Bedürfnisse mit den Bedürf‐ nissen andrer Menschen in einen Ausgleich bringen. Doch es macht einen sehr großen Unterschied, ob wir diesen zweiten Schritt vor dem ersten (dem Wahrnehmen und Anerkennen, ja, dem Lieben unserer Bedürfnisse) tun oder nicht. 114 7 Kann ich durch Bildung ich selbst werden? Entdeckung des Selbst im Handeln. Doch Nietzsche geht es nicht nur um die Wahrnehmung unserer Bedürfnisse und die Entdeckung unserer ganz eigenen Perspektive auf das Leben, unserer ureigenen Melodie. Es geht ihm auch um das Handeln, um das Tun. In seiner Schrift Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, die er 1874 im Alter von 30 Jahren veröffentlicht hat, kritisiert Nietzsche den üblichen Historismus seiner Zeit. Überall entstehen Bauwerke in den architektonischen Stilen früherer Epochen (Neoromanik, Neogotik, Neoklassik usw.). Im Geschichtsunterricht geht es um heroische Zeiten und Menschen und die Verdienste unserer Vorfahren. Dadurch wird der Eindruck vermittelt, in einer ewigen Kette von Ursache und Wirkung zu stehen. Wir sind nichts ohne unsere Vorfahren. Und wir dürfen uns aus dieser Kette nie wirklich lösen. Unsere Handlungen müssen eine Fortsetzung und dürfen nicht neu sein. Es ist der ungerechteste Zustand von der Welt, eng, undankbar gegen das Ver‐ gangene, blind gegen Gefahren, taub gegen Warnungen […] und doch ist dieser Zustand - unhistorisch, widerhistorisch durch und durch - der Geburtsschooss […] jeder rechten That; und kein Künstler wird sein Bild, kein Feldherr seinen Sieg, kein Volk seine Freiheit erreichen, ohne sie in einem derartig unhistorischen Zustande vorher begehrt und erstrebt zu haben. (Nietzsche 1988 (a), 253 f.) Nietzsche will sagen: Wenn wir nicht nur davon träumen, was wir tun wollen, ja müssen, sondern es auch wirklich tun, dann sind wir immer irgendwie ungerecht gegen das, was vorher war, auch gegenüber den Erwartungen anderer. Auch wenn die auf uns gekommenen Kulturgüter der Vergangenheit und unsere Erziehung von großem Wert sind - im Augenblick einer Entscheidung, im Augenblick einer Tat brauchen wir auch „die Kunst und Kraft vergessen zu können“ (Nietzsche 1988 (a), 330). Im Moment dieser Entscheidung entdecken wir erst richtig, was es heißt, wir selbst zu sein, was es heißt, als ein selbstverantwortliches Individuum zu existieren: Im Handeln entdecken wir uns selbst. Schule und Selbst, Schule und die ‚eigenste Perspektive‘. Worum würde uns Nietzsche als unser Kollege im Lehrerzimmer bitten? Vermutlich darum, den Schüler: innen eine Neugier auf sich selbst zu eröffnen, eine Vorfreude auf ihre eigenste Perspektive und Meinung. Doch ganz sicher würde uns Nietz‐ sche noch um etwas anderes und um eine höhere Ambition bitten: nämlich die Schüler: innen dazu zu ermuntern, sich selbst auszudrücken und für ihren spezifischen Erfahrungshintergrund, für ihre Idiosynkrasie, für ihre ‚eigene Melodie‘ eine Ausdrucksmöglichkeit, eine Stimme zu finden (Kap. 8). Hier 115 7.2 Meine eigenste Perspektive entwickeln können wir unterstützen, indem wir die Kinder und Jugendlichen erzählen und von sich selbst schreiben lassen. Und sie ermuntern, so lange nach Worten (oder anderem) zu suchen, bis andere Menschen die eigenste Per‐ spektive auch wirklich nachempfinden und verstehen können. Anders als zu Nietzsches Zeiten braucht man heute vielleicht weniger Mut, um eigene Ansichten zu äußern. Doch andere an der eigensten Perspektive wirklich teilhaben zu lassen, ja, diese so zu vermitteln, dass sie auch verstanden und anerkannt wird, dazu braucht es unvermindert viel Anstrengung. Wo immer sich in unserem Unterricht die Gelegenheit dazu ergibt, sollten wir als Lehrpersonen unsere Schüler: innen zu dieser Anstrengung einladen und sie unterstützen. Nietzsche fordert die Abkehr von den großen und ewigen Wahrhei‐ ten. Die Bildung unserer selbst soll es uns ermöglichen, unsere ganz individuelle Perspektive ins Spiel zu bringen, indem wir uns von der entfremdenden Last vieler kultureller und erzieherischer Imperative befreien. Es geht darum, uns im konkreten Ausprobieren und Handeln selbst zu entdecken. 7.3 Die moderne Kultur überfordert uns und lässt Selbstwerdung durch Bildung nicht mehr zu (Simmel) Ein Beispiel zu Beginn. Wenn Sie als Deutschlehrer: in zur jährlichen Buch‐ messe fahren, sind Sie sicher begeistert. Tausende und Abertausende neu erschienene Bücher gibt es seit der letzten Buchmesse. So viele Lesungen, dass Sie noch nicht einmal an einem Bruchteil teilnehmen können. Auf der Rückfahrt kommen Ihnen vielleicht Zweifel: Der Literaturbetrieb mit seinen millionenschweren internationalen Verlagen, mit seinen Literatur‐ sendungen und Preisen scheint Ihnen nicht wie eine Wiese mit bunten Blumen, die zum Pflücken einlädt. Sondern als ein mächtiges System, das Sie und alle Leser: innen im Griff hat. Als etwas, das mittlerweile nach völlig eigenen Gesetzen funktioniert, das genährt und zufriedengestellt werden möchte. Ein Wesen, dem es um sich selbst geht - und nicht um Ihre Seele oder um die Entwicklung Ihrer Person. Der Philosoph und Soziologe Georg 116 7 Kann ich durch Bildung ich selbst werden? Simmel (1858-1918) hat diese Prozesse schon vor mehr als 100 Jahren genau beschrieben. Bildung als Weg zu sich selbst. Eigentlich, so Simmel in seinem 1918 geschriebenen Aufsatz Der Begriff und die Tragödie der Kultur, sollte die Kultur, in der wir leben, vermittelt durch die Bildung, die wir in Familie, Schule, Hochschule oder im Selbststudium genießen, dazu beitragen, uns zu entwickeln. Wir sind noch nicht kultiviert [und im besten Sinn gebildet, Ph.Th.], wenn wir dieses oder jenes einzelne Wissen oder Können in uns ausgebildet haben; sondern erst dann, wenn all solches [Wissen, Ph.Th.] der […] Entwicklung jener seelischen Zentralität [unseres Selbst, unseres Inneren, Ph.Th.] dient. […] Kultur ist der Weg von der geschlossenen Einheit durch die entfaltete Vielheit zur entfalteten Einheit. (Simmel 2001, 196) Simmel möchte sagen: Zunächst, als Kinder, sind wir so etwas wie eine geschlossene Einheit. Wir kennen noch nichts von der Welt, können uns etwa noch nicht vorstellen, dass, was für uns normal, auch ganz anders sein könnte. Dann, als Jugendliche, werden wir eine entfaltete Vielheit. Es ist die Zeit, in der wir ganz viel Neues lernen, in der wir Einsichten haben, von denen wir als Kinder noch gar nichts ahnen konnten. Ein bisschen verlieren wir uns vielleicht in der Vielfalt, in all den neuen Wissensgebieten und den verschiedenen Perspektiven auf die Welt. Doch das ist gut, denn die geschlossene Einheit wird dadurch zu Recht aufgesprengt. Wenn wir erwachsen werden und durch die Auseinandersetzung mit all dem Neuen eine Identität und einen Charakter ausbilden, dann werden wir, bereichert und gefördert durch das Gelernte, wieder neu zu einer Einheit. Diese Einheit ist keine in sich geschlossene mehr, sondern eine entfaltete Einheit. Moderne Kultur und Bildung. Simmels Diagnose lautet: Die moderne Kultur verhindert diesen letzten Schritt von der entfalteten Vielheit (die Jahre des vielen unzusammenhängenden Neuen) hin zur entfalteten Ein‐ heit (das Ankommen in der durch Bildung zu sich selbst gekommenen Persönlichkeit). Wie ist dies zu verstehen? Ausgangspunkt ist die Beob‐ achtung, dass die verschiedenen Sphären der modernen Kultur sich so schnell entwickeln und immer weiter ausdifferenzieren, dass sie schließlich eine Eigendynamik und eine eigene Gesetzlichkeit und Anziehungskraft entwickeln. Diese bindet schließlich all unsere Energie, besonders in jenen Bereichen, die uns angehen, also etwa der Büchermarkt für die Deutschleh‐ rer: in. Doch eigentlich sollte sie als Energie, Anregung und Mosaiksteinchen 117 7.3 Die moderne Kultur überfordert uns die Selbstentwicklung ermöglichen. Die Verhältnisse drehen sich geradezu um. „Kunst und Sitte, Wissenschaft […], Religion und Recht, Technik und gesellschaftliche Normen“ (Simmel 2001, 198), all diese mächtigen Bereiche unserer Gesellschaft nehmen in Beschlag, fordern, zwingen dazu, sich mit ihnen zu beschäftigen, sich zu positionieren, besonders, wo wir beruflich involviert sind. Dies schwächt uns und raubt uns Kraft. Wir können all dies nicht mehr einbauen in unsere persönliche Entwicklung. Bildung kann nicht mehr zur Selbstwerdung beitragen. Zurück zum Eingangsbeispiel der Lehrperson auf der Buchmesse. In Ihrem Deutschstudium hatten Sie vielleicht gedacht, mit dem Examen ausgelernt zu haben. Doch nach einiger Zeit merken Sie, dass Ihr fachwissenschaftli‐ ches, fachdidaktisches und pädagogisches Wissen veraltet. In den Tagungen für immer neue Gebiete des Fachs, etwa des sprachsensiblen Unterrichts und des Bereichs Deutsch als Fremdsprache, werden laufend neue Entwicklun‐ gen vorgestellt. Kaum kommen Sie damit nach, die neuen Trends überhaupt nachzuvollziehen und die Publikationen zur Kenntnis zu nehmen. Und auch im Bereich der Literatur, Ihrer ursprünglichen Leidenschaft, die Sie überhaupt dazu gebracht hat, das Fach Deutsch zu studieren, fühlen Sie sich mitunter unterlegen, hilflos, ja seltsam abgehängt - und das wird Ihnen auf der Buchmesse so richtig klar. Ein Trend jagt den anderen. Um Sie, Ihre Bildung und Persönlichkeit geht es diesem System schon lange nicht mehr, es sei denn um Sie als Käufer: in. Tragik der Kultur. Schon vor über 100 Jahren hat Simmel all diese Entwicklungen beschrieben. Ihm geht es um die Tragik der Kultur. Niemand hat böse Absichten. Und eigentlich ist die enorme Entwicklung der Kultur ja auch zu begrüßen. Trotzdem fühlen wir uns hilflos (Simmel 2001, 220) und überfordert, wir entwickeln vielleicht gar eine Aversion gegen Kultur (Simmel 2001, 207), denn wir sind enttäuscht. Kultur und Bildung haben uns zwar viele neue Räume eröffnet. Doch sie führen uns nicht länger auf einen Weg zu uns selbst, sondern zerren uns gewissermaßen in eine für uns nutzlose Richtung. Dies ist deshalb eine Tragödie (Simmel 2001, 211, 219), weil es zu beklagen ist, dass wir uns innerlich gegen etwas so Wertvolles wenden, wie es die Kultur eigentlich ist. Denn das schwächt die Kultur, statt sie zu stärken, bringt sie in Misskredit, macht sie anfällig für Kulturpessimismus und vielleicht auch für fundamentalistische Stimmen, welche die moderne Kultur insgesamt ablehnen. Eigendynamik der Kultursphären. Wie es sich anfühlt, dass Fortschritte, etwa in der technischen Entwicklung, eine Eigengesetzlichkeit entwickeln, 118 7 Kann ich durch Bildung ich selbst werden? die kaum zu unserer Persönlichkeitsentwicklung beiträgt, das kennen wir alle bei technischen Neuerungen unserer elektronischen Geräte. Simmel beschreibt den „innere[n] Zwangstrieb aller ‚Technik‘“ (Simmel 2001, 217), er schreibt von Produkten, für die eigentlich kein Bedürfnis vorliegt […]; die technische Reihe fordert von sich aus, sich durch Glieder zu komplettieren, deren die seelische […] Reihe nicht bedarf - und so entstehen Angebote von Waren, die erst ihrerseits künstliche und, von der Kultur der Subjekte her gesehen, sinnlose Bedürfnisse wachrufen. In manchen Wissenschaftszweigen ist es nicht anders. (Simmel 2001, 217 f.) Sogar die moderne Wissenschaft funktioniert nach ähnlichen Gesetzen wie die Technik. Auch hier sind immer wieder neue Entwicklungen nö‐ tig. Konferenzen, Publikationen, ausdifferenzierte neue Untergebiete eines Fachs scheinen eine Eigendynamik zu entwickeln und ein Eigenleben zu führen. Diesem können sich die Wissenschaftler: innen nicht entziehen, weil sie sonst den Anschluss verlieren, egal, ob sie sich in ihrer persönlichen Entwicklung durch die neuen Trends gefördert fühlen oder nicht. Was man als die Behangenheit und Überladung unseres Lebens mit tausend Überflüssigkeiten beklagt, von denen wir uns doch nicht befreien können, als das fortwährende ‚Angeregtsein‘ des Kulturmenschen [gemeint ist unsere bildungs‐ bürgerliche Schicht, Ph.Th.], den all dies doch nicht zu eigenem Schöpfertum anregt [der einfach Konsument bleibt, Ph.Th.], als das bloße Kennen oder Genie‐ ßen von tausend Dingen, die unsere Entwicklung nicht in uns einbeziehen kann [nicht nutzbar machen, Ph.Th.] und die als Ballast in ihr [unserer Entwicklung, Ph.Th.] liegen bleiben. (Simmel 2001, 223) Kann ich durch Bildung ich selbst werden? Die Frage dieses Kapitels würde Simmel wohl wie folgt beantworten: Ja, so sollte Bildung sein. Doch in der modernen Kultur der beschleunigten Ausdifferenzierung der Teilbereiche, ihrer Eigendynamik und Eigengesetzlichkeit scheint dies kaum noch mög‐ lich. Wer diese Tragik der Kultur allerdings am eigenen Leibe erlebt hat und zur Genüge durchschaut (und wer es sich leisten kann), der könnte versuchen, auszusteigen aus dem rat race (Hamsterrad). Im Beispiel: Auf der Rückfahrt von der Buchmesse könnten Sie sich vornehmen, sich durch all die vermeintlich wichtigen Neuerungen immer weniger herausfordern und überfordern zu lassen. Sie könnten sich fragen, welche Literatur Sie selbst glücklich gemacht und auf Ihrem Weg ein Stück vorangebracht hat. Und Sie könnten versuchen, Ihren Schüler: innen verschiedene Literatur 119 7.3 Die moderne Kultur überfordert uns anzubieten und genau darauf zu achten, von welcher Literatur sich die einzelnen Jugendlichen berührt fühlen. Hier würden Sie die Jugendlichen dazu ermuntern, selbstständig weiterzulesen. Sie würden dazu anregen, eine seismographische Aufmerksamkeit für solche kulturellen Güter zu entwickeln, bei welchen das Gefühl besteht, dass es, wie Simmel sagt, „zu eigenem Schöpfertum anregt“ (Simmel 2001, 223). Denn was einen aus der Konsumhaltung hinausführt und zu ganz eigenen Ideen anregt, das könnte sich als ein erster Schritt der Selbstwerdung durch Bildung herausstellen. Simmel fordert, dass Bildung Selbstbildung sein soll. Die Gegenstände der Bildung führen einen zunächst zu ungewohntem neuen Wissen, sollen dann aber angeeignet werden und zum Aufbau der Persönlichkeit dienen. Doch die Subsysteme der modernen Gesellschaft (z. B. Wissen‐ schaft, Kultur, Recht etc.) entfalten eine so starke Eigendynamik, dass sie die Bildungssubjekte an sich binden und überfordern. Selbstbildung ist so nicht mehr möglich. 7.4 Eine Mischung aus Verschiedenem und zugleich etwas Neues sein (Anzaldúa) Ob Humboldt, Herbart, Nietzsche oder Simmel: Sie alle nahmen innerhalb ihres sozialen Gefüges privilegierte Rollen ein. Nicht nur waren sie als Professoren freigestellt, sodass sie sich mit viel Zeit, ja hauptamtlich den Konzepten einer Selbstwerdung durch Bildung widmen konnten. Ebenso wichtig war, dass sie von einer anerkannten Identität ausgehen konnten. Sie gehörten der Mehrheitsgesellschaft und in dieser einer Elite an. Was aber, wenn man Angehörige einer gesellschaftlichen Gruppe ist, die nicht den Ton angibt? So wie die mexikanische Autorin Gloria Anzaldúa. Was bedeutet dies für die Frage nach Selbstwerdung durch Bildung? Heterogenität und Hybridität. Der Begriff Heterogenität bezeichnet etwas, das aus verschiedenartigen Bestandteilen besteht. Eine Lerngruppe ist stets mehr oder weniger heterogen, je nachdem, wie unterschiedlich die Schüler: innen hinsichtlich ihrer Begabung und Leistungsfähigkeit, aber auch hinsichtlich ihrer Familien und Lebensverhältnisse sind. Der Begriff Hybridität bezeichnet etwas, das aus verschiedenen Bestandteilen gemischt 120 7 Kann ich durch Bildung ich selbst werden? ist. Eine Kultur ist stets mehr oder weniger hybrid, weil sich unterschiedliche Einflüsse mischen. Leicht veranschaulichen lässt sich dies an Musikrich‐ tungen, die aus verschiedenen kulturellen Einflüssen hervorgehen, wie der Blues, eine Mischung aus afrikanischen, europäischen und karibischen Einflüssen. Hier, bei diesem besonderen Typ einer Selbstwerdung durch Bildung am Beispiel Anzaldúas kommt es auf den Begriff der Hybridität an. Hybride Existenz. Gloria Anzaldúas Vorfahren waren teilweise europä‐ isch/ nordamerikanischer und teilweise spanisch/ indigen-indianisch/ mexi‐ kanischer Herkunft. Sowohl genetisch als auch kulturell fand sie sich vor als eine Mischung verschiedener Einflüsse und verschiedener Geschichten. Anzaldúa beschreibt diese hybride Existenz mit all ihren Problemen einer‐ seits und neuen, ganz eigenen Möglichkeiten andererseits in ihrem Buch Borderlands/ La Frontera: The new Mestiza (Anzaldúa 1987): […] la mestiza undergoes a struggle of flesh, a struggle of borders, an inner war. Like all people, we perceive the version of reality that our culture communicates. Like others having or living in more than one culture, we get multiple, often opposing messages. The coming together of two self-consistent but habitually incompatible frames of reference causes un choque, a cultural collision. (Anzaldúa 1987, 78, Hervorhebung i. O.) Mestiza sein. Anzaldúa verwendet den Begriff Mestiza, der auch abwertend gemeint sein kann, selbstbewusst und mit dem Wunsch, etwas Positives zu beschreiben. Entscheidend für Anzaldúa ist die Beobachtung und der Ent‐ schluss, dass sich in der eigenen, der hybriden Existenz die verschiedenen Einflüsse nicht nur mischen. Es geht um mehr als ein ‚Sowohl als auch‘, um mehr als eine Addition. Vielmehr beginnt das Mestiza-Bewusstsein oder die Mestiza-Identität dort, wo aus den beiden Herkunfts-Wurzeln etwas Drittes und etwas Neues entsteht. Dieser Prozess ist nicht additiv, sondern transformativ. Anzaldúa beschreibt (und legt in ihren Büchern Zeugnis davon ab), wie aus Schmerz und viel eigener Energie eine große Kreativität entsteht. Eine Kreativität, die notwendig, die aber auch möglich ist, um jenes dritte Element als eigene Existenz lebend hervorzubringen. This assembly is not one where […] separated pieces merely come together. Nor is it a balancing of opposing powers. In attempting to work out a synthesis, the self has added a third element which is greater than the sum of its severed parts. That third element is a new consciousness - a mestiza consciousness - and though 121 7.4 Eine Mischung aus Verschiedenem und zugleich etwas Neues sein it is a source of intense pain, its energy comes from continual creative motion. (Anzaldúa 1987, 79 f.) Selbstwerdung war schon bei Herbart und Nietzsche als anspruchsvoller und anstrengender Prozess beschrieben worden. Doch die Widerstände dieses Prozesses lagen eher im Inneren jener Personen, die sich auf den eigenen Weg machen. Bei Anzaldúa liegen die Dinge anders. Laufend muss der eigene Weg, die eigene Identität selbst geschaffen werden: in einem schmerzhaften und kreativen Prozess und im Bewusstsein, dabei etwas Neues hervorzubringen. Living on borders and in margins, keeping intact one’s shifting and multiple identity and integrity, is like trying to swim in a new element, an ‚alien‘ element. There is an exhilaration in being a participant in the further evolution of humankind. (Anzaldúa 1987, Preface) Gloria Anzaldúa zeigt, dass Selbstwerdung durch Bildung nicht dem Kli‐ schee einer Identität durch Zugehörigkeit entsprechen muss. Vielmehr kann Selbstwerdung auch heißen, lebend etwas Neues hervorzubringen, eine ganz eigene und neue Mischung aus Verschiedenem. Ihre Antwort auf die Frage Ihrer Schüler: innen: Kann ich durch Bildung ich selbst werden, kann Bildung mir helfen, meinen eigenen Weg zu finden? So könnten Sie die Fragen Ihrer Schüler: innen beantworten: ▸ Durch Bildung kann man viele unterschiedliche Ziele erreichen. Nicht jede Bildung führt Euch auf Euren eigenen Weg. Doch auch das ist möglich, Bildung kann Selbstwerdung bedeuten. Das ist kein Luxus und kein Egoismus, sondern hat eine große Tradition in der Geistesgeschichte. ▸ Schon in der europäischen Pädagogik des 18. und des 19. Jahrhun‐ derts gab es die Idee der Selbstwerdung durch Bildung, unabhängig von Staat, Kirche und Wirtschaft. Dabei waren die Entwicklungs‐ ziele noch sehr allgemein an der Aufklärung orientiert und noch nicht individuell und heterogen. Man glaubte an Vernünftigkeit und Sittlichkeit als innere Kräfte. 122 7 Kann ich durch Bildung ich selbst werden? ▸ Mit Nietzsche bedeutete Selbstwerdung die Freiheit abzuweichen und individuell, besonders und anders sein zu dürfen. ▸ Seit Ende des 20. Jahrhunderts wächst das Bewusstsein dafür, dass Kulturen und Identitäten stets mehr oder weniger hybrid sind. Und dafür, welche großen Potenziale gerade in hybriden Identitäten liegen. Wenn Sie sich noch weiter interessieren Interessant ist die Beschäftigung mit der Frage: Gibt es überhaupt ein Selbst, das wir verwirklichen sollen? Selbstverwirklichung kann auch zum Imperativ (Befehl, Aufforderung) werden und uns überfordern (Kap. 11). Hier kommt die ostasiatische Philosophie ins Spiel. Ihr ist die westliche Vorstellung von Selbstverwirklichung fremd: Unser Ziel sollte vielmehr sein, gerade wegzukommen von der Vorstellung eines echten Kerns unserer selbst. So etwa der daoistische Philosoph ZHUANGZI: Statt uns um Selbst‐ werdung zu bemühen, können wir uns den großen Rhythmen der Natur, ja des Kosmos überlassen, wir können aufgehen in dem Geschehen der Welt (Kap. 12.3). Noch radikaler denkt die (z. B. japanische) zenbuddhistische Philosophie. „Der Ich-Mensch soll gründlich sterben um des wahren Selbst willen. […] Dies geschieht im Nichts und als das Nichts“ (UEDA 1974, 161). Im Wissen darum, kein Ich zu sein, lebt der so erwachte Mensch zugleich in der normalen Welt und im Nichts (UEDA 1974, 157). 123 Wenn Sie sich noch weiter interessieren 8 Wieso soll ich meine Sicht der Dinge einbringen und ‚meine Stimme erheben‘? (Foucault) Wenn mich die Lust ankommt, an diese Türen [der etablierten theoretischen An‐ sätze, Ph.Th.] zu klopfen, um irgendwo meiner ‚Verrücktheit‘ (meiner Wahrheit) [meinem abweichenden Erfahrungshinter‐ grund, Ph.Th.] Anerkennung zu verschaf‐ fen, so schließt sich eine nach der anderen; und wenn sie allesamt ins Schloß gefallen sind, zieht das eine Sprachmauer um mich, die mich einengt, mir den Atem nimmt und mich abweist […]. R O L A N D B A R T H E S (1988, 34) Worum geht es? Sie möchten, dass Ihre Schüler: innen in der Lage sind, sich und ihre ganz eigene Sicht der Dinge zu artikulieren. Ja, Sie möchten sogar, dass sich Ihre Schüler: innen einbringen mit ihren Erfahrungen und jenen Meinungen, die sich aus ihrem individuellen Erfahrungshintergrund ergeben. Sie sagen: Mischt Euch ein, erhebt Eure Stimme! Doch Ihre Schüler: innen winken ab: Für unsere Erfahrungen und Ansichten interessiert sich doch sowieso niemand. Welche Antwort könnten Sie Ihren Schüler: innen geben? Genauer geht es um Folgendes: ▸ Wie können Sie sich selbst und Ihren Schüler: innen klar machen, dass die Gesellschaft alle, auch abweichende Erfahrungen und Ansichten braucht? ▸ An welchen Beispielen können Sie Ihren Schüler: innen gut veran‐ schaulichen, was das bedeutet: sich einzubringen und die eigene Stimme zu erheben? 8.1 Der Kulturprozess braucht jede Stimme Die Kultur verständigt sich über sich selbst - durch gesellschaftliche Debatten. Wir können die Kultur selbst als eine Art überindividuelles Subjekt verste‐ hen, das sich in den jeweils aktuellen großen Debatten und Streitfragen sozusagen über sich selbst verständigt. Wie möchte unsere Kultur z. B. mit Tieren umgehen? Hier ändert sich alle paar Jahrzehnte die herrschende Meinung. Ist Pharmaforschung an Affen erlaubt? Sollen wir Pelze tragen? Denken wir uns die Kultur selbst als Wesen, dann können wir sagen, dass sie in diesen gesellschaftlichen Debatten über sich selbst nachdenkt. Wer möchte ich als moderne europäische Kultur sein, welche Werte sollen gelten? Dieser Prozess der kulturellen Selbstverständigung funktioniert nur, wenn möglichst viele Menschen mit verschiedenen Erfahrungshintergrün‐ den an ihm beteiligt sind, also unterschiedlich nach kultureller Herkunft, Geschlecht, Generation, Berufsgruppe, sozialer Schicht, religiöser Überzeu‐ gung etc. Und das können diese Menschen nur, wenn sie dafür vorbereitet sind. Die Kultur braucht gebildete Menschen, die mit ihren Stimmen die kulturelle Selbstverständigung voranbringen können. Es geht auch um Bildungsgerechtigkeit. Das frühe Training der Selbstarti‐ kulation dient einer gerechten Teilhabe an der Verständigung der Kultur über sich selbst. Alle Schüler: innen sollen am Ende ihrer Schullaufbahn in der Lage sein, schwierige Artikel in Wochenzeitungen oder anspruchsvolle Beiträge in anderen Medien zu verstehen und sich zu gesellschaftlichen Diskussionen begründet äußern und positionieren zu können. Es geht nicht, dass immer nur dasselbe Milieu mitredet, wenn es um die großen Debatten einer Zeit geht. All das muss in der Schule von Beginn an eingeübt werden. Der Philosoph und Bildungstheoretiker Volker Steenblock (1958- 2018) schreibt: Indem alles kulturelle Interesse von Gegenwartserfahrungen dirigiert wird, ‚wälzen‘ sich sozusagen auch die kulturellen Gehalte in den Prozessen ihrer Neuaneignung zugleich stets mit um und verändern sich. Die Kulturgeschichte ist so ein im Horizont jeweiliger Gegenwarten mitwanderndes Feld […]. Bildung lässt sich entsprechend als Verarbeitungs-, Reflexions- und Handlungsmodus […] ansprechen […]. Bildung ist damit auch der ‚Ort‘, an dem sich die gegenwärtige Welt ein Wissen von sich selbst verschafft. (Steenblock 2012, 29, Hervorhebung i. O.) 126 8 Wieso soll ich meine Sicht der Dinge einbringen und ‚meine Stimme erheben‘? Steenblock spricht davon, dass die großen Fragen einer Kultur (die Frage der Tierethik ist nur ein Beispiel von vielen) sich von Generation zu Gene‐ ration weiterwälzen. Eine so verstandene Kultur braucht Bildung, um die kulturellen Herausforderungen reflektieren zu können. Im Bild gesprochen reflektiert unsere Kultur in den Diskussionen und Debatten sich selbst - und wer hier nicht seine Stimme einbringt, ist nicht Teil dieses Nachdenkens der Kultur über sich selbst. Das ist dann zutiefst ungerecht für die einzelne Person und es ist ein großer Verlust für die Kultur. Kulturprozess meint den Prozess der Verständigung einer Kultur über sich selbst durch die Zeit hindurch. Dieser braucht die Teilhabe mög‐ lichst vieler Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungshintergründen, die gelernt haben, sich zu artikulieren und einzubringen. Es geht auch um Bildungsgerechtigkeit. 8.2 Mitbestimmen darüber, was Normalität ist (Foucault) Normalität ist restriktiv, wenn sie abweichende Erfahrungshintergründe aus‐ schließt. Stellen Sie sich vor, Sie haben einen von der Mehrheit abweichenden kulturellen Hintergrund oder Sie sind eine melancholische Person in einer Kultur, die auf Spaß und Erfolg aus ist (Thomas 2020), oder Sie haben eine andere sexuelle Orientierung. Dann könnten Sie unsere Normalität restriktiv finden. Die übliche Normalität kann Ihnen weh tun, Sie leiden unter ihr - und zwar deshalb, weil diese Normalität Ihren Erfahrungshin‐ tergrund nicht anerkennt, sondern als unnormal, als Abweichung und als irgendwie ‚nicht richtig‘ definiert. In dieser Situation Ihre Stimme zu erheben, das bedeutet: die vorgefundene Normalität als restriktiv (den eigenen Erfahrungshintergrund nicht anerkennend) zurückzuweisen und gleichzeitig vorzuschlagen, dass Sie mitbestimmen dürfen, darüber, und dass dabei erweitert wird, was als normal gilt. Sie fordern für sich und andere eine nicht-restriktive Normalität. Eine neue Normalität durch kreative Praxis hervorbringen: Foucault. Der Philosoph Michel Foucault (1926-1984) spricht in seinem Spätwerk von der Ästhetik der Existenz und von Lebenskunst (Foucault 2004). Das klingt so, als gehe es ihm um ein schönes Leben. Doch gemeint ist, dass wir wie 127 8.2 Mitbestimmen darüber, was Normalität ist Künstler: innen sein müssen, wenn wir die Normalität als restriktiv erleben und eine eigene, für uns passende gestalten und gemeinsam hervorbringen möchten. Wir brauchen den Mut, die Rigorosität, den Einfallsreichtum und die Kreativität von Künstler: innen. Hier ist die wichtigste Aufforderung, für sich selbst zu sorgen und in ein bewusstes Selbstverhältnis einzutreten: Worunter leide ich und welche erweiterte Normalität brauche ich, um mich nicht als ‚unnormal‘ und fehlerhaft zu empfinden? In weiteren Schritten ei‐ nes dann politischen Handelns können wir versuchen, eine neue öffentliche Normalität in Auseinandersetzung mit der bestehenden zu schaffen oder zumindest die Normalität in ihrer vermeintlichen Selbstverständlichkeit zu bestreiten und eine neue, reichere vorzuschlagen. Sexuelle Minderheiten können unter einer Normalität leiden, welche für die Mehrheit nicht restriktiv ist. Hinzu kommt noch Foucaults besondere Situation, die ihn besonders hellhörig macht, wenn es um Normalität geht. Als schwuler Mann hat Foucault eine andere Perspektive auf jene Normalität, die er von Beginn an als normal empfinden soll. Normalität hat er kennengelernt als dasjenige, was von einer heterosexuellen Mehrheit definiert wird - und zwar als Norm nicht nur für diese heterosexuelle Mehrheit, sondern genauso für die homosexuelle Minderheit. Für alle, die nicht zur Mehrheit gehören, die nicht derjenigen Gruppe angehören, welche die Definitionsmacht hat, bedeutet der Blick der Norm, der Blick der Normalität auf das eigene Leben einen fremden, einen entfremdenden Blick - einen Blick, der alles andere als guttut. Selbstsorge als erster Schritt der Anerkennung. Jetzt wird die besondere Be‐ deutung der Selbstsorge deutlich. Diese wird in Stellung gebracht gegen den entfremdenden Blick auf sich selbst, sie meint einen neuen, einen endlich angemessenen Blick auf die eigene Existenz. Und dieser Blick auf sich selbst, das ist immer der fürsorglich-liebevolle Blick, welcher einem fehlt, weil er einem von außen, von der restriktiven Normalität, nicht entgegengebracht wird. Weil dieser Blick fehlt, müssen wir, so Foucault, im Rahmen einer philosophischen Selbstsorge uns selbst mit diesem fürsorglich-liebevollen Blick anschauen: „Sich um sich selbst zu sorgen, ist nicht einfach eine zeitlich begrenzte Vorbereitung auf das Leben; es ist eine Lebensform“ (Foucault 2004, 603). Ver-lernen als zweiter Schritt der Anerkennung. Und wir dürfen ergänzen: Für Menschen, welche die Normalität als restriktiv erfahren, ist es eine Form des Überlebens, eine Über-Lebensform. Was genau gehört zu dieser Über-Lebensform? Hier kann es wichtig sein, Altes zu ver-lernen: 128 8 Wieso soll ich meine Sicht der Dinge einbringen und ‚meine Stimme erheben‘? Die Selbstpraxis soll dazu führen, daß man sich aller schlechten Gewohnheiten, aller falschen Ansichten, die man von der Menge, von schlechten Lehrmeistern, aber auch von den Eltern und der engeren Umgebung übernehmen kann, ent‐ ledigt. ‚Verlernen‘, (de-discere) ist eine ganz wichtige Aufgabe im Rahmen der Selbstbildung. (Foucault 2004, 604, Hervorhebung i. O.) Foucault ist auf der Suche nach anderen Formen des Zusammenlebens, nach Wahlverwandtschaften, in denen man sich gegenseitig unterstützt bei der schwierigen Suche nach dem guten Leben im Sinne neuer Lebensformen und einer neuen Normalität. Man braucht Mitstreiter: innen, braucht Menschen, die einen weiterbringen, indem sie einen ernst nehmen und auch im guten Sinn kritisieren. Zu neuen Subjekten werden als dritter Schritt der Anerkennung. Das, was wir unser ganzes Leben verinnerlicht hatten als Normalität und als restrikti‐ ven Blick auf uns selbst, das kann nach und nach ersetzt werden durch einen neuen Blick auf uns selbst, durch eine passendere Wahrheit. Subjekt heißt hier so viel wie fühlendes, erkennendes und handelndes Ich. Dieses ist in Erziehung und Sozialisation entstanden. Durch Selbstsorge und Ver-lernen (s. o.) sowie dann durch neue Wahrheiten und passendere Lebensformen können wir unserem deformierten Subjekt ein neues Quasi-Subjekt an die Seite stellen. Es geht […] darum, das Subjekt mit einer Wahrheit auszurüsten, die es nicht bereits kannte und die nicht bereits in ihm vorhanden war. Es geht darum, aus der gelernten, dem Gedächtnis einverleibten und schrittweise in Anwendung gebrachten Wahrheit ein Quasi-Subjekt zu machen, das souverän in uns herrscht. (Foucault 2004, 610 f.) In diesem Satz bringt es Foucault auf den Punkt: Ihm geht es um eine Praxis der Selbstsorge und eine Lebenskunst, die mutig und kreativ und alternativ ist zu dem, was als normal gilt. Und es ist schließlich diese Praxis, welche es vermag, wie Foucault sagt, ein Quasi-Subjekt zu erschaffen: So wie uns die alte, die restriktive Normalität auf eine bestimmte Weise zu einem irgendwie deformierten und mangelhaften Subjekt gemacht hat, so kann die neue, die angemessenere Normalität unserer neuen Praxis uns auf neue Weise ein freieres und angemesseneres Subjekt sein lassen. Von Foucault lernen. Foucault will uns auf die Suche nach dem guten Leben schicken, indem wir uns zusammen mit anderen Suchenden in einer für uns wenig förderlichen Umwelt, der vorgefundenen Normalität, neue 129 8.2 Mitbestimmen darüber, was Normalität ist Lebensmöglichkeiten schaffen. Philosophie regt hier dazu an und ist selbst eine Praxis, die dabei hilft, nicht länger alte Maßstäbe zu erfüllen, sondern neue Maßstäbe zu setzen. Foucaults Kampf um Anerkennung und um die Erweiterung von Normalität kann für ganz unterschiedliche Menschen ein befreiendes Vorbild sein. In welchen Bereichen brauchen wir Selbstsorge, weil wir von niemandem richtig verstanden werden? Und wie können wir in diesen Bereichen versuchen, den anderen zu erklären, was genau es ist an der Normalität, das sich für uns selbst restriktiv anfühlt, nicht aber für viele andere Menschen? Eine Voraussetzung ist, dass wir unsere abweichenden Erfahrungshintergründe artikulieren können. Foucault entwickelt eine philosophische Praxis als Lebenskunst, die uns auf der Suche nach einer nicht-restriktiven Normalität helfen soll. Wor‐ unter leiden wir und was brauchen wir (Selbstsorge)? Welche restriktive Normalität müssen wir ver-lernen? Welche neuen Wahrheiten können wir verinnerlichen, damit sich unser Subjekt auf neue Weise bilden kann? 8.3 Mitbestimmen darüber, was Normalität ist: Das Beispiel der ‚neuen Deutschen‘ Zur Wiederholung. In diesem Kapitel geht es nicht um sexuelle Minderheiten. Es geht darum, weshalb es wichtig ist, dass Ihre Schüler: innen lernen, sich auszudrücken, sich zu artikulieren, ihre ganz spezifischen Erfahrungen, die sie mitbringen, zu formulieren und diese einzubringen in gesellschaftliche Debatten. Denn dabei soll sich, wie es oben hieß, der Kulturprozess über sich selbst verständigen und nach und nach weiterentwickeln. Und dies heißt auch: immer wieder neu zu bestimmen, was Normalität ist. Was heißt normal in einer Einwanderungsgesellschaft? Ein für Ihre Schü‐ ler: innen leicht verständliches Beispiel ist Deutschland als Einwanderungs‐ land und die Frage, was deutsch und in diesem Sinn ‚normal‘ ist. Dies ist schon aktuell, seit die sogenannten Gastarbeiter: innen in den frühen 1960er Jahren nach Deutschland kamen. Solange die Mehrheit deutsch mit einem deutschen Pass und die Minderheit nicht-deutsch mit einem nicht-deutschen Pass war, schien die Situation klar. Doch was ist, wenn die 130 8 Wieso soll ich meine Sicht der Dinge einbringen und ‚meine Stimme erheben‘? Kinder und Kindeskinder der Gastarbeiter: innen in Deutschland geboren sind, die deutsche Staatsangehörigkeit haben und deutsche Schulen und Hochschulen besucht haben? Muss dann nicht irgendwann neu definiert werden, was deutsch und ‚normal‘ ist? Sich einbringen, die eigene Stimme erheben. Drei erfolgreiche Einwanderer‐ kinder, sie sind alle drei Journalistinnen bei der angesehenen Wochenzeitung Die Zeit, haben über dieses Thema ein Buch geschrieben. In diesem schildern sie ihre Kindheit, die Geschichten ihrer Eltern und ihren täglichen Kampf um Anerkennung als normale Deutsche. Ein Gefühl war der Auslöser für dieses Buch, und dieses Gefühl war Wut. Darüber, in einer Gesellschaft zu leben, in deren Selbstverständnis wir nicht vorkommen. Darüber, Teil einer Veränderung zu sein, die von den meisten lieber verdrängt wird. […] Mit diesem Buch wollen wir unseren Blick einbringen, denn wir sehen dieses Land mit anderen Augen. (Bota et al. 2012, 162) Der Blick der drei Autorinnen auf diese Problematik ist wichtig, wenn Ihre Schüler: innen verstehen sollen, was es heißt, darüber mitzubestimmen, was als normal zu gelten hat. Wer bestimmt, wer zu dieser Gesellschaft gehört, wer definiert, was deutsch ist? Es sind von jeher jene, die in den Institutionen, den Redaktionen, den Vorständen oder der Regierung sitzen. Männer wie der frühere Bundesinnenminister Otto Schily, der vor zehn Jahren sagte, die beste Integration sei Assimilation, und dafür eine Menge Beifall bekam. Doch jetzt wollen wir, die mit dieser Aussage gemeint sind, selbst benennen, wer wir sind. Und was deutsch ist. […] Es ist kein Pass, der jemanden zum neuen Deutschen macht, es ist nicht sein Erfolg oder das Ergebnis eines Einbürgerungstests - es ist ein Selbstbewusstsein, das wir genährt haben aus Wut und Stolz. Wut, weil wir das Gefühl haben, außen vor zu bleiben; weil es ein deutsches Wir gibt, das uns ausgrenzt. Und Stolz, weil wir irgendwann beschlossen haben, unsere eigene Identität zu betonen. Sie einzubringen. […] Wir sind Teil dieser Gesellschaft. Wir sind anders. Also gehört die Andersartigkeit zu dieser deutschen Gesellschaft. (Bota et al. 2012, 12 f., Hervorhebung i. O.) Der Kampf um Anerkennung und um eine nicht-restriktive Normalität. Was üblicherweise als Normalität gilt, das erleben die Autorinnen als eine restriktive Normalität. Das Wir der Deutschen grenzt die Einwandererkin‐ der aus, es passt nicht zu einer geänderten Wirklichkeit. Der Kampf um Anerkennung ist der Kampf darum zu erweitern, was als Normalität gelten soll. Weil ihre Erfahrungshintergründe anders sind, so argumentieren die 131 8.3 Mitbestimmen darüber, was Normalität ist: Das Beispiel der ‚neuen Deutschen‘ Autorinnen, gehört zur neuen Normalität auch diese Andersartigkeit und Heterogenität. Dieses Beispiel kann Ihren Schüler: innen deutlich machen, weshalb die Gesellschaft oder, wie es oben hieß, der Kulturprozess, auf jede Stimme angewiesen ist. Doch die eigene Stimme kann nur erheben, wer gelernt hat, seine Sicht der Dinge zu formulieren. Das Nachdenken unserer Kultur über sich selbst braucht jede Stimme (Kap. 8.1). Indem Menschen mit abweichenden Erfahrungshintergrün‐ den ihre Stimme erheben, versuchen sie zu erweitern, was Normalität heißt (Kap. 8.2). Einwandererkinder erleben eine deutsche Normalität als restriktiv, die sie nicht mit umfasst. Die ‚neuen Deutschen‘ sollten darüber mitbestimmen, was deutsch heißt und so aus einer restriktiven eine angemessenere Normalität machen. Ihre Antwort auf die Frage Ihrer Schüler: innen: Weshalb soll ich ‚meine Stimme erheben‘? Für meine Meinung inter‐ essiert sich doch ohnehin niemand. So könnten Sie Ihren Schüler: innen antworten: ▸ Ihr alle mit Euren verschiedenen Erfahrungshintergründen sollt Euch einbringen in die gesellschaftlichen Debatten und Diskussio‐ nen, denn hier verständigt sich unsere Kultur über sich selbst. ▸ Es geht darum, herausfinden und dann formulieren zu können, wo Ihr Euch ausgeschlossen fühlt, weil Ihr anders seid (restriktive Normalität) - und was als normal gelten sollte, damit Ihr dazuge‐ hört (nicht-restriktive Normalität). ▸ Ihr sollt lernen, darüber mitzubestimmen, was Normalität heißt. Wenn Sie sich noch weiter interessieren Die Autorin und Aktivistin KÜBRA GÜMÜŞAY hat den Blog Ein Fremdwör‐ terbuch betrieben, in dem sie jenen eine Stimme verlieh, die in den Medien nicht angemessen vorkommen, z. B. Musliminnen mit Kopftuch. In ihrem Buch Sprache und Sein (GÜMÜŞAY 2020) sucht sie nach einer Sprache, in der wir über uns selbst und übereinander nicht nur als Angehörige einer Gruppe 132 8 Wieso soll ich meine Sicht der Dinge einbringen und ‚meine Stimme erheben‘? sprechen können. Wie sind Anerkennung, Solidarität und Menschlichkeit möglich? Der französische Philosoph Roland Barthes hat aus der Erfahrung der unglücklichen Liebe heraus die Fragmente einer Sprache der Liebe geschrie‐ ben (BARTHES 1988, Eingangszitat). Barthes versucht, der unerwiderten Liebe jene Anerkennung zu verschaffen, welche ihr von den herrschenden Diskursen verwehrt wird. Barthes’ Buch war Vorbild für meinen Versuch, der Melancholie eine Stimme zu geben und sie als Bereicherung von Normalität darzustellen (THOMAS 2020). 133 Wenn Sie sich noch weiter interessieren 9 Was heißt ‚Das Sein bestimmt das Bewusstsein‘? (Marx, Bourdieu, Butler) Die Menschen machen ihre eigene Ge‐ schichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. K A R L M A R X (MEW 8, 115) Worum geht es? Die soziale Mobilität, etwa die Möglichkeit zum Aufstieg in eine höhere soziale Klasse, ist in unserer Gesellschaft leider nicht sehr ausgeprägt. Sehr vieles im Leben der Menschen hängt davon ab, in welche Verhältnisse sie hineingeboren werden und welcher Arbeit sie nachgehen. Unsere Gesellschaft kann sehr ungerecht sein. „It’s the economy, stupid! “ Alles hängt letztlich von der Wirtschaft ab - eine Phrase, die 1992 dem amerikanischen Präsidentschaftskandidaten Bill Clinton half, die Wahl zu gewinnen. Und oft hängt auch alles vom Geschlecht ab. Männer haben in vielen Bereichen Vorteile! Ihre Schüler: innen hören solche und ähnliche Sätze immer wieder von Ihnen. Eines Tages äußern sie Unmut über Ihre Botschaften: Jeder ist seines Glückes Schmied. Wir sind frei. Wir können aus unserem Leben machen, was wir wollen und in der Karriere so weit kommen, wie wir möchten, wenn wir uns nur anstrengen. Und eine Feministin zu sein, so sagen Ihre Schüler: innen, das sei doch gar nicht nötig. Frauen fühlten sich nicht mehr benachteiligt. Diese Äußerungen Ihrer Schüler: innen lassen Sie ratlos zurück. Der Satz, das Sein bestimme das Bewusstsein, scheint völlig unverständlich geworden zu sein. Wie können Sie Ihren Schüler: innen vermitteln, welche wichtigen kritisch-empanzipatorischen Einsichten im 19. und 20. Jahrhundert hier einmal gewonnen wurden? Genauer geht es um Folgendes: ▸ Weshalb wird zu Recht gesagt, dass die Bedeutung von Ökonomie und Gesellschaft für unser Leben kaum überschätzt werden kann und an welchen Beispielen können Sie dies anschaulich erklären? ▸ Was bedeutet das für die Schule als Institution und für Ihren täglichen Unterricht? Ist Bildung nicht eigentlich unabhängig von der Wirtschaft? ▸ Wenn alles von der Gesellschaft abhängt: Was heißt das für das Leben als Frau und als Mann? Gibt es hier denn keine Selbstbe‐ stimmung? 9.1 Marx und die materialistische Pädagogik Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Dieser Satz ist die Kurzform eines Satzes des Philosophen Karl Marx (1818-1883). Hintergrund: Kommunismus weltweit. Wie enorm einflussreich der Marxismus oder Kommunismus über viele Jahrzehnte war, wird Ihnen deutlich, wenn Sie frühere Weltkarten anschauen. Recherchieren Sie eine communist world map und überlegen Sie, wie stark die Idee einer klassenlosen Gesellschaft weltweit war. Wieviele Denkmäler von Marx, dem Philosophen aus Trier, mag es in den vielen kommu‐ nistischen Ländern wohl gegeben haben und teilweise heute noch geben? „Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.“ (MEW, Bd. 13. S. 9.) Dieser berühmte Satz aus dem Vorwort der Schrift ‚Zur Kritik der Politischen Ökonomie‘ von 1859 ist die prägnanteste Formulierung von Karl Marx zum methodischen Aspekt des Materialismus. […] Der […] Gedanke besagt, daß die realen Gegebenheiten, d. h. die materiellen Verhältnisse, entscheidend sind […]. […] es ist für die Menschen entscheidender, was an Realität vorgegeben ist und unter welchen wirtschaftlichen Bedingungen sie ihr Leben fristen, gegenüber dem, was ihnen als Deutungen nahegebracht wird und was sie sich schließlich gedanklich selbst zurechtlegen. (Beutler 1997, 85) Marx will sagen: Wir können träumen, wir können auch alle möglichen idealistischen Ideen entwickeln, wir können Romane lesen oder Filme sehen und uns an den edlen Taten der Held: innen erfreuen. Das ist alles nicht falsch. Aber wenn wir dies tun und uns mit z. B. fünf anderen 136 9 Was heißt ‚Das Sein bestimmt das Bewusstsein‘? Menschen vergleichen, die genau dasselbe tun (dieselben Träume, dieselben Romane, dieselben Filme), deren Herkunft aber jeweils eine völlig andere und verschiedene ist, auch ihre Klassenzugehörigkeit, der Beruf ihrer Eltern, eben ihre materiellen Verhältnisse im weitesten Sinn - dann werden wir sofort große Unterschiede feststellen. Und das nicht nur im Materiellen und Wirtschaftlichen selbst, sondern auch im jeweiligen Bewusstsein. Es ist das Materielle, das unser Bewusstsein bestimmt. Materialistischem Verständnis zufolge stehen alle mentalen Vorgänge letztlich in Zusammenhang mit gesellschaftlichen Produktionsbedingungen, das heißt, der Charakter der Arbeit durchdringt auch die Psyche und prägt die sozialen Symbole der […] Gesellschaften [z. B. die unterschiedlichen Lebensstile, bis hin zu Kleidung und Ernährungsgewohnheiten oder auch Alltagstheorien, also, wie man die Welt sieht und was man für erstrebenswert hält, Ph.Th.]. (Gamm 1997, 20, Hervorhebung i. O.) Eine Alternative zum Idealismus. Mitunter schauen wir auf Bildung recht idealistisch auch in diesem Buch, wenn es um Selbstdenken (Kap. 1), Selbstwerdung (Kap. 7), Liebe zur Welt (Kap. 13) oder Herzensbildung geht (Kap. 14). Doch wir sollten auch materialistisch auf Bildung schauen, also von der gesellschaftlich-wirtschaftlichen Situation aus. Bildung findet nicht nur aus Menschenfreundlichkeit statt. Vielmehr leisten sich der Staat und die Steuerzahler: innen das teure Bildungssystem nur, weil die Gesellschaft gut ausgebildete Arbeitskräfte braucht, die im nationalen und internationalen Konkurrenzkampf bestehen können. Das Beispiel der Uhrenproduktion im Schwarzwald. Die Geschichte der Uhrenmanufakturen und der Uhrenindustrie im Schwarzwald kann diese Zusammenhänge gut veranschaulichen (Kahlert 2007). Die oft unter Hunger leidende Landbevölkerung (es gab mehrfach große Auswanderungswellen) stellte in Heimarbeit unter schwierigsten Bedingungen Teile für Wanduhren her, die dann einige von ihnen auf einer speziell konstruierten Rückentrage zu Fuß in andere Regionen brachten, um sie zu verkaufen. Die Konkurrenz war groß. Um immer bessere Uhren und neue, konkurrenzfähige Modelle entwickeln und herzustellen zu können, wurden größere Manufakturen und Fabriken gebaut. Ebenso wichtig waren ein hervorragendes Fachwis‐ sen in der Feinmechanik und neue technische Ideen. Aus diesem Grund wurde 1850 die Großherzogliche Badische Uhrmacherschule in Furtwangen gegründet (www.hs-furtwangen.de/ ueber-uns/ geschichte/ , 19.07.2021). Die Geschichte dieser Schule lässt sich nicht idealistisch, sondern nur mate‐ 137 9.1 Marx und die materialistische Pädagogik rialistisch verstehen, Bildung war die Antwort auf wirtschaftliche (z. B. Konkurrenz) und gesellschaftliche (z. B. Hunger) Herausforderungen, sie war im Wortsinn notwendig, sie sollte Not abwenden: Um immer neue konkurrenzfähige Produkte herstellen zu können, mussten von den Lehr‐ kräften laufend Innovationen des zu Lernenden eingeführt werden. Über 100 Jahre währte diese erfolgreiche Schulgeschichte. In den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts schließlich war die Schwarzwälder Uhrenindustrie durch die neue Quarztechnik aus Japan nicht länger konkurrenzfähig, Werke wurden geschlossen, viele Menschen wurden arbeitslos. Die Wirtschaft musste nun ganz neue Felder erschließen, jenseits der Uhrenindustrie, noch mehr neues Wissen war gefragt. 1971 wurde aus der alten Uhrmacherschule, die 1947 zur staatlichen Ingenieurschule geworden war, die Fachhochschule Furtwangen. Dort gibt es heute Studiengänge, die entweder alte Traditionen fortführen (Advanced Precision Engineering oder Mechatronische Systeme) oder völlig neue Bereiche erschließen (Design interaktiver Medien oder International Relations and Cultural Diplomacy) (www.hs-furtwangen.de/ s tudiengaenge/ , 19.07.2021). Die Not der Konkurrenz machte und macht er‐ finderisch. Dies ist nichts Schlechtes, im Gegenteil wir können stolz auf diese Innovationsfähigkeit sein. Im Zusammenhang dieses Kapitels interessiert uns Folgendes: Hinter diesen enormen Anstrengungen im Bereich Bildung stehen nicht etwa Humboldts oder Herbarts Ideen von einer Selbstwerdung durch Bildung (Kap. 7), sondern reale materielle Bedingungen. Die materia‐ listische Theorie nennt sie auch Realprinzipien, Konkurrenz ist ein Beispiel für ein Realprinzip (Beutler 1997, 91). Die Geschichte der Uhrenindustrie im Schwarzwald und der Uhrmacherschule und späteren Fachhochschule Furtwangen zeigt, wie zutreffend der materialistische Blick auf Bildung ist. Die bürgerliche Pädagogik ist sehr idealistisch. Die materialistische Päd‐ agogik erforscht Bildung so, dass immer auch die materiellen Verhältnisse gesehen werden. Wenn das Sein das Bewusstsein bestimmt, was ist dann eigentlich eine gute Bildung? Müssen vielleicht die Verhältnisse gerechter werden, damit alle Menschen gut gebildet sein können? Die Kritik an Den‐ kern wie Humboldt oder Herbart, die als bürgerliche Pädagogen bezeichnet werden, weil sie der bürgerlichen und nicht der Arbeiterschicht angehören, ist eine doppelte. Zum einen spricht die bürgerliche Pädagogik stets nur von den wenigen privilegierten (männlichen) Jugendlichen aus den höheren, den bürgerlichen Schichten der Gesellschaft und kümmert sich meist nicht um die arbeitende Bevölkerung. Für diese privilegierte Schicht konnte Bildung tatsächlich zweckfrei sein und etwa auch der Selbstwerdung dienen, weil 138 9 Was heißt ‚Das Sein bestimmt das Bewusstsein‘? es für sie keine wirtschaftliche Not gab. Zum anderen aber bemerkt die idealistische bürgerliche Pädagogik nicht, dass sie bestimmte Strukturen gar nicht beschreiben kann, Strukturen, die sich nur der materialistischen Be‐ trachtungsweise erschließen. Damit ist gemeint: Wenn man die Betrachtung lediglich auf eine kleine gesellschaftliche Gruppe mit großen Privilegien und Freiheiten einschränkt, dann entgeht einem Vieles. Das Wichtigste, das die idealistische Pädagogik auf diese Weise übersieht - und das trotz der ständigen Rede von Aufklärung und Menschheitsfortschritt durch Bildung - ist der radikale, ja, der revolutionäre Gedanke, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse auch ganz anders sein könnten. Die Arbeitsverhältnisse könn‐ ten gerechter sein, ebenso die Chancen in der Gesellschaft. Und die soziale Mobilität könnte höher sein, also die Durchlässigkeit der Gesellschaft für tüchtige Menschen, die sozial aufsteigen wollen. Auf diese Weise auf das Bildungssystem zu schauen, das ist kennzeichnend für eine materialistische Pädagogik. Was will die materialistische Pädagogik? Die materialistische Pädagogik möchte nicht die Abhängigkeit der Bildung von wirtschaftlichen Verhält‐ nissen beenden. Sondern sie möchte das Bewusstsein dafür vermitteln, wie ungerecht unsere Gesellschaft tatsächlich ist. Davon ausgehend ergibt sich die Utopie einer gerechteren Gesellschaft. Diese Utopie hat freilich einen sehr weiten Horizont. Denn für eine einzelne Gesellschaft ist es leichter, Fortschritte auf dem Weg zu mehr Gerechtigkeit zu machen, wenn sich auch der globalisierte Weltmarkt mit seinen immer noch ungerechten Regeln als Ganzes ändert. Kritisch gegen die idealistische bürgerliche Pädagogik heißt es: Nur das sogenannte ‚Machbare‘, das aber über mittelfristige Erwägungen nicht vordringt, bestimmt den Horizont [der idealistischen bürgerlichen Pädagogik, Ph.Th.] […] Der [idealistische bürgerliche, Ph.Th.] pädagogische Ansatz […] ist sträflich, da er glaubt, das Individuum zur Bewährung in einer entfremdeten Welt aufrufen zu können, wo es doch darauf ankäme, die Wahrheit der Entfremdung ins kollektive Bewusstsein zu heben [dass wir unter den gegebenen materiellen Verhältnissen nicht wir selbst sein können, weil wir uns ‚verbiegen‘ müssen, Ph.Th.]. (Gamm 1997, 25) Nicht die individuelle Freiheit, weder das in der Schule immer wieder propagierte Selbstdenken (Kap. 1) noch die individuelle Selbstverwirkli‐ chung durch eine kluge Förderung der eigenen Neigungen und Begabungen (Kap. 7) reicht als Ziel der Bildung. Vielmehr, so die materialistische Päd‐ 139 9.1 Marx und die materialistische Pädagogik agogik, sollte bei den Jugendlichen ein Sinn dafür geweckt werden, wieviel Gutes durch die herrschenden Bedingungen und Regeln des weltweiten Wirtschaftens unmöglich gemacht wird, wieviel verkümmerte Biografien, wieviel ungenutzte Talente dabei entstehen. Der Horizont von Bildung sollte nicht die individuelle Selbstverwirklichung, sondern eine gerechtere Welt sein. Konkurrenz als Realprinzip: ein Beispiel für die materialistische Analyse von Bildung. Die alles beherrschende Konkurrenz stammt aus den objektiven Bedingungen des Wirtschaftens - und weil die Schule Teil des sozialen und des ökonomischen Systems ist, gilt es auch für die Schule, Konkurrenz wird daher Realprinzip genannt. „In der Schule werden vorausnehmend schon die Erfordernisse akzeptiert, die in der Totalität der Gesellschaft gesetzt sind“ (Beutler 1997, 91). Bildung kann noch so idealistisch sein, am Ende des Tages verteilt sie über das Vergeben von Noten auch Lebenschancen. Denn Wirtschaft und Gesellschaft wollen es so. Im Rennen um die besseren Start- und Karrierechancen wird das Prinzip der Konkurrenz auch im Schul- und Bildungssystem spürbar. Dies kann so weit gehen, dass wirtschaftlich und sozial gut gestellte Familien durch eine ‚höhere‘ Bildung ihren Kin‐ dern eine gesellschaftliche Distinktion (Abgrenzung) ermöglichen, eine Auszeichnung, ein Sichabheben von weniger privilegierten Bevölkerungs‐ gruppen. Mittel der Distinktion können ganz verschiedene sein: angefangen von bestimmten Formen und Ausgestaltungen der Schulen (altsprachliches Gymnasium, bilinguale Züge, transkontinentale Schüleraustausche) über bestimmte Sportarten und Musikinstrumente bis hin zu freiwilligem Sprach‐ unterricht in Chinesisch schon in jungen Jahren etc. All dies kann auch aus echtem Interesse und aus Liebe zu bestimmten Bildungsgehalten gewählt werden - aber es kann auch im Dienste eines gesellschaftlichen Distink‐ tionsgewinns stehen. Auf diese Weise reproduziert das Bildungssystem bestehende Verhältnisse immer weiter und die soziale Mobilität bleibt ge‐ ring. Freiheit und Selbstverwirklichung passen als Bildungsziele besonders gut zur bürgerlichen Pädagogik, weil hier die materiellen Voraussetzungen gegeben sind: Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Das Beispiel Heterogenität und Inklusion: individuell-idealistisch oder bes‐ ser organisatorisch-materialistisch? Der Unterschied zwischen idealistischer und materialistischer Betrachtungsweise lässt sich auch am Beispiel He‐ terogenität und Inklusion veranschaulichen. Das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ist von der UNO-General‐ versammlung 2006 verabschiedet worden. Von der EU ratifiziert, ist es 140 9 Was heißt ‚Das Sein bestimmt das Bewusstsein‘? mittlerweile in der deutschen Gesetzgebung und damit auch in den Schul‐ gesetzen verankert, daraus folgend sind zum Beispiel Inklusionsklassen entstanden. Zugleich ist allgemein das Bewusstsein dafür gestiegen, dass Menschen in vieler Hinsicht heterogen sind, ob es sich um ihr Alter mit ganz verschiedenen Bedürfnissen handelt, ihre Herkunft mit ganz verschiedenen Erfahrungshintergründen oder auch ihre sexuelle Orientierung. Wie sollen Lehrpersonen mit heterogenen und inklusiven Klassen umgehen? An dieser Frage lässt sich der Unterschied zwischen idealistisch und materialistisch gut erklären. Sehr vereinfacht gesagt: Idealistisch auf diese Aufgabe zu schauen würde bedeuten, am Bewusstsein oder gar an der Gesinnung der einzelnen Lehrer: innen zu arbeiten. In Fortbildungen ließe sich vielleicht die Toleranz für die Andersartigkeit von Menschen fördern. Für die betroffenen Lehrpersonen könnte dies eine Chance zur persönlichen Weiterentwicklung bedeuten. Andererseits könnte der Eindruck entstehen: Wenn das alles an mir und meinem Verhalten hängt, dann wird mein Beruf noch anstrengender und auch die (moralischen) Erwartungen an mich steigen immer weiter. Materialistisch auf dieselbe Aufgabe zu schauen würde demgegenüber bedeuten, zunächst die Institutionen, in welchen die Lehrpersonen arbeiten, strukturell zu ändern. Inklusion und Heterogenität müssten baulich und organisatorisch im Schulgebäude ermöglicht werden, die Stadt als Trägerin der Schule müsste selbst mit gutem Beispiel vorangehen, ebenso die Kultus‐ verwaltung. Das Handeln in Organisationen […] ist institutionell geregeltes und normiertes Handeln, das seine eigene Logik(en) entfaltet, denen man mit moralischen Appellen nur unzureichend beikommen kann. (Trautmann/ Wischer 2011, 70) Der eher materialistische Blick, der bei den realen Bedingungen und Ver‐ hältnissen ansetzt, in denen etwa eine Lehrperson handelt, kann diese auch entlasten, weil deutlich wird, dass die einzelne Lehrperson nicht allein verantwortlich ist. Die realen Arbeitsbedingungen und -verhältnisse müssen den guten Umgang mit Heterogenität ermöglichen: rechtlich, baulich, hin‐ sichtlich den Klassengrößen etc. Auch dies ist mit dem Satz gemeint: Das Sein (hier: die Bedingungen) bestimmt das Bewusstsein (hier: wie offen eine Lehrperson für Heterogenität sein kann). 141 9.1 Marx und die materialistische Pädagogik Die materialistische Pädagogik schaut auf Bildung mithilfe der gesell‐ schaftlichen Analysen von Karl Marx (1818-1883): Dabei werden die Grenzen der idealistisch-bürgerlichen Pädagogik deutlich (z. B. Hum‐ boldt, Herbart). Es sind die materiellen Nöte, die Bildung notwendig machen (Beispiel Uhrmacherschule Furtwangen). Es ist das Realprinzip Konkurrenz, welches das Bildungssystem beherrscht bis hin zum Dis‐ tinktionsgewinn durch exklusive Bildung. 9.2 Klasse bestimmt über Lebensstil (Bourdieu) Soziale Stellung und die (Un-)Sicherheit im Kunstgeschmack. Dass sich soziale Klassen hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Möglichkeiten unterscheiden, ist leicht einzusehen. Dass sie sich aber auch sehr stark voneinander abheben, was ihren Umgang mit Kultur und Kunst angeht, das hat der französi‐ sche Philosoph und Soziologe Pierre Bourdieu (1930-2002) erforscht. Auch hier scheint das Sein das Bewusstsein zu bestimmen. In breit angelegten empirischen Untersuchungen in den 1970er Jahre wurden Angehörige verschiedener sozialer Klassen befragt. Ihnen wurden Fragen zu bildender Kunst, Musik, Fotografie und Ähnlichem vorgelegt. Kann man etwa von beliebigen Steinen ein künstlerisches Foto machen? Hier Antworten von Arbeiter: innen: „Das ist glatte Verschwendung von Filmen“ - „Es gibt welche, ich schwörs Ihnen, die wissen einfach nicht, wie sie ihre Zeit totschlagen sollen“ - „Um sowas zu knipsen, muß man wirklich nichts zu tun haben“ - „Ein bourgeoises Photo“. (Bourdieu 2011, 81) Angehörige höherer sozialer Klassen (bildungsbürgerlich) urteilten in der Frage nach der Ästhetik ‚nutzloser‘ Fotomotive ganz anders und verste‐ hen diese als Kunst. Doch die Unterschiede reichen noch weiter. Es geht insbesondere auch darum, wie distanziert (Bildungsbürgerliche) bzw. wie emotional involviert (Arbeiterklasse) über Kunst geurteilt wird. Noch in den alltäglichen Situationen des bürgerlichen Daseins werden die Trivialitäten über Kunst, Literatur oder Film mit ernster, wohlgesetzter Stimme 142 9 Was heißt ‚Das Sein bestimmt das Bewusstsein‘? vorgetragen, in bedächtiger und zwangloser Diktion, mit distanziertem oder selbstsicherem Lächeln, maßvoller Gestik. (Bourdieu 2011, 284) Hintergrund dieses sozialen Klassenunterschieds ist hier vor allem die Vertrautheit und Selbstsicherheit der Bildungsbürgerlichen auf dem Gebiet der Kunst, eine „gleichgültige Blasiertheit“ (Bourdieu 2011, 518). Diese Sicherheit fehlt Angehörigen der unteren Mittelschicht. Die Kleinbürger haben kein spielerisches Verhältnis zum Bildungsspiel: sie nehmen die Kultur zu ernst, um sich einen Bluff oder Schwindel zu erlauben oder auch nur die lässige Distanz, die von wirklicher Vertrautheit zeugt; zu ernst, um nicht ständig besorgt zu sein, ob sie nicht bei Unkenntnissen oder Schnitzern ertappt werden […]. (Bourdieu 2011, 518) Demgegenüber steht „die Gelassenheit derjenigen [der Bildungsbürgerli‐ chen, Ph.Th.], die sich ermächtigt fühlen, ihre Bildungslücken zu gestehen und sogar auf ihnen zu bestehen“ (Bourdieu 2011, 518). Bildung gibt gesellschaftliche Sicherheit. Weshalb haben die Bildungsbür‐ gerlichen keine Scheu, Bildungslücken zuzugeben? Weil sie sich mit dieser Souveränität gerade von den Kleinbürger: innen abheben können. Dies ist ein symbolischer Gewinn, der jede Bildungslücke mehr als ausgleicht. Es geht um das „von den Diplomen verliehene Recht, nicht Bescheid zu wissen“ (Bourdieu 2011, 515). Wer von Hause aus vertraut mit Kultur und Bildung ist, weiß, dass Bildung gerade in dieser Sicherheit besteht - und nicht darin, vieles zu wissen. Die Kleinbürger machen aus der Bildung eine Frage von wahr und falsch, eine Frage auf Leben oder Tod. Bildung mit Wissen gleichsetzend, meinen sie, ein Gebildeter sei, wer einen unermeßlichen Schatz an Wissen besäße. (Bourdieu 2011, 518, Hervorhebung i. O.) Bourdieu hat für das Gebiet der Teilhabe an Bildung, Kultur und Kunst ge‐ zeigt, wie sehr das gesellschaftliche Sein (Klassenzugehörigkeit) tatsächlich über das Bewusstsein (Kunstgeschmack, Einstellung zu Bildung) entschei‐ det. Habitus und kulturelles Kapital. Diese zwei Begriffe sind hier noch von Bedeutung. Unter Habitus wird der Lebensstil im weitesten Sinne verstan‐ den. Dieser unterscheidet sich je nachdem, welcher sozialen Klasse man angehört. Es geht nicht nur um wirtschaftliche Unterschiede und darum, 143 9.2 Klasse bestimmt über Lebensstil ob man preiswerte oder teure Produkte kauft. Der Habitus hat auch eine ästhetisch-kulturelle Seite. Die im objektiven [was sich an Menschen beobachten lässt, Ph.Th.] wie im sub‐ jektiven Sinn ästhetischen Positionen [wie sie ästhetisch urteilen, was sie schön finden, Ph.Th.], die ebenso in Kosmetik, Kleidung oder Wohnungsausstattung zum Ausdruck kommen, beweisen und bekräftigen den eigenen Rang und die Distanz zu anderen im sozialen Raum. (Bourdieu 2011, 107) Das kulturelle Kapital ist etwas, über das eine Familie verfügt und das sie an ihre Kinder vererbt. Wer in einer Familie aufwächst, die über die oben beschriebene Vertrautheit mit Bildung, mit Kultur und Kunst verfügt, hat ein höheres kulturelles Kapital als jemand, der in einer Familie aufwächst, in der es diese Selbstsicherheit und Vertrautheit nicht gibt. Dieses kulturelle Kapi‐ tal lässt sich in ökonomisches Kapital verwandeln, etwa, weil es selbstsicher macht und den Zugang zu höheren Bildungseinrichtungen erleichtert. Oder, weil die Eltern Bekannte haben, die interessante Praktika vermitteln und so Karrieren vorbereiten. Schule und Klassenunterschiede. Was bedeuten Bourdieus Untersuchungs‐ ergebnisse und die ‚feinen Unterschiede‘ (so der berühmte Titel seines Buches) für Sie als Lehrpersonen? Zum einen muss schulische Bildung nicht nur Kompetenzen vermitteln, die im Bereich der späteren beruflichen Bildung von Bedeutung sind, wie es für die MINT-Fächer zutrifft (Mathe‐ matik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik). Vor dem Hintergrund der Erkenntnisse Bourdieus ist es, etwa für die soziale Mobilität, also die Chance, sozial aufzusteigen, ebenfalls wichtig, den Schüler: innen zu helfen, an der Schule kulturelles Kapital aufzubauen. Vertrautheit mit Kultur und Ästhetik ist dabei von Bedeutung, ebenso ideengeschichtliche Kenntnisse in Philosophie und Literatur. Zum anderen sollten Sie als Lehrpersonen Ihren Schüler: innen eine Art ‚Röntgenbrille‘ mitgeben, die ihnen hilft, die ‚feinen Unterschiede‘ wahrzunehmen, die es überall zwischen sozialen Klassen gibt. Sie sollen auch jene Mechanismen durchschauen lernen, mit denen sich soziale Klassen immer wieder neu reproduzieren. Für die Schüler: innen ist es sehr wichtig zu verstehen, was der Satz bedeutet: Das Sein bestimmt das Bewusstsein. 144 9 Was heißt ‚Das Sein bestimmt das Bewusstsein‘? Bourdieu zeigt, dass sich Klassenunterschiede auch in der (Un-)Sicher‐ heit im Kunstgeschmack ausdrücken. Dieser bestimmt mit über den Habitus einer gesellschaftlichen Gruppe und damit über das kulturelle Kapital, das z. B. eine Familie ihren Kindern mitgeben kann. Schulische Bildung kann hier versuchen auszugleichen und ein kritisches Bewusst‐ sein zu schaffen. 9.3 Frau sein - Frau sein? (Butler) Mann und Frau und Sein und Bewusstsein. Lässt sich sagen, es gehöre auch zum materiellen Sein, welchem Geschlecht jemand angehört? Sicher macht es einen Unterschied, ob wir als Frau oder Mann oder weder als Frau noch Mann unser Leben führen. Doch die Bedeutung von Mann und Frau ist nicht nur Biologie. Wie schon in der marxistischen Pädagogik gilt auch hier: Materielle Bedingungen sind immer auch gesellschaftliche. Welches genau die Rollen von Frau und Mann sind, darüber sind verschiedene Gesellschaften und Epochen unterschiedlicher Meinung. Hinzu kommt: Außer Heterosexualität gibt es auch Homosexualität und weitere sexuelle Identitäten. Was zunächst starr und eindeutig erscheint, das verflüssigt sich bei näherem Hinsehen bald. Geschlecht ist eine materielle Bedingung (bio‐ logisches und gesellschaftliches Sein), die unser Selbstverständnis bestimmt (Bewusstsein). Wie genau diese materielle Bedingung aussieht, das ist trotz der Biologie prinzipiell gesellschaftlich veränderbar. Den herrschenden Diskurs untersuchen. Die Philosophin Judith Butler (geb. 1957) erzählt im Vorwort zu ihrem einflussreichen Werk Das Unbehagen der Geschlechter, wie sie in ihrer Jugend angefangen hat, selbst zu denken. Butler nennt vier Schritte. Schritt eins: Im herrschenden Diskurs meiner Kindheit galt ‚Schwierigkeiten machen‘ als etwas, das man auf keinen Fall tun durfte, und zwar gerade, weil es einen ‚in Schwierigkeiten bringen‘ konnte. (Butler 1991, 7, Hervorhebung i. O.) Hier zeigte sich schon eine irgendwie anonym wirkende Macht, die Butler den herrschenden Diskurs nennt. Was ist damit gemeint? Wenn Butler schreibt, der herrschende Diskurs habe für sie als Kind, als Mädchen vorgesehen, dass man keine Schwierigkeiten haben und machen soll, dann 145 9.3 Frau sein - Frau sein? heißt das: Wenn über Heranwachsende und speziell über die Rolle des Mädchens und der Frau gesprochen wird, dann geht damit eine Art Verbot einher: Es soll alles selbstverständlich sein, es soll keine Schwierigkeiten geben. Der Diskurs sagt: Alles versteht sich doch von selbst. Subjekt und Gender. Schritt zwei: Butler las dann bei der Philosophin Simone de Beauvoir (1908-1986) und dem Philosophen Jean-Paul Sartre (1905-1980) vom Besonderen, vom Schwierigen des Verhältnisses zwischen den Geschlechtern. Was heißt Gender? Unter Gender wird das soziale Geschlecht verstanden, vereinfacht gesagt die Geschlechtsrolle, besser: das, was ‚Frau‘ oder ‚Mann‘ in einer bestimmten Gesellschaft jeweils bedeutet. Davon unterschieden wird das biologische Geschlecht (englisch sex). Sartre schrieb davon, wie der Mann die Frau begehre und sie dadurch zum Objekt werde. Und Sartre schrieb weiter, wie das männliche begehrende Subjekt dann abhängig von der Frau ist: Die Frau kann dem begehrenden Blick selbstbewusst begegnen, sie kann sich auch dem Begehren versagen. Dabei wird sich das männliche Subjekt darüber klar, wie wenig unabhängig es eigentlich ist, wie wenig autonom (Butler 1991, 7 f.). Butler sagt in diesem zweiten Schritt kritisch gegen Beauvoir und Sartre: Bei ihnen geht es einfach um eine Subjekt-Objekt-Philosophie. Auf dieser Ebene (Subjekt begehrt Objekt) bekommt man das eigentliche Problem aber nicht in den Griff. Die begehrenden und auf ein Begehren reagierenden Subjekte sind ihrerseits ja Teil eines Diskurses, in dem über die Bedeutung von ‚Frau‘ und ‚Mann‘ schon entschieden wurde, z. B. dass der Mann begehrt und sich die Frau umwerben lässt. Diese Subjekte sollten sich besser fragen, woher ihre Rollen kommen und wie der herrschende Diskurs Macht über sie ausübt (Butler 1991, 8). Und mehr noch: Frau und Mann sollten sich fragen, ob nicht allzu schnell davon ausgegangen wird, dass diese binäre Struktur schon alles sagt und umfasst. Binär meint hier, dass nur die beiden Kategorien Mann und Frau normal sind. Intersexualität und Transgender gelten als unnormal, als Abweichung. Im binären Denken werden oft auch Homo- und Bisexualität als unnormal angesehen. Grammatisch gibt es nur entweder Subjekt oder Objekt und nur Frau oder Mann. Doch reicht eine binäre Begrifflichkeit hier aus? Frau sein? Die Binarität in Frage stellen. Schritt drei: Wer hat die Macht festzulegen, was Mann und Frau bedeuten und dass es nichts anderes gibt als diese beiden Seiten, dass jedes Sprechen über Gender stets binär sein muss? 146 9 Was heißt ‚Das Sein bestimmt das Bewusstsein‘? Ich fragte: welche Konfiguration der Macht konstruiert das Subjekt und den Anderen, bzw. die binäre Beziehung zwischen ‚Männern‘ und ‚Frauen‘ und die innere Stabilität dieser Termini [dass sie als selbstverständlich erschöpfend gelten und es kein Drittes gibt, Ph.Th.]? Welche Einschränkung macht sich hier geltend? Flößen uns diese Begriffe nur so lange kein Unbehagen ein, wie sie einer heterosexuellen Matrix [hier: Ordnung, Ph.Th.] für das Verständnis der Geschlechtsidentität und des Begehrens entsprechen? (Butler 1991, 8) Die Macht zeigt sich gerade „in der Produktion des binären Rahmens, der das Denken über die Geschlechtsidentität bestimmt“ (Butler 1991, 8). Der Begriff Heteronormativität. Butlers Diagnose lautet: Schon im binären Denken selbst ist Macht am Werk. Weil heterosexuelle Menschen unter dem binären Denken zumeist nicht leiden, deshalb erscheint ihnen diese Art von Normalität als ausreichend (Kap. 8). Unter derselben Normalität können aber Angehörige anderer sexueller Identitäten gerade leiden. Binarität erscheint ihnen als nicht ausreichend. Sie spüren eine ungute machtförmige Konstruktion von Normalität, sie spüren Heteronormativität. Butlers Methode: eine genealogische Kritik. Schritt vier: Butler fragt: „Aber wie kann ein epistemisch/ ontologisches Regime in Frage gestellt werden? “ (Butler 1991, 8). Mit dem epistemisch/ ontologischen Regime meint Butler Folgendes. Als epistemisch (von griechisch epistéme, Erkenntnis) werden Fragen des Erkennens von etwas bezeichnet, es geht darum, wie man etwas richtig erkennen kann. Als ontologisch (von griechisch ón, Sein, seiend) werden Fragen des Seins von etwas bezeichnet, es geht darum, was etwas wirklich und eigentlich ist. Als Regime wird eine ordnende Herrschaft bezeichnet. In Butlers Satz dürfen wir bei Regime auch an den herrschenden Diskurs denken. Butler fragt also: Wie lässt sich diese ganze binäre Ordnung (Regime) in Frage stellen, die immer schon richtig zu erkennen glaubt (epistemisch), was Mann und Frau vermeintlich eigentlich und wirklich sind (ontologisch)? Ihre Antwort besteht darin, sich auf den Weg einer genealo‐ gischen Kritik zu machen. Butler untersucht, wie es durch die Wirkung von Machtstrukturen zu jener Normalität kam, deren Restriktivität bisher noch nicht zum Thema gemacht wurde. Butlers Hoffnung: Wenn sich zeigen lässt, dass jene heteronormative Normalität und jenes epistemisch/ ontologische Regime nicht einfach aus der Biologie zu entnehmen sind, dann wird deutlich, dass es sich um etwas (um ein Sein) handelt, das prinzipiell auch verändert werden und zu einem neuen Bewusstsein führen kann. 147 9.3 Frau sein - Frau sein? Hintergrund: Aber ist Heterosexualität nicht doch normal? Ja, im rein beschreibenden Sinn von ‚normal‘ gleich ‚üblich‘: Unter Lebewesen ist heterosexuelle Fortpflanzung weit verbreitet (informieren Sie sich auch über die bei Pflanzen sehr häufige ungeschlechtliche Fortpflan‐ zung), insofern es sonst keine heterosexuellen Lebewesen mehr gäbe, wir sind ja alle Kinder unserer Eltern. Doch nein in einem wertenden Sinn von ‚normal‘ gleich ‚richtig‘: Möchten wir eine Gesellschaft, welche Fortpflanzung als Norm oder gar als Pflicht definiert? Single oder ein Paar ohne Nachwuchs zu sein, das wäre unerwünscht oder gar verboten, mit dem Argument, es sei unnatürlich oder unnormal. In unserer Gesellschaft dagegen fallen die Fragen der Fortpflanzung wie auch der Hetero- oder Homosexualität zum Glück in den Bereich individueller Selbstbestimmung. Das Sein ist veränderbar. Für Marx ist die soziale und wirtschaftliche Situa‐ tion eines Menschen (das Sein), die über sein Bewusstsein bestimmt, prin‐ zipiell veränderbar. Was eine bestimmte geschlechtliche Identität (Sein), die ebenfalls über das Bewusstsein eines Menschen bestimmt, jeweils bedeutet, das ist für Butler prinzipiell veränderbar. In der materialistischen Perspek‐ tive gilt: Das prinzipiell veränderbare Sein bestimmt über das Bewusstsein. Das geschlechtliche Sein bestimmt mit über unser Bewusstsein: als gender, als gesellschaftlich festgelegte, veränderbare Bedeutung von sex. Ihre Antwort auf die Frage Ihrer Schüler: innen: Was heißt ‚Das Sein bestimmt das Bewusstsein‘? So könnten Sie Ihren Schüler: innen antworten: ▸ Es ist ein gutes Gefühl, wenn Ihr Euch frei fühlt und spürt, was Ihr durch eigenes Engagement alles erreichen könnt. ▸ Dennoch: Täglich lernend, diskutierend, sich eine Meinung bildend und Aufsätze schreibend neigen wir alle dazu, die individuellen Ideen zu überschätzen und die materiellen Bedingungen zu unter‐ schätzen. 148 9 Was heißt ‚Das Sein bestimmt das Bewusstsein‘? ▸ Selbst der ästhetische Geschmack, so die Soziologie, ist milieuspe‐ zifisch. ▸ Auch wie Ihr Euch in Eurer geschlechtlichen Identität fühlt, hängt stark von der Gesellschaft ab. Die Befreiung von restriktiven Verhältnissen war für frühere Generationen ein harter Kampf und das ist er auch heute noch. Wenn Sie sich noch weiter interessieren Obwohl sich am Zusammenhang zwischen gesellschaftlichem Sein und individuellem Bewusstsein nichts geändert hat, scheint die große Zeit der materialistischen Pädagogik (oder, wie es auch hieß, der kritischen Erziehungswissenschaft) vorbei zu sein. Für einen Überblick lesen Sie GAMM et al. 1997. Eng verwandt mit der materialistischen Pädagogik ist die Befreiungspädagogik oder Pädagogik der Unterdrückten. Ihr ausdrückliches Ziel ist es, Menschen eine Idee davon zu vermitteln, dass die wirtschaft‐ lichen und gesellschaftlichen Verhältnisse zwar über unser Bewusstsein bestimmen, aber auch veränderbar sind. Zentral ist die Überzeugung, dass Menschen ihre Lage kreativ verändern und sich gemeinsam aus restriktiven Verhältnissen befreien können. Wichtigster Vertreter ist der brasilianische Pädagoge PAULO FREIRE. Lesen Sie dazu FREIRES Hauptwerk Pädagogik der Unterdrückten (FREIRE 1973). Eine gute Einführung in JUDITH BUTLER bietet BUBLITZ 2018. Falls Sie folgender kritische Einwand gegen BUTLER interessiert: Aber wir sind doch gerade als geschlechtliche Wesen auch Naturwesen. Übersieht BUTLER da nicht etwas? Dann lesen Sie dazu Kapitel 5 dieses Buchs. Dort wird reflektiert, wie wir auf informierte und kritische Weise das Wissen in unser Denken einbeziehen, dass wir Naturwesen sind. 149 Wenn Sie sich noch weiter interessieren 10 Weshalb sollen wir politisch sein? (Tocqueville, Arendt) Freiheit gibt es nur in dem eigentümlichen Zwischen-Bereich der Politik. Vor dieser Freiheit retten wir uns in die ‚Notwendigkeit‘ der Geschichte. Eine abscheuliche Absurdität. H A N N AH A R E N D T (1993, 12) Worum geht es? Ihre Schüler: innen hören von Ihnen immer wieder, wie wichtig Politik ist. Als Lehrperson sprechen Sie von der großen Chance, die darin besteht, darüber mitbestimmen zu dürfen, in welche Richtung sich die Gesellschaft entwickelt. Ihre Schüler: innen wenden ein: Glauben Sie das wirklich? So bedeutend sind wir nun auch wieder nicht. Der Staat soll vor allem dafür sorgen, dass die Wirtschaft läuft und dass wir sicher leben können und uns ansonsten in Ruhe lassen. Welche Antwort könnten Sie geben? Genauer geht es um Folgendes: ▸ Was kann Ihren Schüler: innen helfen einzusehen, dass eine be‐ queme Versorgungsmentalität in der Demokratie normal, aber doch problematisch ist? ▸ Wie könnten Sie begründen, dass Politik dennoch wichtig ist und dass wir die Chance nutzen sollten zu diskutieren und politisch mitzuentscheiden? ▸ Wie könnten Sie bei Ihren Schüler: innen einen Sinn dafür wecken, dass wir als Menschen politische Wesen sind und uns auch politisch selbst verwirklichen? 10.1 Politik ist mühsam und eine milde despotische Versorgung durch den Staat erscheint bequem (Tocqueville) Wie lebt es sich ohne Monarchie? Der französische Politikwissenschaftler Ale‐ xis de Tocqueville (1805-1859) hat in seinem bis heute einflussreichen Werk Die Demokratie in Amerika (1835/ 1840) beschrieben, wie die amerikanische Demokratie funktioniert. Tocqueville reist nach Amerika und ist fasziniert von dieser Staatsform, von der das alte Europa damals noch weit entfernt ist. Zugleich ist er ein kritischer Beobachter und weist auf mögliche innere Schwächen der demokratischen Gesellschaft hin (Krause 2017). In unserem Zusammenhang ist von besonderem Interesse Tocquevilles Analyse einer spezifischen Politikmüdigkeit in der Demokratie. Anders als in Europa gibt es im demokratischen Amerika keine Ständegesellschaft mehr, etwa mit einem starken Adel und einem starken Klerus, der auf lokaler Ebene Macht über die Menschen hat, aber auch einen gewissen Glanz verbreitet. Und es gibt kein höfisches Leben in der Hauptstadt. Die freien Bürger sind alle mehr oder weniger gleich, was ihre gesellschaftlichen Rechte angeht. Insgesamt individualistisch orientiert, schätzen sie das private Leben besonders hoch ein (Krause 2017, 123 f.). Sie verwirklichen sich selbst nicht im glanzvollen Staats- oder Militärdienst, sondern im Privaten. Das Privatleben ist in den demokratischen Zeiten so rührig, so bewegt, so von Wünschen, von Arbeit erfüllt, daß jedem weder viel Kraft noch Muße für das politische Leben übrigbleibt. (Tocqueville 1962, 317) Der Staat ist weit weg und sorgt für uns. Vom Staat wird im damaligen Amerika nur ein fester Rahmen erwartet, um in Ruhe den privaten Inter‐ essen nachgehen zu können. Notfalls wird ein milder Despotismus. in Kauf genommen, Tocqueville spricht von einer „Verwaltungsdespotie“ (Toc‐ queville 1962, 343), denn die moderne Bürokratie entmündigt Menschen. Despotie meint hier eine nicht weiter in Frage gestellte Herrschaft über die Bürger: innen. In Europa ging sie damals vom Monarchen aus, er kann Menschen u. U. willkürlich verhaften lassen. In Amerika (Demokratie) ist solche Willkürherrschaft unbekannt. Doch bekannt sind andere Zwänge, etwa die lauter ‚notwendiger‘ Verwaltungsvorgänge Über diesen [den Menschen im Privaten, Ph.Th.] erhebt sich eine gewaltige, bevormundende Macht [der Verwaltungsstaat, Ph.Th.], die allein dafür sorgt, ihre 152 10 Weshalb sollen wir politisch sein? Genüsse zu sichern und ihr Schicksal zu überwachen. Sie ist unumschränkt, ins einzelne gehend, regelmäßig, vorsorglich und mild. (Tocqueville 1962, 342) Diese Macht kann zu Bequemlichkeit und Politikmüdigkeit führen und kann auf die Dauer eine Gefahr für die moderne Gesellschaft sein (Taylor 1995, 16). Der bürokratische Staat ist mächtig, seine Regelungen und Entscheidungen sind nicht willkürlich, man kann nicht gut gegen sie protestieren, denn sie folgen einer bürokratischen Logik der Effektivität. Entscheidend ist hier einfach der Zusammenhang zwischen einem starken, bürokratischen und fürsorgenden Staat - und einer Bevölkerung, die zwar frei ist und sich eigentlich demokratisch selbst regiert, die aber auf die Dauer das Interesse daran verliert, aktiv politisch mitzubestimmen. Stattdessen sucht sie die Selbstverwirklichung im privaten Leben. Die Beschreibung Tocquevilles ist für uns interessant, weil sie auch unseren eigenen Zustand trifft: Weshalb sollen wir politisch sein, es ändert ja doch nichts. Effektiv und glanzlos ist der Staat, wir verwirklichen uns im Privaten. Tocqueville beschreibt im 19. Jahrhundert die junge amerikanische Demokratie. Er analysiert Mechanismen einer Politikmüdigkeit: Der Staat ist weit weg und die Verwaltung effektiv, weshalb sollen wir da politisch sein? 10.2 Politik bedeutet Engagement aus Liebe zur Welt (Arendt) 10.2.1 Arbeiten, Herstellen und Handeln Das tätige, nicht nur das theoretische Leben! Ein Buch der politischen Philo‐ sophin Hannah Arendt (1906-1975) ist in unserem Kontext von besonderer Bedeutung: Vita Activa oder Vom tätigen Leben (engl. 1958, deutsch 1960). Hintergrund: Philosophie unter Hitler. Bevor Arendt, geboren in Han‐ nover, in New York Professorin und weltberühmt wurde, engagierte sie sich vielfältig und entwickelte eine eigene politische Philosophie. 1933 konnte sie aus Deutschland über mehrere Etappen nach New 153 10.2 Politik bedeutet Engagement aus Liebe zur Welt York fliehen. Studiert hatte Arendt in Deutschland, u. a. bei den Existenzphilosophen Martin Heidegger und Karl Jaspers. Bekannt ist sie auch für ihren Bericht über den Prozess gegen den deutschen Kriegsverbrecher Adolf Eichmann in Jerusalem. Arendt wendet sich gegen die übliche Geringschätzung, welche die euro‐ päische Philosophie dem aktiven Leben gegenüber zeigt. Seit der Antike gilt das theoretische Leben als erstrebenswert, das Leben, welches dem Philoso‐ phieren gewidmet ist. Es schien das höhere im Vergleich zum praktischen Leben. Arendt versucht nun, das tätige Leben und damit auch das politische neu zu begründen. Ihre Methode ist die Beschreibung der menschlichen Existenz selbst. Arendts Gedankengang beginnt damit, dass sie dreierlei unterscheidet: das Arbeiten, das Herstellen und das Handeln (Reese-Schäfer 2006). Arendts Ziel ist es zu zeigen, dass Politik zur höchsten Sphäre der vita activa gehört, nämlich zum Handeln. In diesem verwirklichen wir uns als Menschen. Das mühsame und vergebliche Geschäft: Arbeiten (Arendt 2013, 98 ff.). Unter Arbeit versteht Arendt die täglichen Verrichtungen, welche in der griechischen Antike die Sklaven übernehmen mussten. Für Hausarbeit, verschiedene Dienstleistungen und für die Konsumgüter, die lediglich zum Verbrauchen produziert werden, gilt bis heute, dass uns von all der Arbeit eigentlich nichts bleibt. So ist der grundsätzlichere Unterschied zwischen Arbeiten und Herstellen in der Unterscheidung zwischen unproduktiver [Arbeit, Ph.Th.] und produktiver Arbeit [Herstellen, Ph.Th.] eigentlich mitenthalten […]. Denn es ist ja gerade das Kennzeichen der Arbeit, daß sie nichts objektiv Greifbares hinterläßt, dass das Resultat ihrer Mühe gleich wieder verzehrt wird und sie nur um ein sehr Geringes überdauert. Und dennoch ist diese Mühsal, die so gar nichts Dauerndes zustande bringt, in ihrer Vergeblichkeit von einer unüberbietbaren Dringlichkeit […], weil von ihrer Erfüllung das Leben selbst abhängt. (Arendt 2013, 104) Die Dinge machen unsere Welt zur Heimat: Herstellen (Arendt 2013, 165 ff.). Ganz anders ist es beim Herstellen jener Dinge, die nicht zum schnellen Verbrauch produziert werden, sondern die möglichst lange halten sollen, wie zum Beispiel Häuser, aber auch Dinge wie sehr gute Möbel oder Gebrauchs‐ gegenstände. Anders als bei der Arbeit, deren Ergebnisse sich laufend selbst verbrauchen und aufzehren, zielt unser Herstellen auf etwas Dauerhaftes. 154 10 Weshalb sollen wir politisch sein? Und tatsächlich gibt es viele Dinge, die unser kurzes menschliches Leben überdauern. Das Werk unserer Hände, und nicht die Arbeit […] verfertigt die schier endlose Vielfalt von Dingen, deren Gesamtsumme sich zu der von Menschen erbauten Welt zusammenfügt. […] Diese Gegenstände werden gebraucht und nicht ver‐ braucht, das Brauchen braucht sie nicht auf; ihre Haltbarkeit verleiht der Welt als dem Gebilde von Menschenhand die Dauerhaftigkeit und Beständigkeit, ohne die sich das sterblich-unbeständige Wesen der Menschen auf der Erde nicht einzurichten wüßte; sie sind die eigentlich menschliche Heimat des Menschen. (Arendt 2013, 161) Egal, ob wir persönlich gläubig sind oder nicht, wir freuen uns, wenn wir den Kirchturm unseres Heimatdorfes sehen. Egal, ob uns das alte Rathaus hinsichtlich seines Baustils ästhetisch überhaupt gefällt, es macht unsere Heimat aus. Für die Dauer hergestellte Dinge sind uns wertvoll. Wir selbst bringen uns in die Welt ein: Handeln (Arendt 2013, 213 ff.). Eine dritte Art von Tätigkeit ist das Handeln. Hier liegt der Akzent noch stärker auf dem Individuellen allen menschlichen Lebens. Sprechend und handelnd schalten wir uns in die Welt der Menschen ein, die existierte, bevor wir in sie geboren wurden, und diese Einschaltung ist wie eine zweite Geburt, in der wir die nackte Tatsache des Geborenseins bestätigen, gleichsam die Verantwortung dafür auf uns nehmen. (Arendt 2013, 215) Unser Handeln hat unmittelbar mit uns selbst als Individuen in unserer unverwechselbaren Existenz zu tun. Arendt ist diese existenzphilosophische Sicht auf das aktive Leben der Menschen besonders wichtig (Tömmel 2013, 272 ff.). Hintergrund: Was ist Existenzphilosophie? Sehr kurz gesagt vertritt sie die Auffassung, dass Wahrheit weder in ‚ewigen Ideen‘ noch nur in naturwissenschaftlichen Tatsachen besteht, sondern in der Wahrhaftigkeit der eigenen Existenz. Mit der Geburt sind wir auf die Welt gekommen, ohne dass wir gefragt wurden. Für die Zufälligkeit unserer Existenz können wir nichts. Wohl aber können wir unserem Leben einen Sinn geben. Wir können unseren ganz 155 10.2 Politik bedeutet Engagement aus Liebe zur Welt individuellen Beitrag zu jener Welt leisten, die auch ohne uns existiert hat, die nun aber darauf wartet, durch uns bereichert zu werden. Indem wir damit beginnen, unsere eigenste Perspektive in die Welt zu bringen, sorgen wir für unsere zweite Geburt. Nicht im Arbeiten und nicht im Herstellen, sondern in unserem Handeln geben wir der Welt etwas, das sie nur von uns bekommen kann (Kap. 8). Nicht jeder darf handeln. In der antiken Polis (Stadtstaat) war das Handeln in diesem umfassenden Sinn nur den freien, wohlhabenden Bürgern vorbe‐ halten (Arendt 2013, 100, 102). Sie konnten sich als sie selbst, als Individuen, als einmalige Personen in die Gestaltung der Polis einbringen und dadurch die gemeinsame Welt prägen und gestalten. In diesem Sinn handeln zu können, ist also nicht selbstverständlich. Weder die Arbeiterklasse, bevor sie das Wahlrecht erlangte, noch die Menschen in einer Diktatur dürfen sich ungehindert und frei einbringen und einschalten in die Welt, sie dürfen in diesem Sinn nicht handeln. Menschliches Handeln ist Selbstverwirklichung. Für Arendt verwirklicht sich der Mensch erst in der Handlung, denn nur in ihr ist er ganz Individuum, ganz er selbst: gerade indem er sich nicht zurückzieht, sondern den Schutz‐ raum des Privaten verlässt und die Welt verändert. So schreibt Arendt: Der Neubeginn, der mit jeder Geburt in die Welt kommt, kann sich in der Welt nur darum zur Geltung bringen, weil dem Neuankömmling die Fähigkeit zukommt, selbst einen neuen Anfang zu machen, d. h. zu handeln. (Arendt 2013, 18) Sehen wir auf Arendts Unterscheidung von Arbeiten, Herstellen und Han‐ deln, dann können wir eine erste Antwort auf die Frage geben, weshalb wir politisch sein sollen. Es geht darum, dass wir Verantwortung für unsere Existenz übernehmen und uns gestaltend einbringen in die gemeinsame Welt. Wir bringen uns damit erst richtig zur Welt, zum anderen braucht uns die Welt, weil der gemeinsame öffentliche Raum von all den spezifischen Perspektiven und gestalterischen Beiträgen der einzelnen Individuen lebt. 156 10 Weshalb sollen wir politisch sein? Arbeiten, das ist für Arendt jene vergebliche Mühe der anstrengenden täglichen Verrichtungen, die ohne Folgen bleiben. Herstellen, das ist das Hervorbringen von dauerhaften Dingen, die uns Heimat geben. Handeln, das ist menschliche Selbstverwirklichung: Es ist unser ganz individueller und zugleich öffentlicher Beitrag zur Gestaltung der gemeinsamen Welt. Diesen Beitrag dürfen wir nur dort einbringen, wo uns die politische Freiheit dazu gegeben ist. 10.2.2 Politik braucht handelnde Menschen Wer bestimmt, was gemacht wird? Stellen wir uns die Arbeit der politischen Gremien und der öffentlichen Verwaltung in unserer Gemeinde vor. Die Ver‐ waltung setzt politische Beschlüsse um, sie führt zum Beispiel den Beschluss des Gemeinderats zum Bau eines neuen Kindergartens aus (Ausschreibun‐ gen, Mittelbewirtschaftung etc.). In ähnlicher Weise setzt die Schulverwal‐ tung in unserem Bezirk jene Beschlüsse um, welche das Landesparlament gefasst hat, zum Beispiel bei der Fortentwicklung des Bildungsplans in den Unterrichtsfächern (Unterrichtsmaterial, Fortbildungen etc.). Doch wer entscheidet darüber, ob und wie der Kindergarten gebaut und in welche Richtung der Bildungsplan weiterentwickelt wird? Beim Kindergarten sind das die Mitglieder des Gemeinderats. Und beim Bildungsplan entscheidet das Landesparlament, das über Gesetzesvorlagen des Kultusministeriums der gewählten Landesregierung abstimmt. Sobald entsprechende Gesetze oder Verordnungen dann gelten, muss die Verwaltung sie umsetzen. Viele Mitarbeiter: innen sind damit befasst. Aber in welche Richtung sich das Gemeinwesen weiterentwickelt, darüber diskutieren und entscheiden jene Menschen, welche in die politischen Gremien gewählt wurden. Das Beispiel neuer Querschnittsthemen im Bildungsplan. Nehmen wir als Beispiel die Weiterentwicklung des Bildungsplans nicht in einzelnen Fächern, sondern durch neue Themen, die für unser Gemeinwesen so wichtig sind, dass sie in möglichst vielen Fächern behandelt werden sollen (Querschnittsthemen, Leitperspektiven o.ä.). In diesen Bereichen hat sich die Gesellschaft weiterentwickelt und Kinder und Jungendliche sollen hier speziell gebildet werden. So wurden in Baden-Württemberg 2016 unter an‐ derem die Querschnittsthemen Verbraucherbildung (z. B. eigene Finanzen, Verbraucherrechte, nachhaltiger Konsum etc.) und Toleranz und Akzeptanz 157 10.2 Politik bedeutet Engagement aus Liebe zur Welt von Vielfalt (Inklusion, Antidiskriminierung, interkultureller Dialog etc.) als neue Querschnittsthemen bestimmt (www.bildungsplaene-bw.de/ ,Lde/ LS/ BP2016BW/ ALLG/ LP, 19.07.2021). Von der individuellen Erfahrung zur politischen Entscheidung. Wenn Men‐ schen in politischen Gremien darüber debattieren, wie in einer bestimmten Frage entschieden werden und in welche Richtung sich dadurch die Gesell‐ schaft weiterentwickeln soll, dann nehmen sie in den Debatten Bezug auf ihre jeweils unterschiedlichen Erfahrungen. Der Vater eines Kindes mit Behinderung wird, wenn er Mitglied im Landesparlament ist, engagiert über ein geplantes Inklusionsgesetz debattieren. Ähnlich wird er die Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit seinem Kind beurteilen. Und wer erlebt, wie die eigenen Kinder durch ständig neue Wünsche in einen immer kurzlebigeren Konsum getrieben werden und wie die Unkenntnis ihrer Verbraucherrechte ausgenutzt wird, der wird darauf Wert legen, dass die Schule endlich auch diese Themen angeht. Es geht um die individuellen Erfahrungen, Ansichten und Werthaltungen der Menschen in politischen Gremien. Es geht um ihre Ideale, um ihre Lebenserfahrung, welche genau diese Personen ausmacht, sowie um ihren Willen, aus begründeter Überzeugung die Gesellschaft in die eine oder in die andere Richtung weiterzuentwickeln. Politik braucht handelnde Menschen. Wer sich politisch engagiert, kann den eigenen individuellen Erfah‐ rungshintergrund zu einem Moment (hier: Kraft, Impuls, Schwung) politischer Gestaltung machen und selbst die Welt prägen. Arendt sieht darin Handeln und Selbstverwirklichung. 10.2.3 Menschen teilen eine gemeinsame Welt: den Erscheinungsraum Öffentlichkeit als gemeinsamer Raum zwischen den Menschen. Arendt be‐ schreibt das Politische auch als öffentlichen Raum und nennt diesen Erschei‐ nungsraum (Arendt 2013, 62 ff., 251 ff.). Erscheinungsraum, dabei können wir an eine Bühne denken, auf der wir Menschen öffentlich in Erscheinung treten: indem wir unsere Stimme erheben (Kap. 8), indem wir unsere indi‐ viduelle Erfahrung in die Welt einbringen. Der Erscheinungsraum entsteht dort, wo ganz verschiedene Menschen zusammen sind, in einer gemein‐ 158 10 Weshalb sollen wir politisch sein? samen Gegenwart und an einem gemeinsamen Ort. Menschen, die von den Umständen zufällig zusammengeführt worden sind, bilden gemeinsam eine Welt. Welt, dies meint hier nicht einen physikalischen Raum oder die Gesamtheit der Gegenstände. Welt heißt vielmehr geteilte Bedeutungswelt, das Beziehungs- und Bedeutungsgeflecht zwischen Menschen. Wie lässt sich der Erscheinungsraum vorstellen? Vielleicht erinnern wir uns an einen Sommer in unserer Kindheit, in welchem wir mit anderen Kindern, die wir neu kennengelernt hatten, täglich zusammen spielen konnten. Dabei entstand eine ganz eigene Welt, die Welt einer Fantasie und einer Geschichte, in der wir spielten, mit einer eigenen Sprache und mit bestimmten Identitäten, die wir für die Dauer dieses Sommers einfach übernommen hatten: Wir waren zusammen in einer Welt. Ein anderes Beispiel: Wenn ältere Menschen, die schon lange gemeinsam mit Familie und Freunden in einem Ort wohnen, den Ausdruck verwenden ‚zu meiner Zeit‘, dann erinnern Sie sich an diesen gemeinsamen Ort, so wie er ihnen damals Heimat war. ‚Zu unserer Zeit‘, dieser Ausdruck bezeichnet eine gemeinsame kleine Welt: mit bestimmten Menschen und ihren verschiedenen Plänen, mit bestimmten Dingen, die als gut oder schlecht oder lustig, mit ganz spezifischen Sachen, die als erstrebenswert galten, ohne dass dies weiter infrage gestellt wurde. Das war auch eine Welt, in der zwar alle dieses Gemeinsame zwischen sich teilten, in der aber doch jede Person ganz verschieden war, mit ganz verschiedenen Erfahrungshintergründen, ganz verschiedenen Veranlagungen und mit einer ganz individuellen Art. Das Trennende war Teil des Gemeinsamen. In diesem Sinne schreibt Arendt: In der Welt zusammenleben heißt wesentlich, daß eine Welt von Dingen zwischen denen liegt, deren gemeinsamer Wohnort sie ist, und zwar in dem gleichen Sinne, in dem etwa ein Tisch zwischen denen steht, die um ihn herum sitzen; wie jedes Zwischen verbindet und trennt die Welt diejenigen, denen sie jemals gemeinsam ist. Der öffentliche Raum wie die uns gemeinsame Welt versammelt Menschen […]. Was die Verhältnisse in einer Massengesellschaft […] so schwer erträglich macht […], daß in ihr die Welt die Kraft verloren hat, zu versammeln, das heißt, zu trennen und zu verbinden. (Arendt 2013, 66) Zu Arendts Bild des Tischs: Ein Tisch hält die an ihm Sitzenden auf Abstand, zugleich versammelt er eine Runde von Menschen. Ebenso ein Dorf: Die Menschen mögen in vieler Hinsicht uneins sein, doch sie werden andererseits durch die gemeinsame Zeit, den gemeinsamen Ort und die gemeinsamen (durchaus strittigen) Themen versammelt. Mit dem Hinweis 159 10.2 Politik bedeutet Engagement aus Liebe zur Welt auf die Massengesellschaft zeigt Arendt, wie voraussetzungsreich das ist, was sie Erscheinungsraum nennt und was das Element der Politik ist. Natürlich gibt es gemeinsam geteilte Bedeutungswelten auch in der Mas‐ sengesellschaft. Vielleicht müssen Sie aber in einer großen Stadt, in die Sie zum Beispiel zum Studium neu gezogen sind und in der Sie noch niemanden kennen, aktiv dafür sorgen, dass Sie solch eine gemeinsame kleine Welt haben. Mit den meisten Menschen in der U-Bahn verbindet Sie nichts. Doch wenn Sie sich in einer Stadtteilgruppe z. B. für die Begrünung Ihrer Straße engagieren, entsteht ein kleiner Erscheinungsraum: örtliche und zeitliche Bedeutungsnetze zwischen Menschen. Demgegenüber hat es der Erscheinungsraum leichter im Leben einer Gemeinschaft in einem Dorf, in dem alle einander gut kennen. Worin besteht der Zusammenhang zwischen Erscheinungsraum und Politik? Hannah Arendt beschreibt die menschliche Existenz so, dass sie erst im Handeln in einer gemeinsam geteilten Welt ganz zu sich kommen kann. Menschen haben einen sehr feinen Sinn für solch eine gemeinsam geteilte Welt, in der sie sich selbst als Individuen überhaupt erst entdecken. In‐ dem wir immer mehr spüren, inwiefern wir uns von anderen Menschen unterscheiden, entdecken wir zugleich, was wir alles nicht sind. In der öffentlichen Auseinandersetzung entdecken wir die anderen Menschen als andere und uns selbst als uns selbst. Wir entdecken erst nach und nach, was es heißt, unsere eigene spezifische Perspektive zu besitzen. Insbesondere dann, wenn wir versuchen uns vorzustellen, wie es sich anfühlen mag, die Perspektive eines anderen Menschen einzunehmen. Damit haben wir auf einer sehr elementaren Ebene schon das Politische entdeckt, besser: Wir haben uns selbst als politische Wesen entdeckt. Arendt: […] ein Leben, das sich, außerhalb des Raumes, in dem allein es in Erscheinung treten kann, vollzieht, ermangelt nicht des Lebensgefühls, wohl aber des Wirk‐ lichkeitsgefühls, das dem Menschen nur dort entsteht, wo die Wirklichkeit der Welt durch die Gegenwart einer Mitwelt garantiert ist, in der eine und dieselbe Welt in den verschiedensten Perspektiven erscheint. […] Ein Erscheinungsraum entsteht, wo immer Menschen handelnd und sprechend miteinander umgehen; als solcher liegt er vor allen ausdrücklichen Staatsgründungen. (Arendt 2013, 250 f.) Erst eine geteilte Welt lässt uns ‚wirklich‘ werden. Interessant ist hier die Un‐ terscheidung zwischen Lebensgefühl und Wirklichkeitsgefühl. Das Gefühl am Leben zu sein, können wir auch ganz für uns allein haben, vermutlich 160 10 Weshalb sollen wir politisch sein? haben es in ähnlichem Sinn auch Tiere. Das Gefühl aber, ganz da zu sein, in gewisser Weise erst wirklich zu werden, als unverwechselbare Individuen und als wir selbst zu existieren, dieses Gefühl entsteht im Er‐ scheinungsraum, dieses Gefühl geben uns die Menschen, mit denen wir uns in der gemeinsamen Welt auseinandersetzen: mit ihren unterschiedlichen Perspektiven und mit der Möglichkeit, darin uns selbst zu finden und unsere eigene Perspektive einzubringen. Bezogen auf die zwei einfachen Beispiele oben liegt dies auf der Hand: Wären wir in jenem Feriensommer unserer Kindheit das einzige Kind gewesen, hätte es die Welt dieses Sommers gar nicht gegeben. Und zugleich hätten wir nicht die anderen Kinder in ihrer Fremdheit und Nähe und uns selbst als uns selbst entdecken können. Und wäre jeder ältere Mensch, der die Redewendung verwendet ‚zu meiner Zeit‘, in seinem Dorf damals der einzige Jugendliche gewesen, dann hätte es eine bestimmte gemeinsame Welt mit ihrer ganz eigenen Art gar nicht gegeben. Ein Lebensgefühl haben wir schon immer, doch erst der Erscheinungsraum gibt uns das volle Wirklichkeitsgefühl. Wenn es plural wird, wird es politisch. Politisch ist dieses Wirklichwerden unseres Lebens auf einer sehr elementaren Ebene. Da ist die Entdeckung der Verschiedenheit der Menschen und zugleich die Entdeckung unserer ganz eigenen Perspektive. In der merkwürdig gesteigerten Existenz des Erschei‐ nungsraums sind wir immer nur zusammen mit den anderen wir selbst. In diesen Kontext gehört der Begriff der Perspektive und der Begriff der Pluralität. Wir versuchen, unsere Perspektive einzubringen, erleben aber, dass unsere Perspektive von den anderen stets nur recht unvollkommen eingenommen wird, so wie die Perspektive der anderen auch uns selbst immer ein bisschen fremd bleibt. Daher ist es ein laufendes Aushandeln, eine nie aufhörende Auseinandersetzung, ein Versuch, einander zu überzeugen und zu verstehen. All das gehört mit zu jenem Wirklichkeitsgefühl, welches mehr ist als das allgemeine Lebensgefühl. Wir haben uns als politische Wesen entdeckt. Handeln ist Aus-Handeln ist Politik. Wir halten einander aus in unserer Andersartigkeit, ob wir wollen oder nicht. Wir streiten miteinander und verzeihen einander - und dabei verzeihen wir einander unsere Andersartig‐ keit. ‚Es ist gut, wie du bist‘, mögen wir denken, ‚du sollst du sein, auch wenn du mir immer unbegreiflich bleibst‘. Pluralität der gemeinsam geteilten Welt: Wenn wir etwas entscheiden müssen, versuchen wir, für die eigene Perspektive und Position zu werben, wir besinnen uns auf vernünftige Gründe, um einander zu überzeugen. Hier ist es wieder, das Handeln: Indem 161 10.2 Politik bedeutet Engagement aus Liebe zur Welt wir unsere Position vertreten, zeigen wir einander, wofür wir stehen, wer wir sind und in welche Richtung wir die Welt gern verändern würden. Wir können mit Hannah Arendt sagen, dass unsere Selbstartikulation im Erscheinungsraum und das ‚Aus-Handeln‘ der Perspektiven mitten in nie zu beseitigender Pluralität das Element des Politischen ist - und dass wir in diesem elementaren politischen Handeln ganz wirklich werden. Arendt nennt eine von Menschen geteilte Bedeutungswelt Erschei‐ nungsraum und vergleicht diese mit einem Tisch, der eine Gruppe von Menschen trennt und zugleich versammelt. Hier entdecken wir die pluralen Perspektiven und Interessen und dabei uns selbst, wir artikulieren uns und bringen uns ein. Dieses Aus-Handeln ist das Element des Politischen. 10.2.4 Zum Menschen als politischem Wesen gehört die Liebe zur Welt (amor mundi) Liebe zum Erscheinungsraum in der Vergangenheit. Doch Selbstverwirkli‐ chung ist nicht alles, politisches Engagement geschieht aus Liebe zur Welt. Den Erscheinungsraum, welcher aus dem Zusammensein mit anderen entstanden war, erkennen wir im Nachhinein in seiner Vergänglichkeit (wie in den Beispielen ‚Ferien der Kindheit‘ und ‚zu meiner Zeit‘). Erst jetzt, in der Erinnerung, entdecken wir, wie verletzlich diese gemeinsame Welt war. In der Erinnerung meldet sich hier ein Gefühl der Liebe zu dieser Welt. Doch gerade diese Sehnsucht nach der vergangenen, nach der ephemeren (flüchtigen) und verletzlichen Welt kann einen ganz eigenen Zugang zum Politischen bedeuten. Liebe zum Erscheinungsraum in der Gegenwart. Denn auch jetzt besteht unsere Welt aus einem höchst empfindlichen und vergänglichen Geflecht aus Menschen, Dingen und Bedeutungen. Versetzen wir uns in einen älteren Menschen in seiner Gemeinde hinein und versuchen wir, seinen Gedanken zu folgen. Einmal, gewissermaßen vor meiner Zeit, so mag dieser Mensch denken, hat es diesen Ort noch ganz ohne mich gegeben. Dann wurde ich geboren. Und es wird diesen Ort noch lange geben, nachdem ich gestorben sein werde. Doch jetzt bin ich da und teile mit den anderen diese wenigen Jahre und diesen kleinen Ausschnitt der ganzen Welt, zeitlich und räumlich. 162 10 Weshalb sollen wir politisch sein? ‚Zu meiner Zeit‘ das bedeutet nicht nur meine Welt in der Vergangenheit. Sondern ‚zu meiner Zeit‘, das ist auch hier und jetzt. Und heute, so könnte der ältere Mensch denken, mit all den so viel jüngeren Menschen, habe ich natürlich das Gefühl, dass die anderen oft ganz andere Perspektiven auf die Welt haben. Doch nur gemeinsam können wir diskutieren und aushandeln und entscheiden, was zu entscheiden gerade notwendig ist. Ein Beispiel. Dabei sind das oft Entscheidungen über ganz pragmatische Fragen. Hinter diesen Entscheidungen stecken aber Ansichten darüber, was richtig und was falsch ist, d. h. letztlich, was als das Gute anzusehen ist. Und in diesen Ansichten über das Gute unterscheiden sich die Menschen, die diskutieren, aushandeln und schließlich entscheiden: Sollen in unse‐ rer Gemeinde weitere Neubaugebiete für Einfamilienhäuser erschlossen werden, wie es sich viele Familien wünschen, oder soll die Landschaft nicht weiter zersiedelt werden, soll es mehr unverbaute Natur geben? Dann müssten andere Lösungen für mehr Wohnraum geschaffen werden (z. B. Nachverdichtung in der Ortsmitte oder nur Mehrfamilienhäuser). Um hier noch ein letztes Mal den möglichen inneren Monolog eines älteren Menschen aus unserem Beispiel mitzuverfolgen: Unser Ort, so könnte dieser Mensch denken, sieht heute so aus, wie unsere Vorgänger: innen dies entschieden haben. Die Grundstücke und Gebäude, die Handwerks- und Industriebetriebe, die öffentlichen Plätze, die Sportanlagen und die Straßen, all das musste in konfliktreichen Auseinandersetzungen ausgehandelt und in langwierigen Abstimmungen entschieden werden. Umgekehrt: Wie sollte unser Ort aussehen, den Menschen von unserer Generation übernehmen und erben, die von uns vielleicht gar nichts mehr wissen werden? Und was kann ich dafür tun, damit möglichst viel von dem in die Welt kommt, was ich vor dem Hintergrund meiner ganz individuellen Erfahrung als richtig empfinde? Amor mundi, Liebe zur Welt. Das Gefühl dafür, wie vergänglich, voller Voraussetzungen und zugleich wie unendlich wertvoll die Welt von uns Menschen ist, besser: unsere jeweiligen Lebenswelten, unsere für die kurze Zeit unseres Lebens gemeinsam geteilten Welten (hier synonym: Erschei‐ nungsraum, Bedeutungswelt, Lebenswelt, geteilte Welt) - dieses Gefühl geht hier zusammen mit jener bereits genannten Entdeckung der Individualität, der Perspektivität und der Pluralität, von der wiederholt die Rede war: Wie möchten wir uns, wie möchte ich mich in die Gestaltung der Welt einbringen, wie sie prägen? Beides zusammen macht in Arendts Denken das 163 10.2 Politik bedeutet Engagement aus Liebe zur Welt Politische aus: das Gefühl für die Kostbarkeit der zerbrechlichen Welt und der Wunsch, unsere Perspektive in die Gestaltung der Welt einzubringen. What do I mean by politically minded? […] Very generally, I mean by it to care more for the world, which was before we appeared and which will be after we disappeared, than for ourselves, for our immediate interests and for our life. By this I don’t mean heroism: But that […] we must be able to forget our cares and worries. Amor mundi: love or better dedication to the world into which we were born. (Arendt nach Tömmel 2013, 257) Tocqueville und Arendt. Blicken wir von hier aus zurück auf die Diagnose von Tocqueville, die Menschen seien in einer demokratischen Gemeinschaft und in einer starken Bürokratie immer ein wenig in Gefahr, das Interesse an der mühsamen Politik zu verlieren. Schließlich scheine ihnen der Rückzug ins Private und ein milder Despotismus der Verwaltung lieber als das aufreibende Geschäft der Mitbestimmung in demokratischen Gremien. Denn man hält es kaum noch für wahrscheinlich, die Welt wesentlich mitgestalten zu können. Hannah Arendts existenzphilosophisch geprägte politische Philosophie ist sich darüber bewusst, wie anstrengend das Feld des Politischen ist. Und doch, so Arendt, können wir Menschen nicht ohne den Bereich des Politischen ganz wir selbst sein. Sie beschreibt eine Alternative zum bequemen Rückzug ins private Leben - und diese Alternative ist eine ganz spezifische Liebe zur Welt. Amor mundi ist das Gefühl, sich unbedingt der Welt widmen und sich ihr verschreiben zu müssen: jenem Erscheinungsraum, jenem vergänglichen und empfindlichen Geflecht von Beziehungen, das uns mit allen Menschen verbindet, mit denen wir diese Welt teilen. Denn offensichtlich ist diese Welt auf uns angewiesen, auf unseren Beitrag, auf unsere Stimme, auf unser Handeln. Aus der Erfahrung heraus, wie prekär, vergänglich und wertvoll jene Welt ist, die wir im Beziehungsgeflecht mit anderen teilen (Erschei‐ nungsraum = Bedeutungswelt, Lebenswelt, geteilte, gemeinsame Welt), kann sich das Gefühl der amor mundi, der Liebe zur Welt ergeben. Es gibt die Erfahrung, dass wir uns selbst erst im Handeln verwirklichen, wenn wir die Welt durch unsere individuelle Erfahrung prägen (Kap. 10.2.2). Im Zusammenhang damit gibt es auch das Gefühl der amor mundi, der 164 10 Weshalb sollen wir politisch sein? Liebe zur Welt (Kap. 10.2.4). Beides zusammen kann uns motivieren, politisch zu sein. Ihre Antwort auf die Frage Ihrer Schüler: innen: Weshalb sollen wir politisch sein? So bedeutend sind wir nun auch wieder nicht. Ihre mögliche Antwort auf die Frage Ihrer Schüler: innen könnte lauten: ▸ Ich nenne Euch nicht undankbar, weil Euch Freiheit selbstver‐ ständlich erscheint. Und: Das Gefühl, dass wir über vieles ohnehin nicht selbst bestimmen können, ist verständlich und sicher ein Problem aller komplexen Gesellschaften, die von internationalen Beziehungen abhängig sind. ▸ Schon im 19. Jahrhundert wurde in der amerikanischen Demokra‐ tie eine Politikmüdigkeit unter einer starken, glanzlosen Verwal‐ tung beschrieben. ▸ Doch Arendt beschreibt im 20. Jahrhundert Politik neu: Politisch zu sein, das ist nicht nur aufgrund der Gestaltungsmöglichkeiten sinnvoll. Politisch zu sein, das gibt uns als Menschen die Möglich‐ keit, uns zu verwirklichen. ▸ Neben unseren tagtäglichen folgenlosen Verrichtungen (Arbeiten) und neben dem Herstellen dauerhafter Dinge, können wir auch handeln: uns zum zweiten Mal zur Welt bringen, indem wir die Welt individuell prägen. ▸ Dafür müssen wir uns mit anderen austauschen und deren ganz andere Perspektive auf die Welt verstehen, wir müssen Vielfalt (Pluralität) aushalten. Wir begeben uns gemeinsam in den öffent‐ lichen Raum und können die Welt mitgestalten. ▸ Aus der Erfahrung, wie wertvoll und gefährdet diese Welt ist, kann sich eine besondere politische Liebe zur Welt (amor mundi) entwickeln. 165 10.2 Politik bedeutet Engagement aus Liebe zur Welt Wenn Sie sich noch weiter interessieren Eine sehr kompakte Einführung in ARENDTs Ansatz bietet REESE-SCHÄ‐ FER 2006, ähnlich übersichtlich und gut ist der Unterrichtsentwurf zu Arendt von SCHMIDT 1994. Interessant für Ihre eigene Weiterarbeit könnte ARENDTs Konzept der Liebe zur Welt sein (amor mundi). Die ausführlichste Darstellung hierzu, eingebettet in ARENDTs und HEIDEGGERs philosophische Liebesbegriffe, bietet TÖMMEL 2013. Wenn Sie sich für amor mundi als ARENDTs Glauben im Verhältnis zu religiösem Glauben interessieren, lesen Sie KIESS 2016, BERNAUER 1987 und MOORE 1987. Liebe zur Welt als Ziel von Bildung und im Kontext von Pädagogik und Unterricht thematisiert ZUURMOND 2016. Liebe zur Welt mit Bezug auf ARENDTs politische Philosophie ist auch Teil der Postcritical Pedagogy (Kap. 13) und hat diesen Ansatz stark beeinflusst. Wenn Sie hier weiterarbeiten möchten, lesen Sie VLIEGHE et al. 2019, 35 ff. und 160ff. 166 10 Weshalb sollen wir politisch sein? 11 Sollen wir die Werte unserer Kultur verlebendigen und verteidigen? (Taylor) Wir sollten versuchen, diese Kultur wieder emporzuheben, so daß sie näher an das sie motivierende Ideal heranrückt. C H A R L E S T A Y L O R (1995, 83) Worum geht es? Im Zusammenleben im Schulalltag achten Sie auf Werte, z. B. bei der Planung des Klassenausflugs, wenn Ihnen gerechte Mitsprache und freie Meinungsäußerung wichtig sind. Mitunter sagen Sie auch Sätze wie: Nein, so können wir es nicht machen, das ginge gegen unsere Werte. Ihre Schüler: innen haben nichts dagegen einzuwenden. Sie stellen Ihnen aber schwierige Fragen: Was sind denn unsere Werte? Und angenommen, jemand ist gegen diese Werte: Könnten Sie dann beweisen, dass diese Werte die richtigen sind? Welche Antwort könn‐ ten Sie Ihren Schüler: innen geben? Genauer geht es um Folgendes: ▸ Wie können Sie Ihren Schüler: innen die Augen dafür öffnen, dass in unserer Kultur vieles entlang bestimmter Werte läuft und welche Werte das sind? ▸ An welchen Beispielen können Sie Ihren Schüler: innen veran‐ schaulichen, dass diese Werte nicht unumstritten und auch proble‐ matisch sind? ▸ Welches Bildungsziel ist sinnvoll, wenn es um die Vermittlung, kritische Reflexion und Verteidigung von Werten geht? 11.1 Ein großes Potenzial für jeden Unterricht: die Werte unserer Kultur besser zu verstehen Autonomie und Authentizität. Hinter dem liberalen (freiheitlichen) Lebens‐ stil der modernen westlichen Kultur stehen Werte. Zwei zentrale Werte sind Autonomie und Authentizität. Beides sind Aspekte der Freiheit (Taylor 1995, 1996; Rosa 2013, 411; Habermas 1988, Bd. 2, 148 u.ö.). Bei der Autonomie geht es darum, dass wir über uns selbst bestimmen dürfen. Bei der Authentizität geht es um Echtheit: Die Selbstbestimmung muss auch wirklich zu uns passen und wir möchten unseren ganz eigenen Weg finden. Auf diese Weise entstehen Gesellschaften mit pluralen (vielfältigen) Lebensstilen. Die westliche Moderne steht in der Kritik. Andere Kulturen (z. B. Tu 2002), aber auch westliche Kulturkritik, verweisen auf Probleme des liberalen Lebensstils. Wenn es z. B. zum individualistischen Lebensstil gehört, dass jede Person eine eigene Wohnung bewohnt und ein eigenes Auto fährt, dann hat das ökologische Auswirkungen. Und andererseits können eigentlich gute Werte auch verflachen oder auf verzerrte Art gelebt und realisiert werden. Autonomie kann etwa umschlagen in Verantwortungslosigkeit und Authentizität in den Zwang, sich von anderen unterscheiden zu müssen. Charles Taylors Kulturphilosophie. Die Fragen, die diesem Kapitel zu‐ grunde liegen, möchte ich Ihnen anhand der Schriften des kanadischen Philosophen Charles Taylor (geb. 1931) erläutern: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität (Taylor 1996) und Das Unbehagen an der Moderne (Taylor 1995). Unbehagen, dieser Ausdruck verweist darauf, dass die modernen Werte in vielfältiger Weise in der Kritik stehen. Taylors These ist, dass sich die moderne Kultur mit ihren Werten als eine Kultur unter anderen Kulturen verstehen sollte. Sie sollte zugeben, dass sie eine Kultur ist - und nicht die Überwindung von Kultur durch Vernunft und Wissenschaft (Kap. 11.2). Unsere Kultur sollte außerdem zugeben, dass ihre Werte in vielfältiger Weise verflacht sind (Kap. 11.3). Hinter den verflachten Praktiken stehen aber Werte, die eigentlich gut sind (Kap. 11.4). Unsere Werte gelten nur als Werte und nicht wie wissenschaftliche Gesetze. Deshalb müssen wir sie pflegen und verteidigen, sie gelten nicht einfach von selbst (Kap. 11.5). Werte verlebendigen: ein großes Potenzial für die Bildung. Ihre Schüler: in‐ nen sollten diese modernen Werte kennen und sich über sie bewusst werden hinsichtlich ihrer guten und auch hinsichtlich ihrer problematischen Seiten. Und sie sollten wissen, dass diese Werte nur solange gelten, wie wir sie aktiv vertreten. All das kann sie motivieren: Es geht um ihre moralischen Wurzeln und die mit diesen zusammenhängenden Praktiken der eigenen Kultur und des eigenen Lebens. Und es geht ganz konkret um Orientierung, um eine Verlebendigung des eigentlichen Kerns unserer kulturellen Güter. Damit geht es auch um Identitätsarbeit, denn die Werte unserer Kultur zu verlebendigen, das bedeutet auch, sich mit ihnen zu identifizieren oder diese Identifikation kritisch zu überdenken. 168 11 Sollen wir die Werte unserer Kultur verlebendigen und verteidigen? Charles Taylor greift die externe und interne Kritik an modernen liberalen Werten auf: Diese werden oft verflacht und verzerrt gelebt und dies hat problematische Folgen. Doch hinter den Verflachungen steht etwas Wertvolles. 11.2 Die Moderne ist eine Kultur unter anderen Was bedeutet Moderne? Wenn hier von Moderne die Rede ist, dann ist nicht die gesamte Zeit nach dem Mittelalter gemeint (weiter Modernebegriff) und auch nicht die literarische und künstlerische Moderne seit dem frühen 20. Jahrhundert (enger Modernebegriff). Sondern Moderne bezeichnet die Zeit seit der Aufklärung und der französischen Revolution im 18. Jahr‐ hundert mit ihrer enormen Aufbruchsstimmung und ihrer Freiheits- und Fortschrittsorientierung: Der Mensch sollte sich selbst befreien von der mächtigen Monarchie und der strengen Kirche. Der Mensch sollte brechen mit autoritären Sitten, Gewohnheiten und Vorschriften, die ihn an seiner Freiheit hindern: an seiner Selbstbestimmung (Autonomie) und an seinem ganz individuellen Weg, an seiner Selbstverwirklichung (Authentizität). An die Stelle der entfremdenden Traditionen sollten Vernunft und Wissenschaft treten (Taylor 1995, 7 ff.). Die Moderne hielt sich für eine Überwindung von Kultur durch Vernunft. Die Aufklärung glaubte, dass sie sich mit vernünftiger Evidenz (Gewissheit) von selbst beweise. Wenn man Tradition, Aberglauben und unbegründete autoritäre Sitten und Gebräuche verabschiedet, hat man dann nicht das Kulturelle selbst überwunden? Und wenn man an deren Stelle Vernunft und Wissenschaft setzt, die ja universal, also für alle Menschen gleichermaßen gelten (Habermas 1988, Bd. 1, 253 u.ö.) - können die Menschen dann nicht alle Traditionen überwinden und zu einer großen Menschheitsfamilie zusammenfinden? Diese Fortschrittshoffnungen hatte die Zeit der Aufklä‐ rung und deshalb konnte sie sich kaum vorstellen, dass eines Tages ihre freiheitlichen Vorstellungen als Werte bezeichnet und noch dazu kritisiert werden würden. War die Vernunft nicht etwas rein Formales und gehörte allen Menschen? Gegen dieses überkulturelle Selbstverständnis möchte Taylor ein kulturelles Selbstverständnis der Moderne setzen. Die Moderne ist eine Kultur unter 169 11.2 Die Moderne ist eine Kultur unter anderen anderen (Taylor 1996, 2001). Sie geht, wie jede Kultur, von bestimmten Werten aus, ihren moralischen Gütern. Und dass diese überhaupt gültig sind, also richtig und alternativlos, das setzt die moderne Gesellschaft einfach voraus. Diese Werte können nicht begründet werden wie ein mathemati‐ scher Beweis. Dies aufzuzeigen, das ist Taylor wichtig - doch weshalb? Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens: Ein Selbstverständnis als Kultur macht dialogfähig. Zum einen ist das viel bescheidener und ermöglicht erst den Dialog mit anderen Kulturen (Taylor 2001, 181 ff.). Solange wir denken, wir hätten durch Vernunft und Wissenschaft den Bereich des Kulturellen überwunden, solange schauen wir auf andere Kulturen herab und bezeichnen sie als rückständig: Ihr habt noch Eure Traditionen, wir haben Vernunft und Wissenschaft. Doch wenn wir eingestehen, dass auch wir von Werten ausgehen, stehen wir auf derselben Stufe. Zweitens: Ein Selbstverständnis als Kultur macht vorsichtig und macht darauf aufmerksam, wie gefährdet die eigenen Werte sind. Taylor geht es darum, dass die Werte einer Kultur, die nicht als Werte erkannt werden, in Gefahr sind. Die Moderne denkt, Selbstbestimmung (Autonomie) und Selbstverwirklichung (Authentizität) gelten, wenn man erst die lästigen Traditionen weggeräumt hat, sozusagen von Natur aus immer weiter bis in alle Ewigkeit. Deshalb kommt sie gar nicht auf die Idee, dass sie diese Werte irgendwie pflegen muss, damit sie nicht verkommen, und dass sie diese Werte irgendwie verteidigen muss, damit sie ihr nicht weggenommen oder wieder verloren werden (Rosa 1998, 345 ff.). Die Aufklärung befreite von veralteten und autoritären Traditionen. Indem sie ganz auf Vernunft und Wissenschaft setzte, konnte sie anneh‐ men, selbst keine Kultur mehr zu sein. Taylor möchte der Moderne ein kulturelles Selbstverständnis zurückgeben, damit sie nicht länger auf andere Kulturen herabschaut und damit sie einsieht, wie verletzlich ihre Werte sind. 170 11 Sollen wir die Werte unserer Kultur verlebendigen und verteidigen? 11.3 Wofür man die moderne Kultur kritisieren kann Moderne, das ist die Selbstbefreiung der Vernunft aus traditionellen Bindungen - aber zugleich das Herausfallen aus einer großen Verbundenheit. In den früheren kosmisch-religiösen und weltlichen Ordnungen verstanden sich die Menschen als eingefügt in eine große Kette der Wesen. Diese reichte von der göttlichen Sphäre (christlich z. B. Gott, die Engel und die Heiligen) bis hin zu den Menschen mit ihren unterschiedlichen sozialen Stellungen (z. B. von Papst und Kaiser bis hin zu Magd und Knecht) und darüber hinaus bis hin zu den anderen Lebewesen, die unter den Menschen standen, aber doch ihren Platz in Gottes Schöpfung hatten. Auf dem Weg zu Selbstdenken und Selbstbestimmung befreite sich der moderne Mensch, indem er nur noch auf die Vernunft setzte, praktisch aus all diesen Bindungen. Mit dem Zerbrechen der Ordnungen ging eine große Befreiung einher. Doch das Gefühl einer Verbundenheit mit allem und das Gefühl von Orientierung, Sinn, Heimat und Ordnung, es verschwand im Zuge dieser Befreiung ebenfalls (Taylor 1995, 9 ff.). Die befreite, die losgelassene Vernunft unterwirft alle Bereiche dem Effizienz‐ denken. Die moderne Vernunft ist autonom und ungebunden. Jetzt kann sie sich ganz an sich selbst orientieren und alles nach ihren eigenen Maßstäben entscheiden. Sie kann etwa die Frage fokussieren, wie man am effektivsten zu einem praktischen Ziel kommt. Immer mehr Bereiche der modernen Gesellschaft werden nicht mehr nach Zielen ausgerichtet, welche sich früher vielleicht aus der großen göttlichen Ordnung ergeben haben, sondern allein nach Kriterien der Effizienz. Ein Beispiel ist die Pflege und Betreuung von Kranken in der Klinik (Taylor 1995, 12 f.). Obwohl viele Menschen, die dort arbeiten, lieber mehr Zeit für die Kranken hätten und obwohl sie dabei vielleicht sogar ein moralisches Problem sehen: Das Kosten-Nutzen-Denken und die freigelassene instrumentelle Vernunft, sie sind irgendwie mächtiger. Hintergrund: Instrumentelle Vernunft, das heißt, alle Überlegungen richten sich auf den erfolgreichen, effektiven Ablauf, auf die Mittel oder Werkzeuge zur Erreichung eines Ziels. Das Ziel selbst wird nicht weiter diskutiert, es scheint selbstverständlich zu sein. 171 11.3 Wofür man die moderne Kultur kritisieren kann Die befreite, die losgelassene Vernunft macht uns zu Individualist: innen. Auf der Ebene der Authentizität ist es vielleicht noch einfacher einzusehen, wofür man die moderne Kultur kritisieren kann. Ein Beispiel: Die Firma Chanel hat schon vor vielen Jahren ein Parfüm mit dem Namen Égoïste kreiert. Weshalb gilt es als erstrebenswert, sich selbst als einzigartig, als selbstbezogen, vielleicht gar als rücksichtslos zu stilisieren? Dies lässt sich vielleicht so erklären: Obwohl wir immer noch den alten moralischen Imperativ kennen, dass wir nicht egoistisch sein sollen, gilt es in der westlichen Moderne doch auch als erstrebenswert, maximal wir selbst zu sein, unverwechselbare und einzigartige Individuen, die viel Energie auf die eigene Selbstverwirklichung richten. Selbstbezogenheit wird zum neuen Imperativ (Taylor 1995, 65 ff.; 1996, 639 ff.). Die Selbstbefreiung der modernen Vernunft aus alten Weltbildern kann auch ein Verlust sein: Das Gefühl der Verbundenheit mit allem verblasst. Die losgelassene Vernunft vergisst, was außer Effizienz noch wertvoll sein könnte. Selbstverwirklichung verengt sich zum Wunsch, einzigar‐ tig sein zu. 11.4 Der gute Kern der modernen Werte hinter den verflachten Praktiken Die Verfassung eines Staats ist ideal, die gesellschaftlichen Praktiken sind es nicht. Schauen wir auf die Artikel 4 und 5 des deutschen Grundgesetzes, also der Verfassung Deutschlands: Art 4 (1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. […]. Art 5 (1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äu‐ ßern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt. […]. (www.gesetze-im-internet.de/ gg/ BJNR000010949.html, 19.07.2021) Zweierlei wird hier deutlich: Zum einen sieht man den moralischen Fort‐ schritt in der Verfassung eines Staats, welche sich an solchen Idealen 172 11 Sollen wir die Werte unserer Kultur verlebendigen und verteidigen? ausrichtet, gegenüber früheren Zuständen in Gesellschaften (z. B. auf dem Territorium der jetzigen Bundesrepublik), als die Menschen diese Religions- und Meinungsfreiheit noch nicht hatten. Zum anderen ist auch klar, dass in der Praxis vieles weit weniger ideal läuft als im Grundgesetz: Sind z. B. Fake News, Verschwörungstheorien, Hass und Hetze schützenswerte freie Meinung oder nicht? Die modernen Werte sind gut, doch ihre Praktiken sind oft verflacht. Taylor ist nun der Meinung, dass dieser Gegensatz zwischen Theorie und Praxis, wie wir ihn von der staatlichen Ebene kennen, auch bei den modernen Werten zu finden ist. Autonomie und Authentizität sind an sich gut und gelten auch weltweit bei vielen als attraktiv. Doch die realen Praktiken sind oft verflacht und verzerrt. Ein Beispiel für die Verflachung des Wertes Autonomie (die Vernunft setzt sich ihre Gesetze selbst und bekommt sie nicht von weltlicher oder kirchlicher Herrschaft) ist die ausschließliche Orientierung an Effizienz, etwa in der Krankenpflege. Und auf individueller Ebene bedeutet verflachte Autonomie, beim Selbstentscheiden keine Rück‐ sicht auf andere mehr zu nehmen. Im Folgenden sei die Verflachung vor allem am Wert der Authentizität erläutert. Authentizität kann zum Druck werden, einzigartig zu sein. In einer Kultur der Selbstverwirklichung stehen die Menschen unter dem Druck, ihre Individualität zu zeigen. Das kann zu Individualismus, Egoismus oder Selbstverliebtheit führen. Oben habe ich das Parfüm mit dem eigenartigen Namen Égoïste erwähnt. Und auch dort, wo Selbstverwirklichung nicht in Konsum abgleitet, bleibt sie ambivalent. Ein Beispiel: Auf dem Kinderkanal KiKa der öffentlich-rechtlichen Fernsehsender gab es die Sendung Dein Song. Kinder und Jugendliche konnten sich mit eigenen Songs bewerben. Wurden sie ausgewählt, dann nahmen sich Expert: innen ihrer Songs an, perfektionierten sie mit ihnen zusammen und brachten sie zur Bühnenreife. In einer Sendung wie dieser offenbart unsere Kultur, wie sehr sie dazu ermutigt, das eigene Talent zu entdecken, zu entwickeln und zu zeigen. Aber auch wer hier nicht gewinnt, fühlt sich dazu aufgefordert, ‚sein Ding zu machen‘, ganz individuell und authentisch. Umgekehrt müssen wir uns in einer solchen Kultur ständig fragen, weshalb wir noch keinen Erfolg haben. Lebe ich überhaupt mein Leben? Traue ich mich, ich selbst zu sein? Bin ich einzigartig und erfolgreich genug? (Taylor 1995, 65 ff.). Authentizität ist mehr als Individualismus. Hinter den verflachten Prakti‐ ken steht dennoch ein wertvolles Ideal. Ist es nicht attraktiv, ein eigenes Leben zu führen? Also denjenigen Menschen zu heiraten und diejenige 173 11.4 Der gute Kern der modernen Werte hinter den verflachten Praktiken Berufung und Tätigkeit zu suchen und zu finden, die ganz zu einem selbst passt. Das Ideal der Authentizität ermutigt zu einem eigenen Weg, zu Individualität und Originalität. Das Gute, das ist der letztlich einmalige, der innere Kern eines jeden Menschen. Weltweit wünschen sich viele Menschen diese Freiheit zur Selbstwerdung. Taylor rät dazu, unsere Kultur immer wieder heranzuführen an den guten Kern der modernen Werte, indem wir Probleme benennen und Verflachungen erkennen und vermeiden (siehe das Eingangszitat sowie Taylor 1995, 82 ff.). Positive Freiheit. Zum guten Kern sowohl der Autonomie als auch der Authen‐ tizität gehört ferner, sich freiwillig einer Aufgabe zu widmen, sich zu binden und selbstbestimmt Commitment (Selbstverpflichtung) und Engagement zu zeigen (Taylor 1988, 118ff., Buchheim 2011). Freiheit ist nicht nur negative Freiheit, also Freiheit von … (Vorgaben, Zwängen etc.), sondern auch positive Freiheit, also Freiheit zu … (freiwilligen Bindungen etc.). Bei den Werten der Moderne war ursprünglich auch positive Freiheit gemeint, wenn etwa Jugendliche frei jene Aufgabe wählten, der sie sich widmeten (Kap. 7.1). In der modernen Gesellschaft finden wir viele verflachte Auffassungen von Freiheit im Bereich Konsum, Selbststilisierung und negative Freiheit (von …). Wir sollten diese kritisieren und dahinter die wertvollen Ideale verlebendigen: Selbstbestimmung (Autonomie) und Selbstver‐ wirklichung (Authentizität), etwa als frei gewählte individuelle Aufgabe (positive Freiheit). 11.5 Weshalb wir über unsere Werte sprechen, sie pflegen und verteidigen sollten Eine Tragik der Moderne: Sie pflegt ihre Werte nicht, weil sie diese für etwas Natürliches hält. Oben hieß es über die Moderne: Der Mensch wollte sich selbst befreien von der mächtigen Monarchie und der strengen Kirche. Man wollte alte, überholte Bindungen als verdeckende Schichten wegräumen, die über der Autonomie und der Authentizität lagen. In Zukunft bräuchte man nur noch Vernunft und Wissenschaft. Dabei konnte der Eindruck entstehen, als seien die überholten Bindungen (Monarchie, Kirche) als verdeckende Schichten zwar historisch entstanden und könnten auch historisch (nämlich 174 11 Sollen wir die Werte unserer Kultur verlebendigen und verteidigen? in der Epoche der Aufklärung) entfernt werden - doch was darunter zum Vorschein kam (Freiheit und Vernunft), das galt doch offenbar von Natur aus (Taylor 2001). Und was von Natur aus gilt, das setzt sich auch von allein durch wie ein Naturgesetz, wenn es heißt: So funktioniert die Welt nun mal! Um so etwas aber braucht man sich nicht weiter zu kümmern, dafür muss man sich nicht laufend engagieren. Während die Menschen in der Kultur der Moderne also ständig von der Freiheit profitieren, behandeln sie diese so, als sei sie gar kein Wert und als müsse man sie nicht hochhalten, sondern könne auf sie zurückgreifen wie auf etwas, das von Natur aus immer von selbst da ist (Rosa 1998, 345, 347 f.). Freiheitswerte verlebendigen. Erst wenn wir unsere Werte nicht mehr als Natur, sondern als Werte verstehen, sehen wir, wie prekär, wie gefährdet sie sind. Die liberale Gesellschaft hat viele Gegner, von innen und von außen. Taylor möchte, dass wir unsere Werte gemeinsam diskutieren, ihre verflachten Praktiken kritisieren und sie in Bildungsprozessen artikulieren und immer wieder verlebendigen (Kap. 11.6). Wenn sich die Moderne als Kultur versteht, wird sie nicht nur gegenüber anderen Kulturen dialogfähi‐ ger, sondern sie fängt damit an, auf ihre Werte zu achten, damit diese nicht verkommen oder bedroht werden. Es ist eine Tragik der Moderne, dass diese ihre Werte nicht als Werte erkennt, sondern sie als natürliche Ressourcen behandelt (Taylor, Rosa). Dadurch wird übersehen, wie gefährdet die Freiheit ist: durch verflachte Praktiken einerseits und durch innere und äußere Bedrohung andererseits. 11.6 Die Werte der Moderne verlebendigen: eine Aufgabe für alle Lehrpersonen Ein kritisches Bewusstsein fördern. Eine Vernunft, die an keine höheren (staatli‐ chen oder religiösen) Pflichten mehr gebunden ist, kann zu reinem Effektivitäts‐ denken führen, zu einem Verlust von Menschlichkeit (Kap. 11.3) Und wenn das Ideal der authentischen Selbstverwirklichung vereinnahmt wird von Konsum, Social Media und einer Kultur der Konkurrenz, kann es zur verzweifelten Suche nach Originalität und Anderssein führen. Schon bei jüngeren Schüler: innen können Sie hierfür ein kritisches Bewusstsein schaffen. 175 11.6 Die Werte der Moderne verlebendigen: eine Aufgabe für alle Lehrpersonen Alternativen zu den verflachten Praktiken aufzeigen. Den Verlust von Ver‐ bundenheit durch den modernen Abschied von herkömmlichen Weltbildern und Bindungen können Sie versuchen, in vielfältiger Weise aufzufangen. Praktiken der Verbundenheit sind auch heute noch möglich in Elementen des Ernsts und der Liebe, der Resonanz, der Tiefe des Lebens (Kap. 13) und der Herzensbildung (Kap. 14). Hier hilft uns auch der Reichtum anderer Traditionen (Kap. 12.2-12.4). Und den Verlust durch verflachte Praktiken der einseitig negativen Freiheit von … können Sie versuchen aufzufangen, indem Sie schon früh einen Sinn für die positive Freiheit zu … fördern, die in den Idealen der Autonomie und der Authentizität ebenfalls gemeint ist. Wir müssen keinem Klischee entsprechen, auch keinem Klischee von Freiheit, die dann meist als negative Freiheit verstanden wird. Sondern wir dürfen uns selbst Bindungen suchen und Verantwortung übernehmen und ein Versprechen geben: In der Partnerschaft, gegenüber bestimmten Menschen aus Familie und Freundeskreis, gegenüber uns selbst und unserer Begabung und Idiosynkrasie (individuelle Mischung unserer Eigenheiten) oder gegenüber einem eigenen Werk, einem Vorhaben. Verlebendigung, Orientierung: Wovon wir träumen. Im Eingangszitat des Kapitels Einführung fragt ein ursprünglicher Einwohner Amerikas danach, wovon der weiße Mann eigentlich träumt - außer von Macht und Geld. Sie können versuchen, für Ihre Schüler: innen zu verlebendigen, wovon die Moderne träumt. Es ist die Vision eines selbstbestimmten Lebens für alle Menschen, ohne den Zwang, sich zu einem bestimmten religiösen oder politischen Glauben bekennen zu müssen. Und mit dem Versprechen, immer wieder selbst über das eigene Commitment entscheiden und sich selbst verwirklichen zu können. So geben Sie Ihren Schüler: innen Orientierung. Diese Werte gilt es zu pflegen und zu verteidigen. Dazu ist es nötig, sie in der Schule immer wieder ins Bewusstsein zu heben, sie zu diskutieren, zu kritisieren und zu verlebendigen - und sich darüber bewusst zu werden, dass sie nur so lange leben, wie wir sie vertreten. Schon Kinder haben Erfahrungen mit verflachten Freiheitspraktiken. Hier können Sie ein kritisches Bewusstsein fördern - und Alternativen aufzeigen: frei gewählte Praktiken der Verbundenheit (Kap. 12-14) und der positiven Freiheit. Freiheitswerte zu verlebendigen heißt, für sie einzutreten. 176 11 Sollen wir die Werte unserer Kultur verlebendigen und verteidigen? Ihre Antwort auf die Frage Ihrer Schüler: innen: Sollen wir die Werte unserer Kultur verlebendigen und verteidigen? So könnten Sie Ihren Schüler: innen antworten: ▸ Freiheitswerte wie Autonomie und Authentizität machen unsere Kultur aus. Das hat mit der Lösung aus traditionellen Weltbildern zu tun. ▸ Freiheitswerte verflachen aber oft und werden zu Recht kritisiert. Autonomie verflacht z. B. zu einem reinen Effektivitätsdenken, Authentizität z. B. zu einem oft kommerzialisierten individualisti‐ schen Konkurrenzdenken. ▸ Wenn wir die Moderne als eine Kultur unter anderen verstehen, dann können wir die Werte hinter unseren oft verflachten Prakti‐ ken wiederbeleben. Unsere Werte gelten solange, wie sie als leben‐ dige und attraktive Ideale hochgehalten, gepflegt und artikuliert werden. Sie gelten nicht von selbst wie Naturgesetze, ihr Status ist immer prekär (unsicher, bedroht). Wenn Sie sich noch weiter interessieren Interessant für Ihre weitere Arbeit könnte das Thema Selbstverwirklichung und Authentizität sein. Um hier tiefer einzudringen, lesen Sie SCHLETTE 2013, 57-189 und MENKE 2011. Das wichtige Thema negative und positive Freiheit behandeln gründlicher TAYLOR 1988 und BUCHHEIM 2011. Einen Unterrichtsvorschlag bietet THOMAS 2004. Welche Vorteile es hat, wenn sich die Kultur der Moderne selbst als Kultur mit bestimmten Werten versteht, das ist Thema von TAYLOR 2001, u. a. geht es um die interkulturelle Dialogfähigkeit. Der Soziologe HARTMUT ROSA hat seine Theorie der Resonanz auch als Antwort auf den von TAYLOR beschriebenen modernen Verlust des Verbundenheitsgefühls entworfen (Kap. 13; ROSA 2013, 2019). 177 Wenn Sie sich noch weiter interessieren 12 Wieso sollen wir uns dekolonisieren und fremde Kulturen wertschätzen? (Ubuntu, Zhuangzi, Ibn Arabi) Der philosophische Horizont der Entkolo‐ nialisierung […] lässt sich in einem Wort zusammenfassen: Es handelt sich um Welt‐ erschließung. […] Etwas erschließen heißt […], eine Geschlossenheit zu beheben, so‐ dass das, was eingeschlossen war, hervortre‐ ten und sich entfalten kann. A C H I L L E M B E M B E (2016, 85) Worum geht es? Alles wird immer internationaler. Und Europa verliert nach und nach seinen alten Führungsanspruch. Es gibt sehr berechtigte Vorwürfe gegen Europa wegen der Geschichte des Kolonialismus. Mit einer Mischung aus Ratlosigkeit und Trotz richten sich Ihre Schüler: innen an Sie als Lehrperson: Weshalb sollen wir uns schuldig fühlen für den Kolonialismus, der mehr als hundert Jahre zurückliegt? Und sollen wir uns jetzt auch noch mit allen anderen Kulturen beschäftigen? Uns überfordert schon, all die Traditionen unserer eigenen Kultur kennenzulernen. Genauer geht es um Folgendes: ▸ Wie können Sie hier klug antworten, ohne überheblich zu sein, zu belehren und zu moralisieren? Welche anschaulichen Beispiele eignen sich? ▸ Was genau heißt Dekolonisierung unseres Denkens? Und wie lässt sich Kindern und Jugendlichen dies deutlich und verständlich machen? ▸ Wie lässt sich zeigen, dass das Kennenlernen der Grenzen der ei‐ genen und des Reichtums fremder Kulturen uns nicht verunsichern muss, sondern uns neugierig machen und bereichern kann? ▸ Welche Beispiele aus anderen kulturellen Traditionen eignen sich, um eine Ahnung von deren Reichtum zu vermitteln? 12.1 Dekolonisieren wir uns! Unbequeme Einsichten über unsere Kultur. Implizit und ganz automatisch gehen wir alle ständig von der Besonderheit und Überlegenheit der eu‐ ropäischen Kultur aus. In unserem Denken und Sprechen sind wir an dieses Vorurteil gewöhnt: The West and the Rest (Stuart Hall). Erst langsam dämmert es uns: Dieses Denken ist nicht mehr an der Zeit. Auch in ande‐ ren Kulturen haben sich Wissenschaft und Technik entwickelt, Religion, klassisches Schrifttum, Kunst und Literatur - und selbstverständlich ebenso Wirtschaft und Handel. Um wirklich in einer gemeinsamen Welt leben zu können, brauchen wir mehr als Fernreisen und internationale Restaurants und mehr als eine Globalisierung der Wirtschaft. Wir brauchen die Offenheit für die Einsicht, wie reich unsere eigene, aber genauso auch andere Kulturen sind. Doch mit diesem neuen Denken geht ein großes Erschrecken einher. Nämlich, wie groß die Schuld des Kolonialismus wirklich ist. Wie sehr weite Teile der Welt und wir selbst immer noch von der kolonialen Vergangenheit geprägt sind. Mit Weltkarten beginnen. Es gibt einen kleinen Film Die Karten der Anderen des TV-Senders Arte (www.bpb.de/ mediathek/ 303121/ die-karten-d er-anderen, 19.07.2021). Hier werden die Weltkarten verschiedener Kulturen vorgestellt, meist aus Atlanten, die z. B. in der Schule verwendet werden (s. a. L’Atlas des Atlas, Paris: Arthaud 2008). Interessant ist: Die jeweilige Kultur liegt stets in der Mitte der Karten. In australischen Weltkarten liegt Australien oft sogar oben, sodass Europa unten und eben für uns ‚verkehrt herum‘ auf der Welt zu sehen ist. Hier wird deutlich: Es gibt verschiedene Perspektiven auf die Welt. In diese gehen die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Interessen einer Kultur ein. Hintergrund: Afrika vor der Kolonisierung. Historische Karten bieten uns eine andere Perspektive. Etwa eine Karte, welche die verschie‐ denen früheren afrikanischen Reiche zeigt, eine sogenannte African Civilizations Map Precolonial. Hier wird deutlich: Afrika, so wie wir es aus dem Atlas kennen, mit seinen Ländern und Grenzen, ist das Ergebnis der Kolonialzeit. 180 12 Wieso sollen wir uns dekolonisieren und fremde Kulturen wertschätzen? Die eurozentrische Perspektive ist nur eine unter mehreren. Was können Ihre Schüler: innen hier lernen? Es geht nicht darum, unsere gewohnte, also die europäische Sicht der Welt, als falsch darzustellen. Ändern kann sich aber das Bewusstsein, dass unsere Weltkarten nicht einfach eine Natur wiedergeben, so wie sie an sich ist. Sondern dass jede Karte die Sicht einer Kultur ist. Daran ist nichts verkehrt. Doch der Westen hat seine Sicht auf die Welt dominant gemacht: Ist Konfuzius auch in China im Jahr 551 vor Christi Geburt geboren worden? Stellen wir uns vor, in unseren Kalendern wäre alles bezogen auf die Geburt des Konfuzius angegeben. Weshalb verläuft der Nullmeridian seit 1884 durch London (Wikipedia) und bestimmt dadurch die Datumsgrenze in der Nähe des 180. Längengrades? International sind die wissenschaftlichen Namen für Pflanzen- oder Tierarten lateinisch. Stellen wir uns vor, sie wären einheitlich chinesisch. Die dreistelligen IATA-Flug‐ hafencodes (z. B. FRA für Frankfurt) sind in lateinischem Alphabet. Auch dies könnte anders sein. Orientalismus. Dieser Begriff des Kulturwissenschaftlers Edward Said (1935-2003) bezieht sich auf den Gegensatz zwischen Westen und Os‐ ten, zwischen Okzident (Abendland (Sonnenuntergang), westliche Länder, christlich geprägt) und Orient (Morgenland (Sonnenaufgang), östliche Län‐ der, islamisch geprägt). In seinem Buch Orientalismus weist Said nach, wie sich der Westen ein eigenes Bild des Orients gemacht hat (Said 2014). Die Entstehung dieses Bildes war kolonial geprägt, sie geschah vor allem in der westlichen Literatur, Geschichtsschreibung, Geographie und Orientalistik: Der Okzident ist dem Orient überlegen, zugleich ist der Orient mysteriös und gefährlich. Der Wissenschaftler, der Gelehrte, der Missionar, der Händler, der Soldat war im Orient oder dachte über ihn nach, weil er dies tun konnte, ohne mit größerem Widerstand der Betroffenen rechnen zu müssen. (Said 2014, 16) Die „[…] Medien zwängen ihren Informationen mehr und mehr standardisierte Schablonen auf. Was den Orient anlangt, so haben die Standardisierung und kulturelle Klischeebildung den Einfluss der im 19. Jahrhundert gepflegten wissen‐ schaftlichen und literarischen Dämonisierung ‚des mysteriösen Orients‘ spürbar verstärkt.“ (Said 2014, 38) Der unreflektierte Blick des Westens. Albert Camus (1913-1960) war ein be‐ rühmter französischer Schriftsteller. Seine Romane L’Étranger (Der Fremde) und La Peste (Die Pest; siehe Kap. 3), die in Algerien spielen, werden 181 12.1 Dekolonisieren wir uns! auch heute noch gelesen, zum Teil als Schullektüre. Camus wurde in der damaligen französischen Kolonie Algerien als Franzose geboren. Aus heu‐ tiger Sicht fällt auf, so Said, wie fraglos und selbstverständlich Camus von der zivilisatorischen Überlegenheit der Franzosen ausgeht. Diese scheint selbstverständlich zu sein. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, ignoriert er [Camus, Ph.Th.] die Geschichte, was ein Algerier, für den die französische Präsenz eine tägliche Machdarstellung war, gewiß nicht getan haben würde. (Said 1994, 243, Hervorhebung i. O.) Sowohl L’Étranger als auch La Peste kreisen um Todesfälle von Arabern, To‐ desfälle, die die Schwierigkeiten der französischen Figuren mit Gewissen und Reflexion hervorheben […] [siehe Kap. 3.4, Ph.Th.]. Überdies ist die Struktur der lebendig dargestellten bürgerlichen Gesellschaft - die Stadtverwaltung, das Rechtswesen, Hospitäler, Restaurants, Clubs, Unterhaltungseinrichtungen, Schulen - ihrem Wesen nach französisch, obwohl sie in der Hauptsache die nicht-französische Bevölkerung versorgt. […] Wenn Camus so die französische Priorität bestätigt und konsolidiert [festigt, sichert, Ph.Th.], stellt er die Kampagne für die Oberhoheit, die mehr als hundert Jahre lang gegen die algerischen Muslime geführt wurde, weder in Frage noch weicht er davon ab. (Said 1994, 250, Hervorhebung i. O.) Dekolonisierung. Camus’ Bücher werden gelesen und sind berühmt wegen der literarischen Darstellung philosophisch-existenzieller Fragen. Wenn Said Camus’ Texte als Kulturkritiker liest, möchte er Camus nicht als schlechten Schriftsteller darstellen (Said 1994, 244). Vielmehr möchte er aufmerksam machen auf etwas Übersehenes: Auch der Blick eines großen Schriftstellers wie der Camus’ ist ein unreflektiert westlicher Blick, auch er ist voller blinder Flecken. Trotz aller philosophischen Tiefe und moralischen Sensibilität folgt dieser Blick bestimmten kolonialen Grundannahmen, die nicht weiter hinterfragt werden - hier die Selbstverständlichkeit, dass Algerien Teil Frankreichs ist. Nur darauf kommt es hier an und dies kann vor allem im schulischen Kontext ein Bildungsziel sein: Dekolonisierung heißt, sich dieser blinden Flecken bewusst zu werden. Drei, nein: vier Kränkungen unseres Selbstverständnisses. Der Psychoana‐ lytiker Sigmund Freud (1856-1939) beschreibt drei Kränkungen des moder‐ nen Menschen (Freud 1947). Seit Galileo Galilei müssen wir uns an den Gedanken gewöhnen, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist. Seit Charles Darwin ist der Mensch als ‚Gottes Ebenbild‘ entzaubert: 182 12 Wieso sollen wir uns dekolonisieren und fremde Kulturen wertschätzen? Durch und durch scheint er ein Naturwesen zu sein, und sein Fühlen und Denken hat eine Naturgeschichte (Kap. 5). Sigmund Freud selbst schließlich entdeckte die Macht unseres Unbewussten. Dieses bestimmt mit über unser Denken und über unsere Entscheidungen. Für Europäer: innen scheint heute eine vierte Kränkung hinzuzukommen. Es gilt Abschied zu nehmen von unserer gewohnten, vermeintlich neutralen Sicht auf die Welt. Dies zeigt das Beispiel der Weltkarten als Ausdruck kultureller Perspektiven. Und es gilt Abschied zu nehmen von einem allzu positiven Selbstbild unserer Rolle in der Geschichte, vom Mythos einer zivilisatorischen Überlegenheit, die uns vermeintlich das Recht gegeben hat, die übrige Welt zu ‚entdecken‘, zu erobern, zu unterwerfen und auszubeuten. Dekolonisierung im Unterricht. Die vier Kränkungen schmerzen, weil sie Ideale entzaubern. Doch sie sind auch heilsam. Sie können, wie alle Desillusionen, neue Kräfte freisetzen. Zerbricht nach und nach ein falsches Selbstbild, dann kann sich Wut, ja Aggression einstellen, mitunter auch eine Scham darüber, wie lange wir selbst an der Illusion festgehalten haben. Im Unterricht ist deshalb Folgendes wichtig: Als Lehrpersonen, die wir in der Rolle der Aufklärenden und ‚Entzaubernden‘ sind, sollten wir uns in keiner Weise moralisch erheben. Die Erkenntnis, wie groß die Schuld der Kolonialmächte und des Westens war und bis auf den heutigen Tag ist, kann sich nur von selbst einstellen. Entwicklungsländer? Sogenannte Entwicklungsländer sind wirtschaftlich und technologisch abhängig von sogenannten entwickelten Ländern. Diese Abhängigkeit mag als Unterlegenheit wahrgenommen werden. Doch gilt dies auch für den Bereich der Kultur? Hat ein Entwicklungsland eine Kultur, die ebenfalls entwickelt werden muss? Die westliche Kulur, so nehmen wir allzu schnell an, ist in allen Bereichen unvergleichlich, ob Philosophie oder Pharmazie, ob Technik oder Theologie. Der Philosoph Heinz Kimmerle (1930-2016), der sich um die afrikanische Philosophie bemüht hat, sieht dies differenzierter. Im Bereich Kunst und Philosophie stehen ‚entwickelte Länder‘ und ‚Entwicklungsländer‘ „auf völlig gleichem Niveau; sie begegnen sich auf der Grundlage völliger Gleichheit. Die Imperative des Entwick‐ lungsdenkens gelten hier nicht“ (Kimmerle 1991, 185). Haben Länder Entwicklungsbedarf in Bereichen wie Bevölkerungsernäh‐ rung, Wirtschaftsleistung oder wissenschaftliche Technologien, dann sind wir vor dem Hintergrund einer vermeintlichen westlichen Überlegenheit versucht, auch im Bereich der Kultur einen Entwicklungsbedarf anzuneh‐ men. Von diesem Denken können wir Abschied nehmen. Ein Beispiel: 183 12.1 Dekolonisieren wir uns! Im Mittelalter waren Wissenschaften wie Medizin, Astronomie und Mathe‐ matik im Orient viel besser entwickelt als in Europa. Doch im Bereich der Theologie waren Orient wie Okzident beide sehr hoch entwickelt. Was, wenn islamische Theologen damals vom unterentwickelten Stand der Medizin in Europa auf eine Rückständigkeit auch in der christlichen Theologie geschlossen hätten? Gerade auf dem Gebiet der Kultur, der Kunst und Philosophie sollten wir uns gegenseitig als gleichberechtigt anerkennen und voneinander lernen. Durch den Reichtum anderer Traditionen die Welt besser verstehen - und uns selbst. Vielleicht haben Sie auch schon einmal gedacht, dass Sie hinsichtlich eines bestimmten Aspekts Ihrer Persönlichkeit besser in eine andere Zeit, in eine andere Epoche gepasst hätten. Dies ließe sich auch in Bezug auf andere Kulturen sagen. Hinsichtlich dieses oder jenes Aspekts, so könnten Sie denken, würden Sie sich in einer anderen Kultur heimischer fühlen als hier. Fühlen Sie sich manchmal überfordert durch den kulturellen Impe‐ rativ der Selbstverwirklichung (Kap. 11)? Und sehen Sie die Einbußen an Lebensqualität durch den Zwang, laufend in hohem Tempo und mit großer Kraftanstrengung dem eigenen Glück hinterherzujagen? Dann denken Sie vielleicht: Mit einem Teil meines Wesens würde ich gut in eine Kultur passen, in der die Familie wichtiger ist und in der Respekt und Anerkennung nicht allein an Leistung gekoppelt sind. Wenn Sie so oder ähnlich denken, dann können Traditionen anderer Kulturen bestimmten Aspekten Ihrer Person eine Heimat geben. Denn sie bieten eine Sprache, die besser ausdrücken kann, was Sie bewegt, was Sie aber nicht recht artikulieren können in den gängigen Begriffen und Konzepten der eigenen Kultur. Die folgenden Kapitel (12.2-12.4) sind Beispiele für solche fremde Heimaten. Unser Denken zu dekolonisieren, das heißt, unsere Kultur als eine Kultur unter anderen zu sehen. Wir sind nicht das Zentrum der Welt und sind anderen Kulturen nicht überlegen. Dekolonisierung bedeutet, uns die subtilen Mechanismen unseres Überlegenheitsdenkens bewusst zu machen - und auch, die Schuld einzusehen, die Europa durch den Kolonialismus auf sich geladen hat. Vor diesem Hintergrund können wir uns erst richtig öffnen für andere Kulturen. Teile unserer Person, mit denen wir uns mitunter in der eigenen Kultur fremd fühlen, können in fremden Traditionen eine Heimat finden. 184 12 Wieso sollen wir uns dekolonisieren und fremde Kulturen wertschätzen? 12.2 Miteinander fürsorglich verbunden sein: die afrikanische Ubuntu-Philosophie Eins mit allem? Nicht bei uns. Nehmen wir an, Sie fühlen sich mitunter als Teil eines Ganzen, sie fühlen sich eins mit den anderen Menschen, den anderen Lebewesen, mit der Natur. Ihnen kommt es dann künstlich vor, sich als ein abgetrenntes Subjekt vorzustellen, das einem abgetrennten Objekt gegenübersteht. Wenn Sie sich mit diesen Erfahrungen an die akademische Philosophie, Theologie, Psychologie oder Biologie wenden, werden sie kaum eine adäquate Sprache finden, in welcher Sie Ihre Erfahrungen begreifen und gedanklich vertiefen können. Vielmehr werden Erfahrungen des Einsseins marginalisiert (für unbedeutend erklärt) oder abgedrängt in nichtakademi‐ sche Bereiche. Etwas vereinfacht kann man sagen, dass die Entwicklung vom Mythos (sehr alte Erzählungen, z. B. von Göttern und Göttinnen) zum Logos (rationales und wissenschaftliches Erklären) zentral ist (Nestle 1942): Unser Selbstverständnis als Kultur besagt, dass wir die mythologische Weltsicht der ‚nicht entwickelten Völker‘ überwunden haben. Wir setzen Rationalität und Wissenschaft an die Stelle der Mythen und der rituellen Praktiken (z. B. Heilungsrituale). Das Gefühl, mit allem verbunden zu sein, passt nicht, es scheint der überwundenen Stufe anzugehören. Dekolonisierung des Denkens als Chance. Trotz dieses Verlusts und trotz der Probleme unseres rationalen und technisch-wissenschaftlichen Natur‐ verständnisses war stets klar: Das europäische Denken hat das primitive und indigene Denken (etwa der Ureinwohner: innen) überwunden. Unsere Kultur ist allen primitiven Kulturen überlegen. So wie Kinder noch daran glauben, dass ihre Puppen und Stofftiere beseelt sind und leben, so glauben primitive Kulturen, dass alles beseelt ist. Bildung heißt Aufklärung, heißt Abschied unter anderem vom Animismus, also vom Glauben, das alles beseelt ist. Denken wir an abergläubische Erklärungen etwa unserer Krank‐ heiten, denken wir daran, dass Menschen einander einreden, sie seien zum Beispiel an ihrer Krebserkrankung selbst schuld, etwa, weil sie sündig oder falsch gelebt hätten (Sontag 1979), dann wird uns klar, dass Aufklärung ihre große Berechtigung hat. Der Schritt vom Mythos zum Logos ist durchaus sinnvoll und Vernunft ist oft die Stimme des Humanen, des Menschlichen. Dennoch: Im Zuge der Dekolonisierung denken wir heute differenzierter über das Verhältnis der westlichen zu den vermeintlich primitiven Kulturen. Westliche Ontologie: Subjekt und Objekt. Was ist das Sein? Diese Frage behandelt die Ontologie. Sehr vereinfacht gesagt tendiert unsere Sprache 185 12.2 Miteinander fürsorglich verbunden sein: die afrikanische Ubuntu-Philosophie und unser Denken dazu, strikt zu unterscheiden zwischen uns selbst als sprechendem, erkennendem und wahrnehmendem Subjekt einerseits und dem davon getrennten Objekt andererseits, das erkannt oder über das gesprochen wird. Überall in unserer Kultur treffen wir auf diese Unterschei‐ dung. Schon in der monotheistischen Theologie gibt es diese Trennung. Hier steht Gott auf der einen Seite - und auf der anderen der Mensch und alles von Gott Geschaffene. Gott schafft den Menschen, und der Mensch wendet sich dann Gott zu. Einssein gibt es nur in der Mystik, in speziellen Praktiken der Versenkung. In den monotheistischen Religionen sind diese Erfahrun‐ gen Gotteserfahrungen. Diese wird in den monotheistischen Religionen zwar als spirituelle Praxis geduldet, aber von der offiziellen Theologie eher marginalisiert. Rigoroser ist die offizielle Theologie umgegangen mit pantheistischen Positionen, in denen Gott in allem erfahren wird: Wer behauptete, das Grundverhältnis zwischen Gott und Mensch sei Einheit und Einssein und alles, auch die Natur, sei göttlich, der lief Gefahr, als Häretiker, also als Anhänger einer Irrlehre, verfolgt zu werden. Doch nicht nur die monotheistische Religion betont dieses strikte Einander-Gegenüberstehen, auch die abendländische Philosophie trennt das Subjekt vom Objekt. Das Sein des Subjekts ist Vernunft, ist Wahrnehmen, Erkennen, Urteilen und Handeln. Das Sein des Objekts ist demgegenüber ganz passiv, ist Materie, die erkannt und gestaltet werden kann. Ubuntu-Ontologie: Sein als Werden und als Einssein. Eine andere Ontolo‐ gie kennt die Ubuntu-Philosophie, die sich in Afrika südlich der Sahara findet (Ramose 2002). Ausgangspunkt für das Verständnis des Seins ist hier nicht das Gegenüberstehen, sondern die Verbundenheit. Alles ist mit allem verbunden, die Menschen untereinander und jeder Mensch mit seinen Vorfahren und Nachkommen. Und auch die anderen Lebewesen sind mit den Menschen verbunden, ja die ganze Natur ist eins. Die Aktivität geht in dieser Ontologie nicht einfach nur vom Subjekt aus. Vielmehr wird das Ganze als Bewegung gedacht, als ein sich laufend entfaltendes Werden. Mit dieser großen und ursprünglichen Bewegung sind unsere einzelnen Aktivitäten verbunden (Ramose 2002, 40 ff.). Das dezentrierte Subjekt. Auf diese Weise steht das Subjekt nicht im Zentrum der Welt. Von ihm geht nicht alles aus: das Wahrnehmen, das Erkennen, das Urteilen und das Handeln. Vielmehr erfährt sich das mensch‐ liche Subjekt vor allem als hineingehörig in die Bewegung des Ganzen und dabei als verbunden mit allem anderen, das ebenso in die Bewegung des Ganzen gehört. 186 12 Wieso sollen wir uns dekolonisieren und fremde Kulturen wertschätzen? In this sense, life is a universal wholeness. We speak here of a wholeness rather than a whole in order to underline and preserve the ontological primacy of the principle of motion on the one hand and to stress its ubiquity on the other. Indeed, motion cannot be divided into anything other than motion. (Ramose 2002, 125) […] looking at the universe from the decentred self ’s point of view is the most realistic orientation to life as a wholeness. (Ramose 2002, 127) […] be-ing [Ramose schreibt being (Sein) oft als be-ing, um den Prozesscharakter des Seins zu betonen, Ph.Th.] is conceived as a perpetual and universal movement of sharing and exchange of the forces of life. (Ramose 2002, 47) In der Ubuntu-Philosophie wird das Sein nicht aufgeteilt in ein vernünftiges Sein, das erkennende und handelnde Subjekt, und ein nicht-vernünftiges Sein, das erkannte und gestaltete Objekt. Ausgangs- und Bezugspunkt des Denkens ist stattdessen die sich laufend entfaltende Ganzheit des Seins, in die wir mit unserem Leben - und mit unserem Denken und Handeln - hineingehören. Ethik der Hineingehörigkeit. Der südafrikanische Kulturwissenschaftler Devi Dee Mucina formuliert diesen Ausgangspunkt einer Ubuntu-Ethik so: I value my relationship with my family in the same manner I value the trees, waters, rocks, and other animals. Each relationship I have sustains my life in a balance that is beyond my creation. (Mucina 2019, 34) I am a reflection of the existence of my ancestors-I exist because they exist, or as we say‚ ‚Umuntu ngumuntu ngubuntu‘-A person is a person through other people, or we could also say, ‚A thing is a thing through other things.‘ Meaning all things know each other in relationship to each other. […] We respect and give thanks for all of our relations because all elements are part of the energy flux that makes up life. (Mucina 2019, 38) Ethik der fürsorglichen Verbundenheit in der Gemeinschaft. Aus diesem Hineingehören jedes Lebewesens in den großen Zusammenhang und dessen unablässiges Werden und Sich-Entfalten, ergeben sich in der Ubuntu-Philo‐ sophie die Kriterien für das gute Leben und das gute Handeln. Hier geht es vor allem um Harmonie in der Gemeinschaft und ihre Förderung durch unser Leben (Ramose 2002, 52). Der südafrikanische Geistliche und Men‐ schenrechtler Desmond Tutu (geb. 1931) war Vorsitzender der sogenannten Wahrheits- und Versöhnungskommission. Diese diente 1996-1998 nach Ende des weißen Apartheids-Regimes in Südafrika, welches die schwarze 187 12.2 Miteinander fürsorglich verbunden sein: die afrikanische Ubuntu-Philosophie Mehrheitsbevölkerung unterdrückt hatte (mit getrennten Strandabschnit‐ ten, getrennten Eingängen in Bürogebäude und Geschäfte sowie getrennten Toiletten etc.), der Aufarbeitung der Verbrechen dieser Zeit mit dem Ziel einer gesellschaftlichen Versöhnung. Tutu formuliert die Ubuntu-Kriterien: Harmonie, Freundlichkeit und Gemeinschaft sind ein unschätzbares Gut. Soziale Harmonie ist für uns das summum bonum - das größte Gut. Alles, was die Suche nach diesem Gut untergräbt, muss wie die Pest gemieden werden. Wut, Ärger, Rachlust und selbst Erfolg durch aggressives Konkurrenzdenken frisst an diesem Gut. (Metz 2015, 316, Hervorhebung i. O.) Nicht die Einzelperson steht hier im Mittelpunkt, sondern die Harmonie der Gemeinschaft. Für demokratische Entscheidungen bedeutet dies etwa, dass es sich bei diesen um einen echten Konsens handeln muss und nicht einfach um eine Mehrheitsentscheidung, welche im Extremfall der Mentalität des ‚The winner takes it all‘ folgt (Metz 2015, 301). Der südafrikanische Philo‐ soph Thaddeus Metz bringt die Ubuntu-Ethik auf folgende Kurzformel: Eine Handlung ist insoweit richtig, wie sie die gemeinsame Identität von Menschen auf der Basis von Wohlwollen befördert. Sie ist in dem Maße falsch, wie ihr dies nicht gelingt und wie sie dazu neigt, das Gegenteil, also Trennung und Böswilligkeit herbeizuführen. (Metz 2015, 323, Hervorhebung i. O.) Sich selbst besser verstehen. Oben hieß es: Die Grenzen der eigenen und den Reichtum anderer Kulturen einsehen zu lernen, das kann unser Verständnis der Welt erweitern. Doch es kann auch dazu beitragen, uns selbst besser zu verstehen. Falls wir zu denjenigen gehören, die viel anfangen können mit der Erfahrung der Verbundenheit mit allem, dann mögen wir uns in der abendländischen Kultur des Gegenübers (Gott und Mensch, Subjekt und Objekt) mitunter fremd fühlen. Eine fremde Heimat kann uns hier die Ubuntu-Philosophie bieten. Die südafrikanische Ubuntu-Philosophie ist Teil einer Ontologie (Lehre vom Sein), welche stärker von der Verbundenheit aller Lebewesen und aller Dinge ausgeht, als dies für das westliche Denken des Gegenübers (von Gott und Mensch, von Subjekt und Objekt) üblich ist. Ethisch gut ist hier ein Leben, in dem die Menschen gemeinsam Harmonie, Wohlwollen, Fürsorge und Solidarität verwirklichen. Das Werden, der 188 12 Wieso sollen wir uns dekolonisieren und fremde Kulturen wertschätzen? Prozess, die Verbundenheit und wechselseitige Abhängigkeit von allem stehen im Mittelpunkt. 12.3 Sein Leben nähren und nicht dem Glück hinterherjagen: Selbstkultivierung bei Zhuangzi Jeder ist seines Glückes Schmied. So heißt es und Sie lernen, von nichts komme nichts und wie man sich bette, so liege man. Von selbst, so wissen Sie, stellt sich das Glück nicht ein. Doch mitunter haben Sie das Gefühl, dieses Programm sei einseitig. Glück lässt sich nicht zwingen. Aber was ist die Alternative? Sollen Sie einfach passiv sein? Hier hält unsere Kultur abschreckende Worte bereit. So schreibt Aristoteles in der Nikomachischen Ethik: Glückseligkeit ist „kein bloßes Verhalten. Sonst könnte ja auch derjenige sie besitzen, der sein Leben lang schläft und wie eine Pflanze lebt“ (Aristoteles 1986, 293). Aristoteles möchte sagen: Wir sollen uns nicht einfach auf die sprichwört‐ liche ‚faule Haut‘ legen, uns ganz auf das Vegetative (sozusagen pflanzliche Leben) reduzieren und in vermeintlichem Frieden einfach ‚da-sein‘ - wie wir es uns vielleicht mitunter erträumen. Aristoteles sagt dies natürlich mit einigem Recht. Das Glück ist nicht einfach Passivität. Doch gibt es vielleicht einen dritten Weg zwischen aktiv und passiv, zwischen dem Erstreben des Glücks und dem bequemen Abwarten? Und verfügt unsere Kultur für diese Alternative vielleicht über kein hinreichendes Konzept und über keine angemessene Sprache? Mit den Dingen in Einklang kommen. Um einen dritten Weg beschreiben zu können, ist der Blick in eine andere Kultur sinnvoll. Hintergrund: Daoismus, Konfuzianismus und Buddhismus (ab ca. 5. und 4. Jahrhundert v. Chr.), die großen religiös-philosophischen Weltanschauungen und Lebenspraktiken Asiens, kennen keinen per‐ sönlichen Gott mit Geboten für die Gläubigen. Umso wichtiger sind Lebenspraxis und Selbstkultivierung. 189 12.3 Sein Leben nähren und nicht dem Glück hinterherjagen Im chinesischen Daoismus, etwa beim Philosophen Zhuangzi (365-290), wurde eine reiche Tradition begründet, welche uns Menschen auf einen Weg führen möchte, der eine allzu große Passivität ebenso vermeidet wie eine allzu große Aktivität. Alles kommt auf eine lebenslange Selbstkultivierung an ( Jullien 2006, Billeter 2015), auf Erfahrung und Übung. Selbstkultivierung meint hier, an sich zu arbeiten und das eigene Leben als eine Kunst zu betrachten, die es durch Übung und Erfahrung immer besser zu erlernen gilt. In unserem alltäglichen Leben können wir, so die daoistische Tradition, nach und nach immer sensibler werden für übersehene Möglichkeiten und für Potenziale, die in unserer Umgebung, in unserer Lebenswelt stecken. Wenn wir diese lernen wahrzunehmen, dann brauchen Erfolg und Zufriedenheit, um es vereinfacht zu sagen, immer weniger Anstrengung. Es geht darum, mit den Dingen in einen lebendigen Einklang zu kommen. Wenn der Leib sich abmüht ohne Ruhe, so wird er aufgebraucht; wenn der Geist tätig ist ohne Aufhören, so wird er müde. Müdigkeit führt zur Erschöpfung. Es ist die Art des Wassers, daß es rein ist, wenn es nicht bewegt wird. Wird es gehindert und eingedämmt, so fließt es wohl nicht, aber verliert seine Klarheit. (Zhuangzi 2011, 181) Nicht verkrampft sich anstrengen, um das Ziel zu erreichen, aber genauso wenig seine (Such-)Bewegungen zu sehr einschränken, dies ist die Vor‐ aussetzung. Im Bild gesprochen: Weder aufgewühltes (getriebenes) noch stehendes (eingedämmtes) Wasser ist das Optimum, sondern Wasser, das möglichst klar und frisch ist: in ruhiger, ungehinderter eigener Bewegung. In seiner Stille ist er [der Mensch, der am Ziel ist, Ph.Th.] eins mit dem Wesen der Nacht; in seinen Regungen ist er eins mit den Wogen des Tags. Er sucht nicht, dem Glück zuvorzukommen noch dem Unglück zu begegnen; er entspricht nur den Anregungen, die auf ihn wirken. (Zhuangzi 2011, 180) Offenheit, nicht Passivität. Die Ruhe der Nacht und das Wogen des Tages mitzumachen, das bedeutet nicht, diese nachzumachen, sondern selbst Teil dieser Bewegungen zu werden. Nicht aktiv sein, nicht wünschen und planen und tun, aber auch nicht passiv sein, nicht zögern und warten und stillste‐ hen. Sondern sich für jene Aktivität öffnen und an ihr teilhaben, die tiefer ist als unser bewusst planendes und handelndes Subjekt. Es geht um ganz elementare Rhythmen und Entwicklungen unseres Lebens und der Welt. Wir kennen dies von den Jahreszeiten und auch von den Entwicklungen 190 12 Wieso sollen wir uns dekolonisieren und fremde Kulturen wertschätzen? und Transformationen unseres Lebens. Hier geschieht ganz viel: in uns und doch nicht einfach ausgehend von uns. Wenn man die richtigen Schuhe hat, so vergißt man seine Füße; wenn man den richtigen Gürtel hat, vergißt man die Hüften. Wenn man in seiner Erkenntnis alles Für und Wider vergißt, dann hat man das richtige Herz; wenn man in seinem Innern nicht mehr schwankt und sich nicht nach andern richtet, dann hat man die Fähigkeit, richtig mit den Dingen umzugehen. Wenn man erst einmal so weit ist, daß man das Richtige trifft und niemals das Richtige verfehlt, dann hat man das richtige Vergessen dessen, was richtig ist. (Zhuangzi 2011, 214) Der Weg ist kein Programm. Das Ziel des mittleren Weges zwischen Aktivität und Passivität: Dieser hört auf, ein besonderes Programm zu sein, wenn er weiter fortschreitet, ja, er vergisst gewissermaßen, dass er überhaupt ein Weg ist. Nicht länger fragen wir uns laufend, ob wir alles richtig machen und wie weit wir noch von unserem Ziel entfernt sind. Nicht länger hören wir unablässig die inneren Stimmen unserer Selbstkritik und der möglichen Kritik durch andere. Stellen wir uns einen alten Grundschullehrer oder eine alte Kinderärztin vor, die die Kinder und ihre Eltern lieben und von diesen geliebt werden, und die schon sehr viel gesehen und erlebt haben: Nichts kann sie mehr erstaunen. Die laufenden Selbstzweifel, ob der Beruf auch richtig ausgeübt wird, sie sind dem Gefühl gewichen, ‚richtig mit den Dingen umzugehen‘. Was richtig ist - das beschäftigt nicht länger den Kopf, sondern die Hände, nicht das Denken, sondern das Sein: Es ist Sache der Praxis geworden. Einer Praxis, die vor allem Erfahrung ist, Resonanz und Empathie, Können und persönliche Sicherheit. Es geht darum, sich berühren zu lassen, mitzuschwingen, mitzufühlen und dabei zu spüren, was jetzt das Richtige ist. Sein Leben nähren. Viele verschiedene, auch schmerzhafte Erfahrungen zu sammeln, sich dem Wind und den Wellen des Lebens auszusetzen, intuitiv jeweils den richtigen Weg zu finden, ohne sich zu verkrampfen - das ist mit dem ungewohnten Ausdruck ‚sein Leben nähren‘ gemeint ( Jullien 2006) und ist zugleich eine Alternative zur Suche nach dem Glück, wie sie eher typisch für unsere Kultur ist. Welcher Weg liegt nahe oder scheint völlig ungewohnt? Das kommt darauf an, in welcher Kultur wir aufwachsen. Oben hieß es: Wenn wir uns in unserer Kultur teilweise unverstanden fühlen, können uns Traditionen anderer Kulturen, hier das daoistische Denken, eine Heimat geben. Etwa eine Sprache für den Weg zwischen aktiv und passiv. Auch das ist Dekolonisierung. 191 12.3 Sein Leben nähren und nicht dem Glück hinterherjagen Die daoistische Philosophie des Zhuangzi zielt auf eine Existenz, die sich einlässt auf die tiefsten Bewegungen des Lebens und der Welt und sich diesen anschließt. Stagnation wird ebenso vermieden wie verkrampftes Glücksstreben. Weisheit als Selbstkultivierung gelingt auf dem Weg einer Lebenspraxis der Resonanz und Empathie, nicht auf dem Weg des Wissens. 12.4 In der Liebe etwas Göttliches erfahren: Ibn Arabi und die islamische Liebesmystik Was ist die Liebe? Auf jeden Fall ein großes Geheimnis. Und auch auf diesem Gebiet kann es uns mitunter so gehen, dass wir uns fremd fühlen - nämlich inmitten der üblichen Art und Weise, wie unsere Kultur mit dem Geheimnis der Liebe umgeht. Kulturgeschichtliche Untersuchungen zur Liebe (wie liebten die Menschen in der Renaissance? ), ethische Abwägungen (was heißt verantwortliche Partnerschaft? ), biochemische Zusammenhänge (in welchen Hirnregionen lassen sich welche Neurotransmitter nachweisen? ), evolutionstheoretische Überlegungen (wie sorgte die Natur für Fortpflan‐ zung und gute Bedingungen für das Aufziehen des Nachwuchses? ) oder psychologische Theorien (wie entstehen Bindungsängste? ) - all diese wis‐ senschaftlichen Ergebnisse sind weder falsch noch unnütz. Es handelt sich um einen bewundernswerten Reichtum wissenschaftlichen Wissens. Und doch - wer gerade verloren ist mitten im großen Geheimnis der Liebe, dem scheint dieser Blick von außen als nicht hinreichend. Hier bietet die islamische Liebesmystik eine Alternative. Diese hat schon vor vielen Jahrhunderten die verschiedenen Aspekte der Liebe unendlich differenziert beschrieben: nicht so sehr von außen, sondern von innen, als Gefühle. So benennt der Theologe, Mystiker und Dichter Muhyiddin Ibn Arabi (1165- 1240) in seiner großen Abhandlung über die Liebe folgende Zustände der Liebe: […] die ekstatische Gefühlsregung (wajd), das brennende Verlangen (shawq), das sehnsüchtige Ziehen (ishtiyāq), den Wunsch, den Geliebten zu treffen, den Lie‐ besblick auf ihn und die Vereinigung mit ihm. (Ibn Arabi 2009, 98, Hervorhebung i. O.) 192 12 Wieso sollen wir uns dekolonisieren und fremde Kulturen wertschätzen? Du empfindest starkes Verlangen (‘ishq), eine durchdringende Leidenschaft (hawā), eine brennende Sehnsucht (shawq), die Liebe als überwältigende Macht (gharām), eine völlige Auszehrung (nuhūl), und du wirst daran gehindert, zu schlafen oder deine Nahrung zu genießen. Du weißt weder, in wem noch durch wen das geschieht. Dein Geliebter zeigt sich dir nicht auf deutliche Art. (Ibn Arabi 2009, 43, Hervorhebung i. O.) Liebe transzendiert die Welt. Egal, ob es sich um die unglückliche oder die erwiderte Liebe zwischen Geliebten handelt oder um Liebe zu den Kindern, zu den Eltern oder zu echten Freund: innen. Liebe ist geheimnisvoll und doch bedeutsam. Sie kann uns als ‚nicht von dieser Welt‘ vorkommen, als etwas, das die Welt transzendiert und uns hinausführt aus unserem üblichen Leben. Wer ist im letzten Textausschnitt mit dem Geliebten gemeint? Es ist Gott, es ist Allah. Dies ist der Kern der islamischen Liebesmystik: dass es nur eine Liebe gibt und dass diese Liebe von Gott aus auf uns zufließt und durch unsere überfließende Sehnsucht, durch unseren Schmerz oder durch unsere erfüllte Liebe zurückfließt zu Menschen und damit zu Ihm. Entsprechend entwickelt Ibn Arabi eine Art Erfahrungstheologie des großen Rätsels Liebe. Grundtenor der Abhandlung: Unsere Liebe ist ein Schleier. Sehen, oder besser: fühlen wir genauer hin, dann zeigt sich in unserem Lieben das Göttliche. Der halb Verdurstete hat angesichts der Notwendigkeit, seinen Durst zu stillen, den Eindruck, die Luftspiegelung bestünde aus Wasser. Ohne den Durst würde er nicht an Wasser denken, das ihm Bedürfnis und Rettung zugleich ist. Das Wasser, in dem das Geheimnis des Lebens steckt, ist Anlass für seine Suche und seine Liebe. Gelangt er jedoch dahin, wo er meint, das Wasser kosten zu können, findet er nichts. Statt Wasser findet er nur Gott - in sich selbst. Die Absicht des halb Verdursteten war, trinkbares Wasser zu finden, während Gott darauf abzielte, ihn über dies Trugbild zu Sich zu führen, ohne dass ihm das klar gewesen wäre. (Ibn Arabi 2009, 123) Gott (Gepriesen sei Er! ) hat Blumenbeete, die allesamt Beete der Liebe sind. Mehr noch, jedem von ihnen gibt Er einen Eigennamen der Liebe, wie dem Beet der Ekstase (mīdān al-wajd) oder auch dem Beet brennenden Verlangens. Jeder verliebte Zustand ist von einem Umherschweifen (jawalān) und einer gerichteten Bewegung (harakah) gekennzeichnet und zu jedem gibt es ein ihm entsprechendes Blumenbeet. (Ibn Arabi 2009, 179 f., Hervorhebung i. O.) 193 12.4 In der Liebe etwas Göttliches erfahren Teilen wir für ein besseres Verständnis die Liebe in ein Objekt, das Geliebte, und in ein Subjekt, von dem die Liebe ausgeht, dann gilt hier: Das Geliebte, das Ersehnte, der Gegenstand unserer Liebe, das ist eigentlich Gott. Und ebenso: Unser Lieben selbst, unser Sehnen und Wohlwollen, es ist eigentlich eine Art göttliches Sehnen. So öffnet die islamische Liebesmystik einen ganz eigenen Blick auf die Liebe. Liebe ist etwas Göttliches. Doch etwas Göttliches mitten in unserer Welt oder im Gewand der Welt. Daher können wir in der Liebe erfahren, was die Welt eigentlich ist. Diese Erfahrung der Liebe ist eine mystische. Mystisch bedeutet hier, durch die Liebe die andere, die unsichtbare Seite der Welt, nämlich ihre göttliche Bedeutung, als ihre eigentliche zu erfahren. Wissenschaft, Poesie, Theologie. Aber gibt es das alles nicht auch in der europäischen und christlichen Tradition? Ja, unsere Tradition behandelt Liebe nicht nur wissenschaftlich, sondern auch in Poesie und Theologie. Ja, es gibt schon seit dem Hochmittelalter in Europa Liebeslyrik, Liebesromane und auch Liebesmystik. Und in beiden Kulturen sind die Mystik und darin die Liebesmystik eher Nebenströmungen der philosophisch-theologischen Ideengeschichte. Doch die islamische Liebesmystik, etwa bei Ibn Arabi aus Andalusien (1165-1240), bei Muhammad Rumi aus Persien (1207-1273) oder bei Yunus Emre aus Anatolien (1240-1321), scheint besonders frei zu sein vom Versuch, uns in moralischer Absicht von unserem ganz weltlichen Lieben, Sehnen und Begehren weg und zu einem vermeintlich moralisch höheren und vom Weltlichen gereinigten Lieben hinzuführen. Hintergrund: Gemeinsame Traditionen. Yunus Emre (Emre 1991) lernte ich durch die Hausarbeit einer Studentin kennen, in der sie Platons philosophische Liebestheorie (in seinen Dialogen Symposion und Phaidros) verglich mit Emres Liebestheologie. Ihr Fazit: Bei beiden ist der Geliebte der Schleier, in dem das Göttliche sichtbar und erfahrbar wird. Emre ist geprägt vom Sufismus, der islamischen Mystik, diese wiederum hat Verwandtschaft zum Neuplatonismus, einer von Platon beeinflussten Bewegung, die viele Jahrhunderte nach seinem Tod entstand. Unsere Traditionen sind verflochten wie ein Zopf. 194 12 Wieso sollen wir uns dekolonisieren und fremde Kulturen wertschätzen? In der islamischen Liebesmystik scheint sich unser Lieben nicht wie in der abendländischen Tradition auf einer moralischen Stufenleiter vom Begehren (Eros) über die Freundesliebe (Philia) zur Nächstenliebe, Feindesliebe und göttlichen Liebe (Apape) weiterentwickeln zu müssen, um überhaupt als richtige Liebe zu gelten. Vielmehr scheint schon in der Sehnsucht nach dem Geliebten und den alltäglichen Erfahrungen der Verliebten die göttliche Liebe erfahrbar. Dekolonisierung, das kann auch heißen, unsere eigenen (Liebes-)Erfahrungen in der Sprache anderer Traditionen zu formulieren und so noch einmal neue Aspekte kennenzulernen. Sehnsucht und Liebe, das sind für die islamische Liebesmystik Erfahrun‐ gen der tiefsten Tiefe der Welt, es sind Erfahrungen Gottes. Das Lieben und alles, was damit verbunden ist, wird so zur Quelle einer Reifung und Transformation der Menschen, auf die alles ankommt. Ihre Antwort auf die Frage Ihrer Schüler: innen: Wieso sollen wir uns dekolonisieren und fremde Kulturen wertschät‐ zen? So könnten Sie Ihren Schüler: innen antworten: ▸ Dekolonisieren unseres Denkens, das bedeutet, unseren Eurozen‐ trismus Schritt für Schritt zu verlassen. Die Geschichte der ver‐ meintlichen Überlegenheit unserer Kultur hat unendlich viel Leid über die Menschen gebracht. Europa ist eine Kultur unter vielen, gleichberechtigten Kulturen. ▸ Dekolonisieren unseres Denkens, das bedeutet, unsere Vorannah‐ men und fertigen Urteile über andere Kulturen zu verabschieden und uns überhaupt erst neugierig zu öffnen für andere Traditionen. ▸ Der Reichtum anderer Kulturen wird uns etwa dann klar, wenn wir uns in der eigenen Kultur partiell fremd fühlen, weil diese uns für einige unserer individuellen Erfahrungen keine rechte Sprache anbietet. Dann können uns andere Traditionen mit ihren Konzepten und Begriffen eine Heimat bieten. 195 12.4 In der Liebe etwas Göttliches erfahren Wenn Sie sich noch weiter interessieren Eine Fülle von gutem und geprüftem Unterrichtsmaterial zu Kolonialismus und Dekolonisierung hält die Bundeszentrale für politische Bildung bereit (www.bpb.de). Interessant für den Unterricht ist auch die Debatte um Museen, die man früher Völkerkundemuseen nannte. Sollen sie einigen Besitz in die Ursprungsländer zurückgeben und was in Zukunft überhaupt wie zeigen? Diese großen Museen, z. B. in Berlin, Hamburg, Bremen, Köln, Frankfurt a. M., Stuttgart und München, bieten mittlerweile alle Ausstellun‐ gen und Materialien zum Thema. Dekolonisierung eher als philosophische Aufgabe thematisiert MBEMBE 2008 und 2016. Dekolonisierung als wirkliche und neugierige Öffnung für nichtwestliche Traditionen in Bildung und Lebenspraxis bietet Ihnen viele Vertiefungs‐ möglichkeiten. Für Ubuntu siehe NGOMANE 2019 (sehr anschaulich), GRANGE 2018 (bildungsphilosophisch) und RAMOSE 2002 (umfassend und tiefgründig). Für ZHUANGZI siehe JULLIEN 2006 und BILLETER 2015 (beide philosophisch und sehr gut). Einen ersten Überblick zur islamischen Liebesmystik bietet MAKOWSKI 1997. Für den Unterricht können Sie diese Tradition erschließen über KERMANI 2014. Im Text fehlte aus Platzgründen der bedeutende persische Mystiker RUMI, siehe ÖZTÜRK 2002. Wenn Sie sich für Mystik in rein philosophischer Rekonstruktion inter‐ essieren, lesen Sie TUGENDHAT 2003 und KUTSCHERA 2012. 196 12 Wieso sollen wir uns dekolonisieren und fremde Kulturen wertschätzen? 13 Können wir die Welt lieben? Wir dachten, es kommt darauf an, alles zu kritisieren (James, Post-Critical Pedagogy, Rosa) Daß die Intellektuellen die Vorhut [Avant‐ garde, Ph.Th.] bildeten, ist schon lange her. […] Wie schön war doch die Zeit, als Universitätsprofessoren auf einfache Leute herabsahen, weil diese Hinterwäldler naiv an Kirche, Mutterschaft und Apfelkuchen glauben konnten. B R U N O L A T O U R (2007, 8, 13) Worum geht es? Als Lehrperson schrecken Sie vor Gefühlen nicht zurück. Sie sprechen etwa von der Liebe zwischen den Menschen, von der Tiefe, der Tragik oder der Schönheit des Lebens und der Welt. Ihre Schüler: innen fragen: Müssen Sie immer so sentimental werden? Liebe und Tiefe sind Privat‐ sache! Wir dachten, wir sollen lernen, kritisch zu denken - bringen Sie uns doch lieber das bei. Welche Antwort ist hier sinnvoll? Genauer geht es um Folgendes: ▸ Wie können Sie Ihren Schüler: innen vermitteln, dass es keine Schwäche ist, wenn wir die Welt als geheimnisvoll, als traurig und als schön empfinden? ▸ Auf welche Weise lässt sich begründen, dass beides zur Bildung gehört: die Fähigkeit, Dinge zu kritisieren und die Fähigkeit, Dinge zu lieben? ▸ Wie können Sie persönlich sicherer werden, wenn es um Gefühle geht wie Ernst, tiefe Freude, Ehrfurcht, Glaube an etwas absolut Gutes? Und wie können Sie Ihren Schüler: innen die Scheu vor diesen Gefühlen nehmen? 13.1 Was ist das Gegenteil von Zynismus und Unernst? (James) Es gibt einen Bereich, in dem der Zynismus endet. In den Jahren 1900-1902 hielt der amerikanische Mediziner, Philosoph und Psychologe William James (1842-1910) im Rahmen der berühmten Gifford-Lectures Vorlesungen über die Frage, was religiöse Erfahrung eigentlich sei ( James 1997). James geht es nicht um die Wahrheit einer bestimmten Religion oder der Religionen überhaupt, sondern darum, sehr tiefe Gefühle auszuloten, die man meist religiöse Gefühle nennt. Es geht nicht um dogmatische, sondern um religi‐ onspsychologische Fragen. Gleich zu Beginn der Vorlesung sieht sich James mit der schwierigen Aufgabe konfrontiert zu definieren, was das religiöse Gefühl eigentlich genau ist. Hier versucht er den Umweg über gegenteilige Phänomene wie Ironie (sich vom selbst Gesagten distanzieren), Zynismus (hier: Missachtung feierlicher Gefühle), Spott oder Unernst. Religiöse Ge‐ fühle, so James, gehen in die entgegengesetzte Richtung. Religion „bringt Ernsthaftigkeit, nicht Schnippigkeit; sie sagt ‚schweig! ‘ zu allem leeren Geschwätz und Besserwisserei“ ( James 1997, 70). Es wird in der Welt etwas empfunden, das das Individuum zu einer feierlichen und ernsthaften Antwort drängt, und nicht zu einem Fluch oder zu einem Scherz. ( James 1997, 71) Es muß etwas Feierliches, Ernsthaftes und Zartes über jeder Haltung liegen, die wir religiös nennen. ( James 1997, 71) Wir kennen heilige Gefühle, doch diese können leicht missbraucht werden. Was James hier beschreibt, ist uns allen bekannt. Auch wir haben schon einen Schauder empfunden, wenn uns klar wurde, was uns irgendwie heilig und unantastbar vorkommt, wovon wir uns durch nichts und niemanden abbringen lassen würden. Natürlich ist der Inhalt nicht bei allen Menschen derselbe. Ebenso bekannt ist uns, wie leicht sich solche Gefühle pädagogisch missbrauchen lassen. Hier denken wir an eine oberflächliche religiöse Erziehung mit der Betonung der Überlegenheit der eigenen Religion. Oder wir denken an einen selbstgefälligen und falschen Stolz auf das Eigene, etwa die eigene Herkunft, die eigene Kultur oder die eigene Nation. Und wir denken auch an die Gefahr, dass solche Gefühle nicht nur missbraucht werden, sondern tatsächlich oft schwärmerisch und sentimental sind. Die starke Erlebnisqualität dieser feierlichen Gefühle ist diffus und unscharf und 198 13 Können wir die Welt lieben? Wir dachten, es kommt darauf an, alles zu kritisieren kann sich auf alles Mögliche beziehen. Anhand welcher Kriterien soll man unterscheiden zwischen heiligen Gefühlen für Gott, für die eigene Nation (‚My Country, Right or Wrong! ‘), für einen Fußballverein oder für eine Musikgruppe? Wir ahnen, dass hier eine wichtige Dimension menschlichen Lebens liegt, die auch in der Bildung ihren Platz haben sollte. Zugleich sehen wir sehr deutlich, wie ungeklärt diese Gefühle sind und wie leicht sie missbraucht werden können. Hat Feierlichkeit in der Bildung also nichts zu suchen? Historisch gesehen hat sich als Konsequenz dieser Problematik eine Pädagogik herausgebildet, die insgesamt eher auf Kritik, auf Reflexion und Analyse setzt. Dies ist nur allzu gut verständlich. In einer freien und pluralen Gesellschaft sollte der Staat es den einzelnen Menschen überlassen, wofür sie das Gefühl der Ernsthaftigkeit empfinden, die Bildung sollte diese Gefühle nicht lenken. Wofür ihr Herz schlägt, darüber sollten Sie selbst entscheiden, nachdem Sie die verschiedenen Sinnangebote kritisch reflektiert haben. So richtig und verständlich dies ist, es entsteht folgender Nachteil: Denken wir bei feierlichen Gefühlen allzu ausschließlich an die geschilderte Problematik der Unsicherheit und des Missbrauchs, dann verzichten wir auf die Möglichkeit, dieses wichtige Gebiet für die Bildung überhaupt zu erschließen. Sich heiligen Gefühlen als Teil der Bildung zu widmen, das heißt, eine Sprache für sie zu entwickeln. Verunsichert durch die Vagheit feierlicher Gefühle könnten Sie als Lehrperson zu Ihren Schüler: innen sagen: Dieser Bereich gehört nicht in die Schule, das ist Privatsache. Doch damit vergrö‐ ßern Sie die Unsicherheit und lassen die Kinder und Jugendlichen allein. Dieses so wichtige Gebiet wird dann nicht kultiviert, genauer, Ihre Schü‐ ler: innen lernen nicht, darüber zu sprechen. Heilige Gefühle gehören auch in der Moderne zum menschlichen Leben ( Joas 2017). Doch allzu schnell werden diese Gefühle vereinnahmt. Entweder durch religiöse Systeme oder durch politische Propaganda (z. B. Nationalstolz) oder durch wirtschaftliche Interessen (z. B. Kaufen von Kultgegenständen). Es kommt darauf an, eine weltanschaulich möglichst neutrale und offene Sprache zu entwickeln für solche Gefühle, bei denen das sonst so willkommene Kritisieren als nicht recht passend erscheint. Wo der Spott endet, da beginnt etwas Privates. Doch das Sprechen darüber sollte Teil der Bildung sein. 199 13.1 Was ist das Gegenteil von Zynismus und Unernst? William James untersucht heilige Gefühle: nicht Zynismus, sondern Ehrfurcht, nicht Unernst, sondern Ernst. In einer pluralen Gesellschaft ist dieses Gebiet Privatsache. Doch es sollte auch Teil der Bildung sein, damit die Schüler: innen eine Sprache für ihre eigenen feierlichen Gefühle entwickeln können. 13.2 Post-Critical Pedagogy Jenseits der Kritik. Die postkritische Pädagogik hat ein wichtiges Anliegen (Hodgson et al. 2017, Vlieghe et al. 2019). Es speist sich aus dem Eindruck, Kritikfähigkeit sei zwar immens wichtig, sie sei aber in manchen Situationen in der Bildungsarbeit unangebracht. Und es speist sich aus der Beobachtung, dass im gemeinsamen Bemühen um die Gegenstände der Bildung auch so etwas wie Liebe zur Welt, zunächst vor allem zum Gegenstand des Fachs, wichtig ist - und dass diese Liebe zur Welt schlecht passt zur üblichen Kultur einer alles entlarvenden Kritik. Entlarvende Kritik kann steril werden. In der Literaturwissenschaft ist etwa bemerkt worden, wie die Wissenschaftler: innen sich von der Litera‐ tur, welche ihr Untersuchungsgegenstand ist, gar nicht mehr existenziell betreffen lassen, sie bleiben stets akademisch distanziert. Oft steht nicht die Liebe zur Dichtung und zum Menschlichen, das sie uns zeigen kann, im Vordergrund. Sondern Literatur wird ‚durchschaut‘ auf hinter ihr stehende Kräfte und Motive hin, welche sich in ihr ausdrücken und zeigen: eine Kultur des Verdachts und der Distanz und keine Kultur der Begeisterung (Felski 2015). Ein entsprechender Unterricht würde nicht auf die Liebe zur Literatur, sondern auf das Entlarven von Literatur abzielen. Auch in der Philosophie ist so etwas beschrieben worden, etwa von Bruno Latour (Latour 2007). Latour stört vor allem die entmündigende Geste des Entlarvens (debunking). Entlarvende Kritik kann eine Geste der Macht sein. Es scheint zum Selbst‐ verständnis der modernen Intellektuellen zu gehören, dasjenige zu entzau‐ bern und zu entlarven, das von den Nicht-Intellektuellen naiv geglaubt wird (siehe das ironische Eingangszitat dieses Kapitels). Die Entlarvung gelingt mithilfe vermeintlich tieferer Strukturen. Das Phänomen ist nur Schein, hinter ihm liegt seine eigentliche, stets ernüchternde Wahrheit. Sie lieben moderne Kunst? Damit zeigen Sie nur Ihre Zugehörigkeit zu einer höheren 200 13 Können wir die Welt lieben? Wir dachten, es kommt darauf an, alles zu kritisieren sozialen Schicht (Kap. 9). Sie möchten sich selbst verwirklichen? Damit folgen Sie nur dem Programm, dem alle folgen, dem modernen Imperativ der Authentizität, dass wir alle ganz wir selbst sein sollen (Kap. 11). Geht man so vor, dann besteht Bildung in der Fähigkeit zu kritisieren und zu entlarven. Indem die Intellektuellen durch das debunking allen anderen Menschen stets einen Schritt voraus sind, etabliert sich ein ungutes Herr‐ schaftsverhältnis (Latour 2007, Rancière 2009). In Bildungsprozessen werden sich die Lernenden dann immer wieder als zu naiv empfinden. Am Ende bekommen Sie den Eindruck, man könne gar nicht kritisch genug sein und jede Überzeugung, jede Liebe, jedes ernsthafte Gefühl und jedes Engagement müsse überwunden werden - indem man den mächtigen ‚Entzauberern‘ folgt und alles kritisiert. Kritik und Liebe. Die postkritische Pädagogik beschreibt diese Entwick‐ lung als eine Sackgasse (Hodgson et al. 2017, Vlieghe et al. 2019). Das wichtige Bildungsziel Kritikfähigkeit kann ergänzt werden: Zur konkreten Arbeit von Lehrenden und Lernenden sollte auch die Fähigkeit gehören, Gegenstände der Bildung, also etwa den Stoff eines Schulfachs, lieben zu können. Darüber hinaus richtet sich diese andere Einstellung zum Gegenstand auf eine liebende Einstellung zur Welt selbst. Sind wir als Lehrpersonen nicht auch dazu in der Lage, unseren Schüler: innen ein Gefühl dafür zu vermitteln, warum es sich lohnt, in dieser Welt zu leben und sich für das Gute zu engagieren? […] we see the task of a post-critical pedagogy as not to debunk but to protect and to care […] which requires a love for the world. This is not an acceptance of how things are, but an affirmation of the value of what we do in the present and thus of things that we value as worth passing on. […] Cynicism and pessimism are not, in a sense, a recognition of how things are, but an avoidance of them […]. It is time to acknowledge and to affirm that there is good in the world that is worth preserving. (Hodgson et al. 2017, 17 ff.) Liebe zum Fach, Liebe zum Gegenstand, Liebe zur Welt. Der postkritischen Pädagogik kommt es vor allem darauf an, die Zeit in der Schule als Mög‐ lichkeit dafür zu sehen, ohne Handlungs- und Verwertungsdruck sich mit Gegenständen intensiv und sorgfältig beschäftigen zu können. Im Idealfall brennt eine Lehrperson für ihr Fach und ist von manchen Unterrichtsgegen‐ ständen so eingenommen, dass die Schüler: innen sich durch diese Begeis‐ terung anstecken lassen. Die Welt öffnet sich! Und die Beschäftigung mit den Gegenständen dieses Fachs kann zu Staunen und Bewunderung führen. 201 13.2 Post-Critical Pedagogy Diese Liebe kann ein Beispiel dafür sein, dass die Welt auch insgesamt Aspekte des Interessanten, des Staunenswerten, des Wertvollen und des Guten aufweist (Vlieghe et al. 2019, 35 ff., 149 ff.). […] love is a way of relating to the world so that the world is disclosed in a particular way. (Vlieghe et al. 2019, 161) Love is a […] stance one takes towards the world so that things of value appear. (Vlieghe et al. 2019, 162) Nicht erst in der Zukunft, nach einer kritischen Analyse aller Missstände und nach deren erfolgreicher Beseitigung, gibt es die Welt auf eine Weise, die Bejahung und Hoffnung möglich macht, sondern schon jetzt. Bildung bedeutet: […] showing that there are things that are worth our effort, attention and care in spite of the inferno we are living in. This is a truely educational gesture. (Vlieghe et al. 2019, 164, Hervorhebung i. O.) […] the good is weak, and it needs our never lasting attention and care in order to remain something of meaning. (Vlieghe et al. 2019, 161) Die postkritische Pädagogik bejaht zwar Kritikfähigkeit, weil das Schlechte erkannt werden muss. Zugleich soll Bildung aber mehr sein als nur Entlarven (debunking). Lehrpersonen können in ihrem Fach für ihre Schüler: innen mit Muße und Liebe die Welt öffnen. Schüler: innen können lernen, dass es auch insgesamt Wertvolles und Gutes gibt, das unsere Unterstützung braucht. 13.3 Die Tiefe des Lebens erfahren und resonant werden für die Welt (Rosa) Wenn es regnet. Für das Philosophieren mit Kindern hat Helmut Schreier eine Geschichte geschrieben. „Ist es nicht wunderbar, daß es Sommer ist, und daß wir Ferien haben? “, fragt Claudia. Dieter und Frank schauen sich an. „Und ist es nicht wunderbar“, sagt Dieter im gleichen Tonfall wie Claudia, „daß es jetzt zu regnen anfängt? “ 202 13 Können wir die Welt lieben? Wir dachten, es kommt darauf an, alles zu kritisieren Dicke Tropfen fallen erst einzeln, dann wie ein Wasser-Schleier auf den Park herab, in dem die Kinder spielen. Der Regen rauscht auf das dichte Blätterdach des Kastanienbaums, unter dem die Drei Schutz gefunden haben. Ein frischer, feuchter Geruch liegt in der Luft. „Ja, ist es nicht wunderbar? “, wiederholt Claudia, als ob sie den Spott in Dieters Frage nicht bemerkt hätte. „Was soll denn daran wunderbar sein, daß es regnet? “, fragt Frank. „Erstens regnet es ziemlich oft, es ist also nichts Besonderes, und zweitens regnet es, weil irgendwelche atlantischen Tiefausläufer nach Osten ziehen.“ „Trotzdem ist der Regen ein bißchen wie ein Wunder“, beharrt Claudia. „Meinst du, daß im Himmel Engel sind, die es regnen lassen, oder was? “, will Dieter wissen. „Wenn es Engel geben würde, wenn die Engel das Wetter machen würden und das Gras wachsen ließen und den Baum hier wachsen ließen, - dann wäre der Baum und das Gras und der Regen kein bißchen mehr wunderbar, als es ohne die Engel schon ist.“ „Du meinst, der Regen ist ein solches Wunder, daß Engel nichts mehr hinzufügen könnten? “ „Ja“, sagt Claudia. „Alles ist wie ein Wunder. Manchmal weiß ich das ganz genau“. (Schreier 1993, 156) Der moderne Weltbezug ist nüchtern. Den Regen kann man naturwissen‐ schaftlich erklären - oder mythologisch durch Himmelswesen. Die nüch‐ tern-naturwissenschaftliche Weltsicht lässt keinen Platz für ein Geheimnis, sie kennt keine seelische Beziehung zwischen Mensch und Natur. Der Kul‐ turphilosoph Charles Taylor hat diesen Verlust in der modernen Beziehung des Menschen zu seiner Welt beschrieben (Kap. 11; Taylor 1995), diese Analysen werden von dem Soziologen Hartmut Rosa fortgeführt (Rosa 2011; 2013): In der Moderne ist der Mensch aus dem als göttlich erfahrenen Kosmos hinausgefallen. In der beschleunigten Welt entfesselter Effektivität fordern die Dinge nur noch zur Gestaltung und Manipulation heraus. Und wir fühlen uns nicht mehr getragen von einer Welt, mit der wir in Resonanz stehen (Rosa 2011; 2012, 374 ff.) „Die Welt ist tief, […] Und tiefer als der Tag gedacht.“ (Nietzsche 1988 (b), 286) Rosa fragt: Wie können wir uns auf neue Weise wieder heimisch fühlen in unserer ganz konkreten Umwelt? Seine Antwort lautet: durch Resonanz (Rosa 2020 (a)). Die Geschichte Wenn es regnet ist ein Beispiel dafür. Sie zeigt, wie wir auch heute die Natur, ja die ganze Welt als geheimnis- und wundervoll erleben können. Weder, indem wir sie naturwissenschaftlich erklären, noch, indem wir einfach wieder von Engeln sprechen. Resonanz will also nicht die Rückkehr zur Religion. Sondern indem wir resonant für 203 13.3 Die Tiefe des Lebens erfahren und resonant werden für die Welt sie werden und staunen, dass die Dinge einfach da sind und wie sie da sind, welche Sinnesqualitäten sie haben: „Ein frischer, feuchter Geruch liegt in der Luft. ‚Ja ist es nicht wunderbar? ‘, wiederholt Claudia“ (Schreier 1993, 156). Indem wir das Erklären auslaufen lassen, können wir in Resonanz zu den Dingen treten (Thomas 2020). Denken wir von hier aus an William James’ Erforschung heiliger Gefühle, dann wird deutlich: In der Geschichte Wenn es regnet geht es genau darum, es geht um etwas Ernstes und Zartes, das keinen Spott vertragen kann. Rosa beschreibt Resonanzsphären. Das Beispiel Arbeit. Verstehen wir den modernen naturwissenschaftlich-technischen Weltbezug als ein Verstum‐ men der Welt (Rosa 2020 (a), 517 ff.), dann können wir die Bereiche unseres Lebens daraufhin untersuchen, wo und wie wir mit den Dingen doch wieder in eine Resonanzbeziehung treten können. Rosa nennt Familie, Freundschaft, Politik, Arbeit, Sport und Konsum, Religion, Natur und Kunst (Rosa 2020 (a), 341 ff.). Betrachten wir das Beispiel Arbeit: Hier geht es zunächst um Entfremdung. Indem der Lohnarbeiter seine Arbeit verkauft, ist er gezwungen, ein instrumen‐ telles Verhältnis zu ihr und zum bearbeiteten Stoff […] einzunehmen. […] Produkt und Stoff antworten nicht ihm, sondern […] dem zum Subjekt des Produktions‐ prozesses gewordenen Kapital [welches durch Investition und Arbeit vermehrt werden möchte, aber natürlich jederzeit auch vernichtet werden kann, Ph.Th.]. (Rosa 2020 (a), 397, Hervorhebung i. O.) Auch wenn dieses Grundproblem an unserem Wirtschaftssystem selbst hängt und nur mit diesem zusammen verändert werden kann: Es gibt doch einen gewissen Spielraum für die Resonanzbeziehung. So kämpfen die Gewerkschaften explizit für gute Arbeit und nicht nur für gute Bezahlung. Die Anerkennung durch Vorgesetzte muss echt sein. Arbeitende müssen sich über ein zusammen geschaffenes Gemeinwohl (das Gute für uns als Gemeinschaft, nicht nur als Individuen) mit dem Ganzen verbunden fühlen (Rosa 2020 (a), 398 f.). Arbeit in daoistischer Einstellung. Beim Versuch, unsere Arbeit als Reso‐ nanzsphäre zu erfahren, kann uns auch der daoistische Weltbezug helfen (Kap. 6; Thomas 2020, 151 ff.). Vereinfacht gesagt geht es darum, dass wir aus dem Verstehen und Erklären der Dinge aus- und in den erfahrenden und leiblichen Umgang mit ihnen einsteigen. Intuition (Kap. 6) kann Resonanz bedeuten. 204 13 Können wir die Welt lieben? Wir dachten, es kommt darauf an, alles zu kritisieren Weder zu weich noch zu hart [dürfen die Stöße des Hammers beim Meißeln des Holzrades sein, Ph.Th.] - man kann es in den Fingern erlangen und im Herzen dafür resonanzfähig (ying) werden, aber der Mund kann es nicht ausdrücken. (Zhuangzi 2012, 180 f.) Das Beispiel ‚Selbst-Natur-sein‘. Resonanz gelingt besser, wenn wir uns selbst nicht ausschließlich als kognitives Erkenntnissubjekt verstehen. Stattdessen können wir unser Erfahren breiter beschreiben: als etwas, das immer auch leiblich-seelisch geschieht. Bezogen etwa auf Natur, auf Tiere und Pflanzen, bedeutet das: Wir sehen Natur nicht als Ressource, nicht als Material, nicht als Objekt, sondern als etwas, das uns verwandt und von derselben Art ist wie wir selbst (Thomas 1996; 2020, 179 ff.). Unsere Beziehung ist kein distanziertes Erkennen mehr, sondern ein Mit-sein: Wir selbst sind Natur. Und als Natur vollziehen wir leiblich-seelisch die andere Natur mit, ob den Wuchs einer Pflanze oder die Bewegung eines Tieres. Die verkümmerte Gestalt einer Krüppelkiefer an der Baumgrenze etwa können wir ‚von innen heraus‘ mitvollziehen, weil wir am eigenen Leibe erfahren haben, was das ist: das Harte, das Widerständige des Lebens, der Mangel (Thomas 2020, 188). In der Resonanzbeziehung mit der Natur können wir ‚Themen‘ entdecken, die alle Lebewesen verbinden. Eine mögliche Empathie bezieht sich stets auch auf Qualitatives das sich […] als […] Themen […] beschreiben lässt. Das geteilte Natur-sein bezieht sich auf Wachsen, Raum-Gewinnen, Sich-Erhalten, Sich-Fortpflanzen. Auf kreatürliche Last und kreatürliche Lust […] auf das von Leben durchströmte und lebendig ‚wie in seinem Element‘ sich bewegende Sein. (Thomas 2020, 199) Resonanz als Erfahrung von Tiefe. Was hat diese Resonanz in der Naturer‐ fahrung mit der Liebe zur Welt und mit der Tiefe des Lebens zu tun? Es geht um das Qualitative, um die Erfahrung, wie sich etwas anfühlt. Die Qualität eines Löffel Zuckers ist seine Süße (die wir nur selbst schmecken können), seine Quantität ist sein Gewicht und Volumen (das wir objektiv bestimmen können). Entsprechend ist hier gemeint: Wie es sich anfühlt, ein Lebewesen zu sein, darauf bezieht sich unsere Einfühlung, also auf das Qualitative. Zu spüren, dass wir verwandt und in vielem eins sind mit anderen Lebewesen, das kann uns entlasten und uns helfen zu vertrauen. Mit der Natur, die uns umfängt, von gleicher Art, eins mit ihr im Betreiben, im Erleiden jenes Geschäfts, welches Leben, welches lebendes Werden-Vergehen überall bedeutet, müssen wir uns weder selbst hervorbringen noch uns um 205 13.3 Die Tiefe des Lebens erfahren und resonant werden für die Welt jeden Atemzug sorgen noch unsere Endlichkeit als ein Scheitern verstehen […]. (Thomas 2020, 200) Es lässt sich „von Momenten der Fülle und Tiefe des Lebens sprechen, die in kontemplativer Naturerfahrung immer wieder zugänglich werden“ (Thomas 2020, 200). In der Moderne fällt der Mensch hinaus aus der allbeseelten oder göttlich bestimmten Welt (Taylor). Durch Resonanz (Rosa) können wir uns wieder getragen fühlen: Indem wir den erklärenden Weltzugang unter‐ brechen (Wenn es regnet), kann die Welt in ihren Sinnesqualitäten und sogar als Wunder erscheinen. Indem wir leiblich-seelisch mitgehen mit anderen Lebewesen (Selbst-Natur-sein), kann sich unsere distanzierte Erkenntnisbeziehung verwandeln in eine resonante Seinsbeziehung. Ihre Antwort auf die Frage Ihrer Schüler: innen: Ihre Schüler: innen fragen: Müssen wir die Welt lieben? Wir dachten, es kommt darauf an, alles zu kritisieren. So könnten sie antworten: ▸ Natürlich können wir alles kritisieren und distanziert oder gar spöttisch betrachten. Doch wir kennen auch Ernst und Ehrfurcht und Glaube an etwas absolut Gutes. Indem wir uns darüber aus‐ tauschen, geben wir diesen Gefühlen Raum - und eine Sprache. Sie sind privat und öffentlich zugleich. ▸ Bildung bedeutet, kritisch denken zu lernen. Bildung bedeutet auch, einen Wert darin zu sehen, z. B. in der Perspektive eines Fachs (ob Mathematik oder Kunst oder …) in Ruhe und in einer liebenden Haltung die Welt erschließen zu können. Das ist nichts Peinliches, sondern etwas Wertvolles: Kostbares in der Welt zu entdecken und die Welt als kostbar zu erfahren. ▸ Manchmal ist es richtig, die Dinge distanziert und wissenschaft‐ lich zu erklären oder technisch zu sehen: Wie erreiche ich am effektivsten mein Ziel? Doch dann wieder ist eine andere Haltung wichtig, man kann sie Resonanz nennen: Wir können mit unserer Umwelt mitschwingen. Die Dinge hören auf, bloßes Material oder Ressource zu sein. Stattdessen zeigen sie sich neu: lebendig und nah. Wir gehen mit ihnen mit und spüren eine neue Tiefe. 206 13 Können wir die Welt lieben? Wir dachten, es kommt darauf an, alles zu kritisieren Wenn Sie sich noch weiter interessieren Seit JAMES Religion als etwas Soziales und Psychologisches untersucht hat, gab es immer wieder die These, dass religiöse Phänomene in der Moderne nicht einfach verschwunden sind, sondern außerhalb der Religionen wei‐ terleben, trotz der Säkularisierung, also des Rückgangs des Einflusses der Religion auf das tägliche Leben. Wenn Sie sich dafür interessieren, lesen Sie TAYLOR 2009 (ideengeschichtlich), JOAS 2017 (soziologisch) oder COLPE 1990 (religionswissenschaftlich). Ein solches ehemals religiöses Phänomen, das aber ohne Religion be‐ schrieben werden kann, ist die Unverfügbarkeit, also die Unmöglichkeit, sich und das Meiste im Leben und der Welt selbst hervorzubringen. Dieses Phänomen macht einen Teil der Tiefe des Lebens aus. Lesen Sie hierzu THOMAS 2006, 2020 und ROSA 2020 (b). Ein weiteres solches ehemals religiöses Phänomen ist die Liebe zu etwas, das einen absoluten Wert in sich trägt ( JONAS, LEVINAS, Kap. 3.2), ja, die Liebe zur ganzen Welt (ARENDT, Kap. 10.2.4; s. a. Kap. 14.5). Lesen Sie hierzu VLIEGHE et al. 2019, 35 ff., 149 ff. und THOMAS 2020, 235ff. 207 Wenn Sie sich noch weiter interessieren 14 Ist Herzensbildung wichtiger als Selbstdurchsetzung? (Hume, Empathieforschung, Wang Yangming, Scheler) Liebe, Pflicht, Schicklichkeit und Weisheit sind nicht von außen her uns eingetrichtert, sie sind unser ursprünglicher Besitz, die Menschen denken nur nicht daran. M E N Z I U S (1994, 163) Worum geht es? Ihre Schüler: innen sehen nicht recht ein, wozu das gut sein soll: ein feines, liebevolles Verhalten zu entwickeln, sich in die anderen einzu‐ fühlen und zueinander gut zu sein. Sie fragen: Wollen Sie, wie unsere Eltern, uns einfach ein gutes Benehmen beibringen? Und müssen wir nicht lernen, uns Tag für Tag in der rauen Wirklichkeit durchzusetzen? Was können Sie Ihren Schüler: innen antworten? Genauer geht es um Folgendes: ▸ Wie können Sie werben dafür, nicht nur hart, sondern auch weich zu sein? ▸ Welche Rolle spielt dabei die Empathieforschung? ▸ Welche Beispiele aus der Geschichte und aus anderen Kulturen zeigen die globale und Menschen verbindende Dimension der Herzensbildung? ▸ Wie könnten Sie Ihren Schüler: innen erklären, was das eigentlich bedeutet: einen Menschen zu lieben? Und weshalb diese ‚Schwä‐ che‘ eine Stärke ist? 14.1 Was ist mit Herzensbildung gemeint? Ein erstes Beispiel. Ein Sprichwort sagt, Geben sei seliger als Nehmen. Herzensbildung heißt dann: zu spüren, was anderen guttut und dies gern für sie zu tun. In diesem Sinn verfügen die beiden Menschen in folgendem Beispiel über Herzensbildung: Jakob Fabian, Anfang Dreißig und promo‐ vierter Germanist, muss in Erich Kästners Roman Fabian. Die Geschichte eines Moralisten im Berlin der 1920er Jahre ums wirtschaftliche Überleben kämpfen. In einem möblierten Zimmer wohnend, ist er froh, in der Werbe‐ abteilung einer Zigarettenfabrik Arbeit zu haben, wird aber später auch dort entlassen. Seiner besorgten Mutter, die ihm liebevolle Briefe aus der heimatlichen Kleinstadt schreibt und selbst in ärmlichen Verhältnissen lebt, verschweigt er, dass er arbeitslos geworden ist. Als sie ihn für ein paar Tage in seinem möblierten Zimmer besucht, gibt er morgens immer vor, zur Arbeit zu gehen. Bei ihrer Heimfahrt treffen sie sich daher gleich am Bahnhof. Dort kauft Fabian ihr, obwohl er kein Geld mehr hat, für die Fahrt etwas zu essen und schiebt ihr, schon im Eisenbahnwaggon, heimlich einen Zwanzigmarkschein in die Handtasche. Wieder in seinem Zimmer angekommen, findet er einen Gruß seiner Mutter: Auf dem Tisch standen Blumen. Ein Brief lag daneben. Er öffnete ihn. Ein Zwanzigmarkschein fiel heraus, und ein Zettel. ‚Wenig mit Liebe, Deine Mutter‘, war daraufgeschrieben. In der unteren Ecke war noch etwas zu lesen. ‚Iß das Schnitzel zuerst. Die Wurst hält sich in dem Pergamentpapier mehrere Tage.‘ Er steckte den Zwanzigmarkschein ein. Jetzt saß die Mutter im Zug, und bald mußte sie den anderen Zwanzigmarkschein finden, den er ihr in die Handtasche gelegt hatte. Mathematisch gesehen, war das Ergebnis gleich Null. Denn nun besaßen beide dieselbe Summe wie vorher. Aber gute Taten lassen sich nicht stornieren. Die moralische Gleichung verläuft anders als die arithmetische. (Kästner 1998, 121) Gerade indem die guten Taten der beiden einander rechnerisch aufheben, tritt der besondere Stoff vor Augen, aus dem das Gute besteht: Es ist immateriell, unsichtbar und schwer zu fassen. Es scheint ohnmächtig und wie ein Nichts angesichts der Gesamtsituation, und ist doch von großem Gewicht. Die beiden Personen haben einen Sinn dafür. Sie sind arm, doch sie haben Herzensbildung. Der Begriff Herzensbildung wird mal als Prozess (das Herz bilden) und mal als Ziel oder Zustand verwendet (über ein gebildetes Herz verfügen). Denken Sie beim Lesen am besten immer an beide Bedeutungen. Herzensbildung als Moral Sense und Empathie. Einen Sinn für dieses flüchtige und wertvolle Etwas zu entwickeln, darum geht es in der Herzens‐ bildung. Dies geschieht gegen die Gier nach Macht in der Welt und in uns selbst. Eine erste Facette der Herzensbildung lässt sich in der Tradition des Moral Sense der schottisch-irisch-englischen Aufklärung erkunden. 210 14 Ist Herzensbildung wichtiger als Selbstdurchsetzung? Beispiel ist hier der Philosoph David Hume (1711-1776), der beschreibt, wie Menschen sehr sensibel spüren können, was ihren Mitmenschen guttut (Kap. 14.2). Hier schließt sich das Phänomen der Empathie an, wie es die moderne Wissenschaft erforscht (Kap. 14.3). Herzensbildung mit dem Ziel, durch Liebe die Welt in die rechte Ordnung zu bringen. Eine zweite Bedeutung von Herzensbildung betrifft den Wunsch, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Dass die bessere Welt nicht nur durch die große Politik hervorgebracht wird, sondern auch durch das gute Verhalten jedes einzelnen, ist Teil der (neo-)konfuzianischen Tradition. Konfuzius (ca. 551-479) spielt in der asiatischen Kultur eine enorm wichtige Rolle. Seine Lehre wurde aufgegriffen etwa von Menzius (370-290) und später in der wichtigen Ming-Dynastie (1368-1644) von einem Philosophen wie Wang Yangming (1472-1529) (Kap. 14.4). Die Menschen sollten, so diese Lehre, an sich selbst arbeiten, sollten vor allem ihre Fähigkeit zu Mitgefühl und Liebe ausbilden, damit die Familie und die Gemeinschaft, ja der Staat und die ganze Welt gut werden. Herzensbildung als Fähigkeit zu lieben und als Möglichkeit, an das Gute zu glauben. Trotz all des Problematischen, ja all des Schrecklichen in der Welt an das Gute zu glauben, das kann kaum rational begründet werden. Sondern dieser Glaube kann sich etwa aus der Erfahrung der Liebe speisen, sowohl des aktiven Liebens als auch des Geliebtwerdens (Thomas 2020, 237 ff.). Bei der Liebe können wir ansetzen, um zu verstehen, was das Wichtigste ist und in welche Richtung wir uns orientieren sollen. Herzensbildung als Fähigkeit zu lieben möchte ich Ihnen an der Philosophie Max Schelers (1874-1928) zeigen (Kap. 14.5). Herzensbildung ist der Sinn dafür, was anderen Menschen guttut. Die schottisch-irisch-englische Aufklärung (hier: Hume) beschreibt dies als eigenen menschlichen Sinn, den Moral Sense. Die moderne Wissenschaft untersucht dies als Empathie. In der neokonfuzianischen Tradition (hier: Wang Yangming) trägt das liebevolle Handeln zur guten Welt bei. Schließlich kann Herzensbildung heißen, unsere Fähigkeit zu lieben auszubilden (hier: Scheler). 211 14.1 Was ist mit Herzensbildung gemeint? 14.2 Wir Menschen haben einen Sinn dafür, was anderen guttut, den Moral Sense (Hume) Kommt das Gute eher aus dem Kopf oder eher aus dem Herzen? Ist der Mensch eher gut oder eher böse? Für den schottischen Philosophen David Hume (1711-1776) können diese Fragen offenbleiben, bzw. können mit dem Hinweis beantwortet werden, dass natürlich stets beides zutrifft. Der Sinn für das Gute umfasst beides: Gefühl und vernünftige Einsicht. Hume argumentiert auch, dass manches Gute eher mit, anderes eher ohne Gefühl getan wird und dass sich die Unterscheidung zwischen Kopf und Herz ohnehin schlecht halten lässt, weil diese Begriffe zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Sprachen Verschiedenes bedeuten (Hume 1996, 246 f.). Ähnlich ist es bei der Frage, wie stark und einflussreich der Moral Sense überhaupt ist: Es genügt, wenn zugegeben wird, was sicherlich ohne die größte Absurdität niemals be‐ stritten werden kann, daß ein gewisses, egal wie geringes Maß an Wohlwollen in unserem Herzen wohnt, ein Funke Freundschaft für die Menschheit; daß etwas vom Wesen der Taube neben Elementen des Wolfes und der Schlange in unser Gemüt verwoben ist. Man mag diese großzügigen Empfindungen auch für noch so schwach halten; mögen sie auch nicht einmal stark genug sein, um eine Hand oder einen Finger unseres Körpers in Bewegung zu setzen, so müssen sie dennoch die Entscheidungen unseres Geistes leiten; und unter sonst gleichen Voraussetzungen eine kühle Bevorzugung dessen bewirken, was für die Menschheit nützlich und dienlich ist gegenüber dem, was schädlich und gefährlich ist. (Hume 1996, 199) Aber diese Grundlagen, müssen wir bemerken, sind sozial und universell; sie bilden, in einem gewissen Sinn, die Partei der Menschheit gegen Laster und Unordnung, ihren gemeinsamen Feind. (Hume 1996, 204) Der Moral Sense ist die Fähigkeit, mit anderen Menschen mitzufühlen. Etwas Friedfertiges ist in uns allen - neben viel Aggression und Verlogenheit. Hume begeistert sich dafür, wie fein, wie sensibel unser Gespür für den Mitmenschen ist. So wie eine Saite auf einem Instrument auch dann mit‐ schwingt, wenn eine benachbarte Saite angeschlagen wird, so fühlen wir spontan die Gemütsbewegungen unserer Mitmenschen mit (Hume 1978, 329). Ein weiteres Beispiel: Wir leiden mit einem Menschen mit, der stottert. Wenn wir einen Text mit schwierigen Textstellen überfliegen, stellen wir 212 14 Ist Herzensbildung wichtiger als Selbstdurchsetzung? uns vor, „jemand lese sie uns vor und leide unter dem Aussprechen dieser dissonierenden Laute. So zart ist unser Mitgefühl! “ (Hume 1996, 147). Und wenn wir einen Menschen sehen, der einen anderen umsorgt und ganz auf dessen Vorteil schaut, dann empfinden wir Zuneigung und Liebe für diesen liebevollen Menschen (Hume 1978, 359). Der Moral Sense erkennt das menschlich Gute unabhängig von eigenen Interessen. Weshalb bewundern wir gute Taten, die schon lang vergangen sind und die uns in keiner Weise betreffen? Hier erfahren wir unseren Moral Sense. Wir loben häufig tugendhafte Handlungen aus längst vergangenen Zeiten und Ländern, wobei auch die subtilste Einbildungskraft keinen Anschein von Eigen‐ interesse entdecken oder eine Verbindung unseres gegenwärtigen Glücks und unserer Sicherheit mit so fernliegenden Ereignissen auffinden könnte. Eine großzügige, eine mutige, eine edle Tat, von einem Gegner vollbracht, nötigt uns Anerkennung ab. (Hume 1996, 137) Ein Beispiel für eine bewunderungswürdige Tat. Am 6. April 1966 kam es über Westberlin zu einem Flugzeugabsturz eines sowjetischen Militär‐ flugzeugs, das in seiner neuen Technik noch geheim war (www.deutsch landfunk.de/ umstrittenes-gedenken-die-verhinderten-helden-vom.922.de.h tml? dram: article_id=476291, 19.07.2021). Westberlin war damals umgeben von der Deutschen Demokratischen Republik, in der sowjetische Truppen stationiert waren. Die Piloten Boris Wladislawowitsch Kapustin und Juri Nikolajewitsch Janow sollten das Flugzeug von einem Flughafen nördlich von Berlin überführen zu einem Standort südlich von Berlin und überflogen dabei das ‚feindliche Ausland‘ Westberlin. Als aufgrund eines technischen Defekts die Maschine abzustürzen begann, lautete der Befehl für die Piloten, sich mit dem Schleudersitz zu retten. Weil das aber bedeutet hätte, dass das Flugzeug in Häuserblocks stürzen und es viele Tote geben würde, steuerten die Piloten das Flugzeug gezielt und erfolgreich in den relativ kleinen Stöß‐ ensee bei Spandau, obwohl sie wussten, dass sie beim Aufschlag umkommen würden. Kapustin und Janow wurden für ihre Tat in der Sowjetunion zwar geehrt. Kapustin wurde der Ehrentitel ‚Held der Sowjetunion‘ aber nicht erteilt, weil er einen Befehl verweigert hatte. Stellen wir uns die längst vergangene Situation vor, können wir kaum anders, als die Tat der Piloten zu bewundern. 213 14.2 Wir Menschen haben einen Sinn dafür, was anderen guttut, den Moral Sense Mit Hume können wir davon sprechen, dass es in uns ein Gefühl für und eine Einsicht in dasjenige gibt, was gut ist für unsere Mitmenschen (Moral Sense). Herzensbildung ist der unscharfe Überbegriff. Moral Sense (Kap. 14.2), Empathie (Kap. 14.3) und universelle (Kap. 14.4) und auf einen Menschen bezogene Liebe (Kap. 14.5) sind Aspekte der Herzensbildung. Dieser Sinn mag schwach sein im Vergleich zu anderen Antrieben menschlichen Handelns. Den Moral Sense zu fördern heißt, das Herz zu bilden. 14.3 Was können wir aus wissenschaftlichen Ergebnissen zur Empathie lernen? Ein Befund und mehrere kritische Überlegungen. In der Empathieforschung hat man herausgefunden, dass bei Menschen, die einen Schmerz anderer Menschen wahrnehmen, die für den Schmerz zuständigen Regionen ihres Gehirns aktiv werden (Singer et al. 2015, 257 f.). Doch die Mehrheit der Forscher: innen setzt die hier wichtigen sogenannten Spiegelneuronen nicht einfach mit einem wünschenswerten Mitgefühl gleich und lehnt es ab, aus diesen Neuronen besondere moralische Eigenschaften der Menschen abzuleiten (Pinker 2013, 855). Hintergrund: Spiegelneuronen sind solche Neuronen (Nervenzellen) im Gehirn höherer Affen und Menschen, die aktiv werden, wenn bei jemand anderem eine Handlung beobachtet wird - genauso, wie wenn man diese Handlung selbst ausführt. Tatsächlich lassen sich mindestens vier kritische Überlegungen anstellen. Erstens ist die Fähigkeit zur Empathie auch bei Schadenfreude oder beim absichtlichen Quälen anderer eine Bedingung. Zweitens: Auch die ‚gute‘ Empathie kann problematisch sein, wenn sie, etwa in sozialen Berufen, in denen man sich schlecht von den Schicksalen leidender Menschen distan‐ zieren kann, zu Stress und Burnout führt. Dieses Übermaß an Mitgefühl kann durch ein aufwändiges Training vermindert und überführt werden in 214 14 Ist Herzensbildung wichtiger als Selbstdurchsetzung? eine stabilere, unterstützende und hilfreiche Einstellung (Singer et al. 2015, 258 f.). Drittens kann es Einfühlung und Altruismus auch aus egoistischen Gefühlen geben, etwa, um vor anderen gut dazustehen (Pinker 2013, 866). Und viertens ist Empathie für die universalistischen Anforderungen einer echten Ethik nicht schon die Lösung. Ähnlich wie besonders niedlich aussehende Säugetiere mehr Mitleid und mehr Bereitschaft zum Tierschutz auslösen als andere, ebenso schützenswerte Tiere, kann es problematisch sein, das gute Handeln gegenüber Menschen abhängig davon zu machen, wieviel Mitgefühl sie auslösen (Pinker 2013, 860, 876). So kommt Pinker schon aus Sicht der evolutionären Psychologie, die menschliches Verhalten vor dem Hintergrund der Naturgeschichte verstehen möchte und nach dem Sinn der Entstehung dieses Verhaltens in der Evolution fragt, zu folgendem Schluss: Es sind auch abstrakt-moralische Argumente notwendig, damit die in uns ange‐ legten Einschränkungen der Empathie überwunden werden. Das Ziel sollten letztlich Vorgehensweisen und Normen sein, die uns zur zweiten Natur werden und Empathie unnötig machen. Empathie ist genau wie Liebe in Wirklichkeit nicht alles, was man braucht. (Pinker 2013, 877) Empathie allein reicht nicht. Wir brauchen auch Ethik und Recht. In welchem Verhältnis stehen Herzensbildung, Moral Sense, Empathie und Ethik? Oben hieß es: Herzensbildung ist der unscharfe Überbegriff. Moral Sense (Kap. 14.2), Empathie (Kap. 14.3) und universelle (Kap. 14.4) und auf einen Menschen bezogene Liebe (Kap. 14.5) sind Aspekte der Herzensbildung. Jetzt können wir ergänzen: Innerhalb der Empathie müssen wir unterscheiden zwischen moralisch guter Empathie (Pinker 2013, 853: „mitfühlende Besorgnis“, Hervorhebung i. O.) und Empathie etwa im Fall der Rache (Pinker 2013, 856). Nur die wünschenswerte und moralisch gute Empathie ist ein Aspekt der Herzensbildung und nur sie bedeutet Ähnliches wie der Begriff Moral Sense. Wie erkennen wir die moralisch gute Empathie und wie können wir sie von der schlechten (z. B. Rache) unterscheiden? Hier ist unsere ethische Urteilsfähigkeit gefragt (Kap. 3). Schließlich gilt: Wollen wir eine Gesellschaft organisieren, brauchen wir ethische Werte und rechtliche Regelungen, welche ein gutes Verhalten sicherstellen, auch wenn uns selbst die gute Empathie einmal fehlt. 215 14.3 Was können wir aus wissenschaftlichen Ergebnissen zur Empathie lernen? Menschen sind von Natur aus empathisch. Empathie ist eine mehrdeu‐ tige Eigenschaft, die in eine gute (z. B. Hilfsbereitschaft), aber auch in eine schlechte (z. B. Schadenfreude) Richtung neigen kann. Im guten Sinn meint Empathie Ähnliches wie der Moral Sense. Doch wir brauchen darüber hinaus auch Ethik und Recht, damit gutes Verhalten nicht immer von Empathie abhängt. 14.4 Es kommt darauf an, unseren Sinn für das Gute auszubilden und auszudehnen auf die ganze Welt (Menzius, Wang Yangming) Menzius glaubt an das Gute im Menschen. Der chinesische Philosoph Menzius (ca. 370-290) führte die Philosophie des Konfuzius (ca. 551-479) fort und ist bekannt für sein positives Menschenbild (Menzius 1994, 36). Ähnlich wie 2000 Jahre später die Philosophen der schottisch-irisch-englischen Aufklärung beschrieb er einen Sinn für das Gute im Menschen. Mong Dsï sprach: „Jeder Mensch hat ein Herz, das anderer Leiden nicht mit ansehen kann. […] Daß jeder Mensch barmherzig ist, meine ich also: Wenn Menschen zum erstenmal ein Kind erblicken, das im Begriff ist, auf einen Brunnen zuzugehen, so regt sich in aller Herzen Furcht und Mitleid. Nicht weil sie mit den Eltern des Kindes in Verkehr kommen wollten, nicht weil sie Lob von Nachbarn und Freunden ernten wollten, nicht weil sie üble Nachrede fürchteten, zeigen Sie sich so. […]“ (Menzius 1994, 74) Menzius zufolge gibt es im Menschen also einen Sinn für das Gute, der nicht einfach erlernt und der auch unabhängig vom eigenen Vorteil ist, etwa dem höheren Ansehen der guten Taten in der Gemeinschaft. Dieser Sinn kann kultiviert werden (das wäre dann Herzensbildung) oder er kann vernachlässigt werden: „‚Wer sucht, bekommt sie [die innere Begabung für das Gute, Ph.Th.]; wer sie liegen läßt, verliert sie‘“ (Menzius 1994, 163). Der Neokonfuzianist Wang Yangming führt Menzius’ Philosophie fort. Wang Yangming (1472-1529) nahm Menzius’ Beispiel vom Kind, das auf einen Brunnen zuläuft, auf. Zugleich beschrieb er die Fähigkeit des Men‐ schen, mit anderen Menschen und auch mit anderen Lebewesen, ja sogar 216 14 Ist Herzensbildung wichtiger als Selbstdurchsetzung? mit unbelebten Dingen mitfühlen zu können. Die Empathie ist kosmisch (Ching 1976, 126 ff.). […] when he sees a child about to fall into a well, he cannot help a feeling of alarm and commiseration. This shows that his humanity forms one body with the child. It may be objected that the child belongs to the same species. Again, when he observes the pitiful cries and frightened appearance of birds and animals about to be slaughtered, he cannot help feeling an ‚inability to bear‘ their suffering. This shows that his humanity forms one body with birds and animals. It may be objected that birds and animals are sentient beings as he is. But when he sees plants broken and destroyed, he cannot help a feeling of pity. This shows that his humanity forms one body with plants. It may be said that plants are living things as he is. Yet, even when he sees tiles and stones shattered and crushed, he cannot help a feeling of regret. This shows that his humanity forms one body with tiles and stones. (Wang Yangming 1963, 272) Empathie als Gefühl des Einsseins und der universellen Liebe. Wang Yangming geht es um mehr als um eine besondere Wahrnehmung aller Dinge. Wir befinden uns nicht länger wahrnehmend gegenüber der Welt und fühlen uns von dort in die Dinge ein, sondern wir entdecken, dass wir mit allem eins sind. Die Wahrnehmungswird zu einer Seinsbeziehung (vgl. Thomas 2020, 166 f., 195). Wang Yangming will sagen: Das eigentliche Ziel unserer Ein- und Einsfühlung ist eine universelle Liebe - und erst in dieser werden wir ganz zu Menschen: Everything from ruler, minister, husband, wife, and friends to mountains, rivers, spiritual beings, birds, animals, and plants should be truly loved in order to realize my humanity that forms one body with them, and then my clear character will be completely manifested, and I will really form one body with Heaven, Earth, and the myriad things. (Wang Yangming 1963, 273) […] all under Heaven is one family […] So long as there is yet one man who has not received the benefit [of good government], it will be as though I myself pushed him into a ditch. (Ching 1976, 211, Klammer im Original) Einssein, Gerechtigkeit, Verantwortung. Die Fähigkeit, sich mit allem zu identifizieren und eins zu sein, ist unmittelbar verbunden mit einem univer‐ salen Gerechtigkeitsgefühl (Ching 1976, 119 ff.). Der ideale Zustand ist erst erreicht, wenn alle und alles teilhaben am Guten. Ziel ist eine Harmonie des Ganzen: der Familie, der Gemeinschaft, des Staats und der ganzen Welt. Der 217 14.4 Es kommt darauf an, unseren Sinn für das Gute auszubilden und auszudehnen Sinn für das Gute ist der Sinn für die gute Harmonie und die gute Ordnung. Das Gute zu entwickeln heißt einzutreten in die Ordnung des Ganzen. Die Welt kann in Harmonie, sie kann gut sein. Diese spezifisch neokon‐ fuzianische Weise, die Welt zu erfahren und zu denken, geht noch über die gute Tat aus Erich Kästners Roman Fabian hinaus, als sich Mutter und Sohn gegenseitig Zwanzigmarkscheine zusteckten (Kap. 14.1). Hier leuchtete Herzensbildung als ein kleines Zeichen, das Mut machte vor dem Hintergrund der schlechten Welt. Im europäischen Denken gibt es eher den Gegensatz zwischen Kopf und Herz, im klassisch chinesischen ist das Herz das Zentrum des Menschen und umfasst sowohl die kognitive Steuerung als auch den Moral Sense (Yu 2009, 36 ff.). Konfuzius, Menzius und Wang Yangming dagegen gehen von der Möglichkeit einer guten und harmonischen Welt aus, die aber der Mithilfe der Menschen bedarf, um zu einer kosmischen Harmonie zurückkehren zu können. Um dieses Ziel zu erreichen, brauchen wir Menschen universelle Liebe. Wenn wir uns dagegen der Gier und der Angst hingeben, statt diese in täglicher Übung zu überwinden, kommt das Böse in die Welt (Ching 1976, 147 ff.): When it [the mind, Ph.Th.] is aroused by desires and obscured by selfishness, compelled by greed for gain and fear for harm, and stirred by anger, he will destroy things, kill members of his own species, and will do everything. (Wang Yangming 1963, 273) Es geht darum, in einer liebenden Haltung unser ursprüngliches Einssein mit allem zu erfahren und nach allen Richtungen zum Guten beizutragen. Auch soll sich der Mensch laufend selbst kultivieren, d. h. immer wieder seinen Egoismus, seine Angst, seinen Zorn und seine Gier überwinden. Dem Neokonfuzianismus geht es um eine Harmonie des Ganzen. Die Einfühlung wird ausgeweitet zu einer ‚Einsfühlung‘ mit allen Lebewe‐ sen und Dingen. In universeller Liebe und im aktiven Tun des Guten verwirklichen wir uns als Menschen und tragen bei zu einer besseren Welt. 218 14 Ist Herzensbildung wichtiger als Selbstdurchsetzung? 14.5 An einen Menschen glauben. Herzensbildung als Fähigkeit zu lieben (Scheler) Moral Sense, liebende Verbundenheit, Liebe. Bei Hume (Kap. 14.2) ging es darum, unser Mitgefühl mit anderen zu stärken und das Bewunderungswür‐ dige wirklich guter Taten lebendig nachzuempfinden. Im Neokonfuzianis‐ mus (Kap. 14.4) ging es darum, unser Einssein mit Allem zu erfahren und uns so zu verhalten, dass wir zum Gutwerden des Ganzen beitragen. In diesem Unterkapitel (Kap. 14.5) wird Herzensbildung als Liebesfähigkeit vorgestellt, welche am Geliebten das Beste sehen und dadurch ganz neue Möglichkeiten eröffnen kann. Liebe 1: von Vorteilen und eigenen Interessen absehen. Der Philosoph Max Scheler (1874-1928) beschreibt Liebe als eine ganz eigene Wahrnehmung. Der Satz also: „Liebe geht auf die Gegenstände, wie sie sind“ ist zweifellos richtig. […] Nur darf dieses „wie sie sind“ eben nicht falsch gefaßt werden; es darf nicht gleichgesetzt werden mit: „wir lieben die Gegenstände mit den Werten, die wir an ihnen fühlen“, oder „durch diese Werte hindurch die Gegenstände“. (Scheler 1973, 162) Worum geht es bei der liebenden Wahrnehmung nicht? Darum, dass uns etwas einen Vorteil bringt oder unsere Werte zeigt und wir es deshalb lieben. Liebe 2: im Geliebten sehen, was alles noch möglich ist, was ideal wäre. Stattdessen entdeckt Liebe die geliebte Person so, wie sie eigentlich ist: Denn eben diese Auffassung [dass wir etwas nur lieben, weil es für uns wertvoll ist, Ph.Th.] nimmt der Liebe den Bewegungscharakter, der ihr nun einmal zuge‐ hört. Das „Sein“, um das es sich hier handelt, ist eben jenes „ideale Sein“ ihrer, das weder ein existential-empirisches Sein ist, noch ein „Seinsollen“. (Scheler 1973, 162, Hervorhebung i. O.) In der Liebe entdecken wir das Ideal des Geliebten: was das Geliebte noch nicht ist, was es aber noch werden kann. Das Geliebte ist nicht einfach vorhanden, das wäre das existential-empirische Sein. Das Geliebte ist aber auch nicht etwas, was nach einer bestimmten moralischen Vorstellung so und so sein soll oder zu sein hat. Das wäre das ‚Seinsollen‘. Also: Das Sein dessen, was wir lieben, ist weder Vorhandensein noch Seinsollen, „sondern ein Drittes […] dasselbe ‚Sein‘ z. B., das in dem Satze liegt: ‚Werde der du bist‘“ (Scheler 1973, 162, Hervorhebung i. O.). 219 14.5 An einen Menschen glauben. Herzensbildung als Fähigkeit zu lieben Für die Liebe ist sichtbar, was eigentlich noch unsichtbar ist, vielleicht eine Art Optimum oder Ideal der Person, die wir lieben. Hinter all ihren Hem‐ mungen und Fehlern, hinter ihren Schwierigkeiten, sie selbst zu werden, liegen ungeahnte Möglichkeiten, welche sich nur der liebenden Wahrneh‐ mung zeigen. Liebe 3: Aber macht Liebe nicht blind, indem sie idealisiert? Scheler glaubt nicht, dass die Liebe blind, sondern dass sie sehend macht. In der Liebe machen wir uns keine Illusion vom Geliebten, sondern können überhaupt erst dessen eigentliche Wirklichkeit sehen. Häufig kommen nur die „kalten anderen“ zu dieser Meinung weil sie die beson‐ deren individuellen Werte nicht sehen, die im Gegenstand vorhanden sind, für die aber nur die Liebe das Auge schärft. Die ‚Blindheit‘ liegt dann auf der Seite der „kalten anderen“. Ja, das Wesen einer fremden Individualität, das unbeschreiblich ist und in Begriffen nie aufgeht […], tritt nur in der Liebe oder im Sehen durch sie hindurch ganz und rein hervor! […] In diesem Falle ist es eben der Liebende, der mehr Vorhandenes sieht als die anderen, und er ist es, und nicht die „anderen“, der dann das Objektive und Wirkliche sieht. (Scheler 1973, 163, Hervorhebung i. O.) Liebe 4: Jenseits der Illusion kann Liebe ein Potenzial der geliebten Person sehen. Ja, es gibt die Möglichkeit des Idealisierens einer Person. Verliebtheit kann illusionäre Gebäude errichten, kann ein Hirngespinst sein und blind machen (Thomas 2020, 215 ff.). Dies immer im Blick zu haben, ist wichtig. Doch das ist kein Argument gegen jene andere Fähigkeit der Liebe: In der Liebe können wir eben auch sehen, was alles in dem Geliebten steckt, welche Entwicklungsmöglichkeiten und Potenziale. Wir sehen vielleicht mehr als die geliebte Person selbst schon sieht. Wir sehen etwas Unsichtbares, etwas, das es noch gar nicht gibt, das es aber als Potenzial doch schon gibt. Liebe 5: Eine Person liebend sehen heißt, sie als unbegreiflich zu sehen. So scheint das Eigentliche am Geliebten das Unsichtbare zu sein. Oder auch: gerade dasjenige, was jenseits unserer Begriffe liegt, jenseits all der Gründe, die wir angeben können, um zu erklären, weshalb wir das Geliebte lieben. Scheler bezeichnet dieses Eigentliche, dieses Unbegreifliche nun als Person. Nur in der Liebe können wir jemanden überhaupt als Person/ Unbegreifliches wahrnehmen. Wo immer uns Individuen gegeben sind, da ist uns ein letztes gegeben, das in keiner Weise aus Merkmalen, Eigenschaften, Tätigkeiten zusammengesetzt wer‐ 220 14 Ist Herzensbildung wichtiger als Selbstdurchsetzung? den kann. […] Nun gilt aber für die individuelle Person, daß sie uns überhaupt nur durch und im Akte der Liebe […] zur Gegebenheit kommt. Die Gegenständlichkeit als „Liebesgegenstand“ ist gleichsam der Ort, wo allein die Person existiert […]. Denn wir werden dann immer gewahr, daß wir jede einzelne dieser Tatsachen [Eigenschaften der geliebten Person, Ph.Th.] wechselnd und abtretend zu denken vermögen [dass wir uns die Eigenschaften der geliebten Person nacheinander wegdenken können, Ph.Th.], ohne darum irgendwie aufhören zu können, diese Person zu lieben […]. Da bleibt immer ein „unbegründbares“ Plus. (Scheler 1973, 168, Hervorhebung i. O.) Liebe ist die Fähigkeit, die geliebten Eigenschaften und die Gründe für unsere Liebe einzuklammern und sie zu überschreiten, weil dahinter das Eigentliche liegt. Liebe ist die Fähigkeit, das Geliebte zu entdecken als eigentlich Unbekanntes, als Unbegreifliches, als Unerklärliches, als Uner‐ gründliches. Liebe 6: Nicht auf das Unerklärliche als solches kommt es an, sondern auf das Vertrauen in und auf den Glauben an dieses Unerklärliche. Doch in der Liebe geht es nicht darum, auf die Begrenztheit unseres Erkennens aufmerksam zu werden (Kap. 4), es geht nicht um etwas Negatives. Auch geht es nicht darum, die Person als etwas Irrationales zu entdecken. Sondern es geht um etwas Positives, nämlich um Vertrauen gegenüber dem Unerklärlichen des Geliebten. Zu dem geliebten Menschen sagen wir: Werde, wer Du bist - oder sein oder noch werden kannst. Mögest Du so sein, wie es Deinem Optimum oder Ideal entspricht. Oder einfach: Mögest Du Dich lebend entwickeln in einem umfassenden und vollständigen Sinn, nicht reduzierbar auf beschreibbare Eigenschaften und ganz unabhängig von jedem Wunsch oder Vorteil, den wir als Liebende dabei haben. Und wenn wir wirklich lieben, dann ist in diesen Wünschen kein Zögern und kein Zweifel, sondern wir vertrauen: Ja, dieses Mögliche wird wirklich werden! Dies ließe sich auch so formulieren: Wir glauben an das Unerklärliche des Menschen, den wir lieben und wir vertrauen darauf. Liebe 7: An einen Menschen glauben, an die Welt glauben? Stellen wir uns vor, wir könnten unser Leben und sogar die ganze Welt auf dieselbe Art wahrnehmen wie den geliebten Menschen. Dann wären Vertrauen und Hoffnung möglich. Wir würden in unserem Leben, ja in der ganzen Welt trotz aller Schwierigkeiten wahrnehmen, dass alles sein Potenzial entfalten und seinem Optimum näher kommen wird. Wir würden sehen können, was aktuell noch nicht, als Möglichkeit aber doch schon da ist. Oft ist uns 221 14.5 An einen Menschen glauben. Herzensbildung als Fähigkeit zu lieben dies nicht möglich. Angst, Zweifel und fehlende Zuversicht überwiegen. Die Wahrheit über die Welt scheint uns dann einfach, und zwar unheilvoll. Doch manchmal öffnet sich gegen alle Wahrscheinlichkeit eine ganz andere Möglichkeit: Die Wahrheit über die Welt scheint nicht länger einfach und hoffnungslos, sondern so differenziert wie bei dem geliebten Menschen. Die Schwierigkeiten könnten sich als stärker erweisen. Doch auch die guten Potenziale könnten sich entwickeln und als stärker erweisen. Ja, an diese Möglichkeit können wir dann glauben. Herzensbildung: die Fähigkeit zu lieben. Mit Scheler können wir Liebe als Fähigkeit verstehen, im schlechten oder suboptimalen derzeitigen Zustand schon die Möglichkeit des Guten zu sehen. Herzensbildung wäre dann die Bemühung, diese Fähigkeit zu üben und sie zu kultivieren. Bei diesem Bildungsziel ginge es also darum, möglichst viel zu lieben. Es ginge darum, immer wieder die tiefe Liebe zu anderen Menschen zu erfahren und dabei die Fähigkeit zu pflegen, das Beste nicht nur zu wünschen, sondern tatsächlich für möglich zu halten. Und es ginge darum, diese Erfahrung auszudehnen auf alles: auf das eigene Leben und auf die ganze Welt. Natürlich ist das kein Schulfach. Aber Ihre Schüler: innen können durch Sie als Lehrpersonen von diesem Aspekt der Herzensbildung erfahren. Dazu müssen Sie die von Scheler beschriebene Fähigkeit zu lieben in sich selbst entwickeln - und laufend praktizieren. Ihre Schüler: innen erfahren dann, wie das ist, wenn jemand an das unbedingt Interessante eines Schulfachs glaubt und daran, dass sie dies lernen werden (Kap. 13). Und sie erfahren, wie es sich anfühlt, wenn eine Lehrperson an ihre Schüler: innen glaubt. Lieben wir einen Menschen, dann können wir mehr sehen: nämlich auch sein Bestes, das in ihm verborgen liegt. In der Liebe können wir an dieses Beste glauben. Herzensbildung bedeutet dann die Pflege dieser Liebesfähigkeit und ihre Ausdehnung auf unser Leben, auf unseren Beruf, auf unsere Welt. 222 14 Ist Herzensbildung wichtiger als Selbstdurchsetzung? Ihre Antwort auf die Frage Ihrer Schüler: innen: Ihre Schüler: innen fragen: Ist Herzensbildung wichtiger als Selbst‐ durchsetzung? So könnten sie antworten: ▸ Menschen können sich ineinander einfühlen, können füreinander das Beste wollen - sie können dabei auf eigene Vorteile verzichten und sich im Extremfall sogar füreinander opfern. Das ist keine Schwäche, sondern eine große Stärke. Es ist gut, unseren Sinn dafür zu fördern. ▸ Die Forschung zeigt Empathie als mehrdeutige Eigenschaft. Das Mit-Leiden kann zum Guten zwischen den Menschen beitragen oder im Extremfall dazu dienen, einander ‚besser‘ schaden zu können. ▸ Die asiatische Tradition des Neokonfuzianismus kennt das hel‐ fende Einfühlen ineinander als Teil des harmonischen Guten der ganzen Welt. ▸ In der europäischen Tradition gibt es Herzensbildung u. a. als Fähigkeit zu lieben und dabei an das Beste im Geliebten zu glauben und es für möglich zu halten. Dieses Vertrauen ist eine große Kraft - und keine Schwäche. Wenn Sie sich noch weiter interessieren Wenn Sie sich für Herzensbildung und allgemein für Gefühle im Rahmen der Bildungstheorie interessieren, lesen Sie REICHENBACH 2018 (a) und 2018 (b) sowie BREINBAUER 2018, KLIKA 2018 und HUBER 2018. Zur Vertiefung des Aspekts Moral Sense lesen Sie SCHRADER 1984; zum Neokonfuzianismus ANGLE et al. 2017 und zu SCHELER empfehle ich SANDER 2001. Aus Platzgründen weglassen musste ich hier BLAISE PASCAL (1623- 1662) und seinen theologisch-philosophischen Ansatz, wonach das Herz Dinge erkennt, welche die Vernunft nur anerkennen kann. Lesen Sie dazu KNAPP 2014. Die Frage der Herzensbildung können Sie auch in diesem Buch vertiefen: Der Moral Sense lässt sich als intuitives Wissen verstehen (Kap. 6). Der tiefste Aspekt des Liebesbegriffs SCHELERS (Kap. 14.5), nämlich dass Liebe uns den Kern des Geliebten als unergründlich und unbegreiflich zeigt, führt 223 Wenn Sie sich noch weiter interessieren zurück zur ethischen Bedeutung der Einsicht in Nichtwissen (Kap. 4.5). Schließlich bedeutet Herzensbildung auch Einsicht in die universale Ver‐ bundenheit als tiefste Schicht unseres Seins und öffnet uns für eine globale Perspektive (Kap. 12, insbesondere Kap. 12.2). 224 14 Ist Herzensbildung wichtiger als Selbstdurchsetzung? 15 Statt eines Nachworts Was könnten Sie ihm antworten, dem echten Häuptling Seattle, der 1854 in seiner (im Wortlaut allerdings nachgedichteten) Rede vor dem Gouverneur des Washington-Territoriums im Nordwesten der Vereinigten Staaten fragt: Welches sind denn die Träume, Hoffnungen und Visionen, die die weißen Siedler: innen ihren Kindern weitergeben? Wir, die wir unser Land verkaufen sollen, spüren nur Macht und Gier. Hat die westliche Kultur mehr zu bieten (siehe das Kapitel Einführung)? Diese Kritik stellt unsere Kultur infrage, sie ist berechtigt. Und einfach darauf zu verweisen, dass Macht und Gier wohl nicht nur in unserer Kultur vorkommen, das reicht als Antwort nicht aus, wenn Sie neben Ihrem Fachunterricht immer auch Kulturbotschafter: innen sind, wie es im Kapitel Einführung hieß. Anlass zur Selbstkritik unserer Kultur bietet insbesondere die Geschichte der Kolonisierung und ihrer Folgen, die bis in unser heutiges Selbstverständnis reichen (Kap. 12). Daneben müssen wir zugeben: So attraktiv moderne westliche Werte wie Autonomie und Authentizität sind, sie werden oft in verflachten, ja sehr problematischen Formen gelebt (Kap. 11). Doch es gibt sie tatsächlich, die Träume, Hoffnungen und Visionen, mehr noch, es gibt begründete Werte unserer Kultur. Und Sie als Lehrer: innen werden versuchen, diese Werte (im weitesten Sinn dieses Wortes) im Unterricht und im Kontakt mit Ihren Schüler: innen weiterzugeben - und so zur Orientierung der Kinder und Jugendlichen beizutragen. Die einzelnen Kapitel des Buchs sollten Ihnen erklären, was es damit jeweils auf sich hat: was als gut gilt und damit jeweils auch ein sehr allgemeines Bildungsziel ist. In unserer Kultur steht das Selbstdenken hoch im Kurs, auch Freiheits‐ werte wie Selbstbestimmung, Selbstwerdung, das eigene Leben und das Einbringen der eigenen Stimme (Kap. 2, 7, 8 und 11). Und zum guten Leben gehört auch das ethisch gute Verhalten dazu, Herzensbildung und die Fähigkeit, über Dinge staunen und sie lieben zu können, sowie das politische Engagement (Kap. 3, 14, 13 und 10). Auf all das können wir stolz sein, aber nicht in einem triumphierenden Sinn und nicht, um uns über andere Kulturen zu erheben, sondern, um uns neugierig zu öffnen für den Reichtum anderer Kulturen, um uns verbunden zu fühlen als Menschheit (Kap. 12 und 14). Und wir können noch etwas anderes wertschätzen: die selbstkritische Vernunft. Denn ob sie ihre prinzipiellen eigenen Erkenntnisgrenzen reflektiert (Kap. 4) oder die Abhängigkeit allen Bewusstseins von materiellen Bedingungen bedenkt (Kap. 9) - indem sie sich selbst infrage stellt, überschreitet sie sich immer wieder. So ist ein Fortschritt im Denken möglich. Dies betrifft auch die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der wissenschaftlichen Erkenntnis (Kap. 5), und der nichtwissenschaftlichen, ‚weichen‘ Erkenntnis: Intuition, Herzensbildung oder Liebe (Kap. 6 und 14). Warum muss ich das alles wissen? Ich will doch nur Lehrer: in werden! Weshalb Bildungsphilosophie als Teil des Lehramtsstudiums? So wurde im Kapitel Einführung gefragt. Am Ende des Buchs wird deutlich, dass Bildungsphilosophie immer mit diesen zwei Seiten der Vernunft zu tun hat. Indem sie rational begründet, kommt sie zu Antworten und (z. B. ethischen) Festlegungen. Doch das Handwerk der Vernunft ist zugleich ein Handwerk der Freiheit: es ist ein nie endendes Weiterfragen und Weiterdenken. Dies sollten Ihnen alle Kapitel des Buchs nahebringen. Denn neben dem vernünf‐ tigen Antworten (Kap. 2) ist es auch das vernünftige Weiterfragen, das ein sehr allgemeines Bildungsziel und damit Teil Ihrer Aufgabe als Lehrer: in und Kulturbotschafter: in ist. 226 15 Statt eines Nachworts 16 Literaturverzeichnis A N G L E , Stephen D.; T I W A L D , Justin: Neo-Confucianism. A philosophical introduction, Cambridge, Malden: Polity 2017. A N Z A L DÚA , Gloria: Borderlands/ La Frontera, San Francisco: Spinsters, Aunt Lute 1987. A R E N D T , Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München: Piper, 13. Aufl. 2013. A R E N D T , Hannah: Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaß, München: Piper 1993. A R I S T O T E L E S : Nikomachische Ethik, übers. u. hg. v. O. Gigon, München: dtv, 6. Aufl. 1986. B A R T H E S , Roland: Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988. B A Y E R T Z , Kurt: Warum überhaupt moralisch sein? , München: Beck, 2. Aufl. 2014. B E N N E R , Dietrich: Wilhelm von Humboldts Bildungstheorie. Eine problemgeschichtli‐ che Studie zum Begründungszusammenhang neuzeitlicher Bildungsreform, Wein‐ heim, München: Juventa 1990. B E R N A U E R , James W.: The Faith of Hannah Arendt: Amor Mundi and its Critique-As‐ similation of Religious Experience, in: J.W. Bernauer (ed.): Amor Mundi. Explora‐ tions in the Faith and Thought of Hannah Arendt, Boston, Dordrecht: Nijhoff, 1987, S. 1-28. B E U T L E R , Kurt: Zur Frage der marxistischen Methode in der Pädagogik, in: H.-J. Gamm, G. Koneffke (Red.): Jahrbuch für Pädagogik (Mündigkeit. Zur Neufassung materialistischer Pädagogik), Frankfurt a. M.: Lang 1997, S. 81-98. B I L L E T E R , Jean François: Das Wirken in den Dingen. Vier Vorlesungen über das Zhuangzi, Berlin: Mattes & Seitz 2015. B ÖH M E , Hartmut; B ÖH M E , Gernot: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt a.M: Suhrkamp 1983. B ÖH M E , Gernot: Der Typ Sokrates, Frankfurt a.M: Suhrkamp 1992. B O L L N O W , Otto Friedrich: Der erlebte Raum, Universitas, 15 (8/ 1960), S. 397-412, (https: / / bollnow-gesellschaft.de/ getmedia.php/ _media/ ofbg/ 201504/ 426v0-orig .pdf, 14.06.2021). B O T A , Alice; P H A M , Khuê; T O P ÇU , Özlem: Wir neuen Deutschen. Wer wir sind, was wir wollen, Reinbek: Rowohlt 2012. B O U R D I E U , Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 11. Aufl. 2011. B R E I N B A U E R , Ines Maria: Emotionen in der Bildungsphilosophie, in: M. Huber, S. Krause (Hg.): Bildung und Emotion, Wiesbaden: Springer 2018, S. 41-57. B U B L I T Z , Hannelore: Judith Butler zur Einführung, Hamburg: Junius, 5. Aufl. 2018. B U C H H E I M , Thomas: Negative und positive Freiheit. Überlegungen zu Taylors Begriff der Freiheit, in: M. Kühnlein, M. Lutz-Bachmann (Hg.): Unerfüllte Moderne? Neue Perspektiven auf das Werk von Charles Taylor, Berlin: Suhrkamp 2011, S. 239-260. B U S S M A N N , Bettina: Was heißt: sich an der Wissenschaft orientieren? Untersuchungen zu einer lebensweltlich-wissenschaftsbasierten Philosophiedidaktik am Beispiel des Themas ‚Wissenschaft, Esoterik und Pseudowissenschaft‘, Münster, Berlin: LIT 2014. B U S S M A N N , Bettina; K ÖT T E R , Mario: Between scientism and relativism: epistemic competence as an important aim in science and philosophy education, in: RISTAL. Research in Subject-matter Teaching and Learning (1/ 2018), S. 82-101. B U S S M A N N , Bettina: Wissenschaftsorientierter Ansatz, in: M. u. J. Peters (Hg.), Moderne Philosophiedidaktik. Basistexte, Hamburg: Meiner 2019, S. 231-243. B U T L E R , Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991. C AM U S , Albert: Die Pest, Hamburg: Rowohlt 1995. C H A T E A U B R IA N D , François-René de: Erinnerungen, München: Nymphenburger 1968. C H I N G , J U L IA : To acquire wisdom. The way of Wang Yang-ming, New York, London: Columbia University Press 1976. C O L P E , Carsten: Über das Heilige. Versuch, seiner Verkennung kritisch vorzubeugen, Frankfurt a. M.: Hain 1990. C R A M E R , Colin; O S E R , Fritz (Hg.): Ethos. Interdisziplinäre Perspektiven auf den Lehre‐ rinnen- und Lehrerberuf, Münster, New York: Waxmann 2019. D E R R I D A , Jacques: Die unbedingte Universität, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 6. Aufl. 2016. D E S C A R T E S , René: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie (1641), hg. v. L. Gäbe, Hamburg: Meiner 1976. E M R E , Yunus: Ausgewählte Gedichte, übers. v. A. Schimmel, Köln: Önel 1991. E P I K T E T : Anleitung zum glücklichen Leben. Encheiridion (Handbuch der Moral), hg. v. R. Nickel, Düsseldorf: Artemins & Winkler 2006. E P I K U R : Brief an Menoikeus, übers. u. hg. v. J.E. Hessler, Basel: Schwabe 2014. F E L S K I , Rita: The Limits of Critique, Chicago: University Press 2015. F O U C A U L T , Michel: Hermeneutik des Subjekts, Vorlesungen am Collège de France (1981/ 82), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004. F R E I R E , Paulo: Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit, Reinbek: Rowohlt 1973. F R E U D , Sigmund: Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse (1917), in: Gesammelte Werke, Bd. 12, London: Imago 1947, S. 1-12. F R E U D , Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur (1930), in: Gesammelte Werke, Bd. 14, London: Imago 1948, S. 419-506. 228 16 Literaturverzeichnis G A M M , Hans-Jochen; Koneffke, Gernot (Red.): Jahrbuch für Pädagogik (Mündigkeit. Zur Neufassung materialistischer Pädagogik), Frankfurt a. M.: Lang 1997. G A M M , Hans-Jochen: Zehn Thesen zum Materialismus in pädagogischer Absicht, in: H.-J. Gamm, G. Koneffke (Red.): Jahrbuch für Pädagogik (Mündigkeit. Zur Neufassung materialistischer Pädagogik), Frankfurt a. M.: Lang 1997, S. 17-30. G E B H A R D , Ulrich; O S C H A T Z , Kerstin: Bildung im Biologieunterricht: Intuitionen als Chance zur Transformation von Selbst-, Welt- und Menschenbildern, in: J. Groß, M. Hammann, Ph. Schmiemann, J. Zabel (Hg.): Biologiedidaktische Forschung. Erträge für die Praxis, Berlin, Heidelberg: Springer 2019, S. 21-36. G E O R G E , Siegfried: Erschließendes Denken. Selbstreflexion, Mediation, Intuition, Krea‐ tivität als Methoden des politischen Unterrichts, Schwalbach: Wochenschau 1993. G R A N G E , Lesley Le: The Notion of Ubuntu and the (Post)Humanist Condition, in: J. E. Petrovic, R.M. Mitchell (ed.): Indigenous Philosophies of Education Around the World, New York, London: Routledge 2018, S. 40-60. G ÜMÜŞ A Y , Kübra: Sprache und Sein, Berlin: Hanser 2020. H A B E R M A S , Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1 und 2, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988. H E R B A R T , Johann Friedrich: Allgemeine Pädagogik aus dem Zwecke der Erziehung abgeleitet (1806), Leipzig: Volkening 1894. H O D G S O N , Naomi; V L I E G H E , Joris; Z A M O J S K I , Piotr: Manifesto for a Post-Critical Pedagogy, Earth, Milky Way, punctum books 2017. H U B E R , Matthias: Emotionale Markierungen. Zum grundlegenden Verständnis von Emotionen für bildungswissenschaftliche Überlegungen, in: M. Huber, S. Krause (Hg.): Bildung und Emotion, Wiesbaden: Springer 2018, S. 91-110. H U M B O L D T , Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen (1792), Werke in fünf Bänden, hg. v. A. Flitner, Bd. 1, Darmstadt: WBG, 3. Aufl. 1980, S. 56-233. H U M E , David: Ein Traktat über die menschliche Natur. Buch II. Über die Affekte, Buch III. Über Moral (1740), Hamburg: Meiner 1978. H U M E , David: Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral (1751), Stuttgart: Reclam 1996. I B N A R A B I , Muhyiddin: Abhandlung über die Liebe, Zürich: Chaldice 2009. J A M E S , William: Die Vielfalt religiöser Erfahrung, Frankfurt a. M.: Insel 1997. J O A S , Hans: Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzau‐ berung, Berlin: Suhrkamp 2017. J O N A S , Hans: Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1984. J U L L I E N , François: Sein Leben nähren. Abseits vom Glück, Berlin: Merve 2006. 229 16 Literaturverzeichnis K Ä S T N E R , Erich: Fabian. Geschichte eines Moralisten, Werke, Bd. 3, München: Hanser 1998. K A H L E R T , Helmut: 300 Jahre Schwarzwälder Uhrenindustrie, Gernsbach: Katz 2007. K A N T , Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784), Akademie Ausgabe, Bd. VIII, Berlin: Reimer 1923, S. 33-42. K A N T , Immanuel: Kritik der reinen Vernunft (1781/ 1787), Akademie Ausgabe, Bd. III, Berlin: Reimer 1948. K A N T , Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), Akademie Ausgabe, Bd. IV, Berlin: Reimer 1903. K A N T , Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft (1788), Akademie Ausgabe, Bd. V, Berlin: Reimer 1908 (a). K A N T , Immanuel: Kritik der Urteilskraft (1790), Akademie Ausgabe, Bd. V, Berlin: Reimer 1908 (b). K E R M A N I , Navid: Große Liebe, München: Hanser 2014. K I E S S , John: Hannah Arendt and Theology, London, New York: Bloomsbury 2016. K I M M E R L E , Heinz: Philosophie in Afrika - afrikanische Philosophie. Annäherungen an einen interkulturellen Philosophiebegriff, Frankfurt a. M., New York: Qumran/ Cam‐ pus 1991. K I E R K E G AA R D , Søren: Die Krankheit zum Tode, Gesammelte Werke 24/ 25 (übers. v. E. Hirsch), Gütersloh: Mohn, 4. Aufl. 1992. K L I K A , Dorle: Bildung und Emotion. Historisch-systematische Zugänge, in: M. Huber, S. Krause (Hg.): Bildung und Emotion, Wiesbaden 2018, S. 75-89. K N A P P , Markus: Herz und Vernunft. Wissenschaft und Religion. Blaise Pascal und die Moderne, Paderborn: Schöningh 2014. K R A U S E , Skadi Siiri: Eine Gesellschaft von Gleichen. Tocqueville über die Demokratie als Staats-, Gesellschafts- und Lebensform, in: S.S. Krause (Hg.): Erfahrungsräume der Demokratie. Zum Staatsdenken von Alexis de Tocqueville, Stuttgart: Steiner 2017, S. 109-124. K U T S C H E R A , Franz von: Ungegenständliches Erkennen, Paderborn: Mentis 2012. L A T O U R , Bruno: Elend der Kritik. Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang, Zürich, Berlin: diaphanes 2007. L E V I N A S , Emmanuel: Ethik und Unendliches. Gespräche mit Philippe Nemo, Wien: Passagen, 3. Aufl. 1996. L ØG S T R U P , Knud Ejler: Die ethische Forderung, Tübingen: Mohr, 2. Aufl. 1989. L Y O T A R D , François: Der Widerstreit, München: Fink 1987. M A K O W S K I , Stefan: Allahs trunkene Poeten. Islamische Liebesmystiker, Zürich, Düssel‐ dorf: Benziger 1997. 230 16 Literaturverzeichnis M A R X , Karl; E N G E L S , Friedrich: Werke, Bd. 8, Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin: Dietz 1960. M A R X , Karl; E N G E L S , Friedrich: Werke, Bd. 13, Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin: Dietz 1961. M B E M B E , Achille: What is postcolonial thinking? An interview with Achille Mbembe, (Esprit 12/ 2006), Eurozine 09.01.2008 (www.eurozine.com/ what-is-postcolonialthinking/ , 12.06.2021). M B E M B E , Achille: Ausgang aus der langen Nacht. Versuch über ein entkolonisiertes Afrika, Berlin: Suhrkamp 2016. M E N K E , Christoph: Was ist eine ‚Ethik der Authentizität‘? in: M. Kühnlein, M. Lutz-Bachmann (Hg.): Unerfüllte Moderne? Neue Perspektiven auf das Werk von Charles Taylor, Berlin: Suhrkamp 2011, S. 217-238. M E N Z I U S / M O N G D S Ï : Die Lehrgespräche des Meisters Meng K’o, übers. v. R. Wilhelm, München: Diederichs 1994. M E R L E A U -P O N T Y , Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: de Gruyter 1966. M E R L E A U -P O N T Y , Maurice: Vorlesungen I, Berlin: de Gruyter 1973. M E T Z , Thaddeus: Auf dem Weg zu einer afrikanischen Moraltheorie, in: F. Dübgen, S. Skupien (Hg.): Afrikanische politische Philosophie. Postkoloniale Positionen, Berlin: Suhrkamp 2015, S. 295-329. M O O R E , Patricia B.: Natality, Amor Mundi and Nuclearism in the Thought of Hannah Arendt, in: J.W. Bernauer (ed.): Amor Mundi. Explorations in the Faith and Thought of Hannah Arendt, Boston, Dordrecht: Nijhoff 1987, S. 135-156. M U C I N A , Devi Dee: Decolonizing Black Masculinities, Winnipeg, Manitoba: University of Manitoba Press 2019. N A G E L , Thomas: Geist und Kosmos. Warum die materialistische, neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist, Berlin: Suhrkamp, 5. Aufl. 2014. N E S T L E , Wilhelm: Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates, Stuttgart: Kröner, 2. Aufl. 1942. N G O MA N E , Mungi: I am because you are. Ubuntu - 14 südafrikanische Lektionen für ein Leben in Verbundenheit, München: Kailash 2019. N I E T Z S C H E , Friedrich: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, Kritische Studienausgabe 1, München: dtv 1988 (a). N I E T Z S C H E , Friedrich: Also sprach Zarathustra, Kritische Studienausgabe 4, München: dtv 1988 (b). N I E T Z S C H E , Friedrich: Zur Genealogie der Moral, Kritische Studienausgabe 5, Mün‐ chen: dtv 2005. 231 16 Literaturverzeichnis N I T S C H , Jürgen (Hg.): Handeln im Sport. Zwischen Rationalität und Intuition, Köln: bps 1996. Ö Z T U R K , Yasar Nuri: Rumi und die islamische Mystik. Über das Menschenbild im Islam, Düsseldorf: Grupello 2002. P I N K E R , Steven: Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit, Frankfurt a. M.: Fischer 2013. P L A T O N : Des Sokrates Apologie, Werke in acht Bänden, hg. v. G. Eigler, Bd. 2, übers. v. F. Schleiermacher, Darmstadt: WBG 1990 (a). P L A T O N : Politeia, Werke in acht Bänden, hg. v. G. Eigler, Bd. 4, übers. v. F. Schleier‐ macher, Darmstadt: WBG 1990 (b). P L A T O N : Siebenter Brief, Werke in acht Bänden, hg. v. G. Eigler, Bd. 5, übers. v. F. Schleiermacher, Darmstadt: WBG 1983. P O P P E R , Karl: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, zwei Bände, Tübingen: Francke, 7. Aufl. 1992. P O P P E R , Karl: Logik der Forschung, Berlin: Akademie, 4. Aufl. 2013. R A M O S E , Mogobe B.: African Philosophy through Ubuntu, Harare: Mond, 2. Aufl. 2002. R A N C IÈ R E , Jacques: Der emanzipierte Zuschauer, Wien: Passagen 2009. R E E S E -S C HÄF E R , Walter: Handlungstheorie: Hannah Arendt, in: W. Reese-Schäfer: Politische Theorie der Gegenwart in fünfzehn Modellen, München, Wien: Olden‐ bourg 2006, S. 107-121. R E I C H E N B A C H , Roland: Die Herzensbildung und die Erziehung der Gefühle, in: M. Huber, S. Krause (Hg.): Bildung und Emotion, Wiesbaden 2018 (a), S. 17-40. R E I C H E N B A C H , Roland: Ethik der Bildung und Erziehung. Essays zur Pädagogischen Ethik, Paderborn: Schöningh 2018 (b). R E N T S C H , Thomas: Negativität und praktische Vernunft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000. R E N T S C H , Thomas: Transzendenz und Negativität. Religionsphilosophische und ästhe‐ tische Studien, Berlin, New York: De Gruyter 2011. R I E G E R -L A D I C H , Markus: Bildungstheorien zur Einführung, Hamburg: Junius, 2. Aufl. 2020. R O S A , Hartmut: Identität und kulturelle Praxis. Politische Philosophie nach Charles Taylor, Frankfurt a. M.: Campus 1998. R O S A , Hartmut: Is There Anybody Out There? Stumme und resonante Weltbezie‐ hungen - Charles Taylors monomanischer Analysefokus, in: M. Kühnlein, M. Lutz-Bachmann (Hg.): Unerfüllte Moderne? Neue Perspektiven auf das Werk von Charles Taylor, Berlin: Suhrkamp 2011, S. 15-43. R O S A , Hartmut: Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung. Umrisse einer neuen Gesellschaftskritik, Berlin: Suhrkamp, 2. Aufl. 2013. 232 16 Literaturverzeichnis R O S A , Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin: Suhrkamp, 4. Aufl. 2020 (a). R O S A , Hartmut: Unverfügbarkeit, Berlin: Suhrkamp 2020 (b). S AI D , Edward W.: Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht, Frankfurt a. M.: Fischer 1994. S AI D , Edward W.: Orientalismus, Frankfurt a. M.: Fischer, 4. Aufl. 2014. S A N D E R , Angelika: Max Scheler zur Einführung, Hamburg: Junius 2001. S C H E L E R , Max: Wesen und Formen der Sympathie, Gesammelte Werke, Bd. 7, Bern/ München: Francke 1973. S C H L E I C H E R T , Hubert: Wie man mit Fundamentalisten diskutiert, ohne den Verstand zu verlieren, München: Beck, 4. Aufl. 2004. S C H L E T T E , Magnus: Die Idee der Selbstverwirklichung. Zur Grammatik des modernen Individualismus, Frankfurt a. M., New York: Campus 2013. S C H M I D T , Helena: Zur Wiedergewinnung des politischen Raums. Der Menschlichkeit ein ‚Dach‘ geben. Eine Unterrichtsreihe zu Hannah Arendts politischer Philoso‐ phie, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 2/ 1994, S. 119-128. S C HÖN B A C H , Klaus: Verkaufen, Flirten, Führen. Persuasive Kommunikation - ein Überblick, Wiesbaden: Springer, 4. Aufl. 2019. S C H R A D E R , Wolfgang: Ethik und Anthropologie in der englischen Aufklärung. Der Wandel der moral-sense-Theorie von Shaftesbury bis Hume, Hamburg: Meiner 1984. S C H R E I E R , Helmut: Himmel, Erde und ich. Geschichten zum Nachdenken über den Sinn des Lebens, den Wert der Dinge und die Erkenntnis der Welt, Heinsberg: Agentur Dieck 1993. S I M M E L , Georg: Der Begriff und die Tragödie der Kultur (1918), in: Gesamtausgabe, Bd. 12, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, S. 194-223. S I N G E R , Tanja; S P I E G E L , Irina: Perspektiven der Empathie- und Compassion-For‐ schung, in: J. Nida-Rümelin, I. Spiegel, M. Tiedemann (Hg.): Handbuch Philosophie und Ethik, Bd. II, Disziplinen und Themen, Paderborn: Schöningh, 2. Aufl. 2015, S. 256-264. S O N T A G , Susan: Illness as Metaphor, London: Lane 1979. S T E E N B L O C K , Volker: Philosophische Bildung als ‚Arbeit am Logos‘, in: ders.: Philoso‐ phie und Lebenswelt, Hannover: Siebert 2012, S. 26-36. T A Y L O R , Charles: Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988. T A Y L O R , Charles: Das Unbehagen an der Moderne, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995. T A Y L O R , Charles: Die Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996. 233 16 Literaturverzeichnis T A Y L O R , Charles: Two Theories of Modernity, in: Alternative Modernities, ed. by D.P. Gaonkar, Durham et al.: Duke University Press 2001, S. 172-196. T A Y L O R , Charles: Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2009. T H O M A S , Philipp: Selbst-Natur-sein. Leibphänomenologie als Naturphilosophie, Berlin: Akademie 1996. T H O M A S , Philipp: Kulturelle Werte reflektieren und verlebendigen. Lebenspraktische Orientierung als Aufgabe des Ethikunterrichts, in: ethik kontrovers, Jahrespubli‐ kation der Zeitschrift Ethik und Unterricht 12 (2004), S. 24-27. T H O M A S , Philipp: Nicht sagen, sondern zeigen. Nichtpropositionalität als Schlüssel zum platonischen Ideenbegriff, in: J. Rohbeck (Hg.): Anschauliches Denken, Jahr‐ buch für Didaktik der Philosophie und Ethik Band 6, Dresden: Thelem 2005, S. 95-121. T H O M A S , Philipp: Negative Identität und Lebenspraxis. Zur praktisch-philosophischen Rekonstruktion unverfügbarer Subjektivität, Freiburg, München: Alber 2006. T H O M A S , Philipp: Philosophically Informed Science. Drei Thesen zum Beitrag wis‐ senschaftlicher Erkenntnis zu philosophischer Bildung, in: B. Bussmann, M. Tiedemann (Hg.), Jahrbuch für Didaktik der Philosophie und Ethik 19 (2018), Dresden: Thelem 2019, S. 177-190. T H O M A S , Philipp: Von der Tiefe des Lebens. Ein Wörterbuch der Melancholie, Zug: Die Graue Edition 2020. T H O R N H I L L , Randy; P A L M E R , Craig: A Natural History of Rape. Biological Bases of Sexual Coercion, Cambridge, London: MIT Press 2000. T O C Q U E V I L L E , Alexis de: Über die Demokratie in Amerika. Zweiter Teil, (1835/ 40), Stuttgart: DVA 1962. T ÖM M E L , Tatjana Noemi: Wille und Passion. Der Liebesbegriff bei Heidegger und Arendt, Berlin: Suhrkamp 2013. T R A U T M A N N , Matthias; W I S C H E R , Beate: Heterogenität in der Schule. Eine kritische Einführung, Wiesbaden: VS 2011. T R A V I S , Cheryl Brown (ed.): Evolution, Gender, and Rape, Cambridge, London: MIT Press 2003. T U , Wei-ming: Multiple Modernities. Implications of the Rise of ‘Confucian’ East Asia, in: K.-H. Pohl, A.W. Müller (ed.): Chinese Ethics in a Global Context, Leiden et al.: Brill 2002, S. 55-77. T U G E N D H A T , Ernst: Egozentrizität und Mystik. Eine anthropologische Studie, München: Beck 2003. U E D A , Shizuteru: Das Nichts und das Selbst im buddhistischen Denken. Zum west-östlichen Vergleich des Selbstverständnisses des Menschen, in: Studia Phi‐ losophica 34 (1974), S. 144-161. 234 16 Literaturverzeichnis V L I E G H E , Joris; Z AM O J S K I , Piotr: Towards an Ontology of Teaching. Thing-centred Pedagogy, Affirmation and Love for the World, Cham: Springer 2019. W A N G Y A N G - M I N G : Instructions for practical living and other neo-confucian writings, transl. by Wing-tsit Chan, New York et al.: Columbia University Press 1963. W E B E R , Max: Der Sinn der ‚Wertfreiheit‘ in den soziologischen und ökonomischen Wissenschaften (1917/ 18), in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen: Mohr 1922 (a), S. 451-502. W E B E R , Max: Wissenschaft als Beruf (1919), in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen: Mohr 1922 (b), S. 524-555. W E I X L E R , Simon: Die Entwicklung des intuitiven probabilistischen Denkens bei Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe I. Eine Kennzeichnung von drei Schritten, in: Beiträge zum Mathematikunterricht, online 2010 (http: / / hdl.handle. net/ 2003/ 32050, 12.06.2021). Y U , Ning: The Chinese HEART in a Cognitive Perspective. Culture, Body, and Language, Berlin et al.: Mouton de Gruyter 2009. Z H U A N G Z I / D S C H U A N G D S I : Das wahre Buch vom südlichen Blütenland, übers. v. R. Wilhelm, Köln: Anaconda 2011. Z H U A N G Z I : Mit den passenden Schuhen vergißt man die Füße. Ein Zhuangzi-Lesebuch von Henrik Jäger, Dettelbach: Röll 2012. Z U U R M O N D , Anouk: Teaching for Love of the World. Hannah Arendt on the Comple‐ xities of the Educational Praxis, in: C. Bakker, N.M. Montessori (ed.), Complexity in Education, Rotterdam, Boston, Taipei: Sense 2016, S. 55-73. 235 16 Literaturverzeichnis ,! 7ID8C5-cfhage! ISBN 978-3-8252-5706-4 Weshalb soll ich ständig selbst denken? Lohnt es sich, moralisch zu sein? Kann ich durch Bildung ich selbst werden? Weshalb soll ich politisch denken lernen? Mit Fragen wie diesen werden Lehrkräfte in der täglichen Unterrichtspraxis konfrontiert - und müssen ihren Schüler: innen klug und informiert antworten können. Dabei behandeln sie zugleich kulturelle Grundfragen. Daher sind Grundkenntnisse in Bildungstheorie Teil aller Lehramtsstudiengänge, egal für welche Schulart und für welche Fächer. Dieses Buch bietet eine fundierte Einführung zu zentralen Fragen, Themen und Positionen aus Bildungsphilosophie und -theorie. Es spricht angehende Lehrer: innen direkt an und hilft, dieses Wissen konkret im eigenen Unterricht anzuwenden. Schulpädagogik | Philosophie Dies ist ein utb-Band aus dem Narr Francke Attempto Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel