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Dämonen, Monster, Fabelwesen

1998
978-3-8649-6758-0
UVK Verlag 
Ulrich Müller
Werner Wunderlich

»Alles ist durch das Wort geworden«, heißt es im Johannesevangelium. Tatsächlich erzeugt das Wort immerfort Welt, daran hat sich seit biblischen Zeiten nichts geändert. Zu dieser Welt gehörten und gehören die imaginären, fantastischen Geschöpfe, die als mythische Kreaturen die Landschaften von Literatur und Kunst bevölkern. Der zweite Band der Reihe Mittelaltermythen stellt Dämonen, Monster und Fabelwesen vor. Das Mittelalter hat diese wundersamen und Furcht einflößenden Fantasiegeschöpfe nicht von realen Naturgeschöpfen unterschieden, weil man in Gottes Schöpfung nichts für unmöglich hielt. Deshalb begegnen uns in Naturkunden, Reiseberichten, Bestiarien, Epen, Chroniken, in den Vorstellungen des Volksglaubens und immer wieder an den Portalen der Kathedralen die absonderlichsten und schrecklichsten Wesen in Wort und Bild. Darunter sind Geschöpfe wie Medusa oder Pegasus, wie Leviathan oder Lilith, die antike und biblische Mythen an das Mittelalter weitergegeben haben. Vor allem aber sind es Wesen wie das Einhorn oder der Drache, wie Riesen oder Hexen, die nach mittelalterlicher Ansicht zu den Lebewesen und übernatürlichen Geschöpfen der beschreibbaren Welt gehören. Wissenschaftler aus verschiedenen Ländern und unterschiedlichen Fachgebieten stellen solche fantastische Wesen vor, von denen viele bis in unsere Gegenwart hinein auch in den modernen Medien lebendig geblieben sind. Weitere Bände der Reihe Mittelalter-Mythen: Band 1: Herrscher, Helden, Heilige Band 3: Verführer, Schurken, Magier Band 4: Künstler, Dichter, Gelehrte Band 5: Burgen, Länder, Orte

Dämonen Monster Fabelwesen Mittelalter Mythen Band 2 Herausgegeben von Ulrich Müller und Werner Wunderlich Ulrich Müller We rn er Wu nd er li ch (H g. ) Dämonen Monster Fabelwesen UVK · erlag · V sgesellschaft Konstanz und München Gedruckt mit freundlicher Förderung der Universität St. Gallen (HSG) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abruf bar. ISSN 0947-6725 ISBN 978-3-86764-118-0 (Print) ISBN 978-3-86496-757-3 (EPUB) ISBN 978-3-86496-758-0 (EPDF) Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und straf bar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 1999, unv. Nachdruck 2015 Einbandgestaltung: Susanne Fuellhaas Printed in Germany UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz Tel. 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de Vorwort Die Herausgeber danken der Universität St. Gallen (HSG) und ihrer Forschungskommission, die die Arbeiten an dem Projekt »Medieval Myths« sowie die Drucklegung der einzelnen Bände großzügig fördern. Zu danken ist außerdem Professor Paul E. Szarmach, Direktor des »Medieval Institute« an der Western Michigan University in Kalamazoo, der als Nachfolger von Otto Gruendler und Veranstalter des alljährlichen »International Congress on Medieval Studies« den Herausgebern weiterhin die Sektionen zum Thema »Medieval Myths« ermöglicht hat. Ein Dank, der gleichermaßen auch an Axel Müller, den Verantwortlichen des »International Medieval Congress« an der University of Leeds, geht. Wiederum zu großem Dank verpflichtet sind wir Doris Überschlag (Kantonsbibliothek »Vadiana« St. Gallen) für die Mühen der Literaturbeschaffung. Salzburg/ St. Gallen, im Oktober 1998 U.M./ W.W. Inhalt Dämonen, Monster, Fabelwesen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Eine kleine Einführung in Mythen und Typen phantastischer Geschöpfe Werner Wunderlich (St. Gallen) Das Universum der Dämonen und die Welt des ausgehenden Mittelalters . . . . . . . . 39 Leander Petzoldt (Innsbruck) Bestiarien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 L.A.J.R. Houwen (Groningen) Die arthurische Dämonologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Umdeutung eines archaischen Mythos zu einem mythischen Teilsystem ritterlich-höfischer Utopie Rolf Bräuer (Greifswald) Hic nulli habitant propter leones et ursos et pardes et tigrides . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Die Zoologie der mappae mundi Margriet Hoogvliet (Groningen) Monster und Dämonen am Kirchenbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Peter Dinzelbacher (Salzburg) Gargoyles - Wasserspeier. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Phantasieprodukte des Mittelalters und der Moderne Albrecht Classen (Tucson) Basilisk - regulus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Eine bedeutungsgeschichtliche Skizze Marianne Sammer (München) Die Monster in Beowulf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Marijane Osborn (Davis) Mythos Drache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Winder McConnell (Davis) Dracula - Der Herrscher der Finsternis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Vom mittelalterlichen Mythos zum modernen Zelluloid-Nervenkitzel Klaus M. Schmidt (Bowling Green) Der Wandel des Einhorns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Jochen Hörisch (Mannheim) 8 Dämonen, Monster, Fabelwesen Fenriswolf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .229 Wilhelm Heizmann (Göttingen) Golem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .257 Christa Habiger-Tuczay (Wien) Mythos Greif . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .267 Winder McConnell (Davis) Harpyie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .287 Sieglinde Hartmann (Frankfurt a.M.) Hexen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .319 Christa Habiger-Tuczay (Wien) Incubus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .333 Christa Habiger-Tuczay (Wien) Klabautermann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .343 Karin Lichtblau (Wien) Kobold . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .353 Karin Lichtblau (Wien) Laurin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .373 John L. Flood (London) Leviathan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .387 Daniel Brühlmeier (Baden) Lilith . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .395 Edith Wenzel (Berlin) Medusa, Pegasos und Perseus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .403 Antiker Mythos, mittelalterliche Rezeption und Nachleben in der Neuzeit Albrecht Classen (Tuscon) Midgardschlange . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .413 Wilhelm Heizmann (Göttingen) »Nicchus - Nix« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .439 Claude Lecouteux (Paris/ Caen) Percht und Krampus, Kramperl und Schiach-Perchten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .449 Felix und Ulrich Müller (Salzburg) Inhalt 9 Perkeo. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 Jürgen Fröhlich (Essen) Der Phönix: Vom Christussymbol zum Firmenlogo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 Romy Günthart (Basel) Satan, Teufel, Antichrist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 Werner Wunderlich (St. Gallen) Der Teufel in der amerikanischen Kultur und in der biblischen Tradition . . . . . . . 487 Francis G. Gentry (State College) Der Teufel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 Anmerkungen zu einem nicht allein mittelalterlichen Komplex Günther Mahal Der Antichrist. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 Barbara Könneker (Frankfurt a.M.) »daz si totfuorgiu tier sint« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545 Sirenen in der mittelalterlichen Literatur Rüdiger Krohn (Chemnitz) Eine kleine Kulturgeschichte des Werwolfs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565 Keith Roberts (St. Louis) Die Wilde Jagd . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 583 John L. Flood (London) Wilde Frau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603 Christa Habiger-Tuczay (Wien) Der Wilde Mann - ein Mythos vom Andersartigen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617 Ernst Ralf Hintz (Hayes) Der Wunderer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 627 Die Rolle des Dämonischen in der Heldenepik Hans-Joachim Behr (Braunschweig) Zwerge und Riesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 635 Christa Habiger-Tuczay (Wien) Enzyklopädische Stichworte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 659 Bibliographische Hinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 681 Dämonen, Monster, Fabelwesen Eine kleine Einführung in Mythen und Typen phantastischer Geschöpfe Werner Wunderlich (St. Gallen) Aus all den erfunden und eingebildeten Geschöpfen eine nach welchen Gesichtspunkten auch immer systematische, repräsentative und methodisch wie historisch begründete Auswahl für einen Sammelband zu treffen, scheint unmöglich zu sein. Wir haben versucht, solche imaginären Kreaturen zu finden, die über Kulturgrenzen und Epochenschwellen hinweg existieren, wenn auch ihre Bedeutung schwankt und wir der westlichen Kultur den Vorzug einräumen. Vor allem aber richtet sich unser Sortiment schlichtweg nach der besonderen Vorliebe, die der eine und der andere Autor für »seine« Kreatur hat. Will man diese »Kreaturen« planmäßig erfassen und nach typologischen Kriterien vorstellen, muß man zuvor einräumen, daß begriffliche Unterscheidungen und Differenzierungen nach Herkunft und Überlieferung, nach Erscheinung und Funktion natürlich möglich und auch hilfreich sind, daß aber eine strikte und unangreifbare Einteilung in »Dämonen«, »Monster« und »Fabelwesen« wegen der fließenden Übergänge und Überschneidungen nicht in jedem Fall eine zweifelsfreie Zuordnung einzelner Geschöpfe möglich und auch nicht sinnvoll macht. Unser Buchtitel will deshalb einen thematischen Bereich umreissen und nicht eine kategoriale Systematik suggerieren. So soll es auch im folgenden in erster Linie nur darum gehen, Wesensmerkmale mythischer Geschöpfe unter typischen Aspekten vorzustellen, nicht eine systematische Typologie für alle im Band vertretenen Dämonen, Monster und Fabelwesen vorzugeben. Die Wirklichkeit mythischer Geschöpfe heute Der Titelheld der Filmreihe (1987, 1990, 1993) und gleichnamigen TV-Serie Robocop (1992 ff.) räumt als Ordnungshüter in der Unterwelt von Detroit gründlich auf. Robocop ist ein künstliches Geschöpf. Ein Roboter mit allen elektronischen Finessen der Kommunikations- und Waffentechnik, gesteuert von einem Computerprogramm und dem Gehirn eines erschossenen Polizisten, eines Cops. Roboter plus Cop ergibt Robocop. Das Produkt futuristischer Biomechanik und Computertechnologie ähnelt im Aussehen einem mittelalterlichen Ritter mit Harnisch und Helm. Wie dieser kann er von Feinden verletzt oder sogar fast zerstört werden und benötigt menschliche Fürsorge und - selbstredend - technisches Knowhow, um wieder hergestellt zu werden. An der Herstellung solcher Maschinenmenschen, Menschenmaschinen übten sich seit dem Barock Uhrmacher und Feinmechaniker, zugleich tauchten sie seit dieser Zeit als Figuren in der Literatur und auf der Opernbühne auf. In der Romantik hatten sie Hochkonjunktur und tummelten sie sich zu Hauf in Romanen und Novellen. Bis heute erfreuen sie sich hoher Beliebtheit in vielen Fantasy- und Science Fiction-Filmen und -Romanen. Die Perfektion der modernen special effects bringt immer neue, immer phantastischere Gestalten und 12 Werner Wunderlich Mixturen aus menschlichen Lebewesen und elektronisch-mechanischen Apparaten hervor. Androide, Humanoide, Biomechanoide düsen durchs All und übernehmen als Helfer von Menschen die Rolle putziger Märchenwichtel, als Widersacher der Menschen die Rolle greulicher Sagenungeheuer. Daneben bedrohen grauenhafte Bestien des Kosmos (z.B. Alien 1979, 1986, 1992) ahnungslose Astronauten oder bevölkern auf fernen Planeten ganze Menagerien fantastischer Geschöpfe schumrige Kneipen (z.B. Star Wars, 1977 - 97) und machen unerfahrenen Raumfahrern das Leben schwer. Regisseure und Autoren lassen uns auch auf der Erde gefährliche Begegnungen mit Vertretern seltsamer und ungewöhlicher Spezien erleben. Sei es mit Besuchern aus dem All wie den gefräßigen Gremlins (Gremlins, 1984, 1990) oder dem erbarmungslosen Menschenjäger, dem nur ein Arnold Schwarzenegger Paroli bieten kann (Predator, 1987) oder den heuschreckenartigen Raubrittern, die beinahe die Feiern um den Independence Day (1996) verdorben hätten. Nicht wenige Monster aber sind »menschlichen Ursprungs« und entstammen den Laboren und Gen-Küchen moderner Wissenschaftler (resp. den Köpfen ausgebuffter special effects-Spezialisten). Zu dieser Kategorie zählen sicher die durch Genexperimente wiederbelebten Dinosaurier (Jurassic Park, 1993, 1997), oder das wunderschöne und zugleich grauenhafte Ergebnis der Kreuzung menschlicher und außerirdischer Gene (Species, 1995). Der Schweizer Hans Rudolf Giger (Schöpfer u.a. von Alien und Species) ist heute weltweit der bekannteste »Master of the Macabre«, dessen bizarre Filmmonster als Hollywood-Stars eine ständig wachsende Fan-Gemeinde haben, die in der virtuellen Welt des Internets wie auf Ausstellungen renommierter Galerien den Geschöpfen eines phantastischen Realismus ihre Referenz erweisen kann. Gewiß starken Einfluß auf die neue Hochkonjunktur unheimlicher Gestalten, magischer Welten und infernalischer Kulte hat das bevorstehende Jahr 2000, das Endzeitängste schürt, okkulte Praktiken in Schwung bringt, übersinnliche Erscheinungen aufkommen läßt - und die Diskussion über die Existenz und den Einfluß dämonischer und fabelhafter Wesen zum allgegenwärtigen Medienereignis macht. Niemand kann diese Ausgeburten der Phantasie leibhaftig auftreten lassen, aber dafür werden sie von ihren Zeugen umso eifriger in allen Einzelheiten einfallsreich geschildert und in Wort und Bild wiedergegeben. In Originalität und Präzision sind dabei aktuelle Berichte denen des Altertums in nichts voraus. Schon antike Naturbeobachtungen konnten fremde und unbekannte Kreaturen oft nur beschreiben, indem sie deren einzelne Körperteile mit denen ihnen bekannter Lebewesen verglichen. Mittelalterliche Reiseberichte ließen deshalb zur Erklärung des Unbekannten ihre Kombinationsgabe und Phantasie ins Kraut schießen. Zeichner und Autoren, die solche Darstellungen beim Wort nahmen, haben dann die groteskesten Kreaturen daraus geschaffen, wundersame Tiere, seltsame Menschen, Hybriden aus beiden. Es sind Geschöpfe des Menschen, der sie nach seinem Bild und seiner Vorstellung formt und verformt. »Alles ist durch das Wort geworden« steht im Prolog des Johannesevangeliums über die Schöpfungsgeschichte. Tatsächlich zeugt das Wort immerfort Welt, daran hat sich seit biblischen Zeiten nichts geändert. Deshalb auch werden immer wieder immer neue imaginäre Geschöpfe geschaffen. In der Un-Wahrscheinlichkeit ist unsere Zeit dem Mittelalter auf diesem Gebiet in nichts voraus. Die Nachfahren mittelalterlicher Schöpfungsphantastik sind heute gespenstische Dämonen, Monster, Fabelwesen 13 Technik- oder Genfiktionen, die Panik und Ekel auslösen. Das Paradoxe: Gerade wegen ihrer Existenz als Hirngespinste sind solche Geschöpfe eben durchaus Realität. Dann, wenn sie als Projektionen psychischer Zustände und seelischer Verfassungen dienen; dann, wenn sie - gleichviel ob als triviale Stereotpyen oder originelle Deutungsmodelle - zum Verständnis von Welt beitragen und menschliche Erfahrung, Angst oder Hoffnung ausdrücken und verstehbar machen wollen. Diese Funktion macht imaginäre Geschöpfe zu mythischen Kreaturen. Wovon wir keine genaue Vorstellung haben, was wir uns nicht erklären können, wovon wir nicht wissen, ob es existiert, nehmen wir dessen ungeachtet ernst, halten es für wahr und fürchten uns davor, glauben an seine Bedeutsamkeit und Wirksamkeit, wenn uns vorrationale Annahmen über die Welt und unser Selbst in Geschichten und in Gestalten erzählt werden. Wo man nichts genaues wissen kann, erzählt man Geschichten. Der Mythos erteilt dazu das Wort und bringt es in Religion und Philosophie, Kunst und Literatur, Sitte und Brauchtum als »Wissen« zur Sprache. So vermittelt der Mythos heilige Wahrheiten, schafft Vorbilder für Schuld oder Unschuld, erklärt die Herkunft von Gott und der Welt, macht Mensch und Natur begreiflich, berichtet die Geschichte von Institutionen und Kulten, veranschaulicht gesellschaftliche und politische Zeitläufte. Insofern hat der Mythos nicht nur konstativen, sondern auch performativen Charakter. Immer schon, denn immer sind bestimmte Dimensionen von Wirklichkeit unserer vorstellbaren Erfahrungswelt und unserer erlebten Geschichte einen Schritt voraus. Was theoretisches Denken, abstrakte Rationalitätsentwürfe, wissenschaftliches Sprechen noch nicht verbindlich erklären und als Macht des Unergründlichen enttabuisieren, als Geheimnis des Unbegreiflichen entschleiern können, wird durch den Mythos und seinen Verbindlichkeitsanspruch vorstellbar und verständlich gemacht. Deshalb entstehen mit den Vorstößen in neue Wissensbereiche auch immerzu neue Mythen über das unerklärlich und geheimnisvoll Bleibende. Auch das Medienzeitalter erfindet neue Mythen, die keiner unbewußten Tätigkeit der Einbildungskraft entspringen, sondern planvollem Handeln, das letzte Wahrheiten oder massensuggestive Leitbilder in symbolischen, erzählten Wirklichkeiten verdichtet und diesen Realität unterstellt. Deshalb auch wird von den Kulturwissenschaften auf den drohenden Verlust von Kontingenzbewußtsein, auf den Mangel an Selbstreflexion jener mythischen Realitätskonstruktion hingewiesen, wenn diese für Seinsformen oder für Sinntransparenz Erklärungskompetenz und Moralansprüche behaupten. So ist der Mythos stets auch wegen seiner Komplementärfunktion zum Diskurs des Logos, des vernünftiges Wortes, und nicht etwa allein schon wegen der vermeintlichen oder tatsächlichen Überlegenheit seiner Bilder und Argumente im Gebrauch. Weil das, was Menschen beispielsweise für das Böse halten, rational kaum als Teil unserer Wesenheit erklärt werden kann, erklärt uns der Mythos vom Satan die Entstehung des Bösen in der Welt und hilft uns religiöse Werte und moralische Normen für den ethischen und sozialen Umgang damit - etwa die Abwehr und Bestrafung des Bösen - zu entwickeln. Auf diese Weise schlägt der Mythos den Bogen vom Einst zum Jetzt und verweist auf das Künftige, gründet also im Immer. Im Mythos wird das Dazumal, von dem berichtet und erzählt wird, im Derzeitigen erfahren. Deshalb ist der Mythos nicht nur archaische Vergangenheit, sondern auch beständige Gegenwart. Natürlich hängt vom Grade der Aufklärung und vom Stand des Wissens ab, in welcher Weise Gegenwart den Mythos erlebt und vergegenwärtigt. Wo rationale Geschichtsauffassung und empirische Naturkenntnisse Mysterien und Magie ersetzt haben, verliert der Mythos seine Überzeugungs- 14 Werner Wunderlich kraft. Wo aber Fragen nach Herkunft und Ziel unserer Welt, nach Geburt und Tod zu immer neuen Rätseln führen, behalten Mythen nach wie vor ihre Funktion für die Welt- und Selbstauslegung des Menschen. Und selbst wenn im Alltag Banalitäten für außergewöhnlich, für mysteriös oder wenigstens für ungewöhnlich gehalten werden, bietet der Mythosbegriff wenigstens die Möglichkeit, das scheinbar in sich selbst Unergründliche faßbar und befreiflich zu machen: sei’s als Mythos des »Wunders von Bern«, das 1954 Deutschland zum Fußballweltmeister machte, sei’s als Mythos der legendären Blue Jeans als einer Ikone amerikanischer Lebenskultur mit globalem Modeerfolg, sei’s als Mythos von Madonna als einer Kultfigur und eines Sexidols mit sagenhaftem Erfolg. Der Mensch als einziges uns bekanntes Wesen, das über sich selbst nachdenken kann, nutzt diese Fähigkeit manchmal auf wunderbare Weise und denkt sich Geschichten und Gestalten aus, um mit deren Hilfe über sich selbst etwas zu erfahren: woher er kommt, wohin er geht. In einem vorhellenischen Schöpfungsmythos paart sich Eurynome, die dem Chaos entsteigt, mit dem Nordwind Boreas, der die Gestalt der Schlange angenommen hat. Eurynome legt das Weltei, dem alles entsprungen ist, was unsere Erde trägt. Und schon bei dieser Weltschöpfung sind auch jene Wesen entstanden, die unsere Welt seither mit uns zusammen bevölkern. Geschöpfe, die keine erdgeschichtliche Evolution hervorgebracht hat, sondern die menschliche Einbildungskraft. Dämonen, Monster, Fabelwesen: chtonische Wesen, die mit dem Diesseits verhaftet sind; uranische Wesen, die himmlische Sphären bewohnen und von dort aus irdische Kreise ziehen. Geschöpfe, die nie aussterben und die durch immer andere und neue Spezien bereichert werden oder auch Zuwachs und Nachwuchs erhalten. Über Generationen hinweg haben Gesellschaften und Kulturen mit ihnen gelebt, sie mit symbolhaften Bedeutungen versehen. Freilich, im Vergleich zur unendlichen Artenvielfalt der Natur nimmt sich die phantastische Zoologie und Ethnologie in bezug auf die Mannigfaltigkeit ihrer imaginären Geschöpfe eher bescheiden aus. Da Phantasie und Imagination immer nur aus der empirischen Realität und der menschlicher Vorstellungskraft, einem begrenzten Reservoir, schöpfen können, wiederholen sich im Grunde stereotyp relativ wenig Variationstypen: als Puzzle aus menschlichen und tierischen Körperteilen, als übersteigerte Formen und Prinzipien bekannter Fehlbildungen, als diffuse wesenhafte Verkörperungen schematisierbarer Ängste, als Repräsentanten furchteinflößender, geheimnisvoll wirkender Orte und deren Merkmale. Die Wirklichkeit mythischer Geschöpfe im Mittelalter »Scheusale existieren, weil sie Teil des göttlichen Plans sind, und selbst in den schrecklichsten Fratzen offenbart sich die Größe des Schöpfers.« Diese für das Mittelalter charakteristische Auffassung vertritt in Umberto Ecos postmodernem Roman Der Name der Rose (1980) Benediktinerabt Abbo gegenüber seinem franziskanischen Besucher William von Baskerville. Eco versetzt uns mit der Handlung ins Mittelalter. Er thematisiert dessen Vorliebe für Fabulöses und demonstriert damit gleichzeitg auch dessen immer noch fortwährende, nie nachlassende Anziehungskraft imaginierter Welten auch auf die Neugier unserer Gegenwart. Gegen das stattliche Aufgebot phantastischer Wesen auf den Rändern bebilderter Manuskriptseiten in Codices oder auf Mauern und Mobiliar von Kathedralen und Klö- Dämonen, Monster, Fabelwesen 15 Abb. 1 16 Werner Wunderlich stern hat Bernhard von Clairvaux in seiner Apologia ad Guillelmum Abbatem von 1125 heftig protestiert. Unflätige Affen und monströse Kentauren würden sich in romanischen Klöstern breitmachen, und er warnte vor der Macht dieser Bilder, die Mönche zu verwirren und von ihrer Frömmigkeit abzubringen. Aber weder die Einwände Bernhards noch von irgendjemand anders konnten wenig später die Vermehrung der unzähligen hypbriden Monster (Abb. 1) auf den sogenannten Marginalien gotischer Kirchen (i.e. Fassadenreliefs, Fensterbögen, Wasserspeier, Teile des Chorgestühls, Kragsteine, Dachabschlüsse oder anderes architektonisches Dekor) und den Seiten gotischer Handschriften von Bestiarien, Fabeln, Sprichwort- und Rätselsammlungen oder Ritterepen verhüten. Mittelalterliches Bewußtsein wollte wundersame Phantasiegeschöpfe nicht von realen Naturgeschöpfen unterscheiden. Zum einen, weil die Bibel den Unterschied auch nicht macht; zum anderen, weil nach allgemeiner Anschauung vom Begriff auch auf das Wesen der Sache geschlossen wird: Worte sind der Dinge Zeichen. Deshalb bezeichnet »Drache« unbezweifelbar einen existierenden Drachen oder »Kynokephalos« eben einen wirklichen Hundsköpfigen. Natürlich hat man auch im Mittelalter nach dem Wahrheitsgehalt und dem Wahrscheinlichkeitsgrad von Naturberichten und Tierkunden gefragt, aber man hat eben auch grundsätzlich in Gottes Schöpfung und als Gottes Geschöpf nichts für unmöglich gehalten. Deshalb gehören auch Fabelwesen in Gottes Heilsplan. Von diesem Glauben legen die zahllosen bebilderten Chroniken und Bestiarien mit ihren absonderlichen Geschöpfen und den exakten Beschreibungen der phantastischen Zoologie ein oft prachtvolles Zeugnis ab. Bestiaren sind gleichsam die schöpferische Fortsetzung der biblischen Genesis durch den Menschen, da es in 1. Mos 2.19, 20 heißt: »Und Gott der Herr machte aus Erde alle die Tiere auf dem Felde und alle die Vögel unter dem Himmel und brachte sie zu dem Menschen, daß er sähe, wie er sie nennte; denn wie der Mensch jedes Tier nennen würde, so sollte es heißen. Und der Mensch gab einem jeden Vieh und Vogel unter dem Himmel und Tier auf dem Felde seinen Namen.« Hinter dieser Darstellung steckt eine Grunderkenntnis naturwissenschaftlichen Denkens. Wie sich das Werden in Entwicklungsperioden vollzogen hat, so hat sich analog das Lebendige in Arten ausgebildet. Es wird nicht von der Erschaffung beliebiger oder bestimmter einzelner Tiere gesprochen, sondern von der Erschaffung der Tierarten. Die Grunderkenntnis der in Arten oder Gattungen gegliederten Fauna liegt also schon der biblischen Schöpfungsdarstellung zugrunde. Es ist dem Menschen aufgetragen, das komplexe Ganze der Natur durch Einteilen und Auseinanderhalten zu erfassen, indem die einzelnen Tiere einen Namen erhalten sollen. Das Schöpfungshandeln Gottes hat eine Welt von Lebewesen hervorgebracht, die der Mensch nicht zu erfinden, sondern nur zu finden und zu benennen braucht, damit es sie gibt. Und just deshalb gibt es selbstverständlich auch die phantastischen Lebewesen. Diese sind immer auch Objekte analogischer Deutungen. Daß beispielsweise wiederkäuende Tiere für rein gehalten wurden, soll die Pflicht, stets Gott zu gedenken, einschärfen, und Tiere mit gespaltenen Klauen versinnbildlichen die Dichotomie von Recht und Unrecht. So ergibt sich eine unendliche Vielfalt der Ding- und Sinnkombinationen. Um Laster und Tugenden begrifflich und inhaltlich vorstellbar zu machen, kombiniert und konstruiert die Scholastik ganz rational Montagen aus Tieren und Menschen (Abb. 2). Gerhoh von Reichersberg, Propst des Innviertler Augustiner Chorherrenstifts, läßt in seinem Psalmenkommentar die Stelle »facies peccatorum meorum« durch ein Wesen illu- Dämonen, Monster, Fabelwesen 17 strieren, das sich aus dämonischen Geschöpfen und negativen Symboltieren zusammensetzt: das Wesen hat ein Menschengesicht, Kuhhörner, Pferdehals, Schweinerücken, Bärenfüße, zwei Schwänze. Dieses Wesen hat die didaktische und mnemotechnische Funktion, die schrecklichen Laster zu verdeutlichen und stets erinnerlich zu halten. Derartiges Analogiedenken konstruiert bis in die Frühe Neuzeit hinein solche Kreaturen. Berühmt ist jener Einblattdruck, der um 1500 auftaucht: Er zeigt ein Monster mit kahlem Kopf und einem nach oben gekrümmten Horn. Die Ohren sind flammengestaltig und statt der Arme hat das Wesen zwei gefiederte Flügel. Über einer männlichen und einer weiblichen Brust sind zwei griechische Kreuze und darunter zwei Flammenzungen, die nach unten auf kreisförmige Punkte zeigen. Das Geschlecht besteht aus Vulva und Phallus. Das rechte Bein hat am Knie ein Auge, das linke ist geschuppt und hat einen Krallenfuß mit Sporn. Es ist eine aus Florenz stammende Allegorie des Bösen und des Lasters, das die schamlose Nacktheit, die diabolische Sündhaftigkeit, die androgyne Wollust darstellt. Prodigienliteratur, Chroniken, Exemplasammlungen, Predigten schildern in Wort und Bild solche phantastischen und monströsen Allegoresen des schrecklich Wunderbaren, in dem die Alpträume eines durch den Teufelsglauben und apokalyptischen Endzeiterwartungen erschütterten Zeit Gestalt annahmen. Wie wichtig dämonisch-monströse Wesen für die Realität allegorischer Deutungen waren, zeigt besonders die satansartig geflügte figura mundi (Frau Welt) mit Hahnklaue und drachenköpfigem Schweif als fabulöse Verkörperung der Welt und Gegengestalt zur religio. Die Figur und ihre Attribute repräsentieren symbolisch die sieben Todsünden als die verführerischen Laster der Welt, vor deren verderblichen Wirkungen die monströsen Scheußlichkeiten warnen. Das Buch ist im Mittelalter das Medium, durch das die Wirklichkeit und die Natur wahrgenommen und gewertet werden. Die empirische Umwelt war kaum der Maßstab für die Darstellung der Welt in den Büchern. Eher wurde umgekehrt die Welt nach den Büchern wahrgenommen und beurteilt. Fiktion und Realität waren keine Kategorien für die Wirklichkeitserfahrung. Deshalb galt überliefertes Naturverständnis wie das des Physiologus und die Weltauffassungen von Autoritäten wie Thomas Cantimpratensis, Jacob van Maerlant oder Konrad von Megenburg als vielleicht noch wichtiger und zuverlässiger als die unmittelbare Wirklichkeitsbeobachtung des einzelnen. Infolgedessen wurde zwischen imaginären und natürlichen Geschöpfen kein deutlicher Unterschied gemacht. Wahr und real waren beide, und die Differenzierung zwischen fictum und factum oder zwischen erfundener Dichtung und Tatsachenberichten war bis in die Frühe Neuzeit kein Dilemma, wie die Beispiele der Nachrichtensammlung des Pfarrers Johann Jakob Wick aus den Jahren 1560 bis 1587 etwa lehren. Das Mittelalter war die Zeit, in der die erdachten Geschöpfe immer Saison hatten. Abb. 2 18 Werner Wunderlich Von den skurrilen, dekorativen Figuren der keltischen Mythologie in den Illuminationen irischer Evangeliare bis zur Zeit des Teufelsglaubens und der Hexenverfolgungen mit ihren Nachwirkungen bis weit ins 17. Jahrhundert hinein. Dämonen, Monster, Fabelwesen waren nicht allein exotische Geschöpfe fremder Lebenswelten, sondern sie waren im Lebensraum des mittelalterlichen Menschen allgegenwärtig: in Religion und Recht, Medizin und Astronomie, Kunst und Literatur. Durch die Übertragung dämonologischer Vorstellungen auf gewisse Arten wie Schafe und Ziegen oder Stiere und Vögel kam es zur rituellen Opferung dieser Tiere oder auch zu kuriosen Tierprozessen, in denen schon mal ein Esel oder eine Kröte, ein Krebs oder ein Hahn wegen vermeintlicher zauberischer Fähigkeiten und diabolischer Vergehen angeklagt und anschließend hingerichtet wurden. Dämonen Begriff und Bedeutung Das griechische »δαιμον« (daimon) bezeichnet einen Verteiler oder Zuteiler des Schicksals. Im 6. Jahrhundert v. Chr. verstand Thales von Milet unter dem Begriff einen der die Welt erfüllenden Geister, und Sokrates meinte damit das Gewissen. Die Neuplatoniker hatten Naturgeister im Sinn, wenn die Rede auf Dämonen kam, und Augustin gab hilfreichen ebenso wie übelwollenden Geistern diesen Namen. In der Bibel steht der Ausdruck im Singular synonym für den unreinen oder bösen Geist sowie im Plural für die Engel des Teufels. Das sind nach animistischer Vorstellung körperlose Wesen, die an wüsten und unreinen Orten hausen, von wo aus sie von Menschen Besitz ergreifen und ihnen Schaden zufügen. Ulfilas übersetzte das griechische Wort mit »unhultho«, und Notker Teutonicus gab in seiner Lukasübersetzung den Begriff mit »holdo« wieder, was aber dem mittelhochdeutschen »unholt« und dem neuhochdeutschen »Unhold« entspricht. Diese Bedeutung im Sinne von »jemand nicht hold sein«, »feindlich« oder »böse« wurde mit dämonologischer Bedeutung sinngleich für mächtige, feindselige, schädigende Dämonen gebraucht; in der Christianisierungsphase vor allem für die heidnischen Gottheiten, antike und germanische Götter, die auf diese Weise als furchterregende und schadenstiftende Dämonen diabolisiert wurden. Deshalb wird der Begriff heute noch weitgehend negativ verwendet. Der Begriff überschneidet sich mit anderen Ausdrücken zur Kennzeichnung imaginärer Wesen wie Monster und Fabelwesen, Gespenst und Geist, Unhold und Ungeheuer oder Bestie und Scheusal. Wesen, Erscheinungsweise und Funktion In der Antike waren Dämonen - in den Epen Homers etwa - ursprünglich Götter mit menschlichen Charakterzügen, die in nachhomerischer Zeit vor allem mit den chthonischen Gottheiten wie Hades, Demeter, Persephone, Moira oder Tyche identifiziert wurden. Hesiod beschreibt dann Dämonen als Zwischenwesen zwischen Göttern und Menschen, die in gutem wie in bösem Sinne auf menschliche Geschicke Einfluß nehmen konnten. Auch der germanische Mythos kennt mit Loki einen Gott, dessen Unstetigkeit, Boshaftigkeit, Tücke und Zauberkünste ihm zu einem gelegentlich geradezu dämonischen Charakter gereichen. Andererseits sind in der Sage sowohl historisch bekannte Dämonen, Monster, Fabelwesen 19 Personen wie Dietrich von Bern als auch anonyme Gestalten wie der Rattenfänger von Hameln dämonisiert. Die Legende wiederum kennt den umgekehrten Vorgang der Entdämonisierung wie im Falle des Christopherus, der von einem hundsköpfigen Riesen zum christlichen Heiligen, der den Märtyrertod erleidet, umgedeutet wird. Dämonen sind unsichtbar oder aber können die körperliche Gestalt natürlicher wie auch phantastischer Wesen annehmen. Sie können aber auch als Geister in übernatürlicher Erscheinung auftreten. Sie verführen und peinigen den Menschen; selten helfen sie ihm auch. Der Kampf gegen die Dämonen ist eine Hauptaufgabe der Heiligen. Hexen und Magier schließen häufig einen Pakt mit einzelnen Menschen oder verkehren sogar geschlechtlich mit ihnen. Der Incubus, der »Daraufliegende«, ist der männliche Dämon, der mit Hexen schläft. Da er selbst zeugungsunfähig ist, kann er nur solchen Samen weitergeben, den er vorher im Geschlechtsverkehr in weiblicher Gestalt als Succubus, »Darunterliegende«, in sich aufgenommen hat. Es gibt jeweils nach Kulturkreisen, Ethnien oder Landschaften typische Dämonen. Sie treten dort hordenweise in Kollektiven wie dem Wilden Heer, der Wilden Jagd, dem Totenheer, den Venedigern, als Weiße Frauen, Wasserfrauen und Waldleute auf. Die Oberhäupter solcher Scharen sind auch als Einzeldämonen bekannt, wie beispielsweise die Precht und Herodias als Anführerinnen dämonischer Haufen, wie Odin bzw. Wotan als Anführer des Wilden Heeres, wie Dietrich von Bern in der Rolle des Wilden Jägers als Chef der Wilden Jagd. Familienweise treten Zwerge bzw. Wichte, Heinzelmännchen, Riesen, Alben, Trolle, Feen, Nymphen, Nixen, Elfen und Hexen auf. Solitäre Gestalten aus all diesen Gruppen mit einer eigenen Erzähltradition als Kristallisationsfigur sind u.a. die Riesen Haymon oder Thürse, die Waldgeister Rübezahl, Hehmann, Meister Epp, Salvan oder Schratt, die Berggeister Gangerl oder Ork, der Brunnengeist Frau Holle, der »Ewige Jude« Ahasver, der untote Vampir Dracula, der künstliche Riese Golem, die Hexen Diana oder Margot, die heidnischen Götzen Appollo oder Trevigant, der auch als Drache, Greif, Pudel, Mönch oder Feuerkugel herumgeisternde Teufelsdämon Mephistopheles, der Zauberer Krabbat, die Schreckfigur Krampas, der Schiffskobold Klabautermann, die Wasserfrauen Melusine, Undine oder die Raue Else, die Wassergeister Elbst und Fossegrimm, die Kobolde Butzenmann, Entenwick, Ekke Nekkepenn, Kasermandl, Puck oder Poppele, die Zwerge Laurin, Fenixmännlein, Goldemar oder Rumpelstilzchen, der Nachtgeist Mahr in Gestalt eines Haares oder Strohhalms, die Spukgestalt Feuerputz, der Kinderschreck Langtüttin. Besonders im Mittelmeerraum sind fabulöse Mischwesen wie Hundsköpfiger, Kentauros, Sirene, Pan oder Sphinx dämonisiert worden, während in nördlichen Kulturkreisen Dämonen in Gestalt phantastischer Tiere wie Drache oder Basilisk und vor allem in anthropomorphisierter Gestalt vorkommen. Da Dämonen immer auch menschliche Fähigkeiten und Fertigkeiten, Eigenschaften und Verhaltensweisen verkörpern, sind sie auch nach dem Bild und den Vorstellungen des Menschen geschaffen, gerade dort, wo sie sich von ihm durch einzelne tierische Körperteile wie Fischschwanz, Entenfüße oder Pferdeleib unterscheiden. Als Hauchwesen können Geister in menschlicher, tierischer oder phantastischer Statur sichtbar werden. In Geistergestalt können Dämonen gelegentlich auch als Beschützer und Begleiter des Menschen auftreten, aber vor allem als Polter- und Plagegeister ihr Unwesen treiben, wenn sie in einen Menschen fahren und nur durch Abwehrriten wie dem Exorzismus wieder vertrieben werden können. Die Macht der Geister ist oft auf einen bestimmten Ort begrenzt. In Gebäuden, auf Kreuzwegen, an Hinrichtungsstätten spuken zur Geisterstunde die Schreckgespenster, 20 Werner Wunderlich die als Totengeister, Gerippe, Ungeheuer, Kobolde, wilde Tiere oder in furchterregender, monströster Menschengestalt auftreten. Anthropomorphisches Aussehen haben oft auch die Elementargeister in Wäldern und Bergen, an Gewässern, auf Wiesen, wo sie Naturkräfte und Naturerscheinungen repräsentieren. Im allgemeinen genießen Dämonen keine kultische Verehrung, aber ihnen werden als Ausdruck eines Abhängigkeitsverhältnisses gelegentlich Opfer zur Begütigung oder auch als Entgelt für erbrachte bzw. erwartete Hilfeleistungen dargebracht. Auch zu Verträgen zwischen Dämon und Mensch kommt es mitunter. Das wohl bekannteste literarische Beispiel dafür ist der Teufelspakt zwischen Faust und Mephistopheles, mit dem der Schwarzkünstler und Negromant aus Knittlingen seine Seele aufs Spiel setzt. Als mythologische Gestalten sind Dämonen ein Instrument zur Erklärung von Welt. Denn was der Mensch von seiner Umwelt wahrnimmt und nicht rational versteht, kann für ihn durch das Wirken von Dämonen verständlich werden. Aitiolische Sagen erzählen von Erscheinungen wie der Wilden Jagd und erklären damit metereologische Vorgänge wie Unwetter, Nebel, Regenbogen; sie schreiben Naturkatastrophen dem gewalttätigen Unmut oder dem Leichtsinn von Riesen zu, bringen bizarre Felsen und Steine mit verzauberten Menschen in Zusammenhang. Als Projektionen von Träumen oder Halluzinationen, als Konfigurationen von Ängsten, Furcht oder schlechtem Gewissen, als Verkörperung von Wunschdenken und des Unbewußten, als gestaltgewordene sexuelle Obsessionen sind Dämonen eine individuelle, höchst subjektive Erfahrung und eine objektive psychische Realität, ein Teil der Persönlichkeit des Menschen. Schon die Stoiker hatten Träume und Krankheiten, aber auch Witterungserscheinungen durch die Existenz von Dämonen erklärt. Heute werden vor allem Märchen gerne als Zeugen psychologischer Erklärungs- und auch Bewältigungsansätze für Konfliktlösungen, Behauptungsversuche und Entwicklungsphasen gedeutet. Als Glaubensgestalten konkretisieren Dämonen religiöse Vorstellungen, oft abhängig von den ethischen Werten und den sozialen Normen einer Gesellschaft oder einer Gruppe. Die Ambivalenz gerade ältester Vorstellungen des Volksglaubens und seiner Brauchtumstraditionen zeigt dabei besonders der Umgang mit Totengeistern als verehrungswürdige Ahnen oder als schreckliche Wiedergänger. Christliche Dämonologie Als personifizierte Ursachen von Vorgängen, die erst auf der Stufe empirisch-wissenschaftlicher Naturbeobachtung erklärt werden können, finden wir Dämonen, die durch Zeremonien oder Abbildungen beschworen und magisch gebannt werden können, in der Frühstufe aller Kulturen, wo der Animismus an eine von Dämonen beseelte Natur glaubt. Weltreligionen wie das Christentum greifen diese Dämonenvorstellungen auf, konkretisieren sie immer wieder in neuen Gestalten und Kreaturen und verändern auch deren faktische, symbolische oder allegorische Bedeutung. Der Glaube an Dämonen war im Mittelalter ganz selbstverständlich. Die christliche Dämonologie sah und sieht in den Dämonen nicht die Verkörperung eines bösen Urprinzips, sondern gefallene Engel, die in ihrem sündigen Hochmut Gott zu gleichen nicht wesensmäßig böse sind, sondern durch freien Willen schuldig wurden. Ihr oberster Repräsentant Luzifer wurde nach außerbiblischer Überlieferung durch den Erzengel Michael in die Hölle gestürzt. Origines sah im Sturz der Engel eine übergeschichtliche himmlische Vorsehung, die die Schöpfungs- und Heilsgeschichte bestimmt. Im Engelsturz verbreite sich das Dämonische im Dämonen, Monster, Fabelwesen 21 Luftraum über der Welt und über der Unterwelt. Als Beherrscher der Lüfte sehen Augustin in De divinatione daemonum (um 410/ 40) oder Hrabanus Maurus in De magicis artibus (um 850) die Dämonen, denen sie eine ätherische, alles Körperliche durchdringende Wesenhaftigkeit sowie teuflischen Zauber und Magie zuschreiben. Analog zur himmlischen Hierarchie nahm man auch eine Teufelshierarchie an. An der Spitze steht der Höllenfürst mit mancherlei Namen wie Beelzebub, Belial, Gottseibeiuns, Mephistopheles, Luzifer, Satan oder Teufel. Er tritt auf in verschiedenen Erscheinungsweisen wie der des Mischwesens als Gehörnter oder Bocksfüßiger, in Tiergestalt als Hahn oder Schlange und vor allem als Ungeziefer, in Gestalt von Fabelwesen als Drache. Sein Vetter Antichrist gehört zu den dämonischen Gestalten der mittelalterlichen Eschatologie. Geboren vor dem Weltuntergang von einer jüdischen Hure zu Babylon ähnelt sein Lebensweg dem Christi. Nachdem er vergeblich versucht hatte, sich den Zugang zum Himmel zu erzwingen, wurde er in die Abgründe des Erdinneren verbannt. Die christliche Theologie handhabte von Anfang an die Dämonologie in der Auseinandersetzung mit den heidnischen Göttern, die von Tertullian, Ambrosius oder Augustin zu Dämonen erklärt wurden, an deren Existenz es keinen Zweifel geben konnte und die den Menschen Angst und Schrecken einjagten (Abb. 3). Abb. 3 22 Werner Wunderlich Der Theologe Maximus Confessor nannte im 7. Jahrhundert als den wichtigsten Grund, warum Gott den Dämonen erlaube uns anzugreifen, daß wir so über die Versuchung das Laster verabscheuen lernen und die innere Freiheit erlangen, niemals unsere Schwächen zu vergessen und an Gott und seine Erlösungskraft fest zu glauben. In solcher Tradition rationalisiert die kirchliche Teufelslehre, die offizielle Satanologie, bis heute den Mythos und differenziert zwischen dem prinzipiell Bösen und dem personifizierten Bösen. Sie überträgt die Idee der Theodizee, das im freien Willen gründende Erz- und Erbübel, mutatis mutandis auf die bis zum jüngsten Tag allgegenwärtigen Dämonen, die sich in stetem apokalyptischen Kampf mit den Engeln um die Seele des Menschen befinden. Dämonen im Mittelalter Gelehrte Schriften, Kunst und Literatur vermittelten im Mittelalter dämonologische Vorstellungen. Das 4. Laterankonzil von 1215 formulierte lakonisch: »Diabolus enim et alii daemones a Deo quidem natura creati sunt boni, sed ipsi per se facti sunt mali.« (Denn der Teufel und die anderen Dämonen wurden von Gott der Natur nach als gut erschaffen, doch wurden sie durch sich selbst böse.) Unter Berufung auf Augustins De civitate Dei (413 - 26) nannte Thomas von Aquin in der Summa Theologica (um 1267/ 73) die Dämonen einen »genus simulans deos et animas defunctorum«, eine Art, die die Gestalt von Göttern und die Geister Verstorbener annimmt. Im Dialogus Miraculorum (1219 - 23) des Caesarius von Heisterbach, in den Erzählwerken von Vincent de Beauvais, Stefan de Bellevilla oder in den Legenda aurea (um 1260/ 67? ) des Jacobus a Voragine tummeln sich Dämonen in teuflischer und tierischer Gestalt, als Soldaten, Bauern und immer wieder als lüsterne Verführerinnen. Oft ist ihr Auftreten von Lärm und Schwefelgestank begleitet. Es sind Exempla, in denen es um die Auseinandersetzung des Menschen mit Dämonen und die Überwindung dämonischer Mächte geht. Seit dem 15. Jahrhundert entstand eine reiche Literatur, die sich wie die Chronologia mystica (1515) des Johannes Trithemius oder wie die Occulta philosophia (1531) des Agrippa von Nettesheim mit der Beschwörung und Bannung der magia daemonica sowie mit Aussehen und Wirken von Dämonen befaßte und - auch unter dem Einfluß kabbalistischen Gedankenguts - in Schriften wie dem berüchtigten Malleus maleficarum, dem Hexenhammer (1487), ein diagnostisches System zur Identifizierung von Hexen und Schwarzen Magiern entwarf. Die Einteilung von Geistern nach den vier Elementen versprach dabei eine Pseudo-Systematik, denn ihre Logik verdankte sich der spekulativen Naturphilosophie beispielsweise eines Theophrastus Paracelsus. Dessen Liber de nymphis, sylphis, pygmaeis et salamandribus (1556) beschrieb Wesen, die als Najaden, Undinen oder in der Figur der Lorelei durch die naturromantische Dichtung des 19. Jahrhunderts dann wieder neu belebt wurden. Da diese weiblichen Dämonen keine Seele haben, sehnen sie sich nach der Verbindung mit Menschen, um an deren Transzendenz teilzuhaben. Schon im Liber quaestionum (1508) hatte Trithemius doziert, daß Dämonen zumeist in weiblicher Gestalt erschienen, weshalb die sexuelle Begierde bei ihnen besonders ausgeprägt sei. Freilich, eindringen in die weiblichen Körper können die sexistischen Dämonen am leichtesten mit männlicher Unterstützung bei der Kopulation. Die mittelalterliche Ikonographie kennt Dämonen vor allem in der Kirchenplastik: zum einen in der Gestalt phantastischer zoomorpher Mischwesen; zum anderen als häufig geflügelte, schwarze Teufel. Erstere finden sich zu Hauf an den Kapitellen der West- Dämonen, Monster, Fabelwesen 23 portale, an den sogenannten Bestienpfeilern, sowie an Taufsteinen von Kirchen. Als Feinde der Heiligen besiedelten die Dämonen den Westen, von wo aus sie die Kirchen gewissermassen belagerten und bestürmten, wo sie mit magischen Zeichen gebannt und durch den Gegenangriff der Engel unter Führung Michaels geschlagen wurden. Mit der Gotik verschwanden die Dämonen weitgehend aus den Kirchen und fristeten als Wasserspeier mit teuflischen Fratzen ihr Dasein unter den Dächern, um so den ausfahrenden Dämon darzustellen. Geflügelte Teufel gehören als fester Personalbestand zu den malerischen Darstellungen zahlreicher Fresken, Altäre, Buchillustrationen, Gemälde, Holzschnitte von den Austreibungen Besessener, von den Versuchungen der Heiligen, von Szenarien der Weltgerichte und Höllendarstellungen. Hieronymus Bosch und seine Nachfolger entwickelten als Gegenbild zur ikonographischen Heiligenwelt ein regelrechtes Genre des Dämonischen. Monster Begriff und Bedeutung Aus dem lateinischen »monstrum« für Wahrzeichen - bedeutungsähnliche Begriffe sind »miraculum« (Wunderding), »portentum« (Vorzeichen), »ostentum« (Omen) oder »prodigium« (Vorbedeutung) - ist das im Singular und Plural verwendete Wort »Monster« abgeleitet. Wir haben uns für diese eingebürgerte neudeutsche Form, die auch im Englischen gebräuchlich ist, entschieden. Schon in der Antike verstand die Medizin unter dem Begriff »monstra« Menschen und Tiere mit angeborenen Fehlbildungen, die sogenannten Mißgeburten, die oft gleich nach der Geburt getötet wurden. Reisebeschreibungen und Naturschilderungen versetzen ganze Völkerschaften von Monstern zumeist in exotische Länder, weshalb ihre wirkliche Existenz kaum nachgeprüft werden konnte. Weil angeborene Fehlbildungen oft den Nimbus von Wunderbildungen, »terata«, besaßen, wurde daraus der Begriff Teratologie für die medizinische Lehre von den angeborenen Mißbildungen. Der dreiköpfige Höllenhund, der den Hades Abb. 4 24 Werner Wunderlich bewacht, Kerberos, wird auch als ein Teras bezeichnet, und Platon nennt ein wunderliches, abnormes Wesen Teratolos. Widernatürliche, normabweichende Variationen, Anomalien und Deformationen sind also die Merkmale von tierischen und menschlichen Monstern von Mißgeburten, Zwittern, Riesen, Zwergen, Doppelbildungen, Vielbrüstigen, Wesen mit über- und unterzähligen oder zusammengewachsenen Extremitäten, Mischwesen aus verschiedenen Tieren oder aus Mensch und Tier (Abb. 4). Daß derartige Wesen als reale oder fiktive Erscheinungen unnatürlich, unmenschlich und aufgrund ihres monströsen Aussehens nicht nur fremdartig, sondern auch unheimlich, wild und fürchterlich wirkten, liegt auf der Hand. Deshalb steht das deutsche Wort »Ungeheuer« für das, was Schutz, Sicherheit, Vertrautheit vermissen läßt, als Synonym Abb. 5 Dämonen, Monster, Fabelwesen 25 für Monster, das aus der Sicht des Schutzlosen und Schwachen widerwärtig, gräßlich, entsetzlich, grauenvoll und furchterregend ist (Abb. 5). Ein Geschöpf, das auf solche Weise Abscheu erregt, ist deshalb auch ein schreckeneinjagendes Scheusal; ein Begriff, der von »Scheuche« im Sinne von Schreckbild abgeleitet ist. Wesen, Erscheinungsweise und Funktion Solche Sichtweise identifiziert dann natürlich auch Eigenschaften und Verhaltensweisen von Monstern in diesem negativen Sinn als feindselig, bösartig, widerwärtig, ungestüm, gierig, schändlich und abscheulich. Monster verschlingen gerne fremde Kinder, schieben ihre eigenen unförmigen, häßlichen als Wechselbälger den Wöchnerinnen unter, sodaß eine Familienplage daraus wird. Eine rühmliche Ausnahme unter den Monstern ist Bardewitt, der fünfköpfige wendische Gott des Friedens, des Handels und der fünf Sinne. Die Dämonisierung der Monster warf auch praktische Fragen des Glaubensvollzugs auf. Die Unterscheidung von beseelten und unbeseelten Monstern war für die Taufpraxis beispielsweise entscheidend. Nach Konrad von Megenberg (Buch der Natur, vor 1350) waren jene Monster seelenlos, die durch kosmische Einflüsse gezeugt und mit einem Viehhaupt geboren worden waren. Diese sollten nicht getauft werden. Auch für Petrus de Abano (Conciliator differentiarum philosophorum medicorum, um 1310) war die Kopfform eines Lebewesens ausschlaggebend für die Einstufung als Mensch und damit für die Taufe. Entstehung und Verbreitung von natürlichen Monstern Vergleichsweise nüchterne Theorien für die Entstehungen von Monstern waren in der Antike verbreitet und gründeten auf medizinischen Beobachtungen und einleuchtenden Folgerungen. Schläge oder Stöße auf den Leib der Schwangeren, die Enge des Uterus oder Erkrankungen des Unterleibs wurden als Ursachen für Fehlbildungen gehalten. Daneben aber gab es auch magische Auffassungen wie jene, die Träume und Trugbilder einer Schwangern für die ursächlichen Faktoren von Mißgeburten hält: der Anblick oder die Vorstellung von etwas Abscheulichem, Widerwärtigem während der Schwangerschaft könne teratogene Wirkung haben. Ein Aberglaube, der über viele Jahrhunderte lebendig blieb und sich im mittelalterlichen Teufels- und Hexenwahn austobte. Allerdings kennt auch unser Jahrhundert mit der imagologischen Erklärung von Leberflecken und Feuermalen noch derartige volkstümliche Ansichten. Aber Monster entstehen auch durch die Einnahme verbotener und gefährlicher Mittel. Die Wiener Genesis (um 1060/ 80? ) beispielsweise schreibt Pflanzen letztere Wirkung zu: Adam habe seine Töchter vergeblich vor dem Verzehr embryotoxischer Kräuter gewarnt, weswegen die Monster in die Welt gekommen seien. Vielfältig sind die Ansichten über die Entstehung von Monstern durch oder nach dem Zeugungsakt. Hildegard von Bingen war überzeugt, daß Monster die Frucht widernatürlicher Verbindungen seien. Sodomie, Geschlechtsverkehr mit Tieren und Sexualkontakte zu Teufeln und Dämonen galten im Mittelalter und gelten in manchen Aberglauben auch heute noch ganz allgemein als eine der möglichen Ursachen für die Entstehung monströser Geschöpfe. Abartiger Verkehr während der Menstruation sollte Mißbildungen beim Neugeborenen hervorrufen, und die Seitenlage beim Koitus sei für 26 Werner Wunderlich Klumpfuß und Schiefwuchs verantwortlich. Durch die Vereinigung mit Dämonen, Fabelwesen oder Tieren während einer bestimmten Planetenkonstellation sollten ebenfalls diverse Monster wie Hermaphroditen, Albinos oder Kyklopen gezeugt werden. Zwergen- oder Riesenwuchs sei von einer zu geringen oder zu großen Spermamenge abhängig, und Zwitterwie Doppelbildung vermutete man als Folge einer Sameneinnistung in der Scheitelkammer des siebenzelligen Uterus. Für Albertus Magnus waren solche Mißgeburten Störungen in der natürlichen Entwicklung der Individuen, womit er einer der wenigen Gelehrten war, der sich eher auf naturkundliche Beobachtungen denn dämonologische Spekulationen stützte. Indes, nach mittelalterlicher Vorstellung gehörten sie - ebenso wie die Dämonen - zum erklärten Weltplan des Schöpfers. Angesichts der medizinisch-rationalen Unzulänglichkeit solcher Erklärungen und angesichts des erschreckenden Aussehen der Monster lag es nahe, daß reale Monster dämonisiert und daß phantastische Monster vor allem als Fabelwesen eigens zu diesem Zwecke erfunden wurden. Das Vergnügen an Kuriosem und der Glaube an das Wunderbare verband sich mit dem Bedürfnis, in diesen Geschöpfen existentielle Ängste zu veranschaulichen. In bildlicher wie literarischer Darstellung dienten sie deshalb als Gruselwesen und Unholde. In mittelalterlichen Epen sind sie Widersacher von Helden, so wie Kundrie von Parzival oder Ydrogant von Apollonius. Auch die Heraldik kannte abnorme Wappentiere wie den doppelköpfigen Adler (Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation) oder den zweischwänzigen Löwen (Böhmen). Vor allem Bildzeugnisse und weniger Textzeugen überliefern uns eine Vielzahl von Monstervorstellungen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Dabei bieten illustrierte Flugblätter wie die schon erwähnte Sammlung Wickiana (1560 - 87), Weltchroniken wie Hermann Vincents Liber chronicarum (1495), polyhistorische Weltbeschreibungen wie Sebastian Münsters Cosmographey (1544) und zahlreiche Reisebeschreibungen des Späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit eine Fülle von Anschauungsmaterial für die Sensationslust an Mirakulösem, Exotischem, Mysteriösem. Oft ist der Realitätsgrad nur sehr schwer zu bestimmen, wenn Phantasmagorien wichtigste Anregerinnen für die Illustratoren sind. Da bestimmte Fehlbildungen etwa des Vorderkopfes nicht lebensfähig sind, dürften zyklopische oder rüsselköpfige Mißbildungen bei Erwachsenen ins Reich der Phantasie gehören oder nach Hörensagen entstanden sein. Im 16. Jahrhundert entstand - auch unter dem Einfluß anatomischer Studien wie Andreas Vesalius’ berühmtem Werk De humani corporis fabrica (um 1550) - eine regelrechte Monsterliteratur. Jacob Rueffs Hebammenbuch De conceptu et generatione hominis (1554), Conrad Wolfhardts Wunderbuch Prodigiorum ac ostentorum chronicon (1557) oder Ambroise Parés chirurgisches Werk Des monstres tant terrestres que marins avec leurs portraits (1573), das im übrigen die Vererbung als ursächlichen Faktor annimmt, sind Beispiele illustrierter teratologischer Darstellungen. Diese enthalten neben medizinischen Erklärungen auch dämonologisches und abergläubisches Gedankengut und beeinflußten damit die Schulmeinung der Gelehrten bis weit ins 17. Jahrhundert hinein. Bekanntes Bespiel dafür ist das Werk De monstris (1616) des Philosophen Licetus von Padua, der nach Obduktionsbefunden als Ursachen für die Terata göttliche (supranaturale), satanische (infranaturale) und physische Gründe nannte. Darstellungen wie die des italienischen Arztes Ulisse Aldrovandus, Monstrum historia (1642), und des Jesuiten Caspar Schott, Physica curiosa sive mirabilia naturae et artis (1662), setzten diese Tradition fort. 27 Kurz nach 1560 schuf vermutlich der Florentiner Bartolomeo Ammanati im Auftrag von Vicino Orsini der Park von Bomarzo bei Viterbo als ein »Schauerarkadien«, in dem Architektur und Plastik als verzerrte Wahnvorstellungen und irreale Kuriositäten als künstliche Natur Gestalt und Form angenommen haben (Abb. 6). Die monströse Entstellung der Natur durch überdimensionale Abnormalitäten und hypermanieristische Monumentalität erinnern an die zeichnerischen Monster von Leonardo da Vinci oder Michelangelo und haben surrealistisch-visionären Künstler wie Max Ernst oder Dali immer wieder als Inspiration gedient. Seit den Bauernkriegen und der Reformation hatte sich aus den monströsen Darstellungen auch die Stilrichtung der Karikatur entwickelt, mit der die politischen und konfessionellen Protagonisten und Antagonisten durch groteske Körperverzerrungen oder tierische Attribute monströse Gestalt annahmen, um derart als Scheusal verhöhnt werden zu können. Ein berühmtes Beispiel dafür ist der Papstesel auf weit verbreiteten Flugblättern zur Zeit Luthers und Melanchthons. Diese Zeichen- und Maltechnik, die wir seit den Flugschriften des Vormärz vor allem auch von politische Karikaturen kennen und in den surrealistischen Bildern beispielsweise von Max Ernst, Magritte oder Dali sowie in den skurrilen, an Rabelais’ Gestalten erinnernden Figurenkombinationen aus Körperteilen, geometrischen Figuren oder Zeichenwerkzeugen des polnischen Graphikers Zygmunt Januszewski (Abb. 7 auf der folgenden Seite) entdecken können. Abb. 6 28 Werner Wunderlich Abb. 7 29 Fabulöse Monster Eine ganze Reihe von Fabelwesen haben als fiktive Geschöpfe monströse Merkmale, die nach dem Vorbild von Mißbildungen ersonnen waren. Namentlich die Naturalis historia (vor 79 n. Chr., deutsch 1543) von Plinius d. Ä. kennt eine Vielzahl solcher phantastischer Menschen und Tiere, die oft in Äthiopien oder Indien beheimatet sind: Acephalen sind kopflose Menschen, Ambaren Vierfüßler ohne Ohren und Amphisbaena zweiköpfige Schlangen, Antipoden Menschen mit nach rückwärts gekehrten Füßen. Choromandaren sind behaarte Menschen, die nur brüllen können. Auf allen vieren laufen Artabatiten, und die mundlosen Astomen ernähren sich vom Duft. Außerdem erzählt Plinius von Menschen ohne Nase, ohne Zunge, mit vier Augen, verwachsenen Mündern, riesiger Unterlippe und sechsfingrigen Händen, von Frauen mit doppelten Pupillen, vom Volk der schleppbeinigen Himantopoden, vom Volk der Panotier mit überlangen Ohren, vom Volk der Skiapoden mit riesenhafter, schattenspendender Fußsohle, von den skythischen Hippopoden mit Pferdehufen (Abb. 8). Als Menschen mit vorstehenden Eckzähnen beschreibt Isiodor von Sevilla die Kynodoten, und die Epistola Premonis (10./ 11. Jahrhundert) berichtet von kahlköpfigen Frauen mit brustlangen Bärten. In den volkssprachlichen Literaturen kämpfen die Helden mit solchen Monstern in Gestalt von Riesen wie dem Heiden Fierrabras, von Waldmenschen oder von Ungeheuern wie dem gierigen und schrecklich grausamen Grendel, dem Herrscher des Moores. Die Erzählliteratur der Frühen Neuzeit kennt sie vor allem im Zusammenhang mit wundersamen Begebenheiten oder auch als Mißgeburten wie Berta mit den großen Füßen, die Tochter von Flore und Blancheflur. Fabelwesen Begriff und Bedeutung Der Begriff »fabula« bezeichnet in Antike und Mittelalter eine erfundene Geschichte, erzählt im epischen Präteritum, und meint damit auch abwertend die unwahre Erzählung. Für das Mittelalter sind die entwicklungsgeschichtliche Wirklichkeit sowie die naturwissenschaftliche Richtigkeit der fabula bedeutungslos, weil sich Wahrheit allein durch eine Entsprechung zum Heilsgeschehen erweist. Es ist unwichtig, ob das Einhorn real existiert, wenn es dank methodischer Bibelhermeneutik vom Physiologus als typologische Verkörperung Christi ver- Abb. 8 30 Werner Wunderlich standen wird. Zum biblischen Typus »Herabkunft des Erlösers und Menschwerdung im Schoß der Jungfrau« wird gleichsam als Antitypus in einer quasi-naturkundlichen Geschichte das Einhorn als typologische Inkarnation von Passion und Auferstehung Jesu ersonnen. Die fabula stellt das Einhorn so dar, als ob es eine in der Natur vorgegebene Eigenschaft durch sein Dasein nur auslege. So werden res naturales durch die bibelexegetische Methode der Typologie fiktiv erschaffen und mit Artmerkmalen ausgestattet, die den tatsächlichen res naturales gleichen und von diesen faktisch nicht mehr unterschieden werden. Deshalb auch kennt das Mittelalter auch nicht den Terminus »creatura fabulae«. Das Kompositum »Fabelwesen« fügt ja Begriffe aus den uns heute nur konträr vorkommenden Bedeutungsbereichen des Erfundenen und der Natur zusammen, um Geschöpfe als imaginäre, als nicht-existente Kreaturen zu kennzeichnen. Dieses Verständnis aber wurde erst in der Aufklärung auf den Begriff Fabelwesen gebracht, und zwar weil fiktive Naturerscheinungen empirisch-rational von realen zu unterscheiden begonnen worden waren. Aus dem von Carl von Linné entwickelten Ordnungssystem von Fauna und Flora unseres Planeten waren die Fabelwesen verbannt. Im aufgeklärten Verständnis sind deshalb Fabelwesen real nicht existierende, aber in Antike und Mittelalter für real gehaltene mythische Geschöpfe (Abb. 9), die von den erdichteten und unwahren fabula ausgedacht worden waren und die in Literatur und Kunst sowie in der Volksüberlieferung ein Eigenleben zu führen begonnen hatten. Abb. 9 31 Wirklichkeit und Wahrheit Dennoch wurde immer wieder die Frage aufgeworfen, ob Fabelwesen wirklich existierten. Im 16. und 17. Jahrhundert wurde eine heftige und kontroverse gelehrte Debatte geführt, ob es das Einhorn, den Greif oder den Phönix tatsächlich gegeben habe oder noch gebe. Mit dem Aufkommen von Archäologie und Paläontologie gingen Wissenschaftler der Frage nach, ob es in unserer Fauna nicht doch Lebewesen gegeben haben könnten, die später fälschlich für Fabelwesen gehalten wurden oder an die die Fabelwesen erinnerten. Viele Drachenbilder ähneln tatsächlich den Rekonstruktionen von Sauriern und Flugechsen. Indes, zweifelsfreie Beweise hat man bislang nicht gefunden. Bei der Ausgrabung des Ishtar-Tores in Babylon fand der Archäologe Robert Koldeway zu Beginn unseres Jahrhunderts unter den über 500 Tieren, die Nebukadnezar hatte abbilden lassen, eines mit Schlangenkopf, Vordertatzen und Vogelkrallen an den Hinterläufen. Dieser sogenannte Sirrush wurde analog zu den anderen Tieren für existent gehalten und in Zentralafrika vermutet. Aber weder dort noch in Mesopotamien fanden Paläontologen passende Knochen als Beweis. So wenig wie bislang von Nessie, dem Ungeheuer aus dem schottischen Loch Ness, eine einwandfreie Spur, die seine biologische Existenz beweisen könnte, gefunden wurde. Vielleicht gerade wegen dieser scheinbaren Ungewißheit hat beispielsweise auch das Einhorn bis heute nichts von seiner Faszination eingebüßt. Nicht nur, daß es in Literatur, Film und Kunst weiterlebt, sondern es gibt auch immer wieder Anlaß zu naturwissenschaftlichen Studien über seine Natur. Der Pariser Paläontologe Georges Cuvier bewies 1827, daß es Einhörner aus anatomischen Gründen nicht geben könnte. Paarhufer haben ein zweiteiliges Stirnbein, und genau über der Teilung hätte das Horn wachsen müssen, was aber statisch unmöglich ist. Das Horn des Rhinozeros im übigen ist kein echtes Horn, weil es keinen Knochenkern hat. 1933 entfernte Franklin Dove an der University of Maine einem neugeborenen Kalb die beiden Hornknospen und verpflanzte eine von ihnen an die Nahtstelle beider Schädelhälften, so daß tatsächlich ein einziges, gerades Horn wuchs. Daraufhin wollten Ethnologen nicht ausschließen, daß orientalische oder afrikanische Völker diese simple Operationstechnik zu kultischen Zwecken angewandt hatten. Die wichtigsten Nachrichten über Fabelwesen entnehmen wir enzyklopädischen, kosmographischen, geographischen, chronikalischen, naturkundlichen Werken, Reiseberichten und Weltkarten sowie Epen, Sagen und Märchen. Meist stellte man sich die Fabelwesen in exotischen Ländern voller Wunder und Magie wie Indien, Äthiopien, Libyen oder Skythien vor. Wir haben uns in unserer Lebenswelt an die Fabelwesen als Sternzeichen und als Haustiere längst gewöhnt: vollbusige Sphinxe stemmen Tischplatten, Drachen flankieren Kamine, Nixen halten Spiegel und Einhörner galoppieren auf Krawatten. Entstehung, Erscheinungsweise und Verbreitung Viele Fabelwesen sind antiken Ursprungs. Aus mythologischen Vorstellungen Griechenlands und des Orients schöpften die Berichte des Seefahrers Skylax im 6. Jahrhundert, des Historiographen Ktesias im 5. Jahrhundert oder des Ethnographen Megasthenes um etwa 300 v. Chr. über fremdartige Völker und Tiere Indiens. Über die Naturalis historia (vor 79 n. Chr.) von Plinius d. Ä. und die Collectanea rerum memorabilium (um 250 n. Chr.) 32 Werner Wunderlich des Cajus Julius Solinus wurden diese Erzählungen dem Mittelalter bekannt. Der wichtigste Vermittler antiker Fabelwesen ist eine im 2. Jahrhundert vielleicht in Alexandria ursprünglich in Griechisch verfaßte Beschreibung und allegorische Deutung wunderbarer Tiere, Pflanzen und Steine, die in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts ins Lateinische übersetzt wurde. Unter dem Namen »Physiologus« (der Naturkundige) - zunächst auf Aristoteles gemünzt - war sie verbreitet, ehe sie seit dem 11./ 12. Jahrhundert auch in mehrere Volkssprachen übersetzt wurde. Nach dem Vorbild des Physiologus entstanden die Bestiarien, illustrierte Bücher, die Tiere und Fabelwesen unterscheidungslos auflisten. Sie verbinden eine allgemeine pseudonaturkundliche Beschreibung mit einer heilsgeschichtlichen Auslegung der den Kreaturen angedichteten Eigenschaften und Verhaltensweisen. Auf Augustins Erörterung in der Civitas dei (413/ 26), ob die Monster von Adams oder Noahs Geschlecht abstammten, beruhen die Bestiarien De monstris et bellius und Liber monstrorum de diversis generibus (6./ 7. Jahrhundert), wo Sirenen, Hippokentauren, Kyklopen, Zwitterwesen und andere monströse Fabelwesen behandelt werden. Der Überlieferer des Ktesias, Photios, Patriarch von Konstantinopel und bedeutender Vertreter der sogenannten byzantinischen Renaissance, erzählt im 9. Jahrhundert von Pygmäen, Schattenfüßlern, Hundsköpfigen, langschwänzigen Menschen, vom Manticora mit Menschengesicht, Löwenrumpf und Skorpionschwanz, vom Einhorn und vom Greifen. Der Katalog der hier überlieferten Fabelwesen wurde im Laufe des Mittelalters durch eine Gruppe untereinander verwandter Texte wie die Epistola Premonis Regis ad Trajanum Imperatorem (10./ 11. Jahrhundert), die Marvels of the East (11. bis 13. Jahrhundert) oder den Liber monstrorum (14. bis 16. Jahrhundert) erweitert. Auf antiker Alexanderliteratur einerseits, auf naturwissenschaftlichen Werken der lateinischen Spätantike andererseits beruhen vor allem die Ausführungen der Enzyklopädisten über Fabelwesen. In seinen Etymologiae behandelt Isidor von Sevilla (7. Jahrhundert) ebenso wie Hrabanus Maurus in seiner De rerum naturalis (um 850) menschliche und tierische Fabelwesen. Eine Trennung, die auch Thomas von Cantimprensis im Liber de natura rerum (um 1250) als »de monstruosis hominibus« (über menschliche Monster) und »de animalibus quadrupedibus« (über Vierbeiner) vornimmt und die in den volkssprachlichen Bearbeitungen Jacobs van Maerlant (1267) und Konrads von Megenburg (um 1350) übernommen wird. Auch De bestiis et aliis rebus (12. Jahrhundert) des Pseudo- Hugos von St. Victor, Gervasius von Tilbury in Otia imperalia (1209/ 14), De animalibus (nach 1250) von Albertus Magnus oder der Speculum naturale (um 1256/ 59) des Vincent de Beauvais führen Fabeltiere und menschliche Fabelrassen auf, während das fälschlicherweise Hugos von Folieto zugeschriebene De bestiis et aliis rebus (um 1150) und Alexander Neckhams De naturis rerum (um 1200/ 10) nur tierische Fabelwesen berücksichtigen. Geographische Handbücher und Erdbeschreibungen wie Imago mundi (um 1100) von Honorius Augustodunensis, Liber floridus (nach 1100) von Lambert de St-Omer, Apologia (um 1180) von Guido de Bazochis, De rerum proprietatibus (nach 1235) von Bartholomäus Anglicus, Image du monde (1246) von Gossouin de Metz, Li livres dou trésor (1260 - 66) von Brunetto Latini, Imago mundi (1410) von Petrus de Alliaco, Mirour of the World (um 1480) von William Caxton, Cosmographey (1544) von Sebastian Münster oder De principiis astronomiae et cosmographiae (1530) des Löwener Arztes und Kartographen Rainerus Gemma Frisius erwähnen Fabelwesen. Kosmologische Literatur des Elucidarius und Prodigiensammlungen widmen sich ebenfalls Fabeltieren und Fabelmenschen. Noch zu Beginn der Neuzeit befaßten sich selbst zoologische Werke von Edward Wotton, 33 Conrad Gesner oder Ulysses Aldrovandi und sogar medizinische Bücher über Mißbildungen von Conradt Wolfhardt, gen. Lycosthenes, von Heinrich Kornmann oder von Gasparius Schott mit anthropomorphen Fabelwesen. Weltchroniken wie jene Rudolfs von Ems (um 1250/ 54), wie Filippo Forestis Supplementum Chronicarum (1483), Hartmann Schedels Buch der Chroniken (1493) oder Sebastian Francks Chronica (1531) glauben, die Fabelrassen seien nach der Zerstreuung der Menschheit über die Erdteile entstanden. Zahlreiche mittelalterliche Weltkarten wie die berühmten mappae mundi von Ebstorf und Hereford, die Carta Marina (1530) des Lorenz Fries und auch Martin Behaims Globus von 1491 zeigen einige Fabelwesen. Reiseberichte vermischen authentische Erlebnisse und Beobachtungen mit Überliefertem, Hörensagen und phantastischen Ausschmückungen. In Marco Polos Aufzeichnungen, in den franziskanischen Berichten der Giovanni di Pian del Carpine, Benedikt von Polen und Odoricus de Pordenone aus dem 13. und 14. Jahrhundert vom mongolischen Hof, im Bericht Fraters Jordanus über seine Indienreise, in dem fingierten Reisebericht De mirabilibus Jeans de Mandeville (um 1350) sowie im Livre nomme les merveilles du monde (1475 - 76) fallen immer wieder Bemerkungen über Fabelwesen. Auch in Erzählwerken wie den Gesta Romanorum (um 1280? ), in den Artusepen, den Alexanderromanen, der Heldendichtung um Dietrich von Bern, Ritterepen wie Herzog Ernst (um 1160/ 70? ) und in zahlreichen frühneuhochdeutschen Prosaromanen oder in der Emblematik spielen Fabelwesen in Gestalt von Drachen, Meeresungeheuern oder Waldmenschen eine wichtige Rolle. Oft sind auf sie menschliche Fähigkeiten wie Sprache und Denken und Eigenschaften wie Tugenden und Laster übertragen. Neben den Darstellungen der Buchillustrationen sind Fabelwesen in fast allen Kunstbereichen verbreitet: Malerei, Tapisserie, Bauskulptur, Mosaik, Möbel, Aquamile, Fresken, Heraldik usw. Zu rein dekorativen Zwecken verwenden auch Drôlerien, Grillen und Grotesken Elemente von phantastischen Fabelwesen, ohne ihnen eine sinnhafte Bedeutung geben zu wollen. Den Variations- und Kombinationsmöglichkeiten von menschlichen und tierischen Mischwesen sind hier kaum Grenzen gesetzt. Vogelmenschen und Meermenschen, Bauchgesichter und Schlangenfüßler, Skorpionmenschen und Schildkrötenmenschen, Baummenschen und Hirschköpfige, drachenfüßige und mehrköpfige Riesen, Mannweiber und borstige Riesenfrauen mit Eberzähnen und Stierschwänzen, Seepferdchen und Elephantenfische, Schlangenhalslöwen und Ameisentiger, Vögel mit Eisenkrallen oder Eisenschnäbeln, geflügelte Steinböcke und Schlangenvögel tummeln sich beispielsweise auf den Holzschnitten in den Ausgaben von François Rabelais’ Romanzyklus Gargantua et Pantagruel (1532 - 64, deutsch 1575), wo im Speichel des Vielfraßes Eusthenes eine Vielzahl von Fabelwesen von Amphisbäen bis zu den Zekken hausen. Eine Sehenswürdigkeit sind heute noch jene Fabelwesen auf den 153 Holztafeln der romanischen Bilderdecke (1. Hälfte des 12. Jahrhunderts) der Kirche St. Martin im rätomanischen Zillis an der Via Mala in Graubünden. Der österreichische Schriftsteller und Literaturkritiker Franz Blei bediente sich zu satirischen Zwecken der Darstellung- und Illustrationsweise des mittelalterlichen Bestiariums für seine 1920 unter dem Pseudonym Dr. Peregrinus Steinhövel erschienene Sammlung Bestiarum literaricum. Darin sind karikierende Porträts zeitgenössischer Dichter enthalten, die witzig und spöttisch literarische und persönliche Charakteristika der Betroffenen aufs Korn nehmen. 34 Werner Wunderlich Symbolik und Magie Eine umfassende und eindeutige Sinngebung für all diese Phantasiewesen läßt sich wohl kaum finden. Wir können aber über alle Kulturgrenzen und über Generationen hinweg immer gleichbleibende Funktionen der imanginären Kreaturen feststellen. In Fabelwesen drückt sich die Suche des Menschen nach einer durchschaubaren Ordnung von Welt, nach Begründung übernatürlicher Erscheinungen, nach Möglichkeiten der Erklärung und des Umgangs mit dem Unbekannten und Fremden, der stete Wunsch nach Erweiterung des physischen und kognitiven Erfahrungshorizonts, das Bedürfnis nach existentieller Sicherheit durch Kontakt und Bündnis mit göttlichen und übernatürlichen Mächten aus. Und gewiß spielt auch die Lust am Spiel mit der fiktiven Aufhebung von Naturgesetzen, mit der Absurdität, mit Normverstößen, mit den wundersamen Möglichkeiten der Verkehrten Welt eine kreative Rolle. Phantastische Literatur, Fantasy-Spiele, Kinderbücher, Comics und Filme schicken immer wieder alte und neue Fabelwesen aus den Welten der Einbildungskraft zu ihrem Publikum, um dieses auf unterhaltsame Weise den Spaß an Rollenwechseln, das Vergnügen an der Überwindung von Realitätszwängen oder auch den Schauer vor greulichen Begegnungen erleben zu lassen. Ihre magischen Fähigkeiten, ihre gewaltigen Kräfte oder ihr furchteinflößendes Äußeres machen Fabelwesen zu Wächtern von Grenzen, Hütern von heiligen Jenseitsstätten und zu Wärter der Schranken zwischen Leben und Tod. Der Kerberus mit den drei Hundsköpfen beispielsweise bewacht den Hades, die Sphinx die ägyptischen Nekropolen. Fabelwesen sind auch ein Mittel, um ein duales Weltbild oder die Doppelnatur von Menschen zu versinnbildlichen. Das Verhältnis dieser Fabelwesen zum Menschen ist grundsätzlich vom ethischen Prinzip, das sie verkörpern, abhängig. Gilt ein Fabelwesen wie der Drache als Symbol für das Naturgesetz des Bösen, übernimmt es die Funktion, als Gegner dem Helden im Kampf um das Gute zu unterliegen. Beispiele dafür sind etwa der Kampf zwischen Herakles und der Hydra, zwischen Bellerophon und der Chimäre, zwischen Sigurd und Fafnir oder zwischen St. Georg und dem Drachen. Der Sieg und die Macht über Fabelwesen beweisen die Stärke des Helden und erhöhen dessen Status. Einmal vom Helden besiegt, wurden manche Fabelwesen wie der Greif Embleme der Kühnheit und Stärke und vom Helden oder von einer Tugend bzw. von einem christlichen Prinzip in allegorischer Gestalt in Dienst genommen. So zieht in Dantes Purgatorio, dem zweiten Teil der Divina comedia (1318), ein Greif den Triumphwagen des Himmlischen Jerusalem. Auf den Schilden der Helden prangten solche Fabelwesen, deren Stärke und Zauber auf den Helden übergehen sollen, um die Feinde in magischen Bann zu schlagen und zu besiegen. Agamemnon hatte beispielsweise auf seinem Schild das Gorgonenhaupt und eine blaue Schlange. Auch Feldzeichen wie Standarten und Banner trugen Fabelwesen. Besonders beliebt waren Drachen oder natürliche Tiere, die in biblischer Überlieferung oder in der Fabeltradition Kraft und Stärke, Mut und Tapferkeit, Macht und Herrschaft verkörperten wie Löwe, Adler, Falke, Eber, Hirsch, Stier oder Hengst, die auf diese Weise mythisiert wurden. Seit dem 14. Jahrundert finden wir Fabelwesen wie das Einhorn, die Nixe oder den Löwenadler als Beschützer und Erkennungszeichen auch auf Wappen und - wie beispielsweise im englischen Königswappen das Einhorn - als seitlichen Schildhalter. Heute noch werden Fabelwesen von Apotheken, Banken, Versicherungen, Parteien, Verbänden und Vereinen als Symbole und Imageträger verwendet, um mit ihrer Hilfe Vertrauenswürdigkeit auszustrahlen. Aus lokalen Neckbräuchen entste- 35 hen immer wieder mal neue Fabelwesen wie der bayrische Wolpertinger, eine kuriose Mischung aus Hase, Hirsch, Ente oder anderem Wild, mit dem Jägerlatein oder Bauernscherze Ortsfremde foppen. Dämonen, Monster, Fabelwesen - all diese imaginären Geschöpfe machen die Grenzen zwischen den phantastischen und den wirklichen Arten deutlich, und sie sind zugleich ein Ausdruck menschlichen Urstrebens nach göttlicher Schöpferkraft und lebendigem Zeugungswillen. Bibliographische Hinweise Robinson, M. W.: Fictious Beasts. A Bibliography. 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Das Universum der Dämonen und die Welt des ausgehenden Mittelalters Leander Petzoldt (Innsbruck) Der alemannische Naturforscher Theophrastus von Hohenheim, genannt Paracelsus schreibt in seinem 1566 posthum erschienenen Liber de nymphis, sylphis, pygmaeis et salamandris et de caeteris spiritibus, also in seinem Büchlein über die Nymphen, Sylphen, Pygmäen, Salamander und die übrigen Elementargeister, ein jeglicher Mensch habe die Erkenntnis seiner selbst, aber im Menschen sei auch ein Licht, »ausserthalb dem Liecht so in der Natur geboren ist: Dasselbig ist das Liecht dordurch der Mensch übernatürlich dinge erfart, lehrnt und ergründt«. Er unterscheidet zwischen dem »Liecht der Natur«, der irdischen Weisheit und dem »Liecht des Menschen, das über das Liecht der Natur ist« und er fährt fort, »Die im Liecht der Natur suchen, die reden von der Natur, die im Liecht des Menschen suchen, die reden über die Natur«. Da der Mensch Anteil an der Natur hat, ist er Natur, aber »er ist auch ein Geist« und darüberhinaus hat er nach Paracelsus sogar Anteil an der Natur der Engel. Durch den Geist steht er zugleich über der Natur und vermag sie zu ergründen. Die Aufgabe des Menschen sei es, die Natur und ihre Geschöpfe zu erkennen und zu beschreiben, welche Wunderwerke Gott geschaffen habe. Getreu dem Auftrag der Bibel schreibt er in einem heute nicht mehr nachvollziehbaren Wissenschaftsoptimismus: »Denn nichts ist beschaffen, das nit dem Menschen zu ergründen sey.« 1 In seinem Büchlein stellt sich Paracelsus die Aufgabe »die Geschöff ausserthalb des Liechts der Natur« zu beschreiben; für ihn sind alle diese Dämonen und Geister von unbezweifelbarer Realität, er bezeichnet die Elementargeister sogar als »Geistmenschen« 2 , wie wohl sie nicht aus Adam geboren sind. Sie sind sozusagen von menschlicher Natur, besitzen aber keine Seele: »Also sind sie Menschen vnd Leuth, sterben mit dem Viech, wandeln mit den Geistern, essen und trinken mit den Menschen [...] Ihr Wohnung sind viererley, das ist nach den Vier Elementen. Eine im Wasser, eine in Lufft, Ein in der Erden, Eine im Feuer. Die im Wasser sind Nymphen, die im Lufft sind Sylphen, die in der Erden sind Pygmaei, die im Feuer Salamandrae.« 3 Was Paracelsus hier von den Elementargeistern schreibt, kennzeichnet den Endstand einer Entwicklung der Dämonenvorstellung, die ihre Wurzeln in der griechischen Naturphilosophie und im Neuplatonismus hat und, dies sei vorweg betont, die sich als Ergebnis vorwissenschaftlicher Spekulation bezeichnen läßt, einer Gelehrtenkultur, die im wesentlichen neben und außerhalb der Volkskultur anzusiedeln ist. 1 Theophrastus von Hohenheim (Paracelsus), Liber de nymphis, sylphis, pygmaeis et salamandris et de caeteris spiritibus, Theophrastus Paracelsus Werke, ed. Will-Erich Peuckert, 5 vols., Darmstadt 1967, Bd. 3, Philiosophische Schriften, »Prologus«, S. 462 - 463. 2 Ebda., S. 468. 3 Theophrastus von Hohenheim (Paracelsus), »Tractatus II«, S. 470 - 471. 40 Leander Petzoldt Abb. 1: Ein (wahrscheinlich authentisches) Porträt von Paracelsus. In der Hand hält er eine Parierstange. Das Blatt zeigt weiterhin zwei kabbalistische Tafeln sowie mehrere Bibelsprüche und ein lateinisches und griechisches Gedicht. In der Mitte ist sein Grab abgebildet, unten sein Wappen mit drei Kugeln. (Flugblatt wohl vor 1606 entstanden). Das Universum der Dämonen und die Welt des ausgehenden Mittelalters 41 Es gibt wohl kein Volk, das nicht übernatürliche Wesen kennt, mit denen es seine Umwelt bevölkert und deren Funktion letztlich darin besteht, die unerklärlichen Dinge im menschlichen Leben zu erklären. Die griechischen Philosophen versuchten, diese Vorstellungen in ein System zu fassen, indem sie zwischen den Göttern und den Menschen die »Daimones« ansiedelten und die Rangfolge: Gott, Dämon, (Heros), Mensch entwickelten. Die Grundbedeutung des Wortes »Daimon« im Griechischen weist auf den Begriff des Teilens, Zuteilens hin; dies bezieht sich auf das Schicksal, das bei der Geburt jedem Menschen zugeteilt wird. Dämonen sind also übernatürliche Wesen, Geister, auch Schutzgeister und Begleiter des Menschen, und sie nehmen, wie die Rangfolge zeigt, eine Mittel- (oder Mittler-)stellung zwischen Gott und den Menschen ein. 4 Der griechische Schriftsteller Plutarch, der im ersten nachchristlichen Jahrhundert lebte, bemerkte daher ganz richtig: »Diejenigen, die entdeckt haben, daß ein Geschlecht von Dämonen zwischen Menschen und Göttern in der Mitte steht und beide untereinander verbindet, haben mehr und größere Schwierigkeiten gelöst, als Platon durch seine Theorie von der Materie.« 5 In dieser Erkenntnis zeigt sich die Einsicht in das Wesen und die Funktion der Dämonen. Der Glaube an Dämonen trägt zum Verständnis dieser Welt bei, er erklärt die Welt und macht menschliche Erfahrungen verstehbar. In diesem Sinne bezeichnet etwa Sigmund Freud die ›Erfindung‹ der Geister und Dämonen als die erste theoretische Leistung des Menschen. 6 Die Dämonen stehen in mehr oder weniger enger Verbindung mit den Menschen und sind in ihrer ursprünglichen Bedeutung neutrale Wesen oder unpersönliche Kräfte. In diesem Sinne sind Engel zunächst Dämonen. Engel als Vermittler zwischen Gott und den Menschen kannte bereits das frühe Judentum. Ursprünglich wohl im vorislamischen 4 Cf. Ruth Petzoldt u. Paul Neubauer, Demons. Mediators between this World and the other. Frankfurt/ M., New York, Paris 1998, passim. 5 Plutarch, Über Gott und Vorsehung, Dämonen und Weissagung, übers. v. Konrat Ziegler, Zürich 1952, S. 84. 6 Cf. Sigmund Freud, »35. Vorlesung: Über eine Weltanschauung«, in: Vorlesungen zur Einführung in die Psycholanalyse: Und neue Folge, eds. Alexander Mitscherlich et. al., Frankfurt 1969, S. 586-608, hier S. 592. Abb. 2: Zwei tetramorphe Engel mit Menschen- und Vogelköpfen, aus dem »Hortus deliciarum der Herrad von Landsberg« (12. Jh.). 42 Leander Petzoldt Iran entstanden, hat der Islam die Vorstellung weiterentwickelt und das System der Engel als eigenständige dämonische Wesen (Todes-, Straf-, Würge-Engel) ausgebaut. Das griech./ lat. angelos entspricht dem hebräisch/ arab. mal’ak in der Bedeutung »Bote«, »Gesandter«. Im islamischen wie im christlichen Glauben hat der Mensch zwei Schutzengel, die ihn vor Unglück bewahren sollen. Engel sind Mitglieder der himmlischen Hierarchie; das Alte Testament kennt verschiedene Arten von Engeln, die an der Grenze zwischen (anthropomorphen) Dämonen und ätherischen Geistern stehen: Die Cherubim, geflügelte Mischwesen zwischen Mensch und Tier sowie die Seraphim, die sechs Flügel besitzen; ihr Name weist auf einen Schlangendämon hin. Es gibt zudem Engel, die den Elementen Wind, Feuer, Wasser zugeordnet sind. So heißt es bei Agrippa von Nettesheim: »Vier Engelfürsten sind über die vier Winde und die vier Theile der Welt gesetzt, und zwar Michael über den Ostwind, Raphael über den Westwind, Gabriel über den Nordwind, Nariel, der von Anderen auch Uriel genannt wird, über den Südwind. Auch die Elemente haben ihre Beherrscher: über die Luft herrscht Cherub; über das Wasser Tharsis; über die Erde Ariel; über das Feuer Seraph, oder nach Philo Nathaniel.« 7 Was die Wesensbestimmung der Dämonen, wie sie uns im Volksglauben der abendländischen Völker entgegentreten, so schwierig gestaltet, ist die Unbestimmtheit und Flüchtigkeit ihres Wesens, der Wandlungsreichtum ihrer Gestalt und die Ambivalenz ihres Charakters. 8 Dämonen sind Glaubensgestalten und Erzählgestalten zugleich, Phänomene des Volksglaubens, die sich in der Volkserzählung konkretisieren. Der Glaube an Dämonen und Elementargeister ist bereits in der Antike, aber auch noch im 16., 17. und 18. Jahrhundert mindestens ebenso durch die zeitgenössische gelehrte Literatur verbreitet worden wie durch die Volkserzählung, d.h. die Erlebnisberichte von Betroffenen. Die Volksglaubensforschung geht von der subjektiven Glaubwürdigkeit solcher Berichte aus. Der 7 Heinrich C. Agrippa von Nettesheim, Magische Werke (De occulta philosophia), 5 Bde., Berlin 1921, Bd. 3, Kap. 24, S. 144. 8 Leander Petzoldt u. Siegfried de Rachewiltz (Hrsg.), Der Dämon und sein Bild. Frankfurt/ M., New York 1989, passim. Abb. 3: Islamischer Engel aus einer Miniatur der Mogulzeit. Auffallend ist die phänomenologische Übereinstimmung. Das Universum der Dämonen und die Welt des ausgehenden Mittelalters 43 Volksglaube und die Volkssage sind damit neben den naturwissenschaftlich-philosophischen Schriften von der Renaissance bis ins 18. Jahrhundert die wichtigste Quelle für die Vorstellungen von Dämonen und Elementargeistern. 9 Freilich muß hier zugleich einschränkend betont werden, daß es müßig wäre, den Versuch zu machen, aus den Memoraten und dämonologischen Sagen, die von numinosen und dämonischen Begegnungen berichten, sich ein präzises Bild von der Gestalt und dem Wesen der Dämonen machen zu wollen. Die Volkserzählungen des 18. und 19. Jahrhunderts, wie sie uns in den Sagensammlungen vorliegen, geben ein widersprüchliches und unvollständiges Bild. Sie sind als Quelle für die Dämonenvorstellung nur bedingt brauchbar, und es ist daher notwendig, auf die mittelalterliche Literatur und historischen Quellen verschiedenster Art zurückzugreifen. Im übrigen sagen auch diese Quellen nur wenig über die Glaubenskontinuität, Frequenz und Verbreitung bestimmter Dämonengestalten und ihren Phänotyp aus. Ihre Umrisse sind oft unscharf, wie auch das Wesen der Dämonen nicht eindeutig ist, die Formen wechseln wie die Konturen vorüberziehender Wolken; Heinrich Heine hat dies in einem treffenden Bild ausgedrückt: »Den Volksglauben selbst in ein System zu bringen, wie manche beabsichtigen, ist aber ebenso untunlich, als wollte man die vorüberziehenden Wolken in Rahmen fassen.« 10 Zu den ältesten Vorstellungen gehören zweifellos die von den Totengeistern, die sich den Lebenden zeigen, und deren Erscheinen nicht ohne Folgen bleibt. Insgesamt könnte man dieses Kapitel der Volkssage unter den Titel stellen: Zur Frühgeschichte der Angst, denn wie der archaische Totenkult aus der Angst vor den Toten entstanden ist, spiegeln die Sagen die Ambivalenz der Einstellung des Menschen zu seinen Toten als verehrungswürdige Ahnen und bösartige Dämonen und Wiedergänger wider. Doch nicht nur in den Totensagen wird die Angst des Menschen manifest. Neben dem Totenglauben und den daraus erwachsenen Dämonen, die man auch als Kulturgeister bezeichnen kann, treten schon in früher Menschheitsgeschichte die Natur- oder Elementargeister auf, Personifikationen der Elemente, aber auch Konkretisierungen metereologischer Vorgänge und Erscheinungen wie Gewitter, Wolken, Wind und Nebel. Ihre Genese beruht auf dem entwicklungsgeschichtlichen Konzept des Animismus, der Vorstellung einer von Geistern bzw. dämonischen Wesen beseelten Natur, Vorstellungen, die sich teilweise bis in den Volksglauben der Gegenwart erhalten haben. Die Fülle und der »Artenreichtum« der Dämonen allein in unserem Kulturkreis macht eine Systematisierung fast unmöglich. Seit dem 15. Jahrhundert hat es immer wieder Versuche gegeben, Dämonologien zu entwerfen und die Dämonenwelt in ein System zu bringen. Johannes Trithemius, der Abt von Sponheim etwa spekuliert in seiner Chronologia mystica über die Dynastien der Geister. Auch in seinem Buch von den acht Fragen (Liber octo questionum, 1515) beschäftigt er sich mit solchen Themen und stellt eine Systematik der Geister auf. Freilich sieht der gelehrte Abt in den antiken Dämonen nur noch Ausgeburten des Teufels. Dieser Vorgang der Diabolisierung setzt schon früh ein und wird, vor allem durch Luther, im 16. Jahrhundert konsequent zu Ende geführt. Durch das Christentum wird den spätantiken und mittelalterlichen Dämonologien die biblische Überlieferung 9 Cf. L. Petzoldt, Art. »Magisches Weltbild«, in: Enzyklopädie des Märchens, ed. K. Ranke u. a., Bd. 9, Berlin, New York 1997, Sp. 19 - 24. 10 Cf. Manfred Windfuhr (Hrsg.), Heinrich Heine, Sämtliche Werke Bd. 9, bearb. von A. Neuhaus-Koch, Hamburg 1987, S. 12. 44 Leander Petzoldt vom Sturz der abtrünnigen Engel hinzugefügt, eine Vorstellung, die bereits in der jüdischen Überlieferung der späthellenistischen Zeit verbreitet ist, nach der die Dämonen Abkömmlinge jener gefallenen Engel sind, wie es Gen. 6, 1 - 4 heißt, die sich mit den Töchtern der Menschen vermischten. Trithemius kennt nun mehrere Geschlechter von Dämonen, die er zunächst den Elementen zuordnet: »Es seind viel Geschlecht der bösen Geister, haben auch unter einander etliche unterschiedliche Grad und Staffel, nach Gelegenheit der Örter, in welche sie am Anfang ihres Falles erstlich verstoßen worden sind. Zum ersten, so ist ein Geschlecht der Teufel, das heißt man Igneum, das seind feurige Teufel; die wohnen in der obersten Luft, kommen nimmermehr vor dem jüngsten Tag herab auf Erden, sondern sie bleiben stetig in der Region des Mondes, haben auch gar keine Gemeinschaft mit den Menschen, die auf Erden wohnen [...] Das ander Geschlecht der Teufel heißt Aereum, seind die bösen Geister, die da in der Luft unter dem Himmel, nahe bei uns, umher wohnen und fahren. Diese könnten wohl herab auf die Erde kommen, und so sie von der groben Luft einen Leib an sich genommen haben, erscheinen sie zu Zeiten den Menschen sichtbarlich. Diese Geister betrüben aus Verhängnis Gottes oftmals die Luft, machen donnern und Ungewitter, seind allzugleich miteinander zu Verderben der Menschen geneigt und verbunden. Sie haben gleich wie die Menschen ihre Affektion und Beweglichkeit, sonderlich in Hoffahrt und Neid, werden ohn Unterlaß mit Anfechtung getrieben; haben nit einen steten Körper, bleiben auch nit immerzu an einem Ort. Sie haben auch nit alle eine gleiche Gestalt [...] Das dritt Geschlecht der bösen Geister nennen wir die irdischen Teufel, welche, als wir in keinen Zweifel setzen, aus dem Himmel auf das Erdreich für ihre Verschuldung gestürzt worden sind [...] Von diesen Teufeln und bösen Geistern wohnt ein Teil in den Hölzern und Wäldern, Abb. 4: Johannes Trithemius (1462 - 1516), Abt von Sponheim. Benannt nach seinem Geburtsort Trittenheim b. Trier. Er galt als überaus gelehrter »Okkultist«, dessen zahlreiche Bücher zu Unrecht als »Zauberbücher« bezeichnet wurden. Agrippa von Nettesheim und Paracelsus wurden stark durch seine Schriften über die Dynastien der himmlischen Geister, insbsondere durch seine »Chronologia mystica«, beeinflußt. Das Universum der Dämonen und die Welt des ausgehenden Mittelalters 45 die tun den Jägern viel Schalkheit; etliche wohnen auf dem freien Felde, die bei Nacht die Leut, so über Feld gehn, irrig machen und abwegs führen; ein Teil wohnt in heimlichen, verborgenen Winkeln und Höhlen, und etlich, die da nit so gar wütend und tobend seind als die andern, die wohnen gern um die Menschen, doch in einem verborgenen dunkeln Winkel. Sie haben nit all einen, sondern mancherlei Sinn, Willen und Anmutung, denn es ist immer einer böser denn der andere [...] Das viert Geschlecht und Art der Teufel heißt man Aquaticum, das ist darum, daß sie gern um die Wasser wohnen. Ist ein bös, zörnig, unruhig, betrogenes Geschlecht der Teufel, erweckt auf dem Meer allerlei Ungewitter, versenkt die Schiff in die Tiefe, ertränkt viel Menschen [...]« 11 Darüber hinaus nennt er als fünftes Geschlecht der Geister die Unterirdischen, die in »Höhlen und Löchern und in den heimlichen Winkeln auf den Bergen wohnen.« Sie sind seiner Meinung nach die allerbösesten, stellen den Leuten nach, die unter der Erde arbeiten, den Brunnengräbern und vor allem den Erzknappen. Es wird deutlich, daß nur Weniges, was Trithemius hier über die Dämonen sagt, in den mittelalterlichen Volksglauben eingegangen ist. Zusehr ist er der antiken und neuplatonischen Gelehrtentradition verpflichtet, die er nur wenig modifiziert. Nur die Beschreibung der Dämonen, die »in den Hölzern und Wäldern« wohnen, erinnert an die Vielzahl der Waldgeister, Moosweibchen, Fänggen und Wildleute der volkstümlichen Überlieferung. Auch die subterranen Geister, die Unterirdischen, entsprechen den um 1500 im mitteleuropäischen Raum weitverbreiteten Vorstellungen von den Bergwerksdämonen. Schon Georg Agricola, der als Begründer der Montanwissenschaft gilt, betont, daß das Vorhandensein dämonischer Berggeister durch die Erfahrung bestätigt werde. In seinem Werk De animantibus subterraneis ( Von den Lebewesen unter Tage , 1549), in dem er von verschiedenen Tieren handelt, spricht er in einer besonderen Gruppe von den Dämonen, d.h. den Berggeistern, die er damit gleichsam in einen naturkundlichen Zusammenhang stellt. Es sind Stollengeister, die als »kleine graue männel« vorgestellt werden und deren Prototyp bei Agricola ( De re metallica, 1557) beschrieben wird als »daemon subterraneus truculentus bergteufel, mitis bergmenlein, kobel, güttel. Oder daemon metallicus berg- 11 Cf. Will-Erich Peuckert, Deutscher Volksglaube des Spätmittelalters, Stuttgart 1942, S. 120 - 122. Abb. 5: Georg Agricola (1494 -1555). Eigentlich Georg Bauer; gilt als Begründer des Bergbauwesens und der Mineralogie. In seinem kleinen Werk »De animantibus subterranis« (1548) beschreibt er das seit Aristoteles weitergegebene Wissen über die Lebewesen unter der Erde. 46 Leander Petzoldt menlein, dessentwegen man eine fundige zech liegen läßt«. Sie stehen sozusagen zwischen den Zwergen und dem Kobold, wie die Bezeichnung »kobel«, »güttel« andeutet 12 . Auch ihr Verhalten bewegt sich zwischen bereitwilliger Hilfe und bösartigen Schädigungen. Mehrmals heißt es bei Agricola, das Bergmännlein sei die Ursache für die Auflassung von Bergwerken: »Die fünffte vrsach ist das greuwlich bergkmenlin / das die leut vmm bringet / dann so dieses nicht mag ausgetrieben werden / so bleibet kein hauwer in der gruben / der seinen wartet/ «. 13 Eine eingehende Beschreibung der gutartigen kleinen Dämonen gibt Agricola in seinem bereits erwähnten Werk De animantibus subterraneis. »Des weiteren gibt es ungefährliche Geister, die manche Deutsche wie auch die Griechen Kobolde nennen, weil sie die Menschen nachmachen. Denn sie kichern, als ob sie es vor Freude nicht lassen könnten, und es sieht so aus, als ob sie vieles täten, obwohl sie rein gar nichts tun. Andere nennen sie ›Bergmännlein‹ wegen der Statur, die sie meist haben: sie sind nämlich Zwerge von drei Spannen Länge. Sie sehen aber wie Greise aus und sind nach Art der Bergleute gekleidet, das heißt mit einem Kittel, der durch einen Gürtel gerafft ist und mit einem Leder, das um die Schenkel herabhängt.« 14 12 Leander Petzoldt, Kleines Lexikon der Dämonen und Elementargeister, München 2. Auflage 1995, S. 110 f. - Ders., Piccolo Dizionario di Demoni e spiriti Elementari, Napoli 1995, S. 218. 13 Georg Agricola, De re metallica, eds. Herbert C. Hoover and Lou H. Hoover, New York 1950, S. 218. Abb. 6: Ein Bergwerksdämon in Teufelsgestalt mit Schweinsohren und Krallenfüßen. Aus Olaus Magnus, Bearbeitung der mitternächtigen Länder, 1565. Das Universum der Dämonen und die Welt des ausgehenden Mittelalters 47 Eine differenziertere Dämonenlehre finden wir bei Agrippa von Nettesheim. Er versucht in seiner Occulta Philosophia (1531), das Christentum mit den Dämonen der Antike zu versöhnen und entwickelt seine Dämonologie: »Endlich spricht man von Tag-, Nacht- und Mittagsgeistern sowie von Wald-, Berg-, Feld- und Hausgeistern. Daher die Silvanen, Faunen, Satyrn, Pane, Nymphen, Najaden, Nereiden, Dryaden [...] Einige dieser Dämonen verlieben sich in Frauenzimmer, andere in Knaben, noch andere haben eine Freude an verschiedenen Haus- oder Waldtieren. Einige wohnen in Wäldern und Hainen, andere bei Quellen und auf Wiesen. So bewohnen die Faune und Lemuren die Felder, die Najaden die Quellen, die Potamiden die Flüsse, die Nymphen die Seen und sonstigen Gewässer, die Oreaden die Berge, die Humeaden die Wiesen, die Dryaden und Hamadryaden die Wälder, welche auch die Satyre und Sylvanen bewohnen und wo sie sich an den Bäumen und Rasenplätzen erfreuen, wie die Nepeten und Agapeten an den Blumen, die Dodonen an den Eichen, die Paleen und Fenilien an Futter und Feldbau.« 15 Agrippa beschreibt auch das Aussehen und die Körperlichkeit seiner Elementargeister: »Eine Art Körper besteht nur aus Feuer und kann nicht gesehen werden, weshalb Orpheus die, welche einen solchen besitzen, feurige und himmlische Dämonen nennt; eine andere ist aus Feuer und Luft gemischt, daher diese Dämonen ätherische und Luftgeister heißen; kommt etwas Wasser hinzu, so entsteht eine dritte Körpergattung, von der die Wassergeister ihren Namen haben, die manchmal sichtbar werden; wird endlich noch etwas Erde hinzugefügt, so werden solche Dämonen Erdgeister genannt.« Er fährt fort: »Nicht jede Dämonengattung kann alle Gestalten nach Belieben annehmen, sondern die feurigen und luftigen verwandeln sich leicht in alles das, was ihre Einbildungskraft auffaßt; den unterirdischen und finsteren Dämonen aber, deren Phantasie durch einen dichten und trägen Körper begrenzt wird, steht eine weit geringere Mannigfaltigkeit der Gestalten zu Gebote als 14 Georg Agricola, Ausgewählte Werke, 8 Bde., ed. Georg Fraustadt, Bd. 6, Vermischte Schriften 1, Berlin 1961, S. 141 - 234, hier S. 164. 15 Agrippa von Nettesheim, Kap. 16, S. 88ff. Abb. 7: Agrippa von Nettesheim (1486 - 1535). Nach einem wechselvollen Leben in der Armee Maximilians und als Gelehrter, Advokat und Mediziner wirkte er zuletzt als Archivar und Historiograph in Mechelen. Sein berühmtestes Werk »De occulta Philosophia« brachte ihn in den Ruf eines Teufelsbündners und Zauberers. 48 Leander Petzoldt Abb. 8: Der Teufel greift zwei Wildleute an. Der Wilde Mann wird »pilosus« (behaart) bezeichnet. Darstellung aus dem Bereich des »Physiologus«, in einer Hs. des 15. Jhs. Das Universum der Dämonen und die Welt des ausgehenden Mittelalters 49 den übrigen. Die Wassergeister, welche die feuchte Oberfläche der Erde bewohnen, nehmen in Folge der Weichheit ihres Elementes gemeiniglich die Form weiblicher Wesen an, wie die der Najaden und Dryaden. Die, welche dagegen wasserfreie und trockene Örter bewohnen, zeigen sich auch in trockneten und männlichen Körpern, wie die Satyre, die Onosceli mit Eselsbeinen, die Faunen, Silvane und Incubus, von welchen Augustinus erzählt, daß viele aus Erfahrung wissen, daß dieselben öfters Frauenzimmern unanständig begegnet seien, ihnen nachgestellt und Umgang mit ihnen gepflogen haben. Besonders sollen die Dämonen, welche die Franzosen Dusi nennen, beständig lüsterne Absichten hegen.« 16 Vieles, was bis in die Gegenwart in der populären Erzählüberlieferung eine Rolle spielt, ist bereits bei Agrippa angelegt, wobei dieser die ganze antike und mittelalterliche Dämonenliteratur kompiliert hat. Er schreibt: »Die Dämonen haben sehr oft ihren Fall eingestanden. In dieses Jammertal herabgestürzt, irren sie teils in der Finsternis der Luft um uns her, teils bewohnen sie die Seen, Flüsse und Meere, wieder andere die Erde. Diese letzteren greifen diejenigen an, welche Brunnen und Metallschächte ausgraben; sie machen Klüfte in die Erde, erschüttern die Grundlagen der Berge und plagen nicht allein die Menschen, sondern auch die Tiere. Die einen, mit Lachen und Blendwerk zufrieden, suchen eher zu ermüden als zu schaden, andere erheben sich zu Riesengröße, schrumpfen dann wieder zu winzigen Pygmäen ein und verwandeln sich überhaupt in verschiedene Gestalten, wodurch sie den Menschen einen leeren Schrecken einzujagen suchen.« 17 Die antiken Vorstellungen von den Elementargeistern haben bis weit in das ausgehende Mittelalter gewirkt. Dahinter steht die anthropologische Konzeption einer von geheimnisvollen Wesen und Mächten belebten Natur, wie sie animistischem Denken entspricht. Einer ihrer Hauptvertreter war Theophrastus Paracelsus, der in seinem bereits erwähnten Liber de nymphis, sylphis, pygmaeis et salamandribus eine Hierarchie der Elementargeister aufstellt und gemäß seiner Vorstellungen von der Kosmogonie lehrte, daß alle Dinge des Mikrokosmos ihre Entsprechungen im Makrokosmos haben. Er erklärt auch das Begehren der Dämonen nach menschlichen Ehepartnern. Da sie keine Seele besitzen, versuchen sie durch die Verbindung mit den Menschen an dessen Transzendenz teilzunehmen. Von den Wassergeistern schreibt er: »Nun aber, Menschen sinds, aber allein in tierischer Art, ohne Seel. Nun folgt aus dem, daß sie zu Menschen verheiratet werden, also daß eine Wasserfrau einen Mann aus Adam nimmt, und hält mit ihm Haus und gebiert. Von den Kindern wisset, daß solch Gebären dem Mann nachschlagt, drum daß der Vater ein Mensch ist aus Adam, darum wird dem Kind eine Seel eingegossen und es wird gleich einem rechten Menschen, der eine Seel hat. Nun aber weiter, so ist das auch in gutem Wissen, daß auch solche Frauen eine Seel empfahen, indem so sie vermählt werden, also daß sie wie andere Frauen vor Gott sind und durch Gott erlöst sind [...] Daraus folgt nun, daß sie um den Menschen buhlen sich zu ihm fleißigen und heimlich (vertraut) machen, gleicherweis wie ein Heide, der um die Tauf bittet und buhlt, auf daß er sein Seel erlange. Also stellen sie nach solcher Liebe gegen die Menschen, auf daß sie mit dem Mensch in demselben Bündnis sind. Denn aller Verstand und Weisheit ist bei ihnen außer der Seel.« 18 16 Ebda. 17 Agrippa von Nettesheim, Kap. 18, S. 112 ff. 18 Theophrastus von Hohenheim (Paracelsus), »Tractatus III u. IV«, S. 479 - 481. 50 Leander Petzoldt Gerade diese Vorstellung von der erotischen Bedürftigkeit dämonischer Wesen nach der Liebe der Menschen hat in der Volkserzählung vielfache Entsprechungen gefunden, so etwa in den Sagen von den Saligen und Wildfrauen oder auf der höfischen Ebene in der Melusinensage wie auch in den Erzählungen von der menschlichen Frau des Wassermanns. 19 Schon der Prediger Berthold von Regensburg kennt die »Saligen« und bezeichnet sie als »felices dominae«. Sie »sind von zierlicher Wohlgestalt mit glänzenden Gesichtern und weißen Kleidern, besuchen die Häuser und spenden Segen, wo ihnen Speis und Trank bereitgestellt wird«. Eine der hervorstechendsten Eigenschaften dieser dämonischen Wesen ist ihr Bedürfnis nach der Liebe der Menschen. Erzählungen von den »Saligen« sind in der Folklore der Alpenbewohner weit verbreitet und von signifikanter Häufigkeit. Erotische Wunschvorstellungen und Träume spielen hier psychologisch gesehen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Die faszinierende Vorstellung einer überirdisch schönen Frau, der man sorglos, außerhalb der Normvorstellungen und Zwänge der eigenen Gemeinschaft, beiwohnen kann, eine Frau, die nicht nur Schönheit, sondern auch übernatürliches Wissen in allen Angelegenheiten des Ackerbaus und der Viehzucht besitzt und die zudem arbeitsam, anstellig und immer gleichmäßig freundlich ist, eine solche Vorstellung mag zweifellos die Tagträume mancher Alphirten und Bergbauern ausgefüllt und sie von ihrem entbehrungsreichen Leben abgelenkt haben. 19 Leander Petzoldt, Die Haare der Saligen. Wanderungen und Wandlungen eines dämonologischen Motivs in der Literatur und Volksdichtung, in: Ders. u. S. de Rachewiltz (eds.): Der Dämon und sein Bild, Frankfurt/ M. 1989, S. 85 - 102 (Beiträge zur Europäischen Ethnologie und Folklore, Reihe B. Bd. 2). Abb. 9: Wilde Frauen werden erstmals bei Burchard von Worms (ca. 965 - 1025) als »agrestes feminae quas silvaticas« erwähnt. Die Vorstellung von Wilden Leuten bzw. Naturdämonen ist wohl europäischer Gemeinbesitz (Ludw. Lavater, Von gespänsten, ungehüren fälen …, Zürich 1518). Das Universum der Dämonen und die Welt des ausgehenden Mittelalters 51 Während die Elementargeister bei Paracelsus noch als eine Art Menschen, jedoch ohne Seele verstanden werden, geht Luther einen Schritt weiter und vollendet die interpretatio christiana, indem er alle diese dämonischen Wesen schlechtweg als Verwandlungsgestalten des Teufels erklärt. Freilich hat sich diese Interpretation im Volksglauben nur teilweise durchgesetzt. Und viele der hier beschriebenen Gestalten bewahren trotz aller Diabolisierungstendenzen ihr archaisches Wesen bis auf unsere Tage. Die mittelalterliche Dämonenlehre mit ihrer Einteilung der »Elementargeister« nach den vier Elementen Wasser, Feuer, Erde, und Luft verspricht eine scheinbar logische Systematik. Aber ihre Logik entstammt den Spekulationen der Naturphilosophen des 15. und 16. Jahrhunderts und nicht zuletzt der naturromantischen Dichtung des 19. Jahrhunderts. Die Sylphen und Najaden, Undinen und Nymphen waren niemals Gestalten des Volksglaubens, sie waren Schöpfungen der vorwissenschaftlichen Naturphilosophie, die ihr Material den spätantiken Dämonenlehren verdankte. Die Volkssage berichtet von zahlreichen übernatürlichen Erlebnissen, von numinosen Begegnungen mit dem Wilden Heer, dem Nachtvolk, mit Hexen und Druden, dämonischen Wesen verschiedenster Art, von Spukphänomenen und Poltergeistern, Aufhokkern und Alpträumen, von Erscheinungen, die wir heute als psychologische oder parapsychologische Phänomene einordnen würden. Versteht man diese Erlebnissagen als Konkretisierung des Volksglaubens, so stellen sie, um es mit einem Wort Hedwig von Beits zu sagen, den »untragbaren Einbruch des Unbewußten ins Bewußtsein« des Menschen dar. Dämonen sind also, ungeachtet ihrer Glaubenswirklichkeit in frühen Kulturen, psychische Realitäten, Projektionen menschlicher Erfahrungen, Ängste und Hoffnungen. Sie Abb. 10: Melusine, die Ahnfrau des Geschlechtes von Lusignan (Mère Lusine). Die Geschichte von der übernatürlichen Ahnfrau, die jeweils an einem Tag der Woche einen Fischschwanz hat, den der Ehemann nicht sehen darf (Tabu), wird auch von dem Ritter Peter Dimringer von Staufenberg in der Ortenau erzählt. Hier entflieht Melusine, da das Tabu gebrochen wurde. 52 Leander Petzoldt sind »Geschöpfe« des Menschen, der sie nach seinem Bild formt und unter dem Eindruck psychischer Zwänge und Ängste zu grauenerregenden Gestalten verformt. Die Begegnung des Menschen mit der Welt der Dämonen wird in zahlreichen Sagen geschildert; sie sind Dokumente der Entwicklung des menschlichen Bewußtseins und der Erfassung der Welt. Daher stehen solche Glaubensvorstellungen von Dämonen jeweils in einem engen Konnex zur sozialen Ordnung, zu Normen und Werten einer Gesellschaft oder Gruppe. Eine frühe Stufe dieser Glaubensvorstellungen ist in der Verkörperung bzw. Dämonisierung archaischer Vegetationsgottheiten zu sehen, die Wilhelm Mannhardt mit dem Sammelbegriff »Korndämonen« bezeichnete. 20 Es sind Vegetationsdämonen, die sich im Kornfeld (aber auch in allen anderen Pflanzungen wie Flachs, Bohnen, Mohn, Hopfen usw.) aufhalten. Sie treten in menschlicher (Kornmuhme), wie auch in tierischer (Roggenwolf) Gestalt auf. Sie können sowohl männlichen, als auch weiblichen Geschlechts sein. Zweifellos treten Vegetationsdämonen bei allen agrarisch orientierten Völkern auf. In Jägerkulturen werden sie durch die dämonischen Tierherren ersetzt. Ursprünglich waren es wohl Vegetationsgottheiten, die dämonisiert wurden und schließlich zum Kinderschreck abgesunken sind. Man opferte ihnen, damit sie die Frucht schützen und fördern. Die Präsenz der Korndämonen wird im Wogen des Korns gesehen, und man begleitet diese Erscheinung mit zahlreichen Redensarten etwa »Die Kornmutter ist im Feld«, oder man sagt von der Roggenmuhme (Ostpreußen), sie sitze im Feld und reiche den Kindern ihre schwarzen Brüste, so daß sie daraus trinken und sterben müssen; daher wird sie im Volksmund als »Langtüttin« bezeichnet. Die Personifizierungen, Namen und Gestalten der Korndämonen sind überaus zahlreich, neben der Roggenmuhme, dem Kornmann und dem Kornengel, dem Sichelweib, dem Bilmesschnitter (Bilwis) sind es vor allem dämonische Tiere: Wolf, Bär, Habergeiß, Schwein und der Kornvater oder die Kornkatze, die zugleich als Kinderschreckgestalten gelten, mit denen man die Kinder vom Betreten der reifenden Kornfelder abhalten will. Eine der interessantesten Gestalten, die der Forschung viele Rätsel aufgibt, ist in diesem Zusammenhang der (oder die) Bilwis mit einem überaus umfangreichen Spektrum regionaler Namensformen: Der Bilwis taucht bereits in der mittelalterlichen Literatur auf, macht jedoch im Laufe der Zeit eine widersprüchliche Entwicklung durch, indem sich sehr komplexe Züge in ihm vereinen. In Wolfram von Eschenbachs Roman Wille- 20 Wilhelm Mannhardt, Wald- und Feldkulte, 2 Bde., 2. Aufl., Berlin 1904/ 05, bes. Bd. II, passim. Abb. 11: Die Langtüttin. Weiblicher Dämon mit langen Brüsten, die er über die Schulter werfen kann. Aus Conrad Lycosthenes, »Prodigiorum ac ostentorum chronicon …«, Basel 1557. Das Universum der Dämonen und die Welt des ausgehenden Mittelalters 53 halm (1220) wird der »Bilwizschuß« erwähnt: »si wolten, daz kein pilwisz / si da schüzze durh diu knie.« 21 Damit wird dieser nicht näher beschriebene Dämon der niederen Mythologie als feindselig und gefährlich charakterisiert. Claude Lecouteux macht in der Entwicklung dieser Gestalt drei Phasen aus. Von einer germanischen, wenig bekannten Göttin (Asin) Bil, die eine Personifizierung des abnehmen den Mondes u nd dessen lähmender W irkung war, entw ickelt sie sich zu einem elbischen, zwergenhaften Wesen, das Mensch und Vieh durch den Abschuß eines Pfeiles lähmen kann. Im Laufe des 13. Jahrhunderts verliert dieses Wesen, das eine übernatürliche Kraft personifizierte, allmählich seine Identität und wird mit den Unholden, der Trud und ähnlichen Gestalten identifiziert bis es schließlich als Hexe anthropomorphisiert wird. 22 Es findet hier der Übergang von einem Wesen der niederen Mythologie zu einer anthropomorphen Gestalt statt. Schließlich wird der/ die Bilwis in Menschengestalt diabolisiert, sie wird eine Verwandlungsgestalt des Teufels, zur Hexe und zum Zauberer. Eine letzte Entwicklung liegt vor, wenn der Bilwis etwa seit dem 16. Jahrhundert als Reichtum bringender Korngeist (vor allem im Nordosten Deutschlands) aufgefaßt wird. Zugleich kennt ihn der bairisch-thüringische Raum als schädigenden Korndämon, den Bilwisschnitter, dem die bisweilen in den Kornfeldern streifenförmig umgelegten Halmreihen zugeschrieben werden. In Kärnten sieht man im Bilwis einen Dämon im Wirbelwind (Windsbraut), der Gliederreißen und andere rheumatische Schmerzen (vgl. Hexenschuß) verursachen soll. Wie die angedeutete Entwicklung zeigt, ist die Vorstellung dieses Dämons überaus polymorph, und sie geht Kontaminationen mit anderen Sagengestalten ein. Dementsprechend ändern sich auch die Eigenschaften; in der letzten Entwicklungsphase ist er ein Zauberer oder eine Hexe, die das Korn mit Sicheln, die an den Füßen befestigt sind, abschneidet. Damit reiht er sich in die Reihe der Korndämonen ein, deren Wesen schadenstiftend ist. Der Bilwis ist damit eines der eigenartigsten und geheimnisvollsten Wesen unter den Glaubensgestalten der Volksüberlieferung, dessen variierende Gestalt typisch für eine bäuerliche Kultur ist, die damit einer Naturerscheinung, den unheilvoll umgelegten Zeilen im reifen Korn, eine mythische Deutung gibt. 23 Von ähnlicher Komplexität ist die Gestalt des daemonium meridianum, des Mittagsgespenstes, das man als die Personifizierung eines physischen und psychischen Zustands bezeichnen könnte. Der Ursprung der Vorstellung von einem Dämon, der am hohen Mittag dem Menschen erscheint, ist im vorderasiatischen Volksglauben der vorchristlichen Zeit zu suchen. Schon im hebräischen Original der Septuaginta wird im Psalm 90, 6 (bzw. 91, 6) ein gefährliches dämonisches Wesen erwähnt, das den Menschen am Mittag bedroht; die Übersetzer bezeichnen es unter dem Einfluß des zeitgenössischen Dämonenglaubens als »daemonium meridianum« (Mittagsdämon). Origines setzt den Mittagsdämon in der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts mit dem Begriff der »Akedia« (acedia; Langeweile, Überdruß) gleich, die im Klosterleben zu den Hauptsünden gerechnet wurde. 21 Wolfram von Eschenbach, Willehalm, eds. Karl Lachmann u. Dieter Kartschoke, Berlin und New York 1968. 22 Claude Lecouteux, »Der Bilwiz: Überlegungen zu seiner Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte«, in: Euphorion 82 (1988), S. 238 - 250. 23 Ebda. 246; vgl. auch Petzoldt, wie Anm. 12, S. 41ff. 54 Leander Petzoldt Die Peinigung des Mönchs durch die (in der Gestalt des Mittagsdämons personifizierte) acedia wird bei Evagrius Ponticus aus Kleinasien (3. Jahrhundert) beschrieben: »Die Sonne scheint dem der Akedia verfallenen Mönch stillzustehen, der Tag kommt ihm unendlich lang vor. Er wird von dem Dämon getrieben, aus der Behausung zu gehen, die Sonne anzustarren und ihren Stand zu prüfen. Haß gegen seinen Aufenthaltsort, gegen sein Leben und seiner Hände Arbeit überkommt ihn, und er glaubt, daß die Liebe seiner Gefährten nachgelassen habe und es niemanden gebe, der ihn mit seinem Trost zu helfen bereit sei. [...] und schließlich setzt der Dämon alle Mittel ein, den Mönch zur Flucht zu bewegen.« 24 Offensichtlich werden, wie auch andere Quellen dies bezeugen, hier die Symptome einer in der Mittagszeit auftretenden, durch die Eintönigkeit und die Mittagshitze erzeugten, seelischen Depression beschrieben, die besonders Anachoreten und Eremiten des östlichen Mittelmeeraumes betraf. Auch körperliche Erschöpfung, Kopfschmerzen, Fieberanfälle, Verwirrung und Umnebelung des Verstandes um die heißeste Mittagsstunde werden von christlichen Autoren dem Mittagsgespenst zugeschrieben. Franz Werfel hat die psychischen Grundlagen der Vorstellung vom Mittagsdämon treffend beschrieben: »Die Alten haben geglaubt, daß zur sonnigen Mittagsstunde etwas aus der angespannten Natur springen kann, gestaltlos und sichtbar, scheußlich und voller Herrlichkeit, jeglichen Wan- 24 Cf. Dietrich Grau, Das Mittagsgespenst (daemonium meridianum), Siegburg 1966, S. 20f. Abb. 12: Erste und wahrscheinlich einzige Darstellung des »Daemonum meridianum« (oben, Mitte) als fratzenhafter Kopf, aus einer Miniatur um 830, Reims. Das Universum der Dämonen und die Welt des ausgehenden Mittelalters 55 derer tötend, den es anfällt, gleichsam die in einen Augenblick zusammengepreßte Vision des Ganzen«. Im spätantiken Gallien war »der Glaube an die Unheimlichkeit der Mittagsstunde tief im Volk verwurzelt« 25 und Gregor von Tours berichtet von einer Bauersfrau, die bei der Rückkehr von der Feldarbeit einen Schwächeanfall erleidet, zu Boden stürzt und nicht mehr sprechen kann. Herbeieilende Nachbarn behaupten, der Zustand der Bäuerin sei durch den Angriff des Mittagsdämons verursacht. Mit fortschreitender Entwicklung wird der zunächst unbestimmte Dämon zu einer festumrissenen Spukgestalt mit anthropomorphen Zügen, der in allen sozialen Schichten von den Klerikern und dem Adel bis zu den Bauern bekannt ist. Immer tritt er in der Mittagsstunde auf und zeigt seine bösartige Wirkung, indem er den Menschen Lebensüberdruß und sinnliche Begierde, aber auch Furcht und Entsetzen bis zum Wahnsinn, einflößt. Im Volksglauben verbindet er sich mit den Korngeistern, dem Kornweib (Roggenmutter), welches auch als Mittagsfrau bezeichnet wird, und die mittags um zwölf Uhr bei sengender Hitze erscheint. Sie gilt als Schreckgestalt, die auf die Einhaltung der mittäglichen Arbeitsruhe achtet; wen sie mittags bei der Arbeit trifft, den fragt sie zu Tode. Der Mensch, der in ihre Gewalt fällt, kann sich nur dadurch befreien, daß er die Fragen des Dämons beantwortet (z.B. über die Flachsbereitung); dieser altartige Zug erinnert an das Rätsel der Sphinx und an die germanischen Halslöserätsel. 26 Eine der wesentlichen Wurzeln unserer Dämonenvorstellungen liegt im Totenglauben. Der Glaube an wiederkehrende Tote ist so alt wie die Menschheit. Seine Ursprünge liegen sowohl in Traumerlebnissen als auch in der Furcht vor der Rache des Toten, der nicht mehr am Leben Anteil hat. Unerklärbare klinische Phänomene, Scheintod u.ä., die immer wieder zu beobachten sind, haben ein Übriges zu der ambivalenten Einstellung des Menschen zu seinen Toten beigetragen. Zu den wichtigsten dämonischen Gestalten des Volksglaubens gehören die Wiedergänger. Als Wiedergänger bezeichnet die Volkserzählung einen Verstorbenen, der wegen einer Schuld oder aus anderen Gründen als dämonischer Toter, meist in der Gestalt, in der er lebte, als Lebender Leichnam o der Untoter, umgehen muß. Die altgermanische Literatur, die isländischen Sagas und auch die mittelalterliche Überlieferung sind reich an Erzählungen über Wiedergänger. Der umgehende, wiederkehrende Tote tritt in der Körperlichkeit auf, die er zu Lebzeiten besaß: »Die Toten sind Wesen mit Fleisch, Sehnen und Haut, manchmal sprechen sie, manchmal töten sie oder rufen um Hilfe«. 27 Es fällt auf, daß sich gerade in diesem Bereich vorchristliche (germanische) Vorstellungen relativ lange erhalten haben, betrachtet man die auffallend geringe Zahl der »christianisierten Wiedergänger«. Teufel und Fegefeuer spielen in den volkstümlichen Vorstellungen und Berichten eine vergleichsweise geringe Rolle und »nirgends stoßen wir auf das Bild des verwesenden Leichnams«. Insofern sind Wiedergänger keine Gespenster, es sind »lebende Leichname«, d.h. Menschen, die eines unnatürlichen Todes starben oder eine Schuld auf sich geladen haben und deswegen ruhelos an den Ort ihres Wirkens zurückkehren müssen. 25 Ebda., S. 33. 26 Ebda., S. 22ff. 27 Claude Lecouteux, »Altgermanische Gespenster und Wiedergänger«, in: Euphorion 80 (1968), S. 219 - 231. 56 Leander Petzoldt Die wichtigste Gruppe ist diejenige, von denen die altnordische Literatur berichtet, es sind die Toten, die wie im Leben erscheinen und sich wie die Lebenden verhalten. Sie sind die eigentlichen dämonischen Wiedergänger, die Untoten, die auch in verwandelter Gestalt, als Akephalos, oder in Tiergestalt, als Hund, Pferd oder als feurige Gestalten den Lebenden erscheinen, um sich zu rächen, um eine Schuld wieder gutzumachen, oder um die Lebenden auf ein Versäumnis hinzuweisen. Religionsgeschichtlich sehr alt ist die Vorstellung des durch die Lüfte jagenden Totenheeres oder nächtlicher Geisterkämpfe. Ursprünglich waren es die in der Schlacht gefallenen Kämpfer, die, wie es in der Snorra-Edda heißt, immer wieder aufgeweckt wurden um weiterzukämpfen. Der Luzerner Stadtschreiber Renward Cysat beschreibt im 16. Jahrhundert die Umgetriebenen ebenfalls als Menschen, deren Lebenszeit gewaltsam verkürzt wurde. In seinem Bericht vermischen sich Züge der Wilden Jagd mit dem spezifisch schweizerischen Phänomen des Totenzuges. Ein typischer Zug, der zur Wilden Jagd gehört, ist die Figur des »Warners«, der die Begegnenden aus dem Wege gehen heißt; auch davon berichtet Cysat: »Von dem seitzamen Gespenst, so by Nacht wandert vnd von dem gemeinen Pöffel das Guott jns Heer oder die Säligen Lütt genennt würdt, sollt aber billicher heissen das Wuot jns Heer. Es war diss der Hallt [Meinung], das diss die Seelen wärent der Menschen, die vor der rechten Zyt vnd Stund, die jnen zuo dem End jres Lebens gesetzt, verscheiden vnd nitt dess rechten natürlichen Tods gestorben wärent. Die müesstend nun erst nach jrem Tod vff Erden allso wandten, bis sy dieselbig Stund nachmalen erreichtend, vnd allso jn Processions Wys mit einandern umbherzühen, von einem Ort an das ander, vnd jeder, der ettwan von Waffen vmbkommen, dessen ein Wortzeichen (Wahrzeichen) mitttragen, wie ouch die übrigen sonsten ein Anzeig geben, wie sy jr Leben verloren. Vor der Ordnung har gienge allzyt einer, der schrüwe: ›Abwäg, abwäg! Es kommend die Säligen.‹ Hettend ouch liepliche Seittenspiel, die glychwol sich nit starck, sonder timmer [leise] hören lassen.« 28 Wie die volkstümlichen Bezeichnungen für das in der Nacht dahinjagende Wilde Heer von Landschaft zu Landschaft verschieden sind, wechseln auch die Namen und Gestalten der dämonischen Anführer: Wode, Frau Perchta, Rübezahl, oder es sind historische Gestalten wie Herodes, Hackelberg und der Rodensteiner. Später, unter dem Einfluß des Christentums, waren es Ketzer, Hexen und Zauberer, die unter der Führung des Teufels (»infernalis venator«) oder Dietrichs von Bern, der als Arianer der Kirche als Ketzer galt, ewig und ruhelos durch die Lüfte jagen mußten. 29 Der Glaube an die unruhig umherziehenden Toten wurzelt in einem Vorstellungskomplex, der nicht nur auf die germanischen Völker beschränkt ist. Schon die griechische und römische Antike, Herodot, Plinius und Pausanias kennen die Vorstellungen von Geisterheeren. So schreibt Pausanias um 150 n. Chr. über die Ebene von Marathon: »Dort kann man die ganze Nacht hindurch wiehernde Pferde und kämpfende Männer vernehmen. Wer sich in der Absicht hinstellt, es deutlich zu schauen, kommt nicht ungestraft davon [...]« 30 . Dieser Zug von der unheilbringenden Begegnung mit dem Geisterheer ist auch noch in der neueren Volkssagenüberlieferung festzustellen. 28 Renward Brandstetter, Renward Cysat, Luzern 1909, S. 393. Vgl. auch: L. Petzoldt, Deutsche Volkssagen, München 1970, S. 393ff. 29 Petzoldt, wie Anm. 12, S. 186 - 190. 30 Karl Meisen, Die Sagen vom wütenden Heere und vom wilden Jäger, Münster 1935, S. 20. Das Universum der Dämonen und die Welt des ausgehenden Mittelalters 57 Die Wilde Jagd, sozusagen das säkularisierte Totenheer, verunsichert den einsamen Wanderer, der zudem noch durch Gehörs- und Gesichtshalluzinationen geplagt wird. Der dämonische Aufhocker verdankt seine Existenz solchen Angstvorstellungen, wobei noch nicht einmal eine besondere psychische Disposition gegeben sein muß. Numinose Orte provozieren die dämonische Begegnung. Solche Ängste konkretisieren sich in Erlebnissen physischer Natur: Der Aufhocker springt dem einsamen, von unbestimmter Furcht geplagten, durch Schatten und Geräusche überreizten Wanderer auf die Schulter, nimmt ihm den Atem und treibt ihn bis zur Erschöpfung zu immer größerer Eile an. Die Vorstellung von der äußeren Gestalt des Aufhockers aber entnimmt er dem geistigen Fundus der kollektiven mythischen Phantasie: Geisterhunde, Werwölfe, Kobolde, Wiedergänger und andere dämonische Wesen, mit denen die Welt des Sagenerzählers bevölkert ist. 31 Am Beispiel des Aufhockers und noch mehr an der Entwicklung der Gestalt des Bilwis wird deutlich, wie wenig präzise die Vorstellungen vom Phänotyp dieser Dämonen sind. Oft sind es nur vage Vorstellungen theriomorpher, anthropomorpher oder dinglicher Art unter denen der Dämon, die dämonische Begegnung, konkretisiert wird. Die Bilwis-Vorstellung wandelt sich im Laufe ihrer Entwicklung vom Mittelalter bis zur Neuzeit von einem elbischen Zwergwesen der niederen Mythologie zur anthropomorphen Gestalt eines Korndämons und Zauberers. Damit ist jedoch nur sehr unvollkommen die polymorphe Variationsbreite dieser Gestalt angedeutet, und es werden die Schwierigkeiten der Erforschung dieser Vorstellungen deutlich, wenn etwa Name und Gestalt, Vorstellung und Funktion dieser Dämonen von Landschaft zu Landschaft und über größere Zeiträume hinweg variieren. 31 Petzoldt, wie Anm. 12, S. 27ff. Abb. 13: Frau Perchta mit der eisernen Nase. Aus: Hans Vintler, Pluemen der tugent. Augsburg 1486. Bestiarien L. A. J.R. Houwen (Groningen) Definitionen, Versionen und deren Verbreitung Bestiarien sind jene Werke, die direkt oder indirekt ihre Information über Tiere von der einen oder anderen Version des lateinischen Physiologus beziehen, zu der weitere Details und neue Kapitel hinzugefügt werden, die auf eine Anzahl anderer Quellen zurückgehen. 1 In den Bestiarien werden Tiere, gelegentlich auch Steine und Bäume, zuerst im Rahmen ihrer naturwissenschaftlichen Abstammung beschrieben und eingestuft. Danach werden die beschriebenen Eigenschaften entweder als Allegorie oder als moralisierte Metapher behandelt. Die einflußreichste Quelle, auf die sich viele Bestiarien beziehen, ist die sogenannte versio B des Physiologus, die 36 Kapitel umfaßt und ihrerseits auf die erste altgriechische Fassung mit 48 Kapiteln zurückgeht. 2 Bereits zu Beginn der Physiologus-Tradition setzte ein Vorgang der Diversifikation und Kontamination ein, der zu mehreren verschiedenen Versionen führte. Eine solche Entwicklung fand spätestens ab dem 10. Jahrhundert statt, als bestimmte Details (inbesondere Etymologien von Tiernamen) dem zwölften Buch von Isidors von Sevilla Etymologiae (»De animalibus«) entnommen und zur versio B des Physiologus hinzugefügt wurden. 3 Diese B-Is Fassung, die sich in etwa 15 Manuskripten vom 10. bis hin zum späten 13. Jahrhundert findet 4 , gilt schlechthin als die erste »richtige« Bestiarie. Allerdings ist die Entwicklung des B-Is nicht einzigartig. Die 1 Die Bezeichnung »Bestiarie« erscheint sowohl in lateinischen als auch in frühen Vernakulärtexten. Oxford, Bodleian Laud 247 (ca. 1120) z.B. bezeichnet sich selbst als »liber bestiarium« und Philippe de Thaon nennt sein Werk aus dem zwölften Jahrhundert »bestiaire«. 2 Carmody, Francis J.: Physiologus Latinus. Éditions préliminaires versio B. Paris 1939. Für die vier Redaktionen der altgriechischen Texte, die in mindestens 77 Manuskripten aus dem 10. bis 16. Jahrhundert erhalten sind, vgl. Sbordone, Francesco: Physiologus. Mailand 1936 (Nachdr. Hildesheim 1976) und Henkel, Nikolaus: Studien zu Physiologus im Mittelalter. Tübingen 1976, S. 18 f. 3 Das älteste überlieferte Manuskript ist Rom, Codex Palat. lat 1074; siehe McCulloch, Florence: Mediaeval Latin and French Bestiaries. Chapel Hill 1962 und Henkel (Fn. 2), S. 28. 4 Darunter befinden sich sechs Fragmente, von denen vier direkt einer Aviarie folgen, wie z.B. in Oxford, Bodleian MS Lyell 71, in der das Löwenkapitel der Aviarie folgt, oder Chalon-sur-Saône, Bibl. Mun. S 14, Paris, BN S lat. 2495 A und lat. 2495 B, in denen die Kapitel über den Ibis und die Farben der Ringeltaube und der Turteltaube nachfolgen; zur genaueren Beschreibung dieser Manuskripte siehe Clark, Willene B.: The Medieval Book of Birds. Hugh of Fouilloy’s Aviarium. Binghamton 1992, Katalog Nr. 40; 13; 44; 45; 21; Hassig, Debra: Medieval Bestiaries. Text, Image, Ideology. Cambridge 1995 (Cambridge, Corpus Christi College MS 22), S. 184. Selbstverständlich läßt sich die Anzahl der Manuskripte, auf die in dieser Studie verwiesen wird, nicht eindeutig bestimmen; die Daten hinsichtlich Anzahl von Bestiarientexten und hinsichtlich Inhalt und Besonderheiten von Manuskripten basieren vor allem auf folgenden Quellen: James, M. R. (Hrsg.): The Bestiary. Oxford 1928, S. 7 - 26; McCulloch (Fn. 3), S. 29 - 42, 48 - 63; Lindsey, Elizabeth: Medieval French Bestiaries. Diss. University of Hull 1976, S. 17 - 71; Clark, Willene B.; McMunn, Meradith T. (Hrsg.): Beasts and Birds of the Middle Ages. Philadelphia 1989, Anhang S. 197 - 203; George, Wilma; Yapp, Brunsdon: The Naming of the Beasts. London 1991, S. xi- xiv; Hassig, Anhang S. 182 - 187; Henkel (Fn. 2, S. 29 f.) legt eine Liste von Dicta-Manuskripten vor (vgl. auch Fn. 43). Zur Auflistung der Aviarienmanuskripte siehe Clark, S. 267 - 313. 60 L.A.J.R. Houwen sogenannte Dicta Chrysostomi, d.i. die Bestiarie, die in einigen Manuskripten dem heiligen Johannes Chrysostomus (etwa 347 - 407), Bischof von Konstantinopel, zugeschrieben wurde, soll sich auch aus versio B entwickelt haben. Damit können die Dicta, die die Tiere in unterschiedene Gruppen (bestia, reptilia) klassifizieren und keine gesonderten Kapitel über Pflanzen und Steine enthalten, sowohl aufgrund der Erweiterung des Adlerkapitels als auch des Vorhandenseins e iniger textlicher Korruptio nen, die sie von vorhergehenden Versionen unterscheiden, sehr wohl als eine Bestiarie gelten. 5 Natürlich stehen die frühesten Bestiarien dem Physiologus am nächsten. Obwohl alle Bestiarien zumindest Teile des viel älteren lateinischen Physiologus enthalten, werden nach und nach diesem Grundmaterial weitere Tierbeschreibungen hinzugefügt. Während die B- Version des Physiologus manchmal bis zu 36 Kapitel einschließt, umfassen einige der späteren englisch-lateinischen Bestiarien teilweise bis zu 150 Kapitel. In manchen Fällen ist der Einfluß des Physiologus auf die Bestiaren klar zu erkennen, da die aus dem Original stammenden Physiologus-Kapitel oftmals mit den Worten »Physiologus dicit« eingeleitet werden. Allerdings fügen die Bestiarien dem Physiologus nicht nur Kapitel hinzu; oftmals werden Kapitel auch beträchtlich erweitert. Darüber hinaus zeichnen sich die späteren Bestiarien durch eine enzyklopädische Anordnung der Tiere nach Abstammung aus, während im Physiologus die Beschreibungen der Tiere einigermaßen ungeordnet aufeinander folgen. Bestiarien lassen sich in verschiedene Gruppen oder Familien einordnen. 6 Die erste Familie umfaßt 29 Texte und Fragmente und beinhaltet außer der B-Is Version auch noch eine andere Version, die Teile von Hugh of Fouilloys ornithologischem Werk, das Aviariums, enthält. Diese Version wird als H-Version bezeichnet und hat sich in neun Texten über acht Kodices, von denen allein sieben in das 13. Jahrhundert fallen, erhalten. Fünf noch erhaltene Transitional-Bestiarien schließen die Lücke zwischen der ersten und der zweiten Familie. 7 Diese fünf Texte unterscheiden sich anhand ihrer Kombination der B- Is Fassung mit weiteren Einschüben, die hauptsächlich aus den Texten von Isidor stammen. Die bekannteste und beliebteste dieser lateinischen Bestiarien ist die zweite Familie, die in 33 Manuskripten erhalten ist. Vollständige Ausgaben dieses Textes umfassen über einhundert Kapitel, eine sinnstiftende Klassifikation der Tiere und eine Anzahl von Einschüben, meistens aus den Werken von Isidor, Ambrosius und Solinus. Obwohl diese Manuskripte auf das zwölfte bis 16. Jahrhundert datiert sind, entstand die Mehrzahl im 13. Jahrhundert. 5 Für eine Liste der Charakteristika der Dicta-Versionen s. Henkel (Fn. 2), S. 31 - 32. Es ist umstritten, ob die Dicta als Bestiarium oder als Physiologus einzustufen sind, vgl. McCulloch (Fn. 3); Frank, Lothar: Die Physiologus-Literatur des Englischen Mittelalters und die Tradition. Diss. Universität Tübingen 1971) und Henkel (Fn. 2) binden die Dicta in die Physiologus-Tradition ein; Eden, P.T.: Theobaldi Physiologus. Leiden 1972, S. 3 bezeichnet diese andererseits als »die erste richtige Bestiarium«, und Clark/ McMunn schließen die Dicta in ihrer Liste der »Manuscripts of Western Medieval Bestiary Versions« ein ([Fn. 4], S. 197 - 198). 6 James (Fn. 4) unterteilte als erster die ihm vorliegenden 40 - hauptsächlich englischen - Manuskripte in vier Familien, eine Klassifikation, die Florence McCulloch (Fn. 3) durch eine weitere Unterteilung der sog. ersten Familie in verschiedene Unterfamilien verfeinerte. Wilma George und Brunsdon Yapp (Fn. 4) unterteilten die zweite Familie in verschiedene Unterfamilien. 7 MS Gall 16 (Isabella Psalter) in der Bayerischen Staatsbibliothek München enthält zusätzlich zu diesen fünf Texten eine Reihe von Bestiarienilluminationen, die der Struktur der Übergangsbestiarie zu folgen scheinen; McCulloch (Fn. 3), S. 211, Anm. 4. Bestiarien 61 Darüber hinaus läßt sich eine dritte Familie mit fünf Manuskripten (alle aus dem 13. Jahrhundert) feststellen. Diese Manuskripte, die sich durch ihren mit Haustieren beginnenden Aufbau unterscheiden, enthalten weitere Einschübe aus den Texten von Isidor, unter anderem die Erzählung der fabelhaften Stämme aus dem elften Buch der Etymologiae und Auszüge von Werken wie z.B. der Cosmologia von Bernardus Silvestris, des Pantheologus von Peter of Cornwall, dem Policraticus von John of Salisbury und De remediis fortuitorum von Seneca. Diese nicht zum ursprünglichen Textkonvolut gehörenden Stoffe sind entweder nur lose angehängt oder in das Bestiarium integriert. Die sogenannte vierte Familie ist nur durch ein Manuskript aus dem 15. Jahrhundert vertreten und enthält viele Hinzufügungen aus der im 13. Jahrhundert sehr populären Enzyklopädie des Bartholomaeus Anglicus, De proprietatibus rerum. 8 Den vier französischen Bestiarien, von denen zwei in Anglonormannisch geschrieben sind, liegen zwei unterschiedliche Versionen des lateinischen Physiologus zugrunde. Philippe de Thaons bestiaire, für den englischen Hof konzipiert und Aelis de Louvain, der zweiten Frau Heinrichs I. gewidmet, ist die älteste (ca. 1121) und in drei Manuskripten überliefert. 9 Die andere, in den Manuskripten oft als Li Bestiaire Divin bezeichnet, wurde von dem normannischen Kleriker Guillaume de Clerc (frühes 13. Jahrhundert) verfaßt und ist in 23 Exemplaren überliefert. Alle Manuskripte entstammen dem 13. und 14. Jahrhundert - die Mehrzahl der Texte jedoch (ca. 14) datiert aus dem 13. Jahrhundert. Ein anderes Bestiarium entstammt der Feder von Gervaise von Tilbury (frühes 13. Jahrhundert), das in nur einem Manuskript aus der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts überliefert ist. Das einzige französische Prosa-Bestiarium wurde von Pierre de Beauvais vor 1218 verfaßt und ist in einer Langversion und einer Kurzversion in je vier Manuskripten erhalten (13. - 15. Jahrhundert). 10 Außer Gervaises bestiaire, das einer Verarbeitung der Dicta Chrysostomi nahesteht, basieren die französischen Bestiarien alle auf der B-Is Version des Physiologus. Von den Dicta sind zumindest 36 vollständige oder teilvollständige Exemplare, wahrscheinlich noch einige mehr, erhalten. Die Dicta Chrysostomi sind wahrscheinlich im 11. Jahrhundert in Frankreich entstanden und erfreuten sich großer Beliebtheit in Deutschland und Österreich vom 12. bis zum 15. Jahrhundert. Die Dicta dienten auch als Grundlage für die drei deutschen vernakulären Adaptionen aus dem 12. und 13. Jahrhundert und für die Kurzversion aus dem 15. Jarhrhundert. 11 Der Melker Physiologus und der sog. Moralische Physiologus entstammen ebenfalls dem 15. Jahrhundert, lassen sich aber nicht genau einordnen. 12 Im Italienischen existieren um die 14 Bestiarien-Manuskripte, 13 von denen sich vier auf das 14. Jahrhundert datieren lassen, obwohl sie erst im 15. Jahrhundert bekannt wur- 8 Universitätsbibliothek Cambridge, MS Gg 6 5. Es ist umstritten, ob eine »Familie«, die nur ein Manuskript enthält, tatsächlich als ihre eigene »Klasse« gelten kann. Siehe auch James, M.R. (Fn. 4), S. 25. 9 In dem Text Oxford, Merton College 249 der bestiaire ist die Widmung umgeändert worden auf »Eleanor von Aquitanien« (die Frau Heinrichs II.). Dies würde das Manuskript auf ca. 1152 datieren. 10 McCulloch (Fn. 3), S. 62 - 63; Mermier, Guy R.: A Medieval Book of Beasts. Pierre de Beauvais’ Bestiary. Lampeter 1992, S. xiii- xiv. 11 Die Kurzversion erscheint in zwei Manuskripten. In Melk, Cod. 662 ist sie als »Dictamen brevissium de naturis 19 animalium« bezeichnet; in beiden Kodices ergänzt dieser Text die Tiere, die nicht in der Kurzversion des Physiologus Theobaldi erscheinen, der sich ebenfalls in diesem Manuskript befindet; siehe Henkel (Fn. 2), S. 48. 62 L.A.J.R. Houwen den. Man nimmt an, daß die italienischen Bestiarien auf eine frühere Übersetzung des Physiologus zurückgehen, doch da die überlieferten Exemplare alle spät sind, komplizieren sich die Überlieferungsgeschichte und die inneren Zusammenhänge dieser Bestiarien. Außer den Vernakulärmanuskripten besteht noch eine lateinische Version, die in den überlieferten Drucken als Libellus de natura animalum bekannt ist. Diese Version ist in zwei Manuskripten und acht Exemplaren aus zwei Drucken (1508, 1524) erhalten. Der Verleger der Ausgabe aus dem Jahre 1508 brachte ebenfalls eine italienische Ausgabe heraus, von der anscheinend nur ein Exemplar erhalten ist. 14 Das Libellus ist eng mit dem Waldenser Bestiarium verwandt, von dem zwei Manuskripte aus dem späten 15. oder frühen 16. Jahrhundert überliefert sind. Das Waldenser Bestiarium und das Libellus könnten auf ein verlorengegangenes, extensiveres lateinisches Bestiarium zurückgehen. 15 Außer den französischen und italienischen Vernakulärbestiarien sind um die fünf Manuskripte einer katalanischen Adaption der toskanischen Übersetzung der Bestiarie bekannt, alle aus dem 15. und 16. Jahrhundert. 16 Das beliebteste Tierbuch von allen jedoch, das Aviarium des Augustinerprobstes von St. Nicholas de Regny, Hugh of Fouilloy, entstand in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts. Hugh hatte das Werk als Bestiarium angelegt, fügte aber der im höchsten Maße allegorisierenden und moralisieren Sammlung von Vogelbeschreibungen keine Tierbescheibungen an. 17 Daß sich das Fehlen 12 Henkel (Fn. 2), S. 96 - 104, 134 - 136. Entgegen Henkels Vorschlag, daß der »Moralische Physiologus« eher als Bestiarie denn als eine Version des Physiologus anzusehen sei, scheint er mir keiner dieser beiden Formen anzugehören. Bis heute ist nicht geklärt, ob dieses »Bestiarium« mehr als gröbste Merkmale mit dem Physiologus gemein hat. Die eher klischeegeprägten didaktischen Moralisationen ähneln keinesfalls denen des Physiologus oder der Bestiarien; vgl. Stammler, Wolfgang: Ein ›Moralischer Physiologus‹ in Reimen. In: Festschrift für Josef Quint. Berlin 1964, S. 231 - 235. 13 In Clark/ McMunn (Fn. 4), S. 202 f., sind elf italienische Bestiarien aufgelistet; für »cl. XII Cod. Strozz. Magliabecchiano 135« siehe »cl. XXI Cod. Strozz. Magliabecchiano 135«, wobei »Cod. 2183 R. IV Nr. 2260« zwei Kodices enthält, nämlich »Cod. 2183« und »Cod R.IV 4 Nr. 2260«, beide in der Biblioteca Ricardiana (Florenz); des weiteren werden bei Goldstaub, Wendriner und McKenzie noch andere Manuskripte zusätzlich zu den bei Clark/ McMunn erwähnten in diese Tradition eingestuft: Goldstaub, Max; Wendriner, Richard: Ein Tosco-Venezianischer Bestiarius. Halle 1892, S. 74 - 82; McKenzie, Kenneth: Unpublished Manuscripts of Italian Bestiaries. In: PMLA 20 (1905), S. 380 - 433; siehe auch Garver, S.: Some Supplementary Italian Bestiary Chapters. In: Romanic Review 11 (1920), S. 308 - 327. 14 Die Ausgabe aus dem Jahre 1508 wurde von Vincentius Berruerius in Mondovi (Piemont) gedruckt und ist in vier Exemplaren erhalten, ähnlich der Version aus dem Jahre 1524, die von Joseph Berruerius in Savona mit den Holzschnitten aus der Version von 1508 gedruckt wurde; die Aufenthaltsorte dieser beiden Drucke sind z.Zt. unbekannt. Für die Möglichkeit einer zweiten italienischen Ausgabe und einer Beschreibung der Manuskripte und Drucke vgl. Raugei, A.M.: Bestiario Valdese. Florenz 1984, S. 21 - 28. 15 McCulloch, Florence: The Waldensian Bestiary and the »Libellus de natura animalium«. In: Medievalia et Humanistica 5 (1963), S. 15 - 30, und Raugei (Fn. 14), Kap. 1 - 3. 16 Außer den bei Michel Salvat erwähnten Bestiarien (Salvat, Michel: Notes sur les bestiaires catalans. In: Salvat, Michel; Bianciotto, Gabriel [Hrsg.]: Epopée animale, fable, fabiau. Actes du IV e Société Internationale Renardienne. Paris 1984, S. 499 - 508), erreichte auch ein Bestiarium aus der zweiten (? ) Familie Spanien durch die verschiedenen (katalanischen und kastilischen) Übersetzungen von Bruno Latinis Li Livres dou Tresor, einer Enzyklopädie, die nicht nur viele italienischen Bestiarien beeinflußte, sondern auch in eigenem Recht in Spanien große Popularität erlangte; vgl. Baldwin, Spurgeon: The Medieval Castillian Bestiary. Exeter 1982, S. xx - xxii. 17 Siehe Prolog 1: »De quibusdam vero tam volucribus quam animalibus quae ad exemplum morum Divina Scriptura commemorat, quam citius potero breviter assignare temptabo.« (= Aber ich will versuchen, so kurz ich es kann, über bestimmte Vögel und Tiere zu berichten, die in die Heiligen Schrift als Beispiel guten Betragens erwähnt.); siehe Clark (Fn. 4), S. 118 f. Bestiarien 63 anderer Tierbeschreibungen oft als Lücke bemerkbar machte, zeigt sich darin, daß die Aviarien in Manuskripten oftmals mit anderen Bestiarien ergänzt wurden - eine Tatsache, die die enge Verwandtschaft der beiden zu dieser Zeit aufzeigt. 18 Die Popularität der Aviarien bestätigt sich in den 96 vollständigen oder teilvollständigen Manuskripten. Obwohl Aviarien hauptsächlich von 12. bis zum 16. Jahrhundert produziert wurden, stammt der Großteil der Manuskripte aus dem 13. Jahrhundert. Insgesamt bestätigen die 285 überlieferten Bestiarien oder Aviarien und deren Fragmente die Beliebtheit dieser Form, obwohl diese Anzahl immer noch weit entfernt ist von den über 800 Manuskripten der Legenda Aurea oder der Enzyklopädien, von denen allein die von Bartholomaeus Anglicus in über 160 Texten in lateinischer Sprache erhalten ist. 19 Überlieferung und geographische Verteilung Um die Bedeutung der Bestiarien als Träger und Vermittler von Tiermythen darzustellen, muß deren Überlieferung und geographischer Verteilung Beachtung zukommen. Die hauptsächlichen Produktionszentren der verschiedenen Bestiariengattungen im westlichen Europa scheinen England, Frankreich, die deutschsprachigen Regionen und, in geringerem Maße, Italien und Spanien gewesen zu sein. England war das alleinige Produktionszentrum der Übergangsbestiarien und der Bestiarien der dritten und vierten Familie. Des weiteren lassen sich fast alle Bestiarien der zweiten Familie und etwa ein Fünftel aller Aviarien nach England zurückverfolgen. In England und Frankreich wurden etwa die Hälfte aller bekannten B-Is Bestiarien produziert. Die französischen Vernakulärbestiarien sind hauptsächlich in Frankreich entstanden, obwohl zwei der drei erhaltenen Exemplare von Philippes de Thaon Bestiarien wahrscheinlich englisch sind - was sich ebenfalls von zumindest einem Drittel der Bestiarien aus Guillaumes le Clerc Feder sagen läßt. Zusätzlich zu den Vernakulärbestiarien stellte Frankreich den wichtigsten Entstehungsort für Aviarien und den alleinigen Entstehungsort für Bestiaren vom Typ H dar. Außer in Frankreich erfreute sich das Aviarium auch großer Beliebtheit in Süddeutschland und Österreich sowie in geringerem Maße in den Niederlanden und in Italien. 20 Nach der Anzahl und dem Verbreitungsgrad extanter Manuskripte, die hauptsächlich aus dem 12. und 13. Jahrhundert stammen, aber auch in einigen Exemplaren aus dem 14. und 15. Jahrhundert überliefert sind, zu urteilen, waren die Dicta Chrysostomi am verbreitetsten in Süd- 18 Siehe Clark (Fn. 4), Kat. nummern 6, 21, 28, 29, 37, 40 (Aviarie/ B-Is); Nummern 7, 10, 22, 27, 58 (Aviarie/ DC); Nummern 12, 13, 44, (45), 46, 52, 77 (Aviarie/ H); Nummern 1, 11, 36, 38, 39, 41 (Aviarie/ Zweite Familie); Nummer 42 (Aviarie/ Guillaume le Clerc); Nummern 23, 25, 26, (Aviarie/ ungenannte Bestiarie). In den Bestiarien der zweiten Familie ist die Aviarie in die Bestiarie integriert; in allen anderen Fällen folgt die Bestiarie meistens unmittelbar der Aviarie. 19 Reames, Sherry L.: The ›Legenda aurea‹. Madison 1985, S. 4; Seymour, C. [u.a.]: Bartholomaeus Anglicus and His Encyclopdia. Aldershot 1992, S. 257 - 261. 20 Siehe die Karte mit den tatsächlichen und wahrscheinlichen Produktionsorten der Aviarien, die S. 1 bei Clark (Fn. 4), voransteht. Clark unterteilt etwa 88 Aviarien hinsichtlich Provenienz und Stil (S. 25) in die folgenden Kategorien: 32 - 33 stammen wahrscheinlich aus (Nord)frankreich; 17 sind englisch, 14 deutsch oder österreichisch, 8 oder 9 aus den Niederlanden, 8 aus Italien, 4 - 5 aus Portugal und 2 aus Böhmen. 64 L.A.J.R. Houwen deutschland und Österreich - allerdings treten auch einige wenige Manuskriptexemplare in Frankreich und Flandern auf. 21 In England waren die Dicta anscheinend nicht sehr populär; das einzige in einer englischen Bibliothek erhaltene Manuskript ist Sloane 278, das selbst auf dem europäischen Festland entstand. 22 Etwa die Hälfte aller zwischen dem 10. und dem 16. Jahrhundert produzierten Bestiarien und Aviarien stammen aus dem 13. Jahrhundert. Ab Ende dieses Jahrhunderts nimmt die Anzahl der Bestiarien und Aviarien besonders in England und Frankreich ab. Nach dem 13. Jahrhundert werden in England außer einer Handvoll Bestiarien der zweiten Familie (bis etwa 1330) keine lateinischen Bestiarien der B-Is, des Übergangstypus, und der dritten Familie mehr produziert. 23 Die an diesem Punkt alleinige englische Innovation beschränkt sich auf die einzige überlieferte Kopie der bereits erwähnten Bestiarie aus der vierten Familie von ca. 1450. 24 Beinahe die Hälfte aller Bestiarien stammen aus dem 13. Jahrhundert; im 14. Jahrhundert entstanden kaum ein Fünftel, und im 15. Jahrhundert kaum ein Sechstel aller Bestiarien. Diese numerische Verteilung läßt sich auf die kontinuierliche Beliebtheit der Dicta in Deutschland und Österreich und auf die Bestiarienproduktion in Italien und Spanien zurückführen. Damit ergibt sich ab dem 14. Jahrhundert eine klare geographische Verschiebung der Popularität von England und Frankreich in weiter östlich und besonders in weiter südlich liegende Gebiete - ein Phänomen, das ebenfalls bezüglich des bekannten Physiologus Theobaldi auftritt. 25 Besitzer, Leser und Sinnzweck der Bestiarien Die in Form von Manuskriptsiglen, Illuminationen, Ex Libris und Bibliothekskatalogen erhaltenen Belege lassen vermuten, daß, besonders vor 1400, viele Bestiarien in Klöstern und Bruderschaften produziert und aufbewahrt wurden. 26 Das Ex Libris des MS 18421 - 29, eines Exemplares der Dicta aus dem 13. Jahrhundert in der Königlichen Bibliothek in Brüssel, läßt zum Beispiel annehmen, daß es sich einst im Besitz des Benediktinerklosters St. Martin in Tournai befand. Eine Miniatur in der British Library (BL), MS Harley 3244 (ca. 1255; zweite Familie), die einen zur Segnung Christi knienden Dominikaner darstellt, läßt ein Dominikanerkloster als Auftraggeber und Besitzer dieses Bestiarums vermuten. 27 In einer aus dem 13. Jahrhundert stammenden englischen Kopie des Bestiariums von Guillaume le Clerc treten sowohl Franziskaner als auch Dominikaner auf, wobei die Franziskaner den Großteil der Illustrationen bestimmen. 28 Nur wenige Klöster und Bruderschaften waren jedoch so vorrangig ausgestattet wie das Benediktinerkloster St. Em- 21 Henkel (Fn. 2), S. 29; Clark (Fn. 4), Kat. nummern 7, 10, 22, 27. 22 Eden (Fn. 5), S. 4; Payne, Ann: Medieval Beasts. London 1990, S. 12. 23 George/ Yapp (Fn. 4), S. xiii. Das letzte auf dem Festland entstandene Bestiarum ist anscheinend MS 82 in der Stadibibliothek Nîmes (frühes 16. Jahrhundert): McCulloch (Fn. 3), S. 36, Anm. 43. 24 Universitätsbibliothek Cambridge MS Gg 6 5. 25 Eden (Fn. 5), S. 14 f. 26 Clark (Fn. 4), S. 22. In der folgenden Diskussion, die auf der bekannten mittelalterlichen Besitzerschaft von lediglich einem Fünftel aller Texte ausschließlich Aviarie und einem Drittel aller Texte einschließlich Aviarie basiert, kann nicht oft genug auf die Unvollständigkeit der Belege hingewiesen werden 27 Payne (Fn. 22), S. 15. 28 Hassig (Fn. 4), S. 13, 42, 89, 112, 162 - 163. In Clarks Katalog von Manuskriptilluminationen der Aviarien sind viele weitere Beispiele aufgelistet ([Fn. 4], S. 267 - 311). Bestiarien 65 meran bei Regensburg (Bayern), das im 15. und 16. Jahrhundert nicht nur fünf Exemplare des Physiologus Theobaldi besaß, sondern wohl auch im 12. und 13. Jahrhundert jeweils ein Exemplar der Dicta Chrysostomi entweder angekauft oder selbst produziert hat. 29 Des weiteren lassen sich Belege für den klösterlichen Besitz von Vernakulärbestiarien finden. Das BL, Cotton Nero Exemplar des Bestiariums von Phillippe de Thaon enthält ein Ex Libris der Zisterzienserabtei Holmcultram (Cumberland) und wurde dort entweder kopiert oder als Schenkung überreicht, und das Merton College Exemplar desselben Bestiariums hat wahrscheinlich einst einem Kloster in den West Midlands gehört. 30 Außerdem besaß im 14. Jahrhundert die Abtei St. Martin in Dover ein bestiarius in gallicis. 31 Demnach könnte Gervaises bestiaire das Produkt eines Zisterzienserklosters in der Normandie sein. Das älteste überlieferte Exemplar der althochdeutschen Dicta befand sich einst im Besitz der Benediktinerklosters St. Paul in Kärnten, und eine der katalanischen Bestiarien aus dem 16. Jahrhundert wurde von Franziskanern kopiert und aufbewahrt. 32 Daß die Aviarien (und die im gleichen Einband befindlichen Bestiarien) in die Klosterwelt gehören, macht Hugh in seinen Moralschriften über die religiöse Verwandlung des Menschen und über die öffentlichen und klösterlichen Verhaltensmaßregeln klar. 33 Der Manuskriptkontext unterstützt diese Forderung Hughs, denn seine Abhandlung erscheint stets im Verband mit anderen monastisch theologischen Werken, die ebenfalls meistens aus seiner Feder stammen (De claustro animae, De rota, De medicina animae, De pastoribus), oder aus der Feder von Richard of St. Victor (De institutione novitiae), St. Anselm, St. Bernard (Meditationes, De diligendo deo), und vielen anderen. 34 In non-aviarischen Manuskripten findet sich eine etwas geringere Konzentration monastischer und ausschließlich theologischer Texte. In den Manuskripten stehen den lateinischen und den Vernakulärbestiarien sehr oft Werke moraldidaktischer oder religiöser Natur gegenüber, 29 Eden (Fn. 5), S. 17 f.; Henkel (Fn. 2), S. 32. 30 Für die Zisterzienser-Verbindung des Cotton Nero MS vgl. Morson, Fr. John O.C.R.: The English Cistercians and the Bestiary. In: Bulletin of the John Rylands Library 39 (1956), S. 146 - 70, hier: S.168 f. Morson bemerkt, daß die Notiz auf Folio 82 am Ende der Bestiarie (»liber sancte marie de homcoltrum«) etwa ein Jahrhundert älter als das Manuskript selbst sein könnte und schließt daraus, daß es dem Kloster »vor dem Jahr 1200« als Schenkung überreicht wurde. Für eine Diskussion des Merton-Manuskripts vgl. Lindsey (Fn. 4), S. 410. 31 James, M.R.: The Ancient Libraries of Canterbury and Dover. Cambridge 1913, Nr. 390, zitiert bei Clark (Fn. 4), S. 23, Anm. 4. 32 In seinem Prolog erwähnt Gervaise die (Zisterzienser-)Abtei von »Barberie« in der Diözese Bayeux, aber die Verbindung von Gervaise mit diesem Kloster ist unklar; vgl. Meyer, Paul (Hrsg.): Le Bestiaire de Gervaise. In: Romania 1 (1872), S. 420 - 43; für die Provenienz der althochdeutschen Dicta vgl. Henkel (Fn. 2), S. 60 - 63; Salvat (Fn. 16), S. 500 f.. Siehe auch Frank (Fn. 5), S. 30 f. und McCulloch (Fn. 3), S. 55. 33 Clark (Fn. 4), S. 16 - 21. In dem Prolog legt Hugh sein Ziel offen dar, nämlich »per picturam simplicium mentes aedificare decrevi« (= durch ein Bild die Geister einfacher Menschen zu bilden) (S. 116 f.). Hugh erklärt die Verwendung von Tierabbildung und zugehörigem Text als eine Art Gedächtnismittel - eine Idee, die auch das Bestiarium von Richard de Fournival (Bestiaire d’Amour) einleitet und im ganzen Werk von Philippe de Thaon zu finden ist. Vgl. auch Carruthers, Mary: The Book of Memory. Cambridge 1990, S. 126 und Rowland, Beryl: The Art of Memory and the Bestiary. In: Clark/ McMunn (Fn. 4), S. 12 - 25. Joanne S. Norman argumentiert für dieselbe mnemonische Verwendung in Predigttexten, wie den Etymachia, John Ridevalls Fulgentius metaforalis und Robert Holcots Moralitates (Text and Image in Medieval Preaching. In: Heusser, Martin (Hrsg.): Word and Image Interactions. Basel 1993, S. 41 - 52). 34 Clark (Fn. 4), S. 24, 267 - 311. 66 L.A.J.R. Houwen z.B. Predigttexte, Vitae, Übersetzungen und Paraphrasen von Bibeltexten, Auslegungen des Vaterunser, Abhandlungen über die Heilige Jungfrau und über Tugenden und Laster. Ebenso häufig treten enzyklopädische Texte mit starken moraldidaktischen Untertönen und Fabeln auf. 35 Unter ersteren befindet sich die Lapidarie, die oftmals der Bestiarie zur Seite steht; oder auch Honorius Augustodunensis Imago Mundi und dessen französische Übertragung von Gautier de Metz. In den lateinischen Manuskripten ist noch ein Bodensatz von theologischen Abhandlungen enthalten, die allerdings fast immer in den Vernakulärfassungen fehlen, in denen die nicht-lateinischen Bestiarien normalerweise zu finden sind. Ihre Inhalte sind meist moraldidaktischer oder frommer Natur, und nur vereinzelt findet man »wissenschaftliche« oder, noch seltener, »historische« oder »literarische« Texte. 36 Insgesamt stellen die Texte in den Manuskripten der Vernakulärbestiarien eine klare Verschiebung von religiösen zu weltlichen Inhalten dar, besonders zu der Welt der niederen Klerik und der gebildeten Laien. 37 Das mag noch nicht einmal überraschend klingen, wenn man bedenkt, daß viele Vernakulärbestiarien zu einem späten Zeitpunkt geschrieben wurden, als der Alphabetismus und das Interesse an moraldidaktischen und religiösen Angelegenheiten in der Laienklerik dramatisch anstieg. Auf jeden Fall läßt sich eine ähnliche Entwicklung hinsichtlich der Kopien des Physiologus feststellen (auf Latein und in den Vernakulärsprachen), die ab dem 14. Jahrhundert oftmals im Verband mit andren moraldidaktischen Werken auftreten. 38 Aviarien waren anscheinened bei den Zisterziensern und Benediktinern, aber auch bei den Augustinern und in geringerem Maße bei den Franziskanern, Viktorinern und Dominikanern sehr geschätzt. 39 In gewissem Sinne gilt dies auch für die Bestiarien, mit der Ausnahme, daß hier die Benediktiner den Zisterziensern und Franziskanern hinsichtlich Besitzerschaft voranstehen. Zusammengenommen besaßen die Benediktiner und Zisterzienser über die Hälfte aller Bestiarien, deren frühe Provenienz bekannt ist. Des weiteren läßt sich aufgrund von Belegen vermuten, daß den Zisterziensern - wichtig in der Verbreitung von Aviarien - eine ähnliche Rolle hinsichtlich der Bestiarien in England zukommt. 40 Entscheidend für die klösterliche Beaufsichtigung der Bestiarien und Aviarien könnte deren Verwendbarkeit für Predigten und moral- oder religiös-didaktische Diskurse gewesen sein. Ein anderer Nutzen könnte aus deren Verwendbarkeit als Lehrtexte für die Ausbildung von Novizen oder weniger begabten Mönchen und Laienbrüdern ge- 35 Daß Fabeln in engem Zusammenhang mit moralischen Tierweisheiten stehen, bestätigt sich in den Manuskripttraditionen der Bestiarien und des Physiologus; siehe außerdem die Kapitel über Adler (X), Phoenix (XIII), Spinne (XV a ), Antilope (XVII), Krokodil und Wasserschlange (XVIII), Ameise (XLII b ), Fuchs (XLIX), Pelikan (LVII), und den Panther (LX) in den Fabeln des Odo of Cheriton (ca. 1185 - ca. 1247). In: Hervieux, Léopold (Hrsg.): Les fabulistes latins. 5 Bde. Paris 1893-99, IV., S, 195 - 245. 36 Unter den altfranzösischen Manuskripten zeichnet sich eines (Paris, BN, fr. 2168) durch die beinahe ausschließliche Verwendung von unterhaltsamen Texten wie Aucassin et Nicolette, Marie de Frances Lais, Fables und einiger Fabliaux aus. 37 Siehe Lindsey (Fn. 4), S. 402 - 448, und Henkel ([Fn. 2], S. 136), der erwähnt, daß der deutsche Moralische Physiologus (siehe Anm. 12) in einem Manuskript erhalten ist, das ausschließlich solche moraldidaktische Lyrik enthält, die nur von dem Benediktinerprediger, der dieses Manuskript ursprünglich zusammenstellte, zur Unterrichtung seiner Gemeinde benutzt werden konnte. 38 Henkel (Fn. 2), S. 57 - 58. 39 Clark (Fn. 4), S. 24 - 25. 40 Morson (Fn. 30), S. 167 - 170. Morson identifiziert vier Bestiarien, für die Belege einer Besitzerschaft durch eine englische Zisterzienserabtei vorhanden sind. Bestiarien 67 zogen worden sein. 41 Die Verwendung als klosterinterner Lehrtext würde auch die Präsenz des Vernakulärbestiariums von Guillaume le Clerc in englischen Nonnenkloster Nuneaton erklären. Das Manuskript, in dem das Bestiarium erscheint (Cambridge, Fitzwilliam Museum, MS McLean 123) ist frommer Natur und umfaßt u.a. auch Grossetestes Château d’amour, eine Auslegung des Vaterunser, eine französische Versübersetzung des Gopsel of Nicodemus (Evangelium des Nicodemus), eine illustrierte Apokalypse in Französisch und Latein, Musik für das Officium beate Virginis und den Text der englischen Verspredigt, das Poema morale. 42 Gegen Ende des Mittelalters nehmen die Besitzerschaft und Produktion von Bestiarien bei Bettelorden zu. Eine der zwei prinzipalen katalanischen Bestiarien aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurde von einem Franziskanermönch kopiert, der seine Anonymität wahren wollte »per avitar vanaglòria e per humiliat.« 43 Desgleichen wurden die beiden Manuskript-Kopien des Libellus entweder von den Franziskanern produziert oder verwahrt. 44 Die Bettelorden haben wahrscheinlich die in ihrem Besitz befindlichen Bestiarien hauptsächlich zu Predigtzwecken verwendet. Aus diesem Grunde umfaßt BL, Harley 3244 (wahrscheinlich dominikanischer Provenienz) 45 außer solchen bevorzugten Texten aus Bestiarienmanuskripten wie dem Elucidarium, Alanus de Insulis’ De sex alis cherubim, und der allgegenwärtigen Lapidarie ebenfalls solche Werke wie Peraldus’ Summa de vitiis et virtutibus, eine Sammlung von exempla, und Alanus’ Liber penitentialis, welches impliziert, daß das Manuskript als eine Art Predigthandbuch zusammengestellt wurde, in dem ein Pastor alles Notwendige finden sollte: sogar Richards von Thetford diesbezügliches Handbuch, die Ars dilatandi sermones ist mit eingeschlossen. 46 Das incipit in der katalanischen Bestiarie aus dem 15. Jahrhundert (Barcelona, MS 310) folgt einer ähnlichen Tendenz: »Naturals condicions de varios animals aplicades per comparacion als hòmens pecadors per exemples utils a la predicacio«. 47 Die umfangreichen Belege für den monastischen und kirchlichen Besitz der Bestiarien lassen leicht die Möglichkeit der Laienpatronage und des Laienbesitzes in Vergessenheit geraten. Die Belege für letzteres sind nicht schlüssig, obwohl bei einigen Bestiarien Anzeichen für Laienpatronage und -besitz bestehen. Das reich illustrierte Bestiarium der zweiten Familie, MS Bodley 764, enthält die Miniatur eines Elefanten, in der die vier Familienwappen derer von Monhaut (Marches), Clare (Marches), und Berkeley (Gloucestershire) zu sehen sind - eine Illustration, die auf Hofpatronage und wahrscheinlich auch Hofbesitz eines Bestiarums schließen läßt. 48 Laienbesitz läßt sich ohne Zweifel für 41 Siehe Clark, Willene B.: The Illustrated Medieval Aviary and the Lay-Brotherhood. In: Gesta 21 (1982), S. 63 - 74; (Fn. 4), S. 23. 42 Hassig (Fn. 4), S. 185; Lindsey (Fn. 4), S. 50. Lindsey bemerkt, daß die Inhalte nicht »too dogmatic for secular use« und »sufficiently pious for convent use« sind (S. 406). 43 Salvat (Fn. 16), S. 501. 44 Raugei (Fn. 14), S. 22 f., 25. 45 Raugei (Fn. 14), S. 8. 46 Payne (Fn. 22), S. 15; Hassig (Fn. 4), S. 175. 47 Salvat (Fn. 16), S. 501. 48 Baxter, Ronald: A Baronial Bestiary. Heraldic Evidence for the Patronage of MS Bodley 764. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 50 (1987), S. 196 - 200. Baxter bemerkt, daß außer Bodley 764 »no other English Latin bestiary can be unequivocally ascribed to lay patronage« (S. 200). Clark nimmt Hofpatronage für Malibu, Getty Museum, MS XV, 3 (13. Jahrhundert), an und ist der Meinung, daß der Adressat ein Zisterzienserkloster gewesen sein könnte ([Fn. 4], S. 291). 68 L.A.J.R. Houwen ein Exemplar von Guillaume le Clercs Bestiarium aus dem 15. Jahrhundert bestimmen. Dieses Exemplar gehörte Anne Malet de Graville, der Tochter des französischen Admirals Louis Malet de Graville, die das Manuskript vor 1517 in Lyon erwarb und nach ihrem Tode ihrem Schwiegersohn hinterließ. 49 Das gleiche könnte auch für eine der italienischen Bestiarien (Florenz, Biblioteca Ricardiana Cod. R IV 4 Nr. 2260) gelten, die sich auf die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts datieren läßt und 1412 von »Zuccherino dorsino daccingnano« erworben und 1423 verkauft wurde. 50 Wahrscheinlich erhöhte sich gegen Ende des Mittelalters die Anzahl der Laienbesitzer, deren Bestiarien, ähnlich der von Anne Malet, wahrscheinlich in der Vernakulärsprache abgefaßt waren. Aufbrechen des Genres Trotz der abnehmenden Beliebtheit des Genres nach Ende des 13. Jahrhunderts haben die Bestiarien ihre literarische Spur hinterlassen. Es lassen sich zwei maßgebliche Entwicklungen im Genre des Bestiariums feststellen. Die erste fand etwa in der Mitte des 13. Jahrhunderts in Frankreich statt, als Richard de Fournival seine Bestiaire d’amour verfaßte. 51 Diese Bestiarie und ihre anonyme Gegenschrift gilt als Wegbereiter für die fortlaufende Beliebheit vieler Tiermythen, obwohl hier das Genre fast gänzlich verweltlicht wird. Richards »Bestiarie« war extrem populär, was sich nicht nur an der Anzahl extanter Manuskripte und Übersetzungen messen läßt, sondern auch an ihren überlieferten Adaptionen und an ihrem Einfluß auf andere, traditionellere Bestiarien. In der Bestiaire d’amour ersetzt das aristotelische Weltverständnis den traditionellen neoplatonischen Hintergrund; Bibelzitate, die Gruppenzuordnung der Tiere und die Kapitelaufteilung in einen Abschnitt über die natürlichen Charaktermerkmale der Tiere, der von einer moraldidaktischen Interpretation begleitet wird, fallen weg. Richard revidiert die Tiermythen komplett und stellt sie um in die Form eines pseudo-höfischen Liebesgeplänkels, in dem der liebesentbrannte Autor das Herz einer Dame zu gewinnen sucht und Similes und Metaphern aus der Tierwelt benutzt, um seinen Standpunkt zu stärken. Er wählt die Tiermetaphern nach deren Tauglichkeit für die verschiedenen thematisierten Liebesaspekte aus. 52 Daß die Weiterentwicklung des Genres nicht unbedingt eine Entwicklung weg von den Bestiarien bedeuten muß, wird offensichtlich in der Bestiarie von Cambrai und der engverwandten provenzalischen Übersetzung. Erstere ist eine Adaption von Richard de Fournivals Bestiaire d’amour, frei von allen höfischen Anspielungen und damit der traditionelleren Bestiarie sehr nahestehend (ohne die Moralisationen). 53 Eine andere Art Revision betrifft die sogenannten »heraldischen Bestiarien.« Diese Bestiarien kamen im 14. Jahrhundert auf, nahmen im 15. und 16. Jahrhundert an Beliebt- 49 Lindsey (Fn. 4), S. 403 f. Lindsey erwähnt auch, daß Paris, BN 24428 für Laien zusammengestellt worden sein könnte (S. 404 f.), aber Clark ([Fn. 4], S. 300 f.) ist anderer Meinung. Es ist jedoch sicher, daß ein Laie namens Nicholas of Lessey das Manuskript im frühen 15. Jahrhundert besaß. 50 Goldstaub/ Wendriner (Fn. 13), S. 78. 51 Le Bestiaires d’Amours di Maistre Richart de Fornival e li Response du Bestiaire. Hrsg. C. Sergre. Mailand 1957. Für eine Übersetzung ins heutige Englisch vgl. Beer, Jeanette: Master Richard’s Bestiary of Love and Response. Berkeley 1986. 52 Jeanette Beer diskutiert Richards Verwendung der Bestiarie, vgl. (Fn. 51), S. xvii - xxi; dies.: Duel of Bestiaries. In: Clark/ McMunn (Fn. 4), S. 96 - 105. 53 Edition von Ham, E. B.: The Cambrai Bestiary. In: Modern Philology 36 (1939), S. 225 - 237. Bestiarien 69 heit zu und neigten dann zu dramatischen Erweiterungen. Dieses Entwicklungsschema ähnelt dem der B-Is Version, das für die Entstehung der verschiedenen Familien verantwortlich ist. Heraldische Bestiarien entsprechen den traditionellen Bestiarien in Anlage und dem Klassifikationsabschnitt, wobei die moralische Interpretation durch eine ritterliche Interpretation ersetzt wurde. Anders als die traditionellen Bestiarien erscheinen sie nicht als Einzelwerke. Man findet die heraldischen Bestiarien eingebunden in heraldische Abhandlungen, wie z.B. De Bado Aureos Tractatus de Armis aus dem späten 14. Jahrhundert, oder in einer stark erweiterten Fassung in einem nordfranzösischen Manuskript aus dem 15. Jahrhundert. 54 In beiden Texten stehen Bestiarium und Enzyklopädie in engem Zusammenhang - vieles von De Bado Aureos Tiermaterial basiert auf Bartholomaeus Anglicus’ Enzyklopädie, und das des französischen Textes auf Brunetto Latinis Li livres dou tresor, das wiederum vieles mit den Bestiarien gemeinsam hat. Ähnlich haben Richard de Fournivals Bestiaire d’amour und dessen Derivate die heraldischen Bestiarien zur Fortsetzung der Bestiarientradition und zur Verbreitung von Tiermythen aus den Grenzen von Kirche und Kloster in die Welt der gebildeten Laienschaft beigetragen. Bestiarien und die Verfestigung und Revision von Tiermythen Die in den Bestiarien enthaltenen Tiermythen haben zwei genreverändernde Entwicklungen durchlaufen: Die Erweiterung der Bestiarien durch Einfügungen von mit dem Physiologus unverbundenem Material, wie oben als Teil der Bestiarientradition erläutert, und die Verschiebung in verschiedenen Bestiarien von einer allegorischen hin zu einer moraldidaktischen Interpretationsbasis. Letztere hat zum Großteil in den lateinischen und Vernakulärtexten stattgefunden. Während im Physiologus die Beschreibungen der Tiercharakteristiken auf einer christlich-dogmatischen Interpretationsgrundlage beruhten, werden die Physiologus-Interpretationen in den Bestiarien verändert und eher ersetzt durch Diskussionen über den Platz des Individuums in der klösterlichen oder weltlichen Gesellschaft als durch Diskussionen über ein Leben nach dem Tode. Dieser Prozeß ist jedoch graduell. Die frühen Bestiarien wie z.B: die Dicta und die französischen Vernakulärbestiarien sind noch eng mit ihren Quellentexten verwandt. Philippes de Thaon Bestiaire beispielsweise übernimmt im Gegensatz zu den griechischen und lateinischen Physiologi die charakteristische Klassifikation in Tiere, Vögel, und Steine. Allerdings bleibt hier die mystische Interpretation der Tiere erhalten, die sogar, wie in der B-Version des im Physiologus verwendeteten Methode, nach ihrer Repräsentationsgestalt (Christus, Mensch, oder Teufel) geordnet sind. 55 54 Für die lateinischen Texte und deren walisische Übersetzung vgl. Jones, E. J. (Hrsg.): Medieval Heraldry. Cardiff 1943 (Privatdruck), S. 2 - 94 (walisischer Text), S. 95 - 143, 144 - 212 (lateinische Texte); eine mittelenglische Übersetzung des Tractatus aus dem 15. Jahrhundert ist in Oxford, Bodleian Library, MS Laud Misc 733; ein kurzer Auszug ist bei Gray, Douglas (Hrsg.): The Oxford Book of Late Medieval Verse and Prose. Oxford 1989, S. 143 f. abgedruckt. Der französische Text befindet sich in London, College of Arms, MS M 19 (Edition: Houwen, L.A.J.R.; Eley, P. (Hrsg.): A Fifteenth-Century French Heraldic Bestiary. In: Zeitschrift für Romanische Philologie 108 (1992), S. 460 - 514; eine Übersetzung ins Middle Scots erscheint in vier Manuskripten, vgl. Houwen, L.A.J.R. (Hrsg.): The Deidis of Armorie. A Heraldic Treatise and Bestiary. 2 Bde. Edinburgh 1994 (Scottish Text Society). Siehe auch Dennys, Rodney: The Heraldic Imagination. London 1975, Kap. 6 und 7. 70 L.A.J.R. Houwen Allmählich ändern sich jedoch die Interpretationsschwerpunkte und besonders in den Bestiarien der zweiten und dritten Familie erweitern sich die deskriptiven Passagen, so daß die Bedeutung der Interpretation in den Hintergrund tritt oder, wie in der Bestiarie der Vierten Familie, »propter prolixitatem« fast vollständig verschwindet. 56 Diese Entwicklung wirkt der Tendenz in der Physiologus-Struktur, in der der Allegorieteil oft die Beschreibung des Tieres an Länge übertrifft, entgegen. Der »sensus moralis« in der Beschreibung des Fasans in einem Bestiarum der zweiten Familie stellt ein gutes Beispiel dar: In dem Bestiarium beginnt das Kapitel nicht mehr mit einem Bibelzitat, wie noch im Physiologus, sondern mit einem langen Zitat von Isidors Etymologiae, das die Bedeutungsgeschichte des Wortes perdix (onomatopoeisch) zusammen mit den homosexuellen Neigungen des männlichen Vogels und den diebischen Neigungen des weiblichen Vogels, hin und wieder Eier aus einem anderen Nest zu stehlen, erläutert. Ausschließlich im letzten Teil wird in der Art des Physiologus moralisiert. Während jedoch im Physiologus die Rolle von Christus, der Kirche, und der Gemeinschaft der Gläubigen betont wird, findet sich in der Bestiarie eine Verschiebung hin zu einer christlich-ethischen Interpretation, die die »Anziehungskraft des Körpers«, durch die der Teufel Menschen in Versuchung führt, hervorhebt. Der kurze Moralabschnitt wird von einem langen Zitat aus Solinus’ Collectanea überschattet, in dem einige der bei Isidor erwähnten Charakteristiken wiederholt sind. 57 Sogar bei den Tierbeschreibungen, die entlang der Maßstäbe des Physiologus moralisiert wurden, lassen sich eindeutige Veränderungen feststellen. Wo im Physiologus oftmals die Allegorieteile mit »sic et« (tu, homo; christiane; diabolus) oder »ergo et tu ...«, oder einer einfachen Identifikation wie »saluator noster charadrius est« eingeführt werden, wird in dem Bestiarium oft stärker analogiebetonende Phrasen »ist wie« oder Verben wie »imitare« und »simulare« verwendet, die die Interpretation in eine Art »exemplum« verwandeln. 58 Diese Verschiebung hin zu einer moralischen an Stelle einer allegorischen Interpretation kommt am deutlichsten in der Beschreibung der nicht im Physiologus enthaltenen Tiere zum Vorschein, bei denen pastorale Themen wie Beichte, Sühne, und die Tugenden und Laster den immer entscheidenderen Teil einnehmen. Auf diese Weise unterscheiden sich die Bestiarien nicht von anderen Genres, die ab dem 14. Jahrhundert moralisiert werden. Zu dieser Zeit werden Fabeln in »exempla« umgewandelt, wie z.B. im Dialogus creaturarum und in Enzyklopädien wie Isidors Etymologiae und Bartholomaeus’ De proprietatibus rerum, und sogar die Tierbeschreibungen von Aristoteles werden moralisiert. 55 Siehe auch Lindsey (Fn. 4), S. 99; aber vgl. McCulloch (Fn. 3), S. 50 f. 56 Zit. bei James (Fn. 4), S. 25. 57 Die erhöhte Betonung von Details aus der »natürlichen« Geschichte wird gelegentlich als Anzeichen für eine Klassifikation einiger Bestiarien als »naturwissenschaftliche« Dokumente interpretiert. Die Kritik hat ebenso vorgeschlagen, daß diese Bestiarien als Lehrmittel für den naturwissenschaftlichen Unterricht verwendet wurden. Ich halte beide Annahmen für nicht besonders glaubwürdig: zum einen, weil nicht jede Hinzufügung rein naturwissenschaftlicher Art ist (die in St. Ambroses Hexaemeron sind of exhortativer Natur und nehmen oft Homilienform an); zum anderen, weil der Mangel an Interpretationspassagen die Verwendung solcher Tiere in einem moraldidaktischen Kontext nicht unbedingt ausschließt, da eine Moralisation der Kapitel, wenn nötig, relativ einfach gewesen sein müßte. 58 Im Libellus wird das Verb oft im Infinitiv zusammen mit »debemus« (= wir müssen) verwandt. Bestiarien 71 Einfluß auf andere Genres Löwen, die ihren toten Jungen am dritten Tage Leben einhauchen, Pelikane, die ihre toten Küken nach drei Tagen durch eine Verletzung in der eigenen Brust zum Leben erwekken, und Panther, die nach dreitägigem Schlaf erwachen und mit einem süßlich riechenden Gebrüll ausgestattet sind, gehören zu dem allzu bekannten Inventar der mittelalterlichen Tiersymbolik. Im Physiologus beginnend stellten solche Beschreibungen nicht nur die Basis für die Bestiarien dar, sondern wurden auch schnell in die hexaemerale Literatur, Kommentare, Homilien, Gedichte, und besonders die Enzyklopädien eingebunden, die mit dem Verschwinden der Bestarien immer häufiger auftauchten. Die Einzigartigkeit vieler im Physiologus enthaltenen Tierweisheiten garantierte beinahe die Erwähnung des Materials in Enzyklpädien, wie z.B. das Liber de natura rerum (ca. 1240) von Thomas von Cantimpré, de De proprietatis rerum von Bartholomaeus Anglicus (ca. 1242 - 47) und dem Speculum naturale (1256 - 59) des Vincent de Beauvais, in denen diese zur Erweiterung der Hauptquellen benutzt wurden. Die sparsame Einbindung der Bestiarien in diese Enzyklopädien läßt sich andererseits mit der Tatsache erklären, daß die Herausgeber bereits viele dieser Information in den Hauptquellen finden konnten. 59 Brunetto Latini stellt hier allerdings eine Ausnahme dar, da er anscheinend ein Bestiarium der zweiten Familie als Hauptquelle für Tierweisheiten in Li livres dou tresor benutzt hat (1260 - 1270). 60 Latinis Tresor hat wiederum Einfluß auf die italienischen und durch diese auf die katalanischen Bestiarien genommen. Diese gegenseitige Verbindung von Bestiarien und Enzyklopädien und die große Popularität der letzteren erschwert selbstverständlich die unmittelbare Quellenbestimmung für spätere Referenzen auf Tiere und Tiermythen. Die wenigen Studien, die versucht haben, die unmittelbaren Quellen für mittelalterliche Tierweisheiten zu bestimmen, schließen sehr oft mit der Erkenntnis, daß ein Großteil der Metaphorik wahrscheinlich eher aus mittelalterlichen Enzyklopädien als aus den Bestiarien stammt. So hat wohl Nicole Bozon das meiste, wenn nicht die Gesamtheit, seiner Vogelmetaphorik in seinen Contes moralisées nicht den Bestiarien, sondern der De proprietatibus rerum entnommen, 61 und der Mönch, der die Enzyklopädie Liber de naturis animalium cum moralitatibus gegen Ende des 13. Jahrhunderts in der Zisterzienserabtei Heiligenkreuz verfaßt hatte, entnahm sein Material über Vögel nicht dem seit dem frühen 13. Jahrhundert in der Klosterbibliothek befindlichen reich illustrierten Aviarium, sondern den Enzyklopädien von Bartholomaeus und Thomas (obwohl das hoch allegorisierende und moralisierende Aviarium eine sehr naheliegende Quelle gewesen wäre). 62 Ebenso gehen die Bestiarienweisheiten in solch beleibten Sammlungen wie dem Dialogus creaturarum und der Fiore 59 Vincent verwendet anscheinend den Physiologus und die Bestiarien am meisten, obwohl beide als Physiologus identifiziert werden. In De proprietatibus wird die Quelle often als »Plinius« oder »der Philosoph« falsch angegeben, aber siehe Seymour (Fn. 19), Kommentar zu Büchern 12 und 18 und Seiten 137, 209. Thomas bezieht sich nur hin und wieder auf den Physiologus. 60 McCulloch (Fn. 3), S. 47 schreibt: »The final seventy chapters of Book I of Brunetto Latini’s Li Livres dou Trésor treat Fish, Serpents, Birds, and Beasts. The closeness in wording in endless examples between the French composition and the Latin of a manuscript of the Second Family leads one to think that Brunetto in many instances did no more than translate the expanded bestiary«. 61 van den Abeele, Baudouin: L’exemplum et le monde animal. Le cas des oiseaux chez Nicole Bozon. In: Le Moyen Age 94 (1988), S. 51 - 72. 72 L.A.J.R. Houwen di Virtù in großem Maße, oder auch in ihrer Gesamtheit, eher auf die Enzyklopädien als auf die Bestiarien zurück - und dies, obwohl die Fiore in vielen Manuskripten dicht bei den Bestiarien steht und sogar den Titel von einem dieser Bestiarien übernommen hat. 63 Daher ist es wahrscheinlich, daß der Inhalt vieler Bestiarien durch die Enzyklopädien Verbreitung fand. 64 Die aus den Bettelrorden stammenden Enzyklopädien mit ihrem allumfassenden Interpretationsansatz für die Welt und den Kosmos gehörten zu den einflußreichsten Quellen der Moralisten und Predigern, besonders da das Ziel der letzteren, die Lehre von der Moral, ebenso den Zweck der Bestiarien darstellte. In den Händen von Predigern hätten die Enzyklopädien eine weitaus größere Zielgruppe erreicht als die Bestiarien, da diese nur im Bereich der Klöster und in den Bibliotheken einiger Priviligierter wirken konnten. 65 Weniger umstritten ist der Einfluß der Bestiarien auf mittelalterliche Kunst. Dieser Einfluß konzentriert sich anscheinend auf die reich illustrierten Bestiarien der zweiten Familie und auf die aus der Feder von Guillaume le Clerc. Die standardgemäß nicht illustrierten Enzyklopädien wären für die Künstler auf der Suche für Vorlagen zur Verzierung von Gebäuden und von anderen Manuskripten von geringem Nutzen gewesen. Daß die Künstler oftmals auf Bestiarien zurückgriffen, läßt sich mit der Tatsache belegen, daß einige Bestiarien tatsächlich als Vorlagen benutzt wurden, oder daß verschiedene überlieferte Skulpturn und Miniaturen eindeutige Verbindungen zu den Bestiarien aufweisen. Ein reich illustriertes englisches Bestiarium könnte sehr wohl den nun sehr verblaßten Türverzierungen der Pfarrkirche in Alne (Yorkshire) zugrundegelegen haben. Diese Verzierungen sind heute nur noch anhand ihrer lateinischen Bezeichnung erkennbar. Die Abbildungen über den Portalen in Bradbourne und Kilpeck könnten ebenso auf Bestiarienilluminationen zurückgehen - was auch für die Wandmalereien in Longthorpe Tower 62 Für eine Beschreibung der Heiligenkreuzer Aviarie, die ein ex libris aus dem 13. Jahrhundert auf fol. 153 v hat, vgl. Clark (Fn. 4), S. 41 - 44. Für das Liber de naturis siehe van den Abeele, Baudouin: Bestiaires encyclopédiques moralisés. Quelques succédanés de Thomas de Cantimpré et de Barthélemy l’Anglais. In: Reinardus 7 (1994), S. 209 - 228. 63 Goldstaub/ Wendriner (Fn. 13), S. 81; McKenzie (Fn. 13), S. 384, 402; Hermann Varnhagen schließt, daß Bartholomaeus Anglicus, zusammen mit Details aus Albertus Magnus De animalibus das »Bestiarien«material der Fiore stellte; allerdings bezieht seine Forschung die moralisierten Enzyklopädien nicht ein (Varnhagen, Hermann: Die Quellen der Bestiär-Abschnitte im Fiore di Virtù. In: Raccolta di studii critici dedicata ad Alessandro d’Ancona. Florenz 1901, S. 515 - 538); Gregory Kratzmann und Elizabeth Gee zeigen das Problem der Identifikation von direkten Quellen für den Dialogus und schließen trotz vieler Bezüge auf Bestiarien und die »Bestiarientradition« mit der Vermutung, daß die Enzyklopädien die »mediating sources of much of the material« darstellten (Kratzmann, Gregory; Gee, Elizabeth: The Dialoges of Creatures Moralysed. Leiden 1988, S. 16 [Einleitung]). 64 Vgl. Henkel, der für die deutsche Literatur des Mittelalters feststellt: »In unselbständiger Überlieferung, innerhalb von Texten der geistl. und didakt. Lit. sowie in der Minnedichtung, sind seit dem 13. Jh. nicht selten Tiergeschichten (auch mit Auslegungen) erhalten, die mit den in den B. überlieferten inhaltl. übereinstimmen, ohne daß dabei quellenmäßige Abhängigkeit zu erweisen wäre« (Lexikon des Mittelalters. Hrsg. Robert Auty [u.a.]. Bd. 1. München 1977, Sp. 2076). Diese Beobachtung scheint auch für andere Literaturen des Mittelalters zu gelten. 65 Andere einflußreiche Werke über Tiere und Tierweisheiten, die Priester in ganz West- und Zentraleuropa vom 14. bis zumindest dem 16. oder sogar dem 17. Jahrhundert beeinflußten, sind z.B. Sammlungen wie Petrus Berchorius’ Reductorium morale, Johannes de San Geminianos Summa de exemplis et rerum similitudinibus, das Lumen animae (14. Jahrhundert) und die Etymachia. Vgl. Twomey, Michael W.: Medieval Encyclopedias. In: Kaske, R. E. [u.a.]: Medieval Christian Literary Imagery. Toronto 1988, S. 182 - 215. Bestiarien 73 in der Nähe von Peterborough zutrifft, die verschiedene Bestiarien-Tiere darstellen. Auf dem europäischen Festland findet sich das gemalte Bestiarium in der Form von 40 Illustrationen auf zwei Pfeilern in der Kirche in Savin-le-Mont (Frankreich), und Misericordien in ganz Westeuropa enthalten Szenen aus dem Bestiarium, besonders die des Fuchses, welcher seinen Tod vortäuscht, obwohl die Popularität dieser Metapher unzweifelhaft auch auf den Einschluß der Bestiarie in die Tierepik zurückzuführen ist. Tiersymbolik könnte ebenfalls verschiedene mittelalterliche »mappae mundi« (Weltbilder) beeinflußt haben, wie z.B. die Weltkarten von Ebstorf und Hereford. 66 Bestiarienilluminationen finden sich zusätzlich in Manuskripten ohne Bestiarien, teilweise sogar als vollständige Zyklen, wie z.B. in zwei englischen Psaltern aus dem 14. Jahrhundert. 67 Des weiteren ist der Einfluß der Bestiarien und deren Illustrationen auf die mittelalterliche Wappenkunde nicht zu unterschätzen; viele heraldische Abhandlungen zeigen den Einfluß von Tierweisheiten, und viele mittelalterliche Wappen sind mit solchen Tieren wie dem frommen Pelikan, dessen Symbolkraft direkt von den Bestiarien herrühren könnte, dekoriert. 68 Rezeption der mittelalterlichen Tiermythen Auch wenn der Einfluß der Bestiarien als Träger mittelalterlicher Tiermythen kleiner als vermutet ist, bedeutet dies nicht, daß die Mythen, zu deren Popularität sie beitrugen, am Ende des Mittelalters einfach verschwanden. Der Physiologus Theobaldi wurde verschiedene Male im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert nachgedruckt, und das Bestiarium erwachte, wenn auch nur für kurze Zeit, durch Kombination mit einer Herbarie in den Hortus sanitatis zu neuem Leben. 69 Die Popularität dieses 1491 erstmals in Köln gedruck- 66 George/ Yapp (Fn. 4), S. 14 - 19; Yapp, Brunsdon: The Birds and Other Animals of Longthorpe Tower. In: Antiquaries Journal 8/ 2 (1978), S. 355 - 58; Druce, G.C.: The Medieval Bestiaries and their Influence on Ecclesiastical Decorative Art. In: Journal of the British Archeological Association 25 (1919), S. 41 - 82, 26 (1920), S. 35 - 79. Druce ([1920], S. 48) vermutet, daß die Saviner Abbildungen von der Bestiarie des Guillaume le Clerc beeinflußt sind. Die »Reynardisation« des Bestiarienfuchses findet sich in Varty, Kenneth: Reynard the Fox. Leicester 1967, S. 90 - 92. Margriet Hoogvliet hat detailliert nachgewiesen, daß der Physiologus und insbesondere die Bestiarien der zweiten Familie die Illustrationen verschiedener Tiere in den »mappae mundi« beeinflußt haben. Vgl. Hoogvliet, Margriet: De ignotis quarumdam bestiarum naturis. In: Animals and the Symbolic in Mediaeval Art and Literature. Hrsg. L.A.J.R. Houwen. Groningen 1997, S. 189 - 208. Siehe auch Ruberg, Uwe: Die Tierwelt auf der Ebstorfer Weltkarte im Kontext mittelalterlicher Enzyklopädik. In: Ein Weltbild vor Columbus. Die Ebstorfer Weltkarte. Hrsg. H. Kugler; E. Michael. Lüneburg 1991, S. 319 - 346. 67 Queen Mary’s Psalter (London, BL Royal 2 B vii) und der Isabella-Psalter (München, Staatsbibliothek, MS gall. 16). Siehe auch Morson (Fn. 30), S. 165, Anm. 1, der die Zisterzienser-Antiphone vom Berg St. Bernard (flämisch, 13. Jahrhundert) und die Morimondo Bibel aus dem 12. Jahrhundert (Como, Seminario Maggiore 2 X 6) erwähnt. 68 Siehe z.B. die Tierwappen in BL, MS Harley 6149, deren Ikonographie (Elefant, Strauß, Phoenix, Pelikan, Sirene) der der Bestiarien sehr ähnelt, obwohl ein unmittelbarer Einfluß nicht zwingend nachgewiesen werden kann. Vgl. auch Dennys, Rodney: The Heraldic Imagination. London 1975, S. 50, 113; Pastoureau, Michel: Le bestiaire héraldique au Moyen Age. In: L’Hermine et le sinople. Études d’heraldique médiévale. Paris 1982, S. 105 - 16, hier: S. 115 f. Der rückwirkende Einfluß der Heraldik auf die Ikonograhie in den Bestiarien kann anhand von Cambridge, Gonville and Caius College MS 384 / 604, beobachtet werden, in denen der Löwe auf heraldische Art abgebildet ist: George/ Yapp (Fn. 4), S. 48. 74 L.A.J.R. Houwen ten Werkes läßt sich durch den fünfmaligen Nachdruck (zuletzt 1517) belegen. Jan von Doesborch druckte 1520 eine holländische Version als Der dieren palleys - ein Text, der von Lawrence Andrewe als The noble lyfe and natures of man übersetzt und nach 1520 von Doesborch für den englischen Markt gedruckt wurde. 70 Trotz des neu aufkommenden wissenschaftsorientierten Zeitgeistes trugen einige Naturalisten im 16. und 17. Jahrhundert wie Conrad Gesner und Ulise Aldrovandi wesentlich zur Bewahrung der alten Mythen und Legenden bei. Das Ausmaß, in dem die alten »Irrtümer« das England des 17. Jahrhunderts durchzogen, wird in der Pseudodoxia Epidemica von Sir Thomas Browne ersichtlich, in der der Autor es sich zum Ziel setzt, viele gemeine Fehler zu korrigieren. Die Emblembüchlein, den Bestiarien ähnlich in Struktur und Ansatz in der Verbindung von Text, Moralisationen und Illuminationen, wurden zu einer weiteren wichtigen Verbreitungsgrundlage für Bestiarienelemente. Diese Mythen sind noch nicht in Vergessenheit geraten und befinden sich immer noch im Gebrauch von Literatur, Werbung, Zeichentrick, und der Umgangssprache, in der viele Redewendungen, Sprüche und Ausdrücke Tierweisheiten enthalten. Der Pelikan rührt uns immer noch mit seiner Frömmigkeit, der Elefant und das Schloß bezeichnen noch heute viele wohlbekannte Wirtshausschilder, der der Asche entsteigende Phönix hat sich als Metapher gehalten, ebenso wie der Schwanengesang, die Krokodilstränen und die Bärenjungen, die in ihre spätere Form geleckt werden müssen. Daß die Bestiarie selbst nicht der Vergessenheit zum Opfer gefallen ist, wird durch die erhöhte wissenschaftliche Aufmerksamkeit, die diese Form erfährt, und durch deren Verwendung in Titeln für ikonographische Studien, Museumskataloge, Gedichte und einer geraumen Anzahl von Veröffentlichungen in den Naturwissenschaften (in denen sie oft die beigeordnete Bedeutung von »Fiktion« und »Fabel« erhält) deutlich. 71 Bestiarien regen auf jeden Fall immer noch unsere Vorstellungskraft an und lassen exotische Bilder vor unseren Augen erscheinen. 72 Übersetzt von Sonja H. Streuber 69 Eden (Fn. 5), S. 19. 70 Es gibt auch eine deutsche und eine französische Übersetzung; siehe Hudson, Noel: An Early English Version of ›Hortus sanitatis‹. London 1954, S. vii - xiii; vgl. auch Franssen, P.J.A.: Jan van Doesborch (? - 1536), Printer of English Texts. In: Quærendo 16 (1986), S. 259 - 80, hier: S. 266. 71 Friedmann, Herbert: A Bestiary for Saint Jerome. Animal Symbolism in European Religious Art. Washington 1980; Randall, Richard H.: A Cloisters Bestiary. New York 1960, 1965; Hunter-Stiebel, Penelope: A Bronze Bestiary. New York 1985. Guillaume Apollinaire and Pablo Neruda haben beide 1911 eine Gedichtsammlung unter diesem Titel veröffentlicht. - Im folgenden seien einige willkürlich ausgewählte Titel aus den Natur- und Sozialwissenschaften aufgeführt: Michael III, Max; Boyce, W. Thomas; Wilcox, Allen J.: Biomedical Bestiary. An Epidemiologic Guide to Flaws and Fallacies in the Medical Literature. Boston 1984; Hübsch, Tristan: Calabi-Yau Manifolds. A Bestiary for Physicists. Singapore 1992; Phillips, D.C.: The Social Scientist’s Bestiary. A Guide to Fabled Threats to, and Defenses of, Naturalistic Social Science. Oxford 1992; Gauder, Mike: Baudrillard’s Bestiary. Baudrillard and Culture. London 1991; McCarthy, Eugene J.; Kilpatrick, James J.: A Political Bestiary. Viable Alternatives, Impressive Mandates and Other Fables. New York 1978. 72 Ich danke meinen Kollegen vom Centre for Classical, Oriental, Mediaeval and Renaissance Studies (Universität Groningen) und besonders Dr. P. Binkley für ihre Hilfe und wertvollen Kommentare. Bestiarien 75 Bibliographische Hinweise Clark, Willene B.; McMunn, Meradith T. (Hrsg.): Beasts and Birds of the Middle Ages. Philadelphia 1989. Clark, Willene B. (Hrsg.): The Medieval Book of Birds. Hugh of Fouilloy’s ›Aviarium‹. Binghamton 1992. Eden, P.T. (Hrsg.): Theobaldi Physiologus. Leiden 1972. Garver, M.S.: Some Supplementary Italian Bestiary Chapters. In: Romanic Review 11 (1920), S. 308 - 327. 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Als Glaube oder sinnbildhafte Imagination verweisen sie auf eine erdachte »Andere Welt« nichtmenschlicher (oder real so nicht existierender) Wesen, die häufig mit den Hoffnungen und Nöten schwierig zu bewältigender gesellschaftshistorischer Prozesse korrelieren. Sie bieten - semiotisch formuliert - für erkenntnistheoretische Nullstellen der Unerklärbarkeit dämonische Welten, Gestalten und dämonisch-zauberische Gegenstände als einen plausiblen, weil konkret vorstellbaren, ikonischen Ersatz an. Ähnlich wie im religiösen Bereich spielt in diesem metaphysischen Korrelationssystem die Frage des Glaubens eine zentrale Rolle: im jeweils positiven Fall des Theismus oder Dämonismus (d.h. des Glaubens an die göttlichen oder dämonischen Mächte) gewinnen die zugehörigen zeichenhaften Gestalten eine grundlegende zusätzliche Funktion aktiver Beeinflussung und Verhaltenslenkung, durch welche die menschliche Realexistenz subjektiv wie objektiv weitgehend determiniert werden kann. Für den mittelalterlichen Menschen stand das von ihm nicht nur erlebte, sondern auch gelebte System des Glaubens - in welcher Form auch immer - prinzipiell außer Frage. Es gab für ihn somit über der konkreten Welt seines Daseins und des dieses Dasein unmittelbar reflektierenden und verwaltenden pragmatischen Bewußtseinsstandes eine verbindliche zweite Welt des religiösen Bewußtseins mit ihrem relativ feststehenden Kanon an historisierend-metaphysischen Tatsachen, Gestalten und Dogmen, die sein Denken, Fühlen und Handeln nachhaltig prägten, tiefer und wesenhafter jedenfalls als alle anderen soziokulturellen und semiotischen Systeme, in die er eingebunden war und mit denen er in Kommunikation stand. Nur locker mit dieser zweiten semiotischen Welt des religiösen Bewußtseins verbunden, gab es für den mittelalterlichen Menschen - partiell und abgewandelt bis in die Gegenwart vererbt - auch noch die dritte mehr oder weniger eigenständige Welt eines 1 Vgl. Lecouteux, Claude: Les monstres dans la litterature allemande du moyen âge. Contribution à l’étude du merveilleux médiéval. 3 Bde. Göppingen 1982 (GAG, Bd. 330); Reisner, Erwin: Der Dämon und sein Bild. Frankfurt a.M. 1989; Giloy-Hirtz, Petra: Begegnung mit dem Ungeheuer. In: Kaiser, Gert (Hrsg.): An den Grenzen höfischer Kultur. Anfechtungen der Lebensordnung in der deutschen Erzähldichtung des hohen Mittelalters. München 1991 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur, Bd. 12), S. 167 - 209. 78 Rolf Bräuer zeichenhaften metaphysischen Systems, das man begrifflich etwas ungenau auch als die »Andere Welt« bezeichnet, ungenau deswegen, weil der Terminus das religiöse Bewußtsein als eine ja ebenfalls andere metaphysische Welt, die sogar die eigentliche und weit wesentlichere andere Welt ist, nicht mitreflektiert. Dieses dritte semiotische Bewußtseinssystem - über dem komplexen soziokulturellen der konkret-historischen Kommunikation und neben dem metaphysischen des religiösen Bewußtseins und seiner Interdependenz mit dem Prozeßhaft-Realen - ist die metaphysische Welt des Dämonischen, Phantastisch-Zauberischen und Mythischen, die ihr eigenes Systeminventar, ihre eigenen Strukturen und Funktions- und Wirkungsmechanismen besitzt und im folgenden - eingeschränkt auf den Rahmen der arthurischen Poetik - untersucht und dargestellt werden soll. 2 Definitorisch schließen wir in die Welt des Dämonischen alles Metaphysische ein, das nicht in die Sphäre des autonomen religiösen Dogmas (in unserem Falle der mehr oder weniger offiziellen christlichen Dogmatik) gehört, also neben den mit dem Begriff des Dämonischen vorwiegend negativ assoziierten metaphysisch-phantastischen Gestalten und Phänomenen unterschiedlichster Art und Provenienz wie Ungeheuer, Gespenster, Monstren, Bestien, verzauberte und verderbenbringende Orte und Gegenstände etc. auch ihre positiven Pendants wie (heidnische bzw. nichtchristliche) Göttinnen, gute Feen, freundliche Zwerge oder die zahlreichen positiv verzauberten, Rettung bringenden Gegenstände, Waffen und Reliquien, und dies schon deswegen, weil häufig die gleichen Figuren wie Zwerge oder Riesen mit den genau entgegengesetzten Wertungen und Funktionen belegt sind und weil in wenigen, aber gerade hochpoetischen Sonderfällen - wie etwa bei Wolframs Cundrie - Positiv- und Negativ-Dämonisches sogar unauflösbar miteinander verschmelzen können. Die Überlieferung und literarische Um- und Neugestaltung der arthurischen Dämonologie und damit auch ihr Erhalt bis in unsere Gegenwart ist ein einzigartiger Glücksfall der europäischen Geistesgeschichte, der mehrere kulturhistorische Gründe hat, die um die Mitte des 12. Jahrhunderts fokusartig zusammentreffen und die Artusepik kreieren, deren weltliterarische Wirkung und deren spezifischer poetischer Reiz nicht zuletzt auf dem faszinierenden Stoff der Matière de Bretagne beruht, die über Jahrhunderte hinweg mündlich tradierte keltische Helden- und Göttersage zugleich ist, häufig schon nicht mehr verstanden und säkular oder christlich überformt und daher auch nicht mehr ge- 2 Ein Bindeglied zwischen der ersten und zweiten metaphysischen Welt bildet die metaphysische Zwischenwelt des Satanischen, die in unterschiedlicher - häufig auch subjektiv und intersubjektiv differenzierter - Wichtung und Wirkung an beiden semiotischen Systemen teilhat. Diese Sphäre wird aus dem Zeichen- und Begründungsinventar der beiden metaphysischen Hauptsysteme mit unterschiedlichen Anteilen ausgeformt, zu ihr zählen etwa die Teufelsbündler und Teufelsritter des Wigalois. Aber auch blutgierige Monster wie das bauchlose Ungeheuer des Daniel von dem Blühenden Tal sind wenigstens partiell der satanischen Sphäre zuzurechnen, wie es die zahlreichen mittelalterlichen bildlichen Darstellungen der höllischen Bewohner bezeugen. Dabei ist es von besonders aufklärungsnotwendigem Interesse, daß sich zwar die »erste große diabolische Explosion« (Jacques Le Goff) im christlichen Abendland bereits zu Beginn des Hochmittelalters im 11. und 12. Jahrhundert ereignet, daß der Teufelswahn sich aber erst seit dem 14. Jahrhundert verstärkt auszubreiten beginnt und seinen orgiastischen Kulminationspunkt - entgegen den gewohnten Denkschablonen - mit dem Beginn der Neuzeit erreicht: Eine detaillierte Teufelsliteratur, das sprunghafte Anschwellen der Hexenverfolgungen und die bildhaften Darstellungen der höllischen Schrecken durch Hieronymus Bosch oder die Gebrüder van Eyck dokumentieren dies auf wahrhaft erschreckende Weise. Die arthurische Dämonologie 79 fährlich. 3 Ungefährlich im übrigen auch deshalb, weil mit dem Sieg der Sachsen über die Kelten und dem Sieg der Normannen über die Sachsen im angevinisch-französischen Machtbereich ein reales Durchsetzungsvermögen spezifischer keltischer Interessen politisch nicht mehr - bzw. noch nicht wieder - zu befürchten war. Dies bot die Überlebenschance für die umfunktionierte Bilderwelt der keltischen Mythologie, die sich so zumindest stofflich-anschaulich zu erheblichen Teilen in den Gestaltenreichtum der arthurischen Dämonologie hinüberretten konnte, während zum Beispiel in der germanisch-deutschen Heldenepik die ebenfalls reiche germanische Mythologie weitgehend eliminiert oder auf das Notwendigste zurückgeschnitten ist. 4 Einer der Gründe für die Überlieferung und Konstituierung der arthurischen Dämonologie in den Neugestaltungen der märchenhaften Welt der Matière de Bretagne liegt also ganz einfach in dem üppigen Vorhandensein - bis dahin vor allem mündlich tradierten - poetischen Materials von inzwischen weitgehend konkret-historischer Ungebundenheit. Und genau dieses frei verfügbar gewordene Material mythisch-erzählerischen Ursprungs bot sich auf dem Höhepunkt des ökonomischen, sozialen und bildungsmäßigen Zivilisationsschubs des 12. Jahrhunderts mit seiner klassischen Vollentfaltung der Feudalität, des höfischen Rittertums, mit der Bevölkerungsexplosion und der rasanten Entwicklung der Höfe, der Städte und nicht zuletzt der Geburt der europäischen Intellektuellenschicht geradezu an, mit Hilfe der überlieferten stofflichen Signale alter Mythen eine neue Sinngebung feudaladliger Existenz und der psychischen Befindlichkeiten, Wünsche, Hoffnungen und Ängste der ritterlich-höfischen Gesellschaft und des höfischen Individuums zu gestalten. Das mit dem Beginn der feudalklassischen Epoche etwa 3 Zu Artus und dem keltischen Einfluß auf seine Geschichte vgl. in Bd. 1 der Mittelalter-Mythen Lacy, Norris J.: König Artus. Mythos und Entmythologisierung. In: Herrscher, Helden, Heilige. Hrsg. Ulrich Müller u. Werner Wunderlich. St.Gallen 1996, S. 47 - 63. Aus der Fülle der Literatur vgl. mit stärkerer Betonung der keltischen Quellen die repräsentativen Arbeiten von Roger Sh. Loomis, unter ihnen besonders: Arthurian Tradition and Chretien de Troyes, New York 1949; Wales and the Arthurian Legend, Cardiff 1956. Vgl. ferner Birkhan, Helmut: Keltische Erzählungen vom Kaiser Arthur I. Nach dem Text des Weißen Buches aus dem Mittelkymrischen übertragen, mit einer Einführung und Anmerkungen versehen von H. B. Wien; Köln; Graz 1986. 4 Die weitgefächerte Gattung der europäischen Volks- und Heldenepik kennt neben meist nur noch rudimentären Erinnerungen an die alte heidnische Götterwelt (teils allerdings auch noch recht gut erhalten wie in der nordischen Dichtung) vor allem den gefährlichen Drachen in seinen verschiedensten Spielarten (auch als Wasserungeheuer wie im Beowulf oder als Greif und Flugdrache wie in der Kudrun o der in den altrussischen Bylinen) als ein wohl merkwürdiges Phänomen des Volkslangzeitgedächtnisses, das auf eine urtümliche Bekanntschaft des frühen Menschen mit den vielleicht letzten überlebenden Exemplaren von Wasser-, Land- und Flugsauriern deutet. Auch Riesen wie Ecke, Aspilian oder Rennewart und Zwerge wie Alberich, Laurin oder Auberon spielen hier bekanntlich eine nicht unbeträchtliche Rolle, sie verbleiben jedoch entsprechend dem historisierenden und realitätsnahen Gestus und Kostüm der Gattung weitgehend in einem unmetaphysisch-menschenähnlichen Bereich und unterscheiden sich von anderen Figuren neben ihrem spezifischen Äußeren vor allem durch Rolleneigenschaften wie etwa die furchtgebietende Kraft und charakterliche Ungehobeltheit der Riesen und die List und Klugheit der Zwerge. Gerade weil sie so wenig im engeren Sinne »dämonisch« sind, vermögen sie - unter anderem - auch die literarische Funktion der unbeschwerten Erheiterung des Publikums zu tragen wie der Zwerg Alberich im Ortnit , die Riesen des König Rother oder der riesenhafte Rainouart in der altfranzösischen Bataille d’Aliscans bzw. Rennewart in Wolframs Willehalm . Natürlich gibt es in der Heldenepik bereits Wunderrequisiten wie besonders tüchtige Waffen, Rolands Horn oder Siegfrieds unsichtbar machende »Tarnkappe«, doch erscheinen auch diese Dinge ihres metaphysischen Charakters weitgehend entkleidet. 80 Rolf Bräuer seit der Mitte des 12. Jahrhunderts quantitativ wie qualitativ sprunghaft angewachsene Bedürfnis nach einer ganz neuen, viel umfassenderen und länger andauernden Unterhaltung, wie es nur die Schriftlichkeit ermöglichen kann, aber auch nach Selbstfindung und Gestaltung einer schöneren und gerechteren Welt der Hoffnungen, Wünsche (und natürlich auch Ängste) traf also auf den bekannten, beliebten und bereitliegenden volksläufigen Stoff, wie ihn Marie de France, Bérol oder Chrétien de Troyes, das vielleicht größte epische Genie des Mittelalters, vorfanden, die daraus ein innovatives laienadliges Gesellschaftsmodell mit einem eigenen Normen- und Wertekanon und einem spezifischen höfischen Menschenbild schufen, wobei gerade durch die Beschwörung und säkulare Umfunktionierung der realitätsfernen, phantastischen keltischen Mythen- und Märchenwelt die Sozialaussage feudaladliger Wunsch- und Wertvorstellungen um so schärfer und präziser formuliert werden konnte. Eher als wundersame Realität betrachtet denn als Referenz auf eine metaphysischdämonische Welt erscheinen die seltsamen Gestalten ferner Länder, wie sie in der Antikeepik der Alexanderroman und in der Orientabenteuerepik der Herzog Ernst in durchaus vergleichbarer Weise versammelt. Dabei dringen die Titelhelden über die Grenzbereiche der geographisch bekannten Zivilisation hinaus und gelangen so zu den exotischen sogenannten Wundervölkern, die sich durch seltsame Anomalitäten in Aussehen, Eigenschaften und Gewohnheiten auszeichnen. Im Alexander sind dies zum Beispiel die sechshändigen Menschen, die Kopflosen (Acephales) oder Hundsköpfigen (Cynocephales), die im Mittelalter große Popularität erlangten, aber auch die furchtbaren Endzeitvölker Gog und Magog, die Alexander hinter einer Mauer einschließen läßt, im Herzog Ernst sind es unter anderem die Kranichschnäbler, die einäugigen Arimaspen, die Plattfüßler oder die Langohren, sie alle aber sind mehr oder weniger naturkundlich geglaubte Fiktion, die auch in Enzyklopädien und geographische Weltkarten Eingang findet und für die wissenschaftliche Beschreibungs- und Erklärungsversuche beigezogen werden. Sieht man von den Endzeitvölkern Gog und Magog ab, die nach der Danielprophetie eine noch bevorstehende Bedrohung der gesamten Menschheit signalisieren, dann werden diese Fabelvölker ferner Länder also nicht der dämonischen, sondern der naturwissenschaftlichfaktischen Sphäre real-materieller Existenz zugeordnet. In die religiös-metaphysische Sphäre entführt hingegen die ungemein verbreitete mittelalterliche Gattung der Legende, die mit ihrem plakativen Dualismus von Gut und Böse auf religiöse Leitbilder orientiert, die in der radikalen Ungesichertheit mittelalterlicher Existenz mit ihren spezifischen Nöten und Ängsten sowohl die Kirchentreue in den Seelen der Gläubigen verankern als auch Halt und Lebenshilfe vermitteln sollten. Hier geht es - wie bei allen metaphysischen Systemen - nicht eigentlich um das Vordergründig-Faktische, sondern um die Gestaltung und Beeinflussung psychischer Befindlichkeiten, die durch die äußeren Signale des Faktischen innerlich konnotiert werden. Die metaphysische Sphäre des Dämonischen ist von Beginn an konstitutiver Bestandteil des arthurischen Stoffes, wobei sich eine historisch-soziokulturell determinierte interessante Entwicklungskurve der mythisch-dämonischen Komponente des Artusstoffes erkennen läßt. Auf der ersten Stufe der sich über Jahrhunderte erstreckenden mündlichen Entwicklung und Tradierung der Matière de Bretagne besitzt die mythisch-dämonische Sphäre nach Ausweis aller uns bekannten Zeugnisse einen den übrigen Stoff geradezu beherrschenden Anteil; manches hiervon hat sich - in teils stark veränderter Gestalt - in die Die arthurische Dämonologie 81 Schriftlichkeit hinübergerettet. Gerade die zweite Stufe aber, die zugleich die erste Stufe der Verschriftlichung des Artusstoffes darstellt, die Stufe der propagandistischen Historisierung im gleichsam nationalen Interesse des anglonormannischen Herrscherhauses durch Geoffrey von Monmouth und Wace, mußte die mythisch-dämonische Komponente der Sagenüberlieferung schon deswegen radikal zurückschneiden, weil sie aus Gründen eigener Herrschaftslegitimation ein Konstrukt glaubhafter Realgeschichte aufbauen wollte. Die dritte Entwicklungsstufe, auf der die arthurische Epik als schriftliche Gattung sui generis entsteht, entfaltet sich zweigeteilt: zum einen noch eng mit der volkstümlichen Basis der ersten Stufe verbunden, aus der sie ohne große stoffliche Veränderungen schöpft, repräsentiert durch die Lais (z.B. den Lai de Lanval der Marie de France) oder den Lanzelet, wobei auch die mythisch-dämonische Komponente relativ ungebrochen erhalten bleibt, zum anderen durch die epochale Kreation des sogenannten klassischen Artusromans durch Chrétien de Troyes, in dessen sinntragendes episches Modell die mythisch-dämonische Komponente in überlegener rationaler Umdeutung und Aktualisierung - zum Teil mit deutlich erkennbarer humorvoller oder gar ironischer Distanz - einstrukturiert, anverwandelt und mit neuen Funktionen im Sinne seiner generellen Gesellschaftsvorstellungen belegt und zu einem nicht geringen Teil auch mit großflächtig narrativen, strukturtragenden Aufgaben betraut wird. Auf der vierten Entwicklungsstufe des sogenannten nachklassischen Artusromans hingegen bricht sich die mythisch-dämonische Komponente des Stoffes erneut Bahn und überwuchert mit alten Motiven und neuen phantastischen Erfindungen die übrigen Erzählstrukturen wie im Daniel oder gar in der Krone. Spätestens mit Chrétiens Perceval beginnend, wird verstärkt auch die christlich-religiöse metaphysische Welt in den Stoff einkomponiert, die ihre plakativste Ausformung unter spezifischer Einbeziehung der satanischen metaphysischen Zwischenwelt im Wigalois erhält. In dem relativ stabilen narrativen Grundmuster der Artusepik auch außerhalb des klassischen Chrétienschen Schemas des dreifachen Kursus 5 , den der Held in seinem Bewährungsaufstieg zu durchlaufen hat, ziehen sich um die gesellschaftliche Utopie des mehr oder weniger vorbildhaft und ideal gedachten Artushofes mit seiner als Ausgangskonstrukt bereits ringförmig gebildeten »table ronde« in konzentrischen Kreisen die symbolträchtigen Zonen einer noch nicht von der höfischen Kultur erfaßten und beherrschten Welt, die zugleich die vielfachen Bedrohungen jedes mittelalterlichen Menschen durch die tatsächlichen feudalanarchischen Verhältnisse verkörpern. Diese Zonen der Waldwildnis und der bedrohlichen, bedrohten oder verwunschenen Burgen, Schlösser und Höfe sind nicht nur von Dämonen und dämonischen Kräften bevölkert, sie erscheinen auch insgesamt als ein literarischer Raum, in dem das Metaphysisch-Dämonische allgegenwärtig ist und das Atmosphärische des Ortes bestimmt. Die hochkarätige strukturell-narrative Leistung, die von der arthurischen Dämono- 5 Entgegen der noch immer tradierten Ansicht handelt es sich bei dem klassischen Schema des Artusromans nicht um den seit Kuhn so benannten Doppelten Kursus, dessen narrative Struktur ja dann auch erst irgendwo mitten im Text einsetzen würde, sondern sowohl unter strukturellem als auch unter semiotisch-sinngtragendem Aspekt um einen Dreifachen Kursus, den der Protagonist vom Beginn der Erzählung bis zum Schluß in drei stabilen Varianten ein und derselben Grundstrukgtur durchläuft. Siehe Bräuer, Rolf (Hrsg.): Der Helden minne, triuwe und êre. Literaturgeschichte der mittelhochdeutschen Blütezeit. Berlin 1990, S.196 ff. 82 Rolf Bräuer logie für den Aufbau des Artusromans erbracht wird, ist bislang weitgehend unterschätzt worden. Da der Beleg für den erstaunlichen Anteil des Dämonischen am kompositorischen Gerüst des Artusromans nur in der vollständigen Demonstration seiner Erzählabfolge erbracht werden kann, soll dies im folgenden am Beispiel von Hartmanns Iwein geschehen, dessen Titelheld den symptomatischen Bewährungsweg des dreifachen Kursus durch die um den Artushof gelegten narrativen konzentrischen Kreise der feudalanarchischen Verhältnisse - modellartig verkürzt - wie folgt durchläuft (dämonische Elemente erscheinen kursiv): 1. Kursus (Initialvariante): 1.1. Artushof: Erzählung Kalogreants vom Zauberbrunnen, 1.2. Wald: unhöfisch-anarchische Elemente: das bäuerliche Ungeheuer, 1.3. Kritikwürdiger Hof mit Brunnenwunder, Tötung Askalons und Heirat der Witwe Laudine. 2. Kursus: 2.1. Artushof: Verfluchung Iweins durch Lunete wegen der Fristversäumnis, 2.2. Wald: Iwein verliert den Verstand, hält sich selbst für ein bäuerliches Ungeheuer, 2.3. Kritikwürdiger Hof: Befreiung der Gräfin von Narison von dem Grafen Aliers, der sie mit Gewalt zu erringen sucht, 2.4. Wald, unhöfisch-anarchische Elemente: Iwein hilft einem Löwen im Kampf gegen einen Drachen, woraufhin der Löwe zu seinem ständigen Begleiter und Helfer wird, 2.5. Wald und kritikwürdiger Hof: Der eigene Hof befindet sich in der Hand unhöfischer Elemente, Verabredung zum Gerichtskampf, 2.6. Kritikwürdiger Hof: Iwein hilft dem von dem Riesen Harpin belagerten Burgherrn, der die Auslieferung der Tochter verlangt. 3. Kursus: 3.1. Kritikwürdiger Hof: Die ältere Schwester des Grafen vom Schwarzen Dorn will die jüngere um ihr Erbe betrügen, 3.2. Kritikwürdiger Hof und unhöfisch-anarchische Elemente: Auf der »Burg zum Schlimmen Abenteuer« besiegt Iwein zwei Riesen und befreit 300 zu Textilarbeiterinnen degradierte adlige Damen, 3.3. Artushof: Entscheidung zugunsten Iweins, seine Heimkehr und Versöhnung mit Laudine, nachdem er noch einmal das verheerende Unwetter durch den Zauberbrunnen ausgelöst hat. Diese prototypische Struktur des klassischen Artusromans bezeugt nicht nur exemplarisch den bedeutenden Anteil der arthurischen Dämonologie an der epischen Gesamtkonzeption und narrativen Grundkonstruktion dieser Gattung, in ihr zeigt sich auch in idealtypischer Weise die realpolitische Auseinandersetzung zwischen der herrschenden Feudalanarchie und dem Territorialisierungs- und Höfisierungsprozeß mit der Durchsetzung von Recht und Ordnung im Sinne der großen Landesherrschaften, in deren Dienst und Auftrag die großen Epiker wie Chrétien oder Wolfram zweifellos standen. Dabei ragt der Artushof wie eine Insel aus der ihn umbrandenden Gewaltanarchie heraus, die nur zum einen Teil durch menschliche Figuren, zum anderen aber durch dämonische Gestalten und Phänomene poetisch symbolisiert wird. Die arthurische Dämonologie 83 Die hier gestaltete zweite metaphysische Welt des Dämonischen und Zauberisch- Phantastischen zeigt - nicht nur im Iwein bis in Einzelheiten belegbar - den Rückgriff auf das volkstümlich-mythische keltische Erzählsubstrat und seine sowohl einerseits motivisch-narrative Umstrukturierung als auch andererseits semiotische und ethische Umfunktionierung zum Zweck der symboltragenden Darstellung negativ konnotierter politisch-soziokultureller Zustände und Prozesse und der (unter anderem durch sie ausgelösten) negativen Wertungen, Emotionen und Ängste aus der Sicht der höfisch-feudaladligen Ideologie um 1200. Dies wird bereits in der Eingangsaventiure von Kalogreants Erzählung deutlich, die entsprechend dem keltischen Mabinogi The Lady of the Fountain bzw. Die Geschichte von der Gräfin vom Brunnen 6 wohl auf einem keltischen Feenmärchen basiert, in dem eine Brunnenfee (im Iwein Laudine) den Helden (Owein bzw. Iwein) in ihr jenseitiges Feenreich lockt. Dabei trifft die narrativ notwenig werdende aventiureauslösende Ersatzfigur Kalogreant (für Iwein) im düsteren Gefilde des Urwalds auf den über die wilde Tierwelt regierenden »waltman«, einen monströsen Menschen mit schwarzem auerochsengroßem Kopf, rußig verfilztem Haupt- und Barthaar, ochsengroßer Nase, wannenbreiten Ohren, Buckel und Eckzähnen, die ihm wie bei einem Wildschwein aus dem breiten Maul herausragen. 7 Dieses ehemalige mythische Wesen des keltischen Märchens als Wegweiser zwischen Menschenwelt und jenseitigem Feen- und Zauberbrunnenreich ist hier im Artusroman sozial zu einem feudalen Bauern und Wildhüter als Symbol denkbar größter Kultur- und Hofesferne und zur Kontrastfigur alles schönen, edlen, höfisch gepflegten Menschentums umfunktioniert. Er weist dem Ritter den Weg zu dem Wunderbrunnen, der an altkeltischen Steinfetischismus und Regenzauber erinnert und wo nach Auslösung des Unwetters Askalon, der Herr des Brunnens (und ehemals mythische Brunnenwächter), heransprengt und den Eindringling mit Schande verjagt. Hier nun wird der mythische Regenzauber in die narrative Motivik eines feudalen Rechts- und Landfriedensbruchs umstrukturiert und umfunktioniert, wobei in beiden Fällen das dämonische Substrat sichtbar erhalten bleibt, die Signale der dämonischen Zeichen aber mit neuen und aktuellen gesellschaftlichen Inhalten und Indizien versehen werden. Auch Iweins Terminversäumnis, Verfluchung und Wahnsinn sind aus ihren keltischen Ursprüngen narrativ umstrukturiert und sozial umfunktioniert worden, wobei hier das Faßbar-Dämonische zwar weitgehend ausgeschaltet, das Atmosphärische in Iweins Waldtorendasein - einschließlich seiner Angst, ein Bauer geworden zu sein, und seiner Heilung durch eine Wundersalbe - wenigstens partiell erhalten bleibt. Als Iwein auf einer Waldlichtung den Löwen mit einem Drachen in einen tödlichen Kampf miteinander verstrickt findet, hilft er dem Löwen als dem Symbol von Recht, Kraft und Ordnung gegen den Chaos und Unheil symbolisierenden Drachen, woraufhin ihn der Löwe als treuer Mitkämpfer und Reisegefährte begleitet, gleichsam als sein verlebendigtes Attribut von Herrschaft und Recht, wie es - entsprechende Bedeutung tragend - auch als Wappentier 6 Vgl. Birkhan (Fn. 2), S. 79 ff. 7 Vgl. Seitz, Barbara: Die Darstellung häßlicher Menschen in mittelhochdeutscher erzählender Literatur von der Wiener Genesis bis zum Ausgang des 13. Jahrhunderts. Zwickau 1967 ( Diss.); Dallapiazza, Michael: Häßlichkeit und Individualität. Ansätze zur Überwindung der Idealität des Schönen in Wolframs von Eschenbach Parzival. In: Deutsche Vierteljahrsschrift 59 (1985), S. 400 - 421. 84 Rolf Bräuer der bedeutendsten zeitgenössischen deutschen Dynastengeschlechter wie der Staufer und der Welfen fungierte. Sein Einstehen für Recht und Ordnung beweist Iwein dann auch in seinem Kampf gegen den roten Riesen Harpin, der einen Burgherrn belagert, das Land verwüstet, dessen sechs Söhne in seine Hand gebracht und zwei von ihnen bereits umgebracht hat und nun die Herausgabe seiner schönen Tochter fordert. Der Riese erscheint hier nicht nur als symbolisch-mythische Hypostasierung der permanenten feudalen Bedrohung des Landfriedens, er ist zugleich Versinnbildlichung des antihöfischen Subjekts mit seinem kulturlosen Aggressionspotential und der ungezügelten Durchsetzung seiner animalischen Begierden. Eine ganz andere Funktion repräsentieren die Riesen auf der »Burg zum Schlimmen Abenteuer« zum Zweck der Dämonisierung des frühstädtischen Manufakturbetriebes, indem sie im Dienst eines Feudalherrn als Wächter der Ausbeutung versklavter Arbeiterinnen fungieren, die im sozialen Bezugsrahmen des Ritterromans natürlich gefangene adlige Damen sind. Dadurch daß Iwein nach seiner Bestätigung durch den Artushof mitsamt seinem Löwen in die Heimat zurückreitet und dort noch einmal das Unwetter durch die Zauberquelle auslöst, bestätigt sich dieses dämonische Element der Gewitterquelle als das zentrale und handlungsauslösende ebenso wie handlungsabschließende und damit auch rahmenbildende epische Hauptmotiv des Romans überhaupt, wodurch zugleich bewiesen ist, daß die Dämonologie in der arthurischen Literatur keineswegs nur einen akzidentiellen Part, sondern nach Herkunft, narrativem Konzept und Sinngebung eine kaum zu überschätzende Hauptrolle spielt. Eine vertiefende Bestätigung erfährt dieses aus der exemplarischen Analyse des Iwein gewonnene Untersuchungsergebnis durch die vergleichende Betrachtung strukturidentischer Stellen und Rollen anderer Artusromane, die eine zunehmende Frequenz und Verdichtung der so erfolgreichen mythisch-dämonischen Elemente, Strukturen und Figuren anzeigen, wie es vor allem der mythos- und bildbesessene, sich aber auch oft auf überlegene oder gar ironische Weise von seinem Stoff distanzierende Wolfram von Eschenbach in seinem Parzival vorführt, wobei er häufig die in seiner Quelle schon angelegten dämonisch-phantastischen Ansätze noch lustvoll verstärkt und ausbaut. Das vielleicht berühmteste Beispiel hierfür bietet die bei Chrétien noch namenlose Gralsbotin Cundrîe als Unheilverkünderin vor dem Artushof in der narrativen Schemarolle, wie sie im oben beschriebenen Struktogramm des Iwein Lunete zu Beginn des 2. Kursus unter 2.1. vertritt. 8 Bereits Chrétien beschreibt die Gralsbotin als ein wahres Monstrum an Häßlichkeit, wobei eine deutliche Beschreibungsverwandtschaft (sicherlich auch in Form unmittelbarer Abhängigkeit) mit dem oben ausführlich dargestellten und interpretierten ›waltman‹ des Iwein besteht. Die Ähnlichkeit beruht wahrscheinlich auf der gemeinsamen Herkunft der beiden Figuren aus dem Mythos des mit einem Zauberbann be- 8 Vgl. hierzu an neueren Interpretationen: Brall, Helmut: Imagination des Fremden. Zu Formen und Dynamik kultureller Identitätsfindung in der höfischen Dichtung. In: Kaiser (Fn. 1), S.152 - 165, aber auch Bräuer (Fn. 7), zum Parzival insgesamt S. 259 - 303, hier speziell S. 289 ff.; Cieslik, Karin: Die Zauberin in der höfischen Dichtung des Mittelalters. In: Angela Bader u. a. (Hrsg.): Sprachspiel und Lachkultur. Beiträge zur Literatur- und Sprachgeschichte. Rolf Bräuer zum 60. Geburtstag. Stuttgart 1994 (SAG, Bd. 300), S. 215 - 226. Die arthurische Dämonologie 85 legten keltischen Feen- und Totenreichs, wobei der dämonische ›waltman‹ als Wegweiser in die »Andere Welt« fungiert und Cundrîe, die bei Chrétien nur das »häßliches Fräulei« heißt, mit ihrer körperlichen Entstelltheit den auf ihrem Reich lastenden furchtbaren Zauberbann symbolisiert, den Parzival durch sein Versagen auf der Gralsburg nicht hatte lösen können - sie erscheint also als ein verlebendigter Vorwurf und anschaulich versinnbildlichender Hintergrund für die schreckliche Anklage- und Verdammungsrede, die sie gegen Parzival formuliert. Wolfram baut nicht nur die Beschreibung der teils erschreckenden, teils komischen (vgl. etwa den feschen Importhut aus London, den sie auf dem Rücken trägt) weiblichen Horrorgestalt aus, er nennt das »häßliche Fräulein« auch »Cundrîe la surziere« (V.517,18), was soviel wie »Zauberin« oder auch »Hexe« oder »Dämonin« heißt und stellt damit ausdrücklich die ursprüngliche Verbindung der Gestalt zur mythischen Welt wieder her. Er tut aber noch ein übriges: Er verleiht ihr durch seine Namensgebung (Cundrîe ist eine der typisch Wolframschen sprechenden Namensbildungen und bedeutet soviel wie »Kundige«, »Wissende«, aber auch »Künderin«) und vor allem durch die umfassende Aufzählung ihrer Kenntnisse und Fähigkeiten zusätzlich das soziale Signum einer Intellektuellen, die alle Sprachen spricht, das Trivium und das Quadrivium studiert hat und Dialektik, »jeometrie« und Astronomie beherrscht. So entwirft Wolfram mit der dämonischen Cundrîe hier mitten im feudalklassischen Zeitalter der Bildungsexplosion, der Entstehung der ersten bedeutenden europäischen Hochschulen und Universitäten und der Geburtsstunde einer völlig neuen europäischen Intellektuellenschicht, an der Frauen einen bedeutenden Anteil hatten und im Durchschnitt gebildeter waren als die auf ihre nüchternen Geschäfte orientierten Männer, bereits die erste ebenso erschreckende wie belustigende männliche Horrorvision der studierten und gelehrten Frau, wie sie grundsätzlich bis in unsere Gegenwart Bestand hatte und die erst jetzt - im Zustand einer gerade erneut beginnenden allgemeinen europäischen Massenverdummung - wieder an Boden gewinnt. Die Bedeutung des Dämonischen für den arthurischen Stoff erweist sich auch strukturell durch die Tatsache, daß zumindest die klassischen Artusromane ausnahmslos in ein abschließendes Höhepunkt-Abenteuer aufgipfeln, in dem der Held eine bizarre, dämonisch verwunschene und von Trauer und Entsetzen beherrschte Welt durch seine Erlösungstat befreit. Dies betrifft neben dem Iwein und der oben unter 3.2. exemplarisch beschriebenen Befreiung der »Burg zum Schlimmen Abenteuer« im Erec das abschließende Abenteuer der »Joie de la Curt« mit der symbolträchtigen Besiegung des egoistisch-minnesüchtigen Ritters Mabonagrin in dem »Hofesfreude« genannten Zaubergarten mit dem berüchtigten Zaun, auf dessen Pfählen die abgehackten Köpfe von achtzig besiegten Rittern stecken, und dies betrifft in der Doppelhandlung des Parzival und seiner beiden Haupthelden Parzival und Gawein die Erlösung und Befreiung von Munsalvaesche und Schastel marveile. Als beiden Abenteuern gemeinsam erweist sich das ritterliche - und für eine Kriegerkaste sicherlich verständliche - Trauma der Entmannung und seine literarische Dämonisierung in dem Verödungszauber, der im Parzival sowohl Clinschors Schastel marveile als auch Amfortas’ Gralsburg Munsalvaesche heimgesucht hat. 9 Die Unfruchtbarkeit des Herrschers belegt sein ganzes Land mit einem totenhausähnlichen Bann. War Amfortas 9 Eder, Annemarie: Der verhinderte Eros als Anabiose in der Gralssage. In: Bader (Fn. 8), S. 88 - 129. 86 Rolf Bräuer einst im Minnekampf um die stolze Minneherrin Orgeluse an den Hoden verwundet worden, so hatte man Clinschor zur Strafe für sein ehebrecherisches Verhältnis mit der Frau des Königs von Sizilien entmannt. Auch hier wird die Umfunktionierung der alten religiösen Mythen in die aktuelle Spiegelung exemplarischer ritterlich-höfischer Ängste und Befindlichkeiten besonders deutlich greifbar, denn die beiden verödeten Schlösser und ihr Umfeld basieren stofflich gemeinsam auf den Jenseits- und Totenreichvorstellungen der Kelten, die wir bereits anläßlich der Beschreibung Cundrîes und des »bäuerlichen Ungeheuers« als Erklärungshintergrund beizogen, mit dem Glauben aller Mythen und Religionen an Erlösung, und natürlich sind es hier die Ritter der arthurischen Tafelrunde Gawein und Parzival, die dieses Erlösungswerk vollbringen. Zu den dämonischen Gegenständen ist sicherlich auch der Gral selbst zu rechnen, wie er bei Wolfram vor allem in den Büchern V, IX und XVI des Parzival beschrieben und interpretiert wird. Er ist nicht nur Kommunikationsmittel zwischen Himmel und Erde, er besitzt neben anderen auch lebenserhaltende Fähigkeiten und eine phönixgleiche Verjüngungskraft, er spendet Speisen und Getränke jeglicher Art - kurz: Er ist »erden wunsches überwal« (V. 235,24), er ist Inbegriff alles dessen, was man sich auf Erden überhaupt wünschen kann. Andere dämonische Gegenstände oder Orte, von denen eine besondere Zauberkraft ausgeht, sind der siegverleihende Zaubergürtel aus dem Wigalois, mit dem allein Jorams Land zu erreichen ist, in dem sich nicht nur die Frau von Wigalois, sondern auch das berühmte Goldene Gücksrad befindet, das später zum symbolträchtigen Wappen des »Ritters mit dem Rade« wird, ein eher lustiger, sich auch sonst findender Tugendstein am Artushof, der die Fehler oder Vorbildlichkeit dessen erweist, der sich auf ihn setzt, das Zaubermoor oder die furchtbare Schwerterbrücke, die im Wigalois die Burg des Teufelsbündlers Roaz schützen. Damit ist zugleich der fließende Übergang zu dem in zahlreichen Artusromanen thematisierten »Dämon Technik« angesprochen, der - meist von Zauberhand geleitet - dem sonst vom technischen Knowhow unberührten Ritter feindselig entgegentritt - hierher gehört das Zauberbett auf Schastel marveile im Parzival ebenso wie die genannte Schwerterbrücke im Wigalois oder die goldene Tierstatue am Eingang zum Reich des Königs Matur in des Strickers Daniel von dem Blühenden Tal, deren Gebrüll alle Feinde außer Gefecht setzt. Aber auch hier vermögen Ethos, Wagemut und Geschicklichkeit des Artusritters jeweils die unheimliche Dämonie technischer Entwicklung zu bezwingen. Nicht so sehr in den engeren sozialen, als vielmehr in den größeren soziokulturellideologischen und sozial-biologischen Bereich gehört die Minnedämonologie der erotischen ritterlichen Wünsche, Normverfehlungen und Ängste. Hierzu zählt zum Beispiel im Lanzelet die Verwandlung Elidias in einen Drachen als Strafe für ihr Fehlverhalten, weil sie gegen die höfische Minnedoktrin gehandelt und einen Ritter nicht erhört hatte, der durch seinen Minnedienst Anspruch auf sie besaß. Daß Ungeheuer und Dämonen auch als Träger sadoerotischer Wunsch- und Schreckensphantasien fungieren, belegen die zahlreichen Darstellungen, in denen Riesen, Drachen oder andere furchtbare Monster immer wieder schöne Jungfrauen verfolgen, zu entführen und ihnen Gewalt anzutun versuchen; daneben verkörpern und symbolisieren sie aber auch die azivilisatorische Triebhaftigkeit der anarchischen antihöfischen Welt. Insgesamt vermittelt eine selbst nur exemplarische Kartographie des Dämonischen in der Artusliteratur, wie sie hier entworfen wird, ein fast lückenloses Psychogramm rit- Die arthurische Dämonologie 87 terlich-höfischer Befindlichkeiten, Wünsche, Hoffnungen und Ängste. Da gibt es die Dämonologie des Guten und Erträumten in Form der freundlichen und befreundeten Dämonen als Verkörperung von Wunschvorstellungen für eine Helferschaft aus der »Anderen Welt« - es sind dies vor allem Zwerge und Feen wie die Meerfee Iweret im Lanzelet, aber gelegentlich auch Riesen und Drachen wie der kußfreudige Drache Elidia. Da gibt es auch und vor allem die Dämonologie des Bösen und Gefürchteten als Spiegelung feudaladliger Negativvorstellungen und Ängste. Zu ihnen zählen die Ungeheuer der Wildnis und die zauberisch-dämonisierten Höfe und Burgen als Verkörperungen der bedrohlichen und vom Artushof und seinen Rittern zu bekämpfenden feudalanarchischen Verhältnisse als Spiegelung des historischen Höfisierungs- und Zivilisationsprozesses und zentraler Gehalt der höfischen Ideologie. Da gibt es die Minnedämonologie als Bebilderung der Ängste und Freuden des neuentdeckten Eigengewichts der Weiblichkeit und der Minne als wichtiger Werte im Kanon der höfischen Ethik, durchsetzt mit den alten sadoerotischen Vorstellungen von der Frau als einem jagenswerten Lustobjekt. Da gibt es in diesem Zusammenhang aber auch das ritterliche Trauma der Entmannung und seine literarische Dämonisierung durch den Verödungszauber, der sich über die Höfe und Reiche dieser Minneopfer legt. Da gibt es schließlich nicht zuletzt die Dämonisierung sozialer Andersartigkeit als Spiegelung der Ängste vor ihrer bedrohlichen Fremdheit, aber gleichzeitig auch der Überlegenheit, wie die Dämonisierung des Bauern und des einfachen Menschen in der Figur des »bäuerlichen Ungeheuers« im Iwein, die Dämonisierung des frühstädtischen Manufakturbetriebes durch die Darstellung des Geschehens auf der »Burg zum Schlimmen Abenteuer« und die Dämonisierung der Intellektuellen durch die Gestalt Cundrîes. Lancelot (1488). Holzschnitt aus dem ersten bekannten Druck. 88 Rolf Bräuer So gewinnen die Dämonen im klassischen Artusroman eine fast lückenlose neue mentale und psychosoziale Dimension, Determination und Sinngebung, die den späteren Artusromanen zumindest in der Genauigkeit und Treffsicherheit ihrer sozialrepräsentativen Spezialisierung wieder verlorengeht. Natürlich behält die wachsende Zahl der Ungeheuer und Dämonen ihre zentrale Funktion als Widerspiegelung der nichthöfischen Welt und des bedrohlichen Chaos der realiter herrschenden feudalanarchischen Verhältnisse sowie als angstvermittelnde Kampfobjekte zur Bewährung ritterlichen ›hohen Mutes‹, doch wird die skurrile äußere Spezifizierung des Monströsen kaum noch von einer funktionalen begleitet, die Dämonen werden von durchdachten zeichenhaften Symbolen sozialer und soziopsychologischer Prozesse zur geglaubten Fiktion und naive Gemüter unterhaltenden grusligen Pseudorealität, wie sie heute noch - oder genauer: heute gerade wieder - zahlreiche Bücher, Comics und Horrorfilme vermitteln. Sicherlich erweist sich die Imagination des Monströsen und Dämonischen als ein genuiner Bestandteil menschlicher Phantasie und ein sich unter den verschiedenen historischen soziokulturellen und poetologischen Bedingungen stets wandelndes literarisches Faszinosum, doch angesichts der äußeren Primitivität und vor allem der inneren Sinnleere der Masse der aktuellen Monster und Horrorgestalten sollten wir uns darüber im klaren sein, daß wir zumindest auf diesem Gebiet der Verweiskunst der dämonologischen Zeichensprache zur Zeit des hochmittelalterlichen arthurischen Romans schon einmal poetologisch und intellektuell eine Stufe höher entwickelt waren als heute. Hic nulli habitant propter leones et ursos et pardes et tigrides 1 Die Zoologie der mappae mundi Margriet Hoogvliet (Groningen) Ist vom besonderen Weltbild mittelalterlicher Karten die Rede, so denkt man zumeist an die sehr bekannten, sogenannten T-in-O-Karten. 2 Diese schematischen mappae mundi zeigen eine kreisförmige Weltscheibe, umgeben von dem kreisrunden Weltozean und durchschnitten von einem T-förmigen Gewässersystem bestehend aus dem Mittelmeer und den beiden Flüssen Tanais und Nilus. Die mittelalterliche Ökumene (d.h. die Vorstellung von der gesamten bewohnten Erde) kennt nur drei Kontinente: die obere Hälfte des Weltkreises ist »Asia«, die linke Seite der unteren Hälfte ist »Europa«, die recht Seite »Africa«. Neben diesen rein schematischen Karten gibt es noch andere Typen mittelalterlicher Weltkarten 3 , aber Tiere finden sich fast nur auf den großformatigen Kreiskarten 4 . Wie die T-in-O-Karten zeigen sie den Osten oben und teilen sie die Erde in drei Kontinente ein, aber sie stellen Länder, Küsten, Flüsse, Städte usw. viel detaillierter dar und bieten außerdem ikonische Darstellungen von historischen und biblischen Ereignissen, von Tieren und Monstervölkern. Meistens befinden sich die Monstervölker im Süden, während die Tiere mit Ausnahme von Europa fast überall verbreitet sind. Das Wissen der mittelalterlichen Kartenmacher von diesen Tieren beruhte nicht auf direkter Beobachtung, sondern stammte aus Texten, die wegen ihres Alters und aufgrund ihrer allgemein aner- 1 Die Ebstorfer mappa mundi (13. Jahrhundert). Diese Karte wurde während des Zweiten Weltkriegs vernichtet. Texte und Nachbildung bei Miller, Konrad: Mappae mundi: Die ältesten Weltkarten. 6 Bde. Stuttgart 1895 - 1898, Bd. V: Die Ebstorf mappa mundi. Stuttgart 1896, S. 44. Dieser Beitrag ist eine veränderte und erweiterte Version meines Artikels: De ignotis quarumdam bestiarium naturis: Texts and Images from the Beastiary on Medieval Maps of the World. In: Houwen, L.A.R.J. (Hrsg.): Animals and the Symbolic in Mediaeval Art and Literature. Groningen 1997, und wurde (zum Teil) gefördert von der Stiftung für Literatur-, Musik- und Theaterwissenschaft, die von der Niederländischen Organisation für wissenschaftliche Forschung (NWO) subventioniert wird. 2 Destombes, Marcel S.: Mappemondes A.D. 1200 - 1500. Amsterdam 1964 (Imago Mundi, Suppl. IV). Destombes hat für das 8. bis zum 15. Jahrhundert insgesamt 1106 Karten gezählt; 660 von diesen Karten sind schematische T-in-O-Karten (S. 21 - 23). 3 Die jüngste Übersicht über die verschiedenen Klassifikationssysteme mittelalterlicher Weltkarten bietet: Woodward, David: Medieval Mappaemundi. In: The History of Cartography. Bd. 1: Cartography in Prehistoric, Ancient, and Medieval Europe and the Mediterranean. Hrsg. J.B. Harley; David Woodward. Chicago 1987, S. 294 - 299. Woodward unterscheidet vier Typen: - Tripartite (Asia, Europa und Africa, der Osten oben) - Schematic and non-Schematic - Zonal (unsere Halbkugel u. ein südl. Kontinent, in 5 Klimagürtel geteilt, Norden ist oben) - Quadripartite (eine Mischform von den tripartite und zonal Karten, der Osten oben) - Transitional (14. u. 15. Jh., diese Karten sind von Portulanresp. Ptolemäuskarten beinflußt). 4 Woodward (Fn. 3), S. 296: »tripartite non schematic maps«, inventarisiert in Destombes (Fn. 2), S. 17 als »type D«. 90 Margriet Hoogvliet kannten Verbindlichkeit (auctoritas) für glaubwürdig gehalten wurden. Deswegen sind viele Tiere mythischer Herkunft und haben meist fabelartige und seltsame Eigenschaften. Im allgemeinen beschäftigt sich die historische Kartographie kaum mit diesen Tieren. 5 Nur knapp werden die hellen Farben, mit denen sie gemalt, beschrieben. Sehr häufig versteht man sie als bedeutungslose Zauberwesen, »mirabilia«, die den Zweck haben, die weißen Flecken auf der Karte zu kaschieren 6 . Der Grund für diese Ansicht ist vielleicht die technisch-positivistische Interpretation, die für die Kartographiegeschichte sehr lange bezeichnend war. Sie führte dazu, daß man sich vor allem mit dem Fortschritt des Wissens von der Erdoberfläche und mit der Verbesserung der kartographischen Projektionssysteme befaßte. Dementsprechend hat man die mittelalterlichen mappae mundi oft negativ bewertet, weil ihre geographische Gestaltung und ihre Inhalte nicht auf empirischen Kenntnissen beruhen. In den letzten Jahrzehnten haben besonders J.B. Harley 7 und Anna-Dorothee von den Brincken 8 diesen traditionellen technischen Ansatz der historischen Kartographie in Frage gestellt. Trotz dieses neueren Ansatzes ist in einschlägigen Handbüchern noch immer die alte Grundidee vom Fortschritt des Wissens im erwähnten Sinne anzutreffen. Im Gegensatz zu modernen Landkarten wurden die mappae mundi stets in Übereinstimmung mit den überlieferten und als Autoritäten anerkannten Anschauungen angefertigt. Die mittelalterlichen Kartenmacher suchten keine neuen, bis dato unbekannten Daten, sondern sie versuchten aus ihren Vorlagen und Quellen eine zusammenhängende Komposition zu konstruieren, deren innere Ordnung ihrer Komposition einen tieferen Sinn verleihen sollte 9 . Bis heute aber hat sich die traditionelle Kartographiegeschichte sehr wenig mit den Inhalten der mappae mundi, und d.h. auch nicht mit den Tieren, be- 5 Eine Ausnahme ist George, Wilma: Animals and Maps. London 1969. George weist hin auf einige Entlehnungen aus den Bestiaria auf mappae mundi (z.B. S. 32: der »eale«), aber sie vergleicht überwiegend die Darstellung der Tiere auf mappae mundi und auf Renaissancekarten mit biologischen Merkmalen, z.B. der »alce« auf der Ebstorfer Karte stellt einen russischen Maulesel (Saiga tatarica, S. 30) dar, und der »manticora« einen Chitah (Acinonyx jubatus, S. 34). Meiner Meinung nach sollte man die Tiere auf mappa mundi nur mit solchen Quellen vergleichen, die den mittelalterlichen Kartenmachern zugänglich waren, wie z. B. Solinus, Isidor, den Physiologus, die Bestiarien, usw. 6 Eine Übersicht über die »weiße Flecken«-Theorien enthält George (Fn. 5, S. 21). Es gibt sehr viele andere Beispiele, vgl. u. a: Kliege, Herma: Weltbild und Darstellungspraxis hochmittelalterlicher Weltkarten. Münster 1991: »Indem er [der Zeichner] sie und dazu für die betreffenden Länder typische, in Europa jedoch unbekannte Tiere in die pictura einarbeitete, kaschierte der Kartograph zugleich seine Unkenntnis der realen Verhältnisse und konnte weiße Flecken im Kartenbild vermeiden.« (S. 122); und: Von den Brincken, Anna-Dorothee: Fines Terrae. Die Enden der Erde und der vierte Kontinent auf mittelalterlichen Weltkarten. Hannover 1992 (Monumenta Germaniae Historica. Schriften, Bd. 36): »Statt leerer Bildflächen mangels Erfahrung füllt man die Fläche mit Phantasie.« (S. 93); und: Von den Brincken, Anna-Dorothee: Kartographische Quellen, Welt-, See, und Regionalkarten. Turnhout 1988 (Typologie des sources du Moyen Âge occidental, Fasc. 51), S. 50 und S. 96 f. 7 Vgl. die Einleitung von Harley/ Woodward (Fn. 3), S. 1 - 39; und Harley, J.B.: Deconstructing the Map. In: Cartographica 26 (1989), S. 1 - 20. 8 Anna-Dorothee von den Brincken hat schon 1968 (Von den Brincken, Anna-Dorothee: Mappa Mundi und Chronographia. Studien zur imago mundi des abendländischen Mittelalters. In: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 24 (1968), S. 118 - 186) eine neue (nicht-technische) Interpretation der mappae mundi vorgeschlagen. Sie sieht einen Zusammenhang zwischen mappae mundi und mittelalterlichen Weltchroniken, d.h. mappae mundi seien visuelle Weltchroniken. Allerdings gibt es in dieser Hypothese keinen Raum für eine Deutung der Tiere auf mappae mundi, vielleicht ist sie deswegen geneigt, die Anwesenheit der Tiere als die Folge eines »horror vacui« zu interpretieren (vgl. Anm. 6). Hic nulli habitant propter leones et ursos et pardes et tigrides 91 schäftigt. Um das tun zu können, muß festgestellt werden, welche Tiere überhaupt auf mittelalterlichen Weltkarten vorkommen, aus welchen Quellen die Kartenmacher schöpften und zu welchem Zweck man die Tiere auf den mappae mundi eingetragen hat. Auf dieser Grundlage kann man dann die Vorstellungen, die der Fauna jener Weltkarten zugrunde lagen, erschließen. Die älteste mittelalterliche mappa mundi, die ein Tier zeigt, ist die sogenannte Cotton-Karte 10 aus dem 11. Jahrhundert. Hier findet sich ein Löwe im Nordosten zusammen mit dem Text »Hic abundant leones« (Hier kommen reichlich Löwen vor). Die späteren Karten aus dem 12. und 13. Jahrhundert lassen vermuten, daß sie zunehmend mit Abbildungen von Tieren (und auch von Städten, Mischwesen, Ungeheuern usw.) und erklärenden Texten versehen wurden. Ein Beispiel dafür ist die mappa mundi in einer Isidor-Handschrift aus dem 12. Jahrhundert in München 11 , welche fünf Tiere in Africa mit ihren Namen als Unterschrift abbildet: »lupus cornutus, leo, serpentes, coluber mire longitudinis, prester«; und etwas weiter steht noch »simie« ohne Abbildung. Die kleinformatigen Buchkarten aus dem 13. Jahrhundert weisen noch immer so gut wie keine Tiere auf. Ausnahmen sind die mappae mundi am Anfang der Imago mundi des Honorius von Autuns in einer Handschrift in Cambridge 12 und die sogenannte Londoner Psalter-Karte 13 . Beide sind wahrscheinlich Nachbildungen von größeren Karten. Der Mangel an Tieren erklärt sich vielleicht aus dem Raummangel auf den Buchkarten: die Cambridger Karte kennt nur den »basiliscus« in Afrika (und diese Abbildung ist genau dieselbe wie auf der Hereford-Karte); die Psalter-Karte hat keine Tiere, immerhin doch die Monstergalerie im Süden (vgl. dieselben Abbildungen auf der Ebstorfer Karte und dem Duchy of Cornwall-Fragment). Die größten und inhaltlich reichsten mappae mundi des Mittelalters sind hauptsächlich im 13. Jahrhundert entstanden. Diese Karten bilden manche Tiere zusammen mit erklärenden Texten ab. Uns sind leider nur eine komplette Karte (die Hereford Karte 14 ), eine schwer beschädigte Karte (die Vercelli-Karte 15 ) sowie einige Fragmente 16 erhalten. Die größte mappa mundi aus dem Mittelalter, die niedersächsische Ebstorfer Weltkarte 17 , ist nur noch in Nachbildungen überliefert. 9 Vgl. z.B. die Dekorationsprogramme mittelalterlicher Kathedralen: Katzenellenbogen, Adolf: The Sculptural Programs of Chartres Cathedral. New York 1964; und auch: Esmeijer, Anna C.: Divina Quaternitas. A preleminary study in the method and application of visual exegesis. Assen/ Amsterdam 1978. 10 London, British Library, Ms Cotton Tib. B.V., f. 58 v , 21 x 17 cm. Texte und Abbildung in: McGurk, Peter: Mappa Mundi. In: An Eleventh-Century Anglo-Saxon Illustrated Miscellany (British Library Cotton Tib. B V part 1, together with leaves from British Library Cotton Nero D II). Hrsg. P. McGurk [u.a.]. Koppenhagen 1983 (Early English Manuscripts in Facsimile, Bd. XXI), S. 79 - 87. 11 München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 10058, f. 154 v , ∅ 26,6 cm. Texte und Abbildung in: Gautier Dalché, Patrick: La »Descriptio Mappe Mundi« de Hugues de Saint-Victor. Paris 1988, S. 193 - 195 (Appendice II). 12 Cambridge, Corpus Christi College, Ms. 66, S. 2, 13. Jh., 29,5 x 20,5 cm. Texte und Abbildung in: Lecoq, Danielle: La mappemonde d’Henri de Mayence ou l’image du monde au XII e siècle. In: Iconographie médiévale. Image. Texte. Contexte. Hrsg. G. Duchet-Suchaux. Paris 1993, S. 155 - 207. Aufgrund einer Bemerkung im Text hat man sie fälschlicherweise Heinrich von Mainz (Henricus Magontiae) zugeschrieben, vgl. Dalché (Fn. 11), S. 183. 13 London, British Library, Add. Ms 28681, f. 9, nach 1262 (? ), ∅ 9,5 cm. Texte in Miller (Fn. 1), Bd. III: Die kleineren Weltkarten. Stuttgart 1895, S. 37 - 43. 14 Hereford Cathedral, ca. 1277 - 89 (? ), 162,6 x 134,6 cm. Texte und farbige Nachbildung in: Miller (Fn. 1), Bd. IV: Die Hereford mappa mundi. Stuttgart 1895. 92 Margriet Hoogvliet 15 Vercelli, Archivio Capitolare, Ende 12., Anfang 13. Jh., ca. 84 x 72 cm. Texte und Nachbildungen (Photos und Zeichnungen) in: Capello, C.F.: Il mappamundo medioevale di Vercelli (1191 - 1218? ). Torino 1976 (Università di Torino, Memorie e Studi Geografici, Bd. 10). 16 Das Duchy of Cornwall Fragment, ca. 1270 - 1300, Duchy of Cornwall Office, Maps and Plans 1, 61 x 64 cm, Durchmesser des Originals 164 cm. Farbige Abbildung in Harley/ Woodward (Fn. 3, plate 14). Texte in: Kliege (Fn. 6), S. 151 - 165. Ein anderes Kartenfragment aus dem 13. Jh. in Wiesbaden (Hauptstaatsarchiv, Mscr. A.60) ist leider nicht mehr entzifferbar. 17 Zweite Hälfte des 13. Jhs.; 356 x 358 cm. Texte und farbige Faksimile in: Miller (Fn. 1). Eine gute Übersicht der Faksimiles and Rekonstruktionen der Karte ist: Michael, Eckhard: Das wiederentdeckte Monument - Erforschung der Ebstorfer Weltkarte, Entstehungsgeschichte und Gestalt ihrer Nachbildungen. In: Ein Weltbild vor Columbus. Die Ebstorfer Weltkarte. Interdiziplinäres Colloquium 1988. Hrsg. Hartmut Kugler [u.a.]. Lüneburg 1991, S. 9 - 22. Hartmut Kugler hat eine neue Edition der Ebstorfer Texte für 1995 angekündigt, die mir während der Arbeit an diesem Beitrag leider noch nicht zugänglich war. Die Ebstorf mappa mundi (nach dem Faksimile von Konrad Miller). Hic nulli habitant propter leones et ursos et pardes et tigrides 93 Aus dem 14. Jahrhundert sind weniger verschiedene mappae mundi übriggeblieben: ein Fragment einer großformatigen Karte, das Aslake-Fragment 18 , und die ovale Buchkarte von Ranulf Higden, die in 21 Handschriften seines Polychronicon überliefert ist. Man nimmt an, daß von diesen Kopien die große Karte in einer Handschrift der British Library sowie die Karte in der Huntington Library der originalen mappa mundi von Ranulf H igden am n ächste n stehen 19 . Die neuere Forschung nimmt an, daß am Ende des 13. Jahrhunderts und am Anfang des 14. Jahrhunders unter dem Einfluß des Kompasses ein sehr akkurater Kartentypus für die Schiffahrt im Mittelmehr, die Portulankarte 20 , entwickelt wurde. Besonders die Karten aus dem katalanischen Bereich sind sorgfältig und reich dekoriert 21 . Neben diesen Portulankarten gibt es auch noch einen Mischtypus 22 , der die Küstenlinie der Portulankarten mit den Eigenarten der rein mittelalterlichen Karten kombiniert. Die zwei wichtigsten und bekanntesten Beispiele sind erstens der katalanische Atlas in der Bibliothèque Nationale in Paris 23 , hergestellt auf Mallorca von Abraham Cresques um 1375 für den französischen König Charles V., und zweitens die große Kreiskarte von Fra Mauro, die dieser um 1459 für den König von Portugal, Alfonso V. zusammmengestellt hat und die noch in einer Nachbildung aus derselben Zeit in der Biblioteca Marciana in Venedig überliefert ist. 24 All diese Karten sind sehr schön verziert mit Städten, exotischen Herrschern, Fabelmenschen und Tieren. 25 Die Darstellungen benutzen - neben den traditionellen Quellen für die obengenannten Weltkarten aus dem 13. Jahrhundert - auch spätere Quellen wie den Reisebericht Marco Polos, und wahrscheinlich verfügte man auch über Auskünfte arabischen Ursprungs. Der katalanische Atlas zeigt - genauso wie die mappae mundi aus dem 13. Jahrhundert - Elefanten mit einem Turm auf dem Rücken (Blatt 5, 8, 10) und stellt den Kampf der Pygmäen gegen Kraniche (Blatt 9) dar. Die Vögel im Nordosten (»molt bons grifalts et falcons«; Blatt 9) stammen aus späterer Quelle. Fra Mauro porträtiert fast keine Tiere, denn er stellt die Existenz von monströsen Menschen und Tieren in Zweifel 26 . Er nennt aber in den weiteren Texten auf seiner Karte eine Anzahl von Tie- 18 London, British Library, Ms Add. 63841 C, ca. 1350 - 1400, 60 x 23 cm/ 48 x 0,8 cm. Texte und Nachzeichnungen in: Barber, Peter; Brown, Michelle: The Aslake World Map. In: Imago Mundi 44 (1992), S. 24 - 44. 19 Vgl. Destombes (Fn. 2), S. 151. Karten: London, British Library, Royal Ms. 14.C.IX, nach 1342, 46,5 x 34,2 cm; San Marino, Huntington Library, HM 132, nach 1342, 16 x 20,3 cm. Text: Miller (Fn. 1), Bd. III: Die kleineren Weltkarten. Stuttgart 1895, S. 99 - 108. Der jüngste Aufsatz über die Karten von Ranulf Higden ist: Barber, Peter: The Evesham World Map. In: Imago Mundi (1995), S. 13 - 33. 20 Wichtigste Fachliteratur: De la Roncière, Monique; Mollat du Jourdin, Michel: Les Portulans. Cartes marines du XIII e siècle au XVII e siècle. Fribourg 1984; und Campbell, Tony: Portolan Charts from the Late Thirteenth Century to 1500. In: The History of Cartography. Bd. 1: Cartography in Prehistoric Ancient, and Medieval Europe and the Mediterranean. Hrsg. J.B. Harley; David Woodward. Chicago 1987, S. 371 - 509. 21 Campbell (Fn. 20), S. 392 - 395. 22 Woodward (Fn. 3), S. 294 - 299: »transitional maps«. 23 Paris, Bib. Nat., Ms. Espagnol 30, 12 Blätter, 64 x 25 cm. Faksimile und Texte in: Grosjean, G.: Mappamundi. Der katalanische Weltatlas vom Jahre 1375. Dietikon/ Zürich 1977. 24 Venezia, Biblioteca Nazionale Marciana, ∅ 1 96 cm. Faksimile und Texte in: Leporace, T.G.; Almagià, R. (Hrsg.): Il Mappamondo di Fra Mauro. Venezia 1966. 25 Auch hier taucht die Weiße-Flecken-Theorie wieder auf: De la Roncière/ Mollat du Jourdin (Fn. 20), S. 18 und Campbell (Fn. 20), S. 394. 94 Margriet Hoogvliet ren, die auch auf den mittelalterlichen mappae mundi vorkommen: »serpenti, dragoni, basillischi« (Schlangen, Drachen, Basiliske) in Afrika, »formige grandissime« (große Ameisen) in Indien und »la fenice« (Phönix) in Arabien. Im großen und ganzen weisen die späteren Karten weniger Tiere auf als die mappae mundi des 13. Jahrhunderts und sie schöpfen teilweise auch aus anderen Quellen, so daß ich mich hier vor allem auf die Karten von Hereford, Ebstorf und ihre Schwesterkarten beschränken kann. Die mittelalterlichen mappae mundi stellen hauptsächlich wunderliche und gefährliche Tiere in Gebieten dar, die weit von Europa und der Mitte der bekannten, bewohnten Welt entfernt sind. Die Verteilung der Tiere, wie sie schon die älteren Karten vorgenommen hatten, nämlich Raubtiere im Norden und Schlangen im Süden, wird von allen späteren Karten übernommen und erweitert. Auffallend ist, daß alle mappae mundi ungefähr das gleiche Gesamtbild der Fauna mit geringen Variationen in der Auswahl der Tiere vorführen 27 . In Europa gibt es im allgemeinen nur sehr wenig Tiere: Einzig die Hereford-Karte zeigt in Europa einen Ochsen (buglossa) und eine Katze (geneis). Die zwei Löwen auf der Ebstorfer Karte stehen nicht für Tiere, sondern symbolisieren Rom und Braunschweig 28 . In den Texten ist sonst die Rede von Inseln in Europa, die von gefährlichen Tieren wie Schlangen und Kröten gemieden werden: Die Karten von Hereford und Ebstorf melden dies von Ebosus insula im Mittelmeer, und die Ebstorfer Karte berichtet noch von »Augia insula« im Bodensee und von Sardinien 29 , daß dort keine Gefahr von Schlangen drohe; dagegen sei Kreta voller wilder Tiere. Der Norden Asiens wird für kalt und unheimlich gehalten, und vielleicht gibt es dort deswegen so viele gefährliche Tiere. Die oben genannte Cotton-Karte zeigt schon, daß der Norden Asiens von Löwen geradezu überflutet ist, und diese Ansicht findet sich auf fast allen anderen Karten. Der Ebstorfer Karte nach leben in jener Gegend wegen der wilden Tiere und Schlangen keine Menschen: »Hic nulli habitant propter leones et ursos et pardes et tigrides. Hec terrra etiam serpentibus est referta« 30 . Selbst die Hunde aus dieser Gegend seien fürchterlich: sie könnten Stiere und Löwen töten, denn sie stammen aus der Paarung von Hunden und Tigern 31 . Am nördlichen Ozean wacht der schreckliche Greif über Dia- 26 Leporace/ Almagia (Fn. 24), Pl. XX: »Alguni scriueno che in questi Indie sono molte diuersità de monstri sì de homeni come de animali, ma perchè a questo cosse pochi dano fede qui non ne faço nota [...].« 27 Für die Texte verweise ich auf die besonderen Textausgaben, die ich bei jeder mappa mundi angegeben habe. Ich beschränke mich auf die Hauptlinien, denn es ist nicht möglich, hier jedes Detail zu benennen. 28 »Secundum formam leonis inchoata est Roma«, zitiert nach Honorius Augustodunensis: Imago mundi (I,26). Miller (Fn. 1), S. 18: »Leo, den ehernen Löwen andeutend, welchen Heinrich der Löwe vor dem Schlosse in Braunschweig, a. 1166 errichtet hat, und welcher den Platz vor der sogen. Burgerkaserne in Braunschweig heute noch ziert.« 29 Dieser Text steht in Africa; dasselbe bei Higden: »Sardinia insula caret serpentibus [...]«. 30 Die Ebstorfer Karte fährt fort: »Leo nobilissimus; Leopardus ex adulterio leene nascitur et pardi; Pardus animal varium ac velocissimum et praeceps ad sanguinem, saltu enim ad mortem ruit; Tigris animal; Ursus ananet.« Hereford hat hier auch den Tiger: »Hircani Oxi fluminis habent, gens silvis aspera, feta tigribus copiosa immanibus feris« und »Tigris [...]«. Vercelli: »In ista terra animalia silvestria sunt; Animalia silvestria sunt hic; Hic sunt bicornes, tricornes, bubali, honagri, hiene, tigres, leones, pantere et cetera; Hic situs terre superioris est, hic sunt leones, cignus, panteres.« Higden: »Hircania [...] habet tigrides et panteras.« 31 Ebstorf im Text zu Albania mit dem Bild eines Hundes, der einen Stier angreift; Vercelli zeigt im Norden einen Panther oder Tiger, verfolgt von einem Jäger mit zwei Hunden; Higden: »Albania. [...] Huius terre canes leones occidunt.« Hic nulli habitant propter leones et ursos et pardes et tigrides 95 manten und Edelsteine 32 . In »Asia minor« gibt es merkwürdige Tiere, wie den »bonacus«: Ein Stier, der sich von seinem Verfolger durch seinen versengenden Kot befreit 33 . Allerdings gibt es hier auch gute Lasttiere wie Pferde 34 und Kamele 35 . In den von Europa am weitesten entfernten Regionen, da wo Indien und das Paradies liegen, gibt es viele Edelsteine und Goldschätze - und selbstverständlich auch exotische Tiere. Die Ebstorfer Karte zählt in dem langen Text über Indien die meisten dieser wunderlichen Kreaturen auf: »Gignit bestias mirabiles: ealem, manticoram, taurum Indicum, unicornem; psytacum [...]«. In der Tat sind diese Tiere auf fast jeder der drei vollständigen mappae mundi dargestellt: der zweihörnige Eale 36 , der menschenfressende Manticorus 37 , der indische Stier 38 , das Einhorn oder das Nashorn 39 und der Vogel Psytacus 40 . Weiter in Richtung Arabien und Ägypten finden wir den Vogel Phönix 41 . Die Hereford-Karte und die Vercelli-Karte geben in Indien außerdem noch den Elefant mit einem Turm auf seinem Rücken wieder 42 . Die Goldschätze dieses Landes sind wegen gefährlicher Schlangen und Drachen schwer zu erlangen: die goldenen Berge würden von Drachen und Greifen bewacht 43 , und die Hälfte der reichen Insel Taprobane sei wegen der Elefanten und Schlangen überaus gefahrenreich und praktisch unzugänglich 44 . Die Ebstorfer Karte verrät außerdem noch, daß in Indien Riesenschlangen leben: »serpentes tam vasti ut cervos devorent et ipsum oceanum transnatent«. In Afrika, am Nil, leben Affen und der Vogel »pellicanus« 45 . Schon die sogenannte Cotton-Karte aus dem 11. Jahrhundert gibt an, daß sich an fruchtbare Gebiete Nordafrikas nur eine entvölkerte, heiße Wüste mit Schlangen und wilden Tieren anschließe: 32 Ebstorf in dem Text zu Scitia (mit Bild); Hereford (mit Bild); Vercelli: »Gens ista [...] / cum griponibus« 33 Ebstorf und Hereford (beide mit Bild); Vercelli im Text zu Asia Minor: »[...] habet bonacu animal simile boum [...]«. 34 Ebstorf (mit Bild); Higden nur im Text. 35 Hereford (mit Bild); Ebstorf zeigt das Bild eines Kamels neben Jerusalem ohne Text. 36 Ebstorf (mit Bild) und Hereford (mit Bild); Vercelli: der »eale« ist wahrscheinlich der linke Vierbeiner über dem Paradies. 37 Hereford (mit Bild); Ebstorf nennt den »manticore« nur in dem Text zu India; Aslake (Fragment 2) beim Caucasus nur noch lesbar »manticore« (Barber/ Brown [Fn. 18], S. 28). 38 Ebstorf nennt den indischen Stier nur im Text zu India; Vercelli: der »taurus« ist wahrscheinlich der rechte Vierbeiner über dem Paradies. 39 Hereford (mit Bild): »monoceroti« und »rinoceros« (beide sind nach Ägypten verschoben); Ebstorf nennt den »unicornus« nur im Text zu India; Vercelli zeigt ein Einhorn ohne Text neben dem irdischen Paradies. 40 Ebstorf (mit Bild) in der Fortsetzung des Textes zu India; Hereford (mit Bild); Vercelli: der »psittacus« ist wahrscheinlich der Vogel neben dem Paradies. 41 Ebstorf (mit Bild); Hereford (mit Bild); Higden (Text); Aslake (Text). 42 Hereford (mit Bild); Vercelli (nur Bild); Ebstorf und dieAslake- und Cornwall-Fragmente haben das Tier auch (ohne Turm), siedeln es aber ganz unten in Africa an. 43 Ebstorf: »Montes Aurei, qui propter dracones et grifes adiri non possunt.« Hereford: »Montes aureos a draconibus custodit[i].« Aslake (im Text zu Asia): »Montes aurei sunt in ista parte et a dragonibus et serpentibus custudiuntur.« 44 Schon die mappa mundi aus dem 8. Jh. in der Bibliotheca Vaticana (Vat. Lat. 6018, f. 63v - 64) hat: »Insola taberbana <<unleserlich>> bestiarum [...].« Ebstorf: »Taprobane. [...] Tota margaritis et gemmis repleta. Una pars eius homines habet, alia vero pars eius quasi dimidia bestiis et elefantis repleta est; Heac pars inhabitabilis est ob nimiam multitudinem bestiarum.« Hereford: »Taprobana [...] Sed ulterior pars elephantis et draconibus plena.« 45 Beide auf Ebstorf. Hereford hat einen Affen im Norden Europas und den »pellicanus« in Indien. 96 Margriet Hoogvliet »Zugis regio ipsa est et Affrica est enim fertis[? ] set uberor [ulterior] bestiis et serpentibus plena«. Diese Bemerkung wird von fast allen Karten übernommen 46 , und alle siedeln hier denn auch den Basilisk an, den König der Schlangen, und vieles andere Gewürm 47 . Es gibt in Africa auch andere Tiere, wie die »pantera« 48 (Panther), den »cameleopardalus« 49 (eine Kreuzung aus Kamel und Panther), den »parandrus« 50 (eine Art Hirsch), den gefährlichen »catoseplas« 51 mit seinem tödlichen Blick), die »hiena« 52 (Hyäne), den »strucio« 53 (Strauß), den »elephans« 54 (Elefant) und die »formice« 55 (Ameisen). Die Karten von Vercelli und Hereford zeigen im Süden etwas abweichende Versionen dieser Tiere 56 . Im großen und ganzen kann man sagen, daß die Karten ein extremes Klima, kalt, heiß oder sehr feucht, für die außergewöhnlichen Tiere verantwortlich machen. Außerdem beschäftigen sich die Karten mit der Frage, wo es viele Schlangen und Raubtiere gibt, und welche Gebiete frei davon sind. Es ist weiterhin auffällig, daß alle mappae mundi in groben Zügen dieselbe Verteilung der fabulösen Fauna aufweisen: Greife und Tiger im Norden, wunderliche Tiere in Indien und Schlangen im Süden. Die Weltkarten kennen auch kaum Variationen in der Auswahl der Tiere: es scheint so, als ob man nur bestimmte Tiere auf den mappae mundi abbildet. Gelegentlich findet sich auch ikonographisch ein und dersselbe Bildtypus: beispielsweise der »basiliscus« auf der Hereford-Karte und auf der Karte in der Cambridger Handschrift. Die Ebstorfer Karte und die Duchy of Cornwall- und Aslake-Fragmente situieren dieselben Tieren links unten in Afrika in nahezu derselben Reihenfolge. Peter Barber und Michelle Brown stellten in ihren Publikationen über das Aslake-Fragment (Fn. 18, S. 31) schon fest, daß sich die Monstergalerien auf der Psalter-Karte und auf den Duchy of Cornwall- und Aslake Fragmenten erstaunlich äh- 46 Psalter-Karte: »Terra arenosa et sterilis«. Ebstorf (z.B.): Desertum. Hic multitudo bestiarum, serpentium, onagrorum.« Ferner: »Sirtes maiores. Hec terra est arenosa et hominibus inhabitabilis propter immanes serpentes et nimiis solis ard[oribus].« Hereford: »Interna Affrice, ut Solinus testatur, plurime quidem bestie, set principaliter leones tenent.« Higden: »Ethiopia calidissima habet mirabiles bestias« und: »Cirses sunt loca badosa et arenosa.« Aslake: »Arcas maiores arephinorum terra hec arenosa ac sine aqua et propter sterilatem nimiam in habitata sed serpentibus plena.« 47 Schon die Münchner Karte aus dem 12. Jh. zeigte hinter dem Nil Schlangen. Hereford und die Karte in Cambridge haben genau denselben »basiliscus« in der Mitte von Africa. Ebstorf hat den »basiliscus«, zusammen mit dem »draco« und dem »aspis«, ganz oben in Africa. Ebstorf und Cornwall haben die Baumschlange »iaculus« mitten im Gebiet hinter dem Nil. Ebstorf hat unten in Africa noch weitere Schlangen: »scitalis, amphisbena, prester, cerastes, vipera, coluber, sereni«, und »emorrois«; mit vielen Bildern. Duchy of Cornwall hat auch den »scitalis«; Kliege ([Fn. 6], S. 162) liest (falsch) »squalis«. Higden nennt nur den »basiliscus«. 48 Ebstorf (mit Bild); Duchy of Cornwall (mit Bild); Aslake. 49 Ebstorf (mit Bild); Aslake: Barber/ Brown (Fn. 18, S. 36) lesen »Camelo« und »Pardalus«. 50 Ebstorf (mit Bild); Duchy of Cornwall (mit Bild); Aslake: »perandes«. 51 Duchy of Cornwall (mit Bild); Aslake (»cathiophiplas«); Ebstorf hat dieses Tier (»cateplebas«, mit Bild) im Norden am kaspischen Gebirge. 52 Ebstorf (»yena«, mit Bild); Duchy of Cornwall (mit Bild); Aslake. 53 Ebstorf (mit Bild); Vercelli zeigt den Vogel mit Reiter und einem Hufeisen im Schnabel; Hereford hat das Bild im Norden mit der Unterschrift: »[...] ferrum comedit«. 54 Ebstorf (mit Bild); Duchy of Cornwall (mit Bild); vgl. Fn. 42. 55 Hereford (mit Bild); Duchy of Cornwall (mit Bild); Ebstorf im Süden »mirmicaleon« (mit Bild) und in Indien (mit Bild). 56 Beide Karten nennen und zeigen den »Leopardus«; Vercelli bildet noch zwei Drachen ab; ferner zeigt Hereford noch einen heraldischen Löwen (»leo«); Vercelli hat noch ein Kamel (»cameli«), einen Bären, und einen Greif, der einen Drachen in seinen Klauen hält. Hic nulli habitant propter leones et ursos et pardes et tigrides 97 neln. Das scheint auch für die Auswahl und Verteilung der Tiere in Afrika zu gelten. Daraus könnte man schließen, daß die mappae mundi aus dem 13. und 14. Jahrhundert lediglich einander nachahmen, aber es gibt Indizien, daß die mappae mundi mehr als bloße Kopien sind, da die Karten noch aus vielen anderen Text- und Bildquellen schöpfen. In seinen Texteditionen mittelalterlicher Weltkarten hat sich Konrad Miller schon eingehend mit den schriftlichen Quellen der mappae mundi befaßt. Leider beschränkte er sich dabei auf die ältesten Quellen, denn seiner Meinung nach sind die mappae mundi nichts anderes als mittelalterliche Versionen der antiken Weltkarte des Agrippas 57 , die schon die gleichen Tiere wie die mappae mundi enthielt 58 . Aus diesem Grund hat Miller grundsätzlich alle nach-antiken, d.h. mittelalterlichen Vorlagen und Bildquellen außer Acht gelassen. Es ist zweifellos richtig, daß die Kartenmacher fast nirgendwo nach-antike Werke und visuelle Vorlagen auf ihren mappae mundi genannt haben. Trotzdem ist es möglich, die Benutzung einiger anderer Quellen für die Darstellung von Tieren auf diesen Karten nachzuweisen. Auf ihre Textvorlagen haben die Karten jedenfalls gelegentlich verwiesen, z.B. steht rechts unten auf der Ebstorfer Karte in roter Tinte ein Verweis auf Isidor von Sevilla: »Si quis plus nosse desiderat de animalibus bestiis volucribus piscibus serpentibus lapidibus arboribus et aromatibus Ysidorum legat«. Es handelt sich hier um das 12. Kapitel aus den Etymologiae des Isidor (ca. 570 - 636) über Tiere, Vögel, Fische, Schlangen usw. Auch die Hersteller der Hereford-Karte geben ihre Textquellen preis: neben Isidor wird Solinus (Collectanea rerum memorabilium, 3. Jahrhundert) häufig für die Tiere genannt. Daneben spürte Konrad Miller noch einige sekundäre, nicht von den Karten genannte Quellen auf. Die Hereforder Karte etwa zeigt den Strauß, den »scorpio« und im Norden den Affen nach dem Beispiel von Aethicus Ister. 59 Eine große Anzahl der Tiere in Indien auf der Ebstorfer Karte, z.B. die »serpentes tam vasti ut cervos devorent [...]« 60 , sind wörtlich dem Imago mundi (zwischen 1110 und 1139) des Honorius von Autun entnommen. Zu den üblicherweise angenommenen Quellen der mittelalterlichen Tierdarstellungen in Wort und Bild, den Bestiarien, sah Miller keinen Zusammenhang 61 . Wahrscheinlich hat er sich zu sehr von der Idee der »alten Karte« als Urbild aller mittelalterlichen Weltkarten leiten lassen, denn die Entlehnungen aus den Bestiarien sind so zahlreich, daß sich die Veränderungen in den Bestiarien vom Ende des 12. Jahrhunderts bis zum Anfang des 13. Jahrhunderts in den Weltkarten wiederfinden lassen 62 . 57 Miller (Fn. 14): »Die Karten von Hereford und Ebstorf, [und andere mittelalterliche Karten] weisen alle [...] auf die im öffentlichen Bewusstsein fortlebende Thatsache hin, dass die Augustuskarte die Grundlage der mittelalterlichen Weltkarte bildet« (S. 53). Vgl. Kugler, Hartmut: Abschreibfehler. Zur Quellenproblematik der Ebstorfer Weltkarte. In: (Fn. 17), S. 347 - 366, bes. S. 347 - 351. 58 Miller (F. 14), S. 48; und Miller (Fn. 1), Bd. VI: Rekonstruierte Karten. Stuttgart 1898, S. 147. 59 Miller (Fn. 14), S. 18. 60 Miller (Fn. 1), S. 71. 61 Miller (Fn. 14): »[...], manche Tiere [finden sich] in den Bestiarii, welche aber auch wieder aus den Karten schöpften, und im Physiologus; eine direkte Beziehung ist nicht nachweisbar.« (S. 49). 62 Für die Entwicklung vom lateinischen Physiologus zu den Bestiaria verwende ich hier die Wortwahl Florence McCullochs: Mediaeval Latin and French Bestiaries. Chapel Hill 1960, S. 28 - 40. Nach dem lateinischen Physiologus unterscheidet sie eine intermediäre erste Familie: De bestiis et aliis rebus des Pseudo- Hugo von Sankt Viktors und eine Fassung mit Interpolationen aus Isidors Etymologiae (B-Is Version). Am Ende des 12. Jahrhunderts folgt das eigentliche Bestiarium: zunächst das der zweiten Familie, später, im 13. Jh., das der dritten Familie und das der vierten Familie. 98 Margriet Hoogvliet Ein gutes Beispiel ist das »yena« auf der Ebstorfer Karte. Der Wortlaut der Beschreibung der Hyäna als Aasfresser - es frißt Leichen aus Gräbern - stimmt genau überein mit einer frühen Fassung des Bestiariums De bestiis et aliis rebus (12. Jahrhundert) 63 . Uwe Ruberg 64 hat den nur fragmentarisch erhaltenen Text zum »ibex« auf derselben Karte mit Hilfe des De bestiis ergänzen können. Für Ruberg bietet dieser Quellentext »keinen Anhaltspunkt für eine mögliche Spätdatierung«, denn ihr Grundgedanke finde sich schon in den Moralia Gregors des Großen (6. Jahrhundert). Dem steht gegenüber, daß Florence McCulloch (Fn. 62, S. 31) Gregor den Großen zu den wichtigsten Quellen von De bestiis zählt, und deswegen ist die thematische Ähnlichkeit nicht erstaunlich. Das Zitat allein, das Wort für Wort aus De bestiis übernommen wurde, ist schon ein ausreichender Beleg für den Gebrauch dieses Textes durch die Ebstorfer Karte. Es gibt noch einige genauere Hinweise auf die Verwendung einer späteren Stufe aus der Entwicklung des Bestiariums für die Konstruktion der mappae mundi , das sogenannte Bestiarium der zweiten Familie vom Ende des 12. Jahrhunderts (s. Fn. 62). Dieser Text basiert größtenteils auf den intermediären Fassungen, aber unterscheidet sich von diesen durch eine große Anzahl Ergänzungen, besonders Zitate aus Solinus, Isidor und aus dem Hexameron des Kirchenvaters Ambrosius. Auch die Ikonographie des Miniaturenprogramms enthält mehrere Erneuerungen. Eine Ergänzung aus Solinus im Bestiarium der Zweiten Familie ist das Tier »eale«, ein schwarzes Huftier mit beweglichen Hörnern. In der Beschreibung des Solinus hat dieses Tier »maxillis aprinis« (den Kiefer eines Wildschweins). In einigen Versionen des Bestiariums der Zweiten Familie ist dieser Ausdruck falsch als »maxillis caprinis« (den Kiefer einer Ziege) geschrieben 65 . Genau dieser Fehler findet sich auch in den Ebstorfer und Hereforder Karten, und es ist unwahrscheinlich, daß verschiedene Schreiber denselben Abschreibfehler gemacht haben sollen. Dasselbe gilt für das Tier »parandrus« auf der Ebstorfer Karte und im sogenannten Cambridge-Bestiarium (13. Jahrhundert), wo in beiden Fällen »bisulco vestigio« (Paarhufe) falsch als »ibico vestigio« geschrieben ist 66 . Die Hereford-Karte erzählt von dem Raub der Tigerjungen, und daß der Räuber das nachjagende Muttertier mit einem Spiegel täuschen konnte 67 . Wie Miller schon bemerkte, stammt diese Anekdote aus Ambrosius (Hexam. 6,4), aber sie wurde vom Bestiarium der Zweiten Familie übernommen und dort zum ersten Mal illustriert. Eine spätere Karte, die Borgiakarte aus der Biblioteca Vaticana (15. Jahrhundert) 68 , siedelt noch immer in Übereinstimmung mit der mittelalterlichen Überlieferung Tiger und Löwen im Norden an und verwendet bei der Abbildung des Tigers das Spiegelmotiv der Bestiarien. 63 McCulloch (Fn. 62), S. 131. 64 Die Tierwelt auf der Ebstorfer Weltkarte im Kontext mittelalterlicher Enzyklopädik. In: (Fn. 17), S. 319 - 346, hier S. 345. 65 McCulloch (Fn. 62), S. 191. 66 McCulloch (Fn. 62), S. 150. Cambridge University Library, Ms Ii.4.26, f. 16. Reproduktion dieser Handschrift in James, Montague Rhodes: The Bestiary; Being a reproduction in Full of the Manuscript Ii.4.26 in the University Library, Cambridge, With Supplementary Plates from Other Manuscripts of English Origin, and a Preleminary Stury of the Latin Bestiary as Current in England. Oxford/ The Roxburghe Club 1928. 67 »Tigris bestia cum catulum suum captum percipit, concito cursu persequitur cum catulo fugientem. At ille velocis equi cursu in fugam properans speculum ei proicit et sic liber evadit.« 68 Vaticano: Biblioteca Apostolica Vaticana, Borgia XVI (galerie), Kupfer, ∅ 63 cm. Abbildung: Destombes (Fn. 2), pl. XXIX. Hic nulli habitant propter leones et ursos et pardes et tigrides 99 Die Beschreibung vieler neu in das Bestiarium der Zweiten Familie aufgenommener Tiere stammt von Autoritäten wie Solinus und Isidor. Die Herkunft der Ikonographie steht hingegen nicht mit Sicherheit fest, denn es gibt keine ununterbrochene bildliche Überlieferung dieser Tiere, weder in den Handschriften noch in anderen Medien. Manche Tiere wurden zum ersten Mal nach einer Unterbrechung von mehreren Jahrhunderten im Bestiarium der Zweiten Familie gezeigt, und andere Tiere, die schon in der Antike und im frühen Mittelalter abgebildet wurden, tauchen jetzt im 12. Jahrhundert mit einer veränderten Ikonographie auf 69 . Viele dieser Tiere, die im Bestiarium der Zweiten Familie erstmals (oder erneut) erscheinen wie »manticora, eale, parandrus« und »bonnacus«, sind auch auf den mappae mundi abgebildet, für die das illustrierte Bestiarium der Zweiten Familie die einzige verfügbare Bildquelle und Autorität war. In mehreren Fällen gibt es eindeutige Hinweise, daß dieses Bestiarium die visuelle Vorlage für die »pictores« der mappae mundi bildete. Zum Beispiel sprechen die Texte der Ebstorfer Karte nicht von den spiralförmigen Hörnern des »bonacus«, doch er wird mit ihnen dargestellt. Die einzige verfügbare Vorlage für die »pictores« aber war die Abbildung im Bestiarium der Zweiten Familie. 70 Dieselbe Karte zitiert nur Isidor über die »pantera« - sie sei befreundet mit allen Tieren und die Jungen reißen mit ihren Klauen den Schoß der Mutter auf -, wie aber Ruberg (Fn. 64, S.327) festgestellt hat, beruht die Abbildung auf einer Anekdote, die bereits im Physiologus steht. Dort und in den Bestiarien wird erzählt, daß die »pantera«, drei Tage nachdem sie gefressen hat, durch ihren sehr wohlriechenden Atem alle Tiere, außer dem »draco«, anzieht. Die Abbildung mit der Beischrift: »Hic est pantera et alie multe immanes bestie« weicht von den ältesten Versionen ab und ist fast identisch mit einer Miniatur im sogenannten Cambridger Bestiarium (13. Jahrhundert) 71 . 69 Die antike Herkunft der Tiere wird häufig behauptet, ist aber umstritten. Eine gute Zusammenfassung der Diskussion bei: Muratova, Xenia: Problèmes de l’origine et des sources des cycles d’illustrations des manuscrits des Bestiaires. In: Epopée animale, fable, fabliau. Actes du IV e Colloque de la Société Internationale Renardienne. Évreux 1981. Hrsg. von G. Bianciotto (u.a.). Paris 1981, S. 383 - 408, bes. 384 - 385; und: Klingender, Francis: Animals in Art and Thought to the End of the Middle Ages. London 1971, S. 384 f. 70 Wie Miller schon bemerkte, stammt der »bonnacus« aus Solinus (40: 10 - 11), doch entspricht die Abbildung derjenigen in den Bestiarien. Vergleichbar mit dem Jäger (mit einem Schild) des »bonnacus« auf der Ebstorfer Karte ist: Cambridge, Fitzwilliam Museum 254, f. 24 r (McCulloch [Fn. 62], S. 98) und: Westminster Abbey Library, Ms 23, f. 32 r (13. Jh.), Abbildung in: Porsia, F. (Hrsg.): Liber monstrorum. Bari 1976, Abb. IX. Vergleichbar mit dem »bonnacus« der Hereford-Karte ist: Paris, B.N., Ms. lat. 3630, f. 78 (13. Jh.). Einige falsche Deutungen dieses Tieres: Hahn-Woernle, Birgit: Die Ebstorfer Weltkarte. Ebstorf 1989: »Diese Geschichte ist wohl zur Zeit der Kreuzzüge entstanden: die einheimische Landbevölkerung, symbolisiert hier im Ochsen, ihrem wichtigsten Tier, wehrt sich gegen die Eindringlinge und verbrennt das Land.« (S. 45). S. auch Arentzen, Jörg-Geerd: Imago Mundi Cartografica. Studien zur Bildlichkeit mittelalterlicher Welt- und Ökumenekarten unter besonderer Berücksichtigung des Zusammenwirkens von Text und Bild. München 1984 (Münstersche Mittelalter-Schriften, Bd. 53): »[...] die Zeichnung des Kreuzritters oberhalb Konstantinopels.« (S. 169). 71 Vgl. Fn. 66, f. 4; Ruberg (Fn. 64), Abb. 4. Im allgemeinen folgen die Tiere der »pantera« (vgl. McCulloch [Fn. 62], Abb. VI, 4 = Ms Bodley 602 [spätes 12. Jh.], f. 20). In der ältesten illustrierten Handschrift des Physiologus (Bern, Stadtbibliothek, Codex 318 [9. Jh.]) befindet sich die »pantera« in einer Höhle. Vgl. Woodruff, Helen: The Physiologus of Bern. A survival of Alexandrian Style in a Ninth Century Manuscript. In: The Art Bulletin 12 (1930), S. 226 - 253; hier: S. 249 (fig. 26 = f. 15 r ). 100 Margriet Hoogvliet Schließlich stimmt die Hereford-Karte in mehreren Einzelheiten mit dem französischen Bestiaire des Pierre de Beauvais (vor 1218) überein: vom Vogel »avalerion« gebe es nur ein Paar 72 , der Greif könne einen Ochsen tragen 73 und der Strauß Eisen verdauen 74 . Es ist nicht sicher, ob Pierre de Beauvais wirklich eine der Vorlagen für die Hereford-Karte war, es könnte auch sein, daß beide aus derselben lateinischen Quelle schöpften. Die Frage nach der Bedeutung der Tiere auf den mappae mundi ist noch nicht oft behandelt worden. Jedenfalls ist klar, daß die Tiere nicht, wie häufig behauptet, allein aus individueller Einbildungskraft geschaffen wurden, sondern sie sind in den meisten Fällen von Autoritäten übernommen. Zweifellos sind die mappae mundi regelrechte Kompilationen 75 , vergleichbar mit den mittelalterlichen Enzyklopädien oder Summae. Der Gebrauch mehrerer Quellen läßt sich - wie im Falle des »bonnacus« - aus der Diskrepanz zwischen Beschreibung und Abbildung mehrerer Tiere ableiten: der »bonnacus« auf der Ebstorfer Karte hat Hörner, die nicht in der Textüberlieferung genannt wurden; andererseits spricht die Hereford-Karte vom Einhornfang durch eine reine Jungfrau, hat diesen Topos aus den Bestiarien aber nicht abgebildet. Vermutlich wurden Texte und Abbildungen aus verschiedenen Vorlagen auf der Karte zusammengebracht. Ein Zusammenhang zwischen der Ebstorfer Karte und der mittelalterlichen Enzyklopädik ist schon von Ruberg (Fn. 64) vorgeschlagen worden 76 . Seiner Meinung nach ist die räumliche Anordnung der Tiere auf der Karte und in den vier Aussenlegenden vom Ordnungsprinzip der Schöpfung und der vier Elemente bestimmt 77 , und zwar genauso wie in den Enzyklopädien. Jedoch läßt sich eine solche Verteilung auf der Ebstorfer Karte (und auf anderen Karten) nicht eindeutig feststellen. So kann man seiner Behauptung, die Flugtiere bevölkerten die obere Kartenhälfte, entgegenhalten, daß sich die Mehrzahl der Tiere dort befindet. Auch in den Außenlegenden ist die Vierteilung nicht eindeutig: Der Text über dem »pantera« beginnt rechts oben und setzt sich rechts unten fort. Nach dem »pantera« folgen hier noch »castor, ursus« und »simia«, erst dann die Schlangen (»draco, vipera« usw.), doch ist danach von »sulphur«, und »alumen« die Rede, und schließlich 72 »Avalerion par in Mundo«. McCulloch (Fn. 62), S. 197 - 198. Der »alerion« wird auch in dem altfranzösischen Brief des Priesters Johannes erwähnt (ca. 1190); Gosman, Martin (Hrsg.): La lettre du Prêtre Jean, édition des versions en ancien français et en ancien occitan. Groningen 1982 (Medievalia Groningana, fasc. II), S. 158 f., v. 61 f. 73 »Griphes [...] volando bovem portabunt«. Die Abbildung zeigt trotzdem den Kampf mit den »Arimaspi« (McCulloch [Fn. 62], S. 123). Links unten auf der Vercelli-Karte ist ein Greif abgebildet, der einen Drachen trägt. 74 »Ostricus [...] ferrum comedit«. Die Vercelli-Karte hat links unten einen Strauß mit einem Hufeisen in seinem Schnabel (McCulloch [Fn. 62], S. 146 f.). Vgl. auch Alexander Neckam (1157 - 1217): De natura rerum, (Cap. L) und Thomas von Cantimpré (1201 - 1263/ 72): Liber de natura rerum, (5, 110, 29). 75 Vgl. Kugler: »Die Ebstorfkarte [kann] aus einer Mehrzahl von Quellen erarbeitet sein, und zwar sowohl aus Buchwie aus Kartenquellen.« ( [Fn. 57], S. 365 ). 76 Vgl. auch Brincken (Fn. 6, 1992): Kapitel II. 7: »Das 13. Jahrhundert - Summenliteratur in Wort und Bild« (S. 77 - 97). 77 Ruberg (Fn. 64), S. 335: »Die Flugtiere bevölkern den oberen, die Kriechtiere dagegen vornehmlich den unteren Halbkreis des Orbis. Diese Zuordnungstendenz dürfte eine Wurzel in den alten systematischen Vorstellungen über die Anteile und Wirkungen der vier Elemente haben [...].« und S. 343: »Durch den programmatischen Ausgang vom Sechstagewerk des Schöpfers reiht sich die Ebstorfkarte unmißverständlich in die Gattungstradition der Enzyklopädik ein«. In den Außenlegenden unterscheidet Ruberg der Reihenfolge des Schöpfungswerkes gemäß: links oben »volatila«, links unten »pisces« (postuliert), rechts oben »quadrupedia«, rechts unten: »serpentes«. Hic nulli habitant propter leones et ursos et pardes et tigrides 101 werden Tiere von Inseln behandelt. Dieser Text wird links unten fortgesetzt. Rechts oben sind zwei Textkolumnen über Vögel (aus Isidor, XII. Kapitel) und De regione pene inhabitabili (aus Aethicus) durcheinander geschrieben. Die Anwesenheit der »pisces«, links unten, wo die Karte beschädigt ist, beruht auf bloßer Annahme (Fn. 78). Meiner Meinung nach stehen die mappae mundi in einem viel eindeutigeren Zusammenhang mit den schriftlichen Weltbeschreibungen. Der Terminus »mappa mundi« wurde auch für die literarische Gattung benutzt 78 , und diese Texte tauchen gelegentlich als selbständige Kapitel in Enzyklopädien auf 79 . Die Kartenmacher haben sie offenbar für ihre mappae mundi konsultiert, denn die Karten folgen erkennbar der inneren Einteilung dieser Texte. Wörtlich wird z. B. aus dem XIV. Kapitel (De terra et partibus) der Etymologiae des Isidor von Sevilla zitiert; der nördliche Teil der Hereford-Karte entspricht Aethicus Ister, der Nordosten auf der Ebstorfer Karte entspricht dem Imago mundi des Honorius von Autuns und eine Anzahl der Tiere im Süden auf der Ebstorfer Karte und auf den Fragmenten stammt aus Solinus. Ein fester Bestandteil dieser Weltbeschreibungen sind die Tiere. Die Texte listen fast immer diejenigen Tiere auf, die charakteristisch für die unterschiedlichen Regionen der Welt sind 80 . Auch die Bestiarien erwähnen häufig die Verbreitung der Tiere 81 . Von daher liegt es nahe, diese beiden Überlieferungen auch bildlich auf der Kartenoberfläche zu kombinieren. Wahrscheinlich hat man zu Anfang des 13. Jahrhunderts die folgenden drei verschiedenen Sichtweisen auf den mappae mundi zusammengebracht: »leere« kartographische Vorstellungen der Welt, literarische Weltbeschreibungen und illustrierte Bestiarien. Insofern zeigt sich hier eine Analogie zwischen mappae mundi und den mittelalterlichen Enzyklopädien: die mappae mundi sind gewissermaßen visuelle Kompilationen. Es gibt auf den mappae mundi keine ausdrücklichen Hinweise auf einen »sensus spiritualis« und daher auch nicht auf eine moralische oder spirituelle Interpretation der Tiere. Die 78 Diese Verwendung des Terminus »mappa mundi« wurde zuerst von Richard Uhden bemerkt: Gervasius von Tilbury und die Ebstorfer Weltkarte. In: Jahrbuch der Geographischen Gesellschaft zu Hannover (1930), S. 185 - 200, hier S. 199, Anm. 73. Eine jüngere Besprechung in: Gautier Dalché (Fn. 11) 23, S. 87 - 95. 79 Z.B. Richard von Sankt-Viktor: Liber exceptionum. Liber III: De situ terrarum; Bartholomäus Anglicus: De proprietatibus rerum. Buch XV: De regionibus; Vinzenz von Beauvais: Speculum Naturale. Liber XXXII: De tribus orbis partibus. 80 Z.B. Isidorus, C. XIV »De terra et partibus«; India: »Gignit autem [...] elephantos ingentes, monoceron bestiam, psittacum avem [...].« (XIV,iii,6). Ultima Africae: »regio gignens feras, simias, dracones et struthiones.« (XIV,v,12). Aethiopia: »Ferarum quoque et serpentia referta est multitudine. Illic quippe rhinoceros bestia et cameleopardus, basiliscus, dracones ingentes [...].« (XIV,v,15). (Oroz Reta, J.; Marcos Casquero, M.-A. (Hrsg.): San Isidoro de Sevilla: ›Etimologías‹. Edicion bilingüe. Madrid 1982 (Biblioteca de autores Christianos declarada de interés nacional, Bd. 433). - Honorius von Autun, Imago mundi (I, 12: De bestiis) nennt: »serpentes tam vasti ut cervos devorent« (nicht in den Bestiarien, aber zitiert und abgebildet auf der Ebstorfer Karte), »Ceucrota, Eale, fulvi tauri, Mantichora, boves tricornes, monoceros.« (Flint, V. I. J.: Honorius Augustodunensis Imago Mundi. In: Archives d’histoire doctrinale et littéraire du Moyen Age 57 (1982), S. 7 - 153. 81 Einige Beispiele aus dem Cambridger Bestiarium: »In Asia animal nascit[ur] q[uo]d bonnacon dicunt.« (f. 10); »In India nascitur bestia que manticora dicitur.« (f. 15 v ); »Ethiopia mittit bestiam parandrum nomine.« (f. 16); »Camelus [...] alie regiones mittunt, s[ed] Arabia plurimos. Bactri camelos fortissimo[s] [...]« (f. 24); »Sola India mittit auem psitacu[m] [...]« (f. 33); «Fenix Arabie auis dicta [...]« (f. 36). 102 Margriet Hoogvliet einzige Ausnahme ist der »ibex« auf der Ebstorfer Karte. Hier hat man, wahrscheinlich durch eine Unaufmerksamkeit, die spirituelle Auslegung des Textes De bestiis et aliis rebus mitkopiert. In allen anderen Fällen ist nur der sensus literalis aus der Vorlage übernommen worden. Trotzdem ist eine gewisse positive oder negative Bewertung der Tiere auf den Karten spürbar: Extreme Kälte oder Hitze bringt gefährliche Tiere hervor, und diese Gebiete sind für Menschen nicht zugänglich. Es ist daher nicht zufällig, daß die Ebstorfer Karte auch für Reisende gedacht war, aber, wie es im selben Text heißt, sie hält ebenso zur Kontemplation an: »Mappa [...] que scilicet non parvam prestat legentibus utilitatem, viantibus directionem rerumque viarum gratissime speculationis dilectionem.« Die mappae mundi beschreiben nur den sensus literalis der Tiere, aber sie bieten eine weitergehende Interpretationsmöglichkeit an, indem die literale Bedeutung den Betrachter auf die moralische Bedeutung, die in den Bestiarien enthalten ist, verweist 82 . Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Tiere auf mittelalterlichen Weltkarten nicht als bedeutungslose Zusätze zu verstehen sind, sondern daß sie den Gebrauch und die Interpretation der mappae mundi steuern. 83 82 Auch hier gibt es eine Analogie zu den Enzyklopädien, wo oft nur der »sensus literalis« genannt wird, der aber einen »sensus spiritualis« konnotiert. Vgl. Meyer, Heinz: Zum Verhältnis von Enzyklopädik und Allegorese im Mittelalter. In: Frühmittelalterliche Studien. Jahrbuch des Instituts für Frühmittelalterforschung der Universität Münster 24 (1990), S. 290 - 313: »Im Hinblick auf die Funktion der Werktypen als Hilfsmittel für die Bibelauslegung ist festzuhalten: Die naturkundlichen Beschreibungen der Enzyklopädien legen dem Exegeten eine Liste von deutungsfähigen Eigenschaften vor, ohne selbst in den Auslegungsprozeß einzugreifen.« (S. 302); vgl. auch: Van den Abeele, Badouin: Bestiaires encyclopédiques moralisés. Quelques succédanés de Thomas de Cantimpré et de Barthélemy l’Anglais. In: Reinardus 7 (1994), S. 209 - 228. 83 Ich habe eine Publikation in Vorbereitung über die spirituelle Deutung der mappae mundi. Mappae mundi and Medieval Hermeneutics of Cartographical Space. In: P. F. Ainsworth (et al.) (eds.). Regions and Landscapes in the Middle Ages. (Forthcoming). Monster und Dämonen am Kirchenbau Peter Dinzelbacher (Salzburg) Von der Skulptur des Mittelalters schrieb Henri Focillon 1 , wenn auch nicht ohne Übertreibung: »Elle est l’image du monde, et non seulement de la création tout entière, mais d’un cycle historique, d’une société, d’une manière de vivre, de sentir et de penser. Elle contient probablement le Moyen Age tout entier.« Ein Teil dieser Welt bestand aus höchst unheimlichen Gestalten, Monstern, Fabelwesen, Tiermenschen, Masken ... Keine zeitgenössische Quelle sagt explizit, was diese versteinerten Wesen und Unwesen im Zwielicht von Tag und Nacht, am Rande von bekannter Welt und unbekanntem Jenseits wirklich bedeuten sollten. So sind der Deutungsmöglichkeiten viele. 1 Focillon, Henri: L’art des sculpteurs romans. 3. Aufl. Paris 1982, S. 7. Canterbury, Krypta, um 1100. 104 Peter Dinzelbacher Entstehung Daß die Architektur des Kultbaus nicht nur von den Statuen und Bildern der Gottheiten bewohnt wird, sondern auch von anderen, bisweilen anscheinend kaum in der jeweiligen Mythologie verankerten Wesen oft monströsen Charakters, ist eine religionswissenschaftlich vollkommen geläufige Erscheinung. Um nur die Tempel des klassischen Altertums zu zitieren: hier gab es Löwenhäupter als Wasserspeier, Schlangen, Sphingen, Gorgonen in den Zwickeln der Tympana u.ä. Eine durchgehende Kontinuität in die christliche Epoche ist jedoch nicht festzustellen. Im Gegensatz zu den frühmittelalterlichen Bauten sind erst die der Romanik geradezu heimgesucht von monströsen Gestalten. Stellt man sich einmal vor Augen, in wie vielen Kirchen nach der Jahrtausendwende fast jede Konsole einen Teufel trägt, jede Basis eine Tierfratze, jedes Kapitell eine Versuchung zur Sünde, dann wird man das dämonisch-angstbesetzte Element in der gelebten Religiosität jener Zeit nicht unterschätzen. Ebenso unzählbar sind die Initialminiaturen der Handschriften, in denen Menschen von Bestien verschiedenster Gestaltung angegriffen werden oder diese gegeneinander kämpfen. Wie sehr Bild und Wesen in eins gesetzt wurden, erweisen die zahllosen Manuskripte, in denen die Teufelsdarstellungen ausgekratzt sind, die zahllosen Plastiken, wo nur die Dämonen beschädigt wurden ... 2 Mit großer Wahrscheinlichkeit liegt an der Wurzel der steigenden Präsenz des Dämonischen im hohen Mittelalter als ein wichtiger Faktor jene asketische Wendung, die sich besonders in der Cluniazensischen Reform und ihren Ausstrahlungen manifestierte. Schon Werner Weisbach hat angesichts der explosionsartigen Zunahme entsprechender Darstellungen in der Romanik vermutet, daß die Kirchenreform »dem Umsichgreifen solcher Angstgeburten Vorschub leistete. Indem Tiere und Monstra zur Versinnbildlichung des Bösen, der Sünde und der Hölle eine ausgiebige Verwendung fanden, verband sich mit der Darstellungsaufgabe eine mit geistlich-didaktischen und moralischen Absichten in Beziehung stehende Bestimmung.« Nicht zufällig finden sich die Unwesen am Kirchenbau gehäuft an den Fassaden bzw. im Bereich der Portale: »Es war beabsichtigt, in diesen Gebilden das Schreckenerregende und Grauenhafte zu veranschaulichen und dem Kirchenbesucher am Eingang vor Augen zu führen, um ihn zur Buße aufzurufen.« 3 Nicht zufällig erscheint auch Burgund als Zentrum der romanischen Dämonen- und Tierplastik und die Benediktinerkirchen auch in anderen Regionen als hauptsächliche Träger dieser Ikonographie, denn diese Landschaft und dieser Orden standen am Ursprung der Reformbewegung. Die Umdeutung auch eher neutraler antiker Figuren (wie der Terra Mater in die Luxuria, den Dämon der Unkeuschheit) in der figuralen Kunst des hohen Mittelalters ist ein sprechendes Symptom der Intensivierung des Diabolischen. 4 Mit noch größerer Wahrscheinlichkeit hat dann die gegenseitige Verteufelung, die die beiden Parteien im großen Streit zwischen Regnum und Sacerdotium, im Investiturstreit, einander angedeihen ließen, die Ausbreitung des Dämonischen in Wort und Bild ganz generell gefördert. 2 Beliebige Beispiele: Link, Luther: The Devil. London 1995, S. 47; 103 (38). 3 Religiöse Reform und mittelalterliche Kunst. Zürich 1945, S. 90, 92; vgl. S. 84 f., S. 141 ff. und pass. 4 Hamann, Richard: Kunst und Askese. Bild und Bedeutung in der romanischen Plastik in Frankreich. Worms 1987, S. 43 - 64. Monster und Dämonen am Kirchenbau 105 »Gregorianische Mönche, Kirchenmänner, Literaten verteufeln Heinrich IV. (und seine Nachfolger als Könige und Kaiser des ›Heiligen Römischen Reiches‹ bis zu Friedrich II.). Eine königliche Gegenpropaganda möchte dem furchtbaren Feind (hat er nicht in jedem Kloster, in jedem Bischofssitz heimliche Verbündete? ) nichts schuldig bleiben: Papst Gregor VII. wird als ein plebejischer Lump, ein Satanssproß, erfüllt von teuflischem Hochmut, dargestellt.« 5 Diese Propaganda blieb durchaus nicht auf Briefe und Disputationen zwischen den gelehrten Kirchenmännern beider Seiten beschränkt, sondern wurde auch den Laien gepredigt. Ein nicht weniger wichtiger Anlaß für die wachsende Präsenz des Dämonischen war gewiß die Konfrontation mit dem radikalen Dualismus der Katharer, die nur wenige Jahre nach der offiziellen Beilegung des Investiturstreites auftreten und bis zu ihrer Vernichtung durch die Albigenserkreuzzüge und die Inquisition geradezu eine eigene Konfession »avant la lettre« bilden, die erste ernstliche Konkurrenz zum Katholizismus. Diese »Sekte« sah den Teufel als Gegengott und keineswegs nur als eigentlich schon von Christus überwundenen Versucher. 6 Wie auch auf anderen Gebieten, wo man Elemente der Häresie in den Katholizismus übernahm, 7 führte die theologische Beschäftigung mit dem ketzerischen Dualismus zu einer Intensivierung des ohnehin latenten Dualismus der Großkirche. 5 Heer, Friedrich: Abschied von Höllen und Himmeln. Eßlingen 1970, S. 118. 6 Manselli, Raoul: Dämonen. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. 3, Sp. 482. 7 Dinzelbacher, Peter: Heilige oder Hexen? Zürich 1995, S. 245. Vézelay, um 1130. 106 Peter Dinzelbacher Grundlegender noch dürfte jene emotionale Sensibilisierung der Intellektuellen des hohen Mittelalters gewesen sein, die, positiv gewendet, den Hintergrund sowohl für Innovationen wie die theoretische als auch die praktische Mystik darstellte, namentlich für die Brautmystik, aber auch den Hintergrund für entsprechende Entwicklungen im profanen Bereich, speziell Amour courtois bzw. höfische Minne. 8 Es wäre verwunderlich, wenn die dunklen Seiten des emotionellen Lebens damals nicht gleichermaßen deutlicher ins Bewußtsein getreten wären, Haß und Angst nicht vermehrt auf Sündenböcke projiziert worden wären, auf irdische (Heiden und Juden) wie auf unirdische (Dämonen). Die fortschreitende Durchdringung der Gläubigen mit der im Grunde dualistischen Lehre des Christentums machte den Teufel zu einer immer häufiger herangezogenen Projektionsgestalt für die eigenen Ängste und Aggressionen. Sollten diese nicht auch eine Antwort auf die Ansätze einer tendenziell vom religiösen Bereich unabhängigen Laienkultur, wie sie sich seit dem 12. Jahrhundert zeigten, gewesen sein? Wenn die Laien besonders in den Städten dem System zu entgleiten drohten, mochte eine Intensivierung aller Glaubens-Aspekte der Geistlichkeit als angemessene Reaktion erschienen sein. Orte Als Elemente der Bauplastik treten Dämonen und Monstren nie zentral, sondern immer in Randzonen auf: wo sich Grund und Säulen treffen (Basen), wo letztere enden (Kapitelle), wo die Vertikale der Wand auf die Schräge des Daches trifft (Friese), wo die Feste der Wand sich nach innen öffent (Tor- und Fensterlaibungen), wo der heilige Raum (vgl. »templum«) aus dem profanen Umraum herausgeschnitten wird (Vorhalle, Chorabschluß). Es sind dies tatsächlich Orte des Zwielichts, der unvermittelten Hell-Dunkel-Kontraste, die Anteil haben sowohl an der Helle der Eingänge und Fenster als auch dem Dunkel des Kircheninneren. Auch wo der Turm den Umraum visuell und seine Glocken akustisch beherrscht, liegt der äußerste Rand des von Menschen für Gott Geschaffenen. Betrachtet man die Bauplastik der Romanik (und auch späterer Epochen) insgesamt, so läßt sich oft eine »Abstufung des sakralen Gehalts« 9 konstatieren: Die skulptierte Umrahmung der Tore zeigt im Tympanon, d.h. im Zentrum, die Figuren der Glaubenswelt und Heilsgeschichte (Christus, Maria, Heilige ...), um und unter ihnen gelegen Zonen minderer Heiligkeit (Figuren des Alten Testaments ...), symbolischer Aussagen (Tiergestalten ...), Ornamente (vegitabile und geometrische Formen). Auch Innenraum und Außenwand besetzten unterschiedliche sakrale Dignität: Während die romanische Kirche von Saint-Pierre in Aulnay-de-Saintong außen überquillt von skurrilen und lasziven Figuren, ist das Innere nur heilsgeschichtlichen Darstellungen vorbehalten: »[...] denn die, die außen sind, wird Gott richten« (1. Kor 5, 12). Auch die Gotik beachtet in der Regel solche Hierarchien: So ist oft der Bereich, in dem der Hauptaltar steht, Chor und Chorquadrat, freigehalten von Darstellungen der dunklen Wesenheiten. Oder: Die Statuen der Heiligen stehen gern unter einem Baldachin, einem Würdezeichen, das auch das Himmlische Jerusalem verkörpert. Unter ihnen, als tra- 8 Dinzelbacher, Peter: Christliche Mystik im Abendland. Paderborn 1994, S. 92 ff. 9 Ganter, Joseph: Romanische Plastik. Wien 1948, S. 26 ff. u.ö. Monster und Dämonen am Kirchenbau 107 gende Konsolen, kommen nicht nur typologische Figuren vor (z.B. Propheten unter Aposteln), sondern die ganze Halbwelt der Mischwesen und Teufelsfiguren. Insofern die Kirche ein Abbild des christlichen Kosmos sein sollte, waren die Rand- und Sockelzonen der richtige Platz in der Hierarchie der Geschöpfe für Dämonen und Monstren. Daran hielten sich auch die Buchmaler, die ihre »Drolerien« kontrapostisch zum heiligen Zentrum der Seite dem heiligen Text oder seiner Verbildlichung - anordneten 10 und die Bildhauer, die ähnliche Figuren im Inneren des Kirchenraums abseits an Konsolen und Miserikordien, in Zwickeln und Schlußsteinen anbrachten. Sie klettern zwar den Aufgang zu einer Kanzel hinauf, sind aber vom Korb, der traditionellerweise die Kirchenväter zeigt, ausgeschlossen. 11 Formen Wenn es auch richtig ist, daß gerade im Bereich der an Kapitellen, Gewänden, Friesen etc. angebrachten figuralen Skulptur oft rein formale Tendenzen wie die axiale Symmetrie, das Ineinanderschieben von Körpern oder der »horror vacui« die Komposition bestimmten 12 und auf diese Weise etwa doppelleibige Löwen mit nur einem Kopf entstehen konn- 10 Kröll-Camille, Michael: Image on the Edge. London 1992. 11 Vgl. Gerhardt, Christoph: Der Hund, der Eidechsen, Schlangen und Kröten verbellt. Zum Treppenaufgang der Kanzel im Wiener Stephansdom. In: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 38 (1985), S. 115 - 132, 291 ff. 12 Vgl. Michel, Paul: Tiere als Symbol und Ornament. Wiesbaden 1979, S. 22. Sens, Basilisk und Skiapode. 108 Peter Dinzelbacher ten, so haben doch wohl alle fabelhaften Wesen der mittelalterlichen Bildwelt eine lange Geschichte, was ihre Gestaltung betrifft. Auch wo sie ad hoc Erfindungen zu sein scheinen, wie etwa im Œuvre eines Hieronymus Bosch, lassen sich Vorläufer feststellen. Neues entstand oft durch die Veränderung oder Kombination älterer Motive. Die Bildhauer, die die romanischen Kirchen mit Skulpturen ausstatten, benützten gezeichnete und gemalte Vorlagen und orientierten sich an Überresten der römischen Skulptur, die in Frankreich und Italien noch vielfach in situ zu sehen waren. 13 Menschen verschlingende Untiere der gallorömischen Kunst konnten durchaus im Mittelalter wieder aufgegriffen werden. 14 Man »benutzt im Bedürfnis nach Gestaltung der dunklen Mächte die von der Antike vorgebildeten und geläuterten Gestalten der antiken Götter, um sie von neuem zu dämonisieren und zu bestialisieren ...« 15 Die Meister der Bauhütten hatten ihr Handwerk eingebunden in Traditionen gelernt und verfügten über Musterbücher. Außerdem gehörten diese Handwerker verständlicherweise zu den mobilsten Teilen der mittelalterlichen Gesellschaft - war eine Kirchenausstattung fertiggestellt, mußten sie notwendigerweise weiterziehen. So wird verständlich, daß man von Süditalien bis Schweden oft derselben Formensprache und Ikonographie begegnet. Nun ist in der Regel nicht daran zu denken, daß der Leiter eines Bildhauerateliers mit einem der entsprechenden antiken Autoren über Monster, etwa Plinius oder Solinus, oder einer einschlägigen mittelalterlichen Enzyklopädie, etwa Isidor von Sevilla oder Hrabanus Maurus in der Hand seine Entwürfe konzipierte. Vielmehr wurden die Ikonographie wohl stets von den geistlichen Auftraggebern vorgegeben, die Zugang zu solchen Quellen besaßen, die teilweise mit Bildern nach spätantiken Vorwürfen versehen waren. 16 Die berühmten Revuen monströser Rassen an romanischen Trichterportalen wie dem von Saint-Pierre in Aulnay (1119/ 35) oder dem von Vézeley (um 1120) entstammen eindeutig solchen gelehrten Traditionen. Sie waren den Auftraggebern leicht zur Hand, denn eine Menge dieser unheimlichen Gestalten, von denen man nicht wußte, ob sie nur im Traum existierten oder auch im Wachleben, ob sie Dämonen in ihren Urgestalten waren oder nur Kuriositäten am Rande der zugänglichen Welt, sperrte man, säuberlich klassifiziert, in Bücher ein: Bestiarien, Monstruarien, Tierbücher. 17 Die konkrete formale Gestaltung dürfte hingegen den Bildhauern überlassen worden sein, die sich nicht nur auf ihre Phantasie und Erinnerung, sondern auch auf Musterbücher stützten. Die in so zahlreichen gotischen Kirchen wiederkehrende Blattmaske etwa findet sich genauso im Bauhüttenbuch des Villard de Honnecourt (um 1230). 18 13 Adhémar, J.: Influences antiques dans l’art du Moyen Age français. London 1939; Lehmann, E.: Die Bedeutung des antikischen Bauschmucks am Dom zu Speyer. In: Zeitschrift für Kunstwissenschaft 5 (1951), S. 1 - 16. 14 Renard, M.: Des sculptures celtiques aux sculptures médiévales fauves androphages. In: Collection Latomus 2, S. 27. 15 Hamann (Fn. 4) S. 64. 16 Beispiele für die symbolischen Tiergestalten bietet Muratova, Xenia: Sources classiques et paläochrétiennes des illustrations des manuscrits des Bestiaires. In: Bulletin de la Société nationale des antinquaires de France 1991, S. 29 - 50. 17 Lexikon des Mittelalters, Bd.1, Sp. 2072 ff. - Zu Bestiarien vgl. auch den Beitrag von Luuk Houwen in diesem Band. Monster und Dämonen am Kirchenbau 109 Neben der Antike haben aber auch andere Kulturen formale Muster gerade für die Wesen der Randzonen am Bau geliefert. Namentlich seit dem Beginn der Kreuzzugsbewegung und der Errichtung von »fränkischen« Staaten im Heiligen Land kam es zu einem stärkeren Einströmen orientalischer Kunstobjekte in den christlichen Westen. Wenn man auch nicht von allen Analogien überzeugt sein kann, die v.a. Baltrusaitis 19 eruiert hat, so sind doch in mehreren Fällen derartige formale Übereinstimmungen von romanischen und gotischen Gestaltungen mit asiatischen festzustellen, daß die Vorlage eines Manuskripts, Teppichs oder Kleinkunstwerks aus dem Osten höchste Wahrscheinlichkeit besitzt. Natürlich waren auch Umformungen möglich, die aufgrund von Mißverständnissen der Vorlage entstanden. 20 Im Norden sind auch Elemente der germanischen Tierplastik weiterverwendet worden: die drei flachen Drachenköpfe an der Westfassade von St. Mary and David in Kilpeck (Herefordshire) aus der Mitte des 12. Jahrhunderts z.B. gleichen vollkommen den entsprechenden Köpfen an den Firstbalken wikingerzeitlicher Stabkirchen. Dabei ist von Formkonstanz mit gleichzeitiger Bedeutungsänderung auszugehen: während im chinesischen Altertum ein wildes Tier mit aufgerissenem, zähnestarrenden Maul, von Schlangen umwunden, das einen Menschen in seinen Klauen hält, den tigergestaltigen Erdgeist repräsentiert, der den Menschen freundlich umfängt, 21 kann eine analoge Darstellung im christlichen Kontext nur als böser und zu bekämpfender Dämon gedeutet werden, der sich der Seele zu bemächtigen versucht (z.B. Kapitell in Chauvigny, Poitou 22 ). Ein meines Wissens nie systematisch gesammeltes Feld stellen die zahlreichen menschlichen, tierischen oder dämonischen Köpfe, Gesichter, Masken, Fratzen innen und außen an den Kirchen dar. Oft bilden sie lange Reihen, etwa an Dachstuhlkonsolen (Vaernes, Nord-Trondelag, um 1150, abwechselnd mit geballten Fäusten 23 ), starren aus Rundbogenfriesen (Weinsberg, Württemberg, 13. Jahrhundert), in der englischen Gotik finden sie sich besonders häufig unter Türen und Fenster umrahmenden Spitzbögen (Elgin, Ende 13. Jahrhundert). Über dem Trichterportal der St. Brendan’s Cathedrale (Clonfert, Galway, nach 1164) sind sie en masse in ein geometrisches Giebelornament eingebunden, aus den Portalsäulen der Klosterkiche in Millstadt (Kärnten, um 1170) lugen sie aus Löchern hervor. Dies, wie ihre Applizierung an sonst völlig unskulptierte Flächen, wie das Gewände des Südeingangs der Salzburger Franziskanerkirche (um 1220? ), findet so deutliche Analogien im Einschluß echter Köpfe in keltische Heiligtümer und zum Kult der têtes coupées, 24 daß es hier trotz mangelnden Kontinuitätsnachweises schwer erscheint, keine Verbindungen zu ziehen. Die Argumentation, »daß die alten Ahnenkultsymbole bewußt in die Kirchen hereingenommen und geduldet wurden, um den Landschaften mit lebendigen keltischen Glaubenstraditionen den Übertritt ins Christentum zu erleichtern«, 25 erledigt sich freilich, bezogen auf Bauten, die achtbis neunhundert Jahre nach der Christianisierung entstanden, von selbst. 18 Jászai, Géza: Das Gewölbe-Ornament der Kathedralkirche Sankt Paulus in Münster. Münster 1988, S. 36 f. 19 Baltrusaitis, Jurgis: Das phantastische Mittelalter. Frankfurt 1985. 20 Michel (Fn. 12), S. 74. 21 Speiser, Werner: China. London 1960, S. 33 ff. 22 Tetzlaff, Ingeborg: Romanische Kapitelle in Frankreich. 3. Aufl. Köln 1979, Abb. S. 45 f. 23 Kulturhistorisk leksikon for nordisk middelalder fra vikingetid til reformationstid, Bd. 11, Pl. 6. 24 Sheridan, Ronald; Ross, Anne: Grotesques and Gargoyles. Newton Abbot 1975, S. 106 ff. 25 Braun, Rainer: Zur Deutung der Steinmasken an fränkischen Kirchen. In: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 34 (1975), S. 279 - 297. 110 Peter Dinzelbacher Kopfreihe, 12. Jh. Freiburg, 14. Jh. Monster und Dämonen am Kirchenbau 111 Eine Neuschöpfung des frühen 13. Jahrhunderts sind dagegen die Wasserspeier, bei denen es keine Anlehnung an die entsprechenden Bauteile der Antike gibt. Ihre Funktion kommt in ihren mittelalterlichen Bezeichnungen zum Ausdruck, die lautmalend an »gurgeln« anklängen: altfranzösisch »gargouille«, mittelenglisch »gargule« (vgl. lateinisch »gurgulio«, Schlund; »gurges«, Strudel). Sie haben sogar völlig seriöse Kunsthistoriker zu romantischen Poeten werden lassen: »Was wollen diese langhalsigen, heulenden Wasserspeier, die uns von der Höhe herab anstarren? Wenn ihre steinernen Flügel sie nicht zurückhielten, würden sie sich hinausstürzen, ihren Flug ins Weite nehmen und am Himmel eine furchtbare Silhouette abzeichnen. Keine Epoche, keine Rasse hat je grauenhaftere Larven ersonnen.« So kein Geringerer als Emile Mâle. 26 Wieweit reicht hier das rekonstruierende Nachfühlen vergangener Mentalität, wo beginnt phantastische Mittelalterromantik? Deutungen Der mittelalterliche Kirchenbau, so nochmals Focillon bildet »un énorme dépôt de croyances, de traditions et de pensées.« 27 - Bloß welcher? Wenigstens die folgenden Deutungsvorschläge, die gleichzeitig etwas über die jeweiligen Haltungen der neuzeitlichen Betrachter aussagen, sind kurz vorzustellen: Die nicht auf den ersten Blick erkennbare christliche Lehre oder Wissen wiedergebende mittelalterliche Bauplastik sei 1. bedeutungsloses Spiel der Bilderhauer; 2. christliche Bild-Katechese; 3. Spiegel von Glaubensvorstellungen aus der Zeit vor der Christianisierung; 4. apotropäische Bannung; 5. Konkretisierung unbewußter Seelenvorgänge. 1. Eine öfter wiederholte Auffassung hinsichtlich der nicht zu den Standardszenen der christlichen Ikonographie zählenden Darstellung ist die, es handle sich bloß um bedeutungslose Spielereien der Skulpteure, Ausbrüche mittelalterlichen Humors, Experimente offenbar gelangweilter Handwerker, »sorglose Spiele eines phantastischen Humors, den ernst zu nehmen erst den gelehrten Exegeten unserer Tage vorbehalten blieb«, wie immerhin Georg Dehio meinte. 28 Und Mâle: »On devine de jeunes sculpteurs pleins de verve, qui se défient, qui renchérissent les uns sur les autres.« 29 Aber: Wie lange dauerte die Herstellung einer solchen Figur in Stein! Wurden die Skulpteure dafür wochenlang bezahlt? Bekamen sie dafür Material zur Verfügung gestellt? Dieses Verständnis stützt sich auf eine unzulässige Verallgemeinerung von kritischen Äußerungen mittelalterlicher Autoren über figurale Bauplastik. Berühmt ist eine Stelle in der Apologia Bernhards von Clairvaux: 26 Zit. ohne Stellennachweis bei Möbius, F. u. H.: Bauornament im Mittelalter. Berlin 1974, S. 118. Original: Mâle, Emile: L’Art religieux du XIIIe siècle en France. Paris ND 1968, Bd. I, S. 118. 27 Focillon (Fn. 1), S. 8. 28 Geschichte der deutschen Kunst, Bd. 1. Berlin [u.a.] 1919, S. 176 f. 29 Mâle (Fn. 26), S. 121. 112 Peter Dinzelbacher »›Was macht da jene lächerliche Monstrosität, jene erstaunliche unschöne Schönheit und schöne Unschönheit [deformis formositas ac formosa deformitatas]? ‹ Da sind Affen abgebildet, Löwen, Kentauren, Halbmenschen, Tieger, kämpfende Ritter, Jäger, die das Horn blasen. Ein Kopf mit vielen Leibern, ein Leib mit vielen Köpfen, zusammengesetzte Tiergestalten - das verführt doch nur, lieber in den Marmorbildern zu lesen als in den Handschriften und sich den ganzen Tag über dabei aufzuhalten, statt über Gottes Gesetz zu meditieren. ›Bei Gott, wenn man sich schon nicht der Albernheiten schämt, warum verdrießen nicht wenigstens die Kosten! ‹« 30 Auch wenn Alexander Neckam (1157 - 1217) bemängelt, daß Reichtum bei Plastiken und Bildern zu Dummheiten führe, 31 bedeutet dies nur, daß er Übertreibungen verwirft, nicht aber, daß die Darstellungen sinnleer wären. Vereinzelte Ablehnung der symbolischen Bauplastik gab es auch weiterhin. So schrieb im frühen 13. Jahrhundert der Verfasser des Lehrgedichtes Pictor in carmine, 32 man solle doch lieber statt doppelköpfigen Adlern, vierleibigen Löwen, Kentauren, Kopflosen, Chimären und Tierfabeln die Werke des Erlösers und die Mysterien des Evangeliums abbilden. Auch hier wird diesen »häßlichen« Darstellungen nicht ein Sinn abgesprochen, vielmehr von einigen gesagt, er sei profan und somit unnütz für die Gläubigen; die Verbildlichung der zentralen Heilswahrheiten sollte an ihre Stelle treten. Wenn das Überhandnehmen der »fantasmatum ludibria« den Handwerkern in die Schuhe geschoben wird, dürfte darin eine Kritik am langsamen Erstarken der sich zünftisch organisierenden Steinmetzen gegenüber den Auftraggebern liegen. Andererseits aber gab es, so Gautier von Coincy († 1236), Äbte, die Tierfabeln offensichtlich als geeigneten Wandschmuck in den Mönchszellen betrachteten. 33 2. Daß auch die Dämonen und Monster genauso wie die andere figurale Ausstattung einer Kirche didaktische Funktion im Sinne der christlichen Verkündigung besaß, ist die am weitesten akzeptierte Interpretationsrichtung. Sie wurde schon im 19. Jahrhundert von der »kirchlichen Kunst-Archäologie« mit Erfolg vertreten. Schriftquellen verweisen darauf, daß dämonische Gestaltungen am Kirchenbau gezielt katechetisch eingesetzt wurden. Sie sollten die Betrachter in Schrecken versetzen, um sie zu einem Leben gemäß der kirchlichen Normen zu motivieren. Ein spanischer Bischof sagte um 1230 ausdrücklich, Plastiken mit Tierdarstellungen würden in der Kirche deshalb aufgestellt, damit sie die Leute erschrecken und von sündigen Taten abhalten sollten. 34 Es gibt in dieser Funktion symbolische und erzählende Darstellungen. Erstere stellen ein Situation dar, und keine Geschichte: etwa eine Figur zwischen zwei Tieren oder einen Leib, der aus einem Löwenmaul ragt. Sie dürften in der Regel auf die Bedrohung der Seele durch den Teufel und auf den Kampf zwischen den guten und bösen Mächten zu deuten sein. Zu den erzählenden Szenen gehören u.a. die vielen satirischen Komposi- 30 Bernhards von Clairvaux: Apologia. 12, 29. Opera. Hrsg. Leclercq, Jean u.a. Rom 1957 ff., Bd. III, S. 106, 114 ff. 31 Zit. Kroll S. 76. 32 Zit. Kroll (Fn. 31), S. 76 f. 33 Camille, Michael: Mouth and meanings. In: Cassidy, B. (Hrsg.): Iconography at the Crossroads. Princeton 1993, S. 69. 34 Zit. Camille (Fn. 33), S. 48, Anm. 19. Monster und Dämonen am Kirchenbau 113 tionen, die Mönche und Geistliche auf das Korn nehmen. Daß sie prinzipiell Zugeständnisse mit »Ventilfunktion« an die Laien gewesen sein sollen, ist angesichts ähnlicher Bilder in Handschriften aus geistlichem Besitz wenig wahrscheinlich. Allerdings war der Kirchenbau in den Städten des späten Mittelalter vielfach Sache der Bürger geworden, weswegen diese Erklärung nicht ausgeschlossen ist. Schon manche der Gestalten an romanischen Kirchen sind - unsicher - als Baumeister und Skulpteure gedeutet worden, die daran gewesen seien, der kirchlichen Kontrolle zu entgleiten. 35 Aber üblicherweise wird es sich um Warnungen der Kirchenherrn an ihren eigenen Klerus gehandelt haben. So gegen Unkeuschheit, wenn ein betender Mönche von zwei Schlangen angefallen wird, wie in S. Isidoro, Léon (Mitte 11. Jahrhundert) 36 oder gegen schlechte Gewohnheiten, denen der Mönch auch in Gedanken nicht nachgeben sollte, wie der notorische Wolf im Mönchsgewand, der doch an nichts anderes denkt, als an seinen Bauch (Freiburger Münster, um 1200; Parma, Kathedrale). 37 Die Interpretation der Tier-, Teufels- und Fabelwesen in der Bauplastik macht keine Schwierigkeiten, wo es sich von der Bibel her um eindeutig positive (Lamm, Taube) oder eindeutig negative (Drache, Dämon) Wesen handelt. Manchmal werden sie auch epigraphisch identifiziert, wie der Basilisik, gegen den der St. Michael auf dem Tympanon der Kirche von Kjells Nöbbelöfs in Schonen kämpft (um 1180). 38 Zur Erklärung vieler sonst unklarer Figuren und Szenen sind die Schriften der Kirchenväter, die einschlägigen Lehrbücher wie der Physiologus und seine Nachfolger, die Enzyklopädien etc. bereits mit Erfolg herangezogen worden. 39 Monströse Gestalten wie zweiköpfige schlangenförmige Amphisbaenen, einäugige Zyklopen, vieräugige Aethiopoes maritimi, kopflose Akephale, Skiapoden, die sich mit einem Riesenfuß beschatten, und ähnliche mittelalterliche Zeitgenossen sind meist aus Traditionen Asiens über antike Autoritäten (Plinius, Solin usw.) übernommen 40 und mit einer christlichen Bedeutung belegt worden. So bot sich etwa die Manticora (Menschenhaupt, Löwenkörper, Skorpionstachel) geradezu als Sinnbild für den Teufel an, verspeiste sie doch vorzugsweise Menschenfleisch. 41 Dagegen hängt das Verständnis mehrdeutiger Gestalten wie Löwe oder Einhorn, die in der mittelalterlichen Literatur sowohl Christus als auch den Teufel bezeichnen konnten, vom ikonographischen Zusammenhang und der Position am Bau ab. Das Einhorn z.B. symbolisiert zumeist Christus, da es nach dem Physiologus nur von einer Jungfrau (d.h. Maria) eingefangen werden kann (z.B. Fries am Nordturm des Straßburger Münsters, um 1300). 42 Wenn jedoch in der Kirche von Hal (Belgien) in einem Zwickel eine nackte Frau mit aufgelöstem Haar auf einem Einhorn gallopiert (um 1400), 43 dann ist nur 35 Kenaan-Kedar, Nurith: Les modillons de Saintonge et du Poitou comme manifestation de la culture laique. In: Cahiers de civilisation médievale 29 (1986), S. 311 - 330. 36 Weir, Anthony; Jerman, James: Images of Lust. Sexual Carvings on Medieval Churches. London ND 1993, S. 74. 37 Blankenburg, Wera v.: Heilige und dämonische Tiere. Leipzig 1943 (Nachdr. Köln 1975), S. 264 ff. 38 KLNM 1, Sp. 379. Zum Mythos Basilisk vgl. den Beitrag von Marianne Sammer in diesem Band. 39 Das klassische Beispiel ist Mâle (Fn. 26). 40 KLNM 4, Sp. 110 - 115; LcI 2, Sp. 1 - 4. 41 Zaradacz-Hastenrath, S.: Die Manticora. In: Aachener Kunstblätter 41 (1971), S. 42. 42 Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 1, Sp. 592. 43 Beer, Rüdiger R.: Einhorn. 3. Aufl. München 1977, Abb. 103. Zum Mythos Einhorn vgl. auch den Beitrag von Jochen Hörisch hier in diesem Band. 114 Peter Dinzelbacher eine negative Deutung auf ein Laster denkbar, hier offenbar die Unkeuschheit wie im Reductorium morale des Petrus Berchorius († 1362). 44 3. Seit der Volkstumsideologie der Romantik bis in die Gegenwart 45 versuchen immer wieder Gelehrte, aber vielleicht noch häufiger Amateure, wenigstens manche der geheimnisvollen Skulpturen durch den Rückgriff auf die Mythologien der »heidnischen Rassen« zu erklären; in Frankreich und England waren dies natürlich die Kelten (und Angelsachsen), in Deutschland die Germanen. In der Regel waren sich die Interpreten nur unzureichend des Problems bewußt, daß diese Mythologien erst aufgrund von Quellen rekonstuiert wurden, die deutlich nach der Christianisierung entstanden waren. Im Falle der Germanen dienten hierzu meist erst im 19. Jahrhundert zu belegende und als uralt vorausgesetzte mündliche Traditionen und vor allem die (durchgehend in christlicher Zeit aufgezeichnete) altnordische Literatur. Doch ist die Frage nach den authentisch »heidnischen« Elementen in der altisländischen Überlieferung auch in der heutigen Nordistik, Volkskunde und Mythenforschung keineswegs eindeutig gelöst. Eine vorschnelle Zustimmung wäre genauso unwissenschaftlich wie eine pauschale Verwerfung solcher Thesen. Immerhin steht fest, daß es in Skandinavien Kirchen gab, die sogar an so prominenter Stelle wie dem Eingangsportal germanische Sagen verbildlichten: so schnitzte man um 1200 die Gunthersage an den Stabkirchen von Hylestad und Austad und an erstgenannter auch die Sigurdsage. 46 Darf dies aber auch auf die in viel länger christianisierten Gebieten stehenden west- und mitteleuropäischen Kirchenbauten übertragen werden? Ein beliebig gewähltes Beispiel für die ältere Richtung der Kontinuitätshypothese bietet das Buch Germanische Götter und Helden in christlicher Zeit von Erich Jung. 47 Dort wird unter anderem der vielleicht »dämonischste« Überrest des Mittelalters besprochen, die Bestiensäule 48 in der Freisinger Domkrypta (2. Hälfte 12. Jahrhundert) mit ihrem Gewirr von Monstern, Schlinggewächsen und sich wehrenden Menschen. Der Kampf dieser Figuren gegen die Untiere wird mit Hilfe von Gylfaginning aus der Snorra- Edda gedeutet: Dort streiten die Götter beim Weltuntergang gegen den Fenriswolf. Der Griff einer der Gestalten der Säule an den Kiefer des Wolfes sei eine Illustration derselben Bewegung Widars im Ragnarök-Kampf. Der Halbverschlungene verkörpere Odin, der von dem Untier getötet wird. 49 Völlig außer Acht gelassen sind jedoch die übrigen Unwesen und Menschen, etwa die Frau mit der Blume, so daß hier nur eine recht unwahrscheinliche Teilerklärung angeboten wird. Andere germanische Deutungen dieses Kunstwerks sehen darin die steingewordene Sigurd- oder die Dietrichsage. Ähnlich vorschnell werden auch gern angeblich in graue Urzeiten zurückgehende Volksbräuche mit symbolischer Bauplastik korreliert; so ist das Thema der so verbreiteten gotischen Blattmasken 44 Berchorius, Petrus: Reductorium morale. Venedig 1583, S. 427 b. 45 Zuletzt (ohne Kenntnis der älteren Literatur): Link (Fn. 2), S. 46. 46 KLNM 14 (Fn. 23), Sp. 663 f.; Margeson, Sue: The Volsung legend in medieval art. In: Andersen, Fleming G. u.a. (Hrsg.): Medieval Iconography and Narrative. Odense 1980, S. 183 - 211. 47 Jung, Erich: Germanische Götter und Helden in christlicher Zeit. München 1922. 48 Die neueste Studie zu den Bestiensäulen: Camille (Fn. 33), ist wenig hilfreich. 49 Jung (Fn. 47), S. 39 ff. Monster und Dämonen am Kirchenbau 115 »thought to derive from May Day rites«. 50 Warum hätte man aber diese an Schlußsteinen und Konsolen im Kirchenraum präsent haben wollen? Innerhalb dieses Interpretationsmodelles wird gern spekuliert, daß es sich bei den bewußten Figuren um im Widerstand zum Christentum angebrachte Manifestationen eines noch nicht gänzlich unterworfenen Heidentums gehandelt habe. Daß der Klerus als Feind der alten Religionen solche Bilder an seinen Kirchen auch nur geduldet haben würde, geschweige denn selbst um teueres Geld in Auftrag gegeben hätte, ist quellenmäßig jedoch nicht belegt und entbehrt der Wahrscheinlichkeit. Selbst wenn der eine oder andere Priester vielleicht ein Anhänger »abergläubischer« Vorstellungen im Sinne von Vorstellungen aus der vorchristlichen Mythologie gewesen ist, wofür in der Ketzergeschichte des hohen Mittelalters meines Wissens nur ganz wenige Belege existieren (im Gegensatz zu zahlreichen für ignorante, faule oder desinteressierte Geistliche), so wurde jede Kirche durch den zuständigen Bischof eingeweiht und wurden die Pfarren regelmäßig von bischöflichen Visitatoren besucht, die solches nicht hätten durchgehen lassen (in Arras bekam ein Kleriker schon Schwierigkeiten mit seinem Ordinarius, weil er nicht dessen Erlaubnis eingeholt hatte, sein Haus mit Wasserspeiern auszustatten 51 ). Eine Kirche ist, wie zahllose Texte belegen, 52 ein Werk für den christlichen Gott, Opus Dei, in dem der Besitzer, der heilige Patron, körperlich in Gestalt seiner Reliquien anwesend ist. 53 Hier konnten die alten Götter, wenn überhaupt, nur in der Form von überwundenen Dämonen Platz finden. Dies kommt deutlich zum Ausdruck, wenn man antike Götterstatuen umgekehrt oder in der Sockelzone einer Kirche einmauerte. 54 Andererseits können Einzelfälle nicht ausgeschlossen werden: wenn es stimmt, daß 1282 ein Priester in Fife einen Fruchtbarkeitstanz um eine phallische Skulptur anführte und daß die Mönche von Frithelstock im 14. Jahrhundert eine Diana-Statue verehrten, 55 dann kann ein gelegentlicher Mißbrauch auch der Kirchenskulptur nicht ausgeschlossen werden. Nur wurde eben solches Verhalten schon im Mittelalter von den Obrigkeiten bestraft und hätten seine Manifestationen in der Kunst wohl nur ausnahmsweise die Reinigungswellen des nachtridentinischen Katholizismus bzw. der Reformation überstanden. In der Tat hat man ja an manchen Kirchen vergessen, phallische oder erotische Darstellungen zu vernichten, meist wohl wegen ihrer Anbringung an eher versteckten Stellen. 56 Noch zweifelhafter ist die Konzeption derjenigen Interpreten, die davon ausgehen, esoterische Programme wären nach langer mündlicher Tradition in einem kleinen Kreis von Eingeweihten dann plötzlich in der mittelalterlichen Bauplastik öffentlich sichtbar gemacht worden. 57 Sie stößt auf ähnliche Einwände wie oben. Auch daß ein Kultbau, der die Stein gewordenen Lehren von Ketzern trage, unbeschadet bis in die Gegenwart überlebt hätte, ist unwahrscheinlich. So ist etwa der Versuch Hammer-Purgstalls (1818), die 50 Sheridan/ Ross (Fn. 24), S. 36. 51 Camille (Fn. 33) S. 78. 52 Z.B. Warnke, Martin: Bau und Überbau. Frankfurt 1984, S. 63 ff. 53 Dinzelbacher, Peter: Die Realpräsenz der Heiligen in ihren Reliquiaren und Gräbern nach mittelalterlichen Quellen. In: Heiligenverehrung in Geschichte und Gegenwart. Hrsg. Dinzelbacher, Peter; D. Bauer, Ostfildern 1990, S. 115 - 174. 54 LcI 2 (Fn. 42), Sp. 173. 55 Bord, Janet u. Colin: Earth Rites. London 1983, S. 75. 56 Beispiele bei Weir/ Jerman (Fn. 36). 57 Vgl. Schade, Herbert: Dämonen und Monstren. Regensburg 1962, S. 13. 116 Peter Dinzelbacher Plastiken einer Reihe von niederösterreichischen Kirchen als Monumente des Geheimkultes der Templer, als Beweis einer gnostischen Baphomet-Verehrung zu deuten, 58 aus historischen Gründen völlig unhaltbar: weder gehörten die Kirchen diesem Orden, noch läßt sich bei ihm überhaupt der Nachweis tatsächlicher Häresie führen. 4. Nicht selten sind Darstellungen, wo Unholde zum Dienst für die guten Mächte gezwungen erscheinen, etwa die Last einer Säule - Symbol des Apostels 59 - tragend (z.B. Alpirsbach, Hauptschiff, um 1100), unter eine Konsole gedrückt und so dem auf ihr triumphierenden Heiligen unterworfen (z.B. Drachen und Löwen unter dem Pferd des Heiligen Martin an der Fassade des Domes zu Lucca, um 1240), unbeweglich als Träger unter einem Pfeiler angekettet (z.B. Millstadt, Stiftskirche, Südportal, um 1200). Auch die Wasserspeier hat man als in den Dienst der Kirche gezwungene Dämonen erklärt. 60 Auch hier ist natürlich von Einzelfall zu Einzelfall zu entscheiden: Wenn z.B. im niederösterreichischen Schöngrabern als Sockelfiguren zweier Chorsäulen aus dem frühen 13. Jahrhundert Dämonenköpfe dienen, die mit ihren geflochtenen Haaren an die Säulen gebunden 58 Feuchtmüller, Rupert: Schöngrabern. Die steinerne Bibel. Wien 1979, S. 75 f. 59 LcI 4 (Fn. 49), Sp. 55. 60 Camille (Fn. 33), S. 79. Alpirsbach, 12. Jh. Monster und Dämonen am Kirchenbau 117 sind, 61 schiene es schwer, eine andere Erklärung zu finden als die der Bannung. Ähnliches gilt etwa auch für die bösartig wirkenden Vogelköpfe, die sich im Gewölbe der Kathedrale von Münster in Westfalen (um 1230) in die Rippen verbissen haben. 62 Überhaupt ist das so häufige Motiv der ineinander verschlungenen und verknoteten Schlangen, Drachen und Fabelwesen (z.B. Krypta der Stiftskirche Denkendorf, Württemberg, 12. Jahrhundert), auch das der miteinander kämpfenden Monster (z.B. Kapitell in der Steinkammer des Kölner Doms, Anfang 13. Jahrhundert) wohl in diesem das Böse bindenden Sinn zu verstehen. Die dämonischen Gegner der Gläubigen waren damit in den Stein festgezaubert. Man kann diese Darstellungen sicher gleichzeitig katechetisch verstehen: sie belehren den Betrachter, daß die Kirche über die bösen Mächte siegt. Wenn man von der Bedrohtheit vieler mittelalterlicher Menschen ausgeht, die sich allenthalben von Dämonen »umsessen« glaubten, 63 und wenn man gleichzeitig die zahlreichen Zaubersprüche und Segen jener Zeit gegen böse Geister kennt, 64 scheint es naheliegend, daß solche Fratzen magisch in den Stein gebannte, unschädlich gemachte Dämonen verkörpern konnten. Ein wohl hier her gehörendes Motiv, das in der ganzen norditalienischen Romanik verbreitet war, dann auch über die Alpen bis nach Skandinavien ausgriff, ist das Löwen- 61 Feuchtmüller (Fn. 58), S. 166 u. Abb. 101. 62 Jászai (Fn. 18), S. 20 u. 50 f. 63 Dinzelbacher, Peter: Angst im Mittelalter. Paderborn 1996. 64 Z.B. Haubrichs, Wolfgang: Von den Anfängen bis zum hohen Mittelalter. Frankfurt 1988, S. 412 ff.; Kieckhefer, Richard: Magie im Mittelalter. München 1992. Denkendorf, 12. Jh. 118 Peter Dinzelbacher paar, das (gern mit der Funktion von Säulenträgern) vor den Kircheneingängen liegt oder das Portal flankiert. Beliebige Beispiele wären Verona (S. Zeno maggiore, 1135/ 38), Königslutter am Harzrand (um 1135), Hablingbro in Schweden (Ende 12. Jahrhundert). Daß dieser Usus in der Gotik weiterbestand, zeigen etwa die Portale der Kirche S. Maria Maggiore in Bergamo (Lombardei), denen noch um 1360 entsprechende Figuren vorgesetzt wurden. Bisweilen hat man so auch die Apsis gesichert (Lihme, Dänemark). Hier »mischt sich die Wächterfunktion mit apotropäischem Charakter; diese Löwen sind Gegenbild der Kirche: Die Weisheit ist an einen Ort gezogen, ›den die Raubtiere nie betreten und den der Löwe nicht beschreitet‹ (Hrabanus Maurus)«. 65 Da zahlreiche dieser Tiere, wie etwa am Dom von Modena, ein anderes Lebewesen, auch einen Menschen, in ihren Pranken halten, sind sie auch als Warnung vor dem Teufel gemeint, den der Heilige Petrus mit einem »brüllenden Löwen« verglich (I. Petr. 5,8) und vor dessen Rachen der Christ um Schutz fleht (Ps. 21, 22). Doch gibt es immer wieder lokale Abwandlungen, die vor einer pauschalen Festlegung der Interpretation warnen: In Reichenhall, St. Zeno, wird ein Portallöwe von einem Drachen in die Zunge gebissen (1228) - der Drache kann aber kein positives Symboltier sein. Also Kampf der bösen Mächte gegeneinander? Und im Rundbogen über dem von Löwen bewachten Hauptportal des Veroneser Domes lautet die Inschrift: HIC DOMINUS MAGNUS LEO CHRI- 65 Bloch, P. In: LcI 3 (Fn. 49), Sp. 117, zit. Partologiae cursus completus. Series Latina, Bd. 111, Sp. 218 ff.; 112, Sp. 983. Königslutter, um 1135. Monster und Dämonen am Kirchenbau 119 STUS CERNITUR AGNUS 66 - also wurde das Tier hier auf den Erlöser, das Lamm Gottes, als den Löwen von Juda bezogen (Gen. 9 f., Apk. 5, 5). Die zahllosen Schreckgespenster an den Außenwänden der Kirchen, an ihren Türmen und Fialen, namentlich die Wasserspeier, lassen sich als Apotropaia verstehen. Was ein um 1500 entstandenes Hexenbüchlein von Abwehrbildern auf Backsteinen sagt, darf wohl auch auf andere Figuren an der Zwischenzone zwischen Heiligem und Unheiligem übertragen werden: »Item etliche figuren, so sie auff ziegelsteyn gemacht, und gegen wetter gericht, die treiben dz wetter zurück... also werden auch die Hexen, so in katzen, wölffen, böcken etc. verkört, geschlagen, gefangen und getödt.« 67 Das Ausspeien von Wasser entspricht dem Abwehrritus des Ausspuckens, der im Mittelalter gegen den Teufel gebraucht wurde. 68 Ebenso das Defäkieren - von Luther bekanntlich als Teufelsschreck gepriesen 69 -, weswegen Wasserspeier sich häufig anal ihrer Aufgabe entledigen (z.B. in Autun oder am Freiburger Münster). 70 Durchgehend in der ganzen mittelalterlichen Bauplastik tauchen Köpfe, Masken, Gesichter ohne Körper auf. Sie waren sicher Träger verschiedener Symbolik. Daß unter ihnen die sogenannten Zanner oder Neidköpfe, Visagen mit aufgerissenen Augen und Mündern, hervorhängender Zunge und gebleckten Zähnen unheilabwehrende Funktion hatten, ist nicht zuletzt aufgrund anthropologischer Vergleiche unbestreitbar. Darauf weist auch hin, daß sie bevorzugt über Eingängen und Fenstern angebracht wurden. Diese Gesichter gleichen also nicht nur oft formal dem antiken Gorgonen-Haupt (z.B. Kopf am südlichen Gewölbe des Westquerschiffes der Kathedrale von Münster, um 1235), sie erfüllten auch die nämliche bannende Funktion. Hier ist nicht an Diffusion zu denken, sondern an analoge Neuschöpfungen, da die Wut- und Schreck-Mimik des Menschen verhaltensbiologisch vorgegeben ist. 71 Eine besonders bekannte Gruppe Unheil abwehrender Figuren an Kirchen sind die irischen Sheelas, weibliche Gestalten, die betont ihr Geschlecht vorweisen. Sie wurden dann verchristlicht, indem man sie als Warnungen vor Unkeuschheit interpretierte. 72 Möglicherweise sind auch die ausdruckslosen Masken, die sich nicht weniger häufig finden, oft apotropäisch gemeint gewesen: »Ein starres Gesicht, das seine Gestimmtheit nicht verrät, ist das unheimliche, unlesbare Gesicht. Es macht den Träger stark und unverwundbar ...« 73 Sie werden allerdings von manchen auch als Bilder von Toten erklärt, was sich jedoch auf keine schriftlichen Belege zu stützen scheint. Ob sich freilich einzelne apotropäische Programme von Bauplastiken, angefangen von den positiven Zeichen des Dreisprosses (heraldische Lilie) über verschiedene Mas- 66 Baltl, Herman: Zur romanischen Löwensymbolik. In: Zeitschrift des historischen Vereins für Steiermark 54 (1963), S. 195 - 220, hier: S. 205. 67 Zit. bei Möbius, F. u. H.: Bauornament im Mittelalter. Berlin 1974, S. 181 ohne Stellennachweis. 68 Möbius (Fn. 67). 69 Erikson, Eric H.: Der junge Mann Luther. Reinbek 1970, S. 84 u. S. 270 f. 70 Sheridan/ Ross (Fn. 24), S. 66 f.; Kröll (Fn. 10), S. 32, Abb. 23. 71 Sheridan/ Ross (Fn. 24), S. 28 f.; Sütterlin, Christa: Schreck-Gesichter. Symbole des magischen Alltags. In: Blaschitz, G. u.a. (Hrsg.): Symbole des Alltags, Alltag der Symbole. Festschrift H. Kühnel. Graz 1992, S. 517 - 553. 72 So dürften die Thesen von Andersen, Jørgen: The Witch on the Wall. København 1977 und Weir/ Jerman (Fn. 36), S. 15 ff. zu verbinden sein. Vgl. auch Kislinger, Ewald: Anasyrma. Notizen zur Geste des Schamweisens. In: Blaschitz, G. (Fn. 71), S. 377 - 393. 73 Kislinger (Fn. 72). S. 531. 120 Peter Dinzelbacher kenformen bis hin zu Drachen und Löwen, die eine romanische Stiftskirche wie z.B. das schwäbische Farndau zieren, zu einem bis ins Detail kohärenten Ganzen zusammenfügen, das noch dazu genaue Entsprechungen zu den Laudes der Liturgie haben soll, 74 sei dahingestellt. Es scheint eher, daß Heils- und Abwehrzeichen oft ohne theologische Planung, aber in Erwartung ihrer Wirksamkeit, relativ beliebig zusammengestellt wurden, wie z.B. Köpfe, Stern, Schlangen und das Lamm Gottes am Tympanon der Kirche von Geibenstetten bei Kelheim. 75 Die Möglichkeit, daß astrologische Konzeptionen (über die Monatsbilder hinaus) auch in der Bauplastik verwirklicht wurden, bliebe bei gelehrten Auftraggebern zu bedenken; desgleichen ihre Relation zu den Himmelsrichtungen. 76 5. Sind die Tierbilder der Romanik, fragte Blankenburg, »noch Ausdrucksträger eines mythischen Tiererlebens ... Ausdruck für ein Fortleben ursprünglich mythischer Bewußtseinsstufen«? 77 Sicher darf für den Plastiker des Mittelalters kein unreflektiertes eidetisches »Hineinsehen« von Gestalten in sein Material mehr angenommen werden, wie es etwa Eskimokünstler von sich selbst berichten. Trotzdem darf auch im christlichen Europa nach unbewußten Funktionen der schöpferischen Äußerungen gefragt werden. In diesem Bereich dürfte die Konkretisierung des Bedrohlichen für diejenigen, die diese Werke in Auftrag gaben und schufen, nicht nur eine religionsdidaktische, sondern auch eine entlastende Funktion gehabt haben: unbestimmte Angst wandelte sich in auf Greifbares gerichtete Furcht. Im hohen Mittelalter dürften ja die Abnahme äußerer Bedrohungen einerseits und die zunehmende Komplexität des sozialen Lebens andererseits im 74 Metzger, Wolfgang: Die romanische Stiftskirche in Faurndau. Weißenhorn 1971. 75 Braun (Fn. 25), Abb. 8. 76 Schade (Fn. 54), S. 35 f. 77 Blankenburg (Fn. 37), S. 114, 121. »Zanner«, 12. Jh. Monster und Dämonen am Kirchenbau 121 »Prozeß der Zivilisation« darauf hingewirkt haben, daß die Beschäftigung mit vom Über- Ich vermittelten Binnenängsten sich steigerte. »Nun verstärken sich proportional zur Abnahme der äußeren die inneren Ängste ... die dort, wo die Menschen beständig starke und unabwendbare Bedrohungen von außen zu erwarten haben, notwendigerweise fehlen. Nun wird ein ganzer Teil der Spannungen, die ehemals unmittelbar im Kampf zwischen Mensch und Mensch [oder gegen die Umwelt] zum Austrag kamen, als innere Spannung im Kampf des einzelnen mit sich selbst bewältigt.« 78 Trotzdem ist zu betonen, daß nicht jede Maske, jedes Fabelwesen, jedes Tier an jedem Bau mit einer bestimmten Symbolik angebracht worden sein muß. Wie auch in der Miniaturmalerei wurden zweifellos bisweilen Vorlagen dekorativ verwendet, ohne daß man sich um den genauen Sinn gekümmert hätte. Auch ist in einem Zeitalter noch primär mündlicher Kommunikation mit der Möglichkeit von Fehlern und Umdeutungen bei der Übermittlung von Inhalten zu rechnen, wovon neben der Erzählforschung auch die Ikonographie Beispiele kennt (etwa Umdeutung des Christustypus »Volto Santo« zur heiligen Kümmernis). Selbst Gelehrte waren sich hinsichlich der richtigen Auslegungen nicht immer sicher: Konrad von Megenberg (1309 - 1374) erklärt in seinem Buch der Natur viele Tiere allegorisch, gelegentlich läßt er aber auch dem Prediger die Freiheit: »dâ mach auz, waz dú wellest.« 79 Es gibt keinen Schlüssel, der uns die ganze Welt der Dämonen und Monster öffnen würde, und auf viele unserer Fragen hätte wohl auch kein Bauherr und Bildhauer jener Zeit eine Antwort gehabt. Epigonen Manches aus der Welt der Dämonen und Monster ist nach dem Mittelalter weitergeführt worden, ist zu ornamentaler Zier am Bau »gesunken«, der usprünglichen Bedeutungen oder auch nur Assoziationen entleert. Daß etwa die Fratzen an Schloßportalen und Brunnen, die sich so oft in der Kunst des Manierismus und des Barock finden, 80 noch eine abwehrende Funktion besessen hätten, an die ihre Hersteller glaubten, scheint angesichts dessen, was wir sonst über die höfische und die bürgerliche Kultur der Frühneuzeit wissen, unwahrscheinlich. Die Schwelle wird in etwa im 16. Jahrhundert liegen: ein Renaissance-Maskenkopf mit beweglicher Zunge wie am Stadttor von Kientzheim (Elsaß) diente wohl nur mehr zur Verspottung der Angreifer. 81 Anders dürfte es im ländlichen Bereich geblieben sein, wo Neidköpfe auch an der Bauernhausarchitektur vorkommen, wie auch im Maskenbrauchtum. - Eher drollig-verspielte steinerne und metallene Wasserspeier in Drachenform wurden seit dem Manierismus immer wieder für Kirchen- und Profanbauten bestellt und zieren noch manche von Mittelalterromantik angehauchte Villen des Fin du Siècle. Daß sich die Neogotik und die sie fortsetzende phantastische Architektur des Fin de Siècle à la Antoni Gaudì sich ihrer bedienten, bedarf keiner Betonung. Auch die martialische Bauplastik der Zwischenkriegszeit griff letztlich auf mittel- 78 Elias, Norbert: Der Prozeß der Zivilisation. Zürich 1969, Bd. II, S. 406 f. 79 III C, 10, zit. Michel (Fn. 12), S. 77. 80 Beispiele: Sütterlin (Fn. 71), Abb. 2 f. 81 Kröll (Fn. 10), S. 29, Abb. 19. 122 Peter Dinzelbacher alterliche Konzeptionen zurück, wenn sie Bauten mit Tiermonstern bestückte, wie z.B. die schlangenartigen Genien an der Holzmeisterstiege außen am Kleinen Festspielhaus in Salzburg, die wie eine Mischung aus germanischer Tierornamentik und altamerikanischer Sakralkunst anmuten. Viele »Epigonen« wurden aber auch gezielt als Ersatz für zerstörte Originale angefertigt. Ein großer Teil der »mittelalterlichen« Figuren am Außenbau der Kirchen, mehr als meist angenommen, sind Rekonstruktionen, die sich mehr oder weniger genau an den mehr oder weniger zerfallenen Originalen orientieren, an deren Stelle sie treten. Dies gilt besonders für alle dem Wetter ausgesetzten Bauteile, und da viele dieser Restaurationen schon im 19. Jahrhundert erfolgten, wirken diese Skulpturen heute bereits so alt, daß kaum einer der Betrachter einer romanischen »Schmuckkirche« wie St. Johannes in Schwäbisch Hall oder einer gotischen Kathedrale wie Notre Dame de Paris bemerkt, daß es sich um Kopien oder Neuschöpfungen »im Geiste des Mittelalters« handelt. Ein typisches Beispiel für einen solchen romantischen Epigonen verkörpert jener so oft (auch von Kunsthistorikern) als »gotisch« abgebildete Dämon vom Dach letztgenannter Kirche, der melancholischen Blickes in die Ewigkeit starrt, »in die hant gesmogen daz kinne und die wangen« 82 . Speziell in England zeigen die kirchlichen und profanen Bauten ein oft schwer entwirrbares Nebeneinander von gotischen Originalen mit neuzeitlichen Ergänzungen und freien Nachschöpfungen. 83 Größer dürften freilich die Verluste sein: als nach dem Tridentinum die katholische Ikonographie tiefgehend gereinigt wurde, sind fraglos viele der kirchenkritischen, skatologischen oder erotischen Skulpturen abgehauen oder verstümmelt worden. Ein bekanntes Beispiel ist die Prozession von verschiedenen liturgische Zeremonien ausführenden 82 Frei nach Walther von der Vogelweide, L. 8, 7 f. 83 Vgl. z.B. Blackwood, John: Oxford’s Gargoyles and Grotesques. Oxford 1986. Würzburg, Marienkirche, 19. Jh. Monster und Dämonen am Kirchenbau 123 Tieren am Straßburger Münster von 1298, die 1685 vernichtet wurde. 84 Unser Mittelalterbild ist sehr oft nur ein zensiertes. Mythen Es wäre eine lohnende Aufgabe, einmal systematisch Reflexen der Bauplastik in lokalen Sagen und Legenden nachzugehen. Hier nur zwei Beispiele: Der von lombardischen Handwerkern erbaute Dom von Lund in Südschweden wird von einer 1123/ 31 eingeweihten Krypta unterfangen. In ihrer Mitte stehen zwei Säulen, deren eine von einem Mann, deren andere von einer Frau mit Kind umklammert wird. Sie wurden u.a. als Samson und Dalila, Jachin und Boas, Laurentius und Maria erklärt. 85 Die Volksüberlieferung sieht darin jedoch den Riesen Finn, der die Kirche für ihren Patron Laurentius erbaute und dafür dessen Augen oder Sonne und Mond forderte; er sei deswegen hier mit seiner Familie in Stein verwandelt worden 86 (ein verbreiteter Typus der Bausage). 87 Unter den zahlreichen Heiligen des Namens Romanus ist einer der bekanntesten der Bischof von Rouen (Regierungszeit 629 - 639). Sein Viten datieren freilich erst aus dem 10. Jahrhundert und haben erwartungsgemäß einen Zug zum Wunderbaren. So soll der 84 Flögel, Karl-Friedrich: Geschichte des Grotesk-Komischen. Dortmund 1978 (Nachdr.), S. 414 f. 85 KLNM 10 (Fn. 23), Sp. 353. 86 Graebe, Eiler: Der Dom zu Lund. Lund 1975, S. 14 f. 87 KLNM 9 (Fn. 23), Sp. 685 f. Lund, Krypta, 1123/ 31. 124 Peter Dinzelbacher Heilige einer Überschwemmung erfolgreich mit dem Kreuz in der Hand und einem Gebet auf den Lippen entgegengetreten sein. 88 Diese Flut wurde nun in der Überlieferung zu einem Drachen mit dem an »gurges«, Wasserstrudel, anklingenden Namen Garguille - und dies offensichtlich eben, weil im Französischen so die oft drachenartigen Wasserspeier bezeichnet werden. 89 Gerade diese Wesen wurden dann in der Romantik und Phantastik des 19. Jahrhunderts belebt, so in Chares Meryon’s Le Stryge (1853). Sie wirken als Chiffren für die Fremdheit einer Epoche, eine Fremdheit, die offensichtlich seit etwa den achtziger Jahren eine Faszination ausstrahlt, die sogar der akademischen Mittelalterforschung als Mythenerzählerin und -deuterin zugutekommt. 88 Platelle, Henri: Romano di Rouen. In: Bibliotheca sanctorum XI. Roma 1968, Sp. 328 - 330. 89 Holbek, Bengt, Piø, Iørn: Fabeldyr og sagnfolk. København 1967, S. 375. Monster und Dämonen am Kirchenbau 125 Bibliographische Hinweise Allgemeine Hinweise Die einschlägigen Stichworte im Lexikon der christlichen Ikonographie (LcI), Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte, Lexikon des Mittelalters (LexMA), Dictionary of the Middle Ages, Kulturhistorisk leksikon for nordisk middelalder (KLNM), Lexikon für Theologie und Kirche (LThK); in den Symbollexika. Forschungsliteratur Adeline, Jules: Les sculptures grotesques et symboliques. Rouen 1879. Adloff, I.: Die antiken Fabelwesen in der romanischen Bauornamentik des Abendlandes. Tübingen 1947 (Diss.). Baltl, Herman: Zur romanischen Löwensymbolik. In: Zeitschrift des historischen Vereins für Steiermark 54 (1963), S. 195 - 220. Bernheimer, Richard: Romanische Tierplastik. München 1931. Basford, Kathleen: The Green Man. Ipswich 1978. 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Gargoyles - Wasserspeier Phantasieprodukte des Mittelalters und der Moderne Albrecht Classen (Tucson) Wer kennt sie nicht, diese seltsamen, zugleich durch ihre furchterregende Häßlichkeit, manchmal durch ihre Skurrilität Komik auslösenden Wesen, die praktisch bei allen gotischen Kirchengebäuden, oftmals auch bei weltlichen Gebäuden hoch über dem Betrachter direkt am Dachrand angebracht sind und zunächst die schlichte Funktion besitzen, wie der deutsche Name besagt, das in der Regenrinne gesammelte Wasser weit abwärts von der Mauer wegzuleiten und »auszuspeien«? Diese Wasserspeier stellen überall einen wichtigen Teil des Skulpturenprogramms vor allem der gotischen Architektur dar, ohne daß man bis heute ganz das dahinterstehende künstlerische, ästhetische, religiöse, epistemologische oder ideologische Konzept ergründet hätte. Im Englischen spricht man von »gargoyle«, was sich vom altfranzösischen »gargoule« ableitet und heute »gargouille« heißt, soviel wie »Abflußrinne« oder »Traufe« bedeutet. Das Verb »gargariser« meint »gurgeln«. Im Italienischen nennt man diese Skulpturen »grónda sporgente« (herausragender Wasserleiter), im Holländischen »waterspuwer« (Wasserspucker). Alle diese Bezeichungen hängen teils etymologisch, teils nur in metaphorischer Hinsicht eng zusammen. Die Funktion dieser Wasserspeier ist sofort einsichtig, denn Regenwasser, das direkt an der Mauer nach unten laufen würde, könnte leicht Erosionsschäden verursachen und muß daher im sicheren Abstand vom Gebäude weggeführt werden. Man kannte bereits in der Antike solche Skulpturen, wenn man etwa an den Löwenkopf am Parthenon von Athen (5. Jahrhundert vor Christus) oder an die terra-cotta-Köpfe in Pompeji denkt, die genauso wie die Gargoyles das Wasser vom Dach ableiten sollten. 1 Ähnliche Figuren sind uns auch aus der etruskischen und sogar schon aus der altägyptischen Kultur bekannt 2 . Freilich besteht immer noch ein großer Unterschied zwischen den hochmittelalterlichen und den antiken Wasserspeiern, was die äußere Form angeht, obwohl die bautechnische Absicht im wesentlichen die gleiche gewesen ist. Die Allgegenwart dieser Skulpturen in ganz Europa braucht uns daher überhaupt nicht zu überraschen, zu untersuchen ist hingegen, was die monströse Erscheinung bedeuten mag, die vor allem die mittelalterlichen Gargoyles charakterisiert. Zu unterscheiden wäre zunächst zwischen Wasserspeiern im funktionalen Sinne und den vielen monströsen Skulpturen an den Außenwänden von den verschiedensten Gebäuden, die kein Wasser leiteten und daher als »chimära« zu bezeichnen sind. Erst mit der Entwicklung der gotischen Bauweise ab dem frühen 12. Jahrhundert griff man auch auf 1 Mertens-Horn, Madelaine: Die Löwenkopf-Wasserspeier des griechischen Westens im 6. und 5. Jahrhundert im Vergleich mit den Löwen des griechischen Mutterlandes. Mainz 1988. 2 Ludwig, Kirsten: Wasserspeier. Form und Funktion eines altägyptischen Architekturdetails. München 1989 (Magisterarbeit). 128 Albrecht Classen diese schon in der Antike bekannten Wasserspeier zurück, die sich oftmals besonders an den Schwebebögen finden (wie beispielsweise in den Kathedralen von Burgos oder Notre Dames). Freilich nahmen beileibe nicht alle Wasserspeier die monströse Form an, vielmehr gab es selbst im 12. und 13. Jahrhundert, als diese Skulpturen mit besonderer Vorliebe angebracht wurden, Wasserleitungen ohne jegliche figürliche Gestalt. Die ältesten mittelalterlichen Gargoyles scheinen diejenigen an der Kathedrale von Laôn von ca. 1220 zu sein; jedenfalls legen ihre primitiven Formen diese Datierung nahe. Gefolgt wurden sie von den Wasserspeiern von Notre Dame in Paris, und sie verbreiteten sich von da an als überaus funktionale Gewerke und zugleich höchst originelle Dekorelemente in ganz Europa. Seit dem späten 13. Jahrhundert nahmen die Wasserspeier zunehmend menschliche Formen an (z.B. an der Kathedrale von Poitiers) und wurden immer sorgfältiger bildhauerisch gestaltet. Bald verloren sie ihre höllischen oder dämonischen Gestaltungsmerkmale und wirkten eher grotesk und absurd als erschreckend und abstoßend. Auch obszöne und skatologische Skulpturen finden sich darunter (wie z. B. am Freiburger Münster) . 3 Die meisten mittelalterlichen Gargoyles sind aus Sandstein oder Marmor, nur gelegentlich findet man auch solche aus Blei (wie an der Kathedrale von Reims). Im 19. Jahrhundert griff man gerne in Nachahmung mittelalterlicher Wasserleiter auch auf diese Skulpturen zurück, bediente sich dann aber überwiegend des Metalls (wie im Falle des Hôtel Dieu in Beaune). Viele Wasserspeier waren wahrscheinlich farbig, obgleich heute davon nichts mehr erhalten ist. Erstaunlich, daß trotz der großen Zahl von noch vorhandenen Wasserspeiern praktisch keiner dem anderen gleicht, mithin jeder einzelne ein individuelles Kunstwerk darstellt. Wieso die meisten Gargoyles, die man von ebener Erde aus gar nicht genau erkannen kann, bildhauerisch so überaus phantasievoll und detailliert gestaltet wurden, läßt sich bisher nicht zufriedenstellend erklären. Legionen von Dämonen, Monstern und Fabelwesen bevölkern wasserspeiend in schwindelnder Höhe vor allem kirchliche, aber auch weltliche Gebäude: Man entdeckt absurde, manchmal rückwärts gewandte menschliche Figuren, bei denen das Wasser aus ihrem Anus schießt (Kathedralen von Saint-Lazare und Autun). Manchmal finden sich Kombinationen von tierischen Monstern mit menschlichen Gesichtszügen(Kathedralen von Notre-Dame-des-Marais, Villefranche-sur-Saône) oder groteske menschliche Gestalten mit tierischen Gliedmaßen (Cathedral Church of St. Peter in York). In Laôn befindet sich an der Nordseite der Kathedrale ein wilder Eber als Wasserspeier, während die Kirche von Thaxted in England mit einem großen Löwen in dieser Funktion aufwartet. Am Dachgiebel der Kollegiatskirche von Sainte-Waudru im belgischen Mons sieht man einen wasserspeienden Widder, während in Nürnberg am »Schönen Brunnen« auf dem Hauptmarkt eine Ziege und ein Affe das Wasser ableiten. In Bourges dient am Hause Jacques Coeurs ein Affe als Wasserspeier, während an der Kirche von Saint-Etienne in Cahors eine Sirene als Gargoyle ihre Aufgabe erfüllt. Einem drachenähnlichen Gargoyle begegnet man am Erker des Collegium Carolinum der 1348 von Karl IV. gegründeten Prager Universität. Hundeähnliche Gestalten tummeln sich an der Wand des Südquerschiffs der Pfarrkirche St. Marien in Mühlhausen in Thüringen. Ein fliegender Fisch ergießt das Wasser an der Kirche Saint Gommarus im belgischen Lier, und ein geflügelter Hasen tut es ihm an der Domkerk von Utrecht nach. Ein Kosmos höl- 3 Koester, Heike; Jeras, Jean: Die Wasserspeier am Freiburger Münster. Lindenberg 1997. Gargoyles - Wasserspeier 129 lischer Phantasiegestalten, orientalischer Monster und ins Groteske verzerrter Fauna. Geistliche und weltliche Reiseliteratur oder Musterbücher für Künstler dienen dabei als Vorlage, und der kreativen Einbildungskraft ist offensichtlich bei der Gestaltung von Gargoyles im gesamten europäischen Mittelalter 4 keine Grenze gesetzt. Die Wasserspeier stellen bis heute ein schwieriges epistemologisches Problem dar. Die Diskussion, was die geistige, dämonologische oder religiöse Bedeutung der Gargoyles ausmachen könnte, wird schon sehr lange geführt, und es gibt insgesamt nur stark divergierende Spekulationen, die das Phänomen immer nur in bestimmten Teilaspekten erfassen. Emile Mâle glaubte noch, daß sich in den Wasserspeiern ein Urbewußtsein der Menschheit manifestiere, das zunächst von mündlicher Erzähltradition bewahrt und erst später im hohen Mittelalter erneut in diesen skurrilen Skulpturen Ausdruck gefunden habe 5 . Man hat auch die Gargoyles mit den Monsterbildern und grotesken Figuren, die in Straßenprozessionen und in Mysterienspielen auftraten, in Verbindung gebracht, doch dabei vergessen, daß diese Aufführungen erst wesentlich später ab dem 13. und 14. Jahrhundert begannen und sich eher die Wasserspeier als Vorbild nahmen anstatt diesen als Quelle zu dienen 6 . Am häufigsten liest man die Auffassung, diese steinernen Fratzen haben böse Geister davonjagen oder als Allegorien der Sünde diese aus dem kirchlichen Bereich fernhalten sollen. 7 Ronald Sheridan und Anne Ross wiesen jedoch jüngst darauf hin, daß Gargoyles sogar innerhalb von Kirchen auftauchen und deswegen nicht immer dazu dienen konnten, das Böse zu verscheuchen. 8 Statt dessen repräsentierten sie nach ihrer Meinung archaische Überbleibsel paganen Glaubens. Indes scheint problematisch, daß kirchliche Auftraggeber und Baumeister solche Figuren gestattet hätten, wenn diese Erklärung stimmen sollte. 9 Laut Michael Camille stellen Wasserspeier schlicht Objekte dar, die den Schmutz aus der Kirche leiten und damit primär eine hygienisch-architektonische und zugleich moralisch-theologische Reinigungsfunktion besässen. Freilich, auch dies ist letztlich keine befriedigende Erklärung, denn das Regenwasser kann nicht ohne weiteres mit Schmutz identifiziert werden, vor allem da Wasser auch als Taufwasser verwendet wird und der Regen vom Himmel kommt. 10 Janetta Rebold Benton erblickt in den Gargoyles symbolische Wesen, die den Betrachter erschrecken und einschüchtern, vielleicht auch an die Hölle selbst erinnern sollten; sie berücksichtigt jedoch wiederum nicht, daß viele jener Objekte so weit oben angebracht waren, daß die meisten Menschen gar nicht die Wasserspeier aus der Nähe betrachten konnten 11 . Benton macht freilich darauf aufmerksam, daß Höllengestalten oftmals die Phanta- 4 Jenni, Ulrike: Vom mittelalterlichen Musterbuch zum Skizzenbuch der Neuzeit. In: Die Parler und der schöne Stil 1350 - 1400. Europäische Kunst unter den Luxemburgern. Bd. 3. Hrsg. Anton Legner. Köln 1978, S. 139 - 150. 5 Mâle, Emile: The Gothic Image: Religious Art in France of the Thirteenth Century. New York 1984, S. 58 f. 6 Lester Burbank Bridaham: Gargoyles, Chimeres, and the Grotesque in French Gothic Sculpture. New York 1930, 2. erw. und revidierte Aufl. 1969, S. x - xiv. 7 Abbé Auber: Histoire et théorie du symbolisme réligieux. Paris 1870 - 71. 8 Sheridan, Ronald; Ross, Anne: Gargoyles and Grotesques. Paganism in the Medieval Church. Boston 1975, S. 12. 9 Vgl. Sheridan/ Ross (Fn. 8). 10 Camille, Michael: Image on the Edge: The Margins of Medieval Art. Cambridge, Mas. 1992, S. 78. 11 Benton, Janetta Rebold: Gargoyles. Animal Imagery and Artistic Individuality in Medieval Art. In: Animals in the Middle Ages. A Book of Essays. Hrsg. Nona C. Flores. New York; London 1996 (Garland Medieval Casebooks), S. 147 - 165, hier S. 157. 130 Albrecht Classen sie der mittelalterlichen Menschen beschäftigten und daß insoweit Gargoyles keine mentalitätsgeschichtliche Ausnahme darstellten. Trotzdem gibt es einen deutlichen Unterschied zwischen Höllentorabbildungen, wie sie oftmals in Tympani über den Hauptpforten von Kathedralen zu sehen sind, und den monströsen Wasserspeiern: es fehlt diesen der entsprechende topographische oder dämonologische Kontext, und sie erfüllen eine äußerst nützliche Funktion für den Erhalt der Bausubstanz. Dennoch kann man eine Verbindung zwischen der theologischen Monstertradition und den abschreckenden Skulpturen nicht völlig ausschliessen, weil die Typologie in vielerlei Hinsicht doch recht ähnlich ist. Besonders auffallend ist die Übereinstimmung zwischen visionären Bildern und Schreckgestalten aus der Apokalypse und den Wasserspeiern. Möglicherweise sollten diese Skulpturen die menschlichen Alpträume in Stein fassen, um die Betrachter an ihre Ängste und ihr Schuldbewußtsein zu gemahnen, die ihnen als physische Realität vorgeführt und Bedrohung für ihre Seele bewußt gemacht wurden 12 . Wie sich aber erklären läßt, daß die meisten Gargoyles nichtsdestotrotz so hoch über den Menschen aus dem Mauerwerk ragen, bleibt weiterhin unklar und ist vielleicht letztlich auf technische Gründe zurückzuführen. Wesentlich ist wohl ihre Präsenz, nicht die Möglichkeit ihrer konkreten Wahrnehmung. Nicht alle Wasserspeier waren im übrigen völlig der Sicht entzogen, obwohl sie meistens unterhalb des Daches angebracht waren und so das Regenwasser sogleich von dort wegleiten konnten. Vom Glockenturm aus konnten sie ohne weiteres betrachtet werden, oder auch während ihrer längeren Entstehungszeit in den Werkstätten und Bauhütten. Nicht alle diese Skulpturen sind der menschlichen Phantasie entsprungen. Oft entdeckt man teils komische, teils lächerliche, teils absurde, teils närrische Figuren, über die man lachen kann, aber vor denen man keine Angst empfindet. Von daher bietet sich die Überlegung an, daß die Bildhauer vor allem des späteren Mittelalters gerne auf solche skurrilen Figuren zurückgriffen, um dem Betrachter die Möglichkeit zu bieten, sich aus dem gar zu strengen Paradigma von Himmel und Hölle für eine kurze Zeit zu befreien und schlicht über diese Wasserspeier zu lachen, was durchaus mit dem Phänomen der vielen burlesken und gelegentlich sogar vulgären Skulpturen oder Schnitzereien (siehe z.B. die Misericordi) übereinstimmt. Von daher scheint besonders der kunsthistorische Unterschied zwischen den hochgotischen und den spätgotischen Gargoyles beachtenswert, denn je weiter wir in der Zeit voranschreiten, desto grotesker und auch phantasiereicher werden diese Figuren 13 . Während noch im 12. und 13. Jahrhundert der religiöse Faktor eine bedeutende Rolle bei der Gestaltung von Wasserspeiern gespielt hat, insoweit als sie sich typologisch eng an die Höllendarstellungen in früh- und hochmittelalterlicher Literatur sowie in bildlichen Darstellungen anlehnen, scheinen ab dem 14. und 15. Jahrhundert zunehmend Volksüberlieferung, Erzählungen aus dem und über den enigmatischen Orient sowie der Einfluß der Monster- und Reiseliteratur (Marco Polo, John Mandeville) auf die Gestaltung dieser Figuren eingewirkt zu haben. Daß die Künstler späterer Jahrhunderte Wasserspeier auch als phantasievolles und kreatives Dekors schufen, ohne sich von religiöser, geistlicher oder moralischer Programmatik leiten zu lassen, ist offensichtlich. So erklärt sich auch die un- 12 Benton (Fn. 11), S. 159. 13 Kenaan-Kedar, Nurith: Marginal Sculptures in Medieval France. Towards the Deciphering of an Enigmatic Pictorial Language. Brookfield, VT. 1995, S. 143. Gargoyles - Wasserspeier 131 endliche Anzahl von menschlichen wie tierischen Monstergestalten, Dämonen oder Fabelwesen der Skulpturen 14 . Sogar Mönche (Château de Blois), Pilger (St. Urbain in Troyes), Ritter (St. Urbain), nackte weibliche (St. Urbain) und männliche Figuren (Kreuzgang der Kathedrale von Rouen) werden als Wasserspeier gestaltet. Mit anderen Worten, der künstlerischen Phantasie waren praktisch keine Grenzen gesetzt. Wieso aber - und diese Frage drängt sich stets von neuem auf - waren Bauherren bereit, mit solchen schreckenerregenden Gestalten ihre Gebäude schmücken zu lassen? Zu berücksichtigen wäre insbesondere, daß Gargoyles keineswegs nur bei Kirchen oder Klöstern verwendet wurden, sondern ebensogut, wenn auch erst ca. ab dem 14. Jahrhundert in der weltlichen Architektur Verwendung fanden. Laut Sheridan und Ross hatte die Kirche einzusehen gelernt, daß man die Bevölkerung nicht allein mit Hilfe der Bibel und der Predigt erreichen konnte, sondern immer auch dadurch ansprechen mußte, daß man sich in irgendeiner Form auf den weiterhin unterschwellig vorhandenen paganen Glauben bezog und sich mit diesem in einen kritischen Dialog einließ. Die absurde Welt der Wasserspeier wäre dann teils als Verspottung des »Aberglaubens« anzusehen. Aber die angsteinjagenden Figuren sollten auch als höllische Gestalten vorgeführt werden, um deutlich zu machen, daß auch andere religiöse Vorstellungen existierten, insoweit als die Gargoyles nicht-christliche Glaubensformen reflektierten. 15 Obwohl es sich um eine faszinierende Hypothese handelt, dürfte sie sich kaum belegen lassen, da während des gesamten Mittelalters keine anderen Glaubensformen als die des Christentums toleriert wurden und die Kirche darauf bedacht war, keinerlei ketzerische oder häretische Gedanken aufkommen zu lassen. Eine irrtümliche Meinung ist auch, die Kirche habe einzusehen gelernt, daß der Aberglaube nicht auszulöschen ist und die Gargoyles plastisch vorführen sollten, daß fremde, also nicht-christliche Glaubensformen ohne weiteres neben den Kultobjekten der eigenen Religion existieren durften 16 . Einen ganz anderen Gedankengang entwickelte Janetta Bentson, die auf die strengen Regelungen innerhalb des mittelalterlichen Handwerks und mithin auch der Bildhauer hinweist. Während üblicherweise ein Künstler sich genauestens nach den Vorschriften seiner Zunft richten mußte und keine Freiheit in der Gestaltung seiner Werke besaß, die er streng nach den Richtlinien seiner Bauherren entwerfen mußte, bot sich ihm anhand der Wasserspeier die einmalige Möglichkeit, die Normen zu sprengen und sich in den Bereich der individuellen Kreativität zu begeben. Auch Marginalzeichnungen in mittelalterlichen Handschriften weisen eine Unzahl von grotesken Wesen auf, Drôlerien und Miniaturen, mit denen der Illuminator eigene Wege beschreiten konnte. Zwar handelt es sich in beiderlei Hinsicht um Marginalkunst, aber trotz des beschränkten Raumes scheinen die Künstler mehr oder weniger freizügig ihre Phantasie ausgelebt zu haben 17 , ohne damit als ethisch, moralisch oder theologisch anstößig angesehen worden 14 Bridaham, Lester Burbank: Gargoyles, Chimeres, and the Grotesque in French Gothic Sculpture. New York 1930, S. xiii. 15 Sheridan/ Ross (Fn. 8), S. 8: »that the representations are pagan deities dear to the people which the Church was unable to eradicate and therefore allowed to subsist side-by-side with the objects of Christian orthodoxy«. 16 Vgl. Sheridan/ Ross (Fn. 8). 17 Randall, Lilian M. C.: Images in the Margins of Gothic Manuscripts. Berkeley 1966; Weir, Anthony; Jerman, James: Images of Lust: Sexual Carvings on Medieval Churches. London 1986. 132 Albrecht Classen zu sein 18 . Die aus heutiger Sicht fast unglaublich wirkende Obszönität und die Grobianismen wie skatologische oder groteske Darstellungen scheinen dies zu bestätigen. Die Wasserspeier sind zwar Objekte der Marginalkunst des Mittelalters, aber sie gehören mit zu den bedeutsamen visuellen Reflexionen mittelalterlicher Mentalität, sei es, daß sie tiefsitzende Ängste vor der Hölle repräsentierten 19 , sei es, daß sie einer neu aufblühenden curiositas zum Ausdruck verhalfen, die freilich noch nicht von naturkundlichen Studien, empirischen Betrachtungen und Reiseerfahrungen begleitet wurde. Wie komparatistische Untersuchungen von Katrin Kröll vorgeführt haben, stand im Mittelalter »Buchwissen und Sinnenfreude« in einem eigentümlich engen Zusammenhang, und dementsprechend dienten die Gargoyles sowohl zur bloßen Dekoration als auch zur theologischen Belehrung, sowohl als Repräsentanten einer Anderswelt, die sich auch innerhalb der christlichen Welt zu erkennen gibt, wie auch als konkret wahrnehmbare Schreckensgebilde aus den eigenen Alpträumen 20 , mit denen die Kirche die Gläubigen konfrontieren wollte, um sie auf die innere Konversion vorzubereiten. Die Wasserspeier, so grotesk und obszön sie oftmals wirken mögen, bildeten einen integralen Bestandteil der gotischen Architektur. Sie waren künstlerischer Ausdruck und phantasievolle Verkörperung für eine breite Skala von Empfindungen und Gefühlen - auch bei den Betrachtern. Ungeachtet der individuellen Erklärungen, welche Funktion man diesen Skulpturen letztlich zuschreiben möchte, entscheidend bleibt für unser Verständnis, daß sie im Auftrag der Kirche an allen architektonisch erdenklichen und bautechnisch funktionalen Stellen der Kathedralen oder anderen Kirchengebäuden angebracht wurden und somit stets im Kontext des kirchlichen Lebens gesehen werden müssen. Erst im späteren Mittelalter tauchen viele Gargoyles auch an weltlichen Gebäuden auf 21 . Als architektonisches Element behielt der Wasserspeier bis heute seine funktionale Bedeutung, während er in seiner mittelalterlichen Form seit dem 15. und 16. Jahrhundert starken Wandlungen unterworfen war. Sobald man sich jedoch im 19. Jahrhundert im Zuge der romantischen Rückbesinnung auf das Mittelalter erneut darum bemühte, diese wasserspeienden Dämonen, Monster und Fabelwesen wieder aufleben zu lassen, brachte man auch an den neogotischen Kirchen Imitationen der mittelalterlichen Gargoyles an. Insbesondere in den USA lassen sich viele Skulpturen dieser Art finden, die bedeutendsten Exemplare wohl an der Washington Cathedral, mit derem Bau man 1907 begann und die erst 1990 eingeweiht wurde. Insgesamt 106 Wasserspeier wurden dort angebracht, die größtenteils den mittelalterlichen Vorbildern nachempfunden sind, oftmals aber auch, weil von privaten Stiftern bezahlt, persönliche Anspielungen oder konkrete Abbildungen aufweisen. Verschiedentlich bedienten sich Dichter und Schriftsteller des 20. Jahrhunderts der Gargoyles als Motive oder Themen für ihre Romane und Gedichte, so Howard Mumford 18 Kröll, Katrin: Der schalkhaft beredsame Leib als Medium verborgener Wahrheit. In: Kröll, Katrin; Steger, Hugo (Hrsg.): Mein ganzer Körper ist Gesicht. Groteske Darstellungen in der europäischen Kunst und Literatur des Mittelalters. Freiburg 1994, S. 239 - 294, hier S. 288 f. 19 Siehe die Abbildungen in: Himmel, Hölle, Fegefeuer. Das Jenseits im Mittelalter. Katalog von Peter Jezler. München 1994 (2., durchgesehene Aufl.), Kat. 127 - 152. 20 Kröll (Fn. 18), S. 293 f. 21 Kröll, Katrin: Die Komik des grotesken Körpers in der christlichen Bildkunst des Mittelalters. Eine Einführung. In: Kröll/ Steger (Fn. 18), S. 11 - 105, hier S. 41. Gargoyles - Wasserspeier 133 Jones: Gargoyles, and Other Poems (Boston 1918), Ben Hecht mit seinem Gargoyles (New York 1922), Louis Auchincloss in seiner Erzählung Billy and the Gargoyles (1952) und Stephen King mit Nightmares in the Sky: Gargoyles and Grotesques (New York 1988). Ebenso hat das Jugendfernsehn die Faszination der monströsen Wasserspeier seit einigen Jahren auszunützen verstanden. Greg Weisman, der sich als Student der Architektur an der University of Oxford, England, aufgehalten hatte, schuf zwischen 1987 und 1990 eine Zeichentrickfilm-Serie Gargoyles, die später von The Goliath Chronicles gefolgt wurde, wobei die Hauptfigur, ein Gargoyle namens Goliath, die Hauptrolle spielt. Im wesentlichen handelt es sich darum, daß ein gewissenloser amerikanischer Geschäftsmann Xanatos eine Reihe von meist geflügelten Wasserspeier-Figuren aus Schottland nach New York gebracht hat, wo sie, weil sie auf seinem Hochhaus über den Wolken angebracht worden sind, nachts erneut zum Leben kommen und sich dann als tapfere Kämpfer gegen das organisierte Verbrechen in der Stadt beweisen. 1994 erschien dann eine Kinoversion: Gargoyles: The Heroes Awaken, womit das europäische Mittelalter in seinen grotesken Formen endgültig zu einem festen Bestandteil der Phantasie amerikanischer Jugendlicher geworden ist. 1995 erschien ein aufklappbares Kinderbuch Gargoyles: While the City Sleeps (Burbank, CA, 1995), und viele weitere Publikationen und Kunstwerke, die sich auf diese mittelalterlichen Wasserspeier beziehen, sind für die Zukunft noch zu erwarten. Basilisk - regulus Eine bedeutungsgeschichtliche Skizze Marianne Sammer (München) I. Naturgeschichtliches Umfeld Hat auch Plinius der Ältere den Basilisken in seinen naturalis historiae libri xxxviii nicht erfunden, so stehen doch seine Ausführungen und der zum Teil von ihm abhängige Bericht des Solinus 1 am Anfang der Bedeutungsgeschichte dieses Fabeltieres. In der lybischen Provinz Kyrenaika lebe, so Plinius 2 , eine Schlangenart, nicht mehr als zwölf Fingerbreit lang, die sich nicht in Windungen, sondern hochaufgerichtet - »celsus et erectus« - fortbewege und auf dem Kopf einen weißen Fleck trage, der ihn wie ein Diadem schmücke. Nicht genug, daß der Basilisk alle Lebewesen, die ihm in die Augen sehen, unverzüglich mit seinem Blick töte, seine Berührung, ja sein bloßer Anhauch versenge Kräuter und sprenge Steine, sein Zischen jage selbst andere Schlangen in die Flucht. 3 Nach Solinus sollen sogar die Vögel, die im Begriff sind, über ihn hinwegzufliegen, tot vom Himmel herabstürzen, weil er mit seinem Atem die Luft verpeste. 4 Man habe, Plinius zufolge, das Gift eines Basilisken einst für stark genug gehalten, den Speer, mit dem ein Reiter einen Basilisken erstochen hatte, emporzusteigen und den Reiter mitsamt seinem Pferd tödlich zu infizieren (die Formulierung »creditum« [man hat geglaubt] ist angesichts dieser unnatürlichen Wirkungsweise des Basiliskengiftes freilich nicht zufällig). Am sichersten entledige man sich dieses Untiers, so die einhellige Meinung, indem man ein Wiesel, den einzigen natürlichen Feind des Basilisken, in seine Höhle werfe: »adeo naturae nihil placuit esse sine pare« (so [weise] hat es die Natur eingerichtet, daß nichts ohne gleich starken Widerpart sei). Gegen die Ausdünstung des Wiesels sei kein Basilisk gefeit, doch verliere es selbst nach seinem Sieg über den Basilisken das Leben. Nicht einmal die sterblichen Überreste des Basilisken sollen ihr Gift verlieren; so weiß Solinus von einem Apoll-Tempel zu berichten, den Spinnen und Vögel gleicherweise mieden, seit man einen toten Basilisken in einem goldenen Netz darin aufgehängt hatte. Diese Ausführungen, die über die übliche Schullektüre jedem Gelehrten geläufig waren, bilden das naturgeschichtliche Grundwissen über den Basilisken vom Mittelalter bis in die Neuzeit. Ein philologisch motiviertes Interesse an den ersten Bezeugungen des Basilisken ist nicht nachzuweisen. Ergänzend zu Plinius und Solinus wurden vor allem für naturkundliche Schriften bisweilen noch berühmte antike und spätantike Autoren, wie Galenos, Ailianos oder Pseudo-Dioskurides, hinzugezogen, was mitunter zu widersprüchlichen Aussagen führte, die bedeutungsgeschichtlich aber irrelevant blieben. So 1 Solinus, C. Julius: Collectanea rerum memorabilium, sive Polyhistor. 2 Vgl. C. Plinius Secundus d.Ä.: Naturalis Historiae Libri xxxviii, lib. vii, xiii 78, 79. 3 Vgl. Solinus (Fn. 1), Nr. 602. 4 Vgl. Solinus (Fn. 1), Nr. 601. 136 Marianne Sammer spricht etwa Galenos, abweichend von Plinius, von einer dreigliedrigen Verhornung am Kopf des Basilisken 5 , die später zwar die Dreizackung der Krone (nicht die Krone selbst! ) motiviert haben dürfte, mit der man in der bildenden Kunst das Basiliskenhaupt oftmals geziert findet, aber keine allegorische Deutung erfährt. 6 In den rein literarischen Quellen wird den bei Pseudo-Dioskurides angegebenen Gegenmitteln zum Basiliskenbiß - entweder Bibergeil mit Wein oder Mohnsaft 7 - keine Beachtung gezollt, weil sich der Basilisk hier nun einmal als eher »passiver Verderbenträger« durch seinen tödlichen Blick und seine giftige Aura auszeichnet. Naturkundliche Quellen erwähnen diese Empfehlungen mitunter, berichten aber von keinen Heilerfolgen - allerdings auch von keinen Todesfäl- 5 Dieser Widerspruch wird beispielsweise in einer kommentierten Solinusausgabe von 1603 festgestellt (vgl. C. Julii Solini Memorabilia Mundi [...] aucta a M. Georgio Dravido, Francofurti MDCIII). 6 Dem gefleckten Leib, mit dem Isidor den Basilisken ausgestattet hat, begegnet man gerne in der Malerei, als Gegenstand allegorischer Auslegungen hat aber auch er nicht gedient. Ebensowenig die gelblich-fahle Färbung des Basilisken, die ihm von Galenus verliehen wurde, oder der rote Basiliskenleib, nachzulesen bei Luc. Apuleius Madaurensis. 7 Diese Aussage stammt von Erasistratos, vgl. Pseudo-Dioskurides: De materia medica libri quinque. Hrsg. M. Wellmann. 3 Bde. 1906 - 1914, Bd. II. Abb.1: Antiken Vorstellungen nachempfundene Basiliskenschlange mit dreigezackter Krone. Basilisk - regulus 137 len - durch ihre Anwendung. 8 Wo die Wirksamkeit der Therapie nicht offen in Zweifel gezogen oder gar bestritten 9 wird, wird ihre unverzügliche Anwendung dringend empfohlen; 10 die bereits in der Antike entwickelte Diagnose kann jedoch erst mit den Anzeichen des nahenden Todes als gesichert gelten: »Der gebissznen leyb ist überall hitzig und entzündt. Die wunden (als Erasistratus anzeigt) wirdt gelb wie gold (dieweyl ein theil deß faulenden geblüts in gallen verkehrt wirt) die haar fellen von stunden auß / der bebisszne geschwilt / förchtet das wasser als were er von einem wütenden hund gebisszen / unnd volgt als bald der todt. Sölche zeichen sind desto gewisser wenn einer unversehens darvon stirbt ...« 11 Als letztes Beispiel sei noch die Furcht des Basilisken vor dem Hahn und sein Tod durch den Hahnenschrei erwähnt, eine Behauptung des Ailianos 12 , die bereits von der Patristik eindeutig zugunsten der Todfeindschaft des Basilisken und des Wiesels entschieden wurde und deshalb hauptsächlich in den Volksglauben Eingang gefunden hat. Die von Isidor von Sevilla in den Etymologiae auf der Grundlage der genannten antiken Quellen entwickelte Definition des Basilisken enthält für seine Bedeutungsgeschichte entscheidende Weichenstellungen: die Latinisierung des griechischen Leihwortes durch »regulus« und die sich daraus zwingend ableitende Klassifizierung als »rex serpentium« (König der Schlangen). Bis in die Neuzeit beginnen die meisten zoologischen Bestimmungen des Basilisken mit dieser Etymologie, aus der Literatur ist das Epitheton »rex serpentium« nicht wegzudenken, eine Unzahl theologischer Auslegungen und Metaphorisierungen nimmt von ihm seinen Ausgang, jede bildliche Darstellung des Basilisken als bekrönte Schlange oder als bekröntes schlangenartiges Mischwesen geht auf diese Bestimmung zurück. Dagegen hat das von Isidor angebotene Synonym »sibilus« (der Zischende) die naturkundliche Literatur nicht verlassen. Dieser starken Definition ist es wohl auch zu verdanken, daß die Beobachtung des tödlichen Blickes und die Infizierung der Luft, die ja aus verschiedenen Quellen stammen, ebenso wie die Tötung des Basilisken durch das Wiesel mit der auf Plinius anspielenden Bemerkung, »nihil enim parens ille rerum sine remedio constituit« (denn der Schöpfer der Natur ließ nichts ohne Gegenmittel), geradezu kanonisch geworden sind. 13 Die Montage tödlicher Blick - tödliche Luft 8 Vgl. z.B. Geßner, Jacob C.: Schlangenbuch. Das ist ein grundtliche und vollkommene Beschreybung aller Schlangen / so im Meer / süsen Wassern und auff Erden ir wohnung haben [...] Zürych MDLXX- XIX, Von dem Basiliscken, 29 r ; Lonitzer, Adam: Kreuterbuch, künstliche Conterfeyung der Bäume / Stauden / Hecken Getreyd / Gewürtze [...] Item von den Führnehmsten Gethieren der Erden / Vögeln / Fischen und Gewürm [...], 1679, Teil III: Von den Thieren auff der Erden, cap. 70, S. 629. 9 S chon in der Antike besteht über die Heilbarkeit des Basiliskenbisses keine Einigkeit; vgl. z.B. Aetius: »Aiunt autem quod conspectus modo, & sibilans auditur, eos qui ipsum audierunt, tollat, similiterque ab ipso conspectos. Quare vanum & superfluum duximus auxilia contra eum referre« (Man sagt, daß der bloße Anblick und das Hören seines Zischens diejenigen, die ihn gehört haben, dahinrafft, und ebenso diejenigen, die von ihm angeblickt werden.). Zit. nach: Aetii Medici Graeci contractae ex veteribus medicinae tetrabiblos, hoc est, quaternio, sive libri universales quatuor, singuli quatuor sermones complectentes. Lugduni 1549 [...] tetrabibl. iv, sermo i, cap. xxxiii: De Basilisco, S. 776. 10 Vgl. z.B. Geßner (Fn. 8), S. 29 r . 11 Geßner (Fn. 8), ebd. 12 Vgl. Scholfield, A.F. (Hrsg.): Aelian. On the characteristics of animals, in three volumes, with an English translation. London 1958, Bd. III, S. 193, Nr. 31. Aelianos berichtet, daß Reisende in Lybien als Schutz vor dem Basilisken einen Hahn mitführten, um sich gegen Basiliskenbefall zu schützen. 13 Vgl. z.B. zusätzlich zu Anm. 20 - 23 Thomas Cantimpratensis: Liber de natura rerum. Berlin; New York 1973, 8, 4. 138 Marianne Sammer ist in den Quellen sogar häufiger anzutreffen als die ursprüngliche Kombination von tödlichem Blick, tödlichem Anhauch und tödlicher Berührung. 14 Isidors während des Mittelalters vielzitierter Bemerkung, daß der Basilisk sogar das Wasser verpeste, das sein Opfer wasserscheu und wahnsinnig mache - ein seit Erasistratos gängiges Beispiel für seine seine tödliche Aura, die alle vier Elemente zu Reaktionen zwingt - kommt in den neuzeitlichen Naturkundebüchern nicht mehr viel Beachtung zu. Neuzeitliche Basilisken wohnen gemäß den Chroniken und Sagen immer häufiger in Brunnen und Zisternen und vergiften deshalb nicht über das Wasser, sondern töten die Menschen mit ihrem Blick oder der von ihnen verseuchten Luft. 15 Wie einflußreich Isidors Definition 16 im Mittelalter gewesen ist, mag man an der wortwörtlichen Wiedergabe bei Rabanus Maurus 17 , Pseudo-Hugo von St. Victor 18 und der paraphrasierenden bei Petrus Berchorius 19 erkennen: Isidor / Rabanus Maurus / Pseudo-Hugo von St. Victor »Basiliscus Graece, Latine interpretatur regulus, eo quod rex serpentium sit, adeo ut eum videntes fugiant, quia olfactu suo eos necat, nam et hominem, vel si aspiciat, interimit. Siquidem ad ejus aspectum nulla avis volans illaesa transit, sed quamvis procul sit, ejus ore combusta devoratur. A mustelis tamen vincitur, quas illic homines inferunt cavernis in quibus delitescit. Itaque ea visa fugit, quem illa persequitur, et occidit. Nihil enim parens ille rerum sine remedio constituit. Est autem longitudine semipedalis, albis maculis lineatus. Reguli autem, sicut scorpiones, arentia quaeque sectantur, et postquam ad aquas venerint, hydrophobos et lymphaticos faciunt. Sibilus idem est qui et Regulus. Sibilo enim occidit, antequam mordeat, vel exurat.« (Das griechische Wort ›Basilisk‹ wird im Lateinischen mit ›regulus‹ [kleiner König] wiedergegeben, weil er der König der Schlangen ist. Denn die, die ihn sehen, fliehen, weil er sie durch seinen Anhauch tötet. Auch für den Menschen, wenn er ihn nur anblickt, ist er todbringend. Auch kein Vogel fliegt an seinem Anblick unbeschadet vorbei, sondern wird schon aus der Ferne von seinen Augen verbrannt und verzehrt. Von Wieseln aber wird er überwunden, die die Menschen deshalb in die Höhlen einbringen, in denen er lauert. Daher flüchtet er, wenn er eines gesehen hat, jenes verfolgt ihn und tötet ihn. Denn der Schöpfer der Natur ließ nichts ohne Gegenmittel. Es ist ½ Fuß lang und hat streifenförmig angeordnete weiße Flecken. Die Basilisken suchen , wie die Skorpione, gerne die Sandwüste auf, und nachdem sie eine Wasserstelle erreicht haben, machen sie [ihre Opfer] wasserscheu und wahnsinnig. Der ›Zischer‹ ist das gleiche wie der Basilisk, denn er tötet durch Zischen, noch bevor er [sein Opfer] beißt oder vielmehr zersetzt.) Petrus Berchorius »Basiliscus Latine dicitur regulus, quia rex est serpentium, & tanquam rex in capite macula candida in signum diadematis, decoratur. Ipsum omnia timent, quia flatu, & aspectu interimit. Aves etiam sibi appropinquantes, flatu vel solo sibilo destruit, & comburit. Vix habet duodecim digitos in longitudine, herbas exurit, frutices & omnia circumiacentia destruit, tangentem se etiam cum hasta, interficit & consumit. Celsus & erectus incedit, aquas quas tangit, inve- 14 Gerade die »tödliche Berührung«, die sogar Steine zerbersten läßt, verlor zwischen dem 15. bis 17. Jahrhundert, einer Zeit, in der man viele Basilisken in Brunnenschächten und Kellerlöchern aufgefunden haben will, rapide an Bedeutung. 15 Vgl. z.B. Geßner (Fn. 8), S. 29 r . 16 Vgl. Isidor: Ethymologiae. In: PL Bd. 83, Sp. 443. 17 Rabanus Maurus: De universo libri xxii, lib, vii, cap. III: De serpentibus. In: PL Bd. 111, Sp. 231. 18 Ps.-Hugo St. Victoris De bestiis et aliis rebus liber tertius, cap. xli. In: PL Bd. 177, Sp. 100. 19 Petrus Berchorius: Reductorium morale, lib. x, cap. xiii: De basilisco, S. 640. Basilisk - regulus 139 nenat, herbas flatu suo exurit, lapides quoque rumpit. Istum tamen hostem naturae mustela ruta invadit & victoriam de eo obtinens ipsum necat, sicut dicit Isidorus [...]« (Der Basilisk heißt auf Lateinisch ›regulus‹, weil er der König der Schlangen ist und wie ein König am Kopf mit einem Fleck, der wie ein Diadem aussieht, geziert ist. Alle Lebewesen fürchten ihn, weil er durch seinen Anhauch und durch seinen Anblick tötet. Sogar die Vögel, die ihm zu nahe kommen, vernichtet er durch Anhauchen oder bloßes Zischen und verbrennt sie. Er ist kaum 12 Finger lang, zersetzt Pflanzen, zerstört Sträucher und alles, was am Boden liegt, und tötet und zerfrißt denjenigen, der ihn mit einem Speer berührt. Hochaufgerichtet bewegt er sich fort, vergiftet die Gewässer, die er berührt, zersetzt Pflanzen mit seinem Anhauch und bricht sogar Steine entzwei. Dennoch greift - nach Isidor - das Wiesel diesen Feind der Natur an und tötet ihn, wenn es den Sieg über ihn erringt.) Bestand - zumindest bis zur Aufklärung - weitgehend über alles, was die antiken Quellen vom Basilisken erzählen, ein gewisser naturwissenschaftlicher Konsens, so entbrannte über die verbleibenden Lücken in der Biographie eines Basilisken, nämlich seine Geburt, seinen Tod und sein Wirken nach seinem Tod, eine jahrhundertelange Diskussion. Für Hildegard von Bingen etwa ist auch ein toter Basilisk noch des Tötens fähig und stellt deshalb eine Bedrohung dar: liege er auf einem Acker oder einem Weinberg begraben, werde dieser unfruchtbar, liege er in einem Gebäude begraben, erkrankten die menschlichen Bewohner chronisch, während die Tiere von einer meist tödlichen »pestilentia, id est schelmo« befallen würden. 20 Für Autoren wie Konrad Geßner jedoch - und die antiken Quellen sprechen für ihn - beginnt mit dem Tod eines Basilisken seine »nutzbarkeit« für den Menschen als eine Art »selbstreinigende Haushaltsvorrichtung«: »Von nutzbarkeit der Basiliscken. Die Pergament [= Einwohner Pergamons] haben daß so von einem todten Basiliscken überbliben mit grossem gaelt erkaufft / auff daß in dem hauß Appellis / daß von handarbeit koestlich gewesen / ein spinnen wupp geweben wurde / auch die vogel nit darein flugen / und haben derhalben sein coerpel an ein guldin band daselbst auffgehenckt.« 21 Tote Basilisken seien auch in der Alchimie zu gebrauchen: Reibe man Silber mit Basiliskenasche ab, so nehme es die Farbe, die Dichte und das Gewicht von Gold an, referiert - unter Berufung auf Hermes - selbst Albertus Magnus, ohne dabei seiner ewigen Skepsis Ausdruck zu verleihen. 22 Bei Hornstein dagegen bewirkt der Anblick eines toten Basilisken nichts weiter als ein nahezu erleichtertes »Grausen« 23 , denn »wie viel erschröcklicher unnd grausamer dann sie werden anzuschawen seyn / so sie lebendig.« Ist aber einem Augenzeugen zu glauben, der dem Basilisken einerseits die Kraft einräumt, eine ganze Stadt zu verderben, und auf der nächsten Seite von der Erschlagung eines Basilisken spricht, »auff daß jederman / unnd alle Einwohner vor solchem Thier sicher« 24 ? 20 Vgl. S. Hildegard: Physica. Lib. viii. De Reptilibus, cap. xii: De Basilisco. In: PL Bd. 197, Sp. 1343. 21 Geßner (Fn. 8), S. 29 r . Zur Empfehlung, im Haushalt als Schutz gegen giftige Tiere und Ungeziefer Basiliskenasche aufzubewahren vgl. auch Conrad von Megenberg: Das Buch der Natur. Hrsg. Hugo Schulz. Greifswald 1897: Von der Unke, S. 223. 22 Vgl. Albertus Magnus: De animalibus. Lib xxv, cap. xiii. In: Opera Omnia. Bd. 12. Paris 1891, S. 549, 550. 23 Hornstein, Jacob: Basiliscus / Das ist Entwerffung des sehr vergifften unnd Menschverderbenden Lasters des Nachredens [...]. München 1594, S. 51. 24 Hornstein (Fn. 23), S. 52. 140 Marianne Sammer Der tödliche Blick Bei der Erschlagung des Basilisken handelt es sich um eine erst in der Neuzeit ins Auge gefaßte Tötungsart, die wohl zu profan war, als daß man sie einer Allegorisierung gewürdigt hätte. Bedeutungsgeschichtlich relevant und traditionsbildend jedoch ist neben der Tötung des Basilisken durch das Wiesel seine Tötung durch einen Spiegel oder einen großen Kristall, von der die Alexanderschlacht berichtet. Bei der Durchquerung eines Tales »[...] Da sach man auf dem perg stan Büsch, die warn also dik Daz weder weg noch stig Dar uber ging dan ain Klainer steig allain. Da zoch er mit ungehag Pizz an den sibenden tag. Da begegnent in ain solich smak, Da von ir manger töt lag Die zu dem ersten dar zugent, Und sprachent all: ›wir mügent Nit für, die göter sind wider uns.‹ Allexander sprach sünß: ›Stet all still gar, Ich wil allain gann dar. Raich mir den schilt mein, Der von gold und gestain fein Leuht als ain spigel. Lan schawen waz daz triegel Sey oder daz künder.‹ Der kunig parg sich under Den schilt und slaich all dar. Dez nam der basalistus war Und warf seiner augen schein Wider den schilt fein, Dar ynnnen er sich selber ersach: Daz kom im ze ungemach, Wann er dar umb starb Und zu stund all da verdarb. Da Allexander vernam daz Der basalistus töd waz, Er rüft seinen dienern dar Und sprach: ›nempt all war, Daz ist der uns ermordet hat.‹ Sie lobten all die getat.« 25 Diese berühmte, vielfach von den Dichtern besungene Episode diente seit jeher als Anleitung, wie man sich eines Basilisken ohne Wiesel entledige, und wurde vor allem bei der Tötung des Basilisken in Brunnen, Zisternen und Kellern zur Anwendung gebracht, ja re- 25 Der Große Alexander aus der Wernigeroder Handschrift. Hrsg. Gustav Guth. Berlin 1908 (Deutsche Texte des Mittelalters, Bd. 13), S. 66, Z. 4592 - 4626. Basilisk - regulus 141 gelrecht nachgespielt; mitunter reicht dies sogar bis zur Enträtselung der mysteriösen Todesfälle durch einen zufällig anwesenden Magister, der die beratende Rolle des Meisters Aristoteles in diversen Alexanderdichtungen übernimmt. »Der Grund, weshalb der Basilisk durch seinen Blick den Menschen tötet, ist allein, weil infolge des Anblickes und der Vorstellung in seinem Körper ein Giftstoff erregt wird, durch welchen zuerst die Augen infiziert werden, dann die umgebende Luft und so ein Teil derselben nach dem andern, bis zu der den Menschen umgebenden Luft; und wenn nun der Mensch diese durch Einatmen in sich aufnimmt, wird er behext und stirbt [...] [blickt aber der Basilisk in einen Spiegel,] wird die Luft durch die Spiegelung von ihnen [= den Spiegeln] aus infiziert und so fort bis sie zum Basilisken kommt, der nun so getötet wird. Aber es ist zweifelhaft, warum der Mensch, der Töter des Tieres, nicht selbst stirbt; hier muß man eine geheime Ursache annehmen.« 26 - soweit die zur Neuzeit allgemein anerkannte Vergiftungstheorie nach dem Hexenhammer, die im Grunde nicht mehr als ein umständliches Zitat des Thomas von Cantimpré darstellt und keine wesentlichen Erkenntnisfortschritte aufweist: »Radii oculorum basilisci corrumpunt spiritum visibilem hominis, quo corrupto corrumpuntur alii spiritus, qui a cerebro et vita cordis descendunt; et sic homo moritur«. 27 (Die Strahlen der Basiliskenaugen vergiften die unmittelbare Atemluft des Menschen. Deren Vergiftung greift auf andere Luftströme, die vom Gehirn und vom Herzen ausgehen, über, und so stirbt der Mensch.) Albertus Magnus stört sich zwar an der Formulierung »radius oculis«, gäbe es doch keinen natürlichen Grund, warum tödliche Strahlen aus den Augen heraustreten sollen, doch die von ihm angebotene Alternative, der Atem, der alle Substanzen in unmittelbarer Basiliskennähe durchdringe und sie vernichte, läßt leider ihrerseits die geforderte Letztbegründung vermissen. Die Idee, den tödlichen Blick des Basilisken gegen ihn selbst zu richten, wurde sehr früh mit christlichen Deutungen verbunden, deren Tenor allgemein auf die Vernichtung des Bösen durch Erkenntnis des Bösen lautet. Vor dem Hintergrund, daß der erkennende, »gute« Blick die Kraft des Bösen überwindet und Heil stiftet, hat sich bald die Vorstellung entwickelt, daß der Blick des Menschen für den Basilisken tödlich sein müsse, falls dieser den Basilisken zuerst erblickt. 28 Auf diese Aussage nun läßt sich die soeben diskutierte naturwissenschaftliche Erklärung nicht mehr anwenden. In Ermangelung eines antiken Kronzeugen weigert sich Albertus Magnus deshalb, daran zu glauben, wie er sich überhaupt als Zweifler erweist, bemerkt er doch selbst zur Tötung des Basilisken durch das Wiesel lapidar: »si hoc est verum, hoc videtur esse mirabile« (wenn das wahr ist, muß es ein Wunder sein). 29 Ein Naturwissenschaftler wie Paracelsus dagegen fühlt sich nicht veranlaßt, die Existenz des tödlichen Blickes in Frage zu stellen, sondern Ursache und Ursprung des Basiliskenblickes zu erforschen. Da diese Eigenschaft des Basilisken angeboren ist, sucht er 26 Sprenger, Jacob; Institoris, Heinrich: Der Hexenhammer. Malleus maleficarum. Hrsg. J.W.R. Schmidt. München 1982, S. 33, 34. 27 Thomas Cantimpratensis (Fn. 13), 8, 4. 28 Ambrosius etwa erinnert an Mt. 9, 20 - 22 (die Heilung einer Frau durch Berührung des Gewandsaumes Jesu) und an Lk. 9, 38 (die Heilung eines besessenen Jungen) in Zusammenhang mit der beschränkten Fähigkeit des Menschen, den Basilisken durch seinen Blick zu töten (Ambrosius: In Psalmum cxviii expositio, Nr. 24, PL 15, Sp. 1339). 29 Albertus Magnus (Fn. 22), S. 550. 142 Marianne Sammer die Lösung bei der Zeugung des Basilisken, die wiederum nicht unter natürlichen Voraussetzungen - etwa der von Plinius oder von Is. 14,29 nahegelegten Geburt aus dem Schlangenei 30 - stattfinden könne, weil Basilisken unter die Monstra zu zählen seien. Gott habe vor ihnen »ein grewel und mißfallen [...] / dieweil sie nicht die bildnuß Gottes tragen« und stattdessen »vom Teufel geformt« worden seien. 31 Monstra fielen aus der Natur, weil sie ihr Leben nicht von der Natur (d.h. von artgleichen Eltern) erhielten, sondern »durch kunst«, also alchimistisch unter Simulierung natürlicher Umstände erzeugt werden müßten. 32 Es gelte daher, eine künstliche Umgebung herzustellen, in der die primitivste Form der Entstehung von Leben, nämlich die Genese durch feuchte Wärme, gemeinhin als »putrefactio« oder »Fäulung« bezeichnet, stattfinden kann: » [...] der Basiliscus wächßt und würt geboren auß unnd von der grossen unreinigkeit / der Weiber / nemlich auß dem menstruo unnd auß dem blut spermatis, so dasselbig inn ein glaß und cucurbith gethon / und in ventre equino putreficiert, in solcher putrefaction der Basilisc geboren würt.« 33 Frauen und Basilisken sind also nach der Auffassung des Paracelsus artverwandt. Seinen tödlichen Blick habe der Basilisk dem weiblichen »menstruo« zu verdanken, denn eine menstruierende Frau führe wie der Basilisk »ein verborgen gifft« in ihren Augen, in ihrem Atem und in ihrer Berührung. Jedermann könne sich davon mühelos überzeugen, denn ihr Blick in einen Spiegel hinterlasse während dieser Zeit Flecken, »mit ihrem athem unnd angriff« vergifte sie »vil ding«, verderbe sie und mache sie »krafftlos«. Essig, Wein, ja selbst Weinbrand würden unverzüglich ungenießbar. 34 Bei der Befreiung des Basilisken aus der »Retorte« rät Paracelsus, sich mit einem Spiegel zu schützen. Dies würde allerdings bedeuten, daß kein Basilisk lebendig zur Welt kommt. Einem unbenannten Gelehrten, von dem Konrad von Megenberg berichtet, sei die nicht näher beschriebene Erzeugung eines harmlosen Basilisken aus reinen Eidottern gelungen: »Als er ihn [= den Basilisken] bis zur Größe eines kleinen Hühnchens aufgezogen hatte, ließ er von oben in das Glas, in dem er den Basilisken hielt, Spinnen und Rautenkraut hinein, wovon das Thier starb. Dann pulverisierte er es und machte nachher mit dem Pulver, was er wollte.« 35 30 Bei Origenes und Eustathius wird eine Art »praedarwinistische« Entstehungstheorie vertreten, nach der diejenige Schlange, die alle anderen mit ihr zusammengepferchten Schlangen vernichtet hat, zum Basilisken wird. Vgl. Eustathius Antiochenus Episcopus: Spuma - Commentarius in Hexameron. In: PG Bd. 18, Sp. 747: »[...] cum plures angues in unum conclusi, fameque vexati fuerint ( est enim animal scelestissimus ), alius alium sibi viciniorem comedit, fortiorque imbecilliore vorato, omnium anguium, quos loco cibi adhibuit, venenis plenus ac refectus, fit basiliscus, venenum habens perniciosissimum, ita ut vel solo necet aspectu.« (Wenn mehrere Schlangen zusammengepfercht wurden und sie ausgehungert sind - es handelt sich [bei der Schlange] um ein äußerst bösartiges Lebewesen -, frißt die eine die andere auf. Wenn die stärkere die schwächere gefressen hat und angefüllt ist mit dem Gift aller Schlangen, die sie verschlungen hat, wird sie zum Basilisken und besitzt das allerverderblichste Gift, so daß sie schon durch den bloßen Anblick töten kann.) Vgl. auch Origines: Selecta in Jeremiam. In: PG Bd. 13, Sp. 594. 31 Paracelsus, Theophrastus: De natura rerum libri ix. Straßburg 1584, lib. I: De generatione rerum naturalium, S. 6 r . 32 Vgl. Paracelsus (Fn. 31), S. 4 v . 33 Paracelsus (Fn. 31), 5 v . 34 Vgl. Paracelsus (Fn. 31), 5 r . 35 Konrad von Megenberg (Fn. 21), S. 223. Basilisk - regulus 143 Die Geburt aus dem Ei Neben den durch Alchimie erzeugten Monstra gibt es allerdings auch von der Natur geschaffene Monstra, bei deren Genese nicht naturähnliche Umstände aus naturwidrigen Vorgaben erzeugt, sondern natürliche Abläufe unter naturwidrigen Umständen stattfinden. In Zusammenhang mit der Glaubwürdigkeit des Wunders der Inkarnation kommt Cassian auf Geburten zu sprechen, die innerhalb der Natur und außerhalb ihrer Gesetze stattfinden, wobei er die Geburt einer Schlange, namentlich des Basilisken, aus einem Ibisei mit dem Prädikat »unbezweifelbar« versieht - »ex ovis volucrum, quas in Aegypto ibes vocant, basiliscos serpentes gigni indubitabile est« 36 (aus den Eiern der Vögel, die in Ägypten Ibisse heißen, entstehen ohne Zweifel Basiliskenschlangen). Die Theorie von der Geburt des Basilisken aus einem nur in Ägypten anzutreffenden Ibisei wurde bald durch die Theorie von seiner Geburt aus dem Ei eines sieben-, neun- oder 14jährigen Hahnes ersetzt, was natürlich zur Folge hatte, daß das Vorkommen des Basilisken sich nicht mehr auf Afrika beschränkte, sondern sich auf Bestände in Utopia 37 und im Abendland erweiterte. Eine besonders genaue und daher vielzitierte Beschreibung des Hahneneies findet sich in De occultis naturae miraculis des Levinus Lemnius 38 , der zufolge es sich um ein kugelförmiges, gelblich-bleiches, hin und wieder bläuliches, mitunter gesprenkeltes Ei handele, das keine Schale, sondern eine, wie Geßner übersetzt, »zeche haut / welche starke streich erleyden möge / eh daß sie zerschlagen werd« 39 , besitze, in den heißesten Sommertagen gelegt und 19 Tage lang bebrütet werde. Dieses Ei entstehe durch putrefactio aus dem »verdorbnen und verhaltnen samen oder anderer böser feuchtigkeit« des bereits senilen Hahnes und seiner Körperhitze. Ob der Hahn sein Ei selbst bebrüte, oder ob es von einer Kröte bebrütet werde - diese Variante wird vom Volksmund favorisiert -, wagen selbst namhafte Vertreter der Hahneneitheorie, wie etwa Levinus Lemnius oder mit ihm Geßner, nicht zu entscheiden 40 , obwohl ersterer selber in Zirizaea (= Zierikzee) zwei Hähne gesehen haben will, die stranguliert werden mußten, um sie am Bebrüten ihrer Eier zu hindern, welche man vorsichtshalber mitvernichtete. Die an die antike und die biblische Tradition anknüpfenden Befürworter der Genese des Basilisken aus dem Schlangenei mit ihrem Motto »certum enim est, & experientia fidem fecit, quod Basiliscum Basiliscus naturaliter generet« 41 (es ist sicher und durch die Erfahrung erwiesen, daß ein Basilisk den anderen auf natürliche Weise zeugt) räumen gerne ein, daß sich im Bauch von Hähnen durch putrefactio »ein gewechs [...] mit einer weissen haut oder schalen uberzogen / inwendig mit geäder durchwachsen / wie ein uberbein« 42 bilden könne, aber aus dieser Wucherung entstehe kein Leben, und weil nur Hühner und niemals Hähne Eier 36 Cassian, Ioannes: De incarnatione Christi contra Nestorium haereticum. Lib. vii, cap. v. In: PL Bd. 50, Sp. 210. 37 Vgl. Ryff, Walter (Hg.) Thierbuch. Alberti Magni / Von Art Natur und Eygenschafft der Thier ..., o.O., o.J., 4. Buch: Von den Schlangen und Gewürmen. Von der Art / Natur und eygenschaft der gifftigen Thier unnd Ungeziefers / wellicher namen anfahendt an dem Buchstabenn B, nicht paginiert. 38 Vgl. Lemnius, Levinus: Levini Lemnii Medici Zirzaei De occultis Naturae Miraculis, ac veriis rerum documentis [...] libri iv [...] Köln 1572, lib. iv, cap. xii, S. 437. 39 Geßner (Fn. 8), S. 28 r . 40 Vgl. Geßner (Fn. 8), S. 28 r ; Lemnius (Fn. 38), S. 437. 41 Arendes, Christianus Ludovicus: De Dracone et Basilisco. Disquisitio Historico physica [...]. Halberstadt 1670, B2 v . 144 Marianne Sammer legen, handele es sich dabei auch um kein Ei. Hermes habe die Mär von der Geburt des Basilisken aus einem Hahnenei aufgebracht, damit aber kein Tier, sondern ein alchimistisches Elixier bezeichnen wollen, mit dem man Metalle verwandeln könne. 43 Mit diesem Einwand versuchte schon Albertus Magnus vergeblich, die Hahneneitheorie als »verissime falsum et impossibile« (mit absoluter Sicherheit falsch und unmöglich) aus der Welt zu schaffen. Hildegard von Bingen beleuchtete die Geburt des Basilisken aus der Sicht der Kröte und festigte damit natürlich die Theorie von der widernatürlichen Geburt des Basilisken, egal ob aus einem Hühner-, Hahnen- oder Schlangenei: Wenn die Kröte fühle, daß sie befruchtet sei und dann das Ei einer Schlange oder einer Henne sehe, beginne sie, es heftig zu lieben, zu hegen und zusammen mit ihren eigenen Eiern zu bebrüten. Ihre eigene Brut sterbe nach kurzer Zeit, woraufhin die Kröte beim Anblick ihrer toten Jungen das Basiliskenei erst recht hüte, bis sie Leben in ihm fühle. Erschrocken über ihren unrechten Umgang fliehe sie, noch bevor ihre Brut ihren ersten giftigen Atem verströmt - »sed postquam rubeta illud in ovo vivere senserit, statim de injusta consuetudine obstupescit et fugit« (Aber wenn die Kröte gemerkt hat, daß etwas im Ei lebt, erschrickt sie sogleich über ihren unrechten Umgang und flieht). 44 Da man in kritischen Kreisen die Geburt des Basilisken aus dem Ei von Federvieh verworfen hat, konnte sich hier natürlich auch die Stiefmutterschaft der Kröte nicht durchsetzen. Nichtsdestoweniger behielt die Vorstellung vom »Basilisco, monstroso illo Gallo-Bufone« 45 (Basilisk, jenes monströse Mischwesen aus Hahn und Kröte) ihren Reiz und führte zu einer alternativen Ikonologie des Basilisken, in die traditionelle antike Elemente, so sie nicht den Phänotyp des Basilisken betreffen, problemlos eingefügt werden konnten: »[...] ein Thier / aller ding gestalt wie ein Hahn / aber ohne Federn / mit einem Schlangen Schwantz / das allzeit das allerschedlichste gift von sich blest und damit alle Menschen / alle Thier und Gewechse / die es ansihet und anbleset / tödtet. Kan auch nicht getilget werden / ohn das man an den orth da es wohnet / viel Spiegel hinsetzet / biß das es in einem sein Bild sehe. Dann wann es das wil tod blasen / so berste es von zorn unnd sterbe.« 46 II. Bedeutungsgeschichtliches Umfeld Setzt sich der »Steckbrief« des Basilisken aus den genannten Quellen zusammen, so entwickeln sich die Bedeutungsfelder, in denen der Basilisk in den literarischen und künstlerischen Quellen begegnet, aus der christlichen Bibelexegese. Hierbei stehen die Traditionen und Auslegungen, die auf die entsprechenden Bibelstellen selbst zurückgehen, neben denjenigen, die sich der naturkundlichen Kategorien zur Bestimmung des Basilisken bedienen und diese auf einen theologischen Unterweisungsgegenstand innerhalb des 42 Rollenhagen, Gabriel: Vier Bücher wunderbarlicher, bis daher unerhörter und unglaublicher indianischer Reisen durch die Luft, Wasser, Land, Hölle, Paradies und den Himmel. Stuttgart 1995 (Rarissima Litterarum, Bd. 2), S. 210. 43 Vgl. z. B. Kirchmaier, Georg,: De Basilisco, Unicornu, Phoenice ..., Wittenberg 1736, B4 v ; Albertus Magnus (Fn. 22), S. 550. 44 Hildegard (Fn. 20), Sp. 1343. 45 De Basilisco, Unicornu, Phoenice (Fn. 43), praefamen. 46 Rollenhagen (Fn. 42), S. 210. Basilisk - regulus 145 Abb. 2: Emblematische Darstellung der Bosheit aus der exegetischen Tradition von Is. 59, 5. Unrecht und Bosheit fallen auf den Sünder selbst zurück. 146 Marianne Sammer durch den biblischen Kontext abgesteckten Bedeutungsfeldes beziehen. Beide Arten der Traditionsbildung sind im Fall des Basilisken aufgrund der fortwährenden Rezeption der Kirchenlehrer gleichermaßen stabil. Gemäß dem Grundsatz, daß jede Erscheinung ad bonam et ad malam partem ausgelegt werden kann, vermochten die Kirchenlehrer unter Berücksichtigung der entsprechenden Schriftstellen und antiker naturkundlicher Beobachtungen, todbringenden Tieren wie der artverwandten Schlange oder dem Löwen durchaus positive Bedeutungen abzugewinnen. Beim Basilisken jedoch, der in der Bibel nur in Zusammenhang mit Sünde, Sündern, Tod und Parusie auftaucht, sollte dies nur ausnahmsweise gelingen: »Manus enim vestrae pollutae sunt sanguine, / Et digiti vestri iniquitate; / Labia vestra locuta sunt mendacium, / Et lingua vestra iniquitatem fatur. / Non est qui invocet iustitiam, / Neque est qui iudicet vere; / Sed confidunt in nihilo, et loquuntur vanitates; / Conceperunt laborem, et pepererunt iniquitatem. / Ova aspidum ruperunt, / Et telas araneae texuerunt. / Qui comederit de ovis eorum, morietur; / Et quod confotum est erumpet in regulum« (Is. 59, 3 - 5) (Denn eure Hände sind mit Blut besudelt und eure Finger mit Ungerechtigkeit. Eure Lippen haben Lügen geredet, und eure Zunge schwätzt, was Unrecht ist. Es ist keiner, der für Gerechtigkeit schreit, auch keiner, der recht richtet; sondern sie vertrauen auf das, was nichtig ist und reden eitle Dinge. Sie haben unter Mühen empfangen und haben Ungerechtigkeit geboren. Sie haben Natterneier ausgebrütet und Spinnennetze gewebt. Wer von ihren Eiern ißt, der wird sterben, und aus dem, was ausgebrütet wurde, wird ein Basilisk hervorbrechen.) Blut klebt dem Sünder an den Händen, Unrechtschaffenheit, Lüge, Bosheit und Verleumdung - die Zusammenziehung von dem Bild des Schlangeneies, dem ein Basilisk entschlüpft, ist in der Wendung »Basiliskeneier ausbrüten« 47 für den von Isaias geschilderten Sachverhalt sprichwörtlich geworden. Die Sündverfallenheit seines Volkes werde Gott veranlassen, so Isaias weiter, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und Vergeltung zu üben. Isaias 30, 6 gebraucht das Bild des Basilisken zur Charakterisierung Ägyptens, dem »die Söhne des Herrn« ihre Reichtümer zu verschaffen im Begriff sind, indem sie ein schandvolles Bündnis mit diesem Land der Sünde eingehen wollen: »In terra tribulationis et angustiae / Leaena, et leo ex eis, / Vipera et regulus volans; / Portantes super humeros iumentorum divitias suas. / Et super gibbum camelorum thesauros suos, / Ad populum qui eis prodesse non poterit.« ([...] Im Land der Drangsal und Not, sind Löwin und Löwe aus ihnen, und Nattern und der fliegende Basilisk. Sie tragen ihren Reichtum auf den Achseln von Tieren und ihre Schätze auf dem Höcker von Kamelen zu einem Volk, das ihnen nichts nützen können wird.) Nach dem Tode des Königs Achaz, dem Prototyp eines Sünders, ergeht in Isaias 14, 29 an das »Land der Philister« die Aufforderung zur Klage über eine Verderben verheißende Zu- 47 Die Wendung stammt von Luther, der in seiner Bibelübersetzung bei Is. 59, 5 schreibt: »SJe brüten Basilisken eyer / und wircken Spinneweb. Isset man von iren / / Eyern / so mus man sterben / zutrit mans aber / so feret ein Otter eraus.« - Bei Georg Henisch wird dieses Sprichwort für Menschen verwendet: »quorum conatus omnes perniciosi sunt, ita ut nec tuto recipi, nec impune repudiari possint. Qui enim ovum basilisci comedit, e vestigio moritur: quibus pedibus conterit, a catulo basilisci inde erumpente ictum lethalem accipit.« ([...] deren Bestrebungen alle verderblich sind, so daß man sie weder unbeschadet aufnehmen noch zurückweisen kann. Wer nämlich ein Basiliskenei gegessen hat, stirbt auf der Stelle; wer es zertritt, empfängt von dem ausschlüpfenden Basiliskenjungen den Todesstoß), zit. nach: Henisch, Georg: Teutsche Sprach und Weißheit. Thesaurus Linguae et sapientiae Germanicae [...] Augsburg 1616, Bd. I, s.v. ayer, S. 161. Basilisk - regulus 147 kunft (unter Hiskias): »Ne laeteris, Philisthaea omnis tu, / Quoniam comminuta est virga percussoris tui; / De radice enim colubri egredietur regulus, / Et semen eius absorbens volucrem« (Freue dich nicht, ganz Philisterland, daß der Stock, der dich schlug, zerbrochen ist! Denn aus der Wurzel der Schlange wird ein Basilisk hervorkriechen und sein Same wird den Vogel verschlingen.). Als Strafe auf Häresien des Gottesvolkes verkündet Ieremias (8, 17) dessen Tod und knüpft damit einen Bezug zum Weltgericht: »Quia ecce ego mittam vobis serpentes regulos, / Quibus non est incantatio; / Et mordebunt vos, ait Dominus« (Denn siehe, ich will Schlangen und Basilisken unter euch senden, die nicht zu beschwören sind; die sollen euch beißen, spricht der Herr). Demjenigen, der seine Zuflucht zu Gott nimmt, wird Schutz vor der Sünde und dem Teufel gewährt, das Gift des Basilisken ist ihm unschädlich, so verheißt es Psalm 90, 13 (Vulg.): »... super aspidem et basiliscum ambulabis, et conculcabis leonem et draconem« (Über die Schlange und den Basilisken wirst Du gehen, und den Löwen und den Drachen wirst Du zertreten .). Die Reihe an Bedeutungszuweisungen, die unmittelbar auf die genannten Bibelstellen rückführbar sind, ist vielfältig und führt quer durch die Jahrhunderte. Caesare Ripa etwa rekurriert auf Is. 59, 3 - 9, wenn er die Allegorie der »Verleumbdung« (= calunnia, üble Nachrede) 48 mit einem »Weib / von zornigen Gebährden« darstellt, die in ihrer linken Hand eine brennende Wachskerze trägt, mit ihrer rechten Hand einen nackten Jungen an den Haaren zieht und von einem Basilisken begleitet wird: Zornig werde die Frau gezeigt, weil nach der Affektenlehre die Verleumdung von zornigen Regungen herzurühren pflegt, einen Knaben zerrt sie an den Haaren, weil die Verleumdung eine »Zerreissung deß guten Leymuhts / der ehrlichen und unschuldigen Leute« sei, das brennende Licht bedeute die von der Verleumdung entfachte Zwietracht. Mit dem Basilisken werde die Vorgehensweise der Verleumdung bezeichnet, die dem Menschen schadet, ja ihn ruiniert, ohne daß er sich zur Wehr setzen oder seinem Gegner ins Auge sehen könne, weil der Basilisk durch seinen Blick tötet, ohne sein Opfer anzugreifen oder sich ihm zu stellen. Darauf beruht auch der entscheidende Gedanke der subscriptio: »Calumniator injuriam facit accusato, non praesentem accusans« (der Verleumder schadet dem Beschuldigten, indem er ihn in Abwesenheit beschuldigt). »Harm without contact« 49 ist auch das tertium comparationis einer anderen auf Ripa zurückgehenden Allegorie der Verleumdung, in der die schwer bewaffnete calumnia den Basilisken als Helmzier trägt. Bei dieser Art der Allegorese wird also das naturkundliche Wissen über den Basilisken zu dem aus Isaias gewonnenen Bedeutungsfeld - üble Nachrede, Verleumdung - gestellt und als Vergleich formuliert. Diese Vorgehensweise ist natürlich nicht nur auf die Emblematik beschränkt. In Hornsteins dritter Predigt »Von dem Schandlaster deß Affterredens« beispielsweise wird das Laster der Verleumdung ebenfalls »sampt seinem gantzen Anhang / dem aller abschewlichsten und vergifftigisten Thier / nemblich dem Basilisco verglichen« 50 , und wieder wird die giftige Aura des Basilisken in Zusammenhang mit dem tückischen Vorgehen der Verleumdung gesehen: 48 Vgl. Strauß, Laurentius D. (Hrsg.): Herrn Caesaris Ripa von Perusien / [...] erneuerte Iconologia oder Bilder-Sprach [...]. Frankfurt 1669, s.v. Lästerung. Verleumdung. Vgl. auch Ripa, Caesare: Iconologia. Padua 1611 (Nachdr. London 1976), s.v. calunnia, 55. 49 Maser, Edward A.: The 1758 - 60 Hertel Edition of Ripa’s Iconologia with 200 Engraved Illustrations. New York 1971, S. 94. 50 Hornstein (Fn. 23), S. 50. 148 Marianne Sammer »Andere gifftige Thier / tödten den Menschen mit anrühren oder beissen / aber diß tödt durch blosse Gegenwertigkeit. Eben also auch ist ein jeder Verleumbder und Nachreder beschaffen / welcher mit seiner Gifftzungen / wie wir bißhero gehört / nit allein die Zuhörer / und die Abwesenden gantze Freundschafften / Statt und Land (nit in Gegenwertigkeit / sondern hinderrucks unnd in Abwesen dessen allens) sonder auch sich selbst mit seinem verleumbden und Gottlosen Nachreden / vergifft und verderbet [...]« 51 Mitunter können sich sogar die Vergleichspunkte - hier »harm without contact« - auf Bibelauslegungen beziehen. So spricht Bernhard von Clairveaux bei der Exegese von Ps. 90, 13 von Werken der Bosheit (= operationes malitiae), die auf unsichtbare Weise in vielfacher Hinsicht schaden (= invisibili modo varie noceant), gleichsam wie die Viper, der Basilisk, der Löwe und der Drache durch ihren Biß, ihren Blick, ihr Gebrüll und ihren Anhauch. 52 Wird hier auch der Basilisk nicht ausdrücklich mit übler Nachrede als einem besonderen Werk der Bosheit gleichgesetzt, so erfolgt der Vergleich dennoch auf dem naturkundlichen Wissen über den Basilisken, und er formuliert einen Gedanken, der sich mit dem aus Is. 59, 3 - 9 gewonnenen Kontext der üblen Nachrede problemlos zu einer wahren Aussage innerhalb eines dritten Mediums (Emblem, Predigt ...) verbinden läßt. Aufgrund seines bösen Blickes wurde der Basilisk daneben auch dem Neid als Lastertier zugeordnet. Als biblische Grundlagen dienten vielgelesene Exegesen, wie sie etwa Cassian vorlegt, wenn er an Ier. 8, 17 die Bemerkung knüpft, daß der Prophet völlig zu Recht den todbringenden Biß des Basilisken mit dem Neid vergleiche - eine Unterstellung -, weil das Gift des Neides das allerverderblichste sei, insofern es den Menschen veranlasse, die Tugenden, gute Gedanken und gute Werke zu verabscheuen. 53 Bernhard von Clairvaux dagegen verbindet bei seiner Auslegung von Ps. 90, 13 den tödlichen Basiliskenblick mit dem Neid, sich dabei eines Wortspieles bedienend: »Quid vero invidere, nisi malum videre est? « 54 (Was aber bedeutet neidisch zu sein anderes als das Böse zu sehen? ). Der Neider könne nichts Gutes ansehen, ohne es, lieblos wie er ist, zerstören zu müssen, er hasse das Gute im Menschen, weshalb man ihn ohne weiteres einen Mörder nennen könne. In der Pilgerfahrt des träumenden Mönchs, einer in den 1330er Jahren entstandenen Übersetzung von Le Pelerinage de Vie humaine des Guillaume de Deguileville, wird dieser Bedeutungskomplex dem Neid in den Mund gelegt, dargestellt als altes kriechendes Weib, aus dessen Augen zwei Lanzen, der Zorn und die Schadenfreude, hervorragen. Bei der Bosheit angesiedelt, haßt der Neid die Tugenden und das Gute, er ist ohne Liebe, und wo er seinen Basiliskenblick hinlenkt, tötet er: »Ich bin die hubsche slengynne, / Die aller boßheit ist nachberynne, / die hasset alle lude die wol dunt, / Und yn nach myme vermogen kein gut dun. / Es ist nicht das ich lieb moge han, / In hiemel, in erde noch in meres bann. / Ich dun Gôtlicher Liebe großes leyt [...] Myn augen sint augen von basiliscus, / Die dôdent wen sie aneblickent sus, / Odir die nahe bij mir wanent, / Die sint dot so balde ich sij beschawen / Odir so balde ich sij angesehen.« 55 51 Hornstein (Fn. 23), S. 51. 52 Vgl. Bernhard Claraevallensis: In Psalmum 90 Qui habitat, sermo xiii, Nr. 2. In: PL Bd. 183, Sp. 236. 53 Vgl. Cassianus: Collatio 18: De tribus generibus monachorum. Cap. xvii: De invidiae malo. In: PL Bd. 49, Sp. 1122. 54 Bernhard Claraevallensis (Fn. 52), sermo xiii, Nr. 4, Sp. 237. 55 Die Pilgerfahrt des träumenden Mönchs. Aus der Berleburger Handschrift. Hrsg. Aloys Bömer. Berlin 1915 (Deutsche Texte des Mittelalters, Bd. 25), Z. 8294 - 8300, 8329 - 8333. Basilisk - regulus 149 Der Basilisk als Tod und Teufel Insbesondere die uneinheitlichen Auslegungen zu Ps. 90, 13 haben traditionsbildend gewirkt und ein weites Bedeutungsfeld des Basilisken erschlossen, das die Begriffe peccatum, mors, diabolus und Antichrist umspannt. Auch hier dient die todbringende Gegenwart des Basilisken als Ausgangspunkt der vielgestaltigen christlichen Interpretation. Rabanus Maurus etwa reiht ohne weitere Erklärungen »aspis - peccatum«, »basiliscus - mors«, »leo - diabolus«, »draco - Antichrist« 56 , will aber wenige Zeilen zuvor für Ier. 8, 17 unter basiliscus »diabolus vel daemones« (= Basilisk als Teufel oder Dämonen) verstanden wissen, die mit ihrem Atem die Seelen der Menschen verwunden. 57 Damit nicht genug, belegt er im gleichen Text an anderer Stelle »basiliscus« generell mit »diabolus« und speziell bezogen auf Ps. 90, 13 mit den verschiedenen Zerstörungsstrategien des Teufels; eine Bedeutungszuweisung, die er Cassiodors Psalmenkommentar 58 entnommen hat und die auch von S. Bruno 59 zitiert wird: »aspis« steht für sein Wirken im Verborgenen, »basiliscus« für sein Wirken in der Öffentlichkeit, »leo« bezeichnet seinen Angriff auf Unschuldige, »draco« die Gier, mit der er die Unvorsichtigen verschlingt. Besiegt und zertreten wird das Teufelswerk von Christi Tugenden. 60 Diese Auslegung bildet wiederum eine freie Variation aus Augustins Psalmenkommentar 61 : hier wird der Löwe mit der öffentlichen Wirksamkeit des Teufels verglichen und als Beispiel die Tötung von Märtyrern angeführt; der Drache wird mit dem verborgenen Vorgehen des Teufels gleichgesetzt, das er beispielsweise bei Irrlehrern zur Anwendung bringe; »aspis« und »basiliscus« schließlich werden beide für »diabolus« im Sinne von »rex daemoniorum« gesetzt. Bei Augustinus zertritt Ecclesia, die Unbesiegbare, die Tiere des Teufels. Im Genesiskommentar Isidors 62 lauten die Zuweisungen wiederum abweichend »aspis - mors«, »basiliscus - peccatum«, »leo - Antichrist«, »draco - diabolus«. Hierin eine Widersprüchlichkeit sehen zu wollen, würde allerdings bedeuten, das Prinzip der christlichen Allegorese, die potentiell unendlich viele Bedeutungen für ein und dasselbe signum bereitstellt, mißzuverstehen, da es sich bei der Allegorese um einen auf Gott bezogenen Erkenntnisvorgang handelt und sich im Bild, von dem sie ausgeht, die Unerfaßbarkeit Gottes gemäß den geflügelten Versen »omnis mundi creatura / quasi liber et pictura / nobis est et speculum« 63 wiederspiegelt. Bilden sich bestimmte Konventionen, dann nicht im Sinne einer einsträngigen Bedeutungszuweisung für das signum, sondern eines Bedeutungsfeldes, das sich aus den jeweiligen Kontexten zusammensetzt. Ein weiteres Beispiel bildet eine Palm- 56 Vgl. Rabanus Maurus: De universo libri xxii, lib. vii, cap. iii: De serpentibus. In: PL Bd. 111, Sp. 234. Dt: Natter (aspis) - Sünde (peccatum), Basilisk - Tod (mors), Löwe (leo) - Teufel (diabolus), Drache (draco) - Antichrist. 57 Vgl. Rabanus Maurus (Fn. 56), Sp. 233. 58 Vgl. Cassiodorus: In Psalterium Expositio. Expositio in Psal. XC, V. 13. In: PL Bd. 70, Sp. 654. 59 Vgl. S. Bruno Herbipolensis: Expositio Psalmorum. Psal. XC, V. 13. In: PL Bd. 142, Sp. 340. 60 Vgl. Bruno Herbipolensis (Fn. 59), Sp. 231 f. 61 Vgl. Augustinus, Aurelius: Enarratio in Psalmos, Ps. 90.13, sermo 2, cap. 9. In: PL Bd. 37, Sp. 1168. 62 Vgl. Isidorus: Mysticorum Expositiones Sacramentorum, seu Quaestiones in Vetus Testamentum. In Genesin, cap. v, Nr. 8. In: PL Bd. 83, Sp. 221. 63 Alanus ab Insulis: De incarnatione Christi Rhythmus perelegans. In: PL Bd. 210, Sp. 579. Dt. vgl. Angelus Silesius: »Die Schöpfung ist ein Buch. Wer’s weislich lesen kann, / Dem wird darin gar fein der Schöpfer kundgetan.« Zit. nach: Angelus Silesius: Cherubinischer Wandersmann. 1674. Nachdr. Stuttgart 1990, S.43. 150 Marianne Sammer sonntagspredigt des Honorius Augustodunensis 64 , in der, wie oben bei Rabanus, »aspis« mit »peccatum« und »basiliscus« mit »mors« gleichgesetzt wird, abweichend davon jedoch »leo« mit »Antichrist« und »draco« mit »diabolus«. Am Bedeutungsfeld ändert sich also nichts, die Durchführung der Allegorese »basiliscus - mors« aber erfolgt abweichend unter naturkundlichen Gesichtspunkten: aus dem Bild der Vögel, die, vom Basilisken vergiftet, tot vom Himmel herabfallen, und unter dem Hinweis, daß der Basilisk zu den vierfüßigen Tieren zu zählen sei, werden die vier Schritte, mit denen der Tod den Menschen ( = aves) ereilt, entwickelt, nämlich die Erbsünde, die Verletzung des Naturgesetzes, die Übertretung der Gesetze der Schrift und die Verachtung des Evangeliums. Der Basilisk als Leviathan und Antichrist Sprechen Ier. 8, Is. 59 und Is. 11 unverhohlen vom Endgericht und von den Strafen, die Gott für die unverbesserlichen Sünder bereithält, und wird in Is. 30 und Is. 14 die Warnung vor einer Zukunft ausgesprochen, die über die Sünde ins Verderben führt, so erscheint die Belegung des Basilisken, über Ps. 90 weit hinausgehend, mit den Bedeutungsfeldern Antichrist - Leviathan als den prophezeihten Figuren des Weltendes naheliegend. Der bedeutungsgeschichtliche Umweg, der hier eingeschlagen wurde, führt über Hieronymus, der in seinem Isaiaskommentar mit »regulus, serpens volans, ut draconem volantem intellegas« (Der Basilisk, eine fliegende Schlange, so daß man darunter einen fliegenden Drachen verstehen kann) 65 die Weichen für die oftmals verwirrende Gleichsetzung von Basilisk und Drache stellte, wie sie Is. 14, 29 und Is. 30, 6 mit ihren Formulierungen »de radice enim colubri egredietur regulus, / Et semen eius absorbens volucrem« (Denn aus der Wurzel der Schlange wird ein Basilisk hervorbrechen, und sein Same wird den Vogel verschlingen.) und »vipera et regulus volans« (die Natter und und der fliegende Basilisk) auch anbieten. 66 Die Septuaginta übersetzt »regulus volans« mit »genimina aspidum volantium« (Lebewesen der Art von fliegenden Nattern), und diese fliegende Schlange werde in der Apokalypse, so Hieronymus, »draco« genannt. 67 Der apokalyptische Drache und der Drache aus Ps. 90, 13 hinwiederum seien nichts anderes als der Leviathan. 68 Noch Albertus Magnus rezipiert das zoologische Ergebnis dieser Montage, den fliegenden Basilisken, als eine eigene Basiliskenart, nicht ohne seinen Zweifeln an ihrer Existenz Ausdruck zu verleihen. 69 Auch Thomas von Cantimpré und Konrad von Megenberg 70 kennen dieses Tier 71 , und selbst die Therobiblia verknüpft den Basilisken noch, wie Hierony- 64 Vgl. Honorius Augustodunensis: Opera Omnia. Pars III. Liturgica, Dominica in Palmis. In: PL Bd. 172, Sp. 915. 65 Hieronymus: Commentariorum in Esaiam. Lib. iv, 14, 29 - 30. In: CS Bd. 73, S. 173. 66 Dieser Gleichsetzung in Verbindung mit seiner sagenhaften Geburt aus dem Hahnenei hat man es zu verdanken, daß der Basilisk mitunter auch zu den Vögeln gezählt wird. Auch das hat seinen literarischen Niederschlag gefunden: in den Ornithologiae moralis von Fortunatus Hueber beispielsweise findet sich eine Basiliskenpredigt (Ausg. München1678). 67 Hieronymus (Fn. 65), lib. ix, 30, 7, S. 385 f: »[...] pro regulo volante, quam LXX genimina aspidum volantium transtulerunt [...] regulumque volantem, et viperas, et genimina aspidum, illum de quo supra legimus, colubrum tortuosum; et de quo Salvator in evangelio loquebatur: Videbam satanam, quasi fulgur de caelo cadentem. Qui draco apellatus in Apocalypsi [ ...]«. 68 Vgl. z.B. Hieronymus (Fn. 65), 27.1, S. 344, 345. 69 Albertus Magnus (Fn. 22), S. 550. 70 Konrad von Megenberg (Fn. 21), S. 223. Basilisk - regulus 151 mus, anhand des Belegs aus Is. 14, 29 mit dem Drachen. 72 Ein Meisterlied von Hans Folz zeugt von dieser Tradition: »Von dir wolt er mensch werdenn, / Der milt unnd guttig pellican, / Auff das er uns mit seinem plut erquicket / Auß dem stinckenden rachenn / Des mort gifftigen trachenn / Und helle hund, / Der basilisc und uncke / Dieff yn des kerkers tuncke / Und abegrund, / Der uberkempft auff erdenn [...]« 73 Gregor Magnus setzt ausgehend von der Beobachtung, daß der Basilisk die Luft verpeste und durch seinen Anhauch töte, unter Hinzuziehung von Is. 14, 29 den Basilisken mit dem Leviathan gleich (= Quia vero Leviathan est alias non solum serpens, sed etiam regulus dicitur) und versteht unter dem Dampf, der dem Maul dieses Ungeheuers entweicht, die todbringenden Dämpfe, die täglich durch schlechte Gedanken in den Herzen der Menschen entstehen, ihren Geist schwächen und sogar den Geist rechtschaffener Menschen benebeln. 74 Von dem Atem des Leviathan, der die Leidenschaften entzündet und die Ruhe des Geistes zerstört, und seinem Feuerrachen, der die Liebe zu irdischen Gütern entfacht 75 , ist es nicht mehr weit zum Antichristen, entwickelt aus der Exegese von Is. 59, 5: Der Basilisk, der aus dem zerdrückten Schlangenei hervorkriecht, ist der Antichrist (= Regulus namque serpentum rex dicitur. Quis vero reproborum caput est, nisi antichristus? [= Der Basilisk wird König der Schlangen genannt. Wer aber ist das Haupt der Bösen, wenn nicht der Antichrist? ]), der die Menschen verführt, seiner falschen Rede zu lauschen und seine Versuchungen in ihren Herzen zu nähren. 76 Auch Hieronymus interpretiert Is. 59, 5 mit der bevorstehenden Ankunft des Antichristen, der als Basilisk in Gestalt einer fliegenden oder gefiederten Schlange (= serpens pennata) dem Schlangenei entschlüpfe und zu Häresien verleite. 77 Bei Garnerius finden sich diese Auslegungen zu Is. 59, 5 kompiliert: »Et quod confotum est, erumpet in regulum, quia consilium maligni spiritus quod corde tegitur ad plenam iniquitatem nutritur, regulus namque serpentum rex dicitur. Quis vero reproborum caput est, nisi Antichristus? [...] is qui in se nutrienda aspidis consilia receperit, membrum iniqui capitis factus, in corpus Antichristi accrescit.« 78 (Und was unrein ist, wird als Basilisk hervorbrechen, weil das Trachten eines bösartigen Geistes, das im Herzen verborgen ist, bis zum Gipfel der Ruchlosigkeit genährt wird, und weil der Basilisk König der Schlangen genannt wird. Wer aber ist das Haupt der Bösen, wenn nicht der Antichrist? Jener, der in sich das Trachten einer Natter aufgenommen hat und es nährt, wird zum Glied eines bösen Hauptes und verwächst mit dem Körper des Antichristen.) In seiner Bedeutung als Häretiker und Verführer lebt der Basilisk natürlich auch in der Literatur. So trägt er in den Dialoges of Creatures Moralysed in der Verkleidung eines 71 Thomas Cantimpratensis (Fn. 13). 72 Vgl. Frey, Heinrich: Therobiblia. Biblisch Thierbuch. Leipzig 1595 (Nachr. Graz 1978), Teil 5, cap. iv: Von dem Basilißken, S. 347. 73 Folz, Hans: Die Meisterlieder des Hans Folz aus der Münchener Originalhandschrift und der Weimarer Handschrift Q 566. Hrsg. August L. Mayer. Berlin 1909 (Deutsche Texte des Mittelalters, Bd. 12), xxxiv, Z. 199 - 208. 74 Vgl. Gregor Magnus: Moralia in Job. lib. xxxiii, 37. In: CS, S. 1272 ff. 75 Vgl. Gregor Magnus (Fn. 74), lib. xxxiii, 34 und 39, S. 1730 ff. 76 Vgl. Gregor Magnus (Fn. 74), lib. xv, S. 15, 760. 77 Hieronymus (Fn. 65), lib. xvi, 59, 5, CS 73A, S. 680. 78 Garnerius: Gregorianum. Lib. iii, cap. xxix: De Regulo. In: PL Bd. 193, Sp. 127. 152 Marianne Sammer Basilisk an der 1638 geweihten Mariensäule in München. Basilisk - regulus 153 Mönches einem Meerestier die Bitte vor, ihn im Christenglauben zu unterweisen, damit er seine Verurteilung beim Jüngsten Gericht zu verhindern lerne. Der Fisch jedoch erkennt, daß er nur in einen gefährlichen Disput über den Glauben gelockt und darin verunsichert werden soll, woraufhin er dem Basilisken den Rücken kehrt, auf Jesu Worte gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer (Mt. 23) anspielend: »A false ypocryte full of pompe an pryde / Is euyr subtyll all vertewe layde asyde.« 79 Der Basilisk als Sünde Zu den Bedeutungsfeldern Tod, Teufel, Leviathan, Antichrist fügt sich der Bereich der Sünde, die bei der Allegorese gerne mit der giftigen Aura des Basilisken verknüpft wird. Wie gut sich die Bedeutungsfelder verbinden lassen, demonstriert beispielsweise Petrus Berchorius: »Iste serpens significat diabolum, vel eius vicarium Antichristum, qui erit rex serpentum, id est, princeps & caput omnium peccatorum [...] ipse est rex super omnes filios superbiae.« 80 (Diese Schlange bezeichnet den Teufel oder dessen Stellvertreter, den Antichristen, der König der Schlangen sein wird, d.h. Fürst und Haupt aller Sünder [...] er selbst ist König über alle Söhne des Hochmuts.) Gregor der Große beschreibt, wie der Hauch der geflügelten Schlange die einen mit Hochmut, die anderen mit Neid, die dritten mit Unkeuschheit oder mit Habsucht entzündet, wobei die Allegorese nicht nur die Laster selbst, sondern auch das cor reproborum, den Sünder, einbezieht. Abgesehen von der tristitia, wird kaum ein Laster ausgelassen: »... halitus prunas accendit, quotiens eius occulta suggestio humanas mentes ad delectationes illicitas pertrahit. Alias namque superbiae, alias invidiae, alias luxuriae, alias avaritiae facibus inflammat. [...] tunc eius halitus ardere vehementius prunas fecit, quia reproborum mentes, quas iam calentes amore gloriae temporalis invenerit, suggestionis suae flatibus usque ad nequitiam exercendae crudelitatis incendit. [...] Igne autem terrenae concupiscentiae eorum mens tangitur, qui nequaquam fieri pretiosa metalla concupiscunt.« 81 (Der Hauch entzündet die Kohle, sooft dessen geheime Einflüsterung den menschlichen Geist zu unerlaubten Vergnügungen verleitet. Manche entflammt er mit den Fackeln des Hochmuts, andere mit denen des Neides, der Unkeuschheit oder der Habgier. Sein Hauch läßt die Kohle stärker glühen, weil er die Bösen, die er schon von Liebe zu zeitlichen Ruhm entflammt vorfand, durch seine Einflüsterung [noch weiter] anfacht und sie so weit entzündet, daß sie zügellos werden und Grausamkeiten begehen. Vom Feuer irdischer Begierde aber werden jene erfaßt, die vergeblich wertvolle Metalle herstellen wollen.) Allerdings ruht innerhalb des Bedeutungsfeldes »peccatum« im Fall des Basilisken das Augenmerk vor allem auf der invidia, der gula, der luxuria und der superbia. Für die gula, und hier insbesondere die Säuferei, liefert Prov. 23, 29 - 33 die biblische Grundlage, wo vor den Weintrinkern gewarnt wird, die zanken, weinerlich werden, wirres Zeug reden und trübe Augen haben. Nach dem Wein solle man als vernünftiger Mensch gar nicht erst 79 Leeu, Gheraert: The Dialoges of Creatures Moralysed. Gouda 1480 (Nachdr. Köln 1988 [Medieval and Renaissance Texts, Bd. 4]), Dialogo 41, S. 125. 80 Berchorius, Petrus: Reductorium morale lib. x, cap. xiii: De Basilisco, S. 640. 81 Gregor Magnus (Fn. 74), lib. xxxiii, 34 und 39, S. 1730 ff. 154 Marianne Sammer schielen, denn »in novissimo mordebit ut coluber, / Et sicut regulus venena diffundet« [...] letztlich wird er wie eine Schlange beißen und wie der Basilisk sein Gift verspritzen) (Prov. 23, 32). Im 16. Abschnitt des Narrenschiffes, »von fullen und prassen«, paraphrasiert Sebastian Brant diese Bibelstelle, seinen Ausführungen ein pointiertes Ende setzend: »Eyn narr mueß vil gesoffen han / / Eyn wiser maeßlich drincken kan / / und ist gesünder vil dar mit / / Dann / der mit kübeln in sich schüt / Der syn ist gar senfft am ingang / Zue letzst sticht er doch wie eyn Schlang / Und güßt syn gifft durch alles bluet / Glich wie der Basiliscus duet.« 82 Eine mittelalterliche Parabel weiß von einem Mönch zu berichten, der einen Basilisken aufzog und nährte. Dennoch wurde er von seinem Basilisken getötet, woraus man den Schluß ziehen müsse, daß jeder, der die Völlerei oder die Unkeuschheit an seinem Busen nährt, zugrunde gerichtet wird - »ita, qui vermen peccati per gulam vel luxuriam in carne sua nutrit, ab ipso peribit« 83 (Wer den Wurm der Sünde durch Völlerei oder Unkeuschheit in seinem Fleisch nährt, wird durch eben diese Sünde zugrunde gehen.). Auf den Zusammenhang zwischen dem bösen Blick der Frau und dem tödlichen Blick des Basilisken haben nicht erst die Naturkundler hingewiesen; auch die Kirchenlehrer wußten von den Gefahren, die ein weiblicher Blick bergen kann. Den tugendhaften, starken Männern wies man die Rolle der vielen Toten, der zerborstenen Steine und der verbrannten Erde zu, die den Basilisken durch sein Leben begleiten; der Basilisk selbst fungierte als »caro«, »luxuria« oder »mala mulier« 84 : »Vel pone, quod basiliscus est caro, vel etiam mala mulier, cuius visus est alijs venenosus, quae aves, i.e. ipsos viros spirituales, per luxuriam comburit, petras etiam, i.e. viros fortes & stabiles frangit, & herbas, i.e. virorem conversationis, frutices, i.e. fructum bonae operationis adnihilat, & in eius consumit.« 85 (... der Basilisk ist das Fleisch oder auch ein schlechtes Weib, dessen Blick für andere giftig ist, das die Vögel, d.h. die Geistlichen, durch Unkeuschheit verbrennt, Felsen, d.h. starke und kräftige Männer bricht und Pflanzen d.h.den Umgang der Männer untereinander, und Sträucher, d.h. die Frucht der guten Tat, zunichte macht.) Im Etymachietraktat ist der Basilisk der Unkeuschheit als Wappentier im Banner mitgegeben, »das ist also zueversteen, das sich die unkewschen und der welt kind mit irem unkeweschen unzymlichen gesicht offt tötten an sele und an leybe [...] Also ist dz gesicht ein anfang der sünd. Darumb zeücht ein sünd die andern«. 86 Philippus Picinelli versieht das Bild des Basilisken mit dem Lemma »necat ante vulnus« (Er tötet bevor er verwundet) und verschlüsselt so den Blick einer Frau, der der Seele ihres Opfers unermeßlichen Schaden zufügen kann, dabei der Mahnung des Augustinus gedenkend, daß nicht nur die Berührung und die Leidenschaft, sondern auch schon der Anblick einer Frau die Wollust wecken könne. Ein schamhaftes Gemüt könne keiner aufweisen, dem die Schamlosigkeit in den Augen stehe, denn diese Augen seien der Aus- 82 Brant, Sebastian: Das Narrenschiff. Hrsg. Manfred Lemmer. Tübingen 1986, 16, S. 87 - 90, 44. 83 Hervieux, Léopold: Les Fabulistes latins. Paris 1896, Bd. iv: Odonis de Ceritonia Parabolae, Nr. 31, S. 277 (= Tubach, Bd. 496). 84 Caro - Fleisch, luxuria - Unkeuschheit, mala mulier - schlechtes Weib. 85 Berchorius (Fn. 80), S. 641. 86 Etymachie-Traktat. Dt. Ausgabe. Augsburg 1482, SPK Berlin, 4 Inc. 82, 7 r , v . Basilisk - regulus 155 druck eines schamlosen Herzens. 87 Mit »oculi procul, et aures« (fern die Augen und die Ohren) überschreibt Picinelli ein weiteres Emblem, das von der giftigen Aura des Basilisken seinen Vergleichspunkt bezieht und die »laszive Frau« bezeichnet. Wiederum bezieht sich die Erklärung dieses allegorischen Arrangements auf Augustinus, der die These vertritt, eine Frau errege die »pestilentia concupiscentiae« (Pest der fleischlichen Begierde) durch ihr Lachen, ihre Schmeichelhaftigkeit, und, was besonders vergiftend wirke, durch ihren Tanz und ihren Gesang, mit diesem verglichen das Pfeifen eines Basilisken noch harmlos sei. Das entsprechende Epigramm lautet: »Tutius in sylvis basiliscum audire frementem, / Quam molles cantus, foemineumque melos« 88 (Ungefährlicher ist es, das Schnauben eines Basilisken in den Wäldern zu hören, als süße Lieder und weiblichen Gesang). Von der »pestilentia concupiscentiae« zur pestilenzartigen Ansteckung (»contagione«) ist der Bogen leicht gespannt: Ihre Personifikation, eine entkräftete, blasse junge Frau in zerfetztem, billigem Gewand trägt in ihrer Rechten einen Nußbaumzweig - beim Nußbaum handele es sich um einen ansteckenden Baum -, in ihrer Linken einen Basilisken, ihr zu Füßen liegt ein Jüngling, schmachtend und leidend. Caesare Ripa erklärt bei diesem Bild die Verbreitung der Syphilis, der Lepra und der Schwindsucht, das tertium comparationis bildet wieder die tödliche Aura des Basilisken. 89 Der Basilisk vor dem Spiegel Auch der unfreiwillige Selbstmord des Basilisken beim Blick in einen Spiegel wurde auf unterschiedlichste Weise allegorisiert. In einer Predigt für Mariä Lichtmeß 1729 (purificatio Mariae) beispielsweise wird Maria einem Spiegel, der Basilisk einem Ketzer verglichen: »Die Spiegel haben auch an sich vim reflexionis die Krafft deß Gegenscheins oder Zuruckschickung, so gar das Gifft schiessen sie zuruck«, wie die Basiliskenepisode Alexanders gezeigt habe. Die nämliche Kraft besitze auch der »Marianische Spiegel«, der auf die Lästerer Mariens - die Basilisken - den Schaden, den sie ihr zugefügt haben, zurückwerfe: »Nestorius als ein vergiffter Basiliscus spritzte wider disen Spiegel aus sein Gifft, und sagte, sie sey nit zu nennen ein Mutter Gottes; Aber das Gifft kame wider auf ihn zuruck, sein Gottslästerische Zung wurde ihm faul, voller Würm mit einem unleydentlichen Gestanck.« 90 Unter Beibehaltung der aus der Bibelexegese gewonnnen Bedeutungsfelder sind auch anderslautende Auslegungen möglich: Maria, interpretiert als »speculum sine macula« (Spiegel ohne Flecken), vernichtet den Basilisken, in diesem Fall verstanden als Dämonen und Versuchungen, wenn sich der Sünder ihr zuwendet. Hat Maria in der Predigt die Sünde auf den Sünder zurückgeworfen und ihn für seine Häresien bestraft, so vernichtet sie hier nicht den Sünder, sondern seine Dämonen. In diesem Emblem (Lemma: »ipse peribit«) heilt Maria als fleckenloser Spiegel den Sünder von seiner Sündbefallenheit mit dem »Gift« ihrer Reinheit, das sie auf die Dämonen zurückschleudert. 91 Ganz anders wird in 87 Vgl. Picinelli, D. Philippi: Mundus Symbolicus. Bd. 1. Köln 1694 (Nachdr. New York 1976), Basiliscus, 480, Nr. 1. 88 Vgl. Picinelli (Fn. 87). 89 Ripa, Caesare: Della Novissima Iconologia di Cesare Ripa Perugino. Parte Prima. Padova 1625, S. 126 f. 90 Steffan, Alberus: Tubae sonitus, incitans et excitans justos et peccatores, illos ad perseverantiam, hos ad poenitentiam [...]. Augsburg 1729, S. 21. 91 Vgl. Picinelli (Fn. 87), 482, Nr. 22. 156 Marianne Sammer einer Physiologusschrift allegorisiert, die in dem Spiegel Christus sieht, der »wie in einem Spiegel leuchtet [...] durch das Fleisch hindurch in die Welt«, und im Basilisken den Teufel, der den Strahlen der Gottheit Christi bei seinem Hinabstieg in die Hölle nicht entgegentreten konnte und zugrunde gehen mußte. 92 Selbst wenn sich die Deutung des Basilisken vor dem Spiegel mitunter auch auf weltliche Inhalte bezieht, können die Bedeutungsfelder, die sich aus der exegetischen Tradition entwickelt haben, unverändert fortbestehen. So zeigt ein Emblem bei Picinelli einen sich spiegelnden Basilisken mit dem Lemma »suis peribit viribus« (er wird durch seine eigenen Kräfte zugrundegehen). Damit soll der Überzeugung Ausdruck verliehen werden, daß jedes begangene Unrecht auf seinen Urheber wieder zurückfällt: »Erit iniquitas ejus super ipsum, cum ipse iniquitati suae subdetur« 93 (Seine Bosheit wird auf ihn selbst herabkommen, wenn er seiner eigenen Bosheit ausgeliefert wird.). Den nämlichen Vergleich - wenn auch auf jemand beschränkt, der zu Unrecht straft - führt Jacobus Boschius in einem Emblem, das ebenfalls einen Basilisken vor einem Spiegel zeigt und das Lemma »Redit in auctorem scelus« (= ein Verbrechen fällt auf seinen Urheber zurück«) trägt. Hier wird der Bezug zu Is. 59 deutlicher als bei Picinelli hergestellt, da sich das Emblem in der Gruppe der Darstellungen »in judices corruptos &c.« 94 (gegen bestechliche Richter) befindet. Als Sonderfälle sind Auslegungen des Basilisken zu behandeln, die sich von den aus der Bibel entwickelten Bedeutungsfeldern gelöst haben und ihr tertium comparationis den naturkundlichen Quellen entnehmen. Bei diesen Fällen handelt es sich bevorzugt um positive Deutungen oder um konfessionelle Polemik. Zu ersteren zählt beispielsweise die Belegung des Basilisken mit Unerschrockenheit (= mens intrepida). Nicht der Tod, der von der Aura des Basilisken ausgeht, sondern seine Fähigkeit des Todbringens und damit seine potentielle Unbesiegbarkeit rückt in den Mittelpunkt der Auslegung. Bei Boschius und Picinelli findet sie sich mit dem beigegebenen Lemma »semper invictus« (stets unbesiegt) in Zusammenhang mit »bellatores« (Krieger). Picinelli führt dazu als Beispiel zwei historische Persönlichkeiten an, die lieber den Tod als ihre Unterwerfung auf sich genommen hatten. 95 Ebenfalls von der Unbesiegbarkeit des Basilisken nimmt eine Interpretation ihren Ausgang, die vor dem Hintergrund der traditionellen biblischen Bedeutungsfelder geradezu grotesk wirkt - der Basilisk als Bild des »charitativus«. Einzig die Nächstenliebe, so die Erläuterung des Emblems, besiege alles, daher lautet das Lemma »vincit omnia« 96 (sie besiegt alles). Im Zuge der konfessionellen Auseinandersetzungen läßt sich seit dem 16. Jahrhundert eine grundlegende Umdeutung der traditionellen Bereiche »Irrlehre« und »Sünde« konstatieren. Sie erfolgt natürlich gemäß den neuen konfessionellen Bedürfnissen und bricht insofern mit der bisherigen exegetischen Tradition: »Sihe aber / wie unser Herr Gott in seinen wercken so wunderbar ist. Der Basilisck (Bapst hett ich schier gesagt ) sey so gifftig und bös / als er immer wölle / noch darff ihn das kleine Wisselchin angreiffen. Denn so bald ein Wissel eins Basiliscken gewahr wirt / ist er bald hinder ihm her / und beist ihn todt. Das mag ia heyssen / o mors ero mors tua. A Domino factum est 92 Vgl. Treu, Ursula (Hrsg.): Physiologus. Frühchristliche Tiersymbolik. Berlin 1981, S. 96; Vgl. Mélanges D’ Archéologie. D’Histoire et de littérature [...]. Paris 1851, S. 213, 214. 93 Picinelli (Fn. 87), Basiliscus, 481, Nr. 17. 94 Boschius, Jacobus: Symbolographia sive De Arte Symbolica sermones septem. Augsburg 1761 (Nachr. Graz 1972, classis iv, Symbola Satirica, Nr. 140). 95 Picinelli (Fn. 87), Basiliscus, 481, 21; Boschius (Fn. 94), classis ii, Heroicorum. Bellator, Nr. 151. 96 Picinelli (Fn. 87), Basiliscus, 481, 21. Basilisk - regulus 157 istud: & est mirabile in oculis nostris [O Tod, ich werde dein Tod sein. Von Gott ist dies vollbracht worden, und es ist ein Wunder in unseren Augen]. Danck habe das liebe Wisselchin [= Jesus Christus].« 97 Unter Berufung auf Is. 59 war es von protestantischer Seite auch möglich, neben dem Papsttum auch die Werkheiligkeit mit dem Basilisken zu vergleichen. Da die Protestanten von den Deutungen nach dem vielfachen Schriftsinn Abstand nehmen, stellt deren Parodiesierung und das damit gewonnene neue Auslegungsergebnis einen besonderen Affront dar: »Gleichwohl mahlet Esaias 59. Mit dem Basilißken die falsche Propheten und unrechte Lehrer [...] Lutherus aber erklerets von den Werckheiligen Gleißnern / die mit eusserlichen Wercken umbgehen / inwendig aber / das sie nicht achten / voll Heucheley und Schand sind / und doch nichts thun / denn die andern urtheilen / richten / verdammen / verfolgen / erwürgen / wie das gantze Bapsthumb in den Hohenschulen / Stifften und Klöstern Exempla gnug gibt.« 98 Ergebnisse Den Ausgangspunkt dieser bedeutungsgeschichtlichen Skizze bildeten naturgeschichtliche Quellen zum Basilisken, anhand deren bestimmte Beobachtungen zur Gestalt und zu den Eigenschaften dieses Fabeltieres herausgearbeitet wurden, auf die sich seine christlichen Belegungen stützen. Sieht man von einigen Unstimmigkeiten zu Detailfragen in der Reihe der Belege aus der griechischen und römischen Antike ab, die nichtsdestoweniger ihre bedeutungsgeschichtlichen Traditionen gebildet haben, so begründeten diese Quellen eine stabile und einheitliche Vorstellung vom Basilisken. Charakteristisch ist ihr sachlicher, deskriptiver Charakter, der den christlichen Gelehrten eine ebenso ideologiefreie wie autoritativ beglaubigte Basis schuf, auf die sie eigene interpretierende oder unterweisende Aussagen zum Basilisken stellen konnten. Spätere naturgeschichtliche Quellen aus Mittelalter und Neuzeit ergänzten die antiken Berichte um natürliche Erklärungen zur tödlichen Aura des Basilisken, sie füllten die berüchtigten »biographischen Lücken« und führten Diskussionen über die Glaubwürdigkeit von beidem, berührten aber in der Regel nicht die antike Überlieferung, wie sie etwa Isidor in den Etymologiae zusammenstellte. Anschließend wurde das bedeutungsgeschichtliche Umfeld des Basilisken erschlossen, das sich aus den biblischen Belegen des Basilisken und deren Auslegungen durch die Kirchenlehrer entwickelte. Im Rahmen der Bibelexegese entstanden Bedeutungskategorien, die die Bereiche peccatum (insbesondere im Bereich der invidia, der luxuria, der superbia und der gula), mors, diabolus und Weltende (Antichrist) abdecken. Bei diesen Bedeutungskategorien handelt es sich, insgesamt betrachtet, um keine einsträngigen Bedeutungszuweisungen, die die Herausbildung eines festen allegorischen Vokabulars bewirkt hätten, sondern um offene Bedeutungsraster, denen die jeweiligen Kontexte wohl zugeordnet, nicht aber einverleibt werden können. Sie bilden seit der Patristik stabile, ungebrochene Traditionen, die mühelos bis in die Neuzeit verfolgt werden können und sich in den verschiedensten literarischen und künstlerischen Gattungen niedergeschlagen haben. Da die Tradierung der Bedeutungsfelder an die kontinuierliche Rezeption christli- 97 Alberus, Erasmus: Vom Basilisken zu Magdeburg [...]. Hamburg 1552, Diiv. 98 Frey (Fn. 72), S. 345 v . 158 Marianne Sammer cher Autoren geknüpft war, nimmt es nicht wunder, daß die Kontexte, mit denen sich die Bedeutungsfelder füllten, im Mittelalter und im Barock hauptsächlich theologischen, mitunter katechisierenden und moralisierenden, Bereichen zugehören. Als Methode, die Bedeutungsfelder mit konkreten Inhalten zu belegen, bediente man sich in der Regel der Bildung von Analogien: eine aus der Naturgeschichte allgemein bekannte Eigenschaft oder Verhaltensweise des Basilisken wurde auf eine der vorgeprägten Bedeutungskategorien im Sinne eines Vergleichs bezogen und in den jeweiligen situativen Kontext eingepaßt. Der genaue Kontext, innerhalb dessen der Vergleich steht, definiert die Bedeutung des Basilisken im Einzelfall als (Sprach-)Bild für eines der Bedeutungsfelder. Bedeutungsgeschichtlich gesehen, sind nicht die einzelnen definierbaren Kontexte, deren Reihe beliebig erweiterbar und variierbar ist, sondern die übergeordneten Bedeutungsfelder von Interesse, weil sich aus ihnen allgemeine Aussagen zur Kontinuität und Stabilität christlicher Traditionsbildungen gewinnen lassen, ebenso wie sie allgemeine Regeln der Allegorese und ihre Umsetzung in den Medien der verschiedenen Künste abzuleiten erlauben. Letzteres würde die Berücksichtigung der verschiedenen Quellenarten (Medizinbücher, Bestiarien, Naturgeschichten, Homilien, Predigten, Sagen, Embleme, Bauplastik ...) einschließen und konnte im Rahmen dieser Studie nicht geleistet werden. Dies bleibt an anderer Stelle, auch für die modernere Literatur 99 , nachzuholen. Hingegen konnte gezeigt werden, daß der Basilisk kein Fabeltier ist, das ein mysteriöser Volksgeist zum Monster erklärt hätte, im Volksglauben beheimatet sei - was immer man darunter auch verstehen mag - und seine negativen Konnotationen aus dunklen Vorstellungen schöpfe. Vielmehr wurden seine Epiteta auf klar benennbaren antiken und vor allem kirchlichen Traditionen entwickelt, deren kulturbildende Funktion generell noch nicht hinreichend reflektiert wurde, und die nichtsdestoweniger bedeutungsgeschichtlich überall gegenwärtig sind. Hinter der Komik, die zwangsläufig entsteht, wenn man, wie es in der Sekundärliteratur häufig geschieht, die vielen Sagen und Aussagen über ein fiktives Tier deskriptiv-paraphrasierend aneinanderreiht, steht eine jahrhundertelange Rezeption von Quellen, die sich sehr ernsthaft um ein einheitliches Wahrheits-, Gottes-, und Weltbild bemüht hat. Ohne diesen metaphysischen Anspruch, der nicht die Erscheinungen selbst, sondern die prinzipielle Bedeutbarkeit ihres Begriffs in den Mittelpunkt eines fortwährenden Interesses rückt, wäre die Ausbildung von stabilen bedeutungsgeschichtlichen Traditionen nicht möglich gewesen. Handelte es sich auch um Gelehrte, die für den Basilisken die Kontexte schufen und damit für die Kontinuität der Bedeutungskategorien sorgten, so ist dennoch nicht auszuschließen, daß die Bedeutungskategorien selber auch einfacheren Bevölkerungsschichten geläufig gewesen sind, zumal bestimmte Quellen, die sie tradieren, sich an eine Öffentlichkeit richteten (Predigten, Parabeln, Sagen ...) und die Allegorese nicht nur der Schriftauslegung diente, sondern auch eine katechetische Funktion erfüllt hat. Eine Veranstaltung wie der Nürnberger Schembartlauf von 1507 etwa, bei dem die Hölle von einem Basilisken dargestellt wurde 100 , setzt das Wissen der Brauchträger um die Bedeutungsfelder, 99 Vgl. z.B. Rosendorfer, Herbert: Vorstadt-Miniaturen gefolgt von ›Der Basilisk‹. München 1982. Bergengruen, Werner: Der Basilisk und andere Spuknovellen. Frankfurt/ M. 1988 (Phantastische Bibliothek, Bd. 205). Edwards, Graham: Der Basilisk. Die Saga vom Ende der Zauberdrachen. Bergisch Gladbach 1996. Bachmann, Guido: Der Basilisk. Novelle. Basel 1987. Basilisk - regulus 159 in denen der Basilisk steht, voraus. Für Nürnberg kann dies belegt werden, hat doch der Franziskaner Stephan Fridolin in seiner Predigt zum Sonntag Quinquagesima 1507 seiner Gemeinde einige mögliche Bedeutungen des Basilisken erklärt. Mit dem Ende des konfessionellen Zeitalters und dem Anbruch der Aufklärung werden die Kontexte, in denen der Basilisk steht, natürlich zunehmend profan, doch finden sich auch in der Folgezeit - manchmal merkwürdig verworrene - Reminiszenzen an die alten Bedeutungsfelder ... »Vult lächelte ihn [=Walt] seltsam an und sagte: er [=Walt] kopiere ja mémoires érotiques mit und ohne Feder und jage Mädchen [...] ›Allein‹, setzt’ er dazu, ›ein Greifgeier, ein Basilisk wie ich hat so gut seinen Liebes-Pips als ein Phönix wie du‹.« 101 ... und an alte Methoden der Allegorese ... »Firmian machte keine andern Einreden mehr als verzögerliche: er schob bloß seine Beichte auf und dachte, da Apollo der schönste Tröster [Paraklet] der Menschen ist, und da Natalie dem Basilisk des Grams sein eigenes Bild im Spiegel der Dichtkunst gewiesen, so werde er an seinem Bildnis umkommen. So werden alle tugendhaften Bewegungen in uns durch die Reibungen der Triebe und der Zeit entkräftet.« 102 100 Vgl. Küster, Jürgen: Spectaculum Vitiorum. Studien zur Intentionalität und Geschichte des Nürnberger Schembart-Laufes. Remscheid 1983 (Kulturgeschichtliche Forschungen, Bd. 2), S. 79 f. 101 Jean Paul: Flegeljahre. Bd. 4, Nr. 59: Notenschnecke. München 1996, S. 1034. 102 Jean Paul: Siebenkäs. Bd. 4, Kap. 24. München 1996, S. 553 f. 160 Marianne Sammer Abbildungen: Abb. 1: Antiken Vorstellungen nachempfundene Basiliskenschlange mit dreigezackter Krone. Aus: Marcus Aurelius Severinus, Vipera Pythia [...] (Kupferstich von Giovanni Georgi), Patavii 1651, Exemplar: Bayerische Staatsbibliothek München. Abb. 2: Emblematische Darstellung der Bosheit aus der exegetischen Tradition von Is. 59, 5. Unrecht und Bosheit fallen auf den Sünder selbst zurück. Die der Bosheit zugeordnete Pflanze ist bei Hohberg der Oleander, der wie ein Basilisk tödliches Gift in sich berge: »Wie lange sollen die gottlosen prahlen? Der Oleander ist dem vieh und menschen schad und sein verborgen gifft sehr strenge wirckung hat: Also der bösen schar, je mehr sie böses üben je mehr sie tyranney und grausamkeit lieben.« Aus: Wolfgang Helmhard Freiherr von Hohberg, Lust- und Arzeney-Garten des königlichen Propheten Davids, Regensburg 1675, Exemplar: Bayerische Staatsbibliothek München. Abb. 3: Basilisk an der 1638 geweihten Mariensäule in München. In Ps. 90 (Vulg.) wird den Gläubigen Rettung verheißen und Schutz. Maria als Himmelsgöttin und Gottesmutter, Szepter in der Linken und Christus auf dem rechten Arm, steht 14 Meter hoch auf einer Säule. An den vier Ecken der Säulenbasis sind die vier gegossenen Tiere aus Ps. 90,13 angebracht, jedes in eine andere Himmelsrichtung weisend. Sie werden alle von einem bewaffneten Putto in Rüstung angegriffen. Gott hat, wie in Ps. 90,11 versichert wird, seinen Engeln befohlen, diejenigen, die bei ihm Zuflucht nehmen, zu beschirmen, damit sie unbeschadet über die Schlange, den Basilisken, den Löwen und den Drachen hinwegschreiten können - an der Münchner Mariensäule ist das wörtlich dargestellt. Die Szene spielt kurz vor dem Sieg der Putti, denn die vier Tiere leben noch, liegen den Kämpfern jedoch schon zu Füßen. Im Gegensatz zu den anderen Engeln blickt derjenige, der den Basilisken niederwirft, an seinem Opfer vorbei, vermutlich um nicht noch in letzter Sekunde dessen tödlichem Blick zu erliegen. Auf den Schilden der Engel läuft Ps. 90, 13 als Inschrift um das Denkmal. Foto: Privat. Die Monster in Beowulf Marijane Osborn (Davis) Das angelsächsische Langgedicht Beowulf, wahrscheinlich zwischen dem achten und zehnten Jahrhundert entstanden, ist die älteste verzeichnete durchgängige Erzählung im englischen Sprachraum. Abgesehen von einigen Riesen und Seeungeheuern von geringerem Interesse, die in diesem Artikel außer Acht gelassen werden sollen, kämpft der Kulturheld 1 Beowulf vor allem gegen drei Monster. Als junger Krieger segelt er nach Dänemark, um den menschenähnlichen Kannibalen Grendel, einen Riesen mit feurigen Augen, zu bezwingen, und muß, als Folge seines Sieges über Grendel, dann mit dessen rachesuchender Mutter kämpfen. Jahre später, als König der Gauten, die im Gebiet des heutigen Schweden leben, kämpft Beowulf gegen einen feuerspeienden Drachen, der das Land verwüstet. Jede dieser drei Begegnungen kommt zustande durch einen Angriff der Monster auf die Menschen und zehrt in zunehmendem Maße an den Kräften des Helden 1 Der Kulturheld, auch als Volksheld bezeichnet, tötet ein Chaos schaffendes Monster oder stiftet eine Kulturleistung (bringt z.B. wie Prometheus das Feuer); er beschützt und erhält sein Volk. Er geht in sein Kulturgut ein als maßgebliches Vorbild an körperlicher Stärke, Mut und Ehrenhaftigkeit. 162 Marijane Osborn und geschieht in zunehmender Entfernung von der vom Feuerschein erleuchteten Halle der Gefährten und des sozialen Gabentausches: zuerst in der nächtlichen Halle selbst, danach in der unheimlichen Unterwasserhöhle der Mutter, und schließlich am Eingang zu einer Schatzhöhle, die mit einem ausgestorbenen Volk in Verbindung steht - und die das Ende der Erzählung vorwegnimmt, als Beowulfs Gefährten mit einem Fluch belegt werden. In seinem letzten Kampf fällt Beowulf dem Gift des Drachen zum Opfer, obwohl es ihm noch gelingt, ihn zu töten. Diese kurze Zusammenfassung des Mythos, der dem Dichter wahrscheinlich in einer relativ vollständigen Fassung vorlag, läßt sowohl die komplexen sozialen und historischen Hintergründe Skandinaviens, in das der angelsächsische Dichter die Geschichte plaziert, als auch die gewählte Form (Versmaß), die dem Gedicht einen so nachhaltigen Eindruck verleiht, unbeachtet. Auch nachdem J.R.R. Tolkien in seinem berühmten Vortrag The Monsters and the Critics 2 die Bedeutsamkeit der Monsterkämpfe betont hat, wendet sich der Großteil der Beowulf-Forschung nach wie vor bevorzugt den »periphären« Aspekten zu, und selbst Tolkien konzentriert sich in seinem Vortrag eher auf die Kritiker als auf die Monster. Beowulfs allnächtliche Monster, die im Dunkeln ihr Unheil treiben, wirken mehr auf unser Gefühl als auf unseren Verstand und sollten daher eher erfühlt denn analysiert werden. Noch vieles könnte zu den anderen expliziten oder impliziten Themen von Beowulf gesagt werden, ohne den Monstern im Zentrum des Gedichtes irgendwelche Beachtung zu schenken. Der vorliegende Aufsatz jedoch befaßt sich zuerst mit der Wesensnatur der Monster und mit zeitlich sowie geographisch weitreichenden Analogien, um etwaigen Vorgängern dieser Monsterfiguren nachzuspüren. Es schließt sich ein Kommentar an zu der Art und Weise, in der verschiedene moderne Autoren, die sich des angelsächsischen Materials bedient haben, Beowulfs Monster umgearbeitet haben, um den Erwartungen ihres eigenen Kulturraumes zu entsprechen. Die Wesensnatur der Monster Der Teil des Gedichtes, in dem Beowulf gegen die zwei menschenähnlichen Monster Grendel und dessen Mutter kämpft, wird auch als »two-troll« Abschnitt bezeichnet 3 , analog der skandinavischen Erzählungen, in denen die zwei Gegenspieler des Helden als männlicher und als weiblicher Wassertroll auftreten. Der Einfluß dieser Troll-Erzählungen auf den ersten Teil der Beowulf-Erzählung wurde bereits intensiv erforscht. Obwohl Beowulfs Grendel-Monster im Rahmen der typischen Wasserfall-Troll-Erzählung auftreten, sollte man sie vielleicht nicht so sehr als Trolle, denn als eine andere Form menschenähnlicher Monster einstufen: als Wargs. Der Dichter nennt Grendel einen »heorowearh« (Höllenwarg, maskulin, V. 1267a) und seine Mutter eine »grund-wyrgen« (Tiefenwargin, feminin, V. 1518b). 4 Beide Schlußteile, das maskuline »-wearh« und das feminine »-wyrgen«, sind etymologisch mit dem Wort »warg« verwandt, das Tolkien dement- 2 Tolkien, J.R.R.: The Monsters and the Critics (Festschrift für Israel Gollancz). In: Proceedings of the British Academy (Nachdruck) 22 (1936), S. 2 - 53. 3 Vgl. Stitt, J. Michael: Beowulf and the Bear’s Son: Epic, Saga, and Fairytale in Northern Germanic Tradition. New York 1992. Die Monster in Beowulf 163 sprechend in das heutige Englisch übernommen hat. Andere etymologische Verwandtschaften dieses Wortes lassen sich durch frühere germanische Formen verfolgen, z.B. ein Ausdruck für »Verbannung« im Lex Salica: »wargus sit«, oder auch den althittitischen Begriff »hurkil« (Vogelfreier), das einen sozial Geächteteten, Kriminellen oder Außenseiter bezeichnet, den das Gesetz der Hittiter mit »du bist zum Wolf geworden« verbannt (Weitenberg). Die Forschung ist sich uneinig, ob dieser Ausdruck als Metapher zu verstehen sei und meint, daß der Geächtete die Menschenrechte verliert und wie ein Tier in der Wildnis vegetiert (wie bei Weitenberg), oder ob er wörtlich zu nehmen sei, daß also der Geächtete vielleicht in einem an die literarische Romantik erinnernden Bgriffsrahmen als in einen Werwolf verwandelt aufzufassen ist (wie Gerstein argumentiert). Letztere Interpretation hängt selbstverständlich von einer bestimmten Auffassung des Begriffs »Werwolf« 5 ab. Was auch immer die Implikationen des hittitischen Satzes sein mögen, die Etymologie von »warg« zeigt geographisch unterschiedliche Veränderungen in der Wortbedeutung auf. Im Norden entwickelt es sich zum Altisländischen »vargr«, das 4 Amn. der Übersetzerin: Genzmer (Beowulf und das Finnsburg-Bruchstück. Aus dem Angelsächsischen übertr. Von Felix Genzmer. Stuttgart 1982.) übersetzt an diesen Stellen »Höllenwolf« und »Tiefenwölfin«. 5 Zum Mythos des Werwolfes vgl. in diesem Band den Beitrag von Keith Roberts. 164 Marijane Osborn wahrscheinlich sowohl den Geächteten als auch den Wolf bezeichnet (im Neuisländischen wird dieses Wort oftmals als Schimpfwort für Frauen benutzt, wie das Englische »bitch«, nur um einige Grade stärker). Im modernen Englisch steht das Wort weniger mit konkreten Tieren als mit dem Unheimlichen schlechthin in Verbindung, wie z.B. im dialektalen Gebrauch von Chaucers »John the Carpenter« in der Miller’s Tale (Erzählung des Müllers), der sein Haus gegen »nightes verye« (den Nachtwolf oder Schwarzen Mann) segnet. 6 Tolkien verbindet den Horror assoziierenden Kontext dieses Wortes mit der isländischen Bedeutung, um den dämonischen, wolfähnlichen »Wargs« in Der Hobbit und Herr der Ringe Leben einzuhauchen, und die Popularität seiner Erzählung von Mittelerde bestärkt die Annahme, daß die meisten modernen Leser von Fantasy-Literatur mit diesem Begriff eine Assoziation von Dämon und Wolf verbinden. Obwohl die Bedeutungsebene »Tier« später aus dem Englischen verschwindet, wird Grendels Mutter zweimal, in den Versen 1506a und 1599a, als »brimwylf« (Meereswolf) bezeichnet. Dies verleiht der Figur eine weitere Bedeutungsebene und läßt vermuten, daß zu dieser Zeit die Begriffe »Warg« und »Wolf« in gegenseitiger Abhängigkeit existierten. Ich denke jedoch, daß nur schwerlich Beowulfs Wargs, oder Wargs generell, als Werwölfe per se zu akzeptieren sind, da das moderne Konzept eines Werwolfes eine Transformation von Mensch (Altenglisch »wer«) in Wolf und möglicherweise eine durch offene Wunden übertragbare »Werwolf-Krankeit« (ähnlich dem Vampirismus) beinhaltet. Andeutungen jeglicher Transformation, Ansteckung seitens Grendels oder seiner Mutter, oder wolfsähnlicher Gestalt fehlen jedoch im Beowulf. Stattdessen betont der Dichter deren Exil 7 , das in seiner Struktur dem Exil des Außenseiters in menschlicher Gesellschaft gleicht. Anders als der isländische Geächtete Grettir, der sich im Exil auf der Insel Drangey in einen »vargr« verwandelt, existieren Gendel und dessen Mutter von Geburt an als Wargs, als geborene Gesetzesbrecher vom Stamme der Geächteten, und als Nachfahren von Kain, wie der Dichter immer wieder betont. Tolkien befindet, daß die Namen für Grendel, die sich auf seinen Geächtetenstatus beziehen, »seine Wesensnatur bezeichnen, aber ebenso selbstverständlich einen Nachfahren Kains oder einen Teufel beschreiben; daher heorowearh, dædhata, mearcstapa, angenga« 8 . Dieses wesensnatürliche »Wargtum« verurteilt ihn zur Außenseiter-Existenz und zur Teilhabe an solch »wargeigenem« Verhalten wie Kannibalismus. Dieser Kannibalismus kann tatsächlich nur als solcher bezeichnet werden und nimmt an Horrorgehalt zu, wenn Wargs, als typische Nachfahren Kains, zumindest zum Teil menschliche Züge erhalten. In gewissem Sinne sind Grendel und dessen Mutter tatsächlich menschlich; er trägt eine Tasche, in der er die geraubten Körperteile transportiert, und sie schmiedet einen Dolch mit bemerkenswerter Geschicklichkeit. Ihre Wesensnatur als Wargs macht die beiden jedoch auch zu dämonenähnlichen Wesen, zu »helrunan«, Höllenkreaturen, ein der Hexenkultur entstammendes Wort. Vor allem aber sind sie »uns« feindlich gesinnt. Daß solch ein Anderssein Andeutungen von Rassismus, d.h. von phäno- und genotypisch begründeten Haßgefühlen und Berührungsängsten enthält, steht außer Frage. 6 Chancer, Geoffrey: A Variorumedition of the Works, Bd. 3: The Miller’s tale. Hrsg. Von Thomas W. Ross. Norman 1983, v. 3485. 7 Orchard, Andy: Pride and Prodigies: Studies in the Monsters of the Beowulf-Manuscript. Cambridge 1995, S. 58 - 85. 8 Orchard (Fn. 7), S. 38. Die Monster in Beowulf 165 Die rassistischen Anspielungen auf Grendels dämonisches Anderssein überzubetonen bedeutet allerdings auch, die Fabel in einem Maße zu entstellen, wie dies frühere Mythenforscher durch Interpretation der Monster als Allegorien von jahreszeitabhängigen Naturkatastrophen und Beowulfs als kämpferischem Sonnenheld taten 9 . Dagegen zeigt eine Untersuchung der Interpretationgeschichte in Abhängigkeit von dem sich zeitlich verändernden Sozialgefüge vielleicht einen erfolgversprechenderen Weg auf, den beiden Monstern Bedeutung zu entlocken. Ob man sie in Beowulf nun als Trollin, Meereswolf (was auch immer dies sein mag), Warg, oder eine Mischung dieser drei verstehen sollte - Grendels Mutter wird zweimal als »ides«, lady (V. 1259 u. 1351), bezeichnet, ein Wort normalerweise im Gebrauch für eine höhergestellte Dame. Und tatsächlich beweisen ihre literarischen Vorgängerinnen (und die ihres Sohnes), daß die Figuren komplexer gezeichnet sind, als die Wörter »Troll« oder »Warg« vermuten lassen. Im Sinne der Anthropologie und des kulturellen Wandels betrachtet, könnte Grendels Mutter in ihrem trostlosen See ein negatives Spiegelbild zu einer Götterfigur aus vorchristlicher Zeit darstellen: das der weitverbreiteten See- oder Meeresgöttin, die auch oft als Wasserfee, Nixe 10 , oder Undine auftritt. In verschiedenen klassischen und modernen Kulturen kontrolliert die Göttin in dieser Rolle die Nahrungsquelle, wie z.B. Sedna, Meeresgöttin der Eskimos, und die Mescalan-indianische Göttin des Lake Chapala in Mexico, die nach dem nun verstreuten Stamm »Mescala« benannt ist. Die mazedonische Seegöttin oder Seefee Volve, die in einem nun trockengelegten See gleichen Namens wohnt, stellt eine ausgezeichnete Analogie zu einer Göttin dar, die, weder gut noch böse, auf Grendels Mutter verweist. Sühneopfer am Schrein ihres Heldensohnes am Seestrand bewegen sie, ihre Beute freizugeben 11 . Obwohl der Kopf des ermordeten Æschere auf dem Weg zu dem See wahrscheinlich die apotropaische oder defensive Magie von Grendels Mutter symbolisiert, erinnert er den Leser an Sühneopfer, ähnlich den wahrscheinlich geopferten Moorleichen in Skandinavien, die verschiedene Wissenschaftler mit den von Tacitus beschriebenen Ritualen der Göttin Nerthus in Verbindung gebracht haben (Germania 40 12 ). Ein positiveres Beispiel der Seegöttinnen im nordwestlichen Europa findet sich in König Arthurs Wohltäterin, der »Lady of the Lake« (Seefee). Mit der Einführung des Ackerbaus und der Nahrungsmittelverteilung in den Frühkulturen (zwei Phänomene, die die Entstehung sozial komplexer Strukturen bedingten) werden weibliche Götterfiguren oftmals einer männlichen Götterfigur untergestellt (z.B. wird die Gottesmutter im christlichen Kulturraum lediglich zur sterblichen Mutter des Gottessohnes), oder als Trolle, Wargs, oder sogar Seemonster dämonisiert, so daß ein neuerlich auftauchender Kulturheld sie als Kräfte des Bösen unterwerfen kann. Wie die Seemonster-Transformation bereits andeutet, finden sich auch klassische Vorbilder für Beowulfs Drachen 13 . In den Vedas steht der drachenähnliche Vrtra, den der heroische Indra bezwingt, ähnlich der Wasserfee mit der Kontrolle über die zur Ernteerbringung notwendigen und als feminine Kräfte dargestellten Wasser der Schöpfung in 9 Konzepte diskutiert bei Chambers, R.W.: Beowulf: An Introduction to the Study of the Poem. Cambridge 1963, S. 46 - 47. 10 Zum Mythos Nixe vgl. in diesem Band den Beitrag von Claude Lecouteux. 11 Burkert, Walter. Homo Necans: The Anthropology of Ancient Greek Sacrificial Ritual and Myth. Trans. Peter Bing Berkeley: University of California Press, 1983. 12 Publius Cornelius Tacitus. Germania: lateinisch und deutsch. [Übers.] Gerhard Perl. Darmstadt 1990. 13 Zum Mythos Drache vgl. in diesem Band den Beitrag von Winder McConnell. 166 Marijane Osborn Verbindung 14 . Der Drachen ist der letztendliche Feind, und alle Kommentatoren sind sich prinzipiell einig, daß »die Tötung eines Drachen die universelle Handlung darstellt, durch welche die teutonischen Helden ihre Legitimität unter Beweis stellen« 15 . Watkins schlägt des weiteren vor, den Drachentötungsmythos als »potentiell quasi-universell« aufzufassen 16 . Die Forschung hat auf verschiedene Zusammenhänge zwischen Beowulfs Drachen und dem vorzeitlichen Drachen des Chaos (und des Wassers), dem skandinavischen Midgardsorm oder Welt-Drachen hingewiesen, mit dem Thor bei Ragnarok kämpft, und in welchem Kampf jeder den anderen erschlägt, und hat andere Zusammenhänge mit dem christlichen Drachen der Apokalypse extrapoliert. Beowulfs Drache jedoch wirkt lebensechter als diese zwei. Während verschiedene Versuche gemacht wurden, ihn als Grendels wiederauferstandene Mutter oder als den zum Drachen gewordenen Geist des Goldhüters zu interpretieren, akzeptieren ihn die meisten Leser genauso, wie ihn der Dichter darstellt: als die klassische, 20 Meter lange, geschuppte, geflügelte und feuerspeiende Version der angelsächsischen Drachen, deren Instinkt sie dazu leitet, gemäß den altenglischen Erzählungen, einen Goldhort aufzusuchen und ihn zu bewachen. Die Etymologie des Wortes »Drachen«, ein Wort, das aus dem altgriechischen drákon und dem lateinischen draco von der indogermanischen Wurzel *drk (verbunden mit derkein, derkesthai: »sehen, anschauen« 17 ) stammt, bekräftigt die Perspektive des Drachen als Hüter des Schatzes. In der klassischen Literatur hüten Drachenwächter das Goldene Vlies, die Äpfel der Hesperiden, und vielleicht sogar den berühmten Baum im prähebraischen Eden. Nördliche Drachen dagegen, wie diejenigen, die Beowulf und Sigurd zum Opfer fallen, wachen über einen Goldhort, einen verborgenen Schatz. Durch den Diebstahl des Bechers gestört, erhebt sich der Drache in Beowulf wütend in die Nacht, um die Gegend mit Flammen zu verwüsten. Man könnte ihn, wie es ein Teil der Forschung tut, als Allegorie der Gier lesen, aber es ist wahrscheinlich textgetreuer, ihn als Symbol einer »wahren« Naturgewalt zu verstehen, mit der nicht zu Spaßen ist - es sei denn, er wurde unversehens aufgeweckt, verwüstet die Lande, und man gehört der Klasse der Kulturhelden an. Drachen sind erst kürzlich ausgestorben. R.W. Chambers berichtet von der Sichtung eines Drachen in den Schweizer Alpen noch im Jahre 1649 18 , und ich stelle mir gerne vor, daß ich in Schweden »die genaue Stelle«, an der Beowulfs Drache (oder sein Bruder) seine Höhle hatte, beobachtet habe. Dies war eine dunkle Höhle hoch in einer Steilwand, die das Meer bei dem Dorf Dragsmork im heutigen Bohuslän überschattete. Als meine Begleiterin und ich uns in der örtlichen Pfarrei nach dem Loch, das wir in der Steilwand erblickt hatten, erkundigten, bestätigte man uns die mythische Bedeutung des Ortsnamens. »Da wohnte früher ein Drache! « Zudem soll derselbe Drache einen Silberbecher in dem Skålberg (Becherberg) 19 bewacht haben; obwohl sich Genaueres nicht herausfinden 14 Stitt (Fn. 3), S. 29 - 32. 15 Evans, Johnathan: As Rare as They Are Dire: Dragons, Tolkien, and Jacob Grimm. Unveröffentlichtes Manuskript eines Vortrages gehalten auf dem 32ten International Medieval Congress at Kalamazoo (Freitag, 9. Mai 1997), S. 12. 16 Watkins, Calvert: How to Kill a Dragon: Aspects of Indo-European Poetics. Oxford 1995, S. 297. 17 Evans (FN. 15), S. 6. 18 Chambers (Fn. 9), Anm. S. 11. 19 Overing, Gillian; Marijane Osborn: Landscape of Desire: Partial Stories of the Medieval Scandinavian World. Minneaplis: University of Minnesota Press, 1994, S. 30. Die Monster in Beowulf 167 ließ, nehmen wir an, daß dies der Name des Berges mit der Steilwand ist, in dem die Drachenhöhle liegt. Was darüber hinaus läßt sich über Beowulfs Monster sagen? Der Dichter konzipiert seine Wargs hauptsächlich als auf Grund ihrer Wesensnatur Geächtete, als sozial ausgestoßene Einzelgänger, die an ihrem Einzelgängertum leiden, verzweifeln. Sie sind wolfsähnlich und dämonisch genug, um glühende Augen zu besitzen, und sind unheimlich und dem Teufel verbunden, obwohl nicht wesensmäßig Teufel. Sie setzen die mit der Racheethik verbundene Tötung in der frühen Germanischen Gesetzeshütungskultur in die Tat um, aber lassen die gegenseitige Kompensationsregel außer Acht. In einer, wunderbarerweise trockenen, Höhle auf dem Grunde eines Sees lebend sind sie menschlich genug, um andere mit Zaubersprüchen zu belegen und Werkzeuge zu benutzen, und nicht menschlich genug, da sie beinahe Riesenstatur besitzen (ähnlich dem Bigfoot, mit dem sie oft verglichen werden). Der Dichter hat diese Wargs an eine Schnittstelle zwischen Mensch, Tier, und Dämon plaziert - ein Ort außerhalb der Gesellschaft, an dem sie bei Nacht nach Nahrung hungern. Ebenfalls ein Einzelgänger, jedoch ohne menschliche Züge, ist uns der Drache hingegen eher verständlich: ein zwanzig oder dreißig Meter langes, geflügeltes und feuerspeiendes Reptil von betächtlichem Alters, das sein Nest auf vergrabenem Gold baut und sowohl Nest als auch Gold bis zur letzten Konsequenz verteidigt. 2. Die Monster in moderner Form Obwohl der schatzhütende Drache Smaug in Tolkiens Hobbit eine romantisierende Version des Beowulf-Drachens darstellt und der Drachen des spanischen Beowulfo in den mit Kunstpreisen ausgezeichneten Illustrationen dieses Buches als Brachiosaurus erscheint, der von einem Don-Quixote-ähnlichen Beowulfo angegriffen wird, haben sich moderne Adaptationen des Beowulf-Monsters gänzlich auf die Grendels konzentriert und benutzen diese mit vielen verschiedenen Absichten. In dem folgenden eher deskriptiven denn kritischen Teil dieses Essays sollen drei Romane stellvertretend besprochen werden: John Gardners Grendel, Michael Crichtons Thriller Eaters of the Dead, und das Teamautorenwerk The Legacy of Heorot, ein Horror-Fantasy Buch. Des weiteren werden zwei Filme untersucht, die Musical-Parodie Grendel, Grendel, Grendel und der Spielfilm Clash of the Titans. Da letzterer Film der Monsterstruktur von Beowulf eine Fabel aus der griechischen Mythologie überstülpt, eignet er sich in ausgezeichnetem Maße für eine Zusammenfassung dieser Diskussion. Gardners Grendel (1971) hat so große Berühmtheit und Beliebtheit erlangt, um selbst eine kritische Untersuchung in Buchform und unzählige Artikel, von denen viele auf die tierkreiszeichenähnliche Kapitelanordnung hinweisen, zu inspirieren. Der im Titel benannte Antiheld ist ein bekannter und beliebter Protagonist in der modernen Literatur, der, wenn er keine Dänen verspeist, als selbstbenannter »armer Grendel« uns im Gespräch mit dem philosophierenden Drachen vieles über seine unterprivilegierte Jugend erzählt. Chrichtons Eaters of the Dead aus dem Jahre 1976 (wird zur Zeit verfilmt), integriert ein weiteres Thema von neuzeitlichem Interesse in das Beowulf-Material: Kolonialisierung und der damit verbundene Rassismus. Der Roman basiert auf einer echten Erzählung, dem Bericht des historischen Arabers Ibn Fadlan auf seiner Reise als Gesandter von Bagdad zum Bulgarenkönig. Unterwegs trifft er auf eine Gruppe schwedischer 168 Marijane Osborn Handlungsreisender und verzeichnet als Beobachter deren Kultur und deren Rituale. Wie bisher hat Crichton sich hier von authentischem und faszinierendem Material inspirieren lassen. Im Gegensatz zu dem Bericht jedoch erreicht in Crichtons Roman der Araber die Halle der Dänen kurz vor dem Angriff durch die Grendel. Diese Grendel sind augenscheinlich Neanderthaler, die eine Muttergottheit verehren und deren Land erst kürzlich von den skandinavischen Gastgebern des Arabers erobert wurde. »Buliwulf« hilft bei der Verteidigung des skandinavischen Stammes, als die entwurzelten Grendel ihr Vaterland zurückzuerobern versuchen. Es fließt viel Blut. Der Science Fiction Roman The Legacy of Heorot aus dem Jahre 1987 von dem Autorenteam Larry Nivel, Jerry Pournelle und Steven Barnes dreht sich um einen dritten Anstoßpunkt: Als die Menschen das ökologische Gleichgewicht des Planeten zerstören, tritt eine große Armee von saurierähnlichen »Grendeln« auf den Plan, ähnlich der weißen Blutzellen, die eine Krankheit bekämpfen. Cadmann Wayland (der Beowulf-Charakter hier) kommt zu Hilfe. Es fließt (wiederum) viel Blut. Dieser Roman hat neuerdings einen Nachfolger, Beowulfs Children (1995) erhalten. Grendel, Grendel, Grendel, der australische Zeichentrickfilm über Gardners Roman mit einem amüsanten Drehbuch von Bruce Sweaton verwandelt die Geschichte in ein Musical mit der Hauptarie »Mother Loves You«. In der Filmmusik und durch sozial rollenvertauschenden Dialekt verbalisiert sich demnach ein weiterer kultureller Anstoßpunkt, der besonders für England und seine ehemaligen Kolonien von Bedeutung ist: die Art und Weise, in der Sprache soziales Klassenverständnis beeinflußt. In diesem Film unterhalten sich die Menschen, die der dänischen Aristokratie in Beowulf entsprechen, in der Sprache der australischen Arbeiterklasse, während der Drache mit der eleganten Stimme Peter Ustinovs ausgestattet wird. Grendel, vor Selbstmitleid zerfließend oder in philosophischer Diskussion mit dem Drachen vertieft, betreibt auf hochherrschaftliche Art und Weise Konversation. Nach der in diesem Teil besprochenen Abfolge moderner politischer Themen, wie sie in künstlerischen Wiederaufarbeitungen der Geschichte erscheinen, wird der Leser die Diskussion einer frauenorientierten, wenn nicht sogar feministischen, Version erwarten. Mein letztes Beispiel kann eine solche (noch) nichtexistente Version nicht ansprechen, liefert aber Öl für das Feuer feministischen Interesses. In dem überraschend starbesetzten, aber verkünstelten MGM-Spielfilm von 1981, Clash of the Titans, der »auf jahrhundertealten griechischen und nordischen Legenden basiert« (Videohülle), schreibt der englische Drehbuchautor Beverley Cross die Heldensage des Perseus um in die Form von Beowulf. Der Held, auf dem Meer als kindlicher Dänenkönig Scyld enthüllt, bezwingt in seiner Jugendzeit nach und nach drei Monster. Sein erster Gegenspieler ist der zum Moormonster gewordene Mensch Calibos (benannt nach der selbstreflexiven Schlammkreatur aus Brownings Gedicht »Caliban upon Setebos«), dann eine furchterregende Höhlenfrau, die Medusa (in Nyes Roman Beowulf aus dem Jahre 1966 tritt Grendels Mutter ebenfalls als Medusa auf) und schließlich ein titanischer Meeresdrache, der eine Jungfrau zu verschlingen droht. Die in Ketten gelegte Andromeda erfüllt das notwendige »damsel in distress«-Seitenthema, das in Beowulf - inzwischen der Hollywood-Version sehr entfremdet - fehlt. Obwohl manche Puristen Anstoß nehmen mögen an den künstlerischen Freiheiten, mit denen der Stoff des großen germanischen Heldengedichtes in diesen fünf modernen Adaptationen behandelt wird, sollte man bedenken, daß der Beowulf-Dichter selbst un- Die Monster in Beowulf 169 zweifelhaft mit ähnlicher Freiheit traditionelle Monstersagen verarbeitet hat, um seinen eigenen derzeitigen Zielen auf künstlerische Art Ausdruck zu verleihen. Übersetzt von Sonja H. Streuber Abbildungen: Die Abbildungen stammen von James Robinson und wurden in Zusammenarbeit mit der Autorin angefertigt. Bibliographische Hinweise Burkert, Walter: Homo Necans: The Anthropology of Ancient Greek Sacrificial Ritual and Myth. Übers. Peter Bing Berkeley. Berkeley, CA 1983. Chambers, R.W.: Beowulf: An Introduction to the Study of the Poem. Cambridge 1963. Evans, Johnathan: As Rare as They Are Dire: Dragons, Tolkien, and Jacob Grimm. Unveröffentlichtes Manuskript eines Vortrages gehalten auf dem 32ten Internationalen Mediävistik-Kongreß in Kalamazoo 1997. Gerstein, Mary R.: Germanic Warg: The Outlaw as Werwolf. In: Myth in Indo-European Antiquity. Hrsg. Gerald James Larson. Berkeley, CA 1974, S. 131 - 56. Orchard, Andy: Pride and Prodigies: Studies in the Monsters of the Beowulf-Manuscript. Cambridge 1995. Osborn, Marijane. Translations, Versions, Illustrations. In: A Beowulf Handbook. Hrsg. Robert E. Bjork, John D. Niles. Lincoln, Nebraska 1997, Kap. 17. Overing, Gillian; Osborn, Marijane: Landscape of Desire: Partial Stories of the Medieval Scandinavian World. Minneaplis, Minnesota 1994. Ryan, J.S.: Warg, Wearg, Earg, and Werewolf. In: Mallorn: Journal of the Tolkien Society 23 (1986), S. 25 - 29. Stitt, J. Michael: Beowulf and the Bear’s Son: Epic, Saga, and Fairytale in Northern Germanic Tradition. New York, NY 1992. Tolkien, J.R.R.: The Monsters and the Critics (Festschrift für Israel Gollancz). In: Proceedings of the British Academy 22 (1936), S. 2 - 53 (Nachdruck). Watkins, Calvert: How to Kill a Dragon: Aspects of Indo-European Poetics. Oxford 1995. Weitenberg, Jos: The Meaning of the Expression ›To Become a Wolf‹ in Hittite. In: Perspectives in Indo-European Language, Culture, and Religion: Studies in Honor of Edgar C. Polomé. Mc Lean, Virginia: Journal of European Studies Monographs (1991), S. 189 - 98. Mythos Drache Winder McConnell (Davis) Wenn einer zum Helden werden will, so muß die Schlange vorher zum Drachen geworden sein, sonst fehlt ihm sein rechter Feind. (Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches) Über den Begriff »Mythos« ist in den letzten 25 Jahren viel geschrieben worden. 1 Keine einzige Definition jedoch kann seiner breiten Bedeutungsskala wirklich gerecht werden. Im allgemeinen Sprachgebrauch findet der Begriff häufig Verwendung im Sinne von »Unwahrheit«, »unfundiertem Glauben«, gelegentlich aber auch »Lüge«, besonders im anglophonen Sprachraum. Dabei kann es sich um den »falschen« Glauben eines einzelnen Individuums oder auch einer Gruppe handeln. Während für viele Tiefenpsychologen und Religionswissenschaftler der Mythos lebensbejahend ist und tiefere Einsichten vermitteln kann, vermag er auf der anderen Seite jedoch auch den Blick auf historische Tatsachen zu verstellen: In der Einleitung zu seinem Buch 1 940. Myth and Reality schreibt Clive Ponting: »Yet the way in which Britain survived and the other stirring events of that year have become obscured by myth. […] The purpose of this book is to strip away the myth and examine the events of 1940 from a different perspective […]. After fifty years it is time to face up to reality.« 2 Spricht man ganz allgemein von »den alten Mythen«, wird im Abendland zumeist an die Göttergeschichten der alten Griechen gedacht. Im 20. Jahrhundert kann der Begriff auch schlicht »Glaube« bedeuten, er hebt dann die mystisch-spirituelle Dimension hervor. Dem nationalsozialistischen Parteiideologen Alfred Rosenberg war Der Mythus des 20. Jahrhunderts ein »Blutmythus«, dessen Grundlage in dem unerschütterlichen Glauben an Einheit, Kraft und künftiges Potential des deutschen Volkes lag, dessen Größter »den Grundstein legt zu dem, was noch nie war, was aber die Sehnsucht aller unserer Sucher beflügelt hat: ein deutsches Volk und eine echte deutsche Volkskultur. Und dies alles ist das wesentlich Neue, was den Mythus unseres Jahrhunderts ausmacht [...] Dieser alt-neue Mythus [...] sagt heute mit tausend Zungen [...] daß wir mit erhöhtem Bewußtsein und flutendem Willen zum erstenmal als ganzes Volk wir selbst werden wollen.« 3 1 Siehe z.B. Kirk, G. S.: Myth. Its Meaning and Functions in Ancient and Other Cultures. Berkeley 1975; Murray, Henry A. (Hrsg.): Myth and Mythmaking. Boston 1960; Sebeok, Thomas A. (Hrsg.): Myth. A Symposium. Bloomington, 1965. 2 Ponting, Clive: 1940. Myth and Reality. London 1990, S. 2 - 3. Der Mythos darf also das historische Ereignis nicht verfälschen. Zum Verhältnis Geschichte - Mythos ist eine Bemerkung Spenglers von großem Interesse: »Nach der Zerstörung Athens durch die Perser warf man alle Werke der älteren Kunst in den Schutt - aus dem wir sie heute wieder hervorziehen - und man hat nie gehört, daß jemand in Hellas sich um die Ruinen von Mykene oder Phaistos zum Zwecke der Ermittlung geschichtlicher Tatsachen gekümmert hätte. Man las seinen Homer, aber man dachte nicht daran, wie Schliemann den Hügel von Troja aufzugraben. Man wollte den Mythus, nicht die Geschichte.« (Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. 76. - 81. Auflage München 1950 [Bd. 1: Gestalt und Wirklichkeit], S. 18.) Hier ist der Begriff »Mythos/ Mythus« mit »Glaube« gleichzusetzen. 3 Rosenberg, Alfred: Der Mythus des 20. Jahrhunderts. 129. - 132. Aufl. München 1938, S. 685, 699. 172 Winder McConnell Dem Tiefenpsychologen C.G. Jung war das Leben »im Mythos« wesentlicher Bestandteil menschlicher Existenz. Im Vorwort zur vierten Auflage seines Werkes Symbole der Wandlung hat Jung behauptet: »Kaum hatte ich nämlich das Manuskript abgeschlossen, dämmerte es mir, was es heißt, mit einem Mythus oder ohne denselben zu leben. Der Mythus ist das, worüber ein Kirchenvater sagt: ›Quod ubique, quod semper, quod ab omnibus creditum est‹, also bildet der, welcher ohne Mythus oder außerhalb desselben zu leben glaubt, eine Ausnahme. Ja, er ist sogar ein Entwurzelter, welcher weder mit der Vergangenheit, dem Ahnenleben (das immer in ihm lebt), noch mit der gegenwärtigen menschlichen Gesellschaft in wahrhafter Verbindung steht.« 4 Der Mythos Drache spielt offenbar nicht allein in der Antike eine wichtige Rolle. Es handelt sich vielmehr um ein physisch-metaphysisches Phänomen, das in der Vergangenheit nicht nur bei Kindern, sondern auch bei Erwachsenen reale Gestalt gewonnen hat; bis heute glauben Kinder unvermindert an seine Existenz. Drachen haben einst »existiert«; sie existieren auch in unserer Zeit - als etwas Konkretes, sichtbar in der Vorstellungswelt der Kinder, schattenhaft, furchteinflößend, überwältigend-böse, also primär als etwas Negatives im Unterbewußtsein ihrer Eltern. Zentral scheint uns, ganz gleich, ob es sich um das Mittelalter oder die Gegenwart handelt, der Einfluß des Mythos auf die Glaubenswelt. Das ist auch der Kitt, der die verschiedensten Epochen und Kulturen miteinander verbindet, denn der Drache, ob als physische Realität oder metaphysische Vorstellung, war im Glauben der Menschen durch die Jahrhunderte hindurch stets präsent. In seinem Theaterstück An Ideal Husband läßt Oscar Wilde den Vicomte de Nanjac behaupten: »The English young lady is the dragon of good taste.« 5 Unwahrscheinlich, daß die Zuschauer bei der Premiere am 3. Januar 1895 im Theatre Royal, Haymarket die Metapher nicht verstanden hätten. Wie etwa der Drache im altenglischen Beowulf den Hort überwacht hatte, so fungiert nun die englische junge Dame als (nicht ungefährliche! ) Hüterin des guten Geschmacks. Also eine durchaus positive Vorstellung im sozialliterarischen Kontext jener Zeit. Aber eine Ausnahme, denn der Drache, zumindest in der abendländischen Tradition, gilt seit dem Mittelalter als Inbegriff des Chaos und des Zerstörungswillens, eine gewaltige Herausforderung an die Verfechter des »ordo«, ganz gleich, ob es sich dabei um den heldenhaften Siegfried/ Sigurd oder den legendären Sankt Georg handelt. Ob jenes Publikum vor hundert Jahren die vielleicht unbeabsichtigte Ironie des Vicomteschen Appellativs erkannt hat? Das Wort »Drache« (engl. dragon) leitet sich vom lateinischen »draco« 6 ab, Kluge übersetzt: »der scharf Blickende« 7 . Ältere Sprachformen sind das althochdeutsche 4 Jung, C[arl] G[ustav]: Vorrede zur vierten Auflage. In: Symbole der Wandlung. Analyse des Vorspiels zu einer Schizophrenie. Olten 1973 (C.G. Jung: Gesammelte Werke, Bd. 5), S. 11 - 15, hier S. 13. 5 Wilde, Oscar: An Ideal Husband. In: The Picture of Dorian Gray and Other Writings. Hrsg. Richard Ellmann. Toronto 1982, S. 309. 6 Siehe Hogarth, Peter; Clery, Val: Dragons. New York 1979, S. 98: »As it happened, in the latter days of the Roman Empire one of the common military standards was the draco, a representation of a winged dragon. It seems quite possible that this emblem, adopted by the Romans from the conquered peoples of the Empire’s eastern provinces, shaped the evolution of the dragon’s image in the west. Eventually the draco’s wings were to sprout on the dragons of the north.« 7 Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Hrsg. Walther Mitzka. 20. Aufl., Berlin 1967, S. 140. Mythos Drache 173 »trahho«, das mittelhochdeutsche »trache«, das altsächsische »draca« und das altnordische »dreki«. Die Formen »drac« und »draic« sind im Altirischen überliefert. Bemerkenswert ist, daß die Bezeichnung für ein Ungeheuer, das - wenigstens im Abendland - als Verkörperung von Zerstörung und Chaos betrachtet wird, ursprünglich mit scharfer oder durchdringender (Ein)Sicht assoziiert wurde; natürlich mag dabei auch eine bestimmte Nebenbedeutung eine Rolle gespielt haben, nämlich die Bedrohlichkeit des durch dringenden oder starren Blicks. Der Drache repräsentiert also eine gewisse Dichotomie: einerseits ist er zerstörerisch und ein Menschenfeind; andererseits haftet ihm etwas durchaus Positives an, er kann über die Gabe der Weisheit, der Voraussage oder der tiefen Einsicht verfügen. Wir können Peter Lum beipflichten, daß »[t]he dragon is pre-eminent among fabulous beasts. He possesses an elemental grandeur, a majesty and an awful power unique in animal mythology.« 8 Joëlle Fuhrmann unterstreicht jene Dichotomie: »Ainsi, l’image de cet animal énigmatique a, depuis les millénaires, fasciné et effrayé les hommes. Les uns voyaient en lui un monstre dévorant les êtres vivants, les autres le caractérisaient comme le symbole du changement et de la vie.« 9 Der Drache ist mit Sicherheit diejenige Gestalt der niederen Mythologie, deren Symbolgehalt sich am schwierigsten auf eine konsistente Weise definieren läßt: »On the symbolic side it has been interpreted as a monster of chaos, an emblem of feminine depravity, a synonym for the life-giving powers of water and earth, a dispenser of dangerous wisdom, a personification of the element Mercury, a martial ensign signifying bravery.« 10 Er symbolisierte also sowohl Gutes als auch Böses. Wie Francis Huxley meint, ist der Drache »the animating principle of every place - the genius loci of trees and rocks, of pools, rivers, mountains and sees, of bridges and buildings, of men and women and children« 11 . Man hat ihn unter anderem als das Große Wesen, die Große Mutter, den Uroboros (Schwanzfresser), die Weltschlange der nordischen Mythologie, als Monstrum »mirabile et audax« interpretiert. 12 Hier wird er weniger als ewiger Gegner des Menschen denn als weiser, scharfsichtiger Beobachter der Weltlage angesehen. In der abendländischen Tradition jedoch ist das Drachenbild, wenigstens seit dem Mittelalter, vorwiegend negativ geprägt. Eine der ältesten dieser negativen Manifestationen des Drachen im Westen findet man allerdings schon in der griechischen Geschichte von Cadmos, dessen Mannschaft von einem brunnenbewachenden Drachen hinge- 8 Lum, Peter: Fabulous Beasts. London [1952], S. 94. 9 Fuhrmann, Joëlle: Les Origines de la Représentation négative du Dragon au Moyen Age. In: Le Dragon dans la Culture Médievale. Hrsg. Danielle Buschinger, Wolfgang Spiewok. Greifswald 1994 (Wodan. Greifswalder Beiträge zum Mittelalter, Bd. 24), S. 37 [So hat das Bild dieses rätselhaften Tieres über Jahrhunderte hinweg die Menschen fasziniert und erschreckt. Die einen sahen in ihm ein Ungeheuer, das die lebenden Wesen verzehrte, die anderen bezeichneten ihn als ein Symbol der Verwandlung und des Lebens.] 10 Newman, Paul: The Hill of the Dragon. An Enquiry into the Nature of Dragon Legends. Totowa, New Jersey 1979, S. 253. 11 Huxley, Francis: The Dragon. Nature of Spirit, Spirit of Nature. New York 1979, S. 5 - 6. 12 Nicht berücksichtigt worden ist in diesem Beitrag der Drachen-Mythos in morgenländischen Kulturen. Der Hauptunterschied zwischen östlichen und abendländischen Vorstellungen wird sehr anschaulich von Huxley dargestellt: »Courtesies [...] have very generally been paid to dragons in the East, where they are seldom harried to death as in the West« (Huxley [Fn. 11], S. 30). 174 Winder McConnell schlachtet wird. Dieser Drache wird von Cadmos getötet, der sich dann selbst, wie seine Frau, in eine Schlange verwandelt, ehe sie sterben und zum »Ort der Gesegneten« gebracht werden. Von primitiven Zeiten bis zur Gegenwart hat der Drache die Mythologien der verschiedensten Völker durchdrungen. Oft mit dem Schlangenbild verbunden, ist der Drache in seiner negativen Gestalt der ewige Gegner und der Versucher des Menschen und die Inkarnation des Bösen in der Welt, des Teufels Geselle. Der Drache mag ein Opfer verlangen, eine Jungfrau, wie z.B. in der Geschichte des Heiligen Georg 13 ; des öfteren ist er auf das Verschlingen seiner menschlichen Gegner versessen. Der Ursprung dieses Drachenbildes ist vielleicht in Offenbarung 12,3ff. zu finden: »Und ein anderes Zeichen wurde im Himmel gesehen, und siehe! ein großer, feuerfarbener Drache mit sieben Köpfen und zehn Hörnern und auf seinen Köpfen sieben Diademe; und sein Schwanz zieht ein Drittel der Sterne des Himmels fort, und er schleuderte sie zur Erde hinab. Und der Drache blieb vor dem Weibe stehen, das im Begriff war zu gebären, damit er, wenn sie geboren hätte, ihr Kind verschlänge. Und sie gebar einen Sohn, einen Männlichen, der alle Nationen mit eisernem Stabe hüten soll. Und ihr Kind wurde entrückt zu Gott und zu seinem Thron. Und das Weib floh in die Wildnis, wo sie eine von Gott bereitete Stätte hat, damit man sie dort tausendzweihundertsechzig Tage ernähre. Und Krieg brach aus im Himmel: Michael und seine Engel kämpften mit dem Drachen, und der Drache und seine Engel kämpften, doch gewann er nicht die Oberhand, auch wurde für sie keine Stätte mehr im Himmel gefunden. Und hinabgeschleudert wurde der große Drache - die Urschlange -, der Teufel und Satan genannt wird, der die ganze bewohnte Erde irreführt; er wurde zur Erde hinabgeschleudert, und seine Engel wurden mit ihm hinabgeschleudert.« Teufel in Schlangen- oder Drachengestalt sind ein integraler Bestandteil vieler Schöpfungsmythen; im nordeuropäischen z.B. spielt der Drache Midgardsorm eine wesentliche Rolle. In der nordischen Mythologie ist das Ziel des Drachen Nidhoggr die Zerstörung von Yggdrasil, dem Weltbaum. Sein Zuhause hieß Niflheim, die Unterwelt. Das Ungeheuer erscheint in den unterschiedlichsten Manifestationen überall auf der Welt, sein Wesen ist überaus komplex und rätselhaft, gelegentlich haftet ihm geradezu etwas Göttliches an: »... [T]he dragon - like all other symbols of the instincts in the non-moral religions of antiquity - sometimes appears enthroned and all but deified, as, for example, in the standards and pennons pertaining to the Chinese Manchu dynasty and to the Phoenicians and Saxons.« 14 Die wissenschaftliche Literatur über den Drachen ist kaum überschaubar 15 . Einer Untersuchung des Phänomens bieten sich die verschiedensten Betrachtungsweisen an: Der Drache als »objektive Realität« in primitiven Kulturen, als Symbol, als Projektion, als Allegorie. Eine einzige Perspektive jedoch genügt nicht, der symbolischen Bedeutungsskala dieses Ungeheuers gerecht zu werden, da es all die oben genannten und noch mehr repräsentiert. Der Versuch, eine »drakonische« Typologie zu bestimmen, ist bis heute geschei- 13 Vgl. dazu: John L. Flood: Sankt Georg. In: Herrscher, Helden, Heilige. Mittelalter-Mythen, Bd. 1. Hrsg. Ulrich Müller und Werner Wunderlich. St. Gallen 1996, S. 589 - 605. 14 Cirlot, J. E.: A Dictionary of Symbols. Übersetzt aus dem Spanischen von Jack Sage. New York 21991, S. 86. 15 Siehe Evans, Jonathan D.: The Dragon. In: Smith, Malcolm (Hrsg.): Mythical and Fabulous Creatures. A Source Book and Research Guide. New York 1987, S. 27 - 58. Mythos Drache 175 tert. Joyce Ann Tally hat in ihrer Dissertation die Unmöglichkeit gezeigt, auch nur für die eines »pan-germanischen« Drachen eine überzeugende, konsistente Basis zu schaffen: 16 Ihre Untersuchung dreier mittelalterlicher Quellen: des Beowulfes, der Völsungasaga und des Nibelungenliedes, sowie auch der Gestalt Fafners aus dem Ring Richard Wagners, jenem Werk, dem man das Weiterleben der Nibelungentradition in weiten Kreisen sowohl innerhalb als auch außerhalb Deutschlands verdankt, betont die je besonderen Charakteristika des Drachen in den analysierten Werken. Tally, angeblich in Übereinstimmung mit J.R.R. Tolkien, betrachtet lediglich den Drachen des Beowulf und den Fáfnir der mittelalterlichen skandinavischen (und späteren Wagnerschen) Tradition als einer wissenschaftlichen Untersuchung würdig. Am wichtigsten in Tallys Dissertation ist ihre Beobachtung der Verbindung des Drachen mit dem Helden selbst, und zwar nicht einfach innerhalb des Rahmens einer Auseinandersetzung zwischen Ungeheuer und Held, sondern auch im Sinne einer Verwandlung des Helden in eben jenes Monstrum, das er vernichtet hat: »By bathing in the dragon’s blood, Sîvrit becomes the monster he has slain.« 17 Dabei handelt es sich um einen Verwandlungsprozeß, »Enantiodromia« genannt (Verwandlung eines Dinges in sein Gegenteil) 18 - einen Vorgang, der Tiefenpsychologen schon lange bekannt ist. Ihnen stellt der Drache die Schattenseite der menschlichen Psyche dar. Newman hat mit Recht vorgeschlagen, daß der »dragon must be comprehended as an infinitely complex monster, embodying the paradoxes, aspirations and disturbing psychological traits found in the human personality.« 19 Jolande Jacobi spricht von »außerordentlich vielfältigen Aspekten der Symbolik, in welcher Schlange und Drache in Erscheinung treten«. Sie stellen »im Material des Unbewußten eines der häufigsten und überall vorhandenen Sinnbilder dar«, deren »Bedeutung, je nach dem Zusammenhang, in dem sie erscheinen, zahllosen Variationen unterworfen« ist. 20 Die Allgegenwart des Drachen-Mythos im mittelalterlichen Europa weist auch die mediävistische Forschungsliteratur nach: Drachen findet man sowohl in der Heldendichtung, in den höfischen (Artus)Romanen, in den Heiligenlegenden, Enzyklopädien, Bestiaria, in der Reiseliteratur als auch in der bildenden Kunst (besonders in der allegorischen Kunst der Kirche), in Kirchenfenstern, in Altarstücken oder älteren Runenschnitzereien. Untersucht man die verschiedenen Manifestationen des Drachen in der mittelalterlichen deutschen Literatur, so ist zu fragen, inwieweit er sich in Art und Weise seiner Darstellung von seinen Gegenbildern bei anderen Völkern zu anderen Zeiten unterschei- 16 Tally, Joyce Ann: The Dragon’s Progress: The Significance of the Dragon in ›Beowulf,‹ the ›Volsunga Saga,‹ ›Das Nibelungenlied,‹ and ›Der Ring des Nibelungen‹. University of Denver 1983 (Diss.). Siehe auch: Joyce Tally Lionarons: The Medieval Dragon: The Nature of the Beast in Germanie Tradition. Entfieldhock 1997. 17 Tally (Fn. 16), S. 143. 18 Vgl. C.G. Jung (Fn. 4), S. 478. Weiter oben heißt es: »Der den Drachen bekämpfende Held hat vieles mit dem Drachen gemeinsam, respektive er übernimmt Eigentümlichkeiten von ihm, zum Beispiel die Unverwundbarkeit, die Schlangenaugen usw. Drache und Mensch können ein Brüderpaar sein, wie auch Christus sich selbst mit der Schlange identifiziert, welche - similia similibus - die Schlangennot in der Wüste bekämpft hat. (Johannes 3, 14)« ([Fn. 4], S. 468). 19 Newman (Fn. 10), S. 253. 20 Jacobi, Jolande: Komplex, Archetypus, Symbol in der Psychologie C.G. Jungs. Mit einem Vorwort von C.G. Jung [...]. Zürich 1957, S. 170. 176 Winder McConnell det: Gibt es etwas Besonderes am Drachenbild der mittelhochdeutschen literarischen Denkmäler? Oder sollte er hier, wie auch anderswo, als einer jener Elementargedanken aufgefaßt werden, von denen Adolf Bastian berichtet hat; sollte man ihn unter die Jungschen Archetypen einreihen, die die psychische Einheit der Menschheit widerspiegeln? In der Tat: Der Drache weist bei verschiedenen Völkern und Kulturen deutliche Ähnlichkeiten auf, was Newman auch unterstreicht. Er weist hin auf die »striking similarities of theme, incident and religious belief connected with the dragon in cultures which ostensibly have little bearing upon each other.« 21 Inwieweit mag der mittelalterliche Mensch, der freilich an die reale Existenz von Drachen und anderen Ungeheuern geglaubt hat, den Drachen auch als Metapher betrachtet haben, die mit Aspekten seines eigenen inneren Wesens identifizierbar war? Vor mehr als siebzig Jahren scheint Sir Grafton Elliot Smith implizit eine Antwort auf diese Frage gegeben zu haben: »An adequate account of the development of the dragon-legend would represent the history of the expression of mankind’s aspirations and fears during the past fifty centuries or more.« 22 Eine erschöpfende Behandlung der mittelalterlichen Drachen-Mythen würde Bände füllen. Hier soll der altnordische Fáfnir der Völsungasaga und sein Gegenbild im mittelhochdeutschen Nibelungenlied und in Wagners Ring im Mittelpunkt der Untersuchung stehen. Die Bedeutung Fáfnirs in mittelalterlichen literarischen Zeugnissen ragt über die traditionellen Topoi hinaus, in denen Drachen in literarischen Werken dieser Zeit dargestellt werden. 23 In der Völsungasaga wird der Drache im Prinzip noch als etwas Reales angesehen, das es zu besiegen gilt. Während dieses Motiv in anderen Werken nicht fehlt, scheint der dort jeweils vorhandene symbolische Verwandlungsprozeß noch wichtiger zu sein, der es dem Drachen ermöglicht, in menschlicher Gestalt weiterzuleben - allerdings mit recht verheerenden Folgen. In der Völsungasaga (zwischen 1200 und 1270 entstanden) erfährt Sigurd von seinem Pflegevater Regin, wo er sich einen gewaltigen Schatz aneignen kann. Als Regin erwähnt, daß dieser Hort von Fáfnir auf der Gnitaheide bewacht wird, antwortet Sigurd: »Kann ek kyn þessa orms, þótt vér sém ungir, ok hefi ek spurt, at engi þorir at koma á mót honum fyrir vaxtar sakir ok ilzku« [Obwohl ich jung bin, bin ich mir des Wesens dieses Wurms bewußt, und ich habe erfahren, daß niemand gegen ihn anzutreten wagt - wegen seiner Größe und seiner Grausamkeit.] 24 Fáfnir war einst ein Mensch, ein Sohn Hreidmars, Regin und Otr waren seine Brüder. Er selbst war aber »miklu mestr ok grimmastr ok vildi sitt eitt kalla láta alt þat, er var« [der Größte und Fürchterlichste und wollte alles sein eigenes nennen] (14: 24). Habgier veranlaßte Fáfnir, Vatermord zu begehen und mit dem Lösegeld zu entfliehen, das Loki für die nach dem Mord an Otr in Geiselhaft genommenen anderen Aesir, Odin und Hoenir, bezahlt hatte. Bei diesem Lösegeld handelte es sich allerdings um einen Schatz, der ur- 21 Newmann (Fn. 10), S. 2. 22 Smith, Grafton Elliot: The Evolution of the Dragon. Manchester 1922, zitiert bei Newman (Fn. 10), S. 1. 23 Evans faßt jene Erzählstrukturnarrative prägnant zusammen: »[...] the dragon guards something valuable; someone tries to take it; the dragon resists, and a battle ensues; the dragon is slain; the victor acquires the object sought« (Evans [Fn. 15], S. 29). 24 Die Volsungasaga. Nach Bugges Text mit Einleitung und Glossar. Hrsg. Wilhelm Ranisch. Berlin 2 1908. Zitate im Text sind dieser Ausgabe entnommen und werden mit Kapitelnummer und Seitenzahl angegeben; hier: 13: 23. Mythos Drache 177 sprünglich dem Zwerg Andravi gehört hatte. Dieser hatte, besiegt und gezwungen, sein letztes Stück Gold herzugeben, den Ring Andvaranaut, den Hort mit einem Fluch belegt. Fáfnir verwandelte sich daraufhin in eine Schlange und zog in die Wüste. Zu beachten ist, daß - im Vergleich zu einem Ungeheuer wie Grendel im Beowulf - Fáfnir anscheinend so gut wie gar nichts mehr mit der Welt zu tun hat, nachdem er sich auf die Gnitaheide zurückgezogen hat: »Hann gerþiz svá illr, at hann lagþiz út, ok unni ø ngum at njóta fjárins nema sér ok varþ síþan at inum versta ormi ok liggr nú á því fé« [Er wurde so unleidlich, daß er in die Wildnis ging und sonst niemanden den Schatz genießen ließ und seitdem ist er der übelste Wurm geworden und liegt auf dem Hort] (14: 25) erklärt Regin, aber es gibt keinen Hinweis darauf, daß Fáfnir irgendetwas anderes unternimmt, als durch seine bloße Anwesenheit auf der Gnitaheide alle die abzuschrecken, die auf den Gedanken kommen sollten, sich den Hort anzueignen. Der Drache hat natürlich als Vatermörder seine dunkle Vergangenheit, aber als abschreckendes Hindernis erfüllt er doch eine durchaus positive Funktion. Der Schatz ist verflucht, er repräsentiert zerstörerische, unbegrenzte Macht, Habgier und den Verlust jeglichen Maßes. So ist er machtvoll genug, die Harmonie, den »ordo« der Gesellschaft zu bedrohen, sogar zu zerstören. Paradoxerweise beschützt also der Drache die Gesellschaft, schützt den Menschen vor sich selbst. In der Wüste stellt weder er selbst noch der Hort, den er hütet, eine mittel- oder unmittelbare Gefahr für die Welt dar. Der Fluch wird in diesem Sinne neutralisiert. Im Vergleich zu Grendel im Beowulf, dem boshaft-aggressiven Drachen im Tristan oder dem die höfische »vröude« zerstörenden Greif der Kudrun, die alle die »höfische Welt« überfallen und Chaos unter den Menschen stiften, ist Fáfnir recht passiv. Er selbst und sein Reich sind die von außen, vom Menschenbereich eigentlich Bedrohten. Sehr ausführlich wird vom Tode Fáfnirs berichtet. 25 Das Ungeheuer ist weit und breit bekannt, denn Sigurd scheint schon vor seiner »Aufklärung« durch Regin von ihm gewußt zu haben. Getrieben vom Wunsch, sich den Schatz anzueignen, drängt Regin Sigurd, seinen Bruder Fáfnir zu töten, ohne zu ahnen, daß dies - mittelbar - auch zu seinem eigenen Ableben beitragen wird. Auffallend ist die eindimensionale Reaktion Sigurds auf die von Regin erzählte Geschichte. Fixiert auf die Aussicht auf eine heldenhafte Tat reflektiert Sigurd keinen Augenblick über die Bedeutung des Fluches. Er kommt auch nie darauf zurück, sondern widmet sich ganz der Zerstörung Fáfnirs. Zwar dient Sigurd anfänglich als Werkzeug des rachsüchtigen Regin, denn er ist selbst über die schlechte Behandlung des letzteren vonseiten seiner Verwandten empört. Erst als es Regin zweimal mißlingt, ein passendes (d. h. unzerbrechliches) Schwert für Sigurd zu schmieden, wird die wachsende Spannung zwischen ihnen deutlich. Verschwunden ist Sigurds Mitleid mit der Lage Regins schon längst, als er schließlich diesen zwingen muß, die Einzelteile seines Vaterschwertes Gram zusammenzuschweißen. Auch wenn die ursprüngliche Hauptmotivation Sigurds bei der Erschlagung Fáfnirs die Erfüllung seines Regin gegenüber geschworenen Eides bildet, ist seine Haltung in dieser Hinsicht nicht konsistent. Das Gespräch zwischen Sigurd und Fáfnir, das gleich nach der tödlichen Verwundung des Drachen stattfindet, verdient unsere Aufmerksamkeit. Sigurd bezeichnet sich 25 Siehe Byock, Jesse L. (Übers.): The Saga of the Volsungs: The Norse Epic of Sigurd the Dragon Slayer. Berkeley, CA 1990, Kap. 13 ff. Ursprünglich dürfte, wie Beowulf bezeugt, Siegmund (der Vater Sigurds) und nicht Sigurd der Besieger des Drachen gewesen sein. 178 Winder McConnell als das »gfugt dýr« [das vornehme Tier] (18: 29), ehe er seinen eigenen Namen und die Identität seines Vaters bekannt gibt. 26 Von Fáfnir erfährt Sigurd noch einmal das, was er schon von Regin über den Fluch mitgeteilt bekommen hatte. Dabei übernimmt der Drache die Rolle des Sehers, des Wahrsagers, sogar des (wenn auch nicht in Anspruch genommenen) Helfers. Er scheint Sigurd durchaus gutgesinnt zu sein: »Heiptyrþi tekr þú hvetvetna þat, er ek mli, en gull þetta mun þér at bana verþa, er ek hefi átt [...]. Fátt vill þú at mínum d ø mum gera, en drukna muntu, ef þú ferr um sjá úvarliga, ok bíþ heldr á landi, unz logn er« [Alles, was ich erzähle, faßt du böse auf, aber dieses Gold, das mir gehörte, wird dein Tod sein [...]. Du willst nicht auf meinen Rat hören, aber du wirst ertrinken, wenn du unvorsichtig auf dem Meer fährst. Bleib stattdessen auf dem Festland, bis es ruhig wird.] (18: 30) 27 Das sind nicht die zornigen (nicht einmal trotzigen) Worte eines sterbenden Gegners, sondern ist eher der wohlgemeinte Hinweis einer fast väterlichen Gestalt auf die Gefahr, die von der Beute ausgeht. Sigurds Antwort klingt recht lakonisch, fast floskelhaft: »Hverr vill fé hafa alt til ins eina dags, en eitt sinn skal hverr deyja« [Jeder will bis auf jenen Tag Eigentum haben, aber jeder muß irgendwann mal sterben] (18: 30). Als Sterbender hat Fáfnir nichts mehr zu verlieren. Sein Rat an Sigurd ist tatsächlich der Rat des alten Weisen; wir erkennen darin einen Rest jener ursprünglichen Bedeutung »des scharf Blickenden«, der sich durch seine Weisheit und sein Wissen von der mutigen, gleichzeitig aber auch arroganten Jugendgestalt Sigurds unterscheidet. Während die Völsungasaga noch die Drohung Fáfnirs enthält: »þat rþ êk þér, at þú takir hest þinn ok ríþir á brott sem skjótast, þvíat þat hendir opt, at sá, er banasár fr, hefnir sin sjálfr,« [Ich rate dir, daß du dein Pferd nimmst und wegreitest, so schnell du kannst, denn es kommt oft vor, daß derjenige, der tödlich verwundet wird, sich rächt] (18: 31), bleiben Fáfnirs Worte in der Edda frei davon: »Ich rate dir, Sigurd, den Rat nimm an und reit von hinnen heim: Das gleißende Gold und der glutrote Schatz - es bringt der Hort dich zur Hel! « (Genzmer 125-126) Die Rolle Fáfnirs in der Völsungasaga (und auch im Fáfnismál) hat eigentlich herzlich wenig mit dem von ihm selbst beschriebenen Terror zu tun, den er mit seinem »Schreckenshelm« unter abenteuersuchenden Helden ausgeübt haben soll, sondern vielmehr mit seiner Funktion als archetypischem Ratgeber, dessen Rat und Weisheit vom Helden wohl erkannt, aber nicht befolgt werden. Der sterbende Fáfnir ist mit der Wahrheit identifizierbar; sie wird von Sigurd zwar nicht verneint, ändert jedoch nichts an seinem vorgefaßten Entschluß, der vom Moment des Heroischen, nicht Weisen, bestimmt wird. Solange Fáfnir den Hort hütete, solange er von keinem Helden, der den Schatz begehrte, besiegt wurde, blieb der Fluch wirkungslos. Fáfnir hat eigentlich den Teufelskreis von 26 Vgl. auch das Fáfnismál der Edda, wo Fáfnir gleich wissen möchte, wessen Sippe Sigurd entstammte. Der Prosateil bietet eine Erklärung an, weswegen Sigurd nicht sofort die Wahrheit sagte: »Sigurd verbarg seinen Namen; denn das war der Glaube in alter Zeit, daß das Wort eines Sterbenden viel vermöchte, wenn er seinen Feind mit Namen verfluche«. Genzmer, Felix (Hrsg.): Edda. Bd. 1: Heldendichtung. Einleitungen und Anmerkungen von Andreas Heusler und Felix Genzmer. Revidiert und mit Nachwort versehen von Hans Kuhn. 4. Aufl., Darmstadt 1975 (Thule: Altnordische Dichtung und Prosa, Bd. 1), S. 121. 27 Deutlich und vielleicht noch eindrucksvoller sind die Worte Fáfnirs im Fáfnismál: »Feindlichen Sinn / findst du in allem; / doch Wahrheit nur weis ich dir« (Genzmer [Fn. 25], S. 123). Mythos Drache 179 Tragik und Zerstörung, den der Fluch förderte, gebrochen. Mit seinem Tod findet jener Fluch neues Leben. Das übliche Symbol des Chaos war in der Völsungasaga und im Fáfnismál zum Hüter des ordo geworden. Mit seinem Tode wurde das malum, die inordinatio wieder in die Welt gesetzt: der Träger des neuen Chaos ist Sigurd/ Siegfried. Fáfnir wird im mittelhochdeutschen Nibelungenlied niemals beim Namen genannt und ist längst tot, als dem burgundischen König Gunther die Geschichte von Siegfrieds jugendlichen Abenteuern von einem »wissenden« Hagen in der dritten Aventiure des Epos berichtet wird. Die Forschung hat sich relativ wenig für die vierzehn einschlägigen Strophen interessiert, galten sie doch nur als notwendig übernommenes Relikt aus der Nibelungenüberlieferung. Stellvertretend für diese Haltung ist der Kommentar der Herausgeber einer Standardausgabe des Nibelungenlieds zur Strophe 87ff.: »Siegfrieds ganze Jugendgeschichte wird nur hier in Hagens Bericht und nur soweit berührt, als sie zum Verständnis späterer Ereignisse (Hornhaut, Tarnkappe, Schatz) unentbehrlich ist. Das Märchenhaft-Wunderbare der Jung-Siegfried-Geschichten paßte nicht zu dem höfisch erzogenen Königssohn, den der Dichter vorbildhaft darstellen wollte.« 28 Obwohl der anonyme Dichter des Nibelungenliedes nicht lange bei den Einzelheiten des Aufenthalts seines Helden in der »anderen Welt« verweilte, galt die Treue zur Tradition mit Sicherheit nicht als einziger Grund, weswegen dieser relativ kurze Bericht der Nibelungenlandabenteuer in das Epos übernommen wurde: Zum einen findet sich hier ein Hinweis auf die enge, jedoch höchst problematische Beziehung Siegfrieds zur unhöfischen Sphäre; zum anderen wird die Neigung des Helden zu unvorsichtigem Handeln und Reden angedeutet, die die Stabilität der höfischen Gesellschaft bedroht. Die Beschreibung des Kampfes zwischen Siegfried und dem »lintdrachen« 29 beschränkt sich auf eine Strophe (100), die die drei entscheidenden Momente schildert: 1. Siegfried hat den Drachen getötet; 2. Siegfried hat im Drachenblut gebadet; 3. das Blut hat Siegfrieds Haut so zäh gemacht, daß sie von keiner Waffe verletzt werden kann. Dieselbe Information wird von Kriemhild in Strophe 899 kurz vor Siegfrieds Tod wiederholt; in Strophe 902 teilt sie Hagen mit, daß ein Lindenblatt zwischen den Schultern ihres Gatten eine verwundbare Stelle hinterlassen habe. Man tendiert dazu, die Bedeutung der Drachenepisode des Nibelungenliedes geringzuschätzen, sie diene nur dazu, Siegfrieds »Unverwundbarkeit« zu erklären, ansonsten wäre sie aber für die Handlung des Werkes von wenig Belang. Es ist durchaus richtig, daß der Dichter eher das menschliche als das mythologische Element in seinem Epos hervorgehoben hat; Betonung des einen bedeutet aber nicht notwendigerweise Verzicht auf das andere. Statt daß Siegfried vom Drachen verschlungen wird, findet eine symbolische Einbindung Siegfrieds - durch das Bad im Drachenblut - in die Welt des Mythos statt. Er verleibt sich seinerseits durch diesen Akt den Drachen ein, was als symbolische Teilhabe des Helden am Chaos (das er ja kurz danach in der höfischen Welt auslösen wird) ausgelegt werden kann. Ähnliches findet man in der nachnibelungischen Kudrun. Der entführte Prinz Hagen von Irland wird von einem gabilûn angegriffen, der ihn verschlingen will: 28 Aus dem Nibelungenlied wird zitiert nach der Ausgabe von Helmut de Boor (nach der Ausgabe von Karl Bartsch), 21. Aufl., revidiert von Roswitha Wisniewski, Deutsche Klassiker des Mittelalters. Wiesbaden 1979; hier: S. 20, Kommentar zur Strophe 87. 29 Nibelungenlied, 100,2a. Man merke, daß dieses Kompositum aus dem alten Wort »lint« = Schlange und drache zusammengesetzt wird. 180 Winder McConnell »Von sîner herberge gieng er in den walt. dâ sach er vil der tiere frevele unde balt. dar under was ir einez, daz wolde in verslinden. daz sluog er mit dem swerte; ez muoste sînes zornes harte enphinden.« 30 Hagen gelingt es, den gabilûn zu töten. Nachdem er ihn enthäutet hat, heißt es: »in luste sînes bluotes. dô er des vol getranc, / dô gewân er vil der krefte« (101,3 - 4a). Nach seiner Heimkehr und Krönung benimmt er sich so, daß ihm berechtigterweise die Bezeichnung »Vâlant aller künige« (168,2a) zuteil wird. Auch sein Wüten gegen die Freier seiner Tochter Hilde kann in der Gesellschaft nicht auf die Dauer geduldet werden. Im Gegensatz zu Siegfried wird er aber rechtzeitig zum »Maßhalten« gezwungen, bevor man ihn töten muß, weil seine Wut und sein »übermuot« chaotische Zustände herbeiführen. Als Siegfried hingegen versucht, sich wieder in die höfische Welt zu integrieren, tritt in seiner Gestalt das Drachenhaft-Chaotische in die geordnete Welt des Hofes ein, wo ihm natürlich Einhalt geboten werden muß. Siegfried repräsentiert nicht nur eine Gefahr für Worms, sondern für die gesamte höfische Welt. Das Chaotische des Helden manifestiert sich in seinem ungebändigten »übermuot«, worauf auch der spätere Klage-Dichter hinweist. 31 Siegfrieds Tod ist angesichts seiner Andersartigkeit und deren negativer Folgen unvermeidlich, wenn die höfische Gesellschaft weiterhin bestehen soll. Womit man allerdings nicht gerechnet hat, war die Verwandlung Kriemhilds in eine »vâlandinne«, die wie ein neuer Drache die Welt verwüstet und schließlich auch, nicht mehr als Mensch, sondern als Ungeheuer von Hildebrand in Stücke zerhauen wird. Fafner erscheint in Wagners Ring des Nibelungen als Riese (im Rheingold ), Bruder Fasolts, aber auch als Schlangenwurm (im Siegfried). Uns interessiert hier weniger seine Rolle als Mitentführer der Freia in R heingold als sein Gespräch mit Siegfried im Siegfried - Teil der Oper. Angelockt vom Pfeifen Siegfrieds erscheint Fafner »in der Gestalt eines ungeheuren eidechsenartigen Schlangenwurmes« 32 . Lachend begrüßt der Held die drachenähnliche Gestalt und, sobald er festgestellt hat, daß diese reden kann, fragt er: »wohl ließ’ sich von dir was lernen? « 33 , nämlich das Fürchten. Fafner beabsichtigt, Siegfried zu verzehren, wird aber im Kampfe gegen ihn tödlich verwundet. Es ist eigentlich ein Kampf zwischen einem Wissenden und einem sich selbst nicht kennenden Jungen: »Viel weiß ich noch nicht, / noch nicht auch, wer ich bin.« 34 Siegfried bekommt eine ähnliche Botschaft mitgeteilt wie Sigurd in der Völsungasaga , nämlich: das Gold sei verflucht, denn »des Hortes Herrn umringt Verrat [...] Merk’, wie’s endet; - acht’ auf mich! « 35 Siegfried erkennt durchaus die Weisheit und Erfahrenheit des Sterbenden, der aber stirbt, bevor er ihm mitteilen kann, woher er stammt. Zum Hüter des Hortes wird jetzt Siegfried, wie in der Völsungasaga u nd im N ibelungenlied , gleichzeitig aber auch zum Erben des Fluches; Siegfried ist der neue Drache, ist zum Symbol des Chaos geworden. 36 30 Kudrun. Hrsg. Karl Bartsch. Überarbeitet und neu eingeleitet von Karl Stackmann. 5. Aufl., Wiesbaden 1965 (Deutsche Klassiker des Mittelalters), Str. 100. 31 Diu Klage. Mit den Lesarten sämtlicher Handschriften. Hrsg. Karl Bartsch. Darmstadt 1964, V. 38 f.: »unt daz er selbe den tôt / gewan von sîner übermuot«. 32 Wagner, Richard: Werke in zwei Bänden. Hrsg. Peter A. Faessler. Bd. 2: Der Ring des Nibelungen; Zweiter Tag: Siegfried. Zürich 1966, S. 175. 33 Wagner (Fn. 32), S. 175. 34 Wagner (Fn. 32), S. 177. 35 Wagner (Fn. 32), S. 177. Mythos Drache 181 Das Motiv des Verschlingens, das auch auf den siegreichen Helden übertragen wird, bezieht sich vielleicht auf den alten Glauben an die Übertragbarkeit der Eigenschaften eines besiegten Feindes, die durch dessen Verzehr vom Sieger »assimiliert« werden können. Der Drache war wegen seiner Angriffslust, seiner Macht und seines Vermögens (als Hüter eines [Welt? ]-Hortes), aber auch wegen seiner chaotischen Natur berühmt-berüchtigt. Cirlot behauptet: »The dragon […] stands for ›things animal‹ par excellence.« 37 Das »Verschlingen« des Drachen durch den mittelalterlichen Helden stellt eine Assimilation dieser »things animal« dar, d.h. die Aneignung von Charakteristiken, die zu den Sitten und Gebräuchen der höfischen Gesellschaft im Widerspruch stehen. Die Begegnung des Helden mit dem Ungeheuer führt nicht unbedingt zu einer Rettung jener Gesellschaft vor zerstörerischen Kräften der »anderen Welt«, sondern kann leicht einen geistigen Verwandlungsprozeß herbeiführen, der einen neuen Drachen im Helden selbst erzeugt. Der Held wird zum Drachen in einer mittelalterlichen Reflexion dessen, was viel früher z. B. in der ägyptischen Mythologie stattgefunden hatte: »[A]s the gods developed and their natures became increasingly dualistic, they acquired some of the traits of the monsters they so assiduously dispatched. Hathor, for example, in the myth of ›the destruction of Mankind‹, to restore the health of Re, employs the destructive vehicle known as the ›Eye of Re‹ to slaughter rebellious mankind.« 38 Der altenglische Held Beowulf hat einen wirklichen Drachen erschlagen. In der nordischen Völsungasaga tötet Sigurd einen Mann (Fáfnir), der sich selbst in einen Drachen verwandelt hat. Im Nibelungenlied berichtet Hagen von Siegfrieds Sieg über einen Drachen im Nibelungenland, der niederländische Held eignet sich selbst Charakteristiken des erschlagenen Ungeheuers an. Tristans Drache ist auch ein wirklicher Drache, der allerdings in seiner Fähigkeit, Chaos in der höfischen Welt zu stiften, von Tristan mühelos übertroffen wird. In der Kudrun schließlich weist Hagen von Irland dem von ihm getöteten »gabilûn« nach seiner Heimkehr sehr ähnliche Eigenschaften auf, aber bei ihm wird der Transformationsprozeß nicht verabsolutiert. Gehört Fáfnir lediglich der mittelalterlichen Welt der Nibelungen bzw. der bunten Welt der Nibelungenüberlieferung an? Als Hüter eines verfluchten Schatzes oder als besiegter Gegner eines Helden, der trotzdem dem Sieger guten Rat und weise Worte - wie sie auch von Wagners Fafner gesprochen werden - anbietet, findet Fáfnir wenige, wenn überhaupt irgendwelche Gegenstücke in der Gegenwart. 39 Die durchaus magische Macht, die der Drache im mittelalterlichen Glauben einst besaß, hat er verloren. Im 20. Jahrhundert wirkt jenes Ungeheuer jedoch immer noch nach. Diese Nachwirkung läßt sich am besten aus der psychologischen Perspektive beschreiben: Die Metapher des Drachen wird in unserer Zeit verwendet, um alles zu bezeichnen, was als überwältigend, äußerst gefährlich oder bedrohend, zerstörerisch, chaosstiftend 36 Ähnliches könnte man von Tristan in Gottfrieds höfischem Epos behaupten. Nachdem er den irischen Drachen erschlagen hat, der ganz Irland bedroht und unzählige andere höfische Gegner ums Leben gebracht hatte, schneidet er ihm die Zunge aus, deren Gestank, als er sie zwischen Hemd und Brust legte - auch eine symbolische Assimilation! - dazu beiträgt, daß er in Ohnmacht fällt. Tristan wird durch seine Liebe zu Isolde auch zur Verkörperung des Chaotischen am Hofe Markes. 37 Cirlot (Fn. 14), S. 86. 38 Newman (Fn. 10), S. 20 . 182 Winder McConnell angesehen wird. Das Wort »Drache« findet sich heutzutage buchstäblich überall in unserer Sprache. Jonathan D. Evans meint: »[W]ith few exceptions, modern dragon lore offers no major departures from the medieval dragon tradition from which it borrows its most salient features.« 40 In seinem Werk Also sprach Zarathustra hat Nietzsche in der ersten Rede Zarathustras (»Von den drei Verwandlungen«) von dem »großen Drachen« gesprochen, der »Dusollst« heißt. 41 Der Drache bleibt häufige Metapher in der Literatur 42 . Von dem zeitgenössischen Literaturkritiker Harold Bloom wird die Drachengestalt beispielsweise verwendet, um auf die Bedrohung des abendländischen literarischen Kanons von seiten der Verfechter der »political correctness« hinzuweisen: »The dragon is out there, all right [...]. They’ve destroyed literary studies at all but four or five universities, reading Alice Walker instead of Spenser, Milton and Shakespeare.« 43 Es gibt kaum einen Bereich der modernen Welt, in dem die Drachenmetapher keine Verwendung findet, ob es sich dabei um die Umweltprobleme Hongkongs handelt 44 , oder die gigantische Landmasse Chinas (wozu sich ein unbegrenztes wirtschaftliches und militärisches Potential gesellt), 45 Medizin (die AIDS-Epidemie; es gibt sogar den »Malpractice«-Drachen in den USA) 46 , Psychologie (den Depressionsdrachen) 47 , sowie noch viel esoterischere Gegenstände wie den Versuch, Abfallprodukte in Energie zu verwandeln. 48 Der bekannte britische Golfplatz Royal St. George’s wurde - wegen der Schwierigkeiten, die er sogar dem professionellen Golfspieler bietet - als »Drache« bezeichnet. 49 Es gibt 39 Eine Ausnahme bildet der Drache (»Draco«) im Spielfilm Dragon Heart. Als letzter Drache befreundet er sich mit seinem einstigen Feind, einem drachentötenden Ritter, und leistet ihm Hilfe in Bedrängnis. Aber auch bei diesem vorwiegend positiven Bild eines lebensspendenden Drachen schimmert die dunkle Seite durch. Indem der von einer verzweifelten Mutter und König aufgesuchte und um Hilfe angeflehte Draco dem sterbenden Sohn derselben (und künftigen - freilich auch brutalen und ungerechten König) neues Leben einflößt, setzt er ein neues Unheil in die Welt, das erst druch das endgültige Verschwinden des Drachen selbst (d.h. des Ursprungs des Chaos) ausgelöscht werden kann. (Dragonheart, US 1996; Regie: Rob Cohen). 40 Evans (Fn. 13), S. 27. 41 Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Werke in zwei Bänden, Bd. 1. Hrsg. Ivo Frenzel auf Grund der dreibändigen Ausgabe von Karl Schlechta. München 1967, S. 559. 42 Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Beschreibung des »unmäßige[n] Papierkorb[s]« des Zeitungsredakteurs in Knut Hamsuns Roman Hunger (1890): » […] ein unmäßiger Papierkorb, der aussah, als könne er einem Mann mit Haut und Haar verschlingen. Mir wurde traurig zumute beim Anblick dieses ungeheuren Rachens, dieses Drachenmaules, das immer offen stand, immer bereit, neue abgelehnte Arbeiten - neue zerbrochene Hoffnungen aufzunehmen.« (Hamsun, Knut: Hunger. Romane Bd. 1. München 1974, S. 19 - 180, hier S. 99). 43 Zitiert nach Leo, John: How the West was lost at Yale. In: U.S. News & World Report (3. April 1993), S. 19. 44 Siehe Hills, Peter; Barron, William: Hongkong: Can the Dragon clean its Nest? In: Environment 32 / Nr. 8 (1990), S. 16. Und weiter zu Hongkong: Gaylord, Mark S. Galliher, John F.: Riding the Underground Dragon: Crime Control and Public Order on Hong Kong’s Mass Transit Railway. In: The British Journal of Criminology 31 / Nr. 1 (1991), S. 15-26. 45 Siehe: China: The Dragon Awakes. In: Chilton’s Food Engineering International 18 / Nr. 6 (1993), S. 65; Theroux, Paul: Going to see the Dragon. In: Harper’s 287 / Nr. 1721 (1993), S. 33; Godwin, Paul; Schulz, John J.: Arming the Dragon for the 21st Century: China’s Defense Modernization Program. In: Arms Control Today: A Publication of the Arms Control Association 23 / Nr. 10 (1993), S. 3. 46 Z.B. Wachter, R. M.: Dragon within the Gates: The Once and Future AIDS Epidemic. In: JAMA: The Journal of the American Medical Association 269 / Nr. 22 (1993): [Keine Seitenzahlen]; Griffin, Glen C.: Get Congress to Kill the Malpractice Dragon. In: Postgraduate Medicine 88 / Nr. 6 (1990), S. 13 - 18. Mythos Drache 183 auch immer noch die Bezeichnung »dragon lady« im Sinne einer starken und wachsamen Frau (wie einst Oscar Wildes »English young lady«). 50 Die früheren Vorstellungen vom bösen Drachen finden also in der Gegenwart ihre Gegenstücke in den mannigfaltigen Metaphern für überwältigende Gegenstände, Ereignisse, Prozesse, Länder, sogar anscheinend unheilbare Krankheiten und unlösbare Umweltprobleme, die die Menschheit plagen. Auch diese Drachen gilt es zu besiegen, wie einst Fáfnir, Beowulfs fürchterlichen Gegner, oder den angriffslustige Drachen, den Tristan erschlägt. Wenn auch die meisten zeitgenössischen Drachen-Metaphern auf dessen durchaus negative oder zumindest potentiell gefährliche Natur abzielen, unterstreichen die Hinweise auf berühmte «Dragon Ladies« die als sehr positiv aufzufassende Hüter-Funktion der Drachengestalt. Die Kontinuität der Ambivalenz des Mythos Drache bleibt also erhalten, bis heute vermag er sowohl Schrecken zu verbreiten als auch den Menschen zu imponieren. Die alten Drachenbilder faszinieren weiterhin Schriftsteller, Erzähler und Poeten: So erinnert der feuerspeiende Smaug in J. R. Tolkiens Lord of the Rings an viele Vorläufer in der germanischen und keltischen Mythologie; und der Midgard-Schlangen-Drache der nordischen Mythologie bildet die dritte »Zeichnung« der »Three Drawings« (betitelt: A Haul) des irischen Nobelpreisträgers Seamus Heaney: »The one that got away from Thor and the giant Hymir was the world-serpent itself. The god had baited his line with an ox-head, spun it high and plunged it into the depths. But the big haul came to an end when Thor’s foot went through the boards and Hymir panicked and cut the line with a bait-knife. Then roll-over, turmoil, whiplash! A Milky Way in the water. The hole he smashed in the boat opened, the way Thor’s head opened out there on the sea. He felt at one with space, unroofed and obvious - surprised in his empty arms like some fabulous high-catcher coming down without the ball.« 51 Als Elementargedanke ist der Drache wahrscheinlich so alt wie die Menschheit selbst. Angesichts seiner ungebrochenen Präsenz in Volksglauben, Mythologie, Literatur und Kunst und vor allem im Bereich der Metapher bis in unsere Zeit scheint sein Platz in der Vorstellung der Menschen auch darüberhinaus, bis ins kommende Jahrtausend, gewährleistet zu sein. 47 Siehe Ulanov, Ann u. Barry: Transforming Sexuality. The Archetypal World of Anima and Animus. Boston 1994, S. 6: »A woman scientist has worked hard on a difficult experiment, feeling she has worked ›like a man.‹ Then she looks to her close male friend to ›reward‹ her. He misses her signal. She falls into bad moods and wants him to get her out of them, to slay the dragon of her depression and rescue her from her isolated castle.« 48 Siehe: Slay the WTE plant dragon: Boiler tube wastage. In: Power 136 / No. 10 (October 1992), S. 42; Sludge Buster slays can plant’s dragon of waste. In: Modern Metals 47 / No. 7 (1991), 66N- 66Q. 49 Doust, Dudley: The Dragon. In: Golf Magazine 35 / Nr. 7 (1993), S. 36. 50 Siehe Benze, James G.: Nancy Reagan: China Doll or Dragon lady? In: Presidential Studies Quarterly 20 (1990) Nr. 4, S. 777; The dragon lady’s revenge. Prosecutor Cathy Palmer’s war against heroin lords. In: U.S. News and World Report 109 (2. Juli 1990) Nr. 1, S. 23 - 27. Siehe auch die Besprechung Roger Kimballs von Sex, Art, and American Culture der amerikanischen Professorin und Essayistin Camille Paglia: »Dragon Lady of Academe« (in: Wall Street Journal [17. September 1992]). Obwohl die Gegner der zwar kontrovers diskutierten, zweifellos aber brillianten Camille Paglia sie wohl am liebsten als feuerspeienden Drachen bezeichnen möchten, halten doch viele diese »Dragon Lady of Academe« keineswegs für ein zerstörerisches, chaosstiftendes Ungeheuer, sondern eher für eine erfolgreiche und glaubwürdige Hüterin akademischer Maßstäbe und Integrität in einer armseligen Zeit. 51 Heaney, Seamus: Seeing Things. New York 1993, S. 14. Dracula - Der Herrscher der Finsternis Vom mittelalterlichen Mythos zum modernen Zelluloid-Nervenkitzel Klaus M. Schmidt (Bowling Green) Es ist erstaunlich, daß bei Anbruch des modernen Zeitalters, um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, nachdem die letzte Feuerwalze des Hexenwahns Europa und zum Teil auch die neue Welt überrollt hatte, und als sich die Regierungen daran machten, die tödlichen Scheiterhaufen ein für alle Mal zu ersticken, ein neues, uraltes Monster sein Haupt aus dem Grab reckte, der menschliche Vampir, der Nosferatu, der Untote. 1 Nachdem dieses Monster sich zunächst an den verletzlichen Geistern einer naiven Landbevölkerung gelabt hatte, drang es bald auch in die intellektuellen literarischen Zirkel des westlichen Europas ein. Dennoch sollte es noch fast ein Jahrhundert dauern bis das literarische Musterexemplar eines solchen Monsters, Graf Dracula, durch den irischen Schauer-Romancier Bram Stoker geboren war. Stoker hatte sich den Namen seines Anti-Helden von dem sinistren historischen Herrscher der Wallachei, Dracula, Vlad Tepes (dem Aufspießer, 143 - 1476), entlehnt. Als er um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert seinen Dracula schuf, waren die Scheiterhaufen der hysterischen Hexenjagden längst erloschen, und die grausigen Exorzismen mit zugespitzten Holzpflöcken und Äxten auf entlegenen Landfriedhöfen hatten aufgehört, Teil des täglichen Lebens zu sein. Dennoch hat die Faszination von Dracula die Unterhaltungsindustrie unseres Jahrhunderts zu unglaublichen Höhenflügen gepeitscht. Bislang wurden weit mehr als 650 Vampirfilme und unzählige Vampirromane und -kurzgeschichten produziert. Vampire erscheinen als Comic-Heftserien, auf Schachteln für Frühstücksflocken und auf den Regalen der Spielzeugläden, und sie sind zu einem der beliebtesten Karnevals-, Mardi-Gras-, Halloween- und Maskenballkostüme geworden. Überall auf der Welt hat man Vampirgesellschaften gegründet, und schließlich umspannt schon seit 1 Siehe Klaniczay, Gábor: The Uses of Supernatural Power. The Transformation of Popular Religion in Medieval and Early-Modern Europe. Übers. Susan Singerman. Hrsg. Karen Margolis. Princeton, N.J. 990, Kap. 10, S. 168 - 88. Fürst Dracula, eigentlich Fürst Vlad III. 186 Klaus M. Schmidt Jahren ein internationales Vampir-Computernetz die Kontinente Amerika, Europa und Australien. Es versorgt seine Mitglieder mit Nachrichten über die neuesten Trends auf dem Gebiet der vampirischen Unterhaltung und Praktiken. Daneben bietet das Vampirnetz auch ein »schwarzes« Brett, auf dem lebhafte Diskussionen über ernsthafte und weniger ernstgemeinte Theorien zum Vampirismus und seinen Ursprüngen ausgetragen werden. Ebenso erscheinen Vampirromane in Fortsetzungsfolge, Kurzgeschichten, Vampirgedichte und -songs regelmäßig auf den Seiten dieser elektronischen Zeitschrift. Schließlich hat das WorldWideWeb dem Vampir einen Nährboden beschieden, der die rattenverseuchte Friedhofserde eines Dracula als kümmerliches Medium zur Ausbreitung seines Erbes erscheinen läßt. Der elektronische Biß verbreitet den Spaß am Vampirismus in atemberaubender Geschwindigkeit um den Globus. Eine schnelle und oberflächliche Suche ergab in wenigen Minuten mehr als 250 vampirische »Home Pages«. Da gibt es zum Beispiel eine »Transylvanian Society of Dracula (TSD)« die ein Internet Vampire Tribune Quarterly (IVTQ) herausgibt, man findet dort draußen Vampir-Nachtklubs, Adressen wie »The Vampire Garden«, »Vampires’ Universe«, »The Vampire’s Lair« (Die Höhle des Vampirs), »Vamp’s Parlor« (Vamps Salon), »Vampire’s Mud« (Der Schlamm des Vampirs), »Vampire’s Mall«, »Real Vampires«, »You Might Be A Vampire if ...« und so weiter. Dieser Aufsatz verdankt einige wichtige Informationen zu Neuerscheinungen und bestimmte Einsichten in kulturelle und psychologische Verhaltensmuster unserer modernen Gesellschaft dem Vampirnetz. Woher kommt unsere Faszination für Dracula, den Herrscher der Finsternis, dem untoten Aufhocker, Blutsauger und wahnwitzigen Töter? Befinden wir uns auf dem Wege der Regression vom aufgeklärten ins sogenannte finstere Zeitalter? Wenn nicht, was sind dann die Unterschiede zwischen den mittelalterlichen und unseren modernen Mythen, die Unterschiede zwischen echtem Aberglauben und einer Gänsehaut-Unterhaltung? Inwieweit spiegelt dieses Vampir-Genre die kuturellen, gesellschaftlichen und politischen Werte unserer Zeit wider, oder gibt es gemäß der wahren vampirischen Tradition überhaupt kein Spiegelbild, da wir es mit etwas Urzeitlichem, Vorkulturellem zu tun haben, das sich niemals endgültig auslöschen läßt? Die Masse der kritischen Literatur, die sich mit Vampiren beschäftigt, ist fast so überwältigend wie die Verbreitung vampirischen Materials in den modernen Medien. Indem ich einige der wichtigsten Erkenntnisse aus der neueren kritischen Literatur zusammenfasse, versuche ich in diesem Aufsatz durch Verschiebungen des Blickwinkels zu einigen neuen Ansätzen zu gelangen. Bram Stokers Roman Dracula von 1897, ist eine so gelungene Mischung aus uralten, archetypischen Mythen mit modernen Angstträumen und gesellschaftlicher Bewußtseins-problematik, daß man ihn, gemessen an seiner Rezeptionswirkung, in eine Reihe mit Homer, Dante und Shakespeare stellen könnte. Clive Leatherdale argumentiert, Stoker zu übersehen sei »akin from discarding Plato from Western philosophy, for Dracula is almost the Gothic novel par excellence, and has given rise to arguably the most potent literary myth of the twentieth century.« 2 Stokers Geheimformel liegt in der Tatsache, daß der Dracula-Mythos fast alle wichtigen Tabus berührt, die auch in unserer modernen Gesellschaft noch wirksam sind und die 2 Leatherdale, Clive: Dracula. The Novel and The Legend. A Study of Bram Stoker’s Gothic Masterpiece. Wellingborough, Northamptonshire 1985, S. 11. Dracula - Der Herrscher der Finsternis 187 sich in ihrer wesentlichen Substanz nicht verändert haben. Sie umkreisen Tod und Krankheit, Sexualität und Körperflüssigkeiten, des Menschen Hang zum Bösen und die Religion. Darüber hinaus umfängt der Dracula-Mythos auch noch die zeitgenössischen Sozialtabus von Politik und Klassenkampf. Einige dieser Tabus sind noch viel intensiver in der amerikanischen Gesellschaft wirksam, die den Puritanismus deutsch-schweizerischer Herkunft stärker bewahrte als das früh im staatlichen Religionsdiktat versunkene Europa. Dies mag mit ein Grund für die stärkere Verbreitung des Dracula-Mythos in den USA sein, wo es bei gesellschaftlichen Zusammenkünften noch immer zum guten Ton der bürgerlichen Gesellschaft gehört, die Themen Politik, Sex und Religion zu meiden wie die Pest. Der Dracula-Mythos besteht aus zwei Grundkomponenten: 1. Dem Vampir, einem archetypischen Mythos; 2. Dracula, dem grausamen spätmittelalterlichen Herrscher, der zu einer wichtigen Figur des volksmythologischen Untergrundes wurde. Der Vampir Die Geschichte des Vampirs reicht weit zurück in die Nebel der Frühgeschichte, vielleicht sogar der prähistorischen Vergangenheit. Der Vampir durchstreift die meisten größeren Kulturkreise inklusive Asiens und der beiden Amerikas und qualifiziert sich somit eindeutig als Archetypus. Der Mythos läßt sich in die Komponenten Untote oder lebende Leichname und Blutsauger unterteilen. Beide Vorstellungen sind fest mit dem Begriff Blut verbunden, das schon seit Urzeiten als wichtigste Lebensessenz galt, deren Ausrinnen zum Tode führt. Deshalb spielt Blut auch die wichtigste Rolle beim Versuch der Toten, ins Leben zurückzukehren oder sich in einem Durchgangsstadium zwischen Leben und Tod zu erhalten. Wenn wir heute der allgemein verbreiteten Theorie folgen, daß Mythen aus dem Bestreben entstehen, das Irrationale und Unerklärbare zu bewältigen, müssen wir uns auch eingestehen, daß Leben und Tod noch immer gewisse Mysterien darstellen, die trotz aller wissenschaftlichen Erkenntnisse und allen technologischen Fortschritts noch nicht ausreichend erklärt sind. Noch finden wilde Auseinandersetzungen bis hin zu Straßenschlachten statt, bei denen es einzig und allein darum geht, Leben (in bezug auf Abtreibung) oder Tod (in bezug auf Euthanasie, Sterbehilfe, Organtransplantation) zu definieren, Auseinandersetzungen, die bisweilen an die Massenhysterie der Hexenverfolgungen erinnern. Zu Stokers Zeiten (1885) bestätigt eine britische medizinische Zeitschrift, »it is true that hardly any one sign of death, short of putrefaction, can be relied upon as infallible.« 3 Wenn sich in der Folge häufigen Begrabens komatoser Menschen, besonders während Pest- und Pockenepidemien die Opfer in Leichentücher gehüllt aus ihren hastig zugescharrten Gräbern erhoben, oder wenn bestimmte chemisch - physikalische Bedingungen den normalen Verwesungsprozeß verhinderten, so kann man sich leicht vorstellen, daß solche Ereignisse den Glauben an übernatürliche Erscheinungen von Untoten seit der antiken über die mittelalterliche Welt bis in unsere moderne Gesellschaft hinein ge- 3 Zitiert nach Leatherdale (Fn. 2), S. 40. 188 Klaus M. Schmidt nährt haben. Auch der nächtliche zerstörerische Friedhofbesuch der Neonazis hat eher mit Exorzismus und Tabuberührung als mit politischem Volkssport zu tun. Ähnliche Assoziationen mit dem Übernatürlichen ergeben sich bei der Begegnung mit den Symptomen gewisser Krankheiten wie Porphyrie oder bösartiger Anämie, die oft bei den Opfern einen Blutdurst auslösen oder mit dem Symptom des Blutspuckens bei Tuberkulose, oder den Krämpfen und Zuckungen, die zusammen mit extremem Flüssigkeitsverlangen durch Tollwut ausgelöst werden. All dies hat über die Jahrtausende eine universelle Grundströmung volkstümlichen Aberglaubens geschaffen, die sich auch bei den Durchschnittsbürgern moderner Gesellschaften nur unter einer dünnen Decke von Pseudowissenschaftlichkeit verbirgt. Ebenso universell ist die Assoziation von Finsternis mit dem Phänomen der Untoten. Daß der Tod in enger Verbindung mit dem Bösen steht, ist vor allem ein judäo-christliches Phänomen, das seine besondere Verbreitung in der westlichen Kultur gefunden hat. Das Mittelalter hat zur Entwicklung des Mythos vom vampirischen Untoten dessen Einbettung in die gesellschaftlichen Mechanismen der christlichen Kirche beigetragen. Die frühesten Vampirgeschichten aus dem christlichen Mittelalter gehen auf das 12. Jahrhundert zurück. Sie erscheinen in William Newburghs Historia Rerum Anglicarum (einer Geschichte Englands für die Jahre 1066 bis 1198). Eine dieser Geschichten soll hier zur Verdeutlichung der historischen Lage des Vampirmythos zitiert werden: »Ein Mann, der ein lasterhaftes und unehrliches Leben führte, starb, ohne die letzte Beichte abgelegt zu haben, nachdem er seine Frau mit einem kräftigen Jüngling im Bett erwischt hatte. Durch die Macht des Satans entstieg darauf der Tote immer wieder in den finsteren Stunden seinem Grab und versetzte die Einwohner der Gegend in Angst und Schrecken. Bald wurde die Luft faul und verdorben, wenn dieser stinkende und verweste Leichnam herumwanderte, und eine schreckliche Pest brach aus, die die örtliche Bevölkerung dezimierte. Während sich der Priester der Gemeinde und einige weise und fromme Männer mit anderen führenden Bürgern traf, rückten zwei jüngere Brüder, deren Vater an der Pest gestorben war, aus, um dessen Tod zu rächen. Wahnsinnig vor Kummer und Zorn gruben sie den Körper des Vampirs aus der Erde und durchstachen ihn mit einem scharfen Spaten. Ein Strom warmen, roten Blutes aus der Wunde war der Beweis, daß sich das Monster am Blut vieler armer Leute fettgemästet hatte. Die beiden Brüder schleppten den Körper hinaus vor die Ortschaft, und verbrannten ihn auf einem großen Scheiterhaufen, während der Gemeindepfarrer und die führenden Männer des Kreises zusahen. Kaum war das infernalische Monster auf diese Weise vernichtet, so verschwand die Pest, die so schmerzlich unter den Leuten gewütet hatte, zur Gänze, als sei die verpestete Luft durch das Feuer, das die Höllenbrut vernichtete, welche die ganze Atmosphäre vergiftet hatte, gereinigt worden.« 4 Diese Geschichte ist nicht nur typisch für die zahllosen Versionen, die im Volksglauben der damaligen Zeit verbreitet gewesen sein mußten, sondern sie zeigt gleichzeitig die deutliche Vereinnahmung des Mythos durch die Kirche und ihre besonderen Zwecke. Sie verbindet nämlich den »Nosferatu« mit gesellschaftlich unakzeptablem Verhalten und erklärt die Pestepidemie als dessen Folge. Dazu werden satanische Elemente hereingebracht, und die Kirche etabliert sich schließlich durch ihren Vetreter, den Dorfpriester, als führende Autorität bei der Jagd nach dem Vampir und der Vertreibung des Bösen. So sollte die allgemeine Bevölkerung durch Furcht hilflos an die Allmacht der Kirche gekettet werden. Zusätzlich erkennen wir an dieser Geschichte, daß die Austreibung des Bösen durch Verbrennen auf dem Scheiterhaufen keine Erfindung der Hexenjagdpogrome des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts gewesen ist. Dracula - Der Herrscher der Finsternis 189 Im Hochmittelalter wurde der uralte Mythos des Vampirs nicht nur von christlichkirchlichem Ideengut durch die beiden Grundkonzeptionen, der Glaube an ein Leben nach dem Tode und die magische Kraft von Blut erfüllt, sondern er ganz deutlich sexuelle Untertöne. Der Vampirglaube war eng mit den Vorstellungen eines »succubus«, der satanischen Verführerin junger Männer, die diesen während des Beischlafs die Lebenssäfte, den Samen, aussaugt, um danach als »incubus« in männlicher Gestalt Hexen zu schwängern. Sprenger und Kramer stellen im Hexenhammer ebenfalls die Verbindung zu Krankheit und Blut her, indem sie in bezug auf die sexuelle Vereinigung mit einem »succubus« oder »incubus« von einer »pestbringenden Gemeinschaft« 5 sprechen. Dazuhin definieren sie den Teufel mit einer eigenartigen vom Vampirglauben geprägten Etymologie: »Es ist nämlich der Brauch der Schrift und der Rede, jeden beliebigen unsauberen Geist Diabolus zu nennen, von Dia, d.h. duo (zwei) und bolus , d.h. morsellus (Biß, Tod), weil er zweierlei tötet, nämlich Leib und Seele. [...] Man nennt ihn auch Daemon, d.h. nach Blut riechend oder blutig, nach Sünden nämlich, nach denen er dürstet und die er begehen läßt [...]«. 6 Das allmähliche Hochschaukeln des Kreuzzuges der Kirche gegen die Hexen ließ für einige Zeit den Vampirglauben verblassen, oder er ging überhaupt auf in der Hexenjagdhysterie, die durch das Übergreifen der Pest auf Westeuropa besonders angeheizt wurde. Diese Entwicklung, die mit dem Ende des vierzehnten Jahhunderts einsetzte, hatte ihren Höhepunkt im ausgehenden sechzehnten Jahrhundert erreicht. Der Vampirkult hielt sich dagegen in Südosteuropa durchgehend am Leben, besonders in einer Region, wo der Kampf um die Vormacht zwischen der orthodoxen und der katholischen Kirche bizarre Erscheinungen hervorrief. Entlang der Demarkationslinien zwischen den Einflußbereichen der beiden Kirchenkolosse setzten diese den alten Vampirmythos gegen die jeweiligen Anhänger des »falschen« Glaubens als Terrorinstrument ein. 7 Transsylvanien und die Wallachei liegen genau auf dieser Verschiebungslinie. Wie bereits erwähnt, erfolgte die letzte Welle des Vampirglaubens gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts in den östlichen Regionen des habsburgischen Reiches. Maria Theresia war zuvor erfolgreich gegen die Hexenverfolgungen vorgegangen. Vielleicht als Ersatz für die Hexenjagd schnellten dann die Vorfälle von Vampirexorzismen urplötzlich in die Höhe. Die Berichte aus dem 4 [»A man given to a ›depraved and dishonest life‹ died without making his final confession, after having caught his wife in bed with a ›lusty youth‹. ›By the power of Satan in the dark hours‹, the dead man ›was wont to come forth from his tomb‹, terrifying all the inhabitants of the district. Soon ›the air became foul and tainted as this fetid and corrupted body wandered abroad‹, and a terrible plague broke out, decimating the local population. While the parish priest met with ›a number of wise and devout men‹ together with other ›leading citizens‹, two younger brothers whose father had died of the plague set out to avenge his death. ›Mad with grief and anger‹, they dug up the vampire's corpse and struck it with a sharpened spade. ›A stream of warm red gore‹ from the wound proved that the monster had ›battened in the blood of many poor folk‹. The brothers dragged the corpse outside of the town and burned it in a large pyre while the parish priest ›and the chief men of the district‹ watched. ›No sooner had that infernal monster been thus destroyed than the plague, which had so sorely ravaged the people, entirely ceased, just as if the polluted air was cleansed by the fire which burned up the hellish brute who had infected the whole atmosphere.‹«] (Summers, Montague: The Vampire in Europe. New Hyde Park, N.Y. 1961 [1. Aufl. 1929], S. 85 - 88; zitiert nach Waller, Gregory A.: The Living and The Undead. From Stoker’s ›Dracula‹ to Romero’s ›Dawn of the Dead‹. Urbana; Chicago 1986, S. 13). 5 Sprenger, Jacob; Institoris, Heinrich: Malleus Maleficarum. Der Hexenhammer. Ins Deutsche übertragen und eingeleitet von J.W.R. Schmidt. 3 Teile. Berlin 2 1920, 2, S. 61. 6 Sprenger/ Institoris (Fn. 5), 1, S. 62. 7 Vergl. Ronay, Gabriel: The Truth about Dracula. New York 1972. 190 Klaus M. Schmidt achtzehnten Jahrhundert über die Vampirerscheinungen und deren Bekämpfung unterschieden sich nicht wesentlich von denen aus dem Hohen Mittelalter. 8 Dieser Zustand hielt bis zum Ende des Jahrhunderts an, als dann die ersten literarischen Vampirwerke erschienen. Goethes vampyrische Ballade, wie er sie selbst genannt hat, 9 Die Braut von Korinth (1797) war eines der ersten Gewächse dieses Genres. Ein schöner Jüngling fällt der Verführung durch die untote Schwester seiner Braut zum Opfer, der er ursprünglich durch die Eltern versprochen worden war. Nachdem die Mutter die Liebesvereinigung eines Lebenden mit einer Untoten unterbricht, enthüllt die Vampirfrau ihr letztes Geheimnis: »Aus dem Grabe werd ich ausgetrieben, Noch zu suchen das vermißte Gut, Noch den schon verlornen Mann zu lieben Und zu saugen seines Herzens Blut. Ist’s um den geschehn, Muß nach andern gehn, Und das junge Volk erliegt der Wut.« 10 Während Goethe die unappetitlichen Vorgänge des Blutsaugens noch dezent hinter zweideutiger Liebesmetaphorik verbirgt 11 , geht Polidori’s The Vampyre (1819) ganz ins blutige Detail. Seine Erzählung basiert auf einem Entwurf von Lord Byron 12 , der während der berühmten Zusammenkunft in der Schauervilla am Genfer See (1816) entstand. Daran nahmen neben Lord Byron und Mary Shelley Percy Bysshe Shelley, Marys Stiefschwester Claire und der Arzt Dr. John Polidori teil. Lang anhaltender Regen hatte sie zu einem Schreibwettbewerb getrieben, aus dem schließlich die erste Vampirgeschichte und Mary Shelleys Roman Frankenstein (1818) hervorgingen. Während sich der Vampir in der bürgerlichen Literatur immer mehr verfeinerte, blieb der gewöhnliche Vampir des europäischen Volksaberglaubens eine ziemlich ekelhafte und grauenerregende Gestalt. Das neunzehnte Jahrhundert fügte dem Vampirismus noch einige pseudo-wissenschaftliche Elemente hinzu in Form der Elektrizität als lebensbestimmender Kraft und des Mesmerismus oder der Hypnose, durch die der Vampir vor dem Biß seine Opfer in Trance versetzen konnte. Weibliche Medien, so wurde damals be- 8 Vergl. Klaniczay (Fn. 1). 9 Tagebucheintrag, Jena, 4. Juni 1797. In: Steiger, Robert: Goethes Leben von Tag zu Tag. Zürich; München 1984, 3, S. 587 f. 10 von Goethe, Johann Wolfgang: Gedichte und Epen. Hamburger Ausgabe. 11. überarb. Aufl. Hamburg 1978, 1, S. 268 - 73. 11 Siehe Schemme, Wolfgang: Goethe: Die Braut von Korinth: Von der literarischen Dignität des Vampirs. In: Wirkendes Wort 36 (1986), S. 335 - 346. 12 Die Erzählung wurde auch unter Byrons Namen veröffentlicht. Dieser distanzierte sich aber deutlich davon: »Damn ›the Vampire‹. What do I know of Vampires? It must be some bookselling imposture; contradict it in a solemn paragraph.« (Brief an den Hon. Douglas Kinnaird, Venedig, 24. April 1819). - »I’ve got your extract, and the Vampire. I need not say it is not mine. There is a rule to go by: you are my publisher (till we quarrel), and what is not published by you is not written by me.« (Brief an John Murray, Venedig , 15. Mai 1919). Byron bekennt sich aber klar zu einem Entwurf zum Vampire: »I sent you, before leaving Venice, a letter containing the real original sketch which gave rise to the Vampire, etc.: did you get it? « (in einem Nachtrag zu einem Brief an John Murray, 1. August 1919; zitiert nach: Byron. A Self-Portrait. Letters and Diaries 1798 to 1824. Hrsg. Peter Quennell. Oxford; New York; Toronto 1990 [1. Aufl. 1950]). - Siehe auch Seed, David: ›The Platitude of Prose‹: Byron’s Vampire Fragment in the Context of His Verse Narrative. In: Byron and the Limits of Fiction. Hrsg. Bernard Beatty; Vincent Newey. Liverpool 1988, S. 126 - 147. Dracula - Der Herrscher der Finsternis 191 richtet, hätten orgiastische Gefühle unter dem Einfluß von Hypnose erlebt, obwohl der Begriff »Orgasmus« noch nicht in die Vorstellung der allgemeinen Öffentlichkeit gedrungen war. 13 Damit war die westeuropäische Welt vorbereitet auf die begeisterte Aufnahme von Bram Stokers modernem Vampir. Dracula Dracula, Vlad Tepes (der Aufspießer), der von 1431 bis 1476 lebte, war mehr schlecht als recht der Herrscher über die Wallachei, die sich zu Füßen der Berge Transsylvaniens ausbreitet. 14 Zweimal wurde er verjagt und wiedereingesetzt. »Dracul« bedeutet entweder »Teufel« oder »Drache«. Dracula bedeutet »Sohn des Dracul«. 1431 war Vlad, der Vater, von Kaiser Sigismund mit dem religiösen, aber halbmilitärischen Drachenorden bedacht worden, wohl als Ermunterung, sich dem Kampf gegen die Türken zu stellen. Aber erst der Sohn entwickelte sich dann zum wilden und brutalen Streiter wider die türkischen Invasoren. Ebensowenig zimperlich ging er mit den vielen wirklichen und eingebildeten internen Feinden um, die sich gegen seine Herrschaft in der Wallachei stellten, einer Region, die von großer ethnischer Vielfalt geprägt war. Rumänen, Ungarn, Sachsen (so hießen die damaligen deutschen Siedler) und Szekelys (Nachfahren der Hunnen) teilten sich ein und denselben Lebensraum. Historisch unumstritten ist die Tatsache, daß Vlad Tepes/ Dracula ausgesprochen rücksichtslos vorging und daß er seine Feinde am liebsten bestrafte, indem er sie lebendigen Leibes und in aller Öffentlichkeit durch Anus und Mundöffnung aufpfählen ließ. Je nach dem welcher Seite wir allerdings Glauben schenken wollen, erscheint Dracula entweder als wahnsinniger Psychopath, Folterknecht und Inquisitor, den spätere Gewissensnöte zur Frömmelei trieben, oder als geschickter Schüler Machiavellis, als hochgebildeter früher Nationalist, der einen heldenhaften Abwehrkampf gegen die türkischen Invasoren führte. Mehr als fünfzig Klöster wurden von ihm gestiftet, und in der rumänischen Volkstradition ist er zu einer Art Robin Hood-Figur verklärt worden, der als Freund der Armen die Reichen verfolgte. Zeugnis davon gibt sein schonungsloser Umgang mit den Bojaren, einer alteingesessenen Oberklasse. 15 Die Russen haßten Dracula wegen seiner Preisgabe des orthodoxen Glaubens zugunsten des römischen Katholizismus und die Sachsen/ Deutschen wegen des Massakers, das er an ihnen verübte, um ihre Dominanz über den wallachischen Handel zu brechen. So konnte die Dracula-Geschichte bereits gegen Ende des fünfzehnten Jahhunderts zu einem internationalen Bestseller in Europa werden. Die ersten schriftlichen Geschichten erschienen als Haßpamphlete, die mit expliziten Holzschnitten illustriert waren. Sie waren wohl von geflohenen deutschen Siedlern inspiriert, in deren Interesse es lag, solche Schreckensbilder im germanischen Europa zu verbreiten, vielleicht in der vagen Hoffnung, daß irgendjemand auf die Idee kommen könnte, gegen die Rumänen eine Strafexpedition in die Wege 13 Siehe King, Stephen: Danse Macabre. New York 1981, S. 74. 14 Seine Regierungszeit umspannt die Jahre 1448, 1456 - 62, 1476. 15 Unter anderem ließ er die Bojaren in Zwangsarbeit sein Schloß bei Arges in der Nähe von Poenari bauen. Siehe McNally, Raymond T.; Florescu, Radu: In Search of Dracula: A True History of Dracula and Vampire Legends. Greenwich, Conn. 1972, S. 99. 192 Klaus M. Schmidt zu leiten, die den Deutschen in der Wallachei die alten Privilegien wiederbringen könnte. Eine der zwei frühesten Flugschriften dieser Art wird auf das Jahr 1462 datiert: »Hier beginnt die grausame und schreckliche Geschichte des wilden Wüterichs Dracula, des Kriegsherrschers, wie er die Menschen aufpfählte, wie er sie am Spieß röstete, wie er Menschenköpfe in Kesseln absott, wie er Menschen häutete und wie Kraut kleinhackte, auch wie er Säuglinge briet und ihre Mütter zwang, sie zu essen, und viele andere schreckliche Dinge, die er tat, und das Land in dem er herrschte, werdet ihr in diesem Traktat finden.« 16 In dieser Form haben die Traktate wohl kaum einem direkten politischen Zweck gedient, besonders wenn man eine weite geographische Verbreitung voraussetzt. Sie dienten eher einer allgemeinen Stimmungsmache, vergleichbar mit den Horrormeldungen der modernen Boulevardpresse, von deren Seiten besonders während Kriegszeiten das Blut in Stömen fließt. Berichte über Feinde, die unschuldige Babies an Scheunenwände nageln, um sie mit Höllenmaschinen zu verbinden, waren während der beiden Weltkriege auf beiden Seiten nichts Ungewöhnliches. Es gibt ein amerikanisches Kriegsposter aus dem zweiten Weltkrieg, das einen Hunnen ähnlichen Nazi-Dracula mit großen Fangzähnen darstellt, 17 und an amerikanische Soldaten, die in Übersee dienten, wurden Freiexemplare von Stokers Dracula verteilt. 18 Gibt es eine verwandtschaftliche Verbindung zwischen der Tradition des Vampir- Aberglaubens und der historischen Geschichte von Dracula, Vlad dem Aufspießer, oder entsprang die Mixtur der beiden Bereiche ausschließlich Bram Stokers Einbildungskraft? Stoker stieß eher zufällig als durch bewußte Materialsuche auf die Dracula-Geschichte, während er über seinen Plan eines Vampirromans nachdachte. Eine andere historische Schreckensfigur, die Gräfin Elisabeth Bathory, geborene Nadasdy, die 1556 - 1614 in Südostungarn nahe der Grenze zu Transsylvanien lebte, könnte für Stoker als verbindendes Glied für die Transformation Draculas zum Vampir fungiert haben. Nach dem Tode ihres Mannes lockte die Gräfin junge Bauernmädchen auf ihr Schloß, um sie dort einzusperren und ihnen für ihre Verjüngungsbäder das Blut abzulassen. Als man schließlich das Schloß stürmte und untersuchte, fand man fünfzig Leichen. 19 Während die rumänische Folklore keine Verbindungen zwischen Dracula und dem Vampirismus aufweist, findet man in seiner Geschichte jedoch einige Anknüpfungspunkte, die Stokers Gedanken in die Richtung Dracula als Nosferatu gewiesen haben könnten. Zum Beispiel ist der zugespitzte Holzpfahl, den Dracula als Exekutionsinstrument bevorzugte, auch die bevorzugte Methode, wie man sich in dieser Region der Vampire entledigte. Draculas Bruder war offensichtlich das Opfer eines vorzeitigen Begräbnisses gewesen. Als man sein Grab öffnete, um ihn nachträglich mit gebührendem Pomp zu bestatten, fand man ihn in verdrehter Lage mit dem Kopf nach unten. Dracula selbst war im Kloster Sagov ohne Kopf beigesetzt worden. Das Kloster liegt auf einer Insel in einem See in der Nähe von Bukarest. Legenden sprechen davon, daß sich von Zeit zu Zeit Draculas Geist aus den Wassern erhebe. Er war in einer Schlacht von den Türken getötet und zum Beweis seines Todes sein Haupt in Konstantinopel auf einem Pfahl zur Schau gestellt worden. 20 16 Sie ist in niederdeutschem Dialekt verfaßt und wird in der Klosterbibliothek St. Gallen unter der Signatur 806 aufbewahrt. Gedruckt von Ambrosius Huber in Nürnberg 1499. 17 Siehe Popular Culture Collection, Bowling Green State University, Ohio. 18 Leatherdale (Fn. 2), S. 218. 19 McNally/ Florescu (Fn. 15), S. 156 - 58. Dracula - Der Herrscher der Finsternis 193 Wie die eigentliche Genesis der Geschichte auch aussehen mag, aus diesen Quellen und Anregungen war es Stoker gelungen, einen dichten erzählerischen Knoten zu knüpfen, der die kollektive Geschichte der Mythen vom Mittelalter her mit unseren von Angst geplagten Projektionen der gegenwärtigen und zukünftigen Gesellschaft verband. Obwohl Sheridan LeFanus Vampirnovelle Carmilla (1868), die ein lesbisches Verhältnis zwischen einer Lebenden und Untoten andeutet, sich zunächst nicht geringer Beliebtheit erfreute, wird erst Stokers Roman zur Quelle der meisten Vampirgeschichten bis heute, einer Quelle, zu der die Autoren vampirischer Literatur gelegentlich immer wieder zurückkehren, um aus ihr das Genre zu verjüngen. Durch die Kombination des Vampirmythos mit den soziopolitischen Dimensionen, die durch die Figur des Grafen Dracula impliziert werden, konnte Stoker sein Werk durch eine moderne Komponente erweitern, obwohl die Geschichte schon fest innerhalb des Vierecks von Archetypen verankert ist, das die moderne und mittelalterliche Welt innerhalb der judäo-christlichen Tradition gleichermaßen bestimmt. Die alten Tabus von Religion, Sexualität und Tod, die die suppressive viktorianische Gesellschaft zu einem siedenden Druckkessel machte, wurden nun mit dem politischen Tabu des Klassenkampfes verbunden. Darwin, Freud und Nietzsche hatten sich als gleichrangige Paten über die Wiege von Stokers Dracula gebeugt, und Jack the Ripper (1888) hatte ein paar Tropfen Blutes seiner Opfer beigesteuert. Der »East London Advertiser« kommentierte die Untaten des sexuell pervertierten Massenmörders wie folgt: »[...] the myths of the Dark Ages arise before the imagination, Ghouls, vampires, bloodsukkers [...] take form and seize control of the excited fancy.« 21 Unter dem Einfluß der Darwinschen Evolutionstheorie wurde Kriminalität im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert mit physiologischen Phänomenen verknüpft. Damit stand auch einer Verbindung von Kapitalverbrechen und Vampirismus nichts mehr im Wege. Auf derselben Ebene führte die pseudowissenschaftliche Rechtfertigung rassistischer Vorurteile auf direktem Weg zu den Nürnberger Gesetzen der Nationalsozialisten. Zum Beispiel spielte das Elaborat Degeneration (1893) des deutschen Kriminologen Max Norden noch eine bedeutende Rolle bei der Entstehung der nazistischen Theorien über Rasse und Verbrechen. 22 Im frühen zwanzigsten Jahrhundert bedrohte der böse, halborientalische Osteuropäer Dracula das britische Reich der Reinheit. Dracula ist nicht nur der Antichrist, der Menschenblut schlürft, um sich zu regenerieren, während Christus sein Blut vergießt, um durch die Eucharistie die Menschheit zu retten, sondern Dracula ist auch der verachtete Klassenfeind, der den alteingesessenen Adel und die Großbourgeoisie repräsentiert. Er muß ausgerottet werden, um den sozialen Status der kleinbürgerlichen Emporkömmlinge zu festigen, einer Klasse, die durch den Kanzleiangestellten Jonathan Harker und die Schullehrerin Mina vertreten wird. Sie fühlen sich in heimlicher Bewunderung seiner Größe zu Dracula hingezogen, hassen ihn aber gleichzeitig abgrundtief und werden so zu seinen Opfern und Jägern. Die im Unterbewußten aggressive Natur des Kleinbürgers hat Erich Fromm als eine der Hauptursachen für den kometenhaften Aufstieg der Nazis zur absoluten Macht analysiert: 20 McNally/ Florescu (Fn. 15), S. 128 - 34. 21 Zitiert nach McNally/ Florescu (Fn. 15), S. 178. 22 Quelle: Leatherdale (Fn. 2), S. 210. 194 Klaus M. Schmidt »Die Frage, wieso die Nazi-Ideologie einen solchen Anreiz für das Kleinbürgertum darstellte, beantwortet sich aus dessen sozialer Lage und seinem Charakter. Er unterschied sich scharf von dem der Arbeiterklasse, des gehobenen Bürgertums und des Adels der Zeit vor 1914. Bestimmte Züge waren für diesen Teil des Mittelstandes zu allen Zeiten seit seinem Bestehen charakteristisch gewesen: seine Verehrung des Starken, sein Haß auf den Schwachen, Engherzigkeit, Kleinlichkeit, Feindseligkeit, Sparsamkeit bis zum Geiz (sowohl mit Gefühlen wie mit Geld und besonders seine Kargheit, sein Asketismus. Des Kleinbürgers Blick ins Leben war eng, er beargwöhnte und haßte den Fremden, beneidete die eigenen Bekannten, spionierte sie aus und verdeckte (rationalisierte) seinen Neid in Gestalt von moralischer Entrüstung. Sein ganzes Dasein beruhte auf Dürftigkeit - seelisch und wirtschaftlich.« 23 Marx hatte für den volkswirtschaftlichen Kontext schon vorher seine eigenen Parallelen zum Vampirismus gezogen: »Das Kapital ist verstorbene Arbeit, die sich nur vampyrmäßig belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit, und um so mehr lebt, je mehr sie davon einsaugt.« 24 Draculas wichtigste Waffe ist die Sexualität, obwohl sich Stoker von jeglicher beabsichtigten Schlüpfrigkeit distanzierte. 1908 näherte er sich sogar einem Plädoyer für die Zensur, als er den modernen Roman wegen seiner fehlenden moralischen Standards unter Beschuß nahm. Die Lawine der Rezeptionsgeschichte des Vampirgenres, die Stoker in Richtung auf das zwanzigste Jahrhundert lostrat, hat ihn eindeutig widerlegt. Im Zentrum des erotischen Interesses an Stokers Roman stand und steht die Episode, in der Jonathan Harker von Draculas inzestuösen Geschwister-Mätressen halb verführt und halb vergewaltigt wird. Leatherdale sagt, »Dracula can be seen as the great submerged force of Victorian libido breaking out to punish the repressive society which had imprisoned it.« 25 Es bedarf keiner Freudschen Tiefenpsychologie, um die unzähligen sexuellen Anspielungen in Stokers Roman zu entdecken, von der Verführung zur Vergewaltigung, vom Inzest zum oralen Sex und von der Pädophilie zur Nekrophilie. Besonders auf den Zelluloidstreifen des zwanzigsten Jahrhunderts wurden diese dann nach und nach genüßlich an die Oberfläche gebracht, bis hin zur offenen Pornographie. Phallische Symbole, wie etwa die aufgerichtete Lanze, hatten schon im Mittelalter weite Verbreitung gefunden. So ist auch des historischen Draculas bevorzugte Exekutionsmethode, seine Opfer durch den After aufzuspießen, bis die Spitze des Pfahls durch die Mundöffnung herausragte, doppeldeutig zu verstehen. Neben der Funktion der extremen Grausamkeit als Abschreckung, werden damit kaum verhüllte Nebentöne des sexuellen Mißbrauchs angeschlagen, denn diese Art der Pfählung sollte durchaus auch als extremste Form der Vergewaltigung verstanden werden. In ironischer Umkehrung stirbt Stokers Dracula als Vampir dann durch den Pfahl, den er selbst als Aufspießer so gern verwendet hatte. Daß Dracula, Vlad Tepes, die böse historische Vaterfigur, durch Enthauptung sein jähes Ende gefunden hat, ist spätestens seit Freud als symbolischer Kastrationsakt zu verstehen. Die Verbindung von Sexualität und Tod im allgemeinen ist eine nahtlose Übernahme aus dem Mittelalter. Man denke dabei an die allegorischen Darstellungen der Frau Fortuna mit ihrer aufreizenden, voluptiösen Vorderfront, die eine von Würmern zerfressene Kehrseite 23 Fromm, Erich: Die Furch vor der Freiheit. Zürich 1945, S. 207. 24 Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Bd. 1. Hamburg 1890. In: Karl Marx, Friedrich Engels Gesamtausgabe. Hrsg. Internationale Marx-Engels Stiftung. Berlin 1991, Kap. 8, S. 209. 25 Leatherdale (Fn. 2), S. 146. Dracula - Der Herrscher der Finsternis 195 verdeckt. Eine ähnliche Verbindung von Sexualität und Tod findet man in der Tradition des Totentanzes oder im Motiv des Todesengels, der als Bräutigam verkleidet junge Frauen in ihrer sexuellen Blüte verführt und dahinrafft. Diese Elemente sind in den Lenore- Balladen des ausgehenden 18. Jahrhunderts wiederbelebt worden und finden ihre Ergänzung und Fortführung im Genre der Vampirerzählung, die etwa zur selben Zeit entstand. Jonathan Harkers Reise in die Berge Transsylvaniens kann aber auch als Gralsqueste mit umgekehrten Vorzeichen verstanden werden. Die Reise führt statt zur geheimnisvollen Quelle der Erleuchtung direkt ins »Herz der Finsternis«. Ähnlich wie in Joseph Conrads gleichnamigen Roman, The Heart of Darkness, stößt dort der Held auf die innerste, vom Atavismus geprägte Natur des Menschen, einer Mischung aus ungezügelter Gewalt und Sexualität. Im Laufe von Stokers Dracula wandelt sich der Vampir vom schleichenden Jäger zum gejagten und schließlich gepfählten Opfer. Das gesamte moderne Genre der Vampirerzählung entwickelt sich jedoch um eine ambivalente Beziehung zwischen Jäger und Opfer. Der Jäger erregt Furcht und Schrecken, das Opfer Mitgefühl und Sympathie. Andererseits spricht der Jäger auch im Opfer den masochistischen Hang an, sich quälen zu lassen, während das Opfer die sadistischen Gefühle des Peinigers erweckt. Dies ist eines der wichtigsten Geheimnisse hinter dem Erfolg der Draculageschichte. Wir müssen inzwischen nicht mehr die Schulpsychologie bemühen, um zu wissen, daß diese Verbindung aus Sexualität und Gewalt, dieses ständige Auf und Ab von Machtausübung und Unterwerfung nicht nur den innersten Kern der persönlichen sexuellen Beziehungen sondern auch unsere Gesellschaft als Ganzes durchzieht. Diese Erkenntnis öffnet der positiven Sicht des Antichrists als notwendiger, antithetischer Komponente der menschlichen Natur Tür und Tor. Ganzheitserfahrung steht für das bewußte Ausleben von Gut und Böse, für das Umfassen von Licht und Finsternis als unlösbarer Einheit. Nietzsche hat der längst überfälligen positiven Antichrist-Figur konkrete Gestalt verliehen, der bereits die Stürmer und Dränger und die Romantiker nachgejagt waren. Der symbolische Dualismus von Licht und Dunkel, von Appollo und Dyonisos, der zum letzten Mal in der traditionellen klassischen Harmonisierung durch den absoluten Sieg des Lichts in Mozarts/ Schikaneders Zauberflöte überwunden wurde, hatte sich nun verkehrt. Die Stunde Draculas hatte endgültig geschlagen. Die folgenden Auszüge aus Also sprach Zarathustra könnten auch aus einem modernen Dracula-Roman stammen: »Lass mich, du dummer tölpischer dumpfer Tag! Ist die Mitternacht nicht heller? « 26 »Alle Lust will aller Dinge Ewigkeit, will Honig, will Hefe, will trunkene Mitternacht, will Gräber, will Gräber-Thränen-Trost, will vergüldetes Abendroth - was will nicht Lust! sie ist durstiger, herzlicher, hungriger, schrecklicher, heimlicher als alles Weh, sie will sich, sie beisst sich, des Ringes Wille ringt in ihr« - 27 Das - der Wahrheit Freier? Nicht still, starr, glatt, kalt, Zum Bilde geworden, Zur Gottes-Säule, [...] Nein! Feindselig solchen Wahrheits-Standbildern, 26 Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. In: Werke in drei Bänden. Hrsg. Karl Schlechta. Bd. II. München 1954/ 55, S. 555. 27 Nietzsche (Fn. 26), S. 557. 196 Klaus M. Schmidt [...] Dass du in Urwäldern Unter buntgefleckten Raubthieren Sündlich-gesund und bunt und schön liefest, Mit lüsternen Lefzen, Selig-höhnisch, selig-höllisch, selig-blutgierig, Raubend, schleichend, lügend liefest [...]« 28 Nietzsches Übermensch und Dracula haben vieles gemein. Beide haben unzähligen Männerphantasien vom sinistren, unzerstörbaren Superhelden Vorschub geleistet. Beide verweisen auch auf das peinliche Dilemma, daß der menschliche Held sterblich und langweilig und der unsterbliche und aufregende Held böse und unmenschlich ist. Eine weitere wichtige Parallele zwischen Nietzsches Übermenschen und Dracula ist die Abneigung gegen körperlichen Sex. Die Nazis waren das »Parade«-Beispiel dieser modernen Hybris. Ihr Blutdurst und ihre Vorstellungen von der Superrasse bringen sie in nächste Nähe mit der Vampir/ Dracula-Tradition. Das Vampirische, das der Bewegung als unverkennbarer innerer Kern zugrunde lag, wurde jedoch zur Ablenkung nach außen in einen Sündenbock projiziert. Hans- Heinz Ewers, der Schreiber des ersten Romans über Horst Wessel (1932), hatte seinen vorhergehenden Romanen einen exotisch-exzentrischen, sexual-sadistischen Hintergrund verliehen. Einer dieser Romane trägt den Titel Vampir (1921). Es ist ein anti-semitistischer Erguß, der die Untoten mit dem Bild der schaurigen, wandernden Jüdin in Verbindung bringt. Erst 50 Jahre später schuf Hans W. Geissendörfer den ersten eindeutig vampirischen Anti-Nazifilm mit seinem Jonathan, Vampire sterben nicht (1970). Hier triumphiert Dracula/ Hitler am Ende durch seine Wiederauferstehung, um uns allegorisch daran zu gemahnen, daß nationalsozialistisches Gedankengut so unauslöschlich wie der Vampir ist. Dracula, der Antichrist, besitzt auf Grund seiner Natur das Potential, unbegrenzt negative wie positive Assoziationen zu erwecken. Die Verbindung mit physischer Stärke und der Ausbeutung sexueller Instinkte lassen ihn viel attraktiver als Jesus Christus erscheinen, wenn erst einmal das christliche Prinzip der Gewaltlosigkeit als Opium für die Schwachen diffamiert und damit außer Kraft gesetzt ist. So läßt sich auch an der Entwicklung des Vampir-Genres sowohl in der Literatur als auch im Film in Richtung auf eine allmähliche Ausbreitung des positiven Vampirbildes der allmähliche Einflußverlust christlichen Gedankengutes ablesen. So besteht ein großer Unterschied zwischen Max Schrecks phallisch steifem und fast golemhaftem Graf Orlac/ Dracula in Fritz W. Murnaus Nosferatu ( 1922) 29 und Frank Langellas gut aussehendem, beredtem, elegantem und erotisch ungemein anziehendem Dracula in John Badhams Produktion aus dem Jahre 1979. Der Weg zu diesem beinahe sympathisch wirkenden Dracula war zuvor durch Brownings Film aus dem Jahre 1931 und Terence Fishers Horror of Dracula ( 1958) geebnet worden, einem Film, der eine ganze Serie mit dem gut aussehenden, aber bedrohlichen und physisch starken Dracula, dargestellt von Christopher Lee, nach sich zog. 28 Lied der Schwermut. In: Nietzsche (Fn. 26), Bd. II, Abschnitt IV, S. 3. 29 Murnau hatte es versäumt, sich die Verfilmungsrechte von Stoker zu beschaffen. Es kam zu einer Klage und einstweiligen Verfügung. Obwohl er dann die Namen der Hauptcharaktere und den geographischen Hintergrund änderte, ließ das Gericht alle Kopien beschlagnahmen und ordnete deren Vernichtung an. Glücklicherweise haben einige überlebt. Dracula - Der Herrscher der Finsternis 197 Murnau hatte bereits einige Elemente in seinen Film aufgenommen, die bei Bram Stoker nicht zu finden sind. So wird zum Beispiel der Vampir durch sein Opfer sexuell dazu verführt, über den Tagesanbruch hinaus bei ihm zu bleiben. Nach ausgiebigem Genuß zerstört ihn das Licht der Sonne. So wird die Menschheit nicht mehr durch die Gehirnakrobatik des männlichen Pseudo-Wissenschaftlers, Van Helsing, sondern durch das sexuelle Opfer einer Frau gerettet. Die Bedeutung des Vampirjägers wird bei Murnau heruntergespielt, und es wird eine viel größere Emphase auf die Wirkung gelegt, die die Erscheinung des Vampirs in der sogenannten zivilisierten Welt auslöst. Es ist eine Welt, die das Monster aus seinem Inneren selbst hervorgebracht zu haben scheint. Mit dessen tatsächlichem Erscheinen fällt sie ins Chaos. Diese Aspekte werden in Werner Herzogs Verfilmung, Nosferatu - Phantom der Nacht (1978) noch verstärkt. Dabei werden Lucys sexuellen Verführungskünsten große Bedeutung beigemessen, und dem Publikum wird eine gewisse Sympathie für den uralten Dracula suggeriert, der alle Schrecken der Welt schon erlebt hat, aber nicht sterben kann. Zwischen Bram Stokers Dracula und Anne Rices aktuellem Bestseller Vampire Lestat (1985) aus der gehobenen Unterhaltungsliteratur liegt schließlich der längste Weg. 30 Darin tritt der Vampir als Rockmusik-Idol im Stil von KISS auf und versetzt sein modernes Massenpublikum in Begeisterungshysterie, die in tödlichen Ausschreitungen endet. Die Grundidee, die hinter Anne Rices erstaunlich populären Romanen steckt, ist die Vorstellung, daß es Vampire als geheime Eliterasse schon immer gegeben hat, während die Jahrhunderte und Jahrtausende verstreichen, ja selbst innerhalb der Vampire gibt es noch eine deutliche rassisch angehauchte Klassengesellschaft. Gelegentlich gewähren sie einem von uns die Aufnahme in den Kreis der Unsterblichen und erfüllen damit unsere tiefsten Sehnsüchte nach individueller Freiheit, unbegrenztem Wissen und Macht. Während sich das Vampir-Genre im 20. Jahrhundert in atemberaubender Geschwindigkeit entwickelt und ausbreitet 31 , nimmt es rasch gewisse formale Züge uralter populärer Gattungen an, Züge, die es zum Beispiel mit der epischen Tradition des Mittelalters teilt. Dazu gehört die Wichtigkeit der Konvention, die Freude am Vertrauten 32 und das Spiel mit der Wiederholung und den feinen Unterschieden. 33 Diese Entwicklungsstufe des Genres hält aber nur so lange an, bis die Wirkung der Akzeptanz einsetzt. Die Akzeptanztheorie stellt die psychologische Wirkungskomponente den soziologischen und ideologischen Einflüssen auf das Genre voran. So wird zum Beispiel das, was anfänglich schockiert, für den Rezipienten allmählich akzeptabel. Dies treibt wiederum die Produzierenden dazu, immer größere Orgien von Blut und Gekröse und von explizitem Sex zu liefern, wodurch schließlich das Genre selbst total verändert wird. In ähnlicher Weise wurden die Vampire immer menschlicher und die Vampirjäger gleichzeitig entmenschter. 30 Vampire Lestat ist der zweite Teil einer Romanserie, die mit dem inzwischen verfilmten Titel Interview With the Vampire begann. 31 Die Filme der vierziger und fünfziger Jahre haben die der zwanziger und dreißiger Jahre an Zahl um mehr als das Doppelte übertroffen. Die Produktionen der sechziger Jahre haben an Zahl dann nochmals die der vorangegangenen zwanzig Jahre verdoppelt, und zwischen 1970 und 1975 wurden mehr als zweihundert Vampirfilme gedreht, wodurch wiederum der Ausstoß der sechziger Jahre verdoppelt wurde, was auch die gesamte Produktion von 1897 bis 1959 übertraf. 32 »[...] the pleasures of familiarity« (Braudy, Leo: The World in a Frame: What We See in Films. Garden City, N.Y. 1977, S. 105.) 33 Siehe Waller (Fn. 4), S. 7 - 10. 198 Klaus M. Schmidt Anknüpfend an bestimmte Motive kann auch ein gewisser Cloning-Effekt eintreten, so daß neben schlechten Vampiren gute Zwillingsgestalten auftreten und sich so das Schauerdrama in Komödie verwandelt. Filme wie Roman Polanskis Tanz der Vampire [Dance of the Vampires] (1967) und Liebe auf den ersten Biß [Love at First Bite] (1978) von Robert Kaufman sind gute Beispiele für solche Trends. Ein weiterer Effekt, der sich aus der Akzeptanztheorie erklären läßt, ist das Verschmelzen von zwei unterschiedlichen Gattungen. Ein solcher Trend setzte bereits in den 40er Jahren, mit den sogenannten »monster combos« ein. So gelang es zum Beispiel dem Film The House of Dracula (1944), Dracula, den Wolfsmenschen, Frankenstein, den Glöckner von Notre Dame und den verrückten Wissenschaftler auf einem Zelluloidstreifen zu vereinen. Als man ausschließlich die übermenschliche Körperkraft als vereinigendes Bindeglied herauspickte, entstanden die sogenannten »Fleischklops«-Vampirfilme aus vorwiegend italienischer, spanischer und mexikanischer Produktion, die herkulische Bodybuilder und Freistilringer gegen Dracula antreten ließen. Sogar mit der Gattung des Westerns hat sich der Dracula-Film vereint, zum Beispiel in Billy the Kid Versus Dracula (1965). Ähnliche Mischformen gibt es mit dem Gangster-, dem Agenten-, dem Science-Fiction-Monster-aus-dem-Weltall- Film, dem kalifornischen Kultfilm-Genre, sowie dem Road-Gang-Film. Kurz und gut, jede Filmgattung mit einem Potential für Sex und Gewalt hatte bereits ihre Begegnung mit einem Vampir. Dasselbe gilt für die Unterhaltungsliteratur. Die ernsthafteren Adepten des Genres kehren jedoch von Zeit zu Zeit zu Bram Stoker zurück, um sich neuen Schwung für die Gattung zu holen, indem sie zum Beispiel Stokers Roman noch ein weiteres Mal gegen den Strich bürsten. Francis Coppola hatte sein letztes Oeuvre, die Farben- und Blutorgie Dracula (mit Gary Oldman als Dracula und Anthony Hopkins als VanHelsing, Winona Ryder als Mina und Keanu Reeves als ihr Ehemann Jonathan Harker) als die »untold story« angekündigt. Der »noch nicht erzählte« Teil der Geschichte war nichts anderes als die Einführung eines Vlad Tepes Prologs. Allerdings handelte es sich dabei keineswegs um eine Neuheit fürs Publikum, denn Vlad Tepes Material findet man bereits in der CBS Fernsehserie, von Dan Curtis mit Jack Palance in der Hauptrolle, aus dem Jahre 1973 und in der BBC Serie Count Dracula von 1978, unter der Regie von Philip Saville, mit Louis Jourdan in der Rolle des Grafen. Coppola hatte auch eine neue Einstellung auf van Helsing versprochen, einem Mann, der in die Finsternis fiel. In der Tat prägt Anthony Hopkins die Rolle des Vampirjägers mit seinem ganz persönlichen Gesicht, das ein Leben widerspiegelt, das ihn schon durch die dunkelsten Abgründe der Perversion und des Mißbrauchs geführt hat. Bei diesem Van Helsing liegt das Schicksal der Menschheit in den Händen einer Gestalt, die für das Publikum keinerlei Vertrauenswürdigkeit mehr ausstrahlt. Ein Wilder, Halbwahnsinniger tritt gegen die monströse Bestie an, und so kann man genüßlich die Randzonen zwischen Normalität und Wahnsinn, Gesundheit und Perversion ausloten. 34 Dracula erlebt seine Wiederauferstehung in der Bestie Mensch. Trotz allem Aufwand war Coppolas Film weder ein finanzieller noch ein künstlerischer Erfolg. Obwohl er die Geschichte im bereits erfolgreichen Comic-Strip-Stil von Superman und Batman anging, wobei alles im Studio gefilmt wurde und sich ein Spezialeffekt an den anderen drängte, konnte der Film gerade das so wichtige Teenager-Publikum nicht voll begeistern. Coppolas Dracula fehlte nämlich eine Grundvoraussetzung der Comic-Strip-Filme, eine klare Unterscheidung von 34 Siehe Abramowitz, Rachel: In the Works. In: Premiere 2 (1992), S. 13. Dracula - Der Herrscher der Finsternis 199 Gut und Böse. Das Bild der Vampirjäger ist bereits stark überschattet durch den zweifelhaften Charakter ihres geistigen Kopfes, Van Helsing. Der Rest ist eine Ansammlung von schwachen Charakteren, inklusive des neu eingeführten texanischen Zuchtbullen. Die Figur des texanischen Geschäftsmannes, der sich bei Stoker als das damals beliebte Klischee des reichen amerikanischen Hinterwäldlers den Vampirjägern anschließt, wird bei Coppola zur Karikatur des Cowboy-Helden aus der Tradition des Western-Films. Verfehlen schon die Vampirjäger die wichtigsten Kriterien des positiven Helden, so kommt Dracula der Vorstellung vom Erzbösewicht in der Nachfolge eines Joker in Batman nicht einmal nahe. Er gleicht eher dem Unglückswurm aus einer gigantischen pseudo-historischen Seifenoper. Wie der Prolog, die »unerzählte Geschichte« uns belehrt, entspringt Draculas Charakter keineswegs dem Urbösen, sondern er wurde durch einen Fall von gebrochenem Herzen vom Pfad der Tugend abgebracht. Vlads innig geliebter Braut wurde während der Türkenkämpfe ein gefälschter Brief zugespielt, der von Draculas Tod in der Schlacht berichtet. Aus Schmerz über den Tod des Geliebten begeht sie Selbstmord. Dracula nach seiner Heimkehr seinerseits beim Anblick der toten Geliebten arg vom Schmerz gebeutelt, wendet nun seine Rachegelüste buchstäblich gegen Gott und die Welt. In einer Parallele zum Siegfriedmythos - er attackiert das Heilige statt des bösen Monsters - durchbohrt er mit seinem Schwert ein Kruzifix, und das Blut, das daraus hervorquillt, verleiht ihm Unverwundbarkeit. Mina, die sich nach Dracula ebenso sexuell verzehrt wie Lucy, sieht aus wie die Reinkarnation von Draculas Braut. Sie zwingt Dracula dazu, sie aus einer selbstgeschlagenen Wunde auf seiner Brust sein Blut schlürfen zu lassen, um sich so in der Unsterblichkeit auf ewig mit dem Geliebten zu vereinigen. Die Wunde hat dieselbe Form und sitzt an derselben Stelle wie die Wunde, die Jesus vom Speer des Longinus geschlagen wurde. Wieder wird an mittelalterliche Mythen angeknüpft, denn das Blut, das aus dieser Wunde quoll, wurde von Joseph von Arimathia in einem Kelch aufgefangen, der nach einer weitverbreiteten Legende später zum Gral wurde. Unter solch mitellalterlichem Mythenballast geht die klare Schwarz-weiß-, Gut- Böse-Struktur des verfilmten Comic-Strips in die Knie. An dieser unverträglichen Mischung aus Comic-Strip-Stil und psycho-mythologischem Nebel, in dem die Konturen von Gut und Böse hoffnungslos verschwimmen, scheitert schließlich auch der künstlerische Anspruch von Coppolas Dracula, ganz abgesehen davon, daß hier einfach zu tief in den Topf von Sex, Blut und Gekröse gegriffen wird. Außerdem verschwendet Coppola schon die ganze Energie seiner schaurigen Horrorvisionen im Vorspann und beraubt sich so einer erfolgreichen Erzählstruktur, die den Spannungsbogen ganz allmählich anzieht, bis zu dem Zeitpunkt, an dem Dracula in London mit seiner geballten Macht des Bösen unter der glatten Oberfläche der steifen bürgerlichen Gesellschaftsnormen hervorbricht. Dem Spannungsbogen wird zusätzlich noch dadurch Energie abgesaugt, daß Renfield von Anfang an wie ein tollwütiger Affe in seiner Zelle herumhüpft, während Lucy sich unaufhörlich in sexueller Extase windet. Viel weniger wäre mehr gewesen, und so bleibt die Herausforderung an zukünftige Regisseure erhalten, mit der endgültigen und werkgetreuesten Verfilmung von Stokers Erfolgsroman herauszukommen. Die Vampire muß man im Kontext des allgemeinen Genres Horrorfilm sehen. Dazu meint Stephen Neale, was die spezielle Eigenart des Horrorfilms bestimme, sei nicht die Darstellung von Gewalt an sich, sondern deren Verbindung mit Bildern und Definitionen des Monströsen. 35 Stephen King, der seinen eigenen Beitrag zum Vampir-Genre mit dem Film Salem’s Lot machte 36 , unterscheidet in seiner Abhandlung zum Horrorfilm unter 200 Klaus M. Schmidt dem Titel Danse Macabre das Genre in zwei Gruppen. In der einen wächst das Schreckliche gewissermaßen von innen heraus als Resultat einer freien und bewußten Entscheidung zum Bösen, während in der anderen der Horror prädestiniert erscheint und wie ein Blitzschlag von außen eindringt. 37 King meint weiter, daß Horrorgeschichten, die mit dem von außen eindringenden Bösen umgehen, sehr viel schwerer ernst zu nehmen seien. Sie erwiesen sich oft als nichts anderes als wild gewordene Abenteuergeschichten, die pubertären Knabenphantasien entspringen. Dennoch erscheine aber das von außen eindringende Böse im Grunde größer und furchterregender, da es den Menschen allgemeinen, kosmischen Mächten unterwerfe. 38 Das Vampirgenre hat sich in beide Richtungen entwickelt. Es gibt zahlreiche, sogenannte B-Filme, die mit einer relativ simplen, von außen eindringenden Macht operieren, die dann schnell von einer Koalition »guter« menschlicher Kräfte überwunden werden kann. Unter den wenigen ernsthafteren Filmen in diese Richtung wären Romeros Night of the Living Dead und Dawn of the Dead zu nennen. Die ernsthafteren Bearbeitungen des Vampir-Genres tendieren aber allgemein nach der Darstellung des von innen herauswachsenden Bösen, wo der Mensch als Jäger und Opfer die Grenzen des Status quo auslotet und die Beziehungen zwischen dem öffentlichen und privaten Bereich, den bürgerlichen Bestrebungen und der individuellen Triebwelt in Verwirrung geraten. 39 Bei Stoker kann das Blutbad immer noch im Namen Gottes und der menschlichen Zivilisation angerichtet werden. Gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts haben aber nicht nur die traditionellen christlichen Symbole des Kruzifixes und der Hostie als Abschreckungswaffe gegen den Vampir ihre Wirksamkeit verloren, sondern die Vampirjäger sind mehr und mehr zu einem Spiegelbild des Bösen geworden, das sie verfolgen. Gewaltausübung im Namen der Rechtschaffenheit hat in der Tat heute einen hohlen Klang, angesichts der Berge verstümmelter Leichen, die dieses Jahrhundert allein aufgehäuft hat. Im Vergleich mit diesem Schlachthaus erscheint das Mittelalter wie ein unterkühlter Operationssaal. Ohne auf die anhaltende wilde Diskussion um das Verhältnis der Gewalt in den Medien zur Gewalt auf den Straßen näher eingehen zu wollen, möchte ich mir abschließend nur die Bemerkung erlauben, daß die Faszination mit den blutsaugenden Draculas in der Literatur, in den Kinosälen und vor den Fernsehschirmen sicherlich nicht unsere Teenager in schaurige Monster verwandeln wird, bei denen sich eines Tages jugendliche Exstase angesichts eines Knutschflecks in eine tödliche Blutorgie verwandeln könnte. Auch wird dadurch nicht die Anzahl der psychotischen Mörder oder der Mitglieder vampirischer Kultgemeinschaften erhöht. 40 Solche Phänomene gab es schon immer, wofür der antike Nero, die mittelalterliche Gräfin Bathory und Jack the Ripper als historisch besonders berüchtigte Zeugen aus der Masse herausragen. Es ist also wohl nicht unsere Faszination von der Gewalt in den Kinosälen und auf Bildschirmen, die die Welt da draußen in ein Blutbad verwandelt, sei es in Form von sogenannten chirurgischen militärischen Eingriffen, ethnischen Reinigungsakten, Bandenkriegen, Straßenschlachten oder neona- 35 Siehe Neale, Stephen: Genre. London; New York 1980, S. 21. 36 Der Film wurde von Tobe Hooper 1976 fürs Fernsehen bearbeitet. 37 Siehe King (Fn. 13), S. 71. 38 Siehe King (Fn. 13), S. 72. 39 Siehe Waller (Fn. 4), S. 15. 40 Siehe Dresser, Norine: American Vampires: Fans, Victims and Practitioners. New York 1989. Hoyt, Olga: The Lust for Blood. The Consuming Story of Vampires. New York 1984. Dracula - Der Herrscher der Finsternis 201 zistischen Umtrieben. Es ist eher der Totalausverkauf von Werten oberhalb der materialistischen Ebene in uns und unseren Werken, dieser Orientierungsverlust in enger Verbindung mit der Achterbahnfahrt durch atavistische Emotionen, die das gute Schiff »Demeter« irgendwo zwischen London und New York, Sidney und Yokohama, Varna und Wismar auf schwarzer See in Kreisen treiben läßt. Zumeist ist es Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung und vor allem das Gefühl, eigentlich nicht mehr zu den Lebenden zu gehören, was junge Menschen in Scharen als untote »Bloods,« »Crips« oder »Ghouls« nachts auf die Straßen treibt, um sich gewaltsam an solchen zu vergehen, die kaum selbst die Ufer eines menschenwürdigen Daseins erreicht haben. Wenn uns gegen diese Form von Vampirismus nichts anderes einfällt als noch mehr hilflose Van Helsings in Polizeiuniform aufzubieten, wird Dracula tatsächlich immer wieder von neuem auferstehen. Bram Stokers Dracula und der Vampir in Literatur, Geschichte, Volkskunde und Film seit 1970. 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Der Wandel des Einhorns Jochen Hörisch (Mannheim) To be or not to be »To be or not to be - that is the question.« Hamlets berühmtes Diktum bezieht sich nicht nur auf die Frage, ob Hamlet sein Leben durch Selbstmord beenden oder allen Zumutungen zum Trotz fortsetzen soll. Es benennt zugleich auch ein Grundproblem jeder Kultur. Die Unterscheidung zwischen dem, was es gibt und nicht gibt, gehört zum elementaren Code aller Kulturen. Ob es, um mit dem ersten Beispiel bei Hamlet zu bleiben, die Geister der Verstorbenen wirklich gibt, ob es Ufos, ob es den Yeti, ob es Engel, ob es Antimaterie, ob es den Teufel, ob es die Amts-Unfehlbarkeit des Papstes, ob es ein Leben nach dem Tode, ob es das Ungeheuer von Loch Ness, ob es Telepathie, ob es Phlogiston, ob es Wunder, ob es Transzendentalsubjekte, ob es synthetische Urteile a priori, ob es die Transsubstantiation, ob es Zukunft, ob es göttliche Offenbarung, ob es das Nichts gibt oder eben nicht - diese und viele andere Fragen nach Sein oder Nichtsein von x,y,z regeln elementar die Grundstrukturen von Kulturen. Die Frage nach Sein oder Nichtsein ist bedeutend in jedem Wortsinn. Abb. 1: Einhorn, aus: De Generatione Christi (um 1470). 206 Jochen Hörisch Die Antworten auf solche Fragen variieren interkulturell erheblich. Aber eben auch innerkulturell: die Frage nach der Existenz des Einhorns wird z.B. im Rahmen der sog. abendländisch-christlichen Kultur um 300 v. Chr., um 250 n. Chr., um 1300, um 1600 und um 1900 radikal unterschiedlich beantwortet. Um sogleich zu schematisieren: zur Zeit des Aristoteles galt das Einhorn (monoceros) als existent, war aber nicht eigentlich interessanter als andere bemerkenswert auffällige »orientalische / indische« Tiere. Für lange Jahrhunderte nach 250 n. Chr. aber wurde die Existenz des Einhorns zu einem heißen Problem: sollte es doch, nach der Auskunft des weitverbreiteten Tierkundebuchs Physiologus so etwas wie eine Realallegorie für die Existenz des Gottessohnes sein. Um 1300 erreicht diese hohe semantische Aufladung der naturkundlichen Frage nach Existenz oder Nichtexistenz eines Tieres ihren Höhepunkt. Durch laszive Überformungen der tradierten theologischen Einhorn-Exegese, durch Reformation und Tridententiner Konzil verblaßt nach 1600 die fundamentalsemantische Strahlkraft des weißen Tieres. Es wird aber in dem Maße, wie es von theologischen Anforderungen entlastet wird, ästhetisch freigegeben. Um 1900 hat es dann z.B. im Werk R.M. Rilkes eine poetische Hochkonjunktur. Und wer weiß: warum sollten Gentechniker das Einhorn-Fake nicht alsbald zum existenten Faktum machen, das um 2050 die postpostmodernen Klon-Zoos bevölkert? Aus dem Fabeltier wäre dann das wirklich existente fabelhafte Tier geworden. Das Einhorn ist wohl auch deshalb seit mehr als zweieinhalbtausend Jahren eines der prominentesten Nicht-Lebewesen bzw. das attraktivste aller fabelhaften Tiere, weil sich in ihm die Hamletfrage als eine Frage nach dem Ineins von Sein und Sinn so markant inkarniert. Am Einhorn, dessen Existenz - um die angelsächsiche Wendung aufzunehmen - buchstäblich Sinn macht, läßt sich paradigmatisch beobachten, wie unterschiedlich Kulturen und eben auch aufeinanderfolgende Epochen eines Kulturzusammenhangs, Differenzen markieren, wenn sie »Natur« beobachten. Wer den Wandel des Einhorns nachzeichnet kann so schnell erfahren, daß es lohnt, auf second-order-observation umzustellen und also zu beobachten, aufgrund welcher Differenzmarkierungen Kulturen ihre Beobachtungen machen. Der frühe Wandel des Einhorns »Ex oriente lux.« Nicht nur das Licht der Morgensonne, auch das lichte Fabeltier ist dem Osten zu danken. In Indien gab und gibt es eine variantenreich überlieferte 1 Fabel von einem Einsiedler namens Rsyasrnga (Gazellenhorn). Die ebenso hintersinnige wie sinnliche Geschichte ist Teil des großen indischen Nationalepos Mahabharata, dessen verzweigte Episoden bereits viele Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung kurrent sind und das spätestens im vierten Jahrhundert nach Christus seine endgültige Form fand. Sie 1 Das folgende synoptisch nach Jürgen W. Einhorn, (Spiritualis unicornis. Das Einhorn als Bedeutungsträger in Literatur und Kunst des Mittelalters. 2., rev. und erw. Aufl. München 1996, S. 34 ff.), der sich seinerseits auf die Arbeit von W. Haug, S. 157 - 164 stützt, die fünf Fassungen der Fabel festgestellt hat. Wiedergegeben ist die Legende auch bei M. Winterwitz (Hrsg.): Indische Sagen, S. 131 ff., textkritisch kommentiert wird sie von H. Lüders 1897 und 1901. Lüders kommentiert vor allem »die Widersprüche im Anfang des zweiten Teils dieser Erzählung [...] Wie kann der König die Brahmanen um Rat fragen, von denen er eben gesagt hat, daß sie ihn im Zorn verlassen haben! « Der Wandel des Einhorns 207 stellt die wohl älteste Textschicht dar, von der andere Einhornerzählungen ihren Ausgang genommen haben. Der besagte Einsiedler ist der Sohn eines Asketen und einer Gazelle, die ihrerseits göttlichen Ursprungs ist. Auf seinem Kopf trägt er, der aufgrund seiner asketischen Lebensweise Einfluß auf Regen und Fruchtbarkeit hat, ein langes Horn - Zeichen seiner übermenschlichen Herkunft. Als einmal für bedrohlich lange Zeit der Regen aussetzt, weil der König Lomopada von Anga einen Brahmanen von seinem Hof vertrieben hat, erklären die befragten Brahmanen, es werde erst dann wieder regnen, wenn es dem König gelänge, den eremitischen Büßer Gazellenhorn, den mit Ausnahme seines Vaters noch niemand gesehen hat, an seinen Hof zu bringen. Nur eine Frau, so läßt der König sich beraten, vermag den Ungeselligen dorthin zu locken. Und so wird eine Hetäre ausgewählt, die mit einem zum künstlichen Paradies hergerichteten Floß in die Nähe der einsiedlerischen Hütte gelangt. Ihr gelingt es, Gazellenhorn, der sie gleichfalls für einen Einsiedler hält, zu betören und bei der zweiten Begegnung, den Warnungen des intervenierenden Vaters vor der dämonischen Gefahr zum Trotz, auf ihr Floß zu locken. So kann er zum Königspalast und genauer in dessen Frauengemach gebracht werden. Der versprochene Regen bleibt nicht aus; und nach diesem glücklichen Vorgang kehrt Gazellenhorn mit der ihm inzwischen vermählten Hetäre in seine Einsiedelei zurück. Viele Elemente der späteren okzidentalen Versionen der Einhorn-Semantik sind bereits in dieser fernöstlichen Fassung angelegt: die ungewöhnliche Scheu des einsiedlerischen Tiermenschen, seine göttliche Abkunft, aber auch seine deutlich erotische, Fruchtbarkeit verheißende Valenz. Aus dem chinesisch-japanischen Kulturkreis, der seinerseits mit dieser indischen Legende in Berührung kam, flossen der Überlieferung der Geschichte(n) vom Einhorn weitere Motive zu. Das einhörnige Ch’i-lin zählt dort zusammen mit dem Drachen, dem Phönix und der Schildkröte zu den vier heiligen Wundertieren. »Es kann über Wasser und Land schreiten, geht aber so behutsam, daß es kein Gras und keine Lebewesen zertritt. Schmutziges Wasser genießt es nicht. Seine Stimme ist wie die einer Glokke. Als glückhaftes Tier erscheint es, um die Geburt eines vollkommenen Weisen oder Herrschers anzukündigen.« 2 Das halten noch die weitverbreiteten Bilder von den Lebensspuren des Vollkommenen - gemeint ist Konfuzius - aus dem 18. Jahrhundert fest. Sie zeigen ein Ch’i-lin, das vor der Geburt des außerordentlichen Kindes der werdenden Mutter eine Jade-Urkunde ausspeit, auf der zu lesen steht: »Der Sohn des Bergkristalls wird das zerfallende Reich der Chou fortsetzen und König ohne Königsabzeichen sein.« Anders die aggressivere Variante des Ch’i-lin, des Hsieh-chai: es »besitzt ein spitzes, langes Stirnhorn und hat die Fähigkeit, Gut und Böse zu unterscheiden. Zur Zeit des legendären Kaisers Shun half es bei der Rechtsprechung und war der Schrecken der Schuldigen, weil es sie zu durchbohren drohte.« 3 Der epischen Präsenz des Einhorns im Osten entspricht seine Anwesenheit in zahlreichen Bildern und Reliefs. Und schon hier - etwa auf einem um 3500 v. Chr. entstandenen Spielbrett aus Babylonien, einem auf 2800 zu datierendem Einlegeplättchen aus Mesopotamien oder an den Reliefs der Treppenaufgänge am Apardana-Palast des Darius und des Xerxes um 500 4 - ist ihm als kämpferischer Gegner der Löwe zugesellt: Sinnbild des ewi- 2 Einhorn, S. 39 f. 3 Ebda., S. 38. 208 Jochen Hörisch gen Wechsels von Sommer und Winter, Trockenheit und Regen, Untergang und Wachstum, Stirb und Werde. Daß das Einhorn im Osten seinen Gang durch Erzählungen und Bilddarstellungen antrat, bezeugt auch die erste und gleich äußerst konsequenzenreiche abendländische Quelle: der Reisebericht des griechischen Arztes Ktesias, den es nach der Schlacht bei Kunaxa im Jahre 401 v. Chr. an den Hof des Perserkönigs Artarxerxes II. verschlug. Er ist De Indica überschrieben. Von der Fabulierlust der indischen Legende aber ist in dem nüchternen Bericht des aufgeklärten Arztes nicht viel oder aber fast alles eingegangen. Wo die Legende lustvoll Profanes und Sakrales, Laszives und Asketisches, Narratives und Gelehrtes ineinander verschränkt, rubriziert der griechische Text Gewicht, Größe und Funktion einzelner Körperteile eines Tieres, von dessen wundersamer und in jeder Weise fruchtbarer Kraft hier noch eben eine pharmakologische Restpotenz übrig geblieben ist - Ursprung der weit über einhundert Einhorn-Apotheken, die heute noch allein in Deutschland ihre gesunden Dienste anbieten. Solche Sachlichkeit aber schließt ganz offenbar elementare Irrtümer über Sein und Nichtsein nicht aus, sondern legt sie vielmehr nahe. Daß es das Einhorn gibt, bezeugen fortan Bücher, die eben nicht von geistreichen Erzählern berichten, sondern von nüchternen Empirikern und systematisierenden Philosophen geschrieben wurden. Was Ktesias beschrieb, bestätigt ein weiterer Indienfahrer: Megasthenes, der sich um 300 v. Chr. im Auftrag des syrisch-makedonischen Herrschers Seleukos I. Nikator als Gesandter am Hof des indischen Königs Tschandragupta aufhielt. In seinem vierbändigen Reisebericht über Indien findet sich auch eine Beschreibung des Einhorns (indisch: Kartazonos), die allerdings geeignet wäre, der Geschichte des Tieres, das es nicht gibt, ein frühes Ende zu bereiten. Denn nur allzu offensichtlich ist das dort beschriebene große Tier mit den elefantengleichen ungegliederten Füßen, dem Schweineschwanz und dem gelbbraunen Fell kein Einhorn, sondern ein durchaus unelegantes und unpoetisches Tier: das Rhinoceros. Einer seltsamen List der poetischen Vernunft ist es zu danken, wenn das Einhorn dieser möglichen schlichten Aufklärung seines Rätsels zum Trotz fortexistierte. Sie schlüpfte nämlich in das Gewand des eleganten, suggestiven Arguments und fand in keinem Geringeren als Aristoteles ihren unfreiwilligen Fürsprecher. Eben der Philosoph von unvergleichlicher und wirkungsmächtiger Autorität, der in seiner Poetik als Differenz von Geschichtsschreiber und Dichter festgehalten hatte: »daß es nicht die Aufgabe des Dichters ist zu berichten, was geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte und was möglich wäre nach Angemessenheit oder Notwendigkeit« 5 - gerade eben Aristoteles und somit der Philosoph schlechthin, deduziert die notwendige Existenz des Einhorns, genauer: des Einhornhorns. Gehörnte Tiere überhaupt und solche mit doppelten Hörnern zumal sind nämlich, so der scharfsinnige Denker, schon aus Gründen der Symmetrie in der Regel, Spalthufer. 6 Eine Ausnahme macht nur der indische Esel. Aristoteles hat ganz offenbar Ktesias gelesen und ist gerne bereit, wie dieser das Einhorn zu privilegieren. Denn es bildet eine Klasse für sich, eine Ausnahme-Klasse freilich, welche ihrerseits die Regel bestätigt, die da 4 Einhorn (Fn. 2), S. 25 - 27. 5 Aristoteles: Poetik. Griechisch/ deutsch. Übers. und hrsg. von Manfred Fuhrmann. Bibliogr. erg. Ausg. Stuttgart 1984 (Universal-Bibliothek, Nr. 7828), § 9. 6 The works of Aristoteles: Historia animalium. Repr. 1967, S. 499 b 16. Der Wandel des Einhorns 209 lautet: es gibt eine Symmetrie zwischen Zweihörnigkeit und zweigespaltenem Huf. Subtler argumentiert: ein gespaltener Huf ist durch jenen Mangel an Stoff bedingt, den die doppelten Hörner mit sich bringen; und deshalb, so der Umkehrschluß, können einhufige Tiere, sofern sie überhaupt gehörnt sind, auch nur ein zentrales Horn tragen. 7 Ein Horn allerdings, das in jeder Weise einmalig ist. »Es haben die einhörnigen Tiere das Horn mitten auf dem Kopf. So dürften wohl beide Seiten (der Stirn) das eine Horn in möglichst ausgeprägter Weise besitzen. Die Mitte nämlich ist in gleicher Weise beiden Seiten gemeinsam.« 8 So der große Philosoph der Mitte, der Vermittlung und des Ausgleichs. Er dürfte nicht im entferntesten geahnt haben (wie sollte er auch? ), welche Verwirrung seine deduktive Klärung der Einhörnigkeit später einmal, in Zeiten christlicher Aristoteles-Lektüre, anrichten würde. Hat der Philosoph, dem im Mittelalter eine bibelgleiche Autorität zukam, dem Einhorn doch mit spekulativer Stringenz buchstäblich einen diabolischen Pferdefuß zugedacht ... Doch bis zu dieser Verwirrung seiner Qualitäten hat das Einhorn noch einen weiten Weg zurückzulegen. Seine Wanderungen und Wandlungen führen es, um nur wenige Etappen zu nennen, in die sensationsheischenden Berichte von Cäsar, der das edle Tier für sein eitles Jägerlatein mißbraucht, und dann in die gelehrten Abhandlungen zur Naturgeschichte von Plinius und Aelian sowie in die »Sammlung merkwürdiger Dinge«, mit der Solinus im dritten nachchristlichen Jahrhundert sein Publikum erregt. Unterschieden sind beide Weisen der Diskursproduktion, die gelehrte und die effektheischende, auch dadurch, daß die erstere (siehe das stupende Literaturverzeichnis des Plinius, das noch heute Dissertationen gut anstehen würde) akribisch die Schriften anführt, aus denen sie sich speist, während die zweite verschlingt, was andere geschrieben haben, um auf diese Weise elegant die Differenz von Welt und Buch zu verschlingen und also sich selbst dem lesebzw. weltgierigen Verzehr anzubieten. Die christliche Codierung des Einhorns Der Weg des Einhorns führte aber nicht nur in antik-naturkundliche und dem frühen Jägerlatein verpflichtete Schriften, sondern auch in den Kreis von 70 theologisch, philosophisch und philologisch gelehrten Männern, die im dritten Jahrhundert vor Christus in der bibliomanen Stadt Alexandria zusammensaßen, um auf Geheiß des Ägypterkönigs Ptolomäus II. das (später so genannte) Alte Testament ins Griechische zu übersetzen. Eine Großtat für die Geschichte der (wiederum: später so genannten) abendländischchristlichen Kultur überhaupt und - für das Einhorn, das seitdem (und also lange vor Christi Geburt) der Geschichte des Christentums unlösbar verbunden ist. Diese Verbindung aber stiftete nicht etwa ein subtiler Geist von kulturell-philosophischer Verständnisinnigkeit, sondern eine kleine philologische Inkompetenz. An nicht weniger als acht Stellen des hebräischen Textes nämlich ist von einem durchaus ungeistigen Tier namens »re'em« zu lesen. Das heißt nichts anderes als »Auerochse« oder allgemeiner »wildes 7 De partibus animalium I and De generatione animalium I (with passages from II. 1 - 3). Transl. with notes by David M. Balme. Oxford 1992, S. 663 a 18 ff. 8 Aristoteles (Fn. 7), 24 - 27. 210 Jochen Hörisch Tier«. Doch diese Vokabelkenntnis war den »Septuaginta« offenbar unvertraut. Vertraut aber war ihnen, den alexandrinisch Gebildeten, ebenso offenkundig die gelehrte Literatur. Und so übersetzten sie das schöne hebräische Wort für das unschöne Tier mit dem gleichermaßen wohlklingendem wie Beeindruckendes bezeichnendem griechischem Wort »monoceros« (Einhorn). Also kam das Einhorn durch einen schieren Übersetzungsfehler in die Bibel. Ein Übersetzungsfehler, der sich fortschrieb. Denn der heilige Hieronymos, der in den Jahren um 383 nach Christus die griechische Bibel ins Lateinische übersetzte, verwirrte die philologisch unübersichtliche Lage noch mehr und schaffte damit sofort erneuten Interpretationsbedarf, als er mit gleich drei Äquivalenten aufwartete: er latinisierte (wie andere schon vor ihm) einfach das griechische Wort »monoceros« (Psalm 92, 11), er brachte das aus der gelehrten Tradition vertraute »unicornis« (Psalm 22, 22 bzw. Vulgata 21, 22; Je- Abb. 2: Einhorn, aus: Thierbuch Alberti Magni (um 1545). Der Wandel des Einhorns 211 saja 34, 7), und er scheute auch vor dem profanen Wort »rhinoceros‹« nicht zurück (4. Mose 23, 22 und 4. Mose 24, 8; 5. Mose 33, 17; Psalm 29, 6). Doch damit nicht genug der Schwierigkeiten. Schwerer als die philologische Nicht- Feststellbarkeit des Tieres, das es damals so wenig gab, wie es das Wissen über dieses Nichtgegebensein gab, wog und wiegt bis heute sicherlich der Umstand, daß das re'em/ monoceros/ unicornis/ rhinoceros/ Einhorn selbst in der einen Bibel den unterschiedlichsten, ja widersprüchlichsten Kontexten entspringt. Bebildert es doch den Segen wie die äußerste Bedrohung. »Gott hat sie aus Egypten gefüret / seine freidigkeit ist wie eins Einhorns«, heißt es nach Luthers Übersetzung im Segen des Bileam (4. Mose 23, 22). Und der Herr, der dies großartig vollbracht hat, wird, da er kraftvoll ist wie das Horn des Einhorns, die seinem auserwählten Volk feindlichen Stämme »stossen zu hauff / bis an des Lands ende« (5. Mose 33, 17). Da mag es noch eben angehen, wenn Gott, der dermaßen mit dem Einhorn verglichen ward, Hiob die Frage stellt: »Meinstu das Einhorn werde dir dienen / vnd werde bleiben an deiner krippen? « Denn dem Alten Testament ist der unberechenbare Gott, der so wenig menschlichen Vorstellungen sich fügt, wie das Einhorn sich nicht zum Haustier domestizieren läßt, mindestens ebenso plausibel die der gütige. In sich widersprüchlich ist dieser Gott gewiß - so wie das Tier, mit dem er bevorzugt verglichen wird. Theologisch kaum mehr sinnvoll zu verarbeiten aber ist der ungeheure Psalm 22 (bzw. Vulgata 21), der im gekreuzigten Christus seinen verzweifeltsten Sänger fand. »Mein Gott / mein Gott / warum hastu mich verlassen? « fragt der Gottessohn seinen Vater, um ihn, dessen Kraft und Freudigkeit zuvor wiederholt mit der des Einhorns verglichen ward (5. Mose 33, 17), dann anzuflehen: »Hilff mir aus dem Rachen des Lewen / Vnd errette mich von den Einhörnern.« Ob ein schriftkundiger Sohn hier, metaphorisch nur ein wenig verrätselt, keinen anderen als den Vater bittet, vor und von dem Vater errettet zu werden? Wie immer auch dieser Psalm zu lesen und zu singen sei: skandalös ist er, und hochparadox ist zumal seine Synopse mit anderen Bibelstellen, die vom Einhorn handeln. In seiner negativen Eindeutigkeit kaum interpretationsbedürftig ist hingegen die schreckliche Drohung gegen die Heiden, die Jesajas Weissagung über die Zerstörung Edoms ausspricht: »Da werden die Einhörner sampt jnen erunter müssen / vnd die Farren sampt den gemesteten Ochsen / Denn jr Land wird truncken werden von blut und jr Erden dick werden von fettem« (Jes. 32, 7). Sofern es überhaupt legitim ist, in geistlichen Dingen Statistik zu betreiben, ergibt sich also ein seltsamer Befund. Von den acht Einhorn-Erwähnungen des Alten Testamentes zählen, da 4. Mose 24, 8 schlicht ein Double von 23, 22 ist, nur sieben. Davon bezeichnen, nein: feiern vier Gottes Herrlichkeit, Kraft und Freudigkeit (4. Mose, 5. Mose, Psalm 29, Psalm 92), zwei weitere aber beschwören in strikter Umkehrung nichts anderes als die Gefahr, die von seinen heidnischen Gegnern ausgeht (der überaus prominente Psalm 22 und Jesaja 32, 7). Zumindest ambivalent muß schließlich die siebte Erwähnung des Einhorns in den göttlichen Fragen an Hiob heißen. Andere Relationen, andere Verteilungen göttlicher, heidnischer und insgesamt semantischer Kräfte ergeben sich natürlich, wenn das re’em nicht durchweg mit »monoceros« oder »unicornis« übersetzt wird, wenn es gar, wie nach dem zweiten vatikanischen »Konzil der Buchhalter« 9 oder nach endlosen aufgeklärt-philologischen Revisionen der 9 Vgl. dazu Lorenzer, Alfred: Das Konzil der Buchhalter. Die Zerstörung der Sinnlichkeit. Eine Religionskritik. Frankfurt a.M. 1992. 212 Jochen Hörisch Lutherbibel ganz aus der Heiligen Schrift vertrieben wird, wenn durch elegante Manipulation ein weiteres (deutlich negatives) Einhorn in die Bibel geschmuggelt wird (so phantasierte Hieronymos in Psalm 37, 20 noch einen »ut monocerotes«-Vergleich hinzu, wo im griechischen Text keiner zu finden war: »die Feinde des Herrn werden umkommen (wie die Einhörner)« oder wenn man das einzige textlich real existierende unter den einhörnigen Tieren der Bibel, den »Ziegenbock« nämlich mit dem »ansehelichen Horn zwischen seinen Augen« aus Daniels Vision über die Burg Susa (Daniel 8, 5) mitrechnet. Wie immer auch diese Rechnung im einzelnen sich präsentieren mag - elementare Inkonsistenzen sind unübersehbar. Und das heißt: ohne die Widersprüche, die seinen philosophisch-theologisch-gelehrt-poetischen Weg begleiten, ist das Einhorn nicht zu haben. Wer ihm begegnet, muß der Möglichkeit gewahr sein, daß der Gläubige und der Heide, der Teufel und der liebe Gott, die Verdammung und die Verheißung, das Laszive und das Keusche, das Starke und das Zärtliche, das tief Bedeutende sind das archaisch Ausdruckslose, das Sein und das Nichtsein dem Einhorn zugehören. Wer sich auf das Einhorn einläßt, kann die Erfahrung machen, daß diese die Seiten dieser Widerspruchspaare mehr mit dem jeweils anderen ihrer selbst gemein haben, als dem ordentlichen Verstand lieb sein mag. Festgeschrieben aber haben diese Widersprüchlichkeiten eben jene Bücher (bzw. ihre verständigen Übersetzer), die antraten, Ordnungen im Denken und Glauben zu stiften. Vom »paradoxen Doppelwesen« des Einhorns und anderer alchemistischer Paradigmata zu sprechen, wie C. G. Jung es tut 10 , ist sicherlich angemessen. Solchen Widerspruch dann aber sogleich mit einem neuen Integral namens archetypischen »Ahnungen vom paradoxen Wesen des Unbewußten« beikommen zu wollen, ist eine noch zu harmlose Wendung des Theoretikers, der damit nur eine neue konsistentere Ordnung stiften will. Widersprüche, sofern sie binär organisiert sind, gehören nämlich Ordnungssystemen selbst zu. Zu denken aber gibt das vielfältige Einhorn nicht nur einen ordentlichen Widerspruch, sondern gar irreduzible Vielheiten. Vielheiten zudem, die weniger durch eine etwaige Widerspruchslust des Geistes als vielmehr durch die träge Dummheit des Buchstabens bedingt sind. »Le signifiant est bête«. 11 Der Signifikant sei blöde (wie ein Tier), so heißt es wiederholt bei dem französischen Psychoanalytiker Lacan. Und auch das geistreichste Tier, das Einhorn eben, ist von blöden Signifikanten umstellt, die mit ihm das dumme Spiel ihrer schwerfälligen Materialität treiben. Die Materialität der Signifikanten »monoceros« und »unicornis«, die durch mangelnde Geistespräsenz und also durch einen dummen Übersetzungsfehler in die Bibel gerieten, bestimmt aber fortan auch über das geistige und geistliche Schicksal des »unicornis spiritualis«, des geistlichen Einhorns. Was schwarz auf weiß geschrieben steht, steht schwarz auf weiß geschrieben, und kann nicht einfach wieder getilgt werden. Auch dann nicht, wenn es ein Fehler ist. Was schwarz auf weiß geschrieben steht, steht geschrieben und kann kaum mehr getilgt werden. Wohl aber interpretiert. Was ab und an fast so gut wie getilgt ist. 12 Mit den 10 Jung, Carl Gustav: Psychologie und Alchemie. 7. Aufl. Zürich [u.a.] 1994, S. 494. 11 Lacan, Jacques: Encore. Le séminaire XX. Paris 1975, S. 16 ff. Ders.: Les Psychoses. Le séminaire III. Paris 1981, S. 171: »Qu’ est-ce que veut dire le signifiant primordial? Il est clair, très exactement, ca ne veut rien dire.« Und zum Problem der Übersetzung von Lacans Wendung Prasse, J.: Der blöde Signifikant und die Schrift. In: Der Wunderblock 10 (1983), S. 37 - 49. 12 Vgl. Hörisch, Jochen: Literaturwissenschaft als Medium der Verkennung von Literatur. In: G. Stötzel (Hrsg.): Germanistik. Forschungsstand und Perspektiven, Bd. 2. Berlin, New York 1985, S. 451 - 456. Der Wandel des Einhorns 213 indischen Legenden-Motiven, den griechischen Reiseberichten, ihren philosophisch gelehrten Folgen und den biblischen Übersetzungsfehlern liegt bereits ein breites unicornologisches Material vor, dessen kombinatorische Möglichkeiten enorm und dessen träge Buchstäblichkeiten kaum mehr zu bändigen sind. Solche Widerspenstigkeit muß geradwegs Versuche einer synthetisierenden und interpretierenden Domestizierung von Diskursen hervorrufen, weil diese andernfalls ihren Buchstabensinn zu erfüllen drohen: entbunden zu dis-currieren, auseinanderzulaufen. Was dem widersprüchlichen, vielfältigen, disseminierten Einhorn nottut, ist somit ein »transzendentales Signifikat«. 13 Ein Sinnzentrum bzw. ein Zentralsinn, der seine signifikante Materialität, der seine verwirrende Buchstabenfülle, der seine pagan-gläubige, lasziv-keusche und wild-kultivierte Potenz domestiziert. Zum Haustier (nicht nur früh-) christlicher Kultur hat das entbundene und schöne Tier eine kleine Schrift machen wollen, deren Wirkungsmächtigkeit kaum zu überschätzen ist: der Physiologus. Das heißt nichts anderes als »der Naturkundige«. Hinter diesem Attribut wurde von verklärungswilliger Seite als Autor gar Aristoteles vermutet. Der aber lebte nicht um 200 nach Christus, in welcher Zeit der Physiologus entstanden ist, sondern ein halbes Jahrtausend früher, und so konnte er auch kaum Teile des Neuen Testamentes lesen. Dieses nämlich ist durchweg die Sinnfolie, auf der der Naturkundige sein pflanzliches und tierisches Wissen ausbreitet. Ob Löwe oder Sirene, ob Walfisch oder Phönix, ob Igel oder eben Einhorn angeführt werden - stets folgt der anonyme Autor ein und demselben Schreibschema. Eingeleitet wird die naturkundige Beschreibung des fraglichen Tieres zumeist mit einem Bibelspruch: »Und wird erhöhet werden, sagt der Psalmist, mein Horn wie das des Einhorns.« Folgt der biologisch-präzise Teil, der ausgedehnte Lektüre wissenschaftlicher Schriften vermuten läßt. Abgeschlossen wird die Darstellung schließlich regelmäßig mit einem theologiegesättigten fabula-docet. »Dies nun« - der naturkundlich beglaubigte Umstand nämlich, daß das Einhorn in den Schoß reiner Jungfrauen zu springen pflegt - »wird übertragen auf das Bildnis unseres Heilands.« Und natürlich dürfen dann auch wieder biblische Parallelstellen nicht fehlen. In diesem Fall die hochprominenten Passagen Lukas 1, 69: Gott der Herr »hat vns auffgericht ein Horn des Heils / Jn dem hause seines dieners Dauid«, sowie Johannes 1, 14: »Vnd das Wort ward Fleisch / vnd wonet vnter vns.« Gewichtigere theologische Nobilitierung könnte dem Einhorn nicht zuteil werden. Das Tier, das in den Schoß der schön ausstaffierten, dennoch aber reinen Jungfrau springt, allegorisiert nichts geringeres als das Kernstück christlichen Glaubens, die Menschwerdung des Gottessohns im Schoße Marias. Das Einhorn wird fast so wichtig wie das christliche Zentralsakrament der Eucharistie. Es erhält quasi-sakramentalen Charakter. So als sei der Physiologus selbst über diese allzu hohe Etablierung des Einhorns erschrocken, nimmt er seine Heilsbedeutung insofern zurück, als seinem Horn erst einmal heilende Wirkung in diesem Leben hier zugesprochen wird. Dies geschieht mit einer schönen rhetorischen Überleitungsfigur. »Ist ein einhörniges Tier, und so wird’s auch geheißen.« (Physiologus, 22, S. 21) Das Einhorn ist, was es heißt und heißt so, wie es ist. In ihm kommen verbum und res zur vollendeten Deckung. Es ist wie das Abendmahl 14 von onto-semiologischer (also die Korrespondenz von Sein und Sinn bezeugender) Qualität. 13 Derrida, Jacques: Die Schrift und die Differenz. 6. Aufl. Frankfurt a.M. 1994, S. 424. 14 Vgl. dazu Hörisch, Jochen: Brot und Wein - Die Poesie des Abendmahls. Frankfurt a.M. 1992. 214 Jochen Hörisch Auf diese Feier der Einhorn-Bedeutsamkeit folgt die Beschreibung seiner pharmakologischen Effizienz, auf die sich Hunderte von Einhorn-Apotheken nicht nur in Deutschland heute noch berufen: »Aber in jenen Gegenden ist ein großer See, und da sammeln sich die wilden Tiere um zu trinken. / Ehe jedoch die Tiere versammelt sind, kriecht die Schlange heran und speit ihr Gift in das Wasser. Die Tiere nun spüren das Gift und wagen nicht zu trinken; und da warten sie auf das Einhorn, und das kommt, und stracks geht es in das Wasser und schlägt mit dem Horn ein Kreuz, und damit macht es die Kraft des Giftes zunichte, und da es von dem Wasser trinkt, trinken auch all jene anderen Tiere.« So nah liegen Heils- und Heilungsversprechen beieinander. Das Kreuzeszeichen, das das Einhorn mit seinem Horn schägt, ist das beste Antidot gegen alle satanischen Vergiftungen. Das Einhorn bewährt, so die plausible Konstruktion, sein göttliches Heilsversprechen schon hienieden, indem es, der bösen Gifte Gegengift, Heilung spendet, so wie Christus selbst es getan hat. Ein Analogiezauber von ebenso großer Suggestivität und Eleganz wie Gewaltsamkeit und Abenteuerlichkeit; ein Integral, das die zuvor discurrierenden legendarischen, naturwissenschaftlichen, poetischen, reiseberichtenden und biblischen Texte von einem Zentralsinn her zusammenzubinden verspricht. Ein gefährdetes Integral aber auch. Denn nur um den Preis irritierender Gewaltsamkeit scheint die Zähmung des widerspenstigen Tieres nunmehr gelungen: aus dem scheuen Tier wird das kommunikative, das Kommunionssymbol schlechthin, aus dem deutlich phallische Züge tragenden Fruchtbarkeitsgaranten wird die Allegorie göttlicher Caritas, aus dem aggressiven Bedroher wird der Heilsspender - »les extrêmes se touchent«, wieder einmal. Gefährdungen also sind auch diesem hochwirksamen Text immanent, der sich bis ins Spätmittelalter in zahlreichen Sprachen und Varianten von Gelehrtenstube zu Kloster und von Klosterbibliothek zu weltlichen Büchersammlungen fortschrieb. Gefährdungen nimmt zumal der in Kauf, der allegorisierend so hoch reizt und dabei nicht bedenkt, ja kaum bedenken kann, daß er sein Sach buchstäblich auf nichts anderes als auf Buchstaben gestellt haben könnte. Wenn nämlich die Existenz des Einhorns das Sein göttlicher Bedeutsamkeit wie auch die Bedeutsamkeit des Seins gleichsam eucharistisch sinnfällig macht, dann ist eben die Diskussion um Sein oder Nichtsein des Einhorns kein bloß gelehrt-naturkundliches Scharmützel. Einer christlichen Kultur, die den Typus des säkularisiert indifferenten Menschen von gleichschwebender Neugier mitsamt komplementärer Abschaltfähigkeit noch nicht kannte, war die Nichtexistenz des Einhorns so schwer zu vermitteln wie die Entdeckungen des Galilei. Viele Epochen, Zeiten und Neuordnungen des Verhältnisses von Worten und Sachen 15 müssen stattgehabt haben, bis es gar auch umgekehrt möglich sein wird, »das Dasein Gottes so kaltblütig und kaltherzig zu erwägen, als ob vom Dasein des Kraken und Einhorns die Rede wäre«. So der Vorbericht Jean Pauls von 1796 zur Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei. 15 Vgl. Foucault, Michel: Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines. [Paris] 1966 (Collection tel, Bd. 166). - In dieser grundlegenden und grundstürzenden Schrift werden die elementaren Annahmen dreier historisch wichtiger Zeichenordnungen analysiert. Der Wandel des Einhorns 215 Die Hochzeit des Einhorns Daß ein Gott sei, daß zudem ein Gott sei, der sich in seinem Sohn und im Schoß einer Jungfrau vermenschlicht, ist das Versprechen, für das das Einhorn, sit venia verbo, seit dem Physiologus realallegorisch einsteht. Eine mächtige patristische und scholastische Exegetik wird fortan dafür sorgen, daß dieses Versprechen kein Versprecher wird. Die patristisch-scholastischen Deutungen des Einhorns knüpfen nicht nur an die Bibelstellen, sondern zumeist ebenso an den doch Einheit stiften wollenden Physiologus an. Zwei Texte aber sind zwei Texte, und sie werden nicht weniger, wenn sie interpretiert und exegetisiert werden. Einige der mittelalterlichen Exegesen bringen den Naturkundigen denn auch gleich in Mißkredit. Beweist nämlich aufmerksame Lektüre nicht, daß auch das fromme kleine Einhorn, das einem »Zicklein ähnelt«, einen Pferdefuß hat? Und zwar den Pferdefuß, in der frühsten Form christlicher Häresie, der Gnosis, seinen Entstehungs-Kontext zu finden. Die Physiologus-Passage, in der es heißt: »Nicht vermochten die Engelsgewalten ihn (unseren Heiland) zu bewältigen, sondern er ging ein in den Leib der wahrhaftig und immerdar jungfräulichen Maria« korrespondiert nämlich geradezu verdächtig der gnostischen Annahme, nicht Gott selbst, sondern die von ihm erschaffenen Engel oder ein Demiurg hätten ihrerseits die Welt in all ihrer gottfernen Materialität und Schlechtigkeit geschaffen. So gerät der fromme Physiologus mitunter gar auf den Index. Als »liber ab hereticis conscriptus« führt eine im sechsten Jahrhundert in Südfrankreich entstandene Schrift den Physiologus auf. Nach Kräften rezipiert wurde der Physiologus im Mittelalter dennoch und vielleicht eben gerade wegen dieser und anderer latenter Anrüchigkeiten. Im Physiologus der häretischen Waldenser (um 1200 verunsicherten sie nicht nur Oberitalien) ist diese diabolische Anrüchigkeit in aller wünschenswerten Deutlichkeit ausgesprochen. Ihm gilt das Einhorn zweifelsfrei als Bild des Teufels - und die Begründung ist frappant: »gleich dem Einhorn kann auch der Teufel nur durch den Geruch der Jungfräulichkeit, durch Tugend und gute Werke gefesselt werden«. 16 Wo bleibt da die differentia specifica zum Heiland? Allerdings entfaltete sich eine Deutungskombinatorik, die allen »katholisch«-umfassenden Ansprüchen Hohn spricht, 17 schon bei den Autoren, die nur auf die biblischen Stellen rekurrierten. Denn diese sind, wie bereits die frühe Lektüre bemerkt, in sich zweispältig: »Man hat beobachtet, daß die Schrift das Bild des Einhorns in zweifacher Weise verwendet: einmal im guten, ein andermal im schlechten Sinn«, heißt es philologisch abgeklärt schon früh in der Predigt des großen Bischofs Basilius von Caesarea (ca. 330 - 379) über den 28. (Vulgatazählung) bzw. 29. Psalm. 18 So sachlich verfahren nicht alle frühen Bibelexegeten. Die meisten sind Feuer und Flamme für jeweils eine Seite der guten oder schlechten Alternative. Das gängigste unter den »guten« Interpretationsschemata versteht das Einhorn als Symbol Christi. Dafür entscheidet sich auch der ambivalenzbewußte Basilius selbst: »Christus autem Dei virtus est; ideo unicornis appellatus est, tanquam qui unum habeat cornu, id est, unam cum Patre communem potentiam.« 19 So beglaubigt das eine Horn des 16 So faßt F. Lauchert (Geschichte des Physiologus. Straßburg 1989, S. 153) die Pointe zusammen. 17 Vgl. zum Folgenden die Aufstellungen und Ausführungen bei H. Brandenburg, Sp. 847 ff. und L. Wehrhahn-Stauch, Sp. 1511 ff. 18 Migne: Patrologia series graeca, [künftig zit.: PG] Bd. 29, Sp. 296. 216 Jochen Hörisch Einhorns auch die Einheit und die einheitliche Macht von göttlichem Vater und gottmenschlichem Sohn. Das stimmt weitgehend mit der Lehre überein, die schon der allegoriebesessene und auf dem fünften ökumenischen Konzil in Konstantinopel von 553 verurteilte Origines (ca. 185 - 253) vorgetragen hatte: »wir begegnen diesem Tier häufig in den göttlichen Schriften« und zwar zumeist an den Stellen, »in quibus [...] Christus intelligitur designari«. 20 Einmal etabliert und vom Physiologus überdies suggestiv illustriert, werden spätere Exegeten nicht müde, diesem Deutungsschema noch weitere Argumente beizubringen. Und sie schrecken dabei auch vor hübschen Spitzfindigkeiten nicht zurück. Als da etwa sind: »Hörner haben einzig die Tiere, von denen gesagt wird, daß sie uns erzittern machen (animalia ventilare dicuntur). Der Mensch aber hat keine Hörner: wie kann er [dem doch die Erde untertan sein soll, J. H.] dann erzittern machen? [...] Unser Horn bist du, Herr Jesus«, 21 so der heilige Ambrosius (ca. 340 - 397), der als Mailänder Bischof die Arianer, die Heiden und auch den Kaiser Theodosios, den er zum Kirchenbuße nötigte, im Namen Christi erzittern machte. Ambrosius ist auch ein Wortspiel zu danken, das James Joyce und Arno Schmidt alle Ehre machen würde, das aber durchaus ernst gemeint ist. Führt es doch ein semantisches Indiz dafür an, daß die Gleichsetzung von Christus und Einhorn gerechtfertigt ist. Danach kann es kein Zufall sein, daß das unicornis, das heißt, wie es ist, und Christus fast ähnlich heißen: unicornis/ unigenitus, der eingeborene Sohn. Nach der Feier dieses sinnreichen Fast-Gleichklangs folgt dann sofort die Apologie zentral-einheitlichen Sinns überhaupt. »Verbum Dei unum est, non multa verba« 22 , heißt es im Liber de benedictionibus Patriarchorum ausgerechnet an jener Stelle, die sich von schierer Lust an vielsinnigen Homophonien treiben läßt - primogenitus, unigenitus, unicornis, unum verbum ist die Buchstabenkete, die dem frommen Delirium als roter Faden dient. Kaum weniger delirant, wenn auch eher auf den inneren Schoß der Jungfrau als auf Buchstabenfolgen fixiert, sind die Einhorn-Deutungen des Honorius Augustodunensis (um 1120 in seiner Weihnachtspredigt über die Geburt Christi) und seines Pariser Zeitgenossen Hugo von St. Viktor. Beide erfreuen sich mit folgender identischer Wendung geistlich des Umstands, daß »in uterum virginis« 23 wie das Einhorn so auch der Gottessohn heimisch ist. »Sic et Dominus Jesus Christus spiritualis unicornis descendens in uterum virginis.« So Hugo von St. Viktor in enger und eingestandener Anlehnung an den Physiologus. Christus ein spiritualis unicornis, ein geistliches, ein spirituelles Einhorn. Eine Formulierung, die geradezu danach schreit, daß ihre nichtspirituelle, nämlich fleischlich erotische Differenz ausdrücklich bestimmt werde, die in den vorgenannten Formulierungen nur und doch kaum mehr verhohlen mitpräsent ist. Die frechen Vaganten-Lieder der Carmina burana geben denn auch dreist alle spirituellen Bemühungen um das Verständ- 19 PG (Fn. 18), Bd. 29, Sp. 298. 20 PG (Fn. 18), Bd. 12, Sp. 695. 21 Corpus scriptorum ecclesiasticorum, Bd. 64, 272 f. 22 Migne: Patrologia series latina (künftig zit.: PL) Bd. 14, Sp. 725. Bei Wehrhahn-Stauch (Fn. 17), Sp. 1511 wird fälschlich auf PL 14, 1099 verwiesen. 23 PL (Fn. 22), Bd. 172, Sp. 819 und PL, Bd. 177, Sp. 59. Der Wandel des Einhorns 217 nis des keuschen Einhorns dem Gelächter preis: »selbst das Einhorn, mit der Zeit / ruhts in Mädchenarmen«. Doch bevor das Einhorn vollends säkularisiert und vorbehaltlos erotisiert sein wird - was in diesem Fall ein und dieselbe Entwicklung ist -, bevor also aus der heiligen Jungfrau ein zärtlichkeitsbedürftiges Mädchen und aus dem spiritualis unicornis (wieder) ein Phallus geworden ist, hat das Einhorn noch einige Wanderungen und Wandlungen hinter sich zu bringen. An ein einziges und einigendes Wort, ans unum verbum aber ist es umso weniger zu binden, je mehr Worte über das sprachlose (in einigen Varianten freilich hochmusikalische, mit orphischen Assoziationen versehene) Tier ergehen. Viele Worte und eben kein unum verbum. Schon der Deutung der Einhorngeschichte auf die Menschwerdung Christi in uterum virginis widersprechen diejenigen, denen die pagane Herkunft des Tieres, sein Pferdefuß und sein gutes Verhältnis zu Frauen nie recht geheuer waren. Diese Exegeten setzen auf Psalm 21, 22 und Hiob 39, 9 und können Augustinus zu den ihren zählen, wenn sie das Einhorn als Inkarnation des Bösen in all seinen Schattierungen begreifen: als Symbol der Stolzen, die sich über das Wort Gottes erheben, statt von ihm sich bannen zu lassen; der Juden, die einen Monotheismus vertreten, der zum Pseudomonotheismus der christlichen Dreifaltigkeitstheologie in peinlicher Konkurrenz steht; derjenigen Häretiker, die nur an ein (sei’s das Alte, wie wiederum die Juden, sei’s das Neue) Testament glauben; und schließlich gar als Symbol des planen Widerspruchs Gottes und Christi, des Teufels: »sed ipse diabolus merito rhinoceros vel unicornis dicitur«, heißt es bei Petrus Capuanus dem Jüngeren (gest. 1242). 24 Einem Papst und keinem geringeren als Gregor dem Großen aber blieb es vorbehalten, das Einhorn mit dem teuflischen »Fürsten dieser Welt« (Johannes 12, 31) in Beziehung, ja gleichzusetzen. »Terrenus princeps = rhinoceros« 25 heißt es schlicht in den Moralia in Job, der Abhandlung über Moralprobleme im Buch Hiob, wobei Gregor unter rhinoceros eindeutig das Einhorn versteht. Wenn das Einhorn aber mit dem »Fürsten dieser Welt« identifiziert wird, so erscheint es als eine Matamorphose des Leviathan, des Ungeheuers und Chaosdrachens, der das Alte Testament durchzieht (Psalm 74, 14; 104, 26; Jesaja 27, 1) und in Hiob 3, 8 sowie in den Kapiteln 40 und 41 in göttlichen Fragen, die schon rhetorisch dem vorherigen Einhorn-Vergleich (38, 9 - 12) entsprechen, ausdrücklich als schrecklich-weltlicher Widerpart Gottes gekennzeichnet wird. Da schickt es sich gut und hintersinnig, wenn an die Formulierung des Johannes-Evangeliums (12, 31) 26 gleich eine Wendung anschließt, die unschwer aufs Einhorn beziehbar und tatsächlich auch immer wieder bezogen worden ist. Jesus spricht dort: »Jtzt geht das Gerichte vber die Welt / Nu wird der Fürst dieser Welt ausgestossen werden. Vnd ich / wenn ich erhöhet werde [Anspielung, ja direktes Zitat aus Psalm 92, 11: Und wird erhöht werden mein Horn wie das eins Einhorns, J. H.] / von der erden / so wil ich sie alle mit mir ziehen.« Dichter als in diesen beiden Versen und dem Assoziationsgeflecht, das sie mit sich füh- 24 Zitiert bei Pitra: Spicilegium 3, S. 57. 25 PL (Fn. 22), Bd. 76, Sp. 571 f. und 574. 26 Luthers Lied Ein feste Burg ist unser Gott hat die Wendung vom Teufel als dem »Fürsten dieser Welt« in breiten Gemeindekreisen kurrent gemachtdie Tradition politischer Theologie von Hobbes’ Leviathan bis zu Carl Schmitt hat sie auch unter den Gebildeten nicht berüchtigt werden lassen. Vgl. zum Kontext und zu den nicht nur theoretischen Folgen des Problems Taubes, J. (Hrsg.): Der Fürst dieser Welt. Carl Schmitt und die Folgen. München [u.a.] 1983. 218 Jochen Hörisch ren, könnten die positive/ christologische wie die negative/ diabolische Valenz des Einhorns nicht beisammenstehen. Eben der Christus, der so häufig mit dem Einhorn verglichen ward, wird also dem Fürsten dieser Welt, der gleichermaßen mit dem Einhorn verglichen ward, entgegengestellt. Dann aber haben der Teufel und der Gottessohn zumindest ein tertium comparationis - im Einhorn. Eine späte Physiologus-Handschrift (aus dem 11. Jahrhundert), der nicht ganz unmotiviert, aber dennoch fälschlich der für Ambivalenzen sensible Basilius als Autor unterschoben wurde, spricht diese theologische Ungeheuerlichkeit denn auch unverhohlen aus. Er erzählt übrigens zusätzlich eine halbneue, weil synkretistische (vgl. Cäsar und Solinus) Geschichte von der Freundschaft zwischen Elefant und Einhorn. Der Elefant hat, wie Cäsars Jagdlatein-unicornis, keine Gelenke und bedarf also, um auszuruhen, der Bäume, an die er sich lehnen kann. Darum müssen die Jäger, die dem Elefanten nachstellen, zuerst die unterstützenden Bäume ansägen und dem brüllend-hilflosen Koloß schnell die wertvollen Elfenbeinzähne brechen. Denn sonst kommt das Einhorn und vernichtet die Jäger. Insofern ist es dem Menschen so bedrohlich wie der Teufel. Sofern es aber ab und an zur rechten Zeit kommt, um seinem Freund auf die schweren Beine zu helfen, gleicht es Christus, der den kreatürlichen »gefallenen und ehrbarmungswürdigen Menschen als unser König des Heils wieder aufrichtet«. 27 Zwei Seelen wohnen nicht bloß in der Brust des Menschen, sondern auch in der des Einhorns. Wenn aber zwei miteinander streiten, dann tun sie bekanntermaßen dasselbe: sie streiten miteinander. »Das Tun des Einen ist das Tun des Anderen« 28 , und das Tun des Einhorns ist das Tun des Paradoxen. Denn dies ist die Funktion, in die - jenseits des Willens der Kommentatoren - die vielen kontroversen Einhörner das Phantasma des Einhorns schlechthin treiben: Paradoxien und Ambivalenzerfahrungen zu codieren. Erfahrungen wie die, daß Gott nicht bloß gut und strafend, sondern als strafender gut sein kann; daß keine Allmacht so weit reicht, eine Macht zu schaffen, die größer ist als sie selbst; daß das Schreckliche schön und das Schöne schrecklich sein kann; daß der Gottessohn stirbt und dennoch an der Macht seines unsterblichen Vaters teilhat, der ihn verlassen hat; daß die Eucharistie Gott ehrt, indem sie ihn verzehrt; daß Zeit vergeht und doch nicht weniger wird; daß die Kirche im Namen des Gottes spricht, dessen Reich nicht von dieser Welt ist, und dabei selbst alles daran setzt, der terrenus princeps zu werden - diese und ähnliche Erfahrungen von Paradoxien und Ambivalenzen sind außerordentlich schwer zu verarbeiten. Das Einhorn ist mehr als eine kulturhistorische Kuriosität, weil an ihm solche Paradoxien wenn nicht verarbeitet, so doch immerhin versuchsweise und stellvertretend benannt werden. Das Einhorn nämlich ist nicht nur theologisch, sondern auf vielen Ebenen einer Semantik der Oppositionen verpflichtet. Es gilt, um die Liste seiner gängigen mittelalterlichen Exegesen wenn nicht zu vervollständigen (das dürfte kaum möglich sein), so doch zumindest anzudeuten, als Symbol des Kreuzes (etwa in Justinus’ feinsinnigem Dialog mit dem Juden Tryphon) und somit der Erlösung und der Bedrohung zugleich. Welch letztere Komponente in der Parabel von dem rettungs- und hoffnungslosen, weil gottfernen Mann, der vor einem rasenden und schrecklich brüllenden Einhorn flieht und dabei in einen Abgrund stürzt, wo neue Heillosigkeiten seiner harren, ihren auch volkslitera- 27 Vgl. Sbordone, F.: I bestiare le rime amoroso del secolo XIII. Neapel 1943, S. XXXI ff. 28 Hegel, G.W.F.: Phänomenologie des Geistes, Bd. 3. Frankfurt a.M. 1970, S. 146; vgl. auch Stierlin, H.: Das Tun des Einen ist das Tun des Anderen. Eine Dynamik menschlicher Beziehungen. Frankfurt a.M. 1976. Der Wandel des Einhorns 219 risch wirkungsmächtigen Ausdruck findet. Sie steht im Zentrum des frommen Bekehrungstextes Barlaam und Josaphat, den Johannes Damescenus um 700 nach indischen Vorbildern verfaßte. Eine der raren Dichtungen übrigens, die abendländisch-orientalische Literaturbeziehungen schon im frühen Mittelalter zweifelsfrei dokumentieren. Das Einhorn gilt zudem als Sinnbild für die Patriarchen und Propheten, die aus dem festen Glauben an den Einen Gott ihre Stärke ziehen, aber eben auch, wie oben bereits dargelegt, als Sinnbild der Überheblichen und Stolzen, der sophistischen Häretiker und der unkultivierten Wilden. Da liegt auch der Vergleich nicht fern, zu dem Gregor sich entschließt: der wilde Christenverfolger Saulus, der zum frommen Paulus sich bekehrte, findet im wilden Tier, das zum milden Marienanbeter wird, eine ebenso elegante wie ambivalenzbetonte Entsprechung. 29 Und das symbolträchtige Tier gilt schließlich als das »animal castissimum«: »Das Einhorn ist nämlich das keuscheste unter allen Tieren. Denn es kann von niemandem als von wahrhaften Jungfrauen gefangen werden, zu denen es kommt, um dann sein Haupt in ihren Schoß zu legen und einzuschlafen« 30 , schreibt der englische Benediktiner Beda Venerabilis. Ganz offenbar betreibt seine superlativische Formulierung wissenschaftlichen Abwehrzauber gegenüber erotisierenden Einhorn-Deutungen und macht doch alles noch viel schlimmer - durch die Pluralformulierung von den vielen Jungfrauen nämlich, zu denen das Einhorn sich gesellt. Mit einer Jungfrau geben sich die erotischen Einhorndarstellungen denn auch selten zufrieden. Eine der berühmtesten und laszivsten schmückt ausgerechnet die Decke des päpstlichen Schlafgemachs in der Engelsburg bei Rom 31 , die der »Kardinal von Unterrocks Gnaden«, wie das römische Volk den späteren Papst Paul III. nannte, weil seine Schwester »La Bella« die Mätresse seines päpstlichen Vorgängers war, in besten Renaissancezeiten, von 1543 bis 1548, an altkaiserlicher Gräberstätte neu erbauen ließ. Mit Mephistopheles können diese Bewunderer des Einhorns feststellen: »Ich sage Fraun; denn ein für allemal / denk’ ich die Schönen im Plural.« 32 Kurzum: das Einhorn ist ohne die Paradoxien, die es verrätselt, nicht zu haben. Und es wird wohl eben wegen dieser Fähigkeit, Ambivalenzerfahrungen zum unschuldig scheinenden Ausdruck zu verhelfen, von der frühen und hohen christlichen Kultur so hartnäckig und gründlich umworben. Von einer Kultur somit, deren mentale Grundlage noch auf ordentlich erkennbaren Gegensatzpaaren aufruht und die also (zumindest in der Zeit vor Nicolaus von Kues) kaum über große und repräsentative Möglichkeiten verfügt, die dialektische Erfahrung auszudrücken, danach etwas auch mit dem anderen seiner selbst verwechselbar sein kann. Das Einhorn schmuggelt eine Frühform genuin dialektischen Symbol- und Bilder-Denkens in eine Kultur, die sich noch problemlos zutraute, zwischen Gott und Welt, Gut und Böse, Erlösung und Verdammung zu unterscheiden. Um die Reihe der einhörnigen coincidentiae oppositorum vorläufig zu resümieren: das Tier ex oriente wird zum Kulttier des abendländischen Christentums; es symbolisiert 29 PL (Fn. 22), Bd. 76, Sp. 573. 30 PL (Fn. 22), Bd. 93, Sp. 909. 31 Die Malergruppe um Domenico Zaga hat das päpstliche Schlafgemach mit den Einhorndarstellungen dekoriert. Sie wurden jüngst sorgfältig restauriert. Vgl. dazu den Bericht von Ute Diehl in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 29. Januar 1982, S. 25. 32 V. 10174 f. 220 Jochen Hörisch dabei Christus und den teuflischen Fürsten dieser Welt; es ist, seiner deutlichen fruchtbar-phallischen Qualitäten zum Trotz das keuscheste Tier; es ist ebenso schrecklich wie schön und ebenso wild wie mild; es bedroht und heilt gleichermaßen; es brüllt fürchterlich und ist dennoch musikliebend; und - nicht zu vergessen - es gibt es und es gibt es möglicherweise denn doch nicht. Letzteres ist unter den Frommen des Mittelalters eine radikale Minderheitenmeinung. Vertreten wird sie, in Form leiser Zweifel und als Wissen zweiter Hand, aber zumindest einmal - bei eben dem Ambrosius, der sich vielleicht deshalb bei seiner Exegese lieber auf die Suggestivität von Buchstaben als auf krude Faktizität verließ und der indigniert feststellt: »Ut periti aiunt« - wie (empirisch) Kundige versichern, ward ein solches Tier nirgends angetroffen. 33 Doch die große Zeit des empirischen Wissens ist noch nicht angebrochen. Und wer zu Lebzeiten des Ambrosius und auch noch Jahrhunderte später überhaupt zwischen dem peritus und dem Gläubigen Differenzen vermutet, wer gar den naturkundlichen vom philosophischen und den philosophischen vom frommen und den frommen vom poetischen Diskurs unterscheiden, kurzum: wer Diskurse discurrieren lassen will, ist Außenseiter oder gar Häretiker am katholisch allumfassenden Glauben. Was nichts daran ändert, daß die Literatur über und um das Einhorn zum intellektuellen Experimentierfeld wird. Das unicornis mag noch so eng mit Christus selbst liiert sein - über seine Paradoxien und über seine Existenz oder Nichtexistenz läßt sich denn doch problemloser reden als über die Aporien oder gar über das Sein oder Nichtsein des sterblich-allmächtigen Gottes, der die schrecklich-herrliche Welt schuf. Die Poetisierung des Einhorns Über Stellvertreter zu sprechen, zu spekulieren und auch zu lästern, mag gefährlich sein - es ist aber kaum je so angstbesetzt wie die Rede über den machtvoll Abwesenden, der da vertreten und repräsentiert wird. Über Gott läßt sich kaum etwas sagen; wir wissen nicht einmal seinen Namen. Über seinen Sohnes-Stellvertreter, der uns auch mit diesem Nichtwissen versöhnt, ist schon sehr viel mehr bekannt und also auch aussagbar. Über den Stellvertreter dieses Stellvertreters, über das unicornis spiritualis, aber läßt sich geradezu lustvoll entbunden all das sagen, was unvermittelt über Gott und seinen Sohn auszusprechen die Scham, die Scheu, die Tradition oder auch handfeste Verbote unmöglich machen. Und also gilt die These: im Übergang vom Spätmittelalter zur beginnenden Neuzeit läßt sich über die Existenz oder Nichtextistenz Gottes direkt noch nicht diskutieren - wohl aber über Sein oder Nichtsein des Einhorns. Das Einhorn wird zwischen 1500 und 1800 zum Stellvertreter Gottes in der noch unmöglichen Atheismus-Debatte. Vorbereitet und ermöglicht wird diese Debatte auch durch die seit dem Hochmittelalter voranschreitende Poetisierung des Einhorns. Poetische Qualitäten hatte das göttliche Tier schon in zeitlicher Parallelität zu seiner theologischen Blütezeit gewonnen. Solche Ästhetisierungen nahm die theologische Disziplin immer auch als Bedrohung wahr. Kein Wunder: an der Realexistenz des Einhorns hing ja eine schwere Beweislast. Und dennoch läßt sich das Ende der theologischen Überreizung des Einhorns einigermaßen präzise angeben. Das Tridentiner Konzil hat es zumindest implizit depotenziert. 33 PL (Fn. 22), Bd. 14, Sp. 725. Der Wandel des Einhorns 221 Durch seine phantasiereichen, legendarischen und zumal erotischen Ausgestaltungen schien das Einhorn allzu sehr entartet zu sein, um noch zum Kernbestand christlichen Glaubens zu zählen. Direkten Verboten ist das Einhorn zwar zumeist entkommen - einmal freilich nur mit knapper Not: eben auf dem Tridentiner Konzil. Es fand in drei Tagungsperioden zwischen 1545 und 1563 in Trient statt und versuchte, dem Ereignis Luther und seinen schismatischen Folgen zu wehren. Eine der Sektionen in letzter Minute, die Sessio XXV von 1563, beschäftigte sich auch gründlich mit allen Fragen der ästhetischen Religiosität, die durch den protestantischen Bildersturm in ihre tiefste Krise geraten war. Diskutiert wurden dabei offenbar immer wieder zwei Beispielskreise: Darstellungen der Empfängnis Mariae durch das Ohr, 34 die als gnosisverdächtig und auch sonst als unschicklich galten, und Bilder des pagan-fromm-phallisch-keuschen Einhorns. Mit dem Resultat, daß künftig alle unkeuschen und lasziven Darstellungen (»imagines forma impudica et lasciva« 35 ) tunlichst unterbleiben sollten. Schlechterdings verwunderlich ist dieser implizite Vorbehalt gegenüber dem Einhorn nicht. Wenn das machtvolle Christussinnbild auch nicht einfach zu verbieten war, so konnte man immerhin versuchen, es aussterben zu lassen. Denn es schien gefährlich zu werden. War es doch nicht mehr zu bändigen. Die kontroverse Fülle auch nur der exegetischen Deutungsmöglichkeiten demonstriert bereits, auf welch weitem semantischen Terrain sich das Einhorn tummelt und vervielfältigt. Die Grenzen dieses Terrains werden bald immer durchlässiger; denn das Einhorn durchbricht schnell seine exegetische Gefangenschaft, um sich zum Grenzgänger zwischen theologischen, mystischen, belehrenden und poetischen Texten zu verselbständigen. Daraus resultiert eine erneut komplexere Kombinatorik, die allerdings eine kaum mehr untergründig zu nennende Entwicklungslinie erkennen läßt. Sie verweist nämlich deutlich auf die Erotisierung des zuvor theologisch domestizierten keuschen Tieres. So schon in der Naturkunde Hildegards von Bingen. Sie beschreibt einigermaßen lustvoll die Szene, da das Einhorn den Philosophen, der es festhalten will, meidet, um sich stattdessen den vielen jungen Mädchen zuzuwenden, die sich ihrerseits von dem Denker abgewandt haben. Daß sich das »monosceros« gerne »vor di magit leget«, erwähnt auch das Alexanderlied des Pfaffen Lamprecht, aber es entledigt sich des Zwangs, daran die theologische Exegese dieses seltsamen Tuns anzuschließen. Durchaus weltlich ist gleichermaßen das Kompliment, das Orgeluse ihrem Geliebten Cidegast in Wolframs Parzival (um 1200) macht; er sei treu und rein wie ein »monîzirus«, welches Tier aber, seiner edlen Prädikate ungeachtet, hier als Symbol eben nicht Christi, sondern eines Geliebten dient. Solche Szenen zersetzen feinsinnig die Grenze zwischen weltlicher und himmlischer Liebe. Jenseitig, nämlich jenseits von Gut und Böse und jenseits von höfischen Zwängen zumal darf auch die Liebe zwischen Tristan und Isolde heißen. Wo diese Liebenden sich aufhalten, erfährt die Tristan und Isolde suchende Gesellschaft des Königs Marke durch ein Tier, das mit dem Einhorn zumindest verwandt ist. Ein »wunderbarer weißer Hirsch« geleitet die Suchenden zur Minnegrotte, in der die Leidenschaftlichen sich vereint haben. 34 Der Psychoanalytiker S. Jones hat über dieses Motiv einen aufschlußreichen Aufsatz geschrieben. 35 Aus dem Entwurf der sogenannten Pariser Sentenz zum Tridentinum; in: Jedin, H.: Entstehung und Tragweite des Trienter Dekrets über die Bilderverehrung. In: Ders.: Kirche des Glaubens - Kirche der Geschichte. Freiburg [u.a.] 1966, S. 184. 222 Jochen Hörisch In diesem Hirsch, der eine wilde Pferdemähne trägt, ist denn auch nicht nur von späteren Philologen, 36 sondern schon von mittelalterlichen Illustratoren eine Deckfigur des Einhorns vermutet worden, dessen theologische Herkunft dem gelehrten Autor denn doch zu heikel scheinen mochte, um es unverrätselt zum Mitwisser außerordentlicher Liebe zu machen: die sieben Pariser Minnekästchen bebildern Tristan-Szenen nicht mit Darstellungen des weißen Hirsch es, sondern des Einhorns. 37 Große erotische Kompetenz schreiben dem Einhorn aber offenbar auch diejenigen zu, die ihm eine welthistorisch bedeutsame Aufgabe anmuten. In der Weltchronik des Rudolf von Ems (um 1250) und im Lob der Keuschheit des Johannes Rothe um 1400 hat das indische Einhorn, auf welche Weise auch immer, die wahren Jungfrauen von denen zu unterscheiden, die solche zu sein nur vorgeben. Der detektivischen folgt auch gleich die richterlich vollziehende Gewalt. Bei nichtbestandener Prüfung pflegt das Einhorn die Pseudo-Jungfrau nämlich recht uncharmant mit seinem Horn zu durchbohren. Liebenswürdiger und weniger sittenstreng sind da schon die beiden Einhörner aus den Carmina burana: sie haben des »harten Sinnes Sprödigkeit«, der bei Jungfräulichkeitsproben unabdingbar sein mag, zugunsten einer prinzipiellen Bereitschaft zur Zärtlichkeit abgelegt. Nicht länger in theologischen Allegorien und Verrätselungen, sondern in eindeutig erotischen Assoziationsfeldern bewegt sich das Einhorn auch in den Liebes-Liedern des Königs von Navarra, Thibaut IV. de Champagne (1201 - 1253). Er vergleicht sich, den verzehrend Liebenden, gleich zu Beginn seines 34. Liebesliedes mit einem bis zur Besinnungslosigkeit liebestollen Einhorn. Nicht minder Dramatisches ereignet sich im Tierbuch der Liebe, im Bestiaire d’ amour des Kanonikus aus Amiens, Richart de Fournival (um 1250). Er verwendet die Tierfolge des Physiologus gleichsam als Deklinationsschema für die von ihm entworfene Logik möglicher Liebesbeziehungen. Getragen ist diese Logik von der Zentrierung unserer fünf Sinne auf den einen erotischen Zweck - eine erstaunliche Affinität zur Bilderfolge auf den berühmten Teppichen des Pariser Cluny-Museums, die um 1500 in Brüssel entstanden sein dürften. Danach wird der Mann wie das Einhorn vom »süßen Flair der Jungfräulichkeit« (»douc flair de la virgineté«) zu eben den verstrickenden Taten angetrieben, die dieser Jungfräulichkeit ein Ende zu machen drohen bzw. verheißen. Um diese Ambivalenz zu verdeutlichen, kommt auch die betroffene Jungfrau selbst zu Wort - sie lehnt es kluger Weise ab, »sich in solche Gefahr zu begeben, wie das Einhorn sie der Jungfrau bereite.« 38 »Omnis lascivia« 39 , alles Laszive sei zu meiden. So hatte das Tridentiner Konzil dekretiert. Und verwunderlich wäre es sicherlich nicht, wenn in diesem Beschluß des Einhorns zumindest mitgedacht wäre. Generalisierende Wendungen haben ja auch den unbestreitbaren Vorteil, peinliche Konkreta - in diesem Fall die jahrhundertelange kirchliche Hochschätzung des mittlerweile suspekt gewordenen Tieres - dem dezent mitmeinenden Schweigen zu überlassen. Jedenfalls aber kam der Beschluß zu spät, um etwa noch Rabelais davon abzuhalten, das berühmte und recht konkret deutende Hörnertraumka- 36 Gottfried von Straßburg: Tristan und Isolde, vv. 17278 - 17458. Als Einhorn-Ersatz hat J. Rathofer den weißen Hirsch gedeutet. Einhorner finden sich auch sonst häufig in mittelalterlicher Literatur (u. a. bei Hugo von Trimberg, beim Meistersinger Hans Folz und vor allem auch bei Johann von Würzburg und Konrad von Würzburg). Vgl. dazu Einhorn (Fn. 2), S. 154 ff. 37 Sie befinden sich heute im Barber Institute in Birmingham, Abb. 102 bei Einhorn (Fn. 2). 38 So die zusammenfassende Paraphrase bei Einhorn (Fn. 2), S. 169. 39 Dies die zusammenfassende Formulierung des Konzils; zit. bei Jedin (Fn. 35), S. 184 f. Der Wandel des Einhorns 223 pitel seines berüchtigten Romans zu schreiben. Und auch die gerade frisch entstandenen und in der Tat lasziven Einhorn-Fresken in der päpstlichen Engelsburg blieben erhalten. Unverkennbar aber ist, daß die zuvor machtvolle Präsenz, ja Omnipräsenz des Einhorns seit der Mitte des 16. Jahrhunderts schwindet. Wenn auch umstritten ist, ob das Tridentiner Konzil direkt anti-unicornisch eingestellt war 40 - dem Fortleben des Einhorns hat es gewiß geschadet. Denn offensichtlich haben diejenigen, die ihm ihre Aufmerksamkeit schenkten, sich von der Verbotsformel des gegenreformatorischen Konzils angesprochen gefühlt. Vor dieser konzertierten protestantisch-tridentiner Jagdaktion hat sich das Einhorn in andere Gefilde geflüchtet. Aus den Zentren gläubiger Geistigkeit vertrieben, wurde es zum in jeder Weise ex-zentrischen Tier. Und als Exzentriker hat der auch in unicornologischen Dingen schwankende Luther, der zwar von Wallfahrten nach Grimmenthal und seinem Einhornbild abriet, 41 auf dem Sterbebett aber die Einnahme von Einhornpulver nicht verschmähte, 42 in einer seiner seltsamsten Predigten das unicornis spiritualis denn auch charakterisiert: Christus, so der Theologe der Gnadenwahl, sei ab und an auch »ein wenig eigensinnig« und gerade deshalb mit dem kaum bezähmbaren Tier zu vergleichen. Das Lieblingsrequisit subtiler und manirierter 43 Exegese verwildert zusehends. Seiner wild-paganen und fabelhaften Ursprünge, denen es hochzivilisiert entsprungen schien, entsinnt sich das aus der Theologie exilierte Einhorn seit der Mitte des 16. Jahrhunderts zusehends. Es taucht, da es auf Altären keinen Platz mehr findet, in die Wälder unter und gesellt sich zu den wilden Männern und Frauen, die dort seit dem ausgehenden Mittelalter, nur mit Haaren und Blättern bekleidet, ihr dämonisches Dasein fristen. 44 Dieser meist mündlich tradierte Motivkreis ist bildnerisch immerhin ein wenig, 45 literarisch hingegen kaum dokumentierbar. Aber natürlich entstammt ihm das wilde Einhorn aus dem Märchen vom tapferen Schneiderlein, so wie ja auch die ungeschlachten Riesen Verwandte der wilden und verwilderten Männer sind. Aber auch sofern es Eingang in sogenannte hohe, jedenfalls tradierte Literatur gefunden hat, erliegt das Einhorn einem deutlichen Wechsel seiner Bedeutungshöfe. Es gehört fortan nicht länger zum Kernbestand der abendländisch-christlichen Kultur, sondern gerät an deren problematischen Rand. Eben in dem Zeitraum, da der Prozeß der Zivilisation machtvoll anhebt, 46 schlägt sich das Einhorn auf die Seite dessen, was in diesem Prozeß der Verdrängung erliegt. Als solchermaßen verdrängtes frequentiert es nicht länger die Zentren von Geist, Zivilisation und Kultur. Aber es kehrt doch insistent an deren Grenzen wieder. Das Einhorn wird zum Randgänger. Es würzt nicht bloß exotisch 40 L. Wehrhahn-Stauch (Fn. 17) sieht direkte Zusammenhänge zwischen dem Tridentiner Konzil und dem Rückgang an Einhornmotiven, ähnlich R. R. Beer: Einhorn (Fn. 2) sieht allenfalls mittelbare Zusammenhänge. 41 Weimarer Luther-Ausgabe, Bd. 4, S. 493 f. 42 Vgl. dazu Beer (Fn. 40), S. 179. 43 »Das ›Unicorne magique‹ ist ein Lieblingstier des Manierismus - im Sinne eines deformierten Mythos«, heißt es bei G. R. Hocke (Die Welt als Labyrinth. Manier und Manie in der europäischen Kunst. Reinbek 1963, S. 192.), der allerdings kaum neues Material ausbreitet. 44 Zu diesem Motiv vgl. Bernheimer, R.: Wild Men in the Middle Ages. Cambridge/ Mass. 1952; Mölle, L.L. (Hrsg.): Die wilden Leute des Mittelalters. Hamburg 1963. 45 Vgl. die Hinweise bei Einhorn (Fn. 2), S. 174. 46 Vgl. dazu das Standardwerk: Elias, Norbert: Der Prozeß der Zivilisation. Sozialgenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde. Frankfurt a.M. 1976. 224 Jochen Hörisch Rabelais’ Gargantua-Geschichten; es verzaubert auch manieristisch Ariosts Rasenden Roland, dient Shakespeares besten Rhetorikern zu wüsten Vergleichen (Timon von Athen IV,3 / Julius Cäsar II,1) und stellt die galante liebesbesessene Gesellschaft in Honoré d’Urfés monumentalem (zwischen 1607 und 1637 erschienenem) Schäferroman L’Astrée vor schwer zu lösende Aufgaben. In diesem sinnreich verspielten Roman ist die unicornologische Überlieferung zugunsten eines entbundenen Synkretismus außer Kraft gesetzt: die weise Bellinde rät dem liebeskranken Silvandre, die Quelle amouröser Wahrheit zu befragen. Aber dieser bemerkenswerte Quell wird von zwei Löwen und zwei Einhörnern bewacht, die sich ein böser und Liebesweisheiten offenbar abholder Zauberer dienstbar gemacht hat. Nur »durch das Blut und den Opfertod des treusten Liebhabers und der treusten Geliebten, die es zu dieser Zeit in der weiten Umgebung gibt, kann der Zauber gelöst werden.« 47 Kaum zu erfüllende Bedingungen, wie der unablässig räsonnierende Roman zu demonstrieren nicht aufhört. Und dennoch kommt es zu einer bemerkenswerten Lösung des Problems. An der Treue des jeweils anderen zweifelnd und über all der Liebesungewißheit gar verzweifelnd, begeben sich die vier Hauptfiguren, die sich zu zwei wahlverwandten Liebespaaren konstellierten, vereinzelt zur besagten Quelle, wo sie, gleichzeitig eintreffend, ihre gegenseitige Liebe erkennen. Doch bleibt für Bekenntnisse und Geständnisse aller Art kaum Zeit; denn die Löwen stürzen sich sogleich auf die Liebenden, die verloren wären, wenn ihnen die Einhörner nicht zu Hilfe kämen. Daß aber diese fabelhaften Tiere ihnen beistehen, erfahren sie erst, dann aber auch gleich von Amors Lippen selbst, als sie aus ihrer Ohnmacht erwachen und die zu Statuen erstarrten Fabeltiere erblicken, die so wieder einmal ihre Nähe zu Eros und Thanatos bewähren. Fortan differenzieren sich die theologischen, philosophischen, naturwissenschaftlichen und poetischen Diskurse immer entschiedener gegeneinander aus. Die Bedingung der Möglichkeit solcher Ausdifferenzierung ist schnell benannt: die säuberliche Trennung von fictum und factum. An dieser Trennungslinie ist die beginnende Neuzeit auffallend interessiert. Und ihr fällt auf, daß vorangehende Epochen an solcher Säuberung durchaus desinteressiert waren. Was aber nunmehr aus den Registern des faktisch Existierenden herausgeworfen wird, fällt einer Poesie als unfreiwilliges Geschenk anheim, die sich nicht mehr horazisch vermittelnd als ebenso belehrend wie erfreuend begreifen kann. Einer spezifisch neuzeitlichen Dichtung, die angesichts der Konkurrenz sachlich erfolgreicherer Diskurse versucht, mit dem Abfall (von) der Theologie, Philosophie und Wissenschaft jenen Zauber zu betreiben, der die neuzeitliche Entzauberung der Welt konterkariert. »Now I will believe, that there are unicorns«, ruft Sebastian in Shakespeares zauberhaftestem Werk, im Sturm, aus. Er ist noch der sachlichste, der ab- und aufgeklärteste unter den verstörten Schiffbrüchigen, die durch Prosperos verwunschene Insel taumeln. Aber als plötzlich »wundersam liebliche Musik« ertönt, steht auch er mit den anderen Gestrandeten gebannt, um Zeuge eines unvergleichlich verzauberten Schauspiels zu werden. Geister führen es den verschlagenen Aufgeklärten, den vielen Odysseusen, vor, und das sprachlose Erstaunen, das sie bei ihrem Schwinden hinterlassen, durchbricht eben der Bekehrungssatz Sebastians: 47 d’Urfé, H.: L'Astreé. Hrsg. von H. Vagonay. Straßburg 1910, S. 420. Auch der Phönix hat in diesem Buch als Symbol vergehender und neu erstehender Liebe einen festen Platz. Der Wandel des Einhorns 225 »Nun will ich glauben, daß es Einhörner gibt, daß in Arabien ein Baum des Phönix Thron ist und ein Phönix zur Stunde dort regiert.« Er gibt damit nicht nur zu erkennen, daß ihm die Existenz des Einhorns keineswegs mehr selbstverständlich war, sondern auch, daß verzaubernde Dichtung sich getrost dessen annehmen kann, was es nachweislich nicht gibt, weil das Verlangen nach zauberhaft schönem Schein komplementär zur aufklärenden Entzauberung von Welt und Dasein zunimmt. Ein kleines Wort gibt das nachhaltig zu verstehen: »Now I will believe« statt einfach »Now I believe«. Unerträglich wird in strikter Umkehrung des Shakespeareschen Motivs diese poetische Lust an der Rede über Inexistentes dem »Naturforscher«, den es in Wielands Roman zu den ebenso dummen wie geschwätzigen Abderiten (1774 erschienen) verschlägt. Diese antiken Schildbürger kennen noch keine Trennung von Wissenschaft und Poesie. »Die zeitverkürzende Gesellschaft, welche die Laune des Naturforschers unerträglich zu finden anfing, begab sich nun wieder nach Hause, und dahlte unterwegs, beym Glanz des Abendsterns und einer schönen Dämmerung, von Sfinxen, Einhörnern, Gymnosofisten [= nackte Weise; griech. Bezeichnung für indische Asketen - welch eine Zusammenstellung! J.H.] und Schlaraffenländern; und so viel Mannigfaltigkeit auch unter allen den Albernheiten, welche gesagt wurden, herrschte, so stimmten doch alle darin überein: daß Demokrit ein wunderlicher, einbildischer, überkluger, tadelsüchtiger, wiewohl bey allem dem ganz kurzweiliger Sonderling sey. - Sein Wein ist das Beste, was man bey ihm findet, sagte der Ratsherr. / Gütiger Anubis! dachte Demokrit, da er wieder allein war; was man nicht mit diesen Abderiten reden muß, um sich - die Zeit von ihnen vertreiben zu lassen.« 48 Der Ausschluß des und der Anderen aber ist der Ausschluß des Selbst: die Abderiten halten natürlich umgekehrt den »einbildischen Naturforscher« für geistesgestört und übergeben ihn dann auch, ihrerseits von aufgeklärter Therapiewilligkeit, dem Arzt Hippokrates zur Behandlung, der allerdings kein Einhornpulver zur Hand hat. Rückkehr zur Naturkunde Dichtung profitiert aber nicht nur vom Abfall der Theologie und der Philosophie, sondern auch vom Auswurf der empirischen Wissenschaften. Diese brauchen zwar recht lange, um die Existenz des Einhorns definitiv auszuschließen. Aber sein erst schleichender, dann offenkundiger philosophico-theologischer Prestigeverfall animiert zunehmend kecke Zweifel. Man braucht nur die beiden Tierbücher zu vergleichen, die weit über ihre Entstehungszeit hinaus Verbreitung fanden, um den Unterschied zwischen mittealterlicher Einhornseligkeit und neuzeitlichem Einhornzweifel und darüber hinaus die unterschiedlichen Wissenschafts- und Beobachtungsgesten zu markieren. In Konrad von Megenbergs um 1350 entstandenem Tierbuch ist das Einhorn noch in direkter Physiologus -Tradition intakt. Halbwegs neu ist nur die antijüdische Tendenz: 48 Vgl. M. Wieland: Die Abderiten, S. 114 (erstes Buch/ zehntes Kapitel). Ein ähnliches Motiv findet sich bei Voltaire: La princesse, S. 35. 226 Jochen Hörisch »Das Tier bedeutet unseren Herrn Jesus Christus, der war zornig und böse über die Hoffärtigkeit der Engel und über den Ungehorsam der Menschen auf Erden, bevor er Mensch wurde. Den fing die hochgelobte Jungfrau Maria mit ihrer keuschen Reinheit in der Wüste dieser sündhaften Welt, als er vom Himmel in ihren keuschen, reinen Schoß sprang. Danach wurde er von den bösen Jägern gefangen, nämlich von den Juden [...]«. 49 Wie anders dagegen das umfangreiche Einhorn-Kapitel in Gesners 1669 erschienenem und lange Zeit weitverbreitem Tierbuch. Es will in objektiver Distanz »alter und neuer Scribenten Meynungen nach einander setzen / wie ein jeder das Thier beschreibt / damit der Leser desto besser Acht haben möge / den wahren Grund zu erfahren.« Und die wahren Hintergründe des Einhorns werden in dem langen Artikel, der mit »Lustigen Historien« über das Tier schließt, immerhin angedeutet: »Niemand ist / der dieses Thier jemahls in Europa gesehen habe.« Aber es gibt viele Fürsten, die Unsummen dafür ausgegeben haben, ein Einhorn-Horn in ihrer Kunstkammer zu haben. 50 Erschüttert wurde der alteuropäische Einhornglaube u. a. durch den weitgereisten Marco Polo. 51 Er hält freilich noch dann verwundert am Wort »unicorn« fest, wenn seine sinnliche Gewißheit ein ander Ding, ein Rhinoceros, gewahrt und seine diktierte Reiseerinnerung mit falschem Begriff die rechte Sache beschreibt. Sicherlich hat dieser Widerspruch mit dazu beigetragen, daß das Italien des Cinquecento und des Seicento das gelobte Land der Unicornologie wird. 1566 erschienen in dem Land, dessen großer Renaissancegelehrter Leonardo da Vinci es vorgezogen hatte, sich dem Einhorn vorrangig ästhetisch zuzuwenden, gleich zwei grundlegende und grundkontroverse Bücher. 52 Discorso contra la falsa Opionione dell’ Alicorno ist das eine betitelt. Es stammt aus der Feder eines Andrea Marini und macht - der Titel ist die These - dem abergläubischen Einhorn- Hokuspokus kurzen Prozeß. Das teure Horn, das an fürstlichen Tafeln Giftanschläge verhindern und universal heilen solle, sei schon deshalb eine Unmöglichkeit, weil viele Gifte viele und eben nicht ein Gegenmittel erforderlich machten. Dagegen rehabilitiert die Abhandlung Andreas Baccis aus demselben Jahr die »vorzüglichen Eigenschaften des Einhorns«, die schon der Titel verheißt. Das Buch schließt mit einer atemberaubenden Argumentation: schon im Interesse des Fürsten, der sich die hohen Ausgaben für Einhorn-Hörner leiste, dürfe der Glauben an das Tier und seine fabelhafte Kraft nicht untergraben werden. Der schiere Zufall will es, daß Francesco di Medici, dem das Buch des Arztes, der auch Päpste und Kardinale behandelte, gewidmet ist, stolzer Besitzer eines solchen Einhorn-Horns war. Daß dieses in Schickeria-Apotheken und an Fürstenhöfen real existierende Horn vom in der Tat interessant behörnten, seltenen, schwer zu fangenden und also teuren Narwal stamme, ist die grundstürzende These, die in aller Deutlichkeit erstmals der Däne Caspar Bartholinus in seinem 1628 in Kopenhagen veröffentlichten Buch De Unicornu aufstellt. Das eigentümliche Buch hält schon in seiner Kapitelfolge beeindruckend den 49 Konrad von Megenberg: Tierbuch. Ins Neuhochdeutsche übertragen und eingeleitet von G.E. Sollbach. Dortmund 1989, S. 110. 50 Gesner; Conrad: Gesnerus redivivus auctus & emendatus - Allgemeines Thierbuch. Reprint, Hannover 1995, S. 71 ff. 51 Vgl. hierzu Wittkower, R.: Allegorie und der Wandel der Symbole in Antike und Renaissance. Köln 1983, S. 153-155 und für den Gesamtzusammenhang den Aufsatz über Wechselbeziehungen zwischen »Orient und Okzident« im selben Band. 52 Vgl. zum Folgenden Beer (Fn. 40), S. 187 ff. Der Wandel des Einhorns 227 Paradigmenwechsel fest, den das Einhorn inzwischen erlitten hat und fürderhin erleidet. Seine biblische Buchvergangenheit wird im ersten Kapitel abgetan - mit dem dezenten Hinweis auf die problematische Übersetzung »re’em« (Caspar Bartholinus schreibt »Raam«) = unicornis. Kapitel II sichtet nüchtern die unzweifelhaft bekannten einhörnigen Tiere - mitsamt den »unicorne marinum boreale«. Caput III dechiffriert das plumpe Rhinoceros als das einzig empirisch dingfest zu machende »Einhorn«, und das vierte Kapitel problematisiert schließlich unter dem vieldeutigen Titel »De monocerote vero« die vorliegende naturwissenschaftliche Literatur seit Ktesias. Folgen schließlich Kapitel, die bezweifeln, ob das Horn des univornis, sollte es denn doch existieren, aus prinzipiell anderer Substanz als etwa die Zähne des Elefanten bestehe. Verblüffend ist dann freilich der Schluß - er listet trotz aller vorgetragenen Zweifel all die Übel auf, gegen die das Horn zu helfen vermag. Ein Dokument des Umbruchs und ein Forschungsprogramm zugleich, das Bartholinus’ Sohn Thomas mit seiner Schrift De Unicornu Observationes Novae weiterführt und auch entscheidet. Danach steht nunmehr definitiv fest, daß die real existierenden Hörner von keinem Landtier stammen. Und diese Feststellung erfolgt, der Titel sagt es bereits, vorrangig durch Beobachtungen und nicht etwa durch Buchlektüre. Wie denn überhaupt auffällt, daß die Anzahl der gelesenen Bücher zumeist im umgekehrt proportionalen Verhältnis zur richtigen These von der Nichtexistenz des Einhorns steht. Bücherkonsumenten stehen eben nicht immer auf den Schultern von Riesen, sondern häufig genug hinter einem breiten (Buch-)Riesen-Rücken, der jede Aussicht versperrt. 53 Auch soll es vorgekommen sein, daß der Riese, auf dessen Schultern ein späterer Gelehrter stand, einfach in die falsche Richtung schaute. Es helfen nun in the long run keine bibliomanen Abwehrgefechte mehr. Das Einhorn wird, nachdem es aus Theologie und Philosophie vertrieben ward, nunmehr aus den seriösen Wissenschaften vertrieben. Es erliegt nämlich dem »Erfahrungsdruck« und dem »Empirisierungszwang« 54 , den diese Disziplinen ausüben. Zuflucht findet es bald nur noch bei jenen, die sich in die Trennung von Wissenschaft, Weisheit, Theologie und Poesie nicht schicken wollen, bei den Alchemisten. In der Chymischen Hochzeit des Christian Rosencreutz von 1616 wird dem Einhorn als Symbol der Verwandlung eine zentrale Rolle zugewiesen: nachdem es, das schneeweiß-reine Tier, den Löwen gegrüßt hat, erfährt das Christussymbol seine Metamorphose zur Taube und somit zum Zeichen des Heiligen Geistes. 55 Ein symptomatischer Beleg: hohes und höchstes Prestige genießt das Einhorn im Prozeß zunehmender Aufklärung nur noch bei den Wissenschaften, die sich bald das Beiwort »Pseudo« gefallen lassen müssen. Aus dem »seriösen« wissenschaftlichen Inventaren aber wird es nun immer hartnäckiger vertrieben. In den großen Naturgeschichten des 18. Jahrhunderts von Linné und Buffon etwa kommt das Einhorn nur noch als das Tier vor, das nicht vorkommt. Doch eines ist immerhin bemerkenswert: mit dem Einhorn schwindet auch jene spezifische Textgattung, die noch Narratives und Gelehrtes zusam- 53 Vgl. R. K. Mertons spannendes Buch: Auf den Schultern von Riesen. Ein Leitfaden durch das Labyrinth der Gelehrsamkeit. Frankfurt 1980, könnte mit unicornologischem Material glanzvoll illustriert werden. 54 Lepenies, Wolf: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. Und 19. Jahrhunderts. München 1976, S. 17. 55 Vgl. Rosencreutz, Christian: Chymische Hochzeit. Straßburg 1616, S. 54 und zum Rosenkreuzertum insgesamt die interessante Studie von Yates, F.A.: Aufklärung im Zeichen des Rosenkreuzes. Stuttgart 1975. 228 Jochen Hörisch menband und die nunmehr, da sie das schöne Tier für inexistent erklärt, selbst zu existieren aufhört. Das Ende des wissenschaftlich beglaubigten Einhorns ist eins mit dem »Ende der Naturgeschichte«. 56 Es steht schlecht ums Einhorn im endenden 18. Jahrhundert. Zwar legt noch im Jahr 1852 ein gewisser John Wilhelm von Müller »seiner Majestät Friedrich Wilhelm IV. König von Preussen in tiefster Ehrfurcht« (so die Widmung) eine Untersuchung vor, deren Zweck »erfüllt ist, wenn es [...] gelang, den Leser zur Überzeugung zu bringen, daß ein Einhorn wirklich existiert und wir dasselbe über Kurz oder Lang entdecken müssen«. Der Verfasser dieser Schrift ist nicht irgendwer. Die Reihung seiner Titel und ehrenvoller Ämter auf dem Frontispiz nimmt fünfzehn eng gesetzte Zeilen ein und heischt Ehrfurcht: »John Wilhelm von Müller, Dr. der Philosophie, Commenthur des Großherzoglich Hessischen Ordens Philipp’s des Großmüthigen, des königl. sächsischen Verdienstordens und des preußischen rothen Adlerordens Ritter, Inhaber der königl. württembergischen großen goldenen Verdienstmedaille für Kunst und Wissenschaft, der kaiserlich Leopoldinisch-Carolinischen Akademie der Naturforscher, der Sociéte Asiatique zu Paris [...]« Doch dieser wissenschaftliche Beschwörungszauber hilft nicht weiter. Zwar finden sich bis in die einschlägigen Artikel der großen Lexika oder in die Spalten des Morgenblatts für die gebildeten Stände hinein immer wieder Beiträge von Einhorn-Gläubigen. Doch sie werden immer mehr zu Außenseitern in einem Prozeß der Verwissenschaftlichung, der eben deshalb so erfolgreich sein kann, weil er Sinn- und Seinsfragen voneinander trennt. Es geht dem Einhorn, aller Abwehrgefechte gläubiger Unicornologen zum Trotz, im beginnenden 19. Jahrhundert schlecht. Denn es steht nicht länger im Zentrum sei’s der philosophischen, sei's der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit. Es steht auch nicht im Brehm. Seine glorreiche Auferstehung aber wird dem Einhorn in eben dem Maße, in dem es aus den Wissenschaften vertrieben wird, in der Dichtung (und heute auch in Fantasy- Filmen und -Literatur 57 ) zuteil. Christian Morgenstern, Gertrud Kolmar, Garcia Lorca, Heimito von Doderer, Hilde Domin, Günter Eich, Irmtraud Morgner, Martin Walser, Rose Ausländer, Umberto Eco und viele andere Dichter/ Innen mehr retten es vor dem blanken Nichtsein. Der wirkungsmächtigste unter den poetischen Rettern des Einhorns ist sicherlich Rainer Maria Rilke. Denn sein berühmtes Einhorn-Sonett wendet die Magie des Tieres, das heißt, wie es ist, und ist, wie es heißt, in die abgründige Dimension, die spezifisch modern genannt werden darf: »O dieses ist das Tier, das es nicht giebt.« Gekürzte und stark überarbeitete Fassung des Nachwortes zu Jochen Hörisch (Hg.): Das Tier, das es nicht gibt - Eine Text- und Bild-Collage über das Einhorn. Nördlingen (Greno) 1986. Abb. 1 u. 2: Jenny, Hans A.: Das haarsträubende Panopticum. Die exquisiesten »Subertiere«. Erschröcklich! fabulös! Basel 1996, S. 105. 56 So der Titel der Studie von Lepenies, die leider nur wenig Material ausbreitet und auch die damals paradigmatische Einhorndiskussion unerwähnt läßt. 57 Vgl. Wunderlich, Werner: Hunting the unicorn. Über Abstammung, Arten und Lebensweise des amerikanischen Fantasy-Einhorns. In: Mittelalter-Rezeption III. Hrsg. von Jürgen Kühnel [u.a.]. Göppingen 1988 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik, Nr. 479), S. 579 - 607. Fenriswolf Wilhelm Heizmann (Göttingen) Mehr als jedes andere Monster der altnordischen Überlieferung, mehr als selbst die schreckliche Midgardschlange (altnord. miðgarðsormr), die erdumspannend im Weltmeer liegt, verkörpert Fenrir, der ungeheure mythische Wolf, das stets drohende Menetekel über der Götterwelt des Nordens. Sein Losbrechen markiert in der großen kosmischen Visionsdichtung der V ô lospá den Auftakt zum Weltuntergang (Vsp 44) 1 und die dafür verwendeten Verse klingen im Folgenden als Kehrreim leitmotivisch zwei weitere Male an signifikanter Stelle auf: vor dem Aufmarsch der dämonischen Phalanx der Götterfeinde (Vsp 49) und nach der Vernichtung der alten Welt (Vsp 58). Der Wolf folgt Óðinn, dem Göttervater, gleichsam als dunkler Schatten, den dieser nie abzuschütteln vermag. Wohl weiß er um die Unausweichlichkeit des Untergangs, der jederzeit über die Welt der Götter und Menschen hereinbrechen kann, doch stemmt er sich dagegen mit aller Macht und sammelt ein gespenstisches Heer von toten Kriegern, die Einherier, um für den aussichtslosen Endzeitkampf gerüstet zu sein. Und diese immerwährende und immer präsente Bedrohung gibt die Begründung ab für Óðinns scheinbar so paradoxes Verhalten: Daß er gerade den besten und kühnsten seiner irdischen Schützlinge ganz plötzlich seine Protektion entzieht und oft sogar aktiv zu deren Untergang beiträgt. Daß dieses Verhalten gerade in einem Kriegermilieu, das Treue und Loyalität als Tugenden propagierte, als höchst irritierend empfunden wurde, lassen die Quellen erahnen, die Óðinn immer wieder mit dem Vorwurf der Treulosigkeit konfrontieren. Zugleich aber legen sie ihm die Begründung für sein Verhalten selbst in den Mund. Auf die Frage, warum er König Eiríkr des Sieges beraubte, läßt ein anonymer Dichter des 10. Jahrhunderts Óðinn in den Eiríksmál antworten: » Óvist ‘s at vita, »Man weiß nie! sér ulfr enn hôsvi Der graue Wolf sieht greypr á sjôt goða. « grimmig auf die Wohnsitze der Götter.« (Eirm 7) 2 I Die Zeugnisse zu Fenrir sind über viele Quellen verstreut, 3 doch liefert der isländische Historiker und Mythograph Snorri Sturluson (1178/ 79 - 1241) in seiner Gylfaginning 4 ei- 1 Die Gedichte der Lieder-Edda werden mit den entsprechenden Siglen zitiert nach Neckel & Kuhn 1983. 2 Skaldische Gedichte werden zitiert nach Finnur Jónnson 1912, 1915; die Siglen nach Finnur Jónsson 1931a. 3 Die umfangreichste Monographie zum Fenriswolf ist noch immer die von Ernst Wilken aus dem Jahr 1896; für zusammenfassende Darstellungen aus neuerer Zeit vgl. Paul 1981, S. 174 ff.; Dillmann 1994; Simek 1995, S. 96 f. 230 Wilhelm Heizmann nen einigermaßen konsistenten Bericht (Gylf 33 - 34, 51 - 52; vgl. SnEFrg 1 431 f.; SnEFrg 2 515 5 ): Fenrir entstammt der Verbindung des zwielichtigen Gottes Loki mit einer Riesin, die den sprechenden Namen Angrboða »Kummer Bereiterin« trägt (vgl. Skáldskaparmál 24 6 ; Haustl 8; Ls 10; Hdl 40). Mit ihr zeugt er noch zwei weitere dämonische Wesen, die Midgardschlange (vgl. Hym 23) und Hel (vgl. St 25; Sturl 4, 24). Von unheilvollen Voraussagungen aufgeschreckt befiehlt Óðinn, die drei Ungeheuer zu ergreifen und zu ihm zu bringen. Während er die Midgardschlange ins Weltmeer schleudert und Hel mit der Herrschaft über das Totenreich betraut, wächst der Wolf bei den Asen selbst heran. Seine Kraft nimmt so gewaltig zu, daß bald der Gott Týr allein es noch wagt, sich ihm zu nähern und ihn zu füttern. Da alle Weissagungen nur Schlimmes befürchten lassen, beschließen die Götter schließlich, das Ungeheuer zu fesseln (vgl. Mhkv 21). Dazu bedarf es dreier, sich episch steigender Anläufe. Zunächst kommen die Götter mit der Fessel Lœðing und fordern den Wolf scheinheilig auf, seine Kraft daran zu messen. Diese Fessel zerreißt er mit Leichtigkeit. Stärker ist er bei der zweiten Fessel namens Drómi gefordert, denn sie ist doppelt so stark. Verlockt durch die Aussicht auf Ruhm, läßt er sich die Fessel anlegen und zersprengt sie ebenfalls. Darauf schickt Óðinn Skírnir, den vertrauten Diener des Gottes Freyr, ins Land der Schwarzalben hinab, um bei Zwergen die Fessel Gleipnir in Auftrag zu geben. Diese setzt sich aus nicht weniger als sechs Adynata zusammen: dem Schritt der Katze, dem Bart der Frau, den Wurzeln des Gebirges, den Sehnen des Bären, dem Atem des Fisches und dem Speichel des Vogels (vgl. SnEFrg 1 432; SnEFrg 2 515). Die Asen rudern nun mit dem Wolf über den See Ámsvartnir zur Insel Lyngvi. 7 Dort soll die Fesselprobe stattfinden. Doch Fenrir mißtraut der Fessel gerade wegen ihres scheinbar so harmlosen Aussehens (glatt und weich wie ein Seidenband) und argwöhnt, daß hier List und Trug im Spiel sei. Trotz aller Überredungsversuche der Asen willigt er nur unter der Bedingung ein, daß ihm einer von ihnen seine Hand als Pfand in den Rachen legt. Während die anderen Götter betreten schweigen und nur vielsagende Blicke wechseln, streckt Týr seine Rechte vor. Als der Wolf sich dann vergeblich gegen die sich verhärtende Fessel stemmt, da lachen zwar die Götter, nicht aber Týr, denn er verliert seine Hand (Abb. 1). Er wird deshalb einhendi áss, »einhändiger Ase«, genannt (vgl. Gylf 25; Ls [Prosa]; Ls 38, 39; Skáldsk 17; Rúnnorw 5; Rúnisl 20 8 ; GSúrs 16). An anderer Stelle präzisiert Snorri, daß der Körperteil, an dem der Wolf zubeißt, ulfliðr genannt wird (Gylf 25), ein Wort, das auch sonst im Altnordischen in der Bedeutung »Handgelenk« gut belegt ist. 9 4 Zitiert nach Finnur Jónsson 1931; die Kapitelangaben beziehen sich auf die bei Finnur Jónsson in Klammern gesetzten Nummern. Einen ausführlichen Kommentar zum Folgenden bietet Lorenz 1984, S. 416 ff. u. 601 ff. 5 Fragmente der Snorra-Edda AM 748 I 4to und AM 757 4to (Jón Sigurðsson 1852). 6 Zitiert nach Finnur Jónsson 1931. 7 Nach der Lokasenna liegt Fenrir gefesselt vor einer Flußmündung (Ls 41). Die Örtlichkeit erinnerte schon Olrik (1922, S. 81) an die Insel, auf der der Schmied Vôlundr gefangengehalten wird. Ihm wurde seine Bewegungsfreiheit zwar nicht durch Fesseln, wohl aber durch die Durchtrennung der Sehnen an den Kniekehlen genommen. Wohl nicht zufällig wird er in diesem Zusammenhang als ein wildes Tier beschrieben (Vkv 17). 8 Das norwegische und isländische Runengedicht zitiert nach Kålund 1884 - 1891, S. 1 - 21. 9 Vgl. Fritzner 1896, S. 764. Fenriswolf 231 Fenrir wird dann mit einem Tau aus der Fessel Gelgja an zwei Steinen (Gjôll und Þviti) fest gemacht, die tief in die Erde versenkt werden. Als der Wolf sich wehrt und nach allen Seiten schnappt, stoßen ihm die Götter ein Schwert als Gaumensperre (gómsparri) in den Rachen, ein Detail, das eine Strophe des norwegischen Skalden Eyvindr Skáldaspillir schon um 960 belegt, wenn darin »Schwert« mit der Kenning »Sperre der Lippen des Fenrir« (Fenris varra sparri) umschrieben wird (Eyv Lv 6). Fenrir heult schrecklich, Geifer rinnt ihm aus dem Maul und bildet den Fluß Ván (SnEFrg 1 432; SnEFrg 2 515; 10 Stríðk) (Abb. 2). Snorri bezeichnet den Wolf deshalb in den Skáldskaparmál als Vánargandr 11 (Skáldsk 16). Vor einem schlimmeren Schicksal bewahrt ihn allein die Achtung der Götter vor ihren Heiligtümern und Friedensstätten, die sie trotz der Weissagungen, daß der Wolf Óðinn töten werde, nicht mit dem Blut des Wolfs entweihen wollen. So liegt er gebunden bis zu den Ragnarök, dem Weltuntergang (vgl. Ls 39, 41; siehe auch Hák 20). Den Auftakt zum Untergang bilden Naturkatastrophen kosmischen Ausmaßes, in deren Verlauf die Fessel des Wolfs bricht. Dann rottet er sich mit anderen dämonischen Mächten des Chaos zusammen. Feuer brennt in seinen Augen und Nüstern, und er rennt mit weit aufgerissenem Maul, dessen Kiefer die Erde und den Himmel berühren, zum Schlachtfeld Vígríðr. Dort stellen sich die Götter und ihre Krieger zum Endkampf (vgl. Grm 23). Óðinn tritt, gerüstet mit Goldhelm, Brünne und seinem Speer Gungnir allein gegen Fenrir an (vgl. St 24 u. 25). Dieser Kampf endet für Óðinn tödlich, denn der Wolf verschlingt ihn (vgl. Gylf 34; Vsp 53; Vm 52 - 53; Ls 58). Die Tat bleibt aber nicht ungesühnt und die Rache folgt buchstäblich auf den Fuß. Óðinns Sohn Víðarr tritt auf den Plan und stemmt einen Fuß in den Unterkiefer der Wolfs. Dann packt er den Oberkiefer und reißt das Maul so weit auseinander, daß Fenrir verendet (vgl. Vm 53). Den tödlichen Tritt ermöglicht ein besonderer Schuh, der nach Snorris aitiologischer Erklärung aus den Resten gefertigt ist, die beim Zuschneiden des Schuhleders anfallen. Eine von Snorri abweichende Variante liefert die V ô lospá. Dort stößt Víðarr dem Wolf das Schwert ins Herz (Vsp 55). Laut Snorri nimmt am Endkampf auch der Hund Garmr (»Hund«) teil. Er lag gebunden vor Gnipahellir und war seiner Fesseln ebenfalls ledig geworden (vgl. Vsp 44, 10 Die Fragmente AM 748 I 4to und AM 757 4to nennen jeweils zwei Flüsse: van/ víl bzw. vil/ vôn. 11 Vgl. dazu Simek 1995, S. 447. Abb. 1 232 Wilhelm Heizmann 49, 58). Er trifft auf den Gott Týr und beide töten einander. Unklar bleibt, ob und in welchem Verhälttnis Fenrir und Garmr zueinander stehen. 12 Snorri unterscheidet sie klar von einander, denn er benötigt Garmr in seinem System der Gegnerpaare als Widerpart für Týr. Ob dies allerdings auch für die V ô lospá gilt, ist höchst fraglich. In der Forschung ging man zumeist von deren Identität aus. 13 Die Überlieferung läßt eine sichere Entscheidung kaum zu. Dennoch fällt folgendes auf: Beide sind an bzw. vor Felsen angebunden und heulen oder bellen und beide kommen mit Anbruch der Endzeit los. Die Skaldendichtung kennt Garmr als mythologisches Wesen nicht, sondern verwendet den Namen appellativisch in der Bedeutung »Hund« in verschiedenen Kenningar. 14 Zu bedenken ist auch, daß ein von Fenrir verschiedener Garmr in der V ô lospá im Grunde ohne rechte Funktion bliebe, da es dort, anders als bei Snorri, einen direkten Gegner nicht gibt. Er bellt, kommt frei und rennt los. Mehr wird nicht gesagt. Andererseits kommt aber der Strophe durch die zweimalige Wiederholung ein so großes Gewicht zu, daß nicht zu verstehen wäre, wenn mit diesem Garmr nicht auch der gewichtigste Gegner der Götter gemeint wäre. Der Name widerspricht dem nicht, denn »Hund« als Bezeichnung des Wolfs ist weit verbreitet. 15 Auch bei Snorri heißt übrigens ein mondverschlingender Wolf Mánagarmr (Gylf 11). Nachkommen des Fenrir erwähnen die eddischen Gedichte Grímnismál und V ô lospá. Snorri bemüht sich, die beiden Texte in einen einigermaßen konsistenten Bezug zu setzen (Gylf 12). 16 Zunächst berichtet er in Anschluß an die Grímnismál (Grm 39) von den Wölfen Scôll und Hati. Letzterer wird Sohn des Hróðvitnir genannt, ein Name, den die Lokasenna als Bezeichnung des Fenrir kennt (Ls 39). 17 Während Scôll der Sonne (sol) folgt, läuft ihr Hati voraus. Nur Snorri bringt diese beiden Wölfe in einen eschatologischen Zusammenhang, indem er hinzufügt, daß Scôll eines Tages die Sonne einholen und Hati den Mond (tungl) packen wird. Daß Snorri mit tungl den Mond meint, 18 geht aus der Gegenüberstellung sowie seiner sonstigen Verwendung des Wortes, die im übrigen der im Altisländischen gewöhnlichen entspricht, 19 unzweifelhaft hervor. Zudem erwähnt Snorri bei seiner Schilderung des Weltuntergangs zwei namenlose Wölfe, von denen einer die Sonne, der andere den Mond verschlingen wird (Gylf 51). Snorri kombiniert nun die genannte Stelle der Grímnismál mit zwei Strophen der V ô lospá, die er im weiteren auch wörtlich zitiert (Vsp 40 - 41). Dort ist von einer Alten die Rede, die in dem östlich gelegenen Járnviðr (»Eisenwald«) Fenrirs Nachkommen gebiert. Snorri fügt weitere Details hinzu: Der Wald, in dem die Riesin (g ý gr) haust, ist von Trollweibern bewohnt und sie gebiert als Söhne viele Riesen in Wolfsgestalt. 20 Die V ô lospá berichtet weiter von ei- 12 Vgl. Paul 1981, S. 179 f., Dillmann 1994, S. 371 und Lorenz 1984, S. 418 f. u. 617 f. mit weiteren Literaturhinweisen. 13 Vgl. Sigurður Nordal 1980, S. 86. 14 Finnur Jónsson 1931a, S. 173. 15 Vgl. Peuckert 1938/ 1941, Sp. 716 f. Zur Etymologie von Garmr vgl. Lincoln 1979. 16 Vgl. Paul 1981, S. 181 f. 17 Zu erwägen ist, ob hierher nicht auch die Bezeichnung Þórrs als Hróðrs andscoti »Gegner des Hróðr« (zu hróðr »Ruhm«) aus der Hymisqviða Str. 11 zu stellen ist. Björn Magnússon Ólsens Deutung, daß sich Hróðr zu Hróðvitnir verhält wie Fenrir zu Fenrisulfr (1909, S. 151), wurde in der Forschung jedenfalls zumeist akzeptiert. Der Name verwundert kaum, wenn man bedenkt, daß bei Snorris Bericht der Fesselung gerade das Argument der Berühmtheit für den Wolf eine große Rolle spielt (Gylf 34). 18 Vgl. Faulkes 1987, S. 15; Neckel & Niedner 1925, S. 59; Lorenz 1984, S. 194. 19 Vgl. Fritzner 1896, S. 730. Fenriswolf 233 nem Nachkommen des Fenrir, der als tungls tiúgari (»Vernichter des Gestirns«) bezeichnet wird (Vsp 40). Daß Snorri hier tungl als Bezeichnung des Mondes versteht, ist wiederum evident, denn er nennt den nahmenlosen Wolfssproß der V ô lospá Mánagarmr (zu máni »Mond« und garmr »Hund«). Als eine Art Leichendämon 21 nährt er sich vom Fleisch 22 aller Menschen, die sterben und verschlingt schließlich den Mond (tungl). So eindeutig Snorris Auffassung von zwei Sonne und Mond verschlingenden Wölfen auch sein mag, es ist doch zu fragen, auf welche Überlieferung er sich dabei stützen kann. In den Grímnismál ist lediglich von zwei Wölfen die Rede, die vor und hinter der Sonne her laufen (Grm 39). Gleiches ist in der Heiðreks saga überliefert. 23 Anders als bei Snorri fehlt jeder eschatologische Bezug. Die Forschung hat längst vermutet, daß wir es hier vielmehr mit der poetischen Ausgestaltung des im Norden verbreiteten Naturphänomens der Nebensonnen zu tun haben. Sie werden in der skandinavischen Volksüberlieferung solulv bzw. solulf und solvarg genannt. Wenn die Nebensonnen vor und nach der Sonne stehen, dann heißt es auf Island: sólin sè í úlfakreppu (»die Sonne sei in der Wolfsklemme«). 24 Es bleibt also nur die Stelle in der V ô lospá. Die Forschung hat aber gerade dort für das Wort tungl überwiegend die Bedeutung Sonne angenommen. 25 Dies scheint eine plausible Deutung zu sein, denn Strophe 41 der V ô lospá schildert plastisch das Wüten des tungls tiúgari und seine unmittelbaren Auswirkungen: » Fylliz fiorvi feigra manna, rýðr ragna siot rauðom dreyra; svort verða sólscin of sumor eptir, veðr ôll válynd - vitoð ér enn, eða hvat ? « (Vsp 41) »Er füllt sich mit Fleisch von Sterbenden, rötet die Sitze der Götter mit rotem Blut; schwarz wird der Sonnenschein die Sommer danach, widrig alles Wetter - wißt ihr noch mehr, oder was? « Ganz offensichtlich wird hier eine irreversible Sonnenfinsternis beschrieben, 26 die in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Anbruch der Endzeit steht. Davon nicht zu trennen ist die Nachricht der Vafðrúðnismál, daß Fenrir die Sonne verschlingt (Vm 47). Denn unabhängig davon, ob man hier zwischen zwei Überlieferungsvarianten (Nachkomme Fenrirs/ Fenrir selbst) trennt oder man für das Wort fenrir allgemein die Bedeutung »Wolf« annimmt 27 so haben wir es im Gegensatz zu den Grímnismál doch in beiden Quellen mit einem eschatologischen Ereignis zu tun. Daß Snorris Harmonisierungsver- 20 Möglicherweise besteht hier ein Zusammenhang mit der ebenfalls gýgr genannten Angrboða in Kap. 33 der Gylfaginning (vgl. Lorenz 1984, S. 197 u. 417). Demnach wären die Wölfe Abkömmlinge einer inzestuösen Verbindung des Fenrir mit seiner Mutter. 21 Vgl. Peuckert 1938/ 1941, Sp. 744; Kretschmar 1938, S. 226 ff.; Lincoln 1979, S. 284. 22 Zu den unterschiedlichen Auffassungen von altnord. fjor vgl. Sigurður Nordal 1980, S. 82; Lorenz 1984, S. 194 u. 198. 23 Jón Helgason 1924, S. 68. 24 Vgl. Much 1898, S. 30; Olrik 1902, S. 190 f.; 1922, S. 37 ff., 424 ff.; Peuckert 1938/ 1941; Paul 1981, S. 181. 25 Vgl. Finnur Jónsson 1931a, S. 574; Kuhn 1968, S. 204, 206; Sigurður Nordal 1980, S. 81; Paul 1981, S. 181; Genzmer 1981, S. 31; weitere Literaturhinweise bei Lorenz 1984, S. 200 f. Wie Lorenz (S. 200) spricht auch Dillmann sich dafür aus, daß mit tungl hier der Mond gemeint sei (1994, S. 372). 26 Vgl. Paul 1981, S. 181; Lorenz 1984, S. 199. 27 Nachweise bei Dillmann 1994, S. 372. 234 Wilhelm Heizmann suche hier nicht nahtlos geglückt sind, zeigt schon allein, daß er von zwei verschiedenen Mondverschlingern (zuerst Hati, dann Mánagarmr) spricht. Auch wenn ein mondverschlingender Wolf in den altnordischen Quellen außer bei Snorri sonst also nicht mit Sicherheit nachzuweisen ist, so ist dennoch zweifelhaft, ob die Umdeutung der beiden Wölfe in den Grímnismál allein auf einem Mißverständnis Snorris beruht. Dafür sind Vorstellungen, Sonnen- und Mondfinsternisse würden durch die Attacke von Ungeheuern, darunter auch Wölfen, verursacht, viel zu häufig auf der ganzen Welt verbreitet. Oft genug tragen diese auch einen eschatologischen Zug. 28 Vor diesem Hintergrund dürften auch die Sonne und Mond verschlingenden Wölfe bei Snorri ausreichend zu erklären sein. Soweit die literarischen Zeugnisse aus dem Norden. Auch wenn uns nur Snorri, der gut zweihundert Jahre nach der Annahme des Christentums auf Island schreibt, eine zusammenhängende »Biographie« Fenrirs erzählt, so enthält sie doch zum einen nichts spezifisch Christliches und sie läßt sich zum anderen durch die übrigen Zeugnisse, die überwiegend der heidnischen Zeit angehören, ja im Falle der Haustlông des norwegischen Skalden Þjóðólfr ór Hvíni sogar noch ins 9. Jahrhundert zurückreichen, in vielen Details bestätigen. Die offenkundigen Bemühungen Snorris, seine unterschiedlichen Quellen zu harmonisieren, fallen dabei nicht ins Gewicht. Snorri trägt dadurch auf seine Weise nicht mehr zur Variantenbildung einer sich in stetem Fluß befindlichen Überlieferung bei, als dies in den Jahrhunderten zuvor im Medium der Mündlichkeit der Fall war. 28 Vgl. Lasch 1900; von der Leyen 1908, S. 16 ff.; Peuckert 1938/ 1941, Sp. 739; Olrik 1902, S.192 ff.; 1922, S. 39 ff.; Paul 1981, S. 182. Abb. 2 Fenriswolf 235 II Neben den Schriftquellen steht eine spärliche Zahl von Bildquellen zu Fenrir. Während der gefesselte Wolf aber wohl einige Male in jungen Papierhandschriften der Snorra-Edda aus Island abgebildet wird (NKS 1867 4to x [1760], Bl. 98v [Abb. 1]; ÍB 299 4to x [1764], Vorderseite 29 ; AM 748 4to x [1680], Bl. 43v [Abb. 2] 30 ), so ist uns doch im Gegensatz zur Midgardschlange, dem anderen Erzmonster der nordischen Mythologie, für die Wikingerzeit aus ganz Skandinavien keine einzige gesicherte Darstellung des Fenrir erhalten. Dies gilt auch für den bildtragenden Runenstein von Ledberg aus der schwedischen Landschaft Östergötland vom Anfang des 11. Jahrhunderts (Abb. 3). 31 Auf der Rückseite des Steins ist zuoberst ein behelmter Krieger zu sehen. Unter ihm läuft auf dem Runenband ein Canide, der einen Fuß des Kriegers mit dem Maul packt. Dahinter befindet sich ein zweiter Krieger mit Helm, jedoch ohne Füße. Obwohl die Bilder des Steins immer wieder mit den Ragnarök und insbesondere dem Kampf Óðinns mit dem Wolf in Verbindung gebracht wurden, 32 zeigt die Darstellung kein einziges signifikantes Detail, das diese Identifizierung absichern könnte. Die alte Deutung Brates, daß hier verschiedene Szenen jener Schlacht abgebildet werden, die dem in der Inschrift genannten Torgöt den Tod brachte, 33 kann da weit mehr Wahrscheinlichkeit für sich beanspruchen. Einzig von den britischen Inseln sind aus Gebieten mit stark skandinavischem Einfluß 34 mehrere Bilddenkmäler, vor allem des 10. Jahrhunderts bekannt, auf denen man vielleicht Darstellungen des Fenrir vermuten darf. Dazu gehört insbesondere das Fragment des Thorwald-Kreuzes von Kirk Andreas auf der Isle of Man. Es zeigt einen Mann mit einem Raubvogel (Adler oder Rabe) auf der Schulter und einem Speer in der Hand, der auf einen von unten angreifenden Caniden gerichtet ist. Ein Fuß steckt bereits zwischen dessen Zähnen (Abb. 4). Da Speer und Raubvogel als Óðinn-Attribute gut über- 29 Abb. bei Bæksted 1986, S. 33. 30 Vgl. auch Wilson 1980, S. 24, Abb. 19. 31 Vgl. auch Brate 1911, Nr. 181, Pl. LXI. 32 Shetelig 1933, S. 226; Pàroli 1986, S. 304, Anm. 152; Jansson 1987, S. 152; Gschwantler 1990, S. 521; Dillmann 1994, S. 371; McKinnell 1994, S. 17. 33 Vgl. Brate 1911, S. 176. 34 Vgl. Haavardsholm 1996, S. 128 f. Abb. 3 236 Wilhelm Heizmann liefert sind, liegt es zumindest nahe, diese Szene als Óðinns Kampf mit Fenrir zu deuten. 35 Axel Olrik 36 dachte aber an Víðarr, denn die eine Hand des Kriegers geht deutlich zum Oberkiefer des Caniden, wenngleich sie diesen jedoch nicht wirklich packt. Allerdings wären zu einer solchen Identifizierung weder Speer noch Raubvogel passend. Schließlich wurde die Szene auch auf Christus hin gedeutet, der den Rachen des Höllenhundes aufbricht, um ihn dann mit dem Speer aufzuspreizen. 37 Auch wenn der Adler bei dieser Deutung noch mit dem Hinweis erklärt werden könnte, daß er in der irischen Kunst öfter auf dem Haupt Christi erscheint, 38 so wird dabei doch die Funktion der Speers gänzlich mißverstanden. Er tritt nämlich hier überhaupt nicht als Gaumensperre in Erscheinung. 39 Zudem wird die Aktivität der linken Hand fehlgedeutet, denn es ist 35 Shetelig 1933, S. 225 f.; Pàroli 1986, S. 304 f., Anm. 153; McKinnell 1987, S. 332; Gschwantler 1990, S. 521. 36 Olrik 1902, S. 162 f.; 1922, S. 10 f. 37 Reitzenstein 1924, S. 172 ff.; 1926, S. 163 f.; de Vries 1957, S. 397. 38 Reitzenstein 1924, S. 178; vgl. Reil 1904, S. 120 f. Abb. 4 Fenriswolf 237 Abb. 5 238 Wilhelm Heizmann nicht zu erkennen, daß diese etwa den Oberkiefer des Caniden aufreißt. 40 Die ganze Art der Darstellung verbietet es geradezu, hier die Überwindung des tierischen Gegners herauszulesen. Abgebildet ist vielmehr dessen Attacke. Daß diese dem wichtigsten Repräsentanten der heidnischen Götterwelt gilt, der den einheimischen Überlieferunge n zufolge in diesem Kampf unterliegt, ist umso naheliegender, als auf der anderen Seite des Fragments gezeigt wird, wie Leviathan in Gestalt eines Fisches überwunden an der Angel des christlichen Gottes hängt und damit umso nachdrücklicher die Überlegenheit des neuen christlichen Glaubens unter Beweis gestellt wird. Das Kreuz von Gosforth 41 (Abb. 5) aus der nordenglischen Landschaft Cumberland zeigt auf der Ostseite über einer Kreuzigungsdarstellung zwei ineinandergeflochtene wolfsköpfige Schlangen, von denen sich die eine nach oben wendet, während die andere den Rachen gegen einen Mann öffnet. Dieser tritt mit einem Fuß zwischen die herausgestreckte zweigespaltene Zunge auf den Unterkiefer und stemmt mit der einen Hand den Oberkiefer nach oben. Die andere Hand hält einen Speer oder eher einen Stab (Abb. 5a). 42 Die Forschung hat überwiegend daran festgehalten, daß hier Víðarrs Rachetat dargestellt wird. 43 Zu dieser Deutung gibt insbesondere die charakteristische Art und Weise, wie der Rachen des Untiers aufgerissen wird, Anlaß. Sie findet in der christlichen Überlieferung kein Gegenstück. 44 Dies gilt zwar umgekehrt auch für den Stab, von dem die schriftlichen Quel- 39 Davon abgesehen ist mir aus der Überlieferung des westlichen Abendlandes kein Beispiel bekannt, daß Christus eine Lanze als Sperre des Höllenrachens verwendet. Diese Funktion erfüllt vielmehr bevorzugt der Kreuzesstab (vgl. Schmidt 1907, S. 179 mit Abb. 38 u. 39; Gschwantler 1990, S. 526 u. Anm. 48); literarisch ist dieses Motiv im Norden in einer Predigt der Hauksbók ( ca. 1290 - 1334) belegt (Eiríkur Jónsson & Finnur Jónsson 1892 - 1896, S. 169). Daß in einer serbischen Erzählung Gottes Sohn eine Lanze benützt (Jagič 1881, S. 11 ff.; vgl. Bugge 1899, S. lxii ff.; Krohn 1907, S. 158; Reitzenstein 1924, S. 190 f.), erscheint mir in diesem Zusammenhang unerheblich (vgl. Gschwantler 1990, S. 518). 40 So richtig beobachtet von Gschwantler 1990, S. 521, Anm. 36. 41 Bailey & Cramp 1988, S. 100 ff., Ill. 288 - 308 mit ausführlichen Literaturhinweisen. 42 Vgl. Bailey & Cramp 1988, S. 101; Gschwantler 1990, S. 524 f. Sowohl bei den insgesamt vier Reitern auf der Süd-, West- und Nordseite als auch bei Longinus auf der Ostseite ist jeweils die Spitze der Speere deutlich zu erkennen. Dagegen halten die beiden Gestalten auf der West- und Ostseite, die vor den geöffneten Mäulern der Ungeheuer stehen, eher Stäbe in Händen, denn es fehlt jeweils die Spitze. 43 Vgl. Olrik 1902, S. 161 f.; Parker & Collingwood 1917, S. 102 f.; Olrik 1922, S. 9 f.; Berg 1958, S. 222; Bailey 1980, S. 127 f.; Bailey & Cramp 1988, S. 102; Gschwantler 1990, S. 515 ff.; Dillmann 1994, S. 371. Als Alternative hat McKinnell auch Þórr in die Diskussion gebracht, der beim Endkampf gegen die Midgardschlange antritt (McKinnell 1987, S. 331). Skeptisch gegenüber einer Anknüpfung an heidnische Vorstellungen äußert sich Jørgen Haavardsholm (1996). Die vorgetragenen Argumente, die sich hauptsächlich mit der hier nicht zur Debatte stehenden sog. Lokiszene beschäftigen, reichen allerdings nicht aus, um diese Skepsis nachvollziehbar zu rechtfertigen. 44 Gschwantler 1990, S. 517. Abb. 5a Fenriswolf 239 len des Nordens zum Kampf Víðarrs nichts wissen. Allerdings wäre hier zu erwägen, ob es sich bei dem Stab nicht um ein Langszepter handelt, das passende Requisit für einen Gott, dessen Name wohl als »der weithin Herrschende« zu deuten ist. 45 Vereinzelt wurde die Szene als Darstellung Christi gedeutet, der dem Höllendrachen das Maul aufreißt, um die Seelen daraus zu befreien. 46 Auf diese Weise ergäbe sich eine logische Szenenfolge, denn auf die Kreuzigung Christi und seinen Tod folgt bekanntlich der Descensus ad inferos. Daß weder die heidnische noch die christliche Deutung ohne Rest mit der Bilddarstellung in Einklang gebracht werden konnte, führte schließlich zur Vermutung, daß hier eine Vermischung beider Traditionen stattgefunden habe. 47 Dies wäre am ehesten damit zu erklären, daß beide vom Sieg eines jungen Gottes über die Mächte des Todes berichten. Während für die beiden zuletzt genannten Zeugnisse ein Bezug zu einheimischer Mythenüberlieferung in visionärer Perspektive vorausgesetzt werden kann, bewegen wir uns bei anderen Bilddenkmälern auf höchst unsicherem Boden. Mit den Ragnarök wurde etwa die Darstellung auf einem Stein aus Skipwith (Eastern Yorkshire) in Verbindung gebracht. 48 Sie zeigt eine Gruppe behelmter Krieger in heftiger Bewegung. Mitten unter ihnen befindet sich ein Canide, der in den Fuß eines Kriegers beißt. 49 Auch hier gibt, wie auf dem Stein von Ledberg, allein der Biß in den Fuß Anlaß, an Fenrir und Óðinn zu denken. Nun fällt aber auf, daß die Krieger größenmäßig deutlich voneinander verschieden sind. Handelte es sich hier um eine Ragnarök-Darstellung, dann wäre folglich Óðinn entsprechend seiner Bedeutung als Göttervater mit der größten Figur zu identifizieren. Gerade ihr aber beißt der Canide nicht in den Fuß. Zudem ist ein Canide, der nach dem Fuß einer menschlichen Gestalt schnappt, allein für eine Identifizierung nicht ausreichend. Der Stein von Ovingham (Northumberland), 50 der sich als Fragment eines Steinkreuzes bestimmen läßt, zeigt auf zwei Seiten Bilddarstellungen, von denen die eine wohl einem christlichen Kontext zuzuordnen ist. 51 Die andere zeigt ein Tier zwischen zwei anthropomorphen Gestalten. Eine von ihnen trägt einen Gegenstand, der einem gewaltigen Horn ähnelt, vielleicht aber auch als Keule zu identifizieren ist. Die zweite Gestalt umfaßt das Tier, dessen geöffnetes Maul gegen ein scheiben- oder eher ringförmiges Gebilde gerichtet ist. Diese Szene wurde als Darstellung des Gottes Heimdallr mit seinem Horn sowie des losbrechenden Fenriswolfs gedeutet, der nach der Sonnenscheibe schnappt. 52 Unerklärt bleibt dabei die zweite menschliche Gestalt, die jedoch von anderer Seite als Víðarr identifiziert wurde. 53 Víðarrs Kampf mit dem Fenrir wird aber in keiner Quelle sonst mit der Verschlingung der Sonne in Verbindung gebracht und ebensowenig wird Heimdallr unmittelbar zu Fenrir in Bezug gesetzt. Daß auch eine Gestalt auf der Westseite des Gosforth-Kreuzes als Heimdallr gedeutet wird, der gegen zwei wolfsköpfige 45 Vgl. de Vries 1977, S. 659; Simek 1995, S. 454. 46 Bugge 1899, S. lxv f.; Meyer 1903, S. 60; Krohn 1907, S. 160 f.; Reitzenstein 1924, S. 172; de Vries 1957, S. 397. 47 Bugge 1899, S. lxiv f.; Dumézil 1965, S. 3, Anm. 1. 48 Shetelig 1933, S. 226; McKinnell 1987, S. 330; 1994, S. 100, Anm. 24; vgl. Bailey 1980, S. 134 u. 234; Lang 1991, S. 214 f., Ill. 823. 49 Abb. bei Bailey 1980, S. 113, Plate 38. 50 Bailey 1980, S. 133 f., Fig. 24; Cramp 1984, S. 215 f., Pl. 210, Ill. 1197 - 1200. 51 Bailey 1980, S. 133. 52 Bailey 1980, S. 133; Cramp 1984, S. 216. 53 McKinnell 1987, S. 330 f.; Gschwantler 1990, S. 531. 240 Wilhelm Heizmann Schlangen antritt, 54 besagt in diesem Zusammenhang wenig, da diese Identifizierung ihrerseits wieder höchst unsicher ist. 55 Der Grabstein (hogback) von Sockburn (Durham) zeigt auf beiden Längsseiten (A u. C) je eine menschliche Gestalt, die von mehreren Vierfüßlern umgeben ist. 56 Da die rechte Hand der einen Gestalt (A) deutlich im geöffneten Maul eines der Tiere, das zudem gefesselt ist, erscheint, hat man hier eine Darstellung der Fesselung des Fenriswolfs erkennen wollen, dem Týr als Pfand seine Hand in den Rachen legt. 57 Das Tier zur Linken wurde dagegen als Garmr interpretiert, die übrigen Vierfüßler als Begleiter des Wolfs. 58 Diese Deutung berücksichtigt nicht, daß nicht nur das Tier gefesselt ist, in dessen Rachen die rechte Hand erscheint, sondern, soweit erkennbar, auch die meisten anderen der insgesamt acht größeren Vierfüßler. Dieser Befund läßt sich ebenfalls mit der literarischen Überlieferung zur Fesselung des Fenrir nicht in Einklang bringen. Die Darstellung ist weit eher der so reich belegten Bildformel des »Herrn der Tiere« zwischen antithetischen Tieren zuzuordnen, die in vielen Kulturen belegt ist und mit ganz unterschiedlichen Inhalten gefüllt wurde. 59 Methodisch aufschlußreich kann an dieser Stelle ein Blick auf ein Bilddenkmal sein, das räumlich und zeitlich weit genug vom Norden abliegt, daß ein heidnisch-germanischer Hintergrund wohl ausgeschlossen werden darf. Die aus dem 12. Jahrhundert stammende sog. Bestiensäule aus der Krypta des Freisinger Doms zeigt mehrere anthropomorphe und theriomorphe Gestalten, die in heftige Kämpfe verwickelt sind. 60 Zwar könnte man auch hier an Óðinn und Víðarr denken, 61 doch gelingt dies nur, wenn gegen die methodischen Grundprinzipien einer wissenschaftlichen Ikonographie einzelne Motive (hier: Verschlingung eines Mannes, Stich mit dem Schwert, Griff in das Maul, Biß in den Fuß) aus einem weit komplexeren Bildkontext isoliert werden, der sonst mit der nordischen Ragnarök-Überlieferung keinerlei Gemeinsamkeiten aufweist. 62 Zwar bewegen wir uns bei den genannten Bilddenkmälern der britischen Inseln in einem Raum und in einer Zeit, in der mit stark skandinavischem Einfluß zu rechnen ist, doch mindert sich auch hier grundsätzlich die Aussicht auf eine Bestimmung der Bildinhalte in dem Maße, indem wir uns mit Details konfrontiert sehen, die wir nicht identifizieren bzw. die wir mit der literarischen Überlieferung nicht in Einklang bringen können. Es bleibt somit als Fazit, daß nur das Thorwald-Kreuz und das Gosforth-Kreuz so signifikante Details zeigen, daß ein Bezug zu Fenrir durchaus wahrscheinlich zu machen ist. Doch auch hier ergab sich nicht in jedem Punkt völlige Übereinstimmung mit der literarischen Überlieferung. Dies bedeutet, daß wir entweder mit Varianten zu rechnen haben - was nie ausgeschlossen werden kann, wie allein schon die unterschiedliche Überlieferung von Víðarrs Vaterrache zur Genüge zeigt - oder aber, daß wir mit Mischformen 54 Bailey 1980, S. 128; McKinnell 1987, S. 330; Bailey & Cramp 1988, S. 102. 55 Vgl. Krohn 1907, S. 161; Olrik 1922, S. 12 f.; Reitzenstein 1924, S. 174. 56 Lang 1972; Bailey 1980, S. 135 f., Fig. 26; Cramp 1984, S. 143 f., Pl. 145, 767 - 768, dort auch weitere Literaturhinweise. 57 Bailey 1980, S. 135 f.; McKinnell 1987, S. 330, 332; Gschwantler 1990, S. 531. 58 Lang 1972, S. 240. 59 Vgl. Cramp 1984, S. 144; zur genannten Bildformel vgl. Holzapfel 1973. 60 Abb. bei Goldschmidt 1895, S. 68, Fig. 17. 61 Vgl. Jung 1939, S. 455. 62 Vgl. Goldschmidt 1895, S. 69 f.; Reitzenstein 1924, S. 154, Anm. 2. Fenriswolf 241 rechnen müssen. Daß also als verwandt empfundene christliche und heidnische Überlieferungen eine Gemengelage eingegangen sind, die es uns unmöglich macht, die einzelnen Elemente sauber voneinander zu scheiden. Tatsache bleibt allerdings, daß wir es bei den angeführten Denkmälern überwiegend mit christlichen Monumenten zu tun haben. Daß sich das Christentum einheimische Überlieferung durchaus zu Nutze machen wußte, um eigene Glaubensvorstellungen zu transponieren, zeigen wiederum eindrucksvoll jene Kreuzfragmente von den britischen Inseln mit Darstellungen von Þórrs Angelung der Midgardschlange 63 oder der Wieland- 64 und Sigurdsage. 65 Wie man sich dabei allerdings den theologischen Hintergrund im Einzelnen vorzustellen hat, bleibt durchaus noch im Unklaren. Die neuere Forschung hat hier insbesondere unter dem Eindruck der Arbeiten Friedrich Ohlys 66 mit dem Begriff der Typologie experimentiert und darauf hingewiesen, daß in dieses Verweissystem auch Gestalten der klassischen Antike wie Odysseus, Orpheus oder Herakles einbezogen und auf Christus gedeutet werden. In gleicher Weise wäre zu bedenken, ob nicht auch Überlieferungen aus der nordischen Vorzeit typologisch umgesetzt werden konnten. 67 Dem stellen sich jedoch schwerwiegende Bedenken entgegen. Denn wohl ließe sich etwa Sigurðrs Sieg über den Drachen auf Christi Sieg über den Tod beziehen, doch beschränken sich die Bilddarstellungen keineswegs auf diese eine Episode, sondern fügen andere an, die sich jedem typologischen Bezug verweigern. 68 Zudem ist zu bedenken, daß das typologische Verweissystem auf Christus hinführt und folglich nur solche Ereignisse Verwendung finden, die zeitlich vor Christus liegen. Dies gilt aber nicht für die germanische Heldensage. Sie ist zwar in einer sagenhaften Vorzeit angesiedelt, doch handelt es sich dabei keineswegs um einen zeitlosen Raum. Dies läßt sich etwa am Beispiel des Nornagests þáttr 69 zeigen. Als der norwegische König Ólafr Tryggvasons (reg. 995 - 1000) Nornagestr nach seinem Alter befragt, nennt dieser die erstaunliche Zahl von 300 Jahren (NornFlat 358). Da er aber in seiner Jugendzeit Augenzeuge der Heldentaten Sigurðrs und seines tragischen Endes geworden war, wäre dieses Geschehen nach 700 anzusiedeln. Noch problematischer ist es, ein Ereignis miteinzubeziehen, das noch gar nicht eingetreten ist, sondern wie im Falle von Óðinns und Víðarrs Kampf gegen den Fenriswolf visionärer Schau zu verdanken ist. 70 Nicht ausser Acht gelassen werden sollte ferner, daß die Typologie in der frühchristlichen Kunst nur eine sehr bescheidene Rolle spielt. Ihre Blütezeit liegt erst im 12. und 13. Jahrhundert, also lange nach der Zeit, in der wir uns mit den hier diskutierten Bilddenkmälern der britischen Inseln bewegen. 71 Aufgrund dieser Überlegungen sollte man sehr zurückhaltend sein, im Zusammenhang mit der Darstellung von Motiven aus der germanischen Helden-und Göttersage auf christlichen Monumenten mit dem Begriff Typologie zu operieren. Zwar geht es auch hier um ein In-Bezug-setzen, ein Vergleichen und Verweisen, doch kaum auf jenem systematischen Niveau, das die christliche Typologie voraussetzt. 63 Vgl. Gschwantler 1968 und 1990, S. 533 f. sowie den Beitrag »Midgardschlange« in diesem Band. 64 Bailey 1980, S. 103 ff. 65 Bailey 1980, S. 116 ff; Düwel 1986 mit weiterführender Literatur. 66 Vgl. Ohly 1966 sowie den Sammelband Ohly 1977. 67 Gschwantler 1968, S. 163 f.; 1990, S. 509 f.; Düwel 1986, S. 264 ff. mit weiteren Literaturhinweisen. 68 Diese Schwierigkeit räumt auch Düwel ein (1986, S. 270 f.). 69 Zitiert nach Guðbrandur Vigfússon & Unger 1860. 70 Gschwantler hat dies in seiner Publikation von 1990 bereits als auffällig registriert (S. 529 f.). 71 Vgl. Schrenk 1997, Sp. 1133 f.; Engemann 1997, Sp. 1134 f. 242 Wilhelm Heizmann III Eine andere Frage ist, ob und in welcher Weise christliche Vorstellungen auf die heidnische Überlieferung und umgekehrt die heidnische auf die christliche eingewirkt haben. Zumeist ist man dieser Frage überhaupt nur im Hinblick auf die erste Richtung nachgegangen. 72 Nur Otto Gschwantler hat die Frage auch anders herum gestellt. Er machte auf eine Passage in dem um 1120 entstandenen frühmittelhochdeutschen Gedicht Leben Jesu 73 der Frau Ava aufmerksam, 74 der ersten namentlich bekannten Dichterin in deutscher Sprache. 75 Sie schildert dort in teilweise wörtlicher Übereinstimmung mit der zwischen 1060 und 1080 entstandenen Althochdeutschen Genesis 76 (v. 5586 ff.) den Abstieg Christi in die Hölle und die Überwindung des Höllenhundes. Diesem werden von Christus zunächst die Kiefer auseinandergebrochen (nur bei Frau Ava), dann wird er gefesselt und in den Abgrund geschleudert. Damit sein Rachen für immer geöffnet bleibt, steckt Christus dem Untier einen Ring - in der Millstätter Genesis (um 1150) und der Görlitzer Handschrift des Avatextes (14. Jahrhundert) ist es ein Klotz (zol) - als Gaumensperre zwischen die Kiefer (Str. 161). Wie bei Snorri, wenn auch in anderer Reihenfolge und als ein Ereignis geschildert, erscheinen hier die Motive »Zerbrechen der Kiefer«, »Fesselung des Untiers« und »Gaumensperre«. 77 Da diese auffällige Motivkombination nur bei Frau Ava 78 und bei Snorri begegnet, ist die Frage nach einer gegenseitigen Beeinflussung der Traditionen legitim. Da die literarischen Zeugnisse für den Fenrir-Mythos weit vor Frau Avas Gedicht liegen, wäre in diesem Fall der Weg von Nord nach Süd nicht ausgeschlossen. 79 Gschwantler erwägt als Kontaktzone das England des 9./ 10. Jahrhunderts und nimmt an, daß sich die Nordversion zunächst in der Mündlichkeit verbreitet hätte. 80 Über die Parallelen zu christlichen Überlieferungen hinaus hat insbesondere die ältere volkskundlich orientierte Erzählforschung immer wieder auf verschiedene motivliche Übereinstimmungen zum Fenrir-Mythos in Erzählungen hingewiesen, die vom Balkan bis Sibirien anzutreffen sind. Dazu gehören etwa das von der Erde bis zum Himmel klaffende Maul, 81 das Zerbrechen der Kiefer, 82 der Tritt in das Maul des Untiers, 83 die Gaumensperre, 84 das gebundene Raubtier 85 oder das unscheinbare Band als Fessel, die 72 Meyer 1889, S. 150 ff., 203 f.; 1903, S. 346 f.; Bugge 1899, S. lvii ff.; Falk 1908; Hagen 1910; Krohn 1907, S. 156; 1911, S. 542 f.; vgl. dazu auch die ausführliche Zusammenstellung bei Dillmann 1994, S. 373. 73 Maurer 1966. 74 Gschwantler 1990, S. 510 ff.; vgl. Bugge 1899, S. xl f.; Krohn 1907, S. 159 f.; Reitzenstein 1924, S. 172 f. 75 Papp 1978. 76 Dollmayr 1932. 77 Anders als Gschwantler kann ich nicht erkennen, daß in dieser Kombination bei Frau Ava das Brechen der Kiefer überzählig ist (Gschwantler 1990, S. 521). Die Reihenfolge erscheint mir logisch und konsequent. Zuerst wird der Höllenhund unschädlich gemacht, indem ihm die Kiefer gebrochen werden. Die Fesselung schränkt seine Bewegungsfreiheit ein. Erst die Gaumensperre stellt sicher, daß die Seelen derjenigen, die durch ihre Sünden in seinen Schlund geraten sind, daraus auch wieder ohne weiteres befreit werden können. 78 Vgl. Gschwantler 1990, S. 531 f. 79 Vgl. dazu auch grundsätzlich Gschwantler 1990, S. 528 ff. 80 Gschwantler 1990, S. 523 ff., 532 f. 81 Jagi č 1881, S. 11 f.; Bugge 1899, S. lxii f.; Krohn 1907, S. 158; Olrik 1922, S. 91 ff. 82 Gschwantler 1990, S. 522. 83 Olrik 1922, S. 92. 84 Jagič 1881, S. 11 f.; Bugge 1899, S. lxii f.; Krohn 1907, S. 158; Olrik 1922, S. 91 ff. Fenriswolf 243 sich immer stärker zusammenzieht 86 . Über die Feststellung motivlicher Gemeinsamkeiten hinaus ist der Erkenntnisgewinn solcher Vergleiche jedoch eher gering, denn alle Versuche, die unleugbar vorhandenen Parallelen des Fenrir-Mythos zu christlichem, manichäischem 87 oder dem Erzählgut anderer Kulturen im Sinne einer Einflußnahme auf die Ausprägung der nordischen Überlieferung zu erklären, sind in höchstem Grade hypothetisch. Für uns ist zum einen keinerlei Sicherheit über die Wege möglicher Motivwanderungen zu gewinnen, und zum andern sind die herangezogenen Parallelen oft erheblich jüngeren Datums als die Zeugnisse zum Fenrir-Mythos selbst. IV Um zu einem angemessenen Verständnis des Fenrir-Mythos zu gelangen, bedarf es in der Tat der bislang vorgebrachten Überlieferungen anderer Kulturen nicht. Er erweist sich vielmehr bei näherem Zusehen als bemerkenswert konsistent und durchaus aus sich selbst heraus verstehbar. Fenrir ist genealogisch verbunden mit dem Todesreich (Hel) und dem Chaosungeheuer (Midgardschlange) und gehört damit zu den prominentesten Repräsentanten der Todeswelt. Durch visionäre Zukunftsschau (goþin r ô kþv til spadoma) 88 ist das Schicksal dieser Wesen bereits von Anbeginn an das der Götter und der Schöpfung geknüpft und das große Thema der Ragnarök, nämlich deren Untergang, angestimmt. Deshalb kann auch Fenrirs vorläufige Überwindung sowie der Verlust von Týrs Hand in seinem Rachen als Vorausdeutung auf Zukünftiges gesehen werden: Die Jugendzeit des Wolfs nimmt in entsprechend bescheidenerem Ausmaß gleichsam spiegelbildlich die in kosmische Dimensionen gesteigerten Ereignisse der Endzeit vorweg. In deren Verlauf tritt Fenrir nicht nur als gewaltiges Verschlingungsungeheuer in Erscheinung. Zugleich wird dort auch von seiner endgültigen Überwindung durch den Óðinn- Sohn Víðarr berichtet. Die kosmische Perspektive kommt daher nicht erst später und von außen dazu, 89 sondern ist von Anfang an im Mythos angelegt. 90 Darüber hinaus verbinden Fenrirs Taten mit Týr, den er verstümmelt, und Óðinn, den er verschlingt, die beiden wichtigsten Repräsentanten höchster Herrschergewalten (Souveränität). 91 Daß der Wolf 85 von der Leyen 1908, S. 9 ff.; Olrik 1922, S. 85 ff., 291 ff. Insbesondere Bugge (1899, S. lvii f.) und Axel Olrik (1902, S. 236; 1922, S. 81) wollten die Fesselung des Fenriswolfs mit der Lokis parallelsetzen. Nach Olrik gehöre auch der gebundene Fenriswolf letztlich zu den vor allem im Kaukasus verbreiteten Vo rstellungen vom gebundenen Erdbebendämon (1922, S. 133 ff., 322 ff.). Während aber selbst dem gefesselten Loki, der von Snorri expressis verbis mit Erdbeben in ursächliche Verbindung gebracht wird (Gylf 50), von George Dumézil die Verwandtschaft mit »den großen ›Gefangenen‹ des Kaukasus« abgesprochen wird (1959, S. 116 f.), so fehlt bei Fenrir bis auf das Moment der Fesselung erst recht jeglicher Zug, der in diese Richtung weist (vgl. Krohn 1907, S. 165 f.). Fenrir ist vielmehr ein Verschlingungsungeheuer (vgl. dazu mehr weiter unten). 86 Krohn 1907, S. 153 ff.; von der Leyen 1908, S. 24 f. 87 Diese These wurde insbesondere von Richard Reitzenstein vorgetragen (1924; 1926). 88 Finnur Jónsson 1931, S. 34.18f. 89 So die Auffassung von Gschwantler (1990, S. 521). 90 Wegweisend für diese Sicht Christel Meier 1990, S. 43 (vgl. unten Anm. 108). 91 Damit wird ein Thema aufgerufen, das Dumézil bei verschiedenen indogermanischen Völkern nachweisen zu können glaubte (vgl. 1959, S. 61 ff.; 1973, S. 26 ff.). Eine scharfe Abfuhr erteilt den Dumézilschen Thesen dagegen Klaus von See (1988, S. 56 ff.). 244 Wilhelm Heizmann einerseits den Göttervater tötet und andererseits die Sonne verschlingt, macht wiederum den engen Bezug zwischen den Göttern, speziell Óðinn und der Weltordnung und damit auch der Unordnung durch die Ragnarök deutlich. 92 Mit beider Verschlingung ist das letzte Wort im kosmischen Drama allerdings noch nicht gesprochen. Óðinns Tod wird durch seinen Sohn Víðarr gerächt, den die Quellen nur in dieser einen Funktion kennen und der den Untergang der alten Welt überleben wird (Grm 51). Und auch die Sonne gebiert eine Tochter, die auf den Pfaden der Mutter der neuen Welt leuchten wird (Vm 47). Die literarische Überlieferung des Nordens beläßt es also nicht allein beim Thema Tod und Vernichtung, sondern kündet zugleich von deren Überwindung und den regenerativen Potenzen der Schöpfung, die einen Neubeginn ermöglichen. Daß diese Zusammenhänge nicht erst im nordischen Mittelalter hergestellt wurden, läßt sich mit Hilfe einer alten Bildüberlieferung, die bis in die Mitte des ersten nachchristlichen Jahrtausends zurückreicht, zeigen. Denn als sicheres Bildzeugnis zu Týrs Handverlust im Rachen des Wolfs darf der Avers des Goldbrakteaten von Trollhättan-B (IK 190) aus der schwedischen Landschaft Västergötland gelten (Abb. 6). 93 Auf künstlerisch höchst eindrucksvolle Weise ist hier das Problem bewältigt, auf einem winzigen Bildfeld von 28 mm Durchmesser jenen Augenblick wiederzugeben, als der Wolf zubeißt. Der ungeheuerliche Schmerz des Gottes findet dabei seinen expressiven Ausdruck darin, daß der Künstler Týrs Körper aus der Bildachse in die dem Wolf entgegengesetzte Seite dreht. Das hier in die Waagerechte gekippte Doppelknaufszepter in der rechten Hand des Gottes sowie der kurze gestreifte Rock verbinden ihn ikonographisch mit dem Speerträger auf den Drei-Götter-Brakteaten, die von Karl Hauck überzeugend als Darstellung des Götterfürsten Óðinn in der Marsbildnachfolge gedeutet wurde, die zunächst Týr zukam. 94 Zusammen mit Óðinn selbst erscheint der Wolf auf dem südjütländischen Brakteaten Skrydstrup-B (IK 166) (Abb. 7). 95 Zwar ist sein zahnbewehrter Rachen weit aus- 92 Vgl. Lindow 1985, S. 47. 93 Zuerst gesehen von Eric Graf Oxenstierna, ohne jedoch mit der einschlägigen Schriftüberlieferung zu argumentieren (1956, S. 36); vgl. auch Hauck 1977 (XIII), S. 169 f.; 1980 (XX), S. 282; 1988 (XL), S. 18; 1992 (XLIX), S. 127 f.; 1993 (LII), S. 444; Die verfehlte Interpretation als Seherin, die von Lotte Motz vorgetragen wurde (1994, S. 15 ff.), berücksichtigt weder die ikonographischen Äquivalente zu Tracht und Requisite noch die antike Mars-Ikonographie. 94 Hauck 1980 (XX), S. 282; 1988 (XL), S. 19; (LV), im Druck, nach Anm. 191 u. nach Anm. 209. Als Beispiel ist dort Gudme-B (IK 51,3) verwendet; das Doppelknaufszepter wird neben dem Speer auf Fakse-B (IK 51,1) abgebildet. Abb. 6. Fenriswolf 245 einandergerissen, zugleich erweist ihn die Rückenlage den antiken und frühmittelalterlichen Bildkonventionen gemäß als besiegt und überwunden. 96 Vor dem Wolf erscheint im Epiphanie-Gestus 97 eine mächtige menschliche Gestalt, die durch die Haartracht mit dem am Nacken angesetzten Vogelkopf und das Vogelgeleit als Óðinn charakterisiert ist. 98 Die Aussage des Bildes erschließt die Figurengruppe rechts von der Bildmitte. Sie zeigt einen Hirsch über einem ineinander geflochtenen Schlangenpaar. Das eine Tier erhebt sein weit geöffnetes Maul gegen die Weichen des Hirsches. Der bildlichen Darstellung dieser lebensbedrohenden Schlangenattacke 99 antwortet die runische Wortüberlieferung mit der Versicherung von Rettung und Heil. Denn gegen diesen perfiden Angriff ist ein Kraut gewachsen. Seinen Namen teilt der Brakteat über dem Rükken des Hirsches mit dem runischen Wort lauka R »Lauch« mit. 100 Diese Pflanze rühmen die mittelalterlichen Schriftzeugnisse des Nordens als Panacee und Lebenskraut. 101 Der Hirsch, so lehrt die antike und mittelalterliche Naturkunde, kennt das rettende Kraut und vermag damit die tödliche Bedrohung abzuwehren. 102 Diese Heilsgewißheit deutet schon die Darstellung des Schlangenpaares selbst an. Nicht nur dessen Verschlingungen kennzeichnen die Angreifer als gebannt und überwunden 103 , sondern auch der trium- 95 Zuerst gesehen von Eric Graf Oxenstierna (1956, S. 36, Abb. 99 bei S. 144) und auf Týr umgefälscht durch Tilgung der signifikanten Haartrachtelemente Óðinns sowie seines Rabengeleits. Für einen ersten Versuch einer Gesamtdeutung der Ikonographie dieses Brakteaten siehe Hauck 1970, S. 322 ff.; vgl. auch 1977 (XIII), S. 171 ff.; 1980 (XX), S. 282; 1984 (XXX), S. 288, 292. 96 Vgl. Hauck 1970, S. 324 f.; (LIV), im Druck, vor Anm. 76. 97 Hauck 1993 (LII), S. 456. 98 Vgl. Hauck 1977 (XIII), S. 173; 1980 (XX), S. 282; 1984 (XXX), S. 288; 1988 (XL), S. 24 f.; 1992 (XLIX), S. 114 f.; 1994, S. 78 f.; (LIV), im Druck, nach Anm. 6. 99 Der hier dargestellte Antagonismus von Hirsch und Schlange steht in einer reichen literarischen und bildlichen Tradition (vgl. Clermont-Ganneau 1901; Puech 1949; Ettinghausen 1955; Kolb 1971; Gerlach 1970, Sp. 286; Domagalski 1991, Sp. 573 ff.). 100 Zu den lauka R -Inschriften auf Goldbrakteaten vgl. Heizmann 1987. 101 Vgl. Heizmann 1992, S. 380 ff., speziell die Anm. 33 - 35. 102 Vgl. Peuckert 1931/ 1932, Sp. 87 f.; Orth 1913, Sp. 1944. 103 Vgl. Hauck 1988 (XL), S. 33, 35, 36. Abb. 7 246 Wilhelm Heizmann phierende Tritt des Götterfußes auf die Schwanzenden der Schlangen. 104 Das Bild vom Kampf des Hirsches mit den Schlangen auf dem Skrydstrup-B Brakteaten kündet demnach von einem Sieg über lebensbedrohende Mächte. 105 Dieser Sieg findet im Bild des überwundenen Fenriswolfs seine unmittelbare Entsprechung, denn beide Darstellungen sind auf dem Brakteaten nach dem synoptischen Prinzip als zwei unterschiedliche Phasen aufeinander bezogen. 106 Die Botschaft des Brakteaten muß daher lauten: Daß der Hirsch die Schlangenattacke abzuwehren vermochte und in den Ragnarök auch Fenrir, das gewaltige Verschlingungsungeheuer besiegt wird, 107 ist der sichere Garant für die grundsätzliche Überwindbarkeit aller unheilvollen Mächte. Diese beiden Phasen verbinden somit vergangene Heilstaten und visionär geschaute zukünftige mit der Gegenwart des Amuletträgers und schaffen mit dieser Synopse der Zeiten ein Abbild von Dauer und Ewigkeit. 108 Im Bild vom Schlangenkampf des Hirsches wird aber noch ein weiterer Aspekt sichtbar. Nach früher christlicher Überlieferung gewährleistet nämlich die Kraft der Heilkräuter, daß sich der Hirsch durch den Verzehr der Schlangen verjüngt. 109 Daß solche Regenerationsprozesse auch auf dem Brakteaten thematisiert sind, wird augenfällig durch die Nennung des Lauchs. Denn für dessen außergewöhnliche Wertschätzung als Lebenskraut liefert die V ô lospá eine genuin mythische Begründung. In Strophe 4 heißt es dort, daß die von Burs Söhnen aus dem Ginnungagap emporgehobene Erde zu allerst bewachsen war mit grünem Lauch (þá var grund gróin gr œ nom lauki). Die Pflanze der mythischen Urzeit ist nach altnordischer Überlieferung also nicht irgendeine Pflanze, sondern der Lauch, der somit die produktiven und regenerativen Potenzen der Welt in ihrem primordialen Zustand in sich birgt. 110 Von solchen regenerationsmythischen Vorstellungen weiß zwar auch die mittelalterliche isländische Textüberlieferung des Fenrir-Mythos zu berichten, doch regenerieren sich dort die Repräsentanten der alten Welt in ihren Nachkommen. Die Elterngeneration geht dagegen im großen Vernichtungskampf der Ragnarök zugrunde. Nach Ausweis von Skrydstrup-B ist es dagegen der heilkundige und zaubermächtige Götterfürst Óðinn selbst, dem die größtmögliche Tat eines Gottes vorbehalten bleibt: den Tod zu 104 Hauck 1984 (XXX), S. 287 f.; 1985 (XXXI), S. 120; 1986 (XXXV), S. 497 ff.; (LV), im Druck, nach Anm. 233. 105 Vgl. damit auch die Lauch-Darstellung auf einem der Mähnenstühle aus Mammen (Abb. bei Näsman 1991, S. 227 f. mit Fig. 11), dessen wikingerzeitliche Bilder ebenfalls davon berichten, daß Chaos und Vernichtung durch göttliche Macht überwunden wird (Schmidt-Lornsen 1991, S. 265). 106 Zu dem im Zusammenhang mit den mittelalterlichen Schemabildern eingeführten Begriff »synoptisches Prinzip« vgl. grundlegend Christel Meier: »Neben dem Schematischen und Geometrisch-Abstrakten ist für diesen Bildtyp vor allem das synoptische Prinzip kennzeichnend, das heißt die Vereinigung vieler verschiedener Elemente differenter Gegenstands- und Bedeutungsbereiche in einer Bildkomposition.« (1990, S. 38). Vgl. auch Hauck 1992 (XLIX), S. 118 f. 107 Vgl. das ikonographische Äquivalent Ulvsunda-B (IK 195) mit der auf dem Rücken liegenden Ketosversion des Untiers. 108 Vgl. dazu Meier 1990, S. 43: »Neben Vielheit und Reduktion ist vor allem die Synopse der Zeiten zur Simultaneität, die Zusammenschau von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als Abbild der Ewigkeit ein Merkmal des kontemplativen contuitus, des Sehens mit dem ›anderen Auge innen‹«. Zum Aspekt der Ewigkeit siehe auch Heizmann, im Druck (b). 109 Belege bei Domagalski 1991, Sp. 575 und Gerlach 1970, Sp. 286. 110 Vgl. Heizmann 1992, S. 383 mit Anm. 36. Fenriswolf 247 überwinden und damit seine Weiterexistenz in einem neuen Weltzyklus zu sichern. 111 Gewiß ist diese Sehweise aus der Perspektive der literarischen Quellen des Nordens zunächst eine überraschende und ungewohnte. Das Thema selbst aber ist auch dieser Überlieferung nicht fremd. Denn Óðinn wiederholt damit eine Tat aus den Urzeiten der Schöpfung, als er sich im Vollzug seines göttlichen Selbstopfers schon einmal der Todeswelt aussetzte und sie überwand. Erst durch diese Urinitiation wurde die Findung der Runen möglich (Háv 138 - 139). Wie sehr dieses Ereignis in eine zyklische Weltsicht 11 2 eingebunden ist, zeigt, daß sich die Götter im Augenblick des Neubeginns nach den Ragnarök gerade daran als erstes erinnern (Vsp 60). Auch hier ist unüberhörbar das Thema Regeneration angestimmt, denn Óðinns in den Tagen der Urzeit gefundene Runen gehen damit ein in den Bestand der neuen Welt und stellen mit ihren enormen Wachstumskräften eine gedeihliche Zukunft sicher. 113 Daß Óðinns Verschwinden im Rachen des Verschlingungsungeheuers in den hier skizzierten Kontext gehört, zeigt eine weltumspannende Überlieferung. Sie kennt das Verschlungenwerden durch ein Ungeheuer und das Wiederhervortreten als zentralen Bestandteil von Initiationsriten- und mythen. Das verschlingende Ungeheuer symbolisiert den Tod und die Rückkehr zum primordialen Zustand der Finsternis und des Chaos. Über diese Erfahrung führt der Weg zur Wiedergeburt, die jedoch nicht einfach die Fortsetzung der alten Existenz bedeutet, sondern eine neue Daseinsqualität durch Zuwachs an Wissen und Fertigkeiten ermöglicht. 114 Das Schicksal des Verschlungenwerdens teilt Óðinn u.a. mit Väinemoinen und Illmarinen aus der finnischen Überlieferung, mit dem polynesischen Helden Nganaoa oder schließlich auch dem alttestamentlichen Propheten Jonas, um nur einige wenige prominente Beispiele zu nennen. 115 In allen diesen Mythen bleibt es nicht allein beim Verschwinden der Protagonisten. Sie berichten zugleich auch von deren Befreiung. Die Brakteatenüberlieferung legt nahe, daß dies auch Óðinn gelingt. 116 In diese Zusammenhänge fügt sich auch jenes Verschlingungsungeheuer ein, das in so mannigfach variierter Form auf den Brakteaten begegnet. Denn es ist nicht allein in Form der literarisch bezeugten, realistischen Wolfs-Gestalt wie auf Trollhättan-B und Skrydstrup-B anzutreffen. Ikonographische Äquivalente zeigen den Fenriswolf vielmehr auch als Nord-Version des antiken Ketosungeheuers, 117 das in zwei Formen auftritt, für die hier stellvertretend die Brakteaten von Ulvusunda-B (IK 195) 118 und Hohenmemmingen-B (IK 278) 119 angeführt seien. (Abb. 8 u. 9) Der Schlüssel zum Verständnis die- 111 Zu dieser neuen Sicht vgl. Hauck 1984 (XXX), S. 293 f.; 1985 (XXXI), S. 106; (LIV), im Druck, nach Anm. 55. 112 Vgl. dazu Dronke 1989, S. 40 ff.; Schjødt 1981; 1991, S. 54. 113 Vgl. dazu Heizmann, im Druck(b). 114 Frobenius 1904, S. 59 ff.; Hauck 1976 (X), S. 104 ff.; 1977 (XIII), S. 179 ff.; 1985 (XXXI), S. 119 ff.; Eliade 1961, S. 9 ff., 67 ff.; 1961a, S. 306 ff., 312 ff.; Grohs 1993, S. 239, 244, 247 f.; vgl. auch Sigurður Nordal, der von einer vermehrten und verbesserten Neuausgabe der alten Welt spricht (1980, S. 108). 115 Schmidt 1907; Eliade 1961, S. 106 ff.; 1961a, S. 307 ff.; Hauck 1977 (XIII), S. 181 f.; Steffen 1963, S. 30 ff. 116 Aufgrund der ethnologischen Parallelen hat im übrigen schon Freda Kretschmar den Gedanken geäußert, daß Víðarrs Rachetat eine Befreiungstat sei, daß also Óðinns Existenz durch die Verschlingung nicht vernichtet wird (1938, S. 178). 117 Zum Folgenden vgl. insbesondere Hauck (LIV), im Druck, Unterabschnitt 7 nach Anm. 40. 118 Hauck 1976 (X), S. 97 f.; 1977 (XIII), S. 177 f.; (LIV), im Druck, nach Anm. 48. 119 Hauck 1985 (XXXI); 1986 (XXXXIII), S. 268 f.; (LIV), im Druck, nach Anm. 53. 248 Wilhelm Heizmann ser unterschiedlichen Darstellungen liegt im Nachweis von Land- und Seevarianten des die Todeswelt repräsentierenden Verschlingungsungeheuers. 120 Die Seeversion konkretisiert das Jonas-Ketos des frühen 4. Jahrhunderts auf dem Mosaik der Bischofskirche des Theodorus in Aquileia. 121 In seinem Bauch verbringt nicht nur der Prophet Jonas drei Tage und Nächte, bevor er wieder ausgespieen wird (Jon 2,1 - 11), vielmehr vergleicht damit auch Jesus im Neuen Testament ausdrücklich seinen eigenen Aufenthalt im Reich des Todes (Mt 12,40). Die Darstellung dieses Verschlingungsungeheuers führt zurück auf wolfsköpfige antike Seemonstren mit geringeltem Drachenleib. 122 Die Landversion des Ketos als Wächter vor dem brennenden Höllenpfuhl wurde von Psalterien des 6. Jahrhunderts überliefert, die im karolingischen Stuttgart-Psalter als Vorlagen dienten. 123 Auch hier ist das Ketos wolfsköpfig. Diese Überlegungen führen schließlich zu gewichtigen Konsequenzen für die Deutung des Namen »Fenrir« selbst. 124 Denn die unterschiedlichen Bemühungen um eine Deutung stimmen doch zumeist in dem einen Punkt überein, daß der Name etymologisch mit altnordisch fen zu verknüpfen sei. Das Verschlingungsungeheuer der nordischen Überlieferung wäre demnach durch seinen Namen als Bewohner des fen charakterisiert. 120 Vgl. Eliade 1961a, S. 311 f.; Hauck 1977 (XIII), S. 183. 121 Hauck 1976 (X), S. 97; 1977 (XIII), S. 177 f.; (LIV), im Druck, Fig. 10 b; vgl. auch Schmidt 1907, S. 92 ff. mit Abb. 13 - 15. 122 Hauck 1976 (X), S. 97 f. u. Tav. VIII; (LIV), im Druck, nach Anm. 47. 123 Hauck (LIV), im Druck, nach Anm. 61, Fig. 16 a und b. 124 Vgl. zum Folgenden Heizmann, im Druck(a), mit ausführlichen Literaturhinweisen. Abb. 8 Fenriswolf 249 Da aber das Neutrum fen sowohl in der Bedeutung »Sumpf« wie »Meer« belegt ist, verteilen sich die Ansichten, welche von beiden Möglichkeiten zu bevorzugen sei, auf zwei Lager. Vor dem Hintergrund der oben angeführten Überlieferung von Land- und Seevarianten des Verschlingungsungeheuers, die den Norden seit der Spätantike erreichte und in die letztlich auch der Fenriswolf einzuordnen ist, erweist sich dieser Streit als müßig. 125 125 Daß wir neben der Landvariante auch im wikingerzeitlichen Horizont auf die Seevariante stoßen, zeigt die Verschlingungsszene des Mähnenstuhls aus Mammen (Schmidt-Lornsen 1991, S. 264 ff.; Näsman 1991, S. 227 f. mit Abb. 15; vgl. auch Hauck 1976 (X), S. 98 f.; 1977 (XIII), S. 179), denn dort kann das Verschlingungsungeheuer als Seewesen ikonographisch ermittelt werden (unveröffentlichte Beobachtung von Karl Hauck). Abb. 9 250 Wilhelm Heizmann Bibliographische Hinweise Bailey, Richard N.: Viking Age Sculpture in Northern England. London 1980. Bailey, Richard N.; Rosemary Cramp: Corpus of Anglo-Saxon Stone Sculpture in England. Bd. 2: Cumberland, Westmorland and Lancashire North-of-the-Sands. Oxford 1988. Berg K.: Gosforth-korset. 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Abb. 2: Der gefesselte Fenriswolf; AM 748 4to x (1680), Bl 43v (Den arnamagnæanske Kommission, Bengt Mann Nielsen). Abb. 3: Kampfszene mit einem Caniden; Stein von Ledberg (McKinnell 1994, Fig. 4). Abb. 4: Óðinn kämpft mit dem Fenriswolf; Thorwald-Kreuz, Kirk Andreas, Isle of Man (McKinnell 1994, Fig. 5). Abb. 5: Gosforth-Kreuz, Cumberland (McKinnell 1994, Fig. 14). Abb. 5a: Kampf mit einer wolfsköpfigen Schlange, Detail aus der Ostseite des Gosforth- Kreuzes, Cumberland (Stevens 1884, S. 16). Abb. 6: Týrs Hand im Rachen des Fenriswolfes; Trollhättan-B, Avers (IK 190 Av b). Abb. 7: Fenriswolf (links), Óðinn (mitte), Attacke zweier Schlangen auf einen Hirsch (rechts); Skrydstrup-B (IK 166b). Abb. 8: Óðinn und das Ketosungeheuer; Ulvsunda-B (IK 195 b). Abb. 9: Óðinn und das Ketosungeheuer; Hohenmemmingen-B (IK 278 b1). Golem Christa Habiger-Tuczay (Wien) Christa Habiger-Tuczay Der Golem in den jüdischen Quellen Die jüdische Sage von einem aus Erde oder Lehm geformten Wesen, das durch ein magisches Wort zum Leben erweckt wird, steht in engem Zusammenhang mit den biblischen Schöpfungsgeschichten, die von der Erschaffung des Adam berichten. Die Vorstellung eines von Menschenhand geschaffenen künstlichen Menschen entwickelte sich in talmudischer Zeit (200 - 500 n.Chr.), seitdem hat der Stoff bis ins 20. Jahrhundert zahlreiche mündliche und schriftliche Bearbeitungen erfahren. Zum ersten Mal findet sich das hebräische Wort in einer Stelle der Bibel, Ps. 139, 15. »Meinen Golem sahen deine Augen«. Diese Stelle wurde unterschiedlich übersetzt: Luther gibt »Golem« mit »unvorbereitet«, Kautzsch als »Erdklümpchen« wieder. 1 Das Wort »Golem« taucht als Bezeichnung für den künstlich geschaffenen Menschen aber erst im 12. Jahrhundert in den Schriften der sog. deutschen Kabbalisten 2 auf, die den größten Anteil an der Entwicklung und Entstehung des Motivs zu haben scheinen. 3 Die biblische Vorstellung des Unvorbereiteten, Unfertigen, erfährt in den Schriften des Talmud eine allgemeinere Bedeutung. Eine Ableitung bezeichnet einen rohen unfertigen, ungeschickten Menschen als Golem. Dieser Aspekt hat auch in einigen späteren Varianten 4 der Golemsage Eingang gefunden. Die Adamsage der Talmudzeit 5 bezeichnet den unfertigen ungeformten Menschen Adam als Golem. Adamsage und Golemsage stehen inhaltlich in einem sehr engen Zusammenhang. Beide handeln von einem Erdklumpen, der zum Leben erweckt wird. Der Unterschied liegt in der Identität des Schöpfers. Die Adamssage schöpft allerdings aus verschiedens ten Quellen. Verschiedene Auslegungen der Schöpfung sgeschichte brachten ebenso unterschiedliche Auslegungen des Begriffes »Golem«. Der erste Mensch war ein undifferenzierter Lehmklumpen, ohne Sprachvermögen. Diese Stummheit des Golem war gleichzeitig sein Unterscheidungskriterium zu dem von Gott geschaffenen Menschen. Eine Talmudstelle grenzt den Golem als Zustand Adams, in der er zeitlich eine gewissen Spanne, bis zu seiner Erweckung verharren mußte: »In der ersten Stunde wurde das materielle Substrat gesammelt, in der zweiten seine Gestalt roh geformt [= Golem], in der dritten seine Glieder gebildet, in der vierten ihm die Seele eingehaucht.« 6 1 Kautzsch, E.: Die heilige Schrift des Alten Testamentes. Bd. II. 1903, S. 240. 2 Epstein hat diese mystische Richtung der Kabbalisten in Deutschland als deutsche Kabbala bzw. auch deutschen »Chassidismus« bezeichnet, vgl. dazu Hachoker: Zum Ursprung der deutschen Kabbala. Wien 1894, S. 1 f. Scholem, Gershom: Ursprung und Anfänge der Kabbala. Berlin 1962, (Studia Judaica, Bd. III); ders.: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Zürich 1957; ders.: Die Kabbala und ihre Symbolik. Zürich 1960; ders.: Studien zur jüdischen Mystik. Frankfurt/ M. 1981. 3 Vgl. bes. die Dissertation von Rosenfeld, Beate: Die Golemsage und ihre Verwertung in der deutschen Literatur. Breslau 1934. 4 Vor allem in Zusammenhang mit den Sagen um den Prager Rabbi Löw. 5 Vgl. Fröhlich, Ida: Adam. In: Enzyklopädie des Märchens. Bd. 1, Sp. 85 - 89. 258 Christa Habiger-Tuczay Im Midrasch Abkin bleibt Adam ein Golem bis zuletzt, also während der ganzen Schöpfung. Erst am Schluß wird er beseelt. 7 Im Psalm 2,7 heißt es: »Hierauf bildete Gott, der Herr den Menschen aus Erdenstaub und hauchte ihm ins Angesicht Odem des Lebens; so wurde der Mensch zu einem lebenden Wesen.« Diese Verbindung zwischen Geist und Materie wurde von den jüdisch-gnostischen Sekten als »unio mystica« 8 verstanden. 9 Analog zur Erschaffung des Menschen bedarf es bei der Erschaffung des künstlichen Geschöpfes bestimmter unabdingbarer Grundsätze: den Rohstoff, die (jungfräuliche) Erde, den Geist, der die Seele in den Erdkörper hineinlegen kann, und als Wichtigstes das Wort der Macht, das Leben bewirkt. Das Gotteswort allein ließ, so die Genesis, die ganze Schöpfung entstehen. Adam als Abbild Gottes hat als einziges Wesen die Gabe des Wortes. Als mit Sprache begabtes Wesen kann er alle anderen Geschöpfe beherrschen, indem er sie benennt, ihnen mit dem Namen Identität verleiht. Im Mittelalter wird ein jeder seelenloser, aber lebendiger Körper als Golem bezeichnet. Das Leben wird diesen Körpern durch ein Schildchen mit dem Gottesnamen, das sie an der Stirn tragen, eingehaucht. Beraubt man sie dieses Schildchens, sterben sie. Die Magier Der talmudische Traktat Sanhedrin 10 überliefert den Ausspruch des Rabbi Rabha, daß die Frommen dazu fähig wären, eine Welt zu erschaffen. 11 Diese Überlieferung ließ möglicherweise folgende Legende entstehen: Rabha schuf einst einen Golem und schickte diesen zu Rabbi Zeira. Dieser rief ihn an und erhielt keine Antwort. Da wußte Zeira, daß er ein mit Hilfe von dämonischer Magie 12 erschaffenes künstliches Wesen vor sich habe, das deshalb auch kein Sprachvermögen besaß. Deshalb ließ er es in seinen Grundstoff, Staub, zurückkehren. 13 Ein interessantes Detail bietet diese frühe Fassung der Legende: Das Motiv der Stummheit des künstlichen Menschen, an der er als Golem erkannt werden kann. In späteren Fassungen wird die Gleichsetzung Sprachlosigkeit = Seelenlosigkeit weiter herausgearbeitet. Eine Besonderheit ist der rasche Zerfall des künstlichen Menschen in seinen ursprünglichen Zustand. Der ihn erschaffen hat, der Magier oder der Adept, kann ihn mit Hilfe eines Wortes beleben und mit einem anderen Machtwort wieder auflösen. Die größte Macht und Kunst, die ein Magier anstreben und letztlich erreichen konnte, war 6 Sanhedrin, 38b; zit. nach Encyclopaedia Judaica. 1928 ff., Bd. I, S. 762. 7 Encyclopaedia Judaica (Fn. 6), Bd. I, S. 761. 8 Vgl. Scholem, Jüdischen Mystik (Fn. 2); Leisegang, H.: Die Gnosis. Leipzig 1924 (5. Aufl. 1985); Filorama, Giovanni: A History of Gnosticism. Cambridge 1992; vgl. Figura: »unio mystica«. In: Wörterbuch der Mystik. Hrsg. Peter Dinzelbacher. 1989, S. 503 ff. 9 Die Philosophumena des Bischofs Hippolyt erwähnen sie in: Widerlegung aller Häresien. München 1922, S. 134 - 136 (zit. nach Mayer, Sigrid: Golem. Die literarische Rezeption eines Stoffes. Bern 1975, S. 12). 10 65 b, zit. nach Rosenfeld (Fn .3), S. 5, Anm. 24. 11 Rabbi Rabha (280 - 352 n.Chr.) »Wenn die Gerechten wollten, so könnten sie eine Welt schaffen.« 12 Er stammt von den »Zauberern«. Vgl. Ableitung des hebräischen Wortes bei Rosenfeld (Fn. 3), S. 5, Anm. 26. 13 Vgl. Gorion, Micha, Josef ben: Der Born Judas. Legenden, Märchen und Erzählungen. Bd. I. Leipzig 1921, S. 153. Golem 259 die der Schöpfung: etwas, das vorher noch nicht vorhanden war, zum Leben zu bringen. Die Talmudisten vertraten die Meinung, daß mit Hilfe von magischen Kräfte lediglich rohe und große Dinge und Geschöpfe erschaffen werden könnten, nicht aber Zartes oder Feines. Rabbi Eleazar 14 , der große Mystiker (ca. 1160 - ca. 1230) glaubte, daß die Dämonen, die dem Magier dessen Kräfte verleihen, nichts Kleineres als ein Getreidekorn schaffen könnten. In der Gemara heißt es zusammenfassend, daß die Dämonen (damit auch ihre Diener die Magier), nichts grundsätzlich Neues zu schaffen imstande wären. Lediglich aus bereits Vorhandenem wären sie zu schöpfen imstande. 15 Das Ritual der Schöpfung Im Talmud wird jedoch eine andere, in Bezug auf den Golem weit wichtigere, Methode, beschrieben: Die Schöpfung geschieht mit Hilfe der »Gesetze der Schöpfung«. Wendet der Gerechte diese in der richtigen Art und Weise an, so ist er imstande, ein ganzes Universum zu erschaffen. Rabbi Chanina und Oshaja pflegten jeden Freitag die Gesetze der Schöpfung zu studieren und dabei ein Kalb zu schaffen, das sie dann aufaßen. Die Methode, die sie dabei anwandten, ist uns durch den Bibel- und Talmudkommentator R. Salomon ben Isaak, »Raschi« genannt, (1040 - 1105) überliefert. Er beschreibt, daß sie Buchstaben des Namens, mit dem das Universum erschaffen worden war, miteinander kombinierten. Das sei, so betont er, nicht verbotene (verbotene = dämonische) Magie, denn die Werke Gottes sind aus seinem heiligen Namen entstanden. Die talmudischen Gesetze der Schöpfung erscheinen als Sonderfall der bereits im Altertum bekannten und praktizierten Wortmagie 16 , die auch im jüdischen Glauben eine wichtige Rolle spielte. Diese Wortmagie sei, so glauben Juden (und Christen) im Mittelalter, sogar imstande, Leben zu erschaffen. Der bereits erwähnte Raschi stellt fest, daß Rabha den künstlichen Menschen mit Hilfe des Sefer Jezira 17 , einem zahlenmystischen Werk, erschaffen habe. In diesem wird der Ursprung der Welt aus der schöpferischen Kraft und Wesenhaftigkeit der Laute und Zahlen erklärt. Die Berichte von künstlichen Menschen und Tieren können als Versuche in der praktischen Magie aufgefaßt werden. 14 Vom 8. Jahrhundert erreicht die in Palästina entstandene jüdische Mystik Italien, Spanien und Frankreich. Die aus Italien stammende Familie der Kalonymiden ließen sich in Speyer, Worms und Mainz nieder, so konnte der deutsche Chassidismus Fuß fassen. Seinen Höhepunkt erreichte er unter Samuel dem Chassid, Sohn des Kalonymus aus Speyer (um 1150), dessen Sohn Juda aus Worms († 1217) und besonders dessen Schüler und Verwandten Eleazar ben Juda aus Worms († 1223 - 1232). Vgl. Sill: Jüdische Mystik. In: Wb. der Mystik (Fn. 8), S. 282 ff. 15 Vgl. Moses und die ägyptischen Magier, der Zauberwettkampf. Die Ägypter konnten bloß Vorhandenes umwandeln, nur Moses war zu der Erschaffung eines Neuen imstande, da die göttliche Kraft ihm half. 16 Vgl. Thorndike, Lynn: History of Magic and experimental Science, New York 1923, Bd. I, S. 422 - 432; Bd. II, S. 282 ff. Siehe auch Blau: Das altjüdische Zauberwesen. Budapest 1914, S. 124. 17 Ein zwischen dem 3. und 6. Jahrhundert entstandenes Zahlen- und sprachmystisches Werk handelt von den 10 Urzahlen, Sefirat genannt, und den 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets, welchen verborgene Kräfte innewohnen, die am Aufbau der Schöpfung beteiligt waren. Vgl. Dornseiff: Das Alphabet in Mystik und Magie. Leipzig; Berlin 1925 (Nachdr. Leipzig 1980). 260 Christa Habiger-Tuczay Die Weiterentwicklung des Golemmotivs ist mit dem vielfach kommentierten Buch Jezira verknüpft. Der deutsche Kabbalismus bzw. Chassidismus bemühte sich besonders um die magischen Anwendungen des Buches Jezira und stieß dabei zwangsläufig auf die Golemvorstellung. Im Zentrum der Schöpfungslegende steht der Bericht der Schöpfung aus dem Nichts durch das Wort Gottes. Viele andere Schöpfungsmythen kommen nicht ohne eine Grundmaterie aus, aus der die Welt entstehen kann. Die Forschung hat die unterschiedlichsten Einflüsse auf die Entstehung des jüdischen Schöpfungsmythos aufgezeigt. 18 Wenn ein Wort imstande ist, eine ganze Welt zu erschaffen, so liegt es nahe, sich mit diesem Wort bzw. mit magischen Wörtern schlechthin besonders zu beschäftigen. Spekulationen über bestimmte Buchstabenfolgen, mittels derer die Schöpfung vor sich gegangen sein könnte, öffneten ein weites Feld. In den Schriften der deutschen Kabbalisten finden sich Rezepte zur Erschaffung eines Golem, womit die Legendbildung weitere Nahrung erhielt. Das älteste erhaltene Golemrezept beschrieb der bedeutendste deutsch-jüdische Mystiker Eleasar von Worms in seinem Kommentar zum Buch Jezira. Der Golem kann nur aus jungfräulicher Erde, die von einem Berg, den noch niemals ein Menschenfuß betreten hat, geholt werden und aus dieser geformt werden. Gershom Scholem hat das Ritual wie folgt wiedergegeben: »Die sich zum Golemritual verbindenden zwei oder drei Adepten nehmen jungfräuliche Bergerde, die sie in fließendem Wasser kneten und daraus einen Golem formen. Über dieser Figur sollen sie dann die aus den »Pforten« des Buches Jezira sich ergebenden Kombinationen des Alphabets sprechen. Das Besondere des Verfahrens besteht nun darin, daß nicht etwa diese 221 Kombinationen an sich rezitiert werden, sondern vielmehr Verbindungen von deren Buchstaben mit je einem Konsonanten des Tetragrammatons, und auch diese wiederum der Reihe nach in allen ihren Vokalisierungen durch die von den Chassidim angenommenen fünf Hauptvokale. Und zwar scheint es, daß zuerst alle Alphabete in allen diesen Verschlingungen und Vokalisierungen des Gottesnamens zu rezitieren waren, dann aber - vielleicht aber auch nur diese letztere allein - der Reihe nach die Verbindungen, in den die einzelnen Konsonanten, die nach dem Buch Jezira je ein Glied des menschlichen Organismus ›beherrschen‹ mit je einem Konsonanten des Tetragrammatons allen nur erdenkbaren Vokalisierungen zusammengebracht wurden. Über die Abfolge dieser Vokalreihen geben zwar nicht die gedruckten Texte, wohl aber mehr die Handschriften noch genau Anordnungen.« 19 Ab diesem Zeitpunkt finden sich immer wieder derartige Rezepte, die alle von Buchstabenkombinationen ausgehen, um die schöpferische Kraft zu gewinnen. Sie unterscheiden sich lediglich in dem angeschlossenen magischen Ritual. Voraussetzung für eine Golem- Schöpfung ist also die gründliche Beschäftigung mit dem Buch Jezira. Darüber hinaus benötigt man dazu, wie erwähnt, jungfräuliche Erde. Die Erde soll noch gereinigt und auch der Adept selbst soll sich einer Reinigung unterziehen, bevor er an sein Schöpfungswerk geht. Über jedem Glied, das er lebendig machen will, muß er den auf es bezogenen Buchstaben sprechen und außerdem alle Buchstaben des Namens Gottes. Nach einer anderen Version 20 soll der Adept im Kreis um das Geschöpf schreiten und dabei die Buchstaben in einer bestimmten Reihenfolge und Vokalisation sprechen. 18 Rosenfeld vermutete ägyptischen Ursprung der Vorstellung von der Macht des Wortes, dessen Gewalt eine ganze Schöpfung hervorbringen kann (vgl. Rosenfeld [Fn. 3], S. 8). 19 Nach Scholem, Gershom: Zur Kabbala und ihrer Symbolik. Zürich 1960, S. 240. 20 Im Kommentar zum Sefer Jezira des sog. Pseudo Saadja (II, 5), vgl. dazu Rosenfeld S. 5 f. Golem 261 Eine weitere Variante 21 weiß, daß man 462 mal herum gehen und das in der Erde vergrabene Geschöpf bei jeder neuen Runde höher aus dieser aufsteigt. Will man das Geschöpf wieder zerstören, so geht man rückwärts und spricht auch die Alphabete rückwärts. 22 Dann sinkt das Geschöpf wieder in die Erde ein und stirbt. Wie wichtig die genaue Reihenfolge und die strikte Einhaltung dieser für das Gelingen des Rituals ist, zeigt eine Legende von den neugierigen Schülern eines Adepten, die das erforderliche Ritual durcheinanderbrachten und die ihr Meister nur mit knapper Not vor drohender Vernichtung bewahren konnte. 23 Die Legende von der mißglückten Schöpfung ist eine eindeutige Warnung an die Leichtfertigen. So soll sichergestellt werden, daß sich nur der vorbereitete, gut ausgebildete Adept mit der diesen magischen Dingen angemessenen Ehrfurcht beschäftigt. Besonders bedeutsam bei dem Golemritual scheint die jungfräuliche Erde zu sein, was wiederum mit der Vorstellung von der Erde als Mutter Adams zusammenhängt. Dieses Motiv verknüpft die Golemlegende mit der Adamssage 24 . Rosenfeld vermutet, daß es erst von den deutschen Kabbalisten auf die Golemvorstellungen übertragen worden sein könnte. 25 Das Umkreisen eines Objektes mit der Sonne und umgekehrt gegen den Lauf der Sonne findet sich in vielen magischen Schriften. 26 Besondere Probleme bereitete den Talmudkommentatoren die Frage nach der Legitimität einer Golem-Schöpfung, da ja die Nekromantie im besonderen und die dämonische Zauberei im allgemeinen als verboten und verabscheuungswürdig galt, wie zahlreiche Bibelstellen beweisen. 27 Daher versuchten einige Gelehrte Unterscheidungen zwischen auf Jezira-Schriften basierender Magie und verbotener dämonischer Magie zu treffen. Andere vertraten die Einstellung, jegliche Magie müsse als verdammenswert gelten. Der Kreis der deutschen Kabbalisten scheint der Auffassung gewesen zu sein, daß der Golem ein vollkommener Mensch sein könne, da das Geschöpf Leben und Seele kraft des Gotteswortes erhalte. Im Unterschied zu der erwähnten Rabhalegende stellten sie sich den Golem nicht stumm vor. Das Golemritual der deutschen Chassidim hat Symbolcharakter, es dient dazu die im Buch Jezira enthaltenen Gesetze nachzuvollziehen. »Dieser Ritualcharakter der Golemschöpfung, der einen ekstatischen Zustand der Beteiligten entweder voraussetzt oder aber induziert, geht nicht nur aus der esoterischen Natur der ›Golemrezepte« hervor, sondern auch aus der Tatsache, daß bei dieser symbolischen Wiederholung des Schöpfungsmythos wie bei jedem echten Ritual mindestens zwei oder drei Personen beteiligt sein mußten. Während der Schöpfer des Sabbathkalbes aus dem Sanhedrin ihr Produkt offenbar auch genießen durften, findet sich in keiner Anweisung der mittelalterlichen Chassidim ein Hinweis auf eine Verwendung des Geschaffenen. Sobald die Kraft der Heiligen Normen erwiesen war, folgte die Umkehr der Handlung und die Rezitation.« 28 21 Nach dem Gesetz der Analogie. 22 Ps. Saadja zu Jezira, S. 11. Goethe hat wohl in seinem Zauberlehrling darauf Bezug genommen. 23 Zit. nach Scholem (Fn. 19), S. 241. 24 Zur Erde als Mutter Adams in der mittelhochdeutschen Literatur vgl. Köhler, Reinhold: Die Erde als jungfräuliche Mutter Adams. In: Germania VII, S. 476 ff.; ders.: Kleine Schriften. Bd. II, S. 7 ff. 25 Rosenfeld (Fn. 3), S. 12. 26 Bereits Plinius erwähnt es in seiner Naturgeschichte. Vgl. auch die Auseinandersetzung des Origines mit Celsus: Contra Celsum. Hrsg. P. Migne. Paris (PG, Bd. 11), S. 224, 237. 27 Tob, 3, 8; 6, 4 ff.; Eod. 22, 17; Levit. 20, 27; Deuter. 18, 10, 11; etc. 28 Mayer (Fn. 9), S. 16. 262 Christa Habiger-Tuczay Im Gegensatz dazu vertritt das Buch des Glanzes (Sefer ha Bahir) die Überzeugung, daß die Unvollkommenheit des künstlichen Menschen aus der Sündhaftigkeit seiner Erschaffung begründet ist. Seine Sprachlosigkeit wird gleichgesetzt mit Seelenlosigkeit. Damit kommt die Frage des Unterschieds bzw. Qualitätskriteriums des künstlichen Menschen ins Spiel: Was dem Golem fehlt, ist die Seele, und damit deren äußere Manifestation, die Sprache. Ein Mystiker des 13. Jahrhunderts hat diesen Gedanken in eine Seelenvorstellung eingebunden. Er meint, daß dem Golem die höheren Seelen die Vernunftseele Neschama fehle, nicht aber die Vitalseele. Damit ergibt sich auch der Qualitätsunterschied zwischen Gottesschöpfung und Menschenschöpfung. Die Menschenschöpfung ist von minderer Qualität. 29 Die Macht des Wortes Eine an den Propheten Jeremias und seinen Sohn geknüpfte Legende weist diese Erzählung eindeutig als Warnersage aus. Als die beiden nach dreijährigem Studium des Buchs Jezira einen Menschen erschaffen, erscheint auf dessen Stirn das Wort »Emeth« (= Wahrheit) oder nach einer anderen Version »IHWH«. Der Golem besitzt ein Messer, mit dem er den ersten Buchstaben des Wortes Emeth auslöscht, so daß nur meth (= tot) übrigbleibt. Mit dem getilgten Buchstaben stirbt zugleich das Geschöpf. Diese Buchstaben- Magie steht gleichnishaft dafür, daß Gott keine Schöpfer - also Götter - neben sich duldet. Eine Variante der Adamlegende läßt auf Adams Stirn das Wort Emeth erscheinen. Gott selbst, als er Adam sterben lassen will, löscht den ersten Buchstaben. Eine der drei von Scholem mitgeteilten Legenden verschärft diese Botschaft des Golem: auf dessen Stirn ist zu lesen: Gott ist Wahrheit (IHWH Elohim EMETH). Beim Auslöschen des Aleph entsteht die Botschaft: Gott ist tot. Auch der Schluß dieser Legende unterscheidet sich radikal von den anderen. Der Golem stirbt nicht, sondern paraphrasiert das Bildnisverbot und begründet es mit der Verwirrung der Menschen, die durch die Schöpfung des Golem entstanden wäre: so müßten doch die Leute an zwei Götter glauben: an den, der den Menschen und an jenen, der den Golem geschaffen habe. 30 Dieses Emeth-Motiv hat sich bis in die neuesten Rezeptionen der Legende erhalten. 31 Die Automatensage Einige Motive rücken die Golemlegende in die Nähe der Automatensagen. So ist im Pseudo Saadja 32 von einem weiblichen Golem die Rede, der als Dienerin fungiert, die Salomo 29 Bachja ben Ascher in seinem Pentateuch-Kommentar, vgl. dazu Rosenfeld (Fn. 3), S. 15, Anm. 92. 30 Scholem (Fn. 19), S. 234. 31 Siehe Kapitel »Neuzeitliche Fassungen«. 32 Aus den mittelalterlichen Kommentaren zum Jezira lassen sich die jeweiligen Entwicklungen etlicher Motive der Golemlegende ableiten, die für spätere Legendenvarianten konstituierend sind: Die Stummheit des Golem und des weiteren die Notwendigkeit von zwei Adepten zum Vollzug und Gelingen des Schöpfungrituals. Das Emeth-Motiv tritt bereits im 12. und 13. Jahrhundert auf. In allen Varianten scheint sich das Geschöpf gegen den Namen Emeth aufzulehnen. Golem 263 ibn Gabirol, Dichter und Mystiker, geschaffen haben soll. Deshalb angeklagt, kann er sich dem Urteil entziehen, indem er den Golem in seine Bestandteile zerlegt. Viele Gelehrte des Mittelalters diskutierten zum einen die Frage, ob der Golem nun als Mensch gewertet werden solle oder nicht. Dies ist für viele der Rituale, in die der gläubige Jude eingebunden ist, von großer Bedeutung. Zum anderen fragt man sich, ob der Golem am Sabbat geschaffen werden dürfe. Einmütig kam man zum Beschluß, daß es sich beim Golem um ein Tier in Menschengestalt handle und leitete daraus die nötigen Konsequenzen ab. Das Golemmotiv läßt sich gemeinsam mit dem jüdisch-christlichen Schöpfungsmythos in jene Gattung einordnen, die den ersten Menschen ohne Zeugungsakt entstehen lassen. Die Nachahmung bzw. die Symbolhandlung des Golemrituals und auch die in mehreren Legenden zum Ausdruck gebrachte Überhebung des Menschen finden Niederschlag in zahlreichen literarischen Bearbeitungen. Die Tragik jenes Menschen, der Gott oder die Götter nachahmt und von seinem Geschöpf überwunden wird, hat bereits die antiken Schriftsteller beschäftigt. Ovid erzählt die berühmte Geschichte von Prometheus, der seine Geschöpfe aus Lehm formte und belebte. 33 Die magische Komponente, die Rabha nachgesagt wurde, nämlich den Golem mittels Buchstabenzauber herzustellen, bringt ihn im Mittelalter in die Nähe der Meistermagier, die unter anderem künstliche Menschen und Tiere herstellen konnten wie beispielsweise der im Mittelalter als Zauberer berüchtigte Dichter Vergil. 34 Neuzeitliche Fassungen Seit dem Ausgang des Mittelalters bleiben Automaten- und Dienermotiv mit den Golemüberlieferungen verbunden. Die Gefährlichkeit des Dieners für seine Unmgebung findet sich erstmals thematisiert in der im 17. Jahrhundert in Polen entstandenen Sage um den Rabbiner von Chelm, den Baal Schem († 1583). Das mit dem Namen Gottes (Schem) beschriebene Pergament verleiht dem Golem Leben. Er besitzt übernatürliche Kräfte, die sich ständig vermehren, bis er zur Bedrohung wird. Als der Schöpfer den Schem entfernt, greift er diesen noch an, bevor er zu Staub zerfällt. 35 Diese Sage wurde später auf den Rabbi Löw von Prag († 1609) übertragen. Das Interesse an der Kabbala brachte auch das Eindringen des Motives in die nichtjüdische Gelehrtenliteratur mit sich. Bereits 1517 erwähnt Reuchlin die Golemsage. Wagenseil publizierte die Chelmersage zusammen mit der Reuchlinschen Fassung. Die deutsche Übersetzung wurde zum Ausgangspunkt für die Golemerzählungen der Romantiker. Der zweite Strang der Golemrezeption kreist um den Prager Rabbi Löw. 36 33 Ovid: Metamorphosen 10, 42 ff. 34 Vgl. Spargo, John Webster: Virgil the Necromancer. Cambridge 1934; Hammerstein, Reinhold: Macht und Klang. Tönende Automaten; Plank, R.: The Golem and the Robot. In: Literature and Psychology 15 (1965), S. 12 - 28. 35 Rosenfeld (Fn. 3), S. 20 f. 36 Rosenfeld (Fn. 3); Thieberger, F.: The great Rabbi Löw of Prague. London 1955. 264 Christa Habiger-Tuczay Bibliographische Hinweise Quellen Bergmann, J.: Die Legenden der Juden. Berlin 1919. Gorion, Micha Josef ben: Der Born Judas. Legenden, Märchen und Erzählungen, 6 Bde. Leipzig 1921. Ders.: Die Sagen der Juden. Mythen Legenden und Auslegungen. Berlin 1935. Paracelsus, Theophrastus: De natura rerum. In: Werke. Bd. V. Hrsg. Will Erich Peuckert. Darmstadt 1968, S. 53 - 133. Ders.: Liber de Homunculis. In: Werke. Bd. III. Hrsg. Will Erich Peuckert. Darmstadt 1967, S. 427 - 438. Kautzsch, E.: Die Apokryphen und Pseudoapokryphen des Alten Testaments. Tübingen 1900. Forschungsliteratur Lexika Encyclopaedia Judaica. Berlin 1928 ff. Encyclopaedia Judaica. Jerusalem 1971 ff. Frenzel, Elisabeth: Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. Stuttgart 1962, S. 251 - 254. Dies.: Stoff- und Motivgeschichte. Berlin 1966. Dies.: Motive der Weltliteratur. Stuttgart 1988. Jewish Encyclopaedia. New York; London 1901 - 1906. 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Mythos Greif Winder McConnell (Davis) Der Mythos vom Greif, jenem »[s]agenhafte[n] Vogel mit Adlerkopf und löwenartigem Körper, vier Füßen und zwei mächtigen Flügeln« 1 , der von Waltraud Bartscht als »one of the most enigmatic creatures in the kingdom of fabulous animals« 2 bezeichnet wird, scheint sehr alt zu sein: »Vogelgreife als Wüstentiere, die jagen und gejagt werden, und als dämonische Wesen lassen sich in Ägypten bis in die vorhistorische Zeit (vor 3300) zurückverfolgen.« 3 Ingeborg Flagge hat allerdings auf überzeugende Weise gezeigt, daß der Greif seinen Ursprung eher in Mesopotamien zu suchen hat: »Daß Ägypten und nicht Mesopotamien das Ursprungsland des Greifen gewesen ist, ist unwahrscheinlich, denn die Einflußnahme der beiden Länder in dieser Zeit aufeinander scheint fast ausschließlich von Susa bzw. Mesopotamien nach Ägypten erfolgt zu sein, nicht umgekehrt.« 4 Der Greif wird wahrscheinlich über den östlichen Mittelmeerraum nach Europa gelangt sein: »Der assyr. k’rub am Palast des Assurnasirpal, ein Riesenvogel mit Löwentatzen und Menschenkopf, gelangt dann als gryps zu den Griechen, über vulgärgr. grýpos als grÿ phus nach Rom. Von da stammt germ. *grip- , das unter Anlehnung an grï pan › greifen‹ zum märchenhaften Vogelungeheuer ausgebildet wird. Daher ahd. grï f(o) , mhd. grï f(e) un d unser Vogel Greif.« 5 Neuerdings hat Adrienne Mayor aufgrund von Beweismaterial aus verschiedenen Fachdisziplinen versucht zu zeigen, daß der Greif nicht unbedingt »purely imaginary and symbolic« [ganz imaginär und symbolisch] war: »An interdisciplinary approach drawing from classical art and literature, folklore, archaeology, geology, and palaeontology supports a zoological origin.« 6 Ihr Beitrag ist ein Musterbeispiel dafür, wie durch eine sorgfältig unternommene interdisziplinäre Analyse - besonders einleuchtend ist Mayors Vergleich des Greifen mit dem 1 Bächtold-Stäubli, Hanns (Hrsg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Bd. III. 8. Lieferung. Berlin/ Leipzig 1931, Sp. 1129. 2 Bartscht, Waltraud: The Griffin. In: Mythical and Fabulous Creatures: A Source Book and Research Guide. Hrsg. Malcolm South. New York 1987, S. 85 [eine der rätselhaftesten Kreaturen im Reich der Fabeltiere]. 3 Wild, Friedrich: Gryps - Greif - Gryphon (Griffin). Eine sprach-, kultur- und stoffgeschichtliche Studie. Wien 1963 (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, Sitzungsberichte, Bd. 241, 4. Abhandlung), S. 10. 4 Flagge, Ingeborg: Untersuchungen zur Bedeutung des Greifen. Sankt Augustin 1975, S. 11. Eine führende Rolle spielte der Greif im ägyptischen (und später im römischen) Totenkult: »Von der 5. Dynastie in Ägypten ab [...] ist seine Bedeutung innerhalb des Totenkultes als Herrschaftssymbol, welches in dem Greifen den König als Ausdruck seiner ungeheuren Kraft verkörpert sieht, versichert. Die Mischgestalt des Greifen steht dabei in engstem Zusammenhang mit dem kosmischen Geschehen des Aufgangs und des Untergangs der Sonne, das der Auferstehung der Seele verglichen wird« (S. 122). 5 Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 20. Aufl. bearbeitet von Walther Mitzka. Berlin 1967, S. 269. Eine ausführliche Analyse der etymologischen Geschichte des Wortes »Greif« bietet auch Friedrich Wild (siehe Fn. 3). 6 Mayor, Adrienne; Heaney, Michael: Griffins and Arimaspeans [erscheint fälschlicherweise als »Arismapaeans« im Inhaltsverzeichnis des Bandes]. In: Folklore 104, Nr. i/ ii (1993), 40 - 66, hier: S. 41. Adrienne Mayor hat den ersten Teil (»What were the Griffins? «, S. 40 - 53) geschrieben. 268 Winder McConnell Protoceratops (siehe Abbildung Nr. 7 auf S. 50) - neue Kenntnisse hinsichtlich eines alten Mythos gewonnen werden können. In alten Kulturen und vor allem im klassischen Altertum wird dem (mythologischen) Greifen sowohl in der Ikonographie 7 als auch in der Literatur zwei Hauptfunktionen zugewiesen: Er erscheint als Wächter 8 , Begleiter oder »Transportmittel« eines Königs oder Gottes, sowie auch als Bewacher eines Goldschatzes. Friedrich Wild weist auf das Vorkommen von Vogelgreifen »[i]n der kretisch-mykenischen Kunst [...] als Schützer des Königs im Thronsaal von Knossos« 9 hin. Daß der Greif im klassischen Altertum vorwiegend positiv, wenn auch manchmal als furchterregend angesehen wurde, zeigt Konrat Ziegler: »Gemäß seiner Zusammensetzung aus Teilen des stärksten Vierfüßlers und des stärksten Vogels stellt der G[reif] die aufs höchste potenzierte physische Kraft, zugleich durch den gewöhnlich aufgesperrten Schnabel und die geschmeidige Anspannung der Glieder größte Wut und Wildheit dar. Er wird daher, wie in den Kulturen, aus denen er zu den Griechen kam [...] als starker Trabant und Wächter verschiedenen Gottheiten beigegeben, erscheint aber noch häufiger allein als allgemeines Symbol göttlicher Macht und Wachsamkeit. Daraus resultierte seine Brauchbarkeit als apotropäisches Symbol, und sicherlich hat diese zu seiner vielfältigen Verwendung erheblich beigetragen.« 10 Drachen und Greife sind sich physisch nicht unbedingt ähnlich, sie teilen aber doch eine gemeinsame Eigenschaft: Beide wurden als Hüter von Gold, bzw. Schätzen beschrieben: »Halb Adler, halb Löwe, spielte der G[reif] im antiken Volksglauben eine weit geringere Rolle als das Wappentier und Wirtshausschild des Mittelalters, wohl aber galt der G[reif] als Wächter der Goldgruben.« 11 Der Grieche Aristeas scheint um 675 v. Chr. in seinem inzwischen verschollenen Werk Arimaspea als erster das Wort gryps gebraucht zu haben 12 ; Aischylos hat dann später in seinem Prometheus (ca. 460 v. Chr.) nicht nur von Genesis, dessen Wagen von einem Greifen gezogen wird, berichtet, sondern auch - im Gespräch des Prometheus mit dem Wanderer - darauf hingewiesen, wie fürchterlich die Greifen seien. Er erwähnt sie fast im gleichen Atemzug mit den Arimaspen, die in der klassischen Tradition immer bemüht 7 Siehe auch die aus archäologischer Perspektive geschriebene Studie der Greifenprotomen aus dem Heraion von Samos von Jantzen, Ulf: Griechische Greifenkessel. Berlin 1955 (Deutsches Archäologisches Institut) [Mit guten Abbildungen, wie auch bei Flagge (Fn. 4).] Weiter: Bisi, Anna M.: Il grifone: storia di un motivo iconografico nell’antico oriente mediterraneo. Rom 1965 (Studi Semitici, Bd. 13). 8 Siehe Flagge (Fn. 4), S. 34 ff.: »Der Greif als Wächter«. 9 Wild (Fn. 3), S. 10. 10 Ziegler, Konrat; Prinz, H.: [Art.] Gryps. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Neue Bearbeitung begonnen von Georg Wissowa. Hrsg. Wilhelm Kroll. 14. Halbband. 1912 (Nachdr.: Stuttgart 1970), Sp. 1902 - 1929, hier: Sp. 1924 [Konrat Ziegler: Sp. 1902 - 1904 u. 1918 - 1929; H. Prinz: Sp. 1904- 1918]. Mit seinen zahlreichen Belegen aus dem klassischen Altertum ist dieser ausführliche Beitrag zum Thema »Gryps« (»Greif«) für den Forscher unerläßlich. Siehe auch Flagge (Fn. 4), S. 20, wo die Verfasserin den Zusammenfall positiver und negativer Eigenschaften beim Greifen erläutert. 11 Wilsdorf, Helmut: [Art.] Greif. In: Lexikon der Antike. Leipzig 1984, S. 202. Für viele Hinweise, besonders zur klassischen und mittelenglischen Tradition, bin ich Professor Lois Roney zu Dank verpflichtet, mit der ich vor nunmehr 16 Jahren einen Briefwechsel über gerade dieses Thema geführt habe. 12 Siehe die ausführliche Diskussion der gesamten klassischen Tradition des Greifen von Bolton, J.D. P.: Aristeas of Proconnesus. Oxford 1962. Über den Ursprung des Kampfes zwischen Greifen und Menschen siehe insbesondere S. 6 f. Ausführlich über alle Aspekte des Greifen im klassischen Altertum berichtet auch: Armour, Peter: Dante’s Griffin and the History of the World. A Study of the Earthly Paradise (Purgatorio, cantos xxix-xxxiii). Oxford 1989. Mythos Greif 269 waren, den Greifen das Gold zu rauben. 13 Vor allem haben Herodot 14 , Plinius 15 und Solinus 16 auf die Funktion der Greifen als Goldhüter (besonders im Land der Skythen) hingewiesen 17 , wobei eine Bemerkung des Solinus, der die Greifen fast als Wächter der Tugend darstellt, unsere besondere Aufmerksamkeit verdient: »quippe visos discerpunt, velut geniti ad plectendam avaritiae temeritatem« 18 . Diese Funktion der Greifen ist mit der verschiedener Drachen zu vergleichen 19 , wie etwa des Beowulf-Drachen und des Ungeheuers Fáfnir der altnordischen Völsungasaga. Dabei wird man an die Stelle in Gottfrieds Tristan erinnert, wo ein irischer Drache das Pferd Tristans angreift, verbrennt und verschlingt. 20 In der Ornamentik der Wikingerzeit spielte der Greif eine nicht unbedeutende Rolle 21 . Der Einfluß der Kunst der nordischen Angreifer ist auch in Irland zu finden, wie die Ausgrabungen in der Fishamble Street (Wiking-Dublin) gezeigt haben. 22 Keineswegs wird der Greif in jener Kultur als etwas primär Negatives angesehen, sondern eher als ein 13 Siehe Prometheus Bound in: Aeschylus I, mit einer englischen Übersetzung von Herbert Weir Smyth, The Loeb Classical Library (Cambridge, MA: Harvard University Press, 1988), S. 288, V. 803 ff. 14 Herodotus, mit einer englischen Übersetzung von A. D. Godley, 4 Bde., The Loeb Classical Library (Cambridge, MA: Harvard University Press, 1938) Bd. 2, Buch III, S. 142, Abs. 116.; Buch IV., S. 212, Abs. 13 und S. 226, Abs. 27. 15 C. Plini Secundi Naturalis Historiae libri XXXVII. Hrsg. Karl Friedrich Theodor Mayhoff. Leipzig 1892-1909, vii. 2, Abs. 10. 16 C. Ivlii Solini Collectanea Rervm Memorabilivm. Hrsg. Theodor Mommsen. Berlin 1895, S. 86. 17 Was dann auch durch die Jahrhunderte hindurch immer wieder erwähnt wird. Siehe z.B. Denis, M. Ferdinand: Le Monde Enchanté. Cosmographie et Histoire Naturelle Fantastiques du moyen âge. 1845 (Nachd.: New York [o.J.]), S. 28-29, wobei Denis auch auf die andauernde Feindschaft zwischen den Greifen der Antike und den einäugigen Arimaspen hinweist: »les griffons [...] gardent soigneusement l’or, et [...] sont continuellement en guerre avec les Arimaspes, cyclopes vivants, hommes à un œil.« [Die Greifen bewachen sorgfältig das Gold und sind ständig im Krieg gegen die Arimaspen, lebendige Cyclopiden, Männer mit einem Auge.] 18 Solinus (Fn. 16), S. 86 [denn gewiß zerreißen sie auf Anhieb Männer, als ob sie dazu geboren worden wären, die Tollkühnheit zu bestrafen, die von der Habsucht herrührt]. Siehe auch Isidori Hispalensis episcopi Etymologiarum sive Originum libri XX. Hrsg. W. M. Lindsay. Oxford 1962, xii. 2, Abs. 17: »Gryphes vocantur, quod sit animal pennatum, et quadrupes. Hoc genus ferarum in Hyperboreis montibus nascitur. Omni parte corporis leones sunt: alis et facie aquilis similes, et equis vehementer infesti. Nam et homines visos discerpunt.«[Die Greifen werden genannt, was ein gefiedertes und vierfüßiges Tier ist. Diese Art von wilden Tieren stammt aus den nördlichen Bergen. Am ganzen Körper sind sie Löwen: Hinsichtlich der Flügel und des Kopfes sind sie den Adlern ähnlich, und den Pferden sind sie sehr feindlich. Und wenn sie Menschen sehen, so zerreißen sie diese.] Die Vorstellung von Greifen als wilden Tieren, die in den Bergen (vor allem Indiens) wohnen, Gold hüten und Menschen in Bedrängnis bringen (seltener auch als Feinde von Pferden [»et equis vehementer infesti« - siehe auch Fn. 62 und entsprechendes Zitat] bezeichnet werden), findet man in den folgenden Jahrhunderten in zahlreichen literarischen Zeugnissen des Abendlandes. Siehe z.B. Hermann von Sachsenheim: Die Mörin. Nach der Wiener Handschrift ÖNB 2946 herausgegeben und kommentiert von Horst Dieter Schlosser. Wiesbaden 1974 (Deutsche Klassiker des Mittelalters, N.F. 3), S. 55, Verse 450 ff.: »Und anderhalb z u o yener syt Das groß gebirg von golde rich, Daruff die griffen steteklich Den t o v ben lüten fügen pin.-« Als dezidierte Pferdefeinde (»et equis vehementer infesti«) erscheinen Greife hingegen eher selten, vgl. dazu z.B. Servius (Servii grammatici qui feruntur in Vergilii carmina commentarii. Hrsg. Georg Thilo, Hermann Hagen. Leipzig 1881-1902, iii/ I.96.) und die Beschreibung von Konrad von Megenberg weiter unten im Text (bibliographischer Nachweis s. Fn. 31). 270 Winder McConnell Symbol gewaltiger Macht, als Zeichen des Majestätischen. Die zwei Teile, aus denen er zusammengesetzt ist, Adler und Löwe, wurden wohl mit Himmel/ Licht/ Macht oder Erde/ Licht/ Macht identifiziert. 23 Zu dieser Kombination meint Cirlot: »The blending of these two superior solar animals points to the generally beneficent character of this being; it was consecrated by the Greeks to Apollo and Nemesis. The griffin, like certain kinds of dragon, is always to be found as the guardian of the roads to salvation, standing beside the Tree of Life or some such symbol.« 24 Sowohl Quellen als auch die Forschung betrachtet die Natur des Greifen mit einer gewisse Ambivalenz, wie das auch im Falle des Drachens zu verzeichnen ist. Darauf hat unter anderen Cirlot hingewiesen: »In mediaeval Christian art [...] the griffin is very common, being associated with signs which tend towards ambivalence, representing, for instance, both the Saviour and Antichrist.« 25 Auch Christoph Koch meint, daß »[i]n der Vorstellung des Greifen [...] seit alters heterogene Vorstellungen zusammengeflossen [sind]« 26 . Hinweise auf den Greifen oder auf Greifen allgemein - hauptsächlich als Begleiter, 19 Drache und Greif konnten aber auch als gegenseitige Feinde angesehen werden. Siehe Spenser, Edmund: The Faerie Queene [ 1596]. In: The Poetical Works of Edmund Spenser. Hrsg. J.C. Smith, E.De Selincourt. London 1965, Buch 1, Canto v, Str. 8: »So th’one for wrong, the other striues for right, As when a Gryfon seized of his pray, A Dragon fiers encountreth in his flight, Through widest ayre making his ydle way, That would his rightfull rauine rend away; With hideous horrour both together smight, And souce so sore, that they the heauens affray; The wise Southsayer seeing so sad sight, Th’amazed vulgar tels of warres and mortall fight.« 20 Gottfried von Strassburg: Tristan . Hrsg. Karl Marold. Dritter Abdruck von Werner Schröder. Berlin 1969, S. 128, Verse 8988-8991: »der trache gieng ez aber an mit vrâze und mit fiure, unz ez der ungehiure vor dem satele gâr verswande.« Der Drache wird - ähnlich dem Greifen - mit dem Teufel in Verbindung gebracht (er ist »des tiuveles kint« [V. 8976]); vgl. dazu weiter unten die Ausführungen zur Kudrun. 21 Siehe Meehan, Aidan: The Dragon and the Griffin. The Viking Impact, Celtic Design. London 1995, insbesondere S. 34 - 35 und die Abbildungen der Greifen aus Broa, Gotland, die im ersten Viertel des 9. Jahrhunderts entstanden sind. 22 Siehe Meehan (Fn. 21), S. 113 mit Abbildung eines Greifenkopfes. 23 Die Beziehung des Greifen zum Licht im klassischen Altertum wird besonders von Flagge im 7. Kapitel ihres Buches (Fn. 4, S. 68 ff., mit zahlreichen Hinweisen) behandelt. Siehe insbesondere S. 70: »Der Greif selbst ist von lichtem und feurigem Wesen; er begleitet die Seelen in den Himmel, und alle mit dem Licht und der Flamme verbundenen Vorstellungen treffen ohne Abstriche auch auf ihn zu.« Weiter S. 73: »Wenn die römische Kunst den Greifen im Totenkult [...] mit einer Lichtsymbolik zusammenbringt, so geschieht dies auf dem Umweg über Apollo, dessen Lichtnatur schon in klassischer Zeit dazu führte, ihn als Sonnengott zu verstehen.« Und schließlich: »Als mythisches Wesen, dessen Bestandteile Adler und Löwe zwar realer Natur sind, das sich aber in dieser Zusammensetzung eben von der Wirklichkeit entfernt und unwirklich anderen, unbekannten Gesetzen unterliegt, bietet sich der Greif als Begleiter der Toten in eine ihnen unbekannte Welt an. Seine Fähigkeiten als Lichtwesen, das der Sonne verwandt ist, garantieren den Toten die Sicherheit einer astralen Verewigung« (S. 81). Mythos Greif 271 genauer: Transportmittel des Königs Alexander, als Entführer (in dieser Eigenschaft gelegentlich auch als unfreiwillige Retter von Menschen aus der Not) oder als Goldhüter - sind sowohl in der geistlichen als auch in der weltlichen Literatur des deutschen Mittelalters relativ häufig zu finden, wenn auch zumeist nur auf wenigen Zeilen. 27 Typisch für diese kurzen Hinweise auf das Fabelwesen sind einige Verse des Annolieds (um 1100). Dort wird von Daniels Traum erzählt, in dem ihm u.a. vier Tiere erscheinen. Das dritte ist ein Leopard mit vier Adlerflügeln, der Alexander den Großen bezeichnet. Letzterer fliegt selbst mit zwei Greifen durch die Luft: »mit zuein grîfen vuor her cin liuften« 28 . Ansonsten gibt es im Text keine weitere Information zum Zweck oder Ausgang dieses merkwürdigen Fluges. 29 Wir dürfen aber ohne weiteres annehmen (mit Rathofer), daß Alexander - der langen und bekannten Tradition seiner Jugend zufolge - von den Greifen zum Himmel hinaufgetragen wird. Aus dem Kontext ist zu entnehmen, daß Alexander sich freiwillig mit diesen Greifen zusammentut. Er galt als Weltreisender, dem kein Abenteuer zu bunt sein konnte, der sowohl Indien als auch den Meeres Grund erforschen wollte. Die Greifen werden vielleicht von Alexander gerade zu diesem Reisezweck »gezähmt«. Nichts deutet darauf an, daß sie etwa als Boten Gottes Alexander zu Hilfe kommen; an ihrer sonst wilden Natur läßt der Text keine Zweifel aufkommen. Die Verbindung zum klassischen Erbe des Greifen als Hüters eines kostbaren Schatzes ist in der um 1140 in Österreich niedergeschriebenen Beschreibung des himmlischen Jerusalem deutlich. 30 Dort wird vom wertvollen grünen Stein Smaragdus (Vers 210) berichtet, über den die Greifen wachen: »di vogele unreine/ werent daz gesteine« (Verse 221-222) 31 , alle tötend, die ihn sich aneignen wollen. Die einäugigen Arimaspi (wovon Herodot, Historiarum berichtet hatte, die auch wenig später im Herzog Ernst, Verse 24 Cirlot, J[uan] E[duardo]: A Dictionary of Symbols. Aus dem Spanischen übersetzt von Jack Sage. New York 1971, S. 133. Siehe auch Servii grammatici (Fn. 18), iii/ I; Claudius Claudianus: Panegyricus de sexto consulatu Honorii Augusti. In: Claudian. Mit einer englischen Übersetzung von Maurice Platnauer. Cambridge, MA 1956 (The Loeb Classical Library), Bd. 2, Z. 30-33; weiter: F. Nork [Pseudonym für Friedrich Korn]: Etymologisch-symbolisch-mythologisches Real-Wörterbuch zum Handgebrauche für Bibelforscher, Archäologen und bildende Künstler. Stuttgart 1843, Bd. 1, S. 127-128: Greif: »Der Greif war als wachsames, scharfsehendes Thier in Indien der Sonne geweiht [...] bei den Hellenen überhaupt den Lichtgöttern heilig [...]« (S. 128). Siehe auch De Gubernatis, Angelo: Die Thiere in der indogermanischen Mythologie. Aus dem Englischen übersetzt von M. Hartmann. Leipzig 1874, S. 298: »Im griechischen Alterthum waren die Greife der Nemesis, der Rachegöttin, heilig, und wurden auf Gräbern dargestellt, wie sie einen Stierkopf niederdrücken; doch waren sie weit berühmter als der goldenen Sonne, dem Apollo, heilig, dessen Wagen sie zogen (der Hippogryph, der in mittelalterlichen Heldengedichten den Helden trägt, ist völlig gleichbedeutend mit ihnen). Und da Apollo die prophetische und wahrsagende Gottheit ist, deren Orakel sich auf Befragen in Räthseln offenbart, so bedeutet das Wort Greif auch Räthsel: Logogryph ist eine räthselhafte Rede, und griffonnage ist das, was wir etwa ›Krähenfüsse‹ nennen.« 25 Cirlot (Fn. 24), S. 133. 26 Koch, Christoph: Die slawische Bezeichnung des Greifen. In: Wiener Slavistisches Jahrbuch 35 (1989), S. 111. Koch bietet auch eine ausführliche etymologische Analyse des Wortes im slavischen Sprachraum. 27 Ähnliches gilt auch für manche mittelenglischen Quellen, die hier nicht ausführlich behandelt, von denen einige aber zumindestens genannt werden sollten: Layamons Brut (um 1205), 28062-28063; Havelok (um 1270), 572, 2029 (Personenname); Kyng Alisaunder (vor 1330), 496, 4880, 5667, 5684, 6344, 6602; Sir Eglamour of Artois (zwischen 1350 und 1400), 841, 847, 850, 866, 1030, 1035, 1116; hinweisen möchte ich auch auf altfranzösische Werke wie die St. Brendan-Legende oder auch La Chanson de Roland. 272 Winder McConnell 4505ff. begegnen; siehe auch Fußnote 17) »[...] sint so chune,/ si nement di staine grune/ den vogelen mit gewalte« (Verse 237-239). Das Land selbst »haizit Cythia« (Vers 103); 28 Roediger, Max (Hrsg.): Das Annolied. In: Deutsche Chroniken und andere Geschichtsbücher des Mittelalters. Hrsg. Gesellschaft für Ältere Deutsche Geschichtskunde. 1. Bd., 2. Abteilung: Trierer Sylvester. Annolied. 1895 (Nachdr. Dublin 1968), S. 120, V. 215. Bis ins 15. Jahrhundert hinein wurde immer wieder in der deutschen Literatur auf diese Episode aus der Alexandersage hingewiesen. Ich erwähne hier: Reinfrid von Braunschweig. Hrsg. Karl Bartsch. Tübingen 1871 (Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart, Bd. 109), S. 654, Verse 22514 ff. (»dar truogen in zwên grîfen schôn«, 22521); in dem um 1255 geschriebenen Frauendienst Ulrichs von Liechtenstein wird in dem »3. Büchlein« die Reise Alexanders mit den Greifen als äußerst freudenvolles Ereignis dargestellt, das freilich kaum mit der Freude zu vergleichen wäre, die das lyrische Ich der Geliebten und seiner eigenen metaphorischen Liebesfahrt gegenüber empfindet, die seine Sinne »[...] gefuoret so beidiu verre und so ho, als ich in dem himel si oder aber vil nahen da bi. Alexander maere der edel wunderaere, dem geschach nie vreuden halp so vil, do er über der sterne zil von griffen chla gefüeret wart. wol mich miner saeliclichen vart, da ich gewan so hohen gewin, des ich so hohe getiuret bin.« (Ulrich von Liechtenstein: Frauendienst . Hrsg. Franz Viktor Spechtler. Göppingen 1987 [Göppinger Arbeiten zur Germanistik, Bd. 485], S. 256, V. 143-154.) Etwa 200 Jahre später weiß auch der Meister Altswert in seiner Minneallegorie Der Spiegel sowohl von Greifen als Transportmittel als auch von der Heimat der Greifen in Indien und Alexanders Greifenflug zu berichten: »Man spricht, in Indien dort Da sin griffen wild Und sy nit gros unbild, Das man uff griffen far, Gar dick ein gros schar Von eynem land ins ander. Der magnus Allexander Ein griffen auch beswur, Das er gar hoh uff fur, Die ganzen welt beschawt.« (Meister Altswert. Hrsg. W . Holland, A. Keller. Stuttgart 1850, S. 199 f.) 29 Hier ist anzumerken, daß Johannes Rathofer in seiner Übersetzung jener Stelle einen zusätzlichen Vers hinzufügt, der den (im Original fehlenden) Grund für diesen merkwürdigen Flug erklärt: »Um in die Himmelsau’n zu schweifen [...]« (Monumenta Annonis. Köln und Siegburg. Weltbild und Kunst im hohen Mittelalter, eine Ausstellung des Schnütgen-Museums der Stadt Köln in der Cäcilienkirche vom 30. April bis zum 27. Juli 1975. Hrsg. Anton Legner. Köln 1975, S. 79. 30 Kleinere deutsche Gedichte des 11. und 12. Jahrhunderts. Nach der Auswahl von Albert Waag neu herausgegeben von Werner Schröder. Tübingen 1972 (Altdeutsche Textbibliothek, Bd. 71/ 72), S. 92-111: Die Beschreibung des himmlischen Jerusalem. 31 Siehe auch Konrad von Megenberg: Das Buch der Natur. Die erste Naturgeschichte in deutscher Sprache. Hrsg. Franz Pfeiffer. 1861 (Nachdr.: Hildesheim 1962), S. 459: »Von dem Smaragden«: »aber der ist der pest, den man vint in dem land Scythia, und nimt man in auz der greifen nest, wan die behüetent in mit grôzer grimmichait«. Warum er von den Menschen so begehrt wird, geht aus folgender Erklärung hervor: »der smaragd bedäut käusch, wan diu behelt des menschen leip grüen, daz ist ganz und rain. diu tugent übertrift all ander tugent an dem menschen, wan daz ain mensch käusch und rain beleib, das ist mêr engelisch wan menschleich.« Mythos Greif 273 der anonyme Dichter weiß es mit Kälte, Untreue, Lieblosigkeit (Verse 245-247) und die Greifen selbst mit dem Teufel zu verbinden: »die grife dar inne,/ di bezeichenent di tivele, di da varent/ unte den gelouben biwarent« (Verse 248-250). Der Smaragdus bezeichnet den Glauben, den die Arimaspi durch Gewalt den Greifen abzuringen gedenken (Verse 256-257). 32 Auch in Wolframs Parzival (um 1220) weiß der Dichter von den goldgierigen Greifen zu berichten: sîn wâpenroc was harte wît: [...] mit golde er gebildet was, dâz zer muntâne an Kaukasas ab einem velse zarten grîfen klâ, diez dâ bewarten und ez noch hiute aldâ bewarnt. 33 Das Alexanderlied des Pfaffen Lamprecht (um 1150) stellt eine Beziehung zwischen Alexander dem Großen und dem Greifen her und zwar bei der Beschreibung der wunderbaren Geburt des mazedonischen Helden und seiner außergewöhnlichen Eigenschaften. Während das eine Auge dem eines Drachen gleicht: »ein ouge daz was weitîn,/ getân nâch eineme drachen« 34 , erinnert das andere an das Auge eines Greifen: »Swarz was ime daz ander,/ nâch eineme grîfen getân« (Verse 138-139). Sein Gesicht ist also geprägt von dem scharfen Blick der Drachenbzw. Greifenaugen, die mit dem Wunderbaren assoziiert werden. Es wird aber weiter nichts darüber berichtet als: Daz chom von den sachen: dô in sîn mûter bestunt ze tragene, dô chômen ir freslîch pilide ze gagene; daz [was] ein vil michel wunder. (Verse 134-137) Diese Stelle erinnert an Parzival 104,8-16, wo Herzeloyde vor der Geburt ihres Sohnes »[...] umbe einen mitten tac/ eins angestlîchen slâfes phlac«: ir lîp si dâ nâch wider vant, dô zucte ein grîfe ir zeswen hant. daz wart ir verkêrt hie mite: si dûhte wunderlîcher site, 32 Vgl. auch den um 1270 geschriebenen Jüngeren Titurel (des Albrechts von Scharfenberg? ). Hrsg. Werner Wolf. Bd. II/ 2 (Strophe 3237-4394). Berlin 1968, S. 363, Str. 3400, wo die Greifen wieder in der Rolle von Goldsammlern und -hütern erscheinen. Im weiteren [Bd. III/ 1 (Strophe 4395 - 5417). Nach den Grundsätzen von Werner Wolf kritisch herausgegeben von Kurt Nyholm. Berlin 1985 (Deutsche Texte des Mittelalters, Bd. 73), S. 107, Strophe 4820] ist von den von Greifen nach Indien transportierten Reichtümern die Rede. Später wird von der Reitkunst auf Greifen erzählt und zwar mit Anspielung auf die Geschichte Alexanders (Strophe 4850 ff.); schließlich wird von der räuberischen Natur der Greifen berichtet, die tote Pferde und Menschen zu ihrem Nest hintragen [Bd. III/ 2 (Strophe 5418-6327). Hrsg. Kurt Nyholm. Berlin 1992 (Deutsche Texte des Mittelalters, Bd. 77), S. 427, Strophe 6095 f.)]. Dies erinnert an die Ereignisse am Magnetberg im Herzog Ernst; im Jüngeren Titurel wehren sich die Leute allerdings erfolgreich gegen die Greifen. 33 Wolfram von Eschenbach: Parzival. Hrsg. Albert Leitzmann. 7. Aufl. revidiert von Wilhelm Deinert, 1. Heft: Parzival Buch I-VI. Tübingen 1961 (Altdeutsche Textbibliothek, Bd. 12), 71,7; 71,17 - 21. 34 Das Alexanderlied des Pfaffen Lamprecht. Das Rolandslied des Pfaffen Konrad. Hrsg. Friedrich Maurer. Darmstadt 1964 (Deutsche Literatur, Sammlung literarischer Kunst- und Kulturdenkmäler in Entwicklungsreihen), S. 24, Verse 132-133. 274 Winder McConnell wie si wære eins wurmes amme, der sît zevuorte ir wamme, und wie ein trache ir brüste süge und daz der gâhes von ir vlüge, sô daz sie in nimmer mêr gesach. daz herze er ir ûz dem lîbe brach. 35 Ähnliches begegnet auch in der Rabenschlacht , als die Gattin Etzels, Helche, zunächst von einem wilden Drachen träumt, der ihr beide Söhne entreißt. Anschließend: »si sach in dem troume, / daz sie der grîfe zebrach« 36 . Der Mütter fürchterliche Träume enthalten Bilder von Drachen und Greifen, die kein gutes Omen für die Zukunft darstellen. Wichtig scheint hier zu sein, daß sowohl im Alexanderlied als auch im P arzival der noch ungeborene Held eng mit diesen furchtbaren Gestalten und Ereignissen verknüpft ist. Ist nicht Parzival selbst der Drache, der an dem Herzen der Mutter säugt und es schließlich bricht? Symbolisiert ihn nicht auch der Greif, der Herzeloyde die rechte Hand »zucte«? Das mhd. Verb »zücken, zucken« wird von Lexer mit Gewalt assoziiert: »[...] schnell u. mit gewalt ziehen (empor, heraus, zurück, fort), schnell ergreifen, an sich reissen, fortreissen, wegnehmen, entreissen, rauben, stehlen [...]« 37 . Das gleiche Verb kommt auch in der K udrun 69,3 vor, als berichtet wird, wie einer der jungen Greifen den kleinen Hagen an sich »reißen« will, um ihn zu verschlingen: »dô zuhte ez <ir> einer« 38 . Damit wird eine Haupteigenschaft des Greifen bezeichnet, die sich in den mittelhochdeutschen Zeugnissen besonderer Häufigkeit erfreut: Seine räuberisch-, fleischfressende Natur überwiegt. 39 Ob das auch dem Einfluß des fortschreitenden Christentums zu verdanken ist, scheint fraglich zu sein. Während der Drache in kirchlichen Kreisen verteufelt wird, bewahrt der Greif, wie die Mandala im Kloster Sankt Urban in Luzern (mit Bildnissen des Hirsches, des Löwen, des Einhorns und des Greifen 40 ) beweist, auch in den Augen der Frommen recht positive Züge. 35 Parzival (Fn. 33), 103,25 - 26; 104,7 - 16. Siehe den kurzen Kommentar zu Herzeloydes Traum von Blamires, David: Characterization and Individuality in Wolfram’s ›Parzival‹. Cambridge 1966, S. 77-78; weiter: Green, D. H.: The Art of Recognition in Wolfram’s Parzival. Cambridge 1982, S. 42. In beiden Fällen wird allerdings dem Greifen wenig bzw. keine Achtung geschenkt, man konzentriert sich auf den Drachen. Am ausführlichsten beschäftigt sich Rudolf Roßkopf mit dem Traum Herzeloydes in seinem Werk: Der Traum Herzeloydes und der rote Ritter. Erwägungen über die Bedeutung des staufisch-welfischen Thronstreites für Wolframs ›Parzival‹. Göppingen 1972 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik, Bd. 89), S. 2ff. Zu dem Greifen (mit beachtenswerter Kritik an früheren Interpretationsversuchen) siehe S. 7ff. Recht überzeugend erscheint mir Roßkopfs Beschreibung des Greifen als »das negative Symbol königlicher Macht und Herrschaft« (S. 27). Er »versinnbildlicht genau das Gegenteil jenes Herrschertums, wie es der Gral von all denen verlangt, die er in die Welt hinausschickt« (S. 28) und weiter die »Gesinnung und Taten ihres [= Herzeloydes] zurückliegenden Lebens [...] die Tiersymbolik für Herzeloydes sündhaftes Verhalten nach ihrem Abfall von den Gralsgesetzen« gleichzeitig aber auch »ihr Gerichtszeichen« (S. 31). 36 Rabenschlacht. In: Alpharts Tod, Dietrichs Flucht, Rabenschlacht . Hrsg. Ernst Martin. Deutsches Heldenbuch, 2. Teil. Berlin 1866, S. 231, Str. 125,3-4. 37 Lexer, Matthias: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. 1878 (Nachdr.; Stuttgart 1974), Bd. 3, Sp. 1165. 38 Kudrun. Hrsg. Karl Bartsch. 5. Aufl. überarbeitet und neu eingeleitet von Karl Stackmann. Wiesbaden 1965 (Deutsche Klassiker des Mittelalters), S. 18. 39 Eine Widerspiegelung der brutal räuberischen Natur des Greifen, die im 13. Jahrhundert von Hugh von St. Victor (? ) in De bestiis et aliis rebus libri IV , iii. 4 beschrieben wird: »Nam et homines vivos discerpit, et integros in nidum asportat.« [Denn er zerreißt lebende Männer und bringt sie ganz (= ihre ganzen Leichen) in sein Nest.] Mythos Greif 275 Daß der Greif im Mittelalter keineswegs nur als positives Wesen angesehen wurde, zeigen die schon vorher erwähnten Hinweise auf dessen räuberische (als Entführer) und geizige (als Hüter des Goldes) Natur. 41 Es ist wahrscheinlich, daß er wegen einer Vermischung mit Aspekten der Sindbad-Erzählungen gerade zu dieser Zeit eine (negative) Verwandlung durchgemacht hat: »In der Zeit der Kreuzzüge vermischte sich damit die arabische Sage von dem riesigen Vogel Roch oder Rock, wie sie besonders aus Sindbads des Seefahrers Abenteuern in ›Tausend und einer Nacht‹ bekannt ist. Sindbad wird dort vom Roch in das Tal der Diamanten getragen. Ebenso tragen in der Sage von Herzog Ernst die Greifen diesen und seine Begleiter vom Magnetberg fort.« 42 Der jüdische Weltreisende Benjamin von Tudela hat auf seinen Reisen zwischen 1169 und 1171 vor allem von den jüdischen Gemeinschaften berichtet, denen er unterwegs begegnet ist, aber in seinem Bericht über China erzählt er auch von einem Greifen, der genau die gleiche Funktion hat, wie der alte Greif im Herzog Ernst. Im Meer von Nikpa, wo Schiffe steckenbleiben und sich nicht fortbewegen können, verhungert die erschöpfte Mannschaft. In Rinderhäute gehüllt und mit Messern bewaffnet springen die Überlebenden ins Meer. In der Überzeugung, es handele sich um ein Tier, packt ein Greif einen Matrosen, bringt ihn ans Festland und macht Anstalten, ihn zu verschlingen. Er wird dann aber vom Matrosen getötet. 43 Ein etwas späterer Weltreisender, Marco Polo, erzählt im CXCII. Kapitel seines mit 40 In Offenbarung 4, 7 ist die Rede von vier um den Allmächtigen versammelten Wesen, von denen zwei die Komponenten des Greifen bilden: »Und das erste lebende Geschöpf ist gleich einem Löwen [...] und das vierte lebende Geschöpf ist gleich einem fliegenden Adler«. Möglich, daß dabei dem Schreiber auch die Vorstellung eines Greifen vorschwebte. Siehe auch Campbell, F. E. A.: Die Prosa-Apokalypse der Königsberger Handschrift Nr. 891 und die Apokalypse Heinrichs von Helser. Greifswald 1911 (Diss.), S. 13: »Das erste thier was eime lewen glich [...] das virde thier was glich einem vligenden arn.« 41 Siehe z.B. auch den Abschnitt XXXIII (»Also Helfferich mit der konnigin ging vnd sie hies ein nuwe gewant an legen«) in von der Hagen, Friedrich Heinrich (Hrsg.): Heldenbuch. Altdeutsche Heldenlieder aus dem Sagenkreise Dietrichs von Bern und der Nibelungen. 1855 (Nachdr.: Hildesheim 1977), Bd. 2, S. 317, Strophe 595,9 - 12, als Ute Hildebrand fragt, wo Dietrich geblieben sei: »›sage mir, vff die truwe din, wo ist der Bernere? das du aleyn(e) byst (her) kumen.‹ ›frowe, sol uch (ich? ) die worheit sagen, ein gryffe het den hin genumen.‹« 42 Trübners Deutsches Wörterbuch. Im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft für Deutsche Wortforschung herausgegeben von Alfred Goetze. Berlin 1939-1957, Bd. 3, S. 231. Siehe auch: Gräße, Johann Georg Theodor: Beiträge zur Literatur und Sage des Mittelalters. Dresden 1850, Teil III: »Zur sagenhaften Naturgeschichte des Mittelalters«, 9. Kapitel: »Der Vogel Greif«, S. 87-90; weiter: von Dobeneck, Friedrich Ludwig Ferdinand: Des deutschen Mittelalters Volksglauben und Heroensagen. Hrsg. Jean Paul. Berlin 1815, S. 194-200. Von Dobeneck weist auf die Wirkung der Kreuzzüge und den Einfluß der Sagen des Orients (Sindbad) bei der Umgestaltung des goldhütenden Greifen in einen Seeleute entführenden hin. Siehe auch Bartsch, Karl (Hrsg.): Herzog Ernst. 1869 (Nachdr.: Hildesheim 1969), S. CLII-CLIII: »Dass die Sage von den Greifen nicht deutschen Ursprunges, sondern aus dem Orient zu uns gekommen ist, hat man mit Wahrscheinlichkeit vermuthet. [...] Am meisten berührt sich die Ernstsage wieder mit den Reisen Sindbads, der mit seinen Begleitern sich auch in Rinderhäute einnähen und von den Greifen forttragen lässt.« 43 The Itinerary of Benjamin of Tudela. Travels in the Middle Ages. Mit Einleitungen von Michael A. Signer (1983), Marcus Nathan Adler (1907) und A. Asher (1840). Malibu, CA 1987, S. 123. Siehe auch Denis (Fn. 17), S. 36 - 37, der die Geschichte wiederholt und sich dabei auf Benjamin bezieht. 276 Winder McConnell Rustichello von Pisa zusammen verfaßten Reiseberichtes (1298/ 1299) von einer Insel Mogdasio, die südlich von Çanghibar (Sansibar) liegt, wo Greife, die von den Einwohnern »rukhs« genannt werden, wohnhaft seien. Er weist auf die Augenzeugenberichte anderer hin, die bestreiten, daß die Ungeheuer eine Mischung von Vogel und Löwe seien; nach ihnen seien sie eher wie außergewöhnlich kräftige Adler, die sogar Elefanten in die Luft tragen können. Marco Polo selbst meint, jene Wesen müßten mit Sicherheit wegen ihrer unglaublichen Stärke Greife sein. 44 Im Spielmannsepos Herzog Ernst (um 1180) geht die an den Bericht Benjamins von Tudela erinnernde Greifen-Episode wenigstens auf der Oberfläche kaum über das Episodenhafte hinaus. Vor dem Magnetberg im Lebermeer steckengeblieben, droht Herzog Ernst und seinem Gefolge der Hungertod. Tote werden dann in der Tat von Greifen weggetragen. Der Verfasser hat ein bekanntes Motiv aufgegriffen und ohne ausführlichen Kommentar verwendet. Die Stelle erinnert an Kudrun; die Greifen wollen ihrem Nachwuchs die Verhungerten als Futter bringen. Dem Greifen wird allerdings nur diese eine Funktion - als eine Art Geier - zugewiesen. Es fehlt dem Spielmannsepos jedoch - im Vergleich zur Kudrun - jeglicher Hinweis auf eine Verbindung des Greifen mit dem Teufel: »die grîfen kâmen dar geflogen / und fuortens hin zir neste« 45 . Ganz im Gegenteil: die Greife werden zu einem Symbol der Freiheit und des Lebens für Ernst und seine Gefolgsleute. 46 Nachdem sich diese in Meerrinderhäute eingenäht ha- 44 Polo, Marco: Il Milione. Die Wunder der Welt. Übers. aus altfranzösischen und lateinischen Quellen und Nachwort Elise Guignard. Zürich 1983, S. 364 f. 45 Herzog Ernst (Fn. 42), V. 4124-4125. Siehe auch die ausführlichere Beschreibung dieser Episode in Die Historie von Herzog Ernst. Die Frankfurter Prosafassung des 16. Jahrhunderts. Aus dem Nachlaß von K. C. King herausgegeben von John L. Flood. Berlin 1992 (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, Bd. 26), S. 110-115. Die Episode findet, mit leichter Veränderung, im anonymen Reinfrid von Braunschweig (um 1300) Erwähnung: ir hânt wol gehoeret wie ein herzog ûzer Beigerlant, Ernest sô was er genant, und grâve Wetzel sîn man hie vor ouch zuo dem steine kan, als ich von in gelesen habe, und wie sî beide grîfen drabe in roshiuten fuorten. (Verse 21056-21063; siehe Fn. 28) In der altnordischen Thidrekssaga wird König Hertnit von einem Drachen auf eine ähnliche Weise fortgetragen, um dessen Nachwuchs als Futter zu dienen. In diesem Fall wird aber der Held vorher getötet: »König Hertnit ritt auf den Drachen ein, mit mehr Hitze und Vermessenheit als Vorsicht, dieweil dieser Drache so stark war, daß, sobald sie zusammenkamen, der Drache ihn mit seinen Klauen ergriff, und mit ihm in ein tiefes Tal flog. Da war ein Berg und eine weite Höhle, in welcher der Drache drei Junge hatte. Denen warf er den toten König vor, und sie nagten ihm alles Fleisch von den Gebeinen.« (Die Thidrekssaga oder Dietrich von Bern und die Niflungen. Übersetzt durch Friedrich Heinrich von der Hagen. Mit neuen geographischen Anmerkungen versehen von Heinz Ritter-Schaumburg. St. Goar 1989, Bd. 2, S. 693.) 46 Siehe auch Herzog Ernst D (wahrscheinlich von Ulrich von Etzenbach). Hrsg. Hans-Friedrich Rosenfeld. Tübingen 1991 (Altdeutsche Textbibliothek, Bd. 104), S. 112, Verse 3366 ff.: »Wetzel der muotes veste dô er niht anders trôstes sach, ze sînem hêrren er dô sprach: ›ich sage iu, wes ich habe gedâht, dâvon wir hinnen werden brâht: von den grîfen sô muoz daz geschehen.‹« Mythos Greif 277 ben, werden sie von den Greifen vom steckengebliebenen und verdammten Schiff ans Land ans Land gebracht. Einmal dort fällt es den Geretteten nicht schwer, den jüngeren Greifen zu entkommen: »alsô wart ouch ze leste dem herzogen und sînen man von den grîfen geholfen dan: dâ von sie sît genâsen.« (Verse 4126-4129) Wenn auch von den Greifen so nicht beabsichtigt, werden sie zu Ernsts und seines Gefolges Helfern aus der Not. Es findet zwischen ihnen und den Helden auch kein Kampf statt. Interessant in dieser Hinsicht ist die Bemerkung von David Blamires: »They are creatures that, though dangerous, can be used to the hero’s advantage. If he were to kill them, he would in effect be killing himself. In psychoanalytical terms the griffin may be regarded as a dark and dangerous part of the human psyche which the hero must harness or come to terms with in order to survive.« 47 Mit Recht weist Blamires die Bemerkung von Hulda Braches zurück, daß »[d]er mythische Greif [...] im Mittelalter stets als das Sinnbild Christi [galt], der ja sowohl im Himmel wie unter irdischen Menschen wohnt« 48 : »This identification is crass and unconvincing with regard to Herzog Ernst, and the claim that the griffin is always a symbol of Christ is totally unjustified.« 49 Dagegen hat Braches recht, wenn sie meint, der Verfasser von Herzog Ernst habe »der Rettung durch die Greife noch eine tiefere Bedeutung [...] beilegen wollen« 50 . Mir scheint, daß manches für die psychoanalytisch fundierte Erklärung von David Blamires spricht. Blamires betrachtet die Greifen-Episode im Herzog Ernst als kennzeichnend für jenes »stage in development at which the individual is no longer in direct control of his destiny. He must give himself over to forces that are out of his conscious c ontrol«. 51 Dabei gehe es, laut Blamires, um den Anfang eines Untersuchungsprozesses, wobei der Held mit seinem eigenen Schatten konfrontiert wird. Am ausführlichsten in der mittelhochdeutschen Literatur berichtet der anonyme Dichte r der mittelhoch deuts chen Kudr un ( um 1240? ) v on dem chaos erzeugenden Greifen, dessen Vorkommen im ersten (fast märchenhaften) Teil dieses »Frauenromans« dem Herzog Ernst manchen Zug verdankt. 52 Ihm gilt der Greif als des Teufels Bote 53 : »ez hêt der übele tiuvel gesant in daz rîche / sînen boten verre« (54,3 - 4a). Somit wird er nicht nur als gesellschaftsgefährdende Gestalt einer anderen Welt angesehen, sondern auch als Inkarnation des Bösen, des Nichtchristlichen, des Zerstörerischen, des Chaosstiftenden. Er kommt aus dem Bereich des Dämonisch-Unbekannten, seine Heimat wird nicht genannt, lediglich wird erzählt, sie liege weit entfernt. Im Gegensatz zur höfischen Gesell- 47 Blamires, David: Herzog Ernst and the otherworld voyage. A comparative study. Manchester 1979, S. 45 48 Braches, Hulda H.: Jenseitsmotive und ihre Verritterlichung in der deutschen Dichtung des Hochmittelalters. Assen 1961 (Studia Germanica, Bd. 3), S. 65. 49 Blamires (Fn. 47), S. 45. 50 Braches (Fn. 48), S. 65. 51 Blamires (Fn. 47), S. 46. 52 Siehe Panzer, Friedrich: Hilde - Gudrun. Eine sagen- und literargeschichtliche Untersuchung. 1901 (Nachdr. Hildesheim 1978), S. 193 ff. 53 Zitate aus der Kudrun sind der Karl Bartsch/ Karl Stackmann-Ausgabe entnommen (siehe Fn. 38). 278 Winder McConnell schaft ist der Greif »wild« (55,1a). 54 Sein Auftreten gerade zum Zeitpunkt des größten Festes des irischen Hofes hat freilich eine symbolische Bedeutung. Es geht um das unerwartete Eindringen des ordnungszersetzenden Chaos in eine scheinbar durch Freude und Harmonie gekennzeichnete Gesellschaft und zwar ausgerechnet in dem Moment, in dem man die stets vorhandenen Gefahren der Umwelt verdrängt und sich den allzu vergänglichen und trügerischen Freuden des Jetzt hingegeben hat: »vor ir manigen freuden si nâmens war vil kleine« (56,3). Von seiner Struktur her läßt sich das Erscheinen des Greifen am irischen Hof durchaus mit dem unerwarteten Auftreten des Aussatzes im Armen Heinrich Hartmanns von Aue vergleichen: beides soll die Wahrheit der christlichen Mahnung bestätigen: »mêdiâ vîtâ / in morte sûmus« 55 . Von vornherein wird auch das Ziel des Greifen klar: Der Sohn des irischen Königs - selbst ein Symbol: der Zukunft, der Kontinuität, des Lichts - soll entführt werden. Der Greif wird als Symbol des Dunklen dargestellt: »Ez begunde schatewen [...] / als ez ein wolken wære« (56,1a und 2a). 56 Der Einbruch in die höfische Gesellschaft wird als kosmisches Ereignis dargestellt, wobei nicht nur das Tageslicht überschattet, sondern auch die Natur unter der überwältigenden Kraft des Greifen beschädigt, bzw. zerstört wird: »Vor des grîfen krefte der walt dâ nider brach« (57,1). Hof, Gastgeber und Gäste sind dem Greifen wehrlos ausgeliefert. Der Hof wirkt ineffektiv. Ungestört darf der Greif sein Opfer entführen und man nimmt sogleich an, der junge Hagen sei des Todes. Das Ungeheuer ist unangreifbar, ihm kann auch nicht nachgesetzt werden, da sein Reich den Iren völlig unbekannt ist. Als Gestalt einer anderen Welt - des Teuflisch-Dämonischen - wird dem Greifen und dessen Vorhaben nur durch das Eingreifen einer höheren Macht Einhalt geboten werden können. 57 Schon am Anfang der 2. Aventiure wird auf die Rolle Gottes hingewiesen (68,1b). Ihm ist zu verdanken, daß Hagen nicht von dem jungen Greifen verschlungen wird (69,3b - 4). Das Motiv hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Greifen-Motiv im Herzog Ernst - in beiden Fällen könnte es sich um eine Vereinigung des Sindbad-Greifen-Motivs aus Tausendundeine Nacht mit den älteren klassischen Vorstellungen des wilden Raubtiers handeln -, geht aber darüber hinaus, indem der alte Greif von Anfang an mit dem Teufel verbunden wird. Die Welt, in die er Hagen hineinträgt, liegt außerhalb des Rahmens der höfischen Welt, ist eigentlich eine Sphäre des Unterweltlichen, des Teuflischen. 54 Zum Begriff »wild« in der mhd. Literatur siehe: Stauffer, Marianne: Der Wald. Zur Darstellung und Deutung der Natur im Mittelalter. Bern 1959 (Studiorum Romanicorum collectio Turicensis, Bd. 10); Hufeland, Klaus: Das Motiv der Wildheit in mittelhochdeutscher Dichtung. In: ZfdPh 96 (1976), S. 1-19; Thelen, Lynn Marsha: Beyond the Court. A Study of the ›wilde‹-Motiv in Medieval German Literature. University of Pennsylvania 1979 (Diss.); Schmid-Cadalbert, Christian: Der wilde Wald. Zur Darstellung und Funktion eines Raumes in der mittelhochdeutschen Literatur. In: Gotes und der werlde hulde. Literatur in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Heinz Rupp zum 70. Geburtstag. Hrsg. Rüdiger Schnell. Bern 1989, S. 24-47. 55 Hartmann von Aue: Der arme Heinrich. Hrsg. Hermann Paul. 14. Aufl. besorgt von Ludwig Wolff. Tübingen 1972 (Altdeutsche Textbibliothek, Bd. 3), S. 3, Verse 92-93. 56 Zahlreiche volkstümliche Varianten dieses Motivs sowohl innerhalb als auch außerhalb des deutschen Sprachraums (einschließlich des Morgenlandes! ) erwähnt Panzer (Fn. 52), S. 191 - 192. 57 Auffallend in der ersten Strophe der zweiten Aventiure ist der Gebrauch von grîfen nicht nur als Substantiv, sondern auch als Verbum: »und grîfen an diu mære, welch ein swinde vart / mit dem wilden grîfen daz edel kint <dô reit>« (67,2-3). Sicherlich mehr als Zufall! Der Dichter scheint von der Vorstellung des »Greifens« in seiner mannigfachen Bedeutung mitgerissen zu sein. Mythos Greif 279 Hagen sollte von dieser Welt »verschlungen« werden. Der junge Greif - wie auch der Teufel - überschätzt in seinem Übermut seine Kraft und es gelingt Hagen zu entkommen. Es kann allerdings nicht ohne weiteres behauptet werden, die Funktion der Greifen bestehe nur darin, höfische Kinder zu entführen, damit sie als Futter für die jüngeren Greifen verwendet werden. Drei Prinzessinnen sind auch von den Greifen entführt worden, aber zu welchem Zweck? Nimmt man an, daß sie, wie Hagen, den jungen Greifen als Futter gegolten haben sollen, so werden sie unmöglich allein diesem Schicksal entkommen sein können. Offensichtlich genießen sie den Schutz Gottes, aber wie er sie vor den Greifen gerettet haben mag, wird im Epos überhaupt nicht erwähnt. Daß sie sich vor ihren Entführern noch in Acht nehmen müssen, bezeugt die Tatsache, daß sie sich »in einem <holen> steine« (74,4b) aufhalten, wo sie sich weder frischer Luft noch Sonne erfreuen dürfen. 58 Die Entführung durch den Greifen trägt zur Entfaltung des Selbstständigkeitsgefühls des jungen Prinzen bei. Während z.B. tote Kreuzzügler am Strande den jungen Greifen nur als Futter dienen (86,2-3), wird Hagen jetzt die Möglichkeit geboten, sich als Retter der Prinzessinen und Vorkämpfer Gottes (sogar in der Bekleidung eines toten Kreuzzüglers) gegen diese teuflische Macht zu profilieren. Daraufhin gerät er in einen mörderischen Kampf gegen den alten Greifen, der ihn an Ort und Stelle verschlingen will, einen Kampf, den er auch gewinnt, wie auch einen zweiten gegen einen anderen Greifen. Schließlich tötet er das ganze Geschlecht (94,3), aber das gelingt ihm nur, weil er sich der Hilfe Gottes erfreut: »des half im got von himele; jâ mohte er solher krefte niht gewalten« (94,4). Während aber der Erzähler hervorhebt, daß Hagen Gott seinen Sieg verdankt, wird im weiteren Verlauf dieser Aventiure - vor allem nach Hagens erfolgreichem Kampf gegen den gabilûn (100,3ff.) auffällig, wieviel von der Wildheit seiner Umgebung der Held sich selbst aneignet. Schließlich wird auch Hagen konsistent das Beiwort »wild« beigelegt (z.B. 106,1a; 124,1a; 198,1a; 226,4a; 255,4a; 312,1a; 315,1a; 362,1a; 381,1a; 433,1a; 447,1a) und er wird auch durch das Substantivum »Vâlant« (168,2a) mit dem Teufel, zumindest dem Teuflischen assoziiert. Diese »Verwilderung« Hagens wird allerdings in der Kudrun nicht verabsolutiert; nach dem (an sich verlorenen) Kampf gegen die Hegelingen, die seine Tochter »entführt« haben, wird der irische König wieder ganz in die höfische Gesellschaft integriert. Trotz der negativen Darstellung des Greifen in der Kudrun und anderen mittelhochdeutschen Literaturdenkmälern wahrt dieses mythologische Wesen anscheinend seine Affinität zum Höheren, Geistigen. Hugos von Trimberg zwischen 1290 und 1300 entstandenes Lehrgedicht Der Renner - das sich mit 60 überlieferten Handschriften offensichtlich einer großen Beliebtheit im späten Mittelalter erfreute 59 - widmet dem Greifen einen ganzen Abschnitt, der hier vollständig zitiert wird: 58 Nachdem Hagen das ganze Greifengeschlecht vernichtet hat, »dô hiez er sîne frouwen von dem steine gân. / er sprach: ›lât iu erschînen den luft und ouch die sunnen‹« (95,2-3). Gerade diese Bewegungsfreiheit verweigert Hagen später seiner eigenen Tochter Hilde, als er sie allen Freiern vorenthält und diese auf rohe Weise ums Leben bringt. In einer Hinsicht kann man behaupten, Hagen habe selbst die chaotische Rolle des Greifen übernommen, indem er in sein eigenes Reich einen Zustand eingeführt hat, der eher der Situation im Greifenland als der einer höfischen Gesellschaft entspricht. 59 Siehe Frenzel, Herbert A. und Elisabeth: Daten deutscher Dichtung. Chronologischer Abriß der deutschen Literaturgeschichte, Bd. I: Von den Anfängen bis zur Romantik. München 13 1977, S. 67. 280 Winder McConnell Von dem grîfen Wer könde grôz wunder grôzer grîfen Mit kleinen worten wol begrîfen, An die gotes hôhiu wirdikeit Besunder wunder hât geleit? Daz zwêne künige offenbâr, Hinden lewen, vorn adelar, Gemischet sint in einer hiute, Des mac wol wundern alle liute! Si sint sô starc und ouch sô grôz, Daz lützel tier sîn ir genôz. Des füerent ouch si spât und fruo Vil groezer âmen irn jungen zuo Denne meisen, sparn oder künigelîn 60 : Gelobet muoz der schepfer sîn, Der kleinen vogelîn hât gegeben Als grôzen grîfen, swes si leben! Der adelar und der lewe sint Zesamen gemischet, dâ gotes kint Der meide kint ouch wolte werden Und bî uns wonen hie ûf erden. 61 Neben dem Wunderbaren am Wesen des Greifen unterstreicht Hugo das Edle und auch durchaus Positive an der mythologischen Gestalt. Der Greif besteht aus zwei Königen (»zwêne künige«), d.h. dem König der Luft und dem König der Erde; noch wichtiger ist aber die Art und Weise, wie der Greif in den Versen 19513-19516 mit Christus in Verbindung gebracht wird - als eine (geglückte) Mischung von Himmlischem und Irdischem. Im Gegensatz dazu ist jedoch die Beschreibung des Greifen, die uns Konrad von Megenberg in seinem Buch der Natur ( 1349/ 1350) bietet: »Grifis haizt ain greife. daz ist ain vogel, sam Jacobus spricht, der ist auzdermâzen grimme und übele und ist des leibes sô starch, daz er ainen gewâpenten man überwindet und in toett. er hât grôz scharpf klâen oder kræuel, dâ mit er den menschen und andreu tier zereizt, und die klâen sint sô grôz, daz in die läut köpf dar auz machent und trinkväzzer. der vogel ist vierfüezig und ist dem adlarn gleich an dem haupt und an den flügeln, iedoch ist er verr groezer. daz ander tail seines leibes ist ainem lewen geleich. und wont auf den pergen, die dâ haizent hyperborei. der vogel ist den menschen gar veint und den pfärden. er legt in sein nest ainen stain, der haizt agathes. waz kraft der hab, daz wirt her nâch kunt, wenn wir von den edeln stainen sagen. Rabanus spricht, daz die greifen golt auzgraben und sich gar sêr fräuen, wenn si daz golt ansehen.« 62 Der Greif hat aber auch offensichtlich eine durchaus positive Rolle in der Heraldik gespielt: »As a hybrid of two noble beasts, the griffin was well-fitted to parade the strength 60 Es bleibe dahingestellt, ob Hugo mit »künigelîn« lediglich »Kaninchen« und nicht auch, in Anspielung auf den Hagenteil der Kudrun und die Entführung Hagens, »kleinen König« gemeint hat. 61 Hugo von Trimberg: Der Renner. Hrsg. Gustav Ehrismann. Mit einem Nachwort und Ergänzungen von Günther Schweikle, Bd. 3. 1909 (Nachdr.: Berlin 1970 [Deutsche Neudrucke, Reihe: Texte des Mittelalters]), S. 106, Verse 19497 - 19516. 62 Konrad von Megenberg (Fn. 31), S. 190. Mythos Greif 281 and grandeur of the European nobility.« 63 Auch die Klauen des Tieres wurden zum Wappen eines Ritters, wie etwa bei Heinrich von dem Türlîn in seiner Crône (um 1220): »Ein ritter kumt ûf den sant, Der heizt Fiers von Arramîs, Des herze vert nâch hôhem prîs Und vüert eines grîfen klâ.« 64 Die Klauen des Greifs wird unmittelbar nach der Absicht des Fiers von Arramîs erwähnt, »nâch hôhem prîs« zu streben. Er gilt offenbar als Symbol des Mutes, des Draufgängertums. In einem ganz anderen Zusammenhang wird die Greifenklaue mit christlichem Brauchtum in Verbindung gebracht. Sie galt als eine Bezeichnung für bestimmte »cornua« (Reliquienbehälter) im europäischen Mittelalter bis in das 17. Jahrhundert hinein: »Aus einem Büffelhorn gemachte cornua werden, wenn stark gekrümmt, in den Inventaren als ungula griffonis, deutsch als Greifenklaue bezeichnet. So im Inventar der Kathedrale zu Durham von 1382; im Inventar von St-Bertin von 1465: In uno cornu sive ungula griffonis valde curvo habentur reliquiae etc.; im Wiener Heiligtumsbuch von 1502: Ain Greiffenkla, mit Silber beschlagen; im Halleschen Heiltumsbuch: Eyne greyffenn Clawe, in Silber gefaßt, und in einem Inventar des Klosters Belbuck (Pommern) von 1525: I gripesklage, unbeslagen; im Wittenberger Heiltumsbuch von 1509: Ein Greiffklawe; in einem Inventar des Domes zu Goslar von etwa 1525: Ein greiffen clawen, die olde, die andere greiffen clawe, und noch in einem Inventar der Abtei zu Siegburg von 1608: Item ein Greiffklaw schwartz mit silber beschlagen, darinnen verschiedene Reliquien erfindlich.« 65 Eine möglicherweise sehr positive Vorstellung vom Greifen läßt sich auch an der Divina Commedia von Dante nachweisen. Im 29. Canto der Purgatorio liest man von dem Wagen Christi, der von einem Greifen gezogen wird: »un carro, in su due rote, trïunfale ch’al collo d’un grifon tirato venne. [...] le membra d’oro avea quant’ era uccello, e bianche l’altre, di vermiglio miste.« 66 H. Flanders Dunbar sieht in der Darstellung des Greifen bei Dante nichts weniger als einen Vertreter Christi: »Through the nature of the grifon was the unique unification of the dual nature of finite creation, symbolized in the two wheels of the car he drew. [...] The eternal pairs, divine and human, church and empire, theology and philosophy, together with their fruit the mystic consummation in contemplation and action, are suggested in the two wheels of the car, and united 63 Payne, Ann: Medieval Beasts. London 1990, S. 29 (mit Abbildung). [Als Hybride zweier edler Tiere eignete sich der Greif besonders dazu, die Macht und Herrlichkeit des europäischen Adels darzustellen.] Siehe auch die vielen Beispiele des Greifen als Wappentier bei Fairbairn, James: Heraldic Crests. A Pictorial Archive of 4,424 Designs for Artists and Craftspeople. New York 1993, besonders die Tafeln 62-65. 64 Heinrich von dem Türlîn: Diu Crône. Hrsg. Gottlob Heinrich Friedrich Scholl. 1852 (Neudr.: Amsterdam 1966), S. 220, Verse 17919 - 17922. 65 Braun, Joseph: Die Reliquiare des christlichen Kultes und ihre Entwicklung. Freiburg im Breisgau 1940, S. 55. 66 Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Übers. Karl Witte, durchges. von Berthold Wiese. Hrsg. v. Werner Bahner. Leipzig 1990, S. 255 (V. 107 f., 113 f.): »[...] ein Siegeswagen, ruhend auf zwei Rädern, / und diesen zog ein Greif an seinem Halse [...] die Glieder waren Gold, so weit des Vogels / Gestalt ging, aber rot und weiß die andren.« 282 Winder McConnell in the two natures of the grifon, the white and vermilion signifying the elements of the Eucharist. [...] [T]he grifon, drawing the car, is representative of Christ as the head of his mystical body, humanity.« 67 In einer der bisher ausführlichsten Untersuchungen über den Greifen - und nicht nur beim italienischen Meister! - hat Peter Armour jedoch gezeigt, daß zur Zeit Dantes das vorherrschende Bild des Fabeltiers ein unverkennbar negatives war, was seine Interpretation als Sinnbild Christi unmöglich machen müßte: »The connotations of the griffin in Dante’s time constitute strong external evidence against the theory that his griffin symbolizes Christ. The internal evidence likewise points inescapably towards the rejection of this reading.« 68 Armour identifiziert den Greifen Dantes mit einer idealisierten Projektion eines künftigen römischen Kaisers, einer Vorstellung der Danteschen Theologie der Weltgeschichte , deren Zentrum Rom sein soll. 69 Hinsichtlich der christlichen Symbolik des Greifen scheiden sich also die Geister. Louis Charbonneau-Lassay hat gemeint, der Greif sei das »Lieblingswesen« der christlichen Symbolisten bei der Darstellung der Natur und Vorzüglichkeit Christi. 70 Indem er auch auf Dante hinweist, erklärt er: »Joining in itself the two natures of eagle and lion, the griffin is one of the most satisfactory emblems of Christ’s dual nature« 71 , wobei das Vorderteil des Tieres die Göttlichkeit, das Hinterteil die Menschlichkeit Christi darstellt. Charbonneau-Lassay suggeriert sogar, daß dieses Fabelwesen ein Symbol der Weisheit, des höchsten Lichts des Geistes und auch der Macht Christi gewesen sei. 72 Weiter soll der Greif auch die Heiligen symbolisiert haben. 73 Andererseits räumt der Verfasser ein, daß in der mittelalterlichen Ikonographie der Greif öfters als Sinnbild des Teufels gegolten habe, vor allem dann, wenn das Hinterteil, das sonst löwenartig ausgesehen hat, die Eigenschaften eines Drachen annahm. 74 67 Dunbar, H. Flanders: Symbolism in Medieval Thought and its Consummation in the Divine Comedy. New York 1961, S. 318 und S. 321 [Durch die Natur des Greifen spiegelte sich die eigenartige Vereinigung der zweifachen Natur der begrenzten Schöpfung wider, die durch die zwei Räder des von ihm gezogenen Wagens symbolisiert wird. [...] Die ewigen Paare, göttlich und menschlich, Kirche und Reich, Theologie und Philosophie, zusammen mit ihrer Frucht, der mystischen Vollendung in Kontemplation und Handlung, erscheinen in den beiden Rädern des Wagens und sind in den beiden Naturen des Greifen vereinigt, das Weiße und Vermillon die Elemente der Eucharistie bezeichnend. [...] [D]er Greif, der den Wagen zieht, stellt Christus als Haupt seines mystischen Körpers, der Menschheit, dar.] Siehe auch Toynbee, Paget: A Dictionary of Proper Names and Notable Matters in the Works of Dante. Oxford 1898, S. 289, s.v. Grifone: »[...] commonly understood to be symbolical of Christ«. 68 Amour (Fn. 12), S. 46. Siehe auch Colin Hardie, The Symbol of the Gryphon in Purgatorio x xix. 108 and following Cantos, in: Centenary Essays on Dante, hrsg. von Mitgliedern der Oxford Dante Society. Oxford 1965, S. 113: We have found nothing in the tradition to suggest the gryphon even distantly as a symbol of Christ [...]» Hardie suggeriert, der Greif »stands for Dante’s restored nature in its two sides, animal and spiritual [...]. In letzter Hinsicht ist eine Bemerkung Waltraud Bartschs von Interesse: »[I]f we contemplate their proud images intently enough, we come to the realization that they hold up a mirror to humankind - showing us our own dual nature, composed of spirit and matter, good and evil« (Fn 2, S. 99). 69 Armour (Fn. 12), S. 290 - 291. 70 Charbonneau-Lassay, Louis: The Bestiary of Christ. Übersetzt von D. M. Dooling. New York 1991, S. 397. Die mittelalterlichen Bestiarienenthalten im allgemeinen recht wenig über den Greifen. 71 Charbonneau-Lassay (Fn. 70), S. 402. 72 Charbonneau-Lassay (Fn. 70), S. 403 - 404. 73 Charbonneau-Lassay (Fn. 70), S. 405- 406. Mythos Greif 283 Der Greif war im Mittelalter ein Phänomen, das Europäer mit »dem anderen« (= exotischen Ländern und Völkern) verbunden haben. In seinem Reisebericht (Narrative of Travels), der zwischen 1357 und 1371 zunächst auf lateinisch und französisch erschienen ist, hat Sir John Mandeville von den Greifen in Bacharie (Baktrien - einst teilweise im nordöstlichen Afghanistan und teilweise in der südlichen ehemaligen UdSSR) erzählt: »In þat contree ben many Griffounes more plentee þan in ony other contree. Summen seyn þat þei han the body vpward as an Egle And benethe as a Lyoun.« 75 Allerdings schreibt Mandeville dem Greifen die Stärke von acht Löwen und mehr als hundert Adlern, »wie sie unter uns bekannt sind«, zu, der auch ein starkes Pferd oder zwei Ochsen in seinen Klauen wegtragen könnte. 76 Auch Goethe kannte den Greifen, hat ihn doch im zweiten Teil seines Faust: »Klassische Walpurgnisnacht« verwendet, wo er auch mit dem altüberlieferten Motiv des Greifen als Goldhüters assoziiert wird: Gold in Blättchen, Gold in Flittern Durch die Ritzen seh' ich zittern. Laßt euch solchen Schatz nicht rauben, Imsen, auf! es auszuklauben. [...] Herein! Herein! Nur gold zuhauf! Wir legen unsre Klauen drauf; 74 Charbonneau-Lassay (Fn. 70), S. 407. Das dichotomische Wesen des Greifen fällt besonders in der Heraldik auf: »[I]n the medieval religious heraldry and sigillography (the study of seals), when the griffin appears alone it must be regarded as the image of Jesus Christ, God and man. The ›griffin-dragon‹ of heraldry, which is opposed to the usual ›griffin-lion,‹ and whose body ends like that of a reptile, always represents an abominable enemy - in a word, Evil« (S. 408). Siehe auch: Borges, Jorge Luis [in Zusammenarbeit mit Margarita Guerrero]: Einhorn, Sphinx und Salamander. Buch der imaginären Wesen. Nach den Übers. von Ulla de Herrera und Edith Aron bearbeitet und ergänzt von Gisbert Haefs. Nachwort Dietmar Kamper. Gesammelte Werke, Bd. 8. München; Wien 1982, S. 54: »Die Auslegungen des Mittelalters bezüglich der Symbolik des Vogels Greif sind widerspruchsvoll. Ein italienisches Bestiarium meint, er stelle den Teufel dar; im allgemeinen ist er das Sinnbild Christi, und so erklärt Isidor von Sevilla in seinen Etymologien: ›Christus ist Löwe, weil er herrscht und die Kraft besitzt; Adler, weil er nach der Auferstehung in den Himmel steigt.‹« 75 Mandeville’s Travels. Übersetzt aus dem Französischen des Jean d’Outremeuse von P. Hamelius. Bd. I: Text. 1919 (Nachdr. London 1960 [Early English Text Society, Bd. 153]), S. 178. Siehe auch: Sir J. Mandevilles Reisebeschreibung in deutscher Übersetzung von Michel Velser. Hrsg. Eric John Morrall. Berlin 1974 (Deutsche Texte des Mittelalters, Bd. 66), S. 153: »Von dem land so kumpt mann in ain land das haisset Balkerya [...] Item in dem land sind me griffen wan in kainem andren land. Nun spricht etlich volck, der gryff sy vornen als der adler und hinen als ain l o e w. Sicher sie sagend wär, wann sie sind also geschaffen. Aber ir s o e llend wissen das ain griff hät gr o e ssern und sterckern lip wan acht l o e wen und hät mer sterckin und gr o e ssin wan hundert adler. Wann sicher ain griff f u e rt an dem flug ainen man mit roß und mit allem, und zwen ochsen die zesamen gebunden sind, als wenn sie ziehen s o e llend in dem wagen. Wann sicher er hät der vordren gr u e wel clauwen als lang und als groß als ain ochsen horn, wann man g u o t bogen machet uß seinen clauwen. Von sinen fedren die sind als starck das man da von als g u o t horn machet z u o schiessend als sie gesin múgend.« 76 Mandeville, S. 179 [Ausg. d’Outremeuse/ Hamelius]. Siehe auch das Kapitel über »Prestre Jehan«, ein Werk des 15. Jahrhunderts bei Ferdinand Denis (Fn. 17), S. 187 ff., in dem berichtet wird: »Item, sachez que nous avons les oyseaulx qui s’appelent grifons et portent bien ung beuf ou ung cheval en leur nid pour donner à leurs petiz oyseaulx.« [Ebenso wißt, daß wir Vögel haben, die Greifen genannt sind und wohl einen Rind oder ein Pferd zu ihrem Nest tragen, um sie ihren kleinen Vögeln als Futter zu geben.] 284 Winder McConnell Sind Riegel von der besten Art, Der größte Schatz ist wohlverwahrt. 77 Hier rufen die Greifen dem Chor der Ameisen zu, die als Goldsammler dargestellt werden. (Das Motiv der »Zusammenarbeit« zwischen Ameisen und Greifen bei der Erschaffung und Bewachung von Gold kommt zunächst bei dem Griechen Flavus Arrianus (2. Jahrhundert) in seiner Anabasis Alexandri vo r . 78 ) Der goldhütende Greif war auch Wieland bekannt: »Nie werden wir, in Wasser noch in Luft, Noch wo im Blütenhain die Zweige Balsam regnen, Noch wo der hagre Greif in ewig finstrer Gruft Bei Zauberschätzen wacht, einander mehr begegnen.« 79 Wenn aber der Greif offensichtlich in verschiedenen Kulturen zu verschiedenen Zeiten zweideutiger Natur sein konnte 80 , scheint die dunkle Seite seines Wesens zu überwiegen, auch wenn der Greif im klassischen Altertum mit Apollo und dem Streben nach Höherem identifiziert wurde. Armour meint, daß nur wenige klassische Quellen etwas Positives über den Greifen berichteten, wobei auch diese nicht außer Acht ließen, daß es sich um einen wilden Vogel handelt, der in der Wüste lebte. 81 Der Greif erfreut sich offensichtlich keiner breiten zeitgenössischen »Beliebtheit« - ob im negativen oder im positiven Sinne - wie etwa der Drache. 82 Woran mag das liegen? Es scheint klar zu sein, daß der Vogel Greif unter dem Einfluß des Christentums niemals 77 Goethe, Johann Wolfgang von: Faust. Zweiter Teil. In: Goethes Werke. 6. Teil. Hrsg. Robert Riemann. Berlin o.J.), S. 209 - 210. 78 Arian . Mit einer englischen Übersetzung von E. Iliff Robson. Bd 2: Anabasis Alexandri (Bücher V-VII), Indica (Buch VIII). London 1933 (The Loeb Classical Library), S. 14, V. 4.3. 79 Wieland, Christoph Martin: Oberon . In: Werke. Hrsg. Fritz Martini, Hans Werner Seiffert. Bd. 5, bearbeitet von Hans Werner Seiffert. München 1968, S. 270, 6. Gesang, Strophe 99. Gleich am Anfang seiner Verserzählung läßt Wieland den Erzähler die Musen auffordern, ihm den Hippogryphen (ein fabelhaftes Wesen mit Greifenkopf und Pferderumpf) zu satteln, damit er (wie Alexander! ) in höhere Sphären hinaufreiten kann: »Noch einmal sattelt mir den Hippogryphen, ihr Musen, / zum Ritt ins alte romantische Land! « (S. 165, 1. Gesang, Strophe 1). Das erinnert an Ludovico Ariostos Orlando Furioso (1516), wo im 4. Canto der Hippogriff des Zauberers Atlante erscheint und in Strophe 17 ausführlich beschrieben wird. Siehe: Ariosto, Ludovico: Orlando Furioso, übersetzt von Barbara Reynolds (Baltimore: Penguin Books, 1975), Teil 1, S. 179 ff. 80 Wir können ohne weiteres mit der lakonischen Bemerkung von Angelo De Gubernatis übereinstimmen: »Die Greife werden mit einer Doppelnatur dargestellt, bald als günstig, bald als bösartig« ([Fn. 24], S. 498). Christoph Koch hat fünf verschiedene Funktionskategorien des Greifen aufgestellt, die gleichzeitig die dunkle und helle Seite des Fabeltieres unterstreichen: 1) Greifen als Gehilfen der höchsten Gottheit, 2) Die goldhütenden Greifen, 3) Der Höhenflug mit Hilfe von Greifen, 4) Der Greif als Unterweltsvogel (vor allem in Märchen), 5) Der Greif als Raubvogel (»Die slavische Bezeichnung des Greifen«, S. 111 - 115). 81 Armour (Fn. 12), S. 25 - 26. 82 Siehe Clark, Anne: The Griffin and the Gryphon. In: Jabberwocky. The Journal of the Lewis Carroll Society 6,1 (Winter 1977), S. 16: »[...] yet this strange beast would be almost forgotten today except for two factors: its widespread adoption in heraldry, and its inclusion by Lewis Carroll in Alice’s Adventures in Wonderland«.Siehe jedoch Waltraud Bartscht (Fn. 2), S. 85: »[...] to this very day, griffins are still very much with us«. Mythos Greif 285 konsistent und mit effektiver Nachwirkung zur Inkarnation des Bösen, zum Symbol des Teuflischen, des Chaos geworden ist, wie das dem Drachen geschah. 83 Es sieht sogar aus, als ob er schon früh selbst - gelegentlich! - als Symbol Christi gegolten haben mag und - trotz seiner durchaus bezeugten dunklen Seite in der mittelhochdeutschen Literatur - durch die Jahrhunderte hindurch gewisse prinzipiell positive Eigenschaften neben den negativen wahrte. Diese Ambivalenz hat dem Greifen von seinen Ursprüngen an angehaftet. Der Drache ist dagegen früh mit der Schlange (= Satan) in Verbindung gebracht. In der Kudrun geschieht das freilich mit dem Greifen, der Hagen entführt, und damit kann auch der Kampf Hagens (unterstützt von Gott! ) gegen das Greifengeschlecht als stellvertretend für den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse bezeichnet werden. Aber eine konzentrierte und konsistente Verteuflung ist ihm erspart geblieben. Der Greif interessiert infolgedessen nicht wie der Drache, der Verborgenes, Geheimliches, in seinem Wesen trägt. Der Drache ist mehrdimensional geblieben, während der Greif, insoweit er überhaupt in unsere Zeit hinein übergetragen wurde, relativ »unproblematisch« wirkt, vor allem im volkstümlichen Bereich. 84 Es verwundert nicht, daß die Bezeichnung »Greif« vor allem noch im militärischen Bereich Verwendung findet; dabei hat man an des Greifen Wildheit, Stärke und seine Neigung zum schnellen Eingreifen mit zerstörerischer Wirkung gedacht. 85 Man denke z.B. an das während der Ardennen-Offensive durchgeführte Unternehmen »Greif« unter der Leitung des Mussolini-Befreiers Otto Skorzeny, wobei englischsprechende deutsche Soldaten in amerikanischer Uniform hinter der alliierten Front Sabotageakte durchgeführt haben, um Verwirrung und Chaos unter den amerikanischen Truppen zu stiften, oder an den Namen des 924-Tonnen-Torpedobootes der einstigen deutschen Kriegsmarine, das am 24. Mai 1944 nordwestlich von Ouistreham versenkt wurde. 86 »Greif« diente auch als Deckname für den in Österreich geborenen antifaschistischen Spion Paul Rosbaud. 87 83 Obwohl im Märchen »Der Vogel Greif«, in dem der dumme (aber redliche) Hans eine Feder vom Greifenschwanz holen muß, der Greif als »Christenfresser« bezeichnet wird. Siehe: Kinder- und Hausmärchen gesammelt durch die Brüder Grimm. Vollständige Ausgabe auf der Grundlage der dritten Auflage (1837). Hrsg. Heinz Rölleke. Frankfurt a. M. 1985 (Bibliothek deutscher Klassiker), S. 620. Es soll aber gleichzeitig nicht vergessen werden, daß in diesem Märchen der Greif als allwissendes Wesen erscheint. 84 Man merke z.B. das Kleinbasler Fest »Vogel Gryff«, das jeden Januar stattfindet und von drei Ehrengesellschaften veranstaltet wird, dessen Zentralgestalt eher der »Wilde Mann« ist, der die eine Gesellschaft repräsentiert. Der »Vogel Gryff« und der Leu (Löwe) bezeichnen die beiden anderen Gesellschaften. Alle Aktivitäten, einschließlich der Fahrt auf dem Rhein und der Tänze auf der Mittelbrücke, dürfen nie die Mitte des Rheins oder der Brücke überschreiten, d.h. auf die Grossbasler Seite gelangen, sonst wird man dem Hohn und Spott der Beobachter ausgesetzt. Grossbasel wird fast als eine »andere Welt« angesehen, auf die die drei phantastischen Figuren nicht einmal einen Blick hinüberwerfen. Siehe: Kearney, Shirley L.: Basel: A Cultural Experience. Basel 1987, S. 18. Ich danke meinem Kollegen Prof. Dr. Richard Falk (University of California, Davis) für diesen Hinweis. 85 Interessant in dieser Hinsicht ist auch das Kapitel bei Flagge (Fn. 4), S. 44 ff.: »Der Greif als kämpferisches Prinzip«, in dem sich die Verfasserin freilich auf altassyrische, etruskische, altgriechische und römische Belege stützt. 86 Siehe Tarrant, V. E.: The Last Year of the Kriegsmarine May 1944 - May 1945. Annapolis 1994, Bild gegenüber S. 128. Nach der Wende wurde das alte DDR-Marine-Schulschiff »Wilhelm Pieck« (Heimathafen: Greifswald) auf den Namen »Greif« umgetauft und dient heute als Schul-, Ausflugs-, und Ferienschiff für Jugendliche. Lotte Gaebel (St. Gallen) bin ich für diesen Hinweis dankbar. 87 Siehe Kramish, Arnold: The Griffin. Boston 1986. 286 Winder McConnell Obwohl der Greif öfters als Verzierung dient 88 , wird er dem Menschen der letzten Jahre des zweiten Jahrtausends wenig bedeuten, es sei denn, dieser ist mit der Literatur des klassischen Altertums oder des europäischen Mittelalters gut vertraut. 89 Auch in der Kinderliteratur stellt er - wenn auch keineswegs ganz abwesend! 90 - keine Konkurrenz für den Drachen dar. Im Gegensatz zum letzteren, mit dem er in der Tradition tatsächlich sehr viel Gemeinsames hat, hat sich der »Mythos Greif« in unsere Zeit hinein als etwas Bewußtes kaum bewahrt. 88 Wie etwa bei einer zum Verkauf angebotenen Briefpapier-Kasette des Metropolitan Museum of Art, die das Bildnis eines assyrischen Greifen trägt. Ich verdanke meiner Kollegin, Dr. Ingeborg Henderson, den Hinweis auf diese moderne Verwendung eines sehr alten Motivs. Siehe auch Bartscht (Fn. 2), S. 87: »Even today, griffins are in favor as emblems for business firms, from insurance companies to publishing houses.« [Auch heute werden Greifen als Embleme für Geschäfte wie Versicherungsfirmen und Verlage bevorzugt.] Siehe z.B. den New Yorker Verlag St. Martin’s Griffin. »Greif« taucht auch immer wieder in Personen- und Ortsnamen auf, wie etwa »Grifford«, »Griffen«, »Griffith« und »Griffin« und »Greifswald«, »Greifenberg«, »Greifenhagen«, »Greifensee« (Bartscht, S. 87). Freilich ist dem breiten Publikum die Kenntnis jener Symbolik, die einst den Greifen (im Vergleich zum Drachen) auszeichnete, abhanden gekommen. 89 Trotz der Behauptung Waltraud Bartschts, »[t]hey are still exerting their power« (Fn. 2, S. 99). 90 Siehe z.B. Lewis Carrolls Alice’s Adventures in Wonderland (1866) oder Wallace Tripp Sir Toby Jingle's Beastly Journey (1976). Ein Gedicht des amerikanischen Dichters Vachel Lindsay aus dem Jahr 1912 bietet auch ein Bild des Greifen, das an den Drachen des bekannten Liedes von Peter, Paul und Mary ( Puff, the Magic Dragon ) aus den sechziger Jahren erinnert: »Yet Gentle Will the Griffin Be (What Grandpa Told the Children) The moon? It is a griffin’s egg, Hatching tomorrow night. And how the little boys will watch With shouting and delight To see him break the shell and stretch And creep across the sky. The boys will laugh. The little girls, I fear, may hide and cry. Yet gentle will the griffin be, Most decorous and fat, And walk up to the Milky Way And lap it like a cat.« Harpyie Sieglinde Hartmann (Frankfurt a.M.) Von den ältesten Mythenwesen aus vorgeschichtlicher Zeit sind nur wenige in die christliche Glaubenspraxis des abendländischen Mittelalters aufgenommen worden. Zu diesen seltenen Ausnahmen gehört die Harpyie, die um 1200 in Handbüchern und Traktaten von Theologen und Predigern in neuen, christlich-spirituellen Funktionen auftaucht, welche sich im Spätmittelalter über die Predigtpraxis oder mittels erbaulicher Schriften einen festen Platz im Glaubensleben erobern konnten. Das Erscheinen dieser »neuen« Harpyie, wie sie der Kunsthistoriker Karl-August Wirth, einer der besten Kenner mittelalterlicher Harpyien, nennt 1 , stellt die Forschung vor mancherlei Rätsel. Denn es ist zwar deutlich erkennbar, daß die christlichen Harpyienvorstellungen aus einer Metarmorphose sehr viel älterer, teils antiker, teils vorgeschichtlicher Mythenwesen hervorgegangen sind. Die Ursachen oder Phasen dieser Verwandlung sind jedoch nicht dokumentiert beziehungsweise noch nicht wiederentdeckt. Harpyien in griechischer und römischer Antike Erstmals faßbar wird die Harpyie für uns unter dem Namen, mit dem sie in den griechischen Mythen bezeichnet worden ist. Der Gattungsname Harpyie leitet sich aus dem Verb »harpázein« (gr. »`arp£zh«) ab, was zu deutsch »blitzschnell, wie im Flug erhaschen«, »wegraffen« bedeutet. Dieser Bedeutung entsprechend werden die Harpyien in den ältesten griechischen Quellen als Greifvögel mit weiblichen Köpfen und Brüsten dargestellt. Bei Homer sind die Harpyien teils den Windkulten, teils der Unterwelt zugeordnet. So erwähnt er in der Ilias lobend die Harpyie Podarge (= Schnellfüßige), die ihrem Gemahl Zephyr die »weitberühmten« Kinder Xanthos und Balios, die windschnellen Rosse des Helden Achill, geboren habe. 2 Durch die Verbindung mit Zephyr rückt Homer die Harpyien gleichzeitig in die Nähe von Fruchtbarkeitsgottheiten, da dieser als Gott des regenreichen Westwinds verehrt wurde. In der Odyssee dagegen berichtet Penelope von 1 Wirth, Karl-August: Wege und Abwege der Überlieferungsgeschichte von Gestalten des klassisch-antiken Mythos: das Bild der Harpyie im ausgehenden Mittelalter (und bei Giorgio Vasari). Novi Sad 1981 (17 Zbornik Za Likovne Umetnosti 17), S. 21; für alle Nachweise von christlichen Behandlungen der Harpyien im Mittelalter sowie von Abbildungen mittelalterlicher Harpyiendarstellungen ist diese Arbeit grundlegend. - Eine Kopie dieser Untersuchung hat mir freundlicherweise Prof. Dr. Christoph Gerhardt, Universität Trier, zur Verfügung gestellt. Dafür sowie für weitere Informationen und die Überlassung zweier bisher unveröffentlichter Meisterlieder über die Harpyie aus der Kolmarer Liederhandschrift sage ich meinen herzlichen Dank. 2 Homer: Ilias und Odyssee. Deutsch von Johann Heinrich Voss. Eltville a. Rh. o.J., 16. Gesang, V. 150 - 151: »Diese [= beiden Rösser] gebar dem Westwind einst die Harpyie Podarge, / Weidend auf grünender Au an Okeanos’ strömenden Wassern«; 19. Gesang, V. 400 - 417 feuert Achill die beiden Rosse zum Kampf an, worauf Xanthos mit einer Prophezeiung von Achills gewaltsamem Tod antwortet. 288 Sieglinde Hartmann namenlosen Harpyien, welche die Töchter des Pandareos für die »verhaßten« Erinnyen, die griechischen Rachegöttinnen, geraubt hätten. 3 Wenig später als Homer, um 700 v.Chr., überliefert Hesiod in seiner Theogonie zwei weitere Harpyien-Namen, Aello (= Windstoß) und Okypete (= Schnellfliegende). In der Schilderung ihrer Abstammung von Thaumas, einem Sohn des Meeresgottes Pontos, schimmert gleichfalls ein Zusammenhang mit vorklassischen Fruchtbarkeitsgottheiten durch: »Thaumas führte die Tochter des tiefströmenden Okeanos, Elektra, als Frau heim. Diese aber gebar die schnelle Iris und die schönhaarigen Harpyien, die Aello und die Okypete, die dem Wehen des Windes und den Vögeln folgen mit schnellen Flügeln. Über die Erde nämlich schwebten sie dahin.« (V. 265 - 269). 4 Die positiven Züge, wie sie in Hesiods Harpyienschilderung vorherrschen, werden in der Folgezeit fast völlig durch Dämonisierungen dieser Eigenschaften verdrängt sowie durch ein stärkeres Hervortreten von Wesensmerkmalen anderer prähistorischer Gottheiten chthonischer Natur, wie sie schon in der Verbindung zu den Erinnyen bei Homer erkennbar wurden. Die Verbreitung solch negativer Hapyienvorstellungen mit teilweise von Hesiod abweichenden Genealogien und Namen ist in mehreren Werken griechischer wie römischer Literatur von den klassischen bis in die spätantiken Zeiten überliefert. 5 Bestimmend für das Mittelalter wurden davon vor allem die Harpyienepisoden aus der Argonautensage sowie aus Vergils Aeneis. Dabei erscheinen neben Wasser und Meer erstmals Darbringung und Genuß von Speisen als mythische Kernmotive, die bekanntlich zu den Hauptbestandteilen archaischer Fruchtbarkeitsriten gehören. Im Gegensatz zu ihren mutmaßlichen Vorgängerinnen wirken die Harpyien nun jedoch nicht mehr als Spenderinnen, sondern als Räuberinnen lebenserhaltender Speisen. So fungieren sie in einer Version der Argonautensage, an die später der römische Dichter Vergil anknüpfen sollte, als fliegende Ungeheuer, welche dem geblendeten Seher Phineus aus Pontos (! ) am Schwarzen Meer ständig die Speisen rauben und besudeln, bis ihn die Argonauten Kalais und Zetes, die geflügelten Söhne des (Nord)-Windgottes Boreas, von dieser Heimsuchung befreien. 6 3 Homer (Fn. 2), 20. Gesang, V. 61 - 79. 4 Hesiod: Theogonie. Hrsg., übers. u. erl. von Karl Albert. 5. Aufl. St. Augustin 1993 (Texte zur Philosophie, Bd. 1), S. 65 - 66. 5 Vgl. die alten, aber materialreichen Lexikon-Artikel von Engelmann, R.: Harpyia. In: Ausführliches Lexikon der griech. u. röm. Mythologie. Hrsg. W. H. Roscher. Leipzig 1886, Bd. 1, 2. Abtlg., Sp. 1886 - 1890; Sittig, E: Harpyien. In: Paulys Real-Encyclopädie der Class. Altertumswissenschaft. Hrsg. G. Wissowa. Stuttgart 1912, Bd. 7, Sp. 2417- 1431; Cressedi, G.: Arpia. In: Enciclopedia dell’Arte Antica e Classica e Orientale. Rom 1958, Bd. 1, Sp. 670 f., mit teilweise neuen Bewertungen bildlicher Darstellungen. 6 Ältere Versionen der Argonautensage, wie beispielsweise der sog. Epische Kyklos, sind noch im 2. Jahrhundert n.Chr. bezeugt, jedoch nicht erhalten; statt dessen liegt uns die Sage in der Version des Apollonios von Rhodos (ca. 295 - 215 v.Chr.) vor; Edition: Apollonios von Rhodos: Das Argonautenepos. Hrsg. übers. u. erl. von Reinhold Glei u. Stephanie Natzel-Glei. Darmstadt 1996, Bd. 1, S. 85 - 93. In einer der älteren Versionen werden die Harpyien von den Boreaden getötet. - Zu bildlichen Darstellungen siehe Schefold, Karl; Jung, Franz: Die Sagen von den Argonauten, von Theben und Troia in der klassischen und hellenistischen Kunst. München 1989; Nachweise der wenigen erhaltenen bildlichen Darstellungen von Phineus mit Harpyien ebda. S. 22, 26 und 27. Harpyie 289 Harpyien auf den Strophaden und in der Unterwelt: Vergils Aeneis Einzelheiten über ihr weiteres Schicksal sowie die einzige ausführliche Beschreibung dieser räuberischen Harpyien liefert Vergil in seiner Aeneis. Vergil läßt den Helden Aeneas selbst berichten, wie er und seine Gefolgsleute die Harpyien nach ihrer Zwischenlandung auf den Strophaden erlebt haben: 7 »Inseln sind die Strophaden, mit griechischem Namen geheißen, In dem großen jonischen Meer, wo die grause Kelaeno (d.h.dunkel wie eine Gewitterwolke) Haust und andre Harpyen, seitdem die Wohnung des Phineus Ihnen sich schloß und aus Furcht sie die früheren Tische verließen. Grausiger ist kein Scheusal als sie [tristius haud illis monstrum], und schlimmer ist niemals Je eine Pest und ein Götterfluch aus den stygischen Wellen Aufgestiegen, ein Vogelgezücht, jungfräulich das Antlitz [virginei volucrum vultus] Scheußlich ihr Unrat, die Hände sind Krallen, und ständig vor Hunger Bleich ihr Gesicht.« Die Harpyien bleiben auf unerklärliche Weise stets bleich und hungrig. Daher stürzen sie sich mit rasender Gier auf die Speisen der Troischen Flüchtlinge herab, als diese ihr Mahl gerade beginnen wollen: »Aber plötzlich im grausigen Sturz von den Bergen sich hebend Nahn die Harpyen und schlagen mit lautem Brausen die Flügel, Reißen die Speisen uns weg und besudeln mit garstigem Unrat Alles; dazu noch das schrille Gekreisch und der scheußliche Pesthauch.« Als die zweite Mahlzeit den Harpyien in ähnlicher Weise zum Opfer fällt, fordert Aeneas seine Leute auf, die »scheußlichen Vögel des Meeres« mit ihren Schwertern zu zerhauen: »Aber keine Gewalt durchdringt das Gefieder und keine Wunde den Rücken; in eiliger Flucht zu den Sternen sich hebend, Lassen sie halbverschlungen das Mahl und häßliche Spuren. Eine nur setzte sich dort auf schroffe Klippen, Kelaeno, Eine Prophetin des Unglücks, und stieß aus dem Busen die Worte: ›Krieg für den Mord an den Rindern und hingeschlachteten Stieren, Krieg nun wollt ihr dafür uns, Laomedons Enkel, bereiten, Wollt aus der Heimat uns, die Harpyen, schuldlos verjagen? Höret mich also und prägt mein Wort euch tief in die Seele: Was der allmächtige Vater dem Phoebus und Phoebus mir selber Offenbarte, das melde ich euch, der Furien größte.‹« Die Dämonisierung einer ursprünglichen Göttin läßt sich an dieser Schilderung für moderne Mythenforscher deutlich ablesen. Vor allem Kelaenos Vorwurf, mit der Schlachtung von Rindern und Stieren ihres Territoriums ein Sakrileg begangen zu haben, enthüllt einen weiteren archaischen Wesenzug der Harpyien, der eine Verwandtschaft mit der Gattung der »génies du terroir« (lokale Schutzgeister/ Genien) zu erkennen gibt, wie sie Claude Lecouteux für Nordeuropa beschrieben hat. 8 Bezeichnenderweise läßt der antike Autor Vergil seine Helden mit ähnlich heiligem Schrecken reagieren wie bei einer tat- 7 Dritter Gesang, V. 209 - 262; zitiert nach der Übers. von Wilhelm Plankl. Stuttgart 1959, S. 64-66. 290 Sieglinde Hartmann sächlichen Gotteserscheinung, auch wenn sie nicht klar erkennen, »Ob es nun Göttinnen sind, ob Vögel des Fluchs und Entsetzens« (= »sive deae seu sint dirae obscenaeque volucres« [V. 262]). Ob jedoch auch Vergil und seine Zeitgenossen diese archaische Harpyienvorstellung geteilt haben, läßt sich schwerlich nachweisen. In den antiken Kommentaren zur Aeneis werden die Harpyien jedenfalls überwiegend allegorisch abstrahierend und verflachend als Verkörperungen menschlicher Laster wie Geiz, Habgier, Raub und Gefräßigkeit gedeutet, wobei man das griechische »`arpag»« mit dem lat. »rapina« (= Raub, Wegraffen) gleichsetzte. 9 Dieser Wandel der Harpyienvorstellungen von leibhaftig in das Schicksal der Menschen eingreifenden Mythenwesen zu abstrakten Gedankenbildern wie Lasterallegorien wurde möglicherweise durch Vergils gleichzeitige Bezeichnung der Harpyien als Furien (= griech. Erinnyen) sowie seiner Zuordnung der Harpyien zum Totenreich (= »vestibulum Orci« - VI. Gesang, V. 273), wo sie als bloße »Schatten« mit anderen »gewaltigen Tieren« wie Kentauren oder Gorgonen hausen, noch zusätzlich gefördert. Während der gesamten heidnischen Antike unterliegen die Harpyienvorstellungen somit einem vielschichtigen Wandlungsprozeß, der schließlich in eine weitgehende Demystifizierung mündet: Im Zuge einer moralisierenden Mythenallegorese werden die Harpyien nach und nach sowohl ihres göttlichen Status’ als auch ihrer dämonischen Kräfte beraubt. Sie bleiben aber im Sprachgebrauch immer noch sehr lebendig: als Bild für habgierige Personen, die sich maßlos alles einverleiben, besonders Despoten, wurden sie sogar sprichwörtlich; letzteres ist vor allem in Moral- und Politsatiren belegt. 10 In religiösen Kulten scheinen sie jedoch keine Rolle mehr gespielt zu haben. Aus all diesen Gründen stellten die Harpyien keine eigentliche Gefahr mehr für die neue christliche Religion dar. Rezeption antiker Harpyien-Mythen im lateinischen Frühmittelalter Dennoch sind uns nur wenige Schriften aus dem frühen Mittelalter erhalten, worin sich die christlichen Schriftsteller und Theologen mit Harpyien beschäftigen. Zu den wenigen Ausnahmen, die Karl-August Wirth ausführlich beschreibt, zählen das Liber monstrorum de diversis generibus sowie die sogenannten Mythographi Vaticani, eine dreiteilige Sammlung mit enzyklopädischen Beschreibungen und Erläuterungen antiker Mythen. 11 Diese beiden Zeugnisse sind überdies schwer einzuordnen, da bisher weder ihre Verfasser noch ihre genaue Datierung bestimmt werden konnten. 8 Lecouteux, Claude: Démons et Génies du Terroir au Moyen Age. Paris 1995. Der Begriff »génie du terroir« bezeichnet germanische, keltische und nordische Äquivalente des lat. »genius loci« der klassischantiken Mythen. 9 Ausführliche Darstellung der antiken Vergil-Kommentierungen durch Donatus, Servius und Fulgentius bei Wirth (Fn. 1), S. 5 - 8, Zitat: S. 7. 10 Siehe dazu Wirth (Fn. 1), S. 8 - 9. 11 Siehe Wirth (Fn. 1), S. 9 - 18. Harpyie 291 Liber monstrorum de diversis generibus Der erste und wahrscheinlich ältere Textzeuge, ein lexikalisches Handbuch über Ungeheuer, das in mehreren Handschriften des 9. und 10. Jahrhunderts überliefert ist, enthält folgenden Eintrag über die Harpyien (Kap. 44): »Legitur quod harpyiae quaedam monstra in Strophadibus insulis maris Ionii fuissent in forma volucrum, facie tamen virginali, quae hominum linguas loqui potuerunt et rabida fame semper insaturabiles erant et cibum cum uncis pedibus de manu manducantium traxerunt.« 12 [Von den Harpyien. Man liest, daß Harpyien jene Ungeheuer auf den Strophaden-Inseln im Ionischen Meer waren. Sie hatten die Gestalt von Vögeln, das Gesicht jedoch von Jungfrauen. Sie konnten menschliche Sprachen sprechen und waren aufgrund ihres rasenden Hungers immer unersättlich und raubten die Speise mit ihren Krallenfüßen den Essenden aus der Hand.] Trotz der Kürze liefert uns diese Mitteilung Hinweise auf zwei Faktoren, welche das Weiterleben der Harpyien im Mittelalter entscheidend begünstigen sollten: Erstens sorgte der Umstand, daß Vergil seit dem Frühmittelalter zu den Schulautoren gehörte, dafür, daß die Kenntnis von Aussehen und Wesen der Harpyien im antiken Mythos bewahrt wurde. Die wörtlichen Übereinstimmungen in den Schlüsselbegriffen illustrieren diese Vergil-Rezeption augenfällig. Und zweitens konnten die Harpyien inzwischen, von jeglichem mythengeschichtlichen Kontext gelöst, als naturhistorische Spezies betrachtet und dementsprechend in literarischen Gattungen behandelt werden, die an der Verbreitung der neuen Harpyienvorstellungen im Spätmittelalter einen erheblichen Anteil haben sollten: naturkundliche Handbücher und Enzyklopädien. Mythographi Vaticani Ein weiteres Novum dokumentieren die Werke der sogenannten Vatikanischen Mythographen. Inhaltlich teilt zwar keiner der drei Autoren etwas gänzlich Neues zu Aussehen, Wesen und Genealogie der Harpyien mit. Die dort gebotenen Informationen hätte ein gelehrter, mittelalterlicher Leser ebensogut aus Glossarien oder Kommentaren zu antiken Schulautoren entnehmen können, wie es Karl-August Wirth auch nachgewiesen hat. 13 Die Tatsache jedoch, daß die antiken Mythen samt ihren Gottheiten zu einem Gebiet der christlichen Wissensliteratur gemacht wurden, läßt eine neue, sachlichere Haltung zu den antiken Religionen erkennen, welche das Interesse an der Götterwelt der Antike in neue Bahnen lenkte und so eine neue Bewertung beziehungsweise Anverwandlung antiker Mythen erst möglich machte. Infolgedessen ist der Schluß erlaubt, im Werk dieser und zahlreicher anderer Gelehrter des Früh- und Hochmittelalters 14 eine der Vorstufen zur Verchristlichung antiker Mythenwesen zu sehen, wie wir sie beispielsweise in der Dichtung Dantes, dem wirkmächtigsten gelehrten Autor des Spätmittelalters, beobachten können. 12 Zitiert nach der alten Ausgabe von Haupt, Moritz: Liber monstrorum. Programm Gymnasium Berlin 1863, S. 14; Wirth zitiert nach folgender Edition, die nicht von Haupts Text abweicht: Bologna, Corrado (Hrsg. u. Übers.): Liber monstrorum de diversis generibus . Libro delle mirabili difformità. Mailand 1977 (Nuova Corona, Bd. 5), S. 66. Weitere Ausgabe: Porsia, Franco (Hrsg.): Liber monstrorum. Bari 1976, dort: Kap. XLIII. 292 Sieglinde Hartmann Das Hochmittelalter und »neue« christliche Harpyien Rund ein Jahrhundert vor der Vollendung von Dantes Göttlicher Komödie erscheint indes eine gänzlich andere christliche Harpyie. Ihre Geschichte und ihre allegorische Bedeutung sind in keiner der bisher bekannten frühmittelalterlichen Quellen überliefert. Ebensowenig sind die möglichen Vorstufen ihrer Metamorphose oder etwaige Verschmelzungen mit anderen Mythenwesen entdeckt worden, da sich alle Berufungen auf Quellen als fiktiv erwiesen haben. Deshalb hat sie Karl-August Wirth mit Fug und Recht als »neue« Harpyie bezeichnet. In welchem Text taucht diese Harpyie zum ersten Mal auf und was wird von ihr berichtet? Pierre de Beauvais und sein volkssprachliches Bestiarium Den bisher ältesten Textzeugen bildet das Harpyienkapitel aus der langen Version von Pierre de Beauvais’ Bestiarium, wie es in einer illustrierten Handschrift auf Altfranzösisch überliefert ist (s. Abb. 1). 15 Nach neueren Erkenntnissen läßt sich die Herstellung dieser Handschrift auf 1245 datieren, das Bestiarium selbst soll jedoch schon vor 1218 verfaßt worden sein. 16 Was den Inhalt der längeren Fassung dieses altfranzösischen Tierbuches 13 Siehe Wirth (Fn. 1), S. 15 - 16, der Bedeutung und Alter der Sammlung für »erheblich überschätzt« hält, Zitat ebda. S. 15. Die Sammlung liegt in folgender Edition vor: Bode, Georg Heinrich: Scriptores rerum mythicarum Latini tres Romae super reperti. Celle 1834 (Nachdruck Hildesheim 1968); ebda. über Harpyien: Mythograph I, 111, S. 35: »Tres Harpyiae seu Stymphalides. Tres Harpyiae in inferis vigiliis deputantur. Aëllo cupit; rapit Ocypete; Celaeno recondit. Aëllo, id est alienum tollens; Ocypete, id est citius auferens; Celaeno, id est nigra.« Neueste Edition: Le premier mythographe du Vatican. Hrsg. von N. Zorzelti, Übers. von G. Berlioz. Paris 1995 (Collection des Universités de France). Harpyien: S. 17 - 18, 35, 63; für diesen und weitere wertvolle Hinweise danke ich herzlich Claude Lecouteux in Paris. Mythograph II, 13, S. 78: »Jovis Harpyiae. Harpyiae, quae et ipsae Furiae vocantur, secundum Virgilium tres esse dicuntur, Aëllo, Ocypete, Celaeno; secundum Apollonium, quem etiam Vergilius in duodecimo sequitur, duae tantum. Perhibentur etiam canes esse Jovis, a rapiendo Harpyiae dictae.... « Mythograph III, 5,5 (= Abschnitt aus dem Kapitel über Neptun), S. 172: »Neptunum etiam Harpyias dicunt generasse... « Die Abstammung wird erläutert mit Verweis auf Thalet von Milet und Fulgentius, wobei auch die Phineus-Sage wiedergegeben wird. - Zu Art und Bedeutung der unterschiedlichen Harpyien-Darstellungen bei den drei Mythographen siehe Wirth, ebda. 14 Harpyien werden außer im Liber monstrorum sowie in den Mythographi Vaticani in Wörterbüchern, Enzyklopädien sowie Kommentaren zu Vergils Aeneis behandelt; Nachweise bei Wirth (Fn. 1), S. 10 - 15; hinzukommen mittelalterliche Kopien eines der antiken Standardwerke über Mythen, die Mitologiarum libri tres des Fabius P. Fulgentius; Ausgabe: Helm, Rudolfus; Préaux, Jean: Fabii Planciadis Fvlgentii V. C. Opera. Leipzig 1898 (Nachdruck Stuttgart 1970), Fabula de Arpyis S. 21 f. ebda. - In den volkssprachlichen Nachdichtungen der Aeneis, dem afz. Roman d’Eneas (zweisprachige Ausgabe: Le Roman d’Eneas. Übers. u. eingel. von Monica Schöler-Beinhauer. München 1972) und dem mhd. Eneasroman Heinrichs von Veldeke (Mhd./ Nhd. Übers. u. komm. von Dieter Kartschoke. Stuttgart 1986) sind die Harpyien jedoch eliminiert. 15 Dabei handelt es sich um folgende Handschrift: Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, fr. 3516, das Bestiarium steht auf f. 198 v - 212 v , Abbildung zu Beginn des Textes auf Bl. 201 v ; Erstausgabe mit Wiedergabe der Illustrationen von Cahiers, Charles; Martin, Arthur: Le Physiologus ou Bestiaire. In: Mélanges d’Archéologie, d’Histoire et de Littérature. Bd. II. Paris 1851, S. 85 - 232, Harpyien-Artikel, Kap. 16, S. 157 f.; Abbildung der Harpyie ebda. im Anhang ohne Seitenzahl. Eine neuere Edition der beiden Versionen bietet Mermier, Guy R.: A medieval Book of Beasts. Pierre de Beauvais’ Bestiary. Followed by a diplomatic transcription of the Malines (Mechelen) ms. of Pierre de Beauvais, short version, and with, in appendix, an English transl. of the Cambrai Bestiary. Lewiston 1992. Harpyie 293 betrifft, die mit 71 Kapiteln fast doppelt so umfangreich wie die kürzere Version desselben Autors ist, so läßt sich darin keine durchgängig systematische Anordnung nach Tiergattungen erkennen. Das zeigt sich auch am Harpyien-Artikel, der zwar zwischen zwei Vogel-Kapiteln (Rabe und Nachtigall) plaziert ist, aber die Beschreibung einer gänzlich anders gearteten Spezies liefert: »DELE ARPIE, SA NATURE. Unne beste est qui est apelée arpie. Phisiologes nos dit qu’èle a samblant a home, et chevels; a cors de lion et èles de serpent et coe deceval; si est une des plus cruels bestes qui soit. Si est de tel nature qu’èle ocit le premier home qu’èle encontre devant lui. Et après s’en vait maintenant sor I aighe, si se mire ens. Si voit iluec qu’èle a mort son samblant, et èle en demaine moult grant dolor; et à totes les fois qu’èle se voit et se mire, renovèle sa dolor. Ceste arpie senefie l’ame qui a mort son semblant; car Jhésu Cris fu mors por nos péchiés, qui prist nostre samblance. De ce doit avoir li ame grant doel.« 17 [Von der Harpyie, ihre Art. Ein Tier heißt Harpyie. Physiologus sagt uns, daß es einem Menschen und einem Pferd ähnle: es hat einen Löwenleib und Schlangenflügel und einen Pferdeschwanz; es ist eines der grausamsten Tiere, die es gibt. Das Tier ist von solcher Art, daß es den ersten Menschen tötet, dem es begegnet. Darauf begibt es sich zu einem Wasser und betrachtet sich darin. Da erblickt es in demjenigen, den es getötet hat, seinesgleichen, und das verursacht ihm sehr großen Schmerz; und jedesmal, wenn es sich erblickt und betrachtet, erneuert sich sein Schmerz. Diese Harpyie bedeutet die Seele, die ihresgleichen getötet hat; denn Jesus Christus, der unseresgleichen geworden war, wurde um unserer Sünden willen getötet. Darüber soll die Seele große Trauer empfinden.] Damit ist das Harpyienkapitel allerdings nicht beendet. Auf diese geistliche Auslegung folgen noch zwei weitere Beispiele, an denen die gleiche Ermahnung, Christi Kreuzestod unablässig zu betrauern, exemplifiziert wird. Das erste Beispiel besteht aus einem knappen Vergleich mit der Turteltaube (= Seele), die um ihren toten Gefährten (= Christus) trauert, während im zweiten Beispiel ausführlicher geschildert wird, wie eine Königstoch- 16 Zu Überlieferungs- und Datierungsfragen s. Mermier, Guy: De Pierre de Beauvais et particulièrement de son Bestiaire: vers une solution des problèmes. In: Romanische Forschungen 78 (1966), S. 338 - 371. 17 Zitat nach Cahiers / Martin (Fn. 15), S. 157 f. Abb. 1: Harpyie über menschlichem Opfer. Miniatur zu Pierre de Beauvais, Bestiaire. 294 Sieglinde Hartmann ter (= Adams Seele) um ihren Gemahl (= Christus) trauert, der im Kampf um die Rückeroberung ihres Erbes (= Paradies) gefallen sei (= Kreuzestod). Die gleiche Geschichte von der mordenden und trauernden Harpyie taucht wenig später in drei Werken auf, die ebenfalls in Frankreich entstanden sind: erstens in der Enzyklopädie De natura rerum 18 des Dominikaner-Gelehrten Thomas von Chantimpré (ca. 1201 - 1270), zweitens in einer Tierallegorie über das rechte Verhalten von Klostergeistlichen, dem Bonum universale de apibus, 19 desselben Autors, drittens in einem allegorischen Traktat auf die Palmsonntagsperikope Cc 7,8 in altfranzösischer Sprache, dem ältesten Textzeugen der bis ins 16. Jahrhundert populären Palmbaumallegorien. Alle drei Versionen unterscheiden sich zunächst in einem wesentlichen Punkt von der Darstellung in Pierres Bestiarium: Sie beschreiben die Gestalt der Harpyie nicht als Sphynx-ähnliches Tier, sondern als Vogel mit Menschenantlitz: »Faciem hominis habet«. 20 Darüberhinaus liefert Thomas von Chantimpré im Harpyienkapitel seines Naturbuchs eine rein naturkundliche Beschreibung von Aussehen und Verhalten der Harpyie, im Bonum universale wiederholt er diesen Text, fügt aber eine geistliche Auslegung der Harpyie auf das gesamte Menschengeschlecht statt der einzelnen Seele hinzu. Der Palmbaumtraktat überliefert die Geschichte der mordenden Harpyie samt der allegorischen Auslegung mit den beiden weiteren Exempeln in fast wörtlicher Übereinstimmung mit Pierres Bestiarium. Aufgrund dieser frappierenden Übereinstimmungen sowie weiterer Kriterien glauben nicht wenige Forscher, daß die allegorische Auslegung der Palmsonntagsperikope als ältestes Zeugnis des neuen Harpyienmythos zu gelten und daher Pierre de Beauvais als Vorlage für sein Harpyienkapitel gedient habe. 21 Diese These konnte bisher noch nicht mit überzeugenden Beweisen erhärtet werden. Fest steht lediglich, daß Pierres Bestiarium keine durchschlagende Wirkung beschieden war. Statt der Vorstellung von der Harpyie als Sphynx-ähnlichem Mischwesen hat sich das Bild von der Harpyie als Vogel mit 18 Thomas von Chantimpré: De natura Rerum. Hrsg. H. Boese. Berlin; New York 1973, Harpyie in Kap. V, 4 Incipit: Arpia avis est. Von den mhd. Übersetzungungen dieser Naturenzyklopädie fand Das Buch der Natur Konrads von Megenberg (Edition von F. Pfeiffer, Nachdruck Hildesheim/ New York 1971) die weiteste Verbreitung bis hin zu Drucken im 16. Jahrhundert, die jedoch nicht alle das Harpyienkapitel enthalten. 19 Das Werk war mir nur in folgendem Druck zugänglich: Thomae Cantipratensis Bonum universale de apibus. Douai 1627 (Stadtu. Univ.-Bibl. Frankfurt am Main, Sign. 44/ 7905). Harpyienbeschreibung in Cap. XXV,3, S. 98, Überschrift: »De harpyia aue, et de eius mysterio.« Text: »De hoc & in libro de natura rerum, figurate valde scribitur. Harpyia auis quædam est in deserto Indiæ, in loco qui Strophades dicitur, iuxta mare Ionicum, rapinis ferè semper insatiabilis. Faciem hominis habet, sed in se nihil virtutis humanæ. Nam ferocitate deprædatur, insanit, & grassatur vltra humanum modum. Hæc auis primum hominem quem viderit in deserto, fertur occidere. Inde cùm fortuitu aquas inuenerit, & faciem suam in aquis fuerit contemplata, mox sui similem hominem se occidisse perspiciens, tristat non modicè, & hoc aliquando vsque ad mortem: vel saltem plangit mortuum omni tempore vitæ suæ.« Darauf folgt die Allegorese S. 98- 99. - Das Bienenbuch ist ebenfalls ins Deutsche übersetzt worden, in Teiledition hrsg. von Heinertz, Otto: Die mittelniederdeutsche Version des Bienenbuches von Thomas von Chantimpré. Das erste Buch. Lund 1906 (Diss.). 20 Zitat aus dem Bienenbuch, Quelle wie Fn. 19: Er (d.h. der Vogel) hat das Antitz eines Menschen. 21 Zuerst Fleischer, Wolfgang: Untersuchungen zur Palmbaumallegorie im Mittelalter. München 1976, S. 13; in ausführlicherer Argumentation von Nigel F. Palmer in seiner Rezension zu Fleischer, in: PBB (Tüb.) 100 (1978), S.482- 486 sowie vorsichtig zustimmend Wirth (Fn. 1), S. 24 f. - Von anderer Seite wird dagegengehalten, daß eine lat. Version als die älteste Quelle des neuen Harpyien-Mythos zu gelten habe, so von Frederic P. Pickering in seiner Rezension zu W. Fleischer, in: The Modern Language Review 73 (1978), S. 946- 948: die lat. Versionen der Palmbaumallegorie sind allerdings erst aus späterer Zeit überliefert. Harpyie 295 Menschenantlitz vor allem mittels der großen Naturenzyklopädien durchgesetzt. Sie stammen alle aus der Feder bedeutender Dominikaner, nämlich Thomas von Chantimpré, Vincent von Beauvais (ca. 1190 - ca. 1264) 22 und Albertus Magnus (ca. 1193 - 1280), 23 und sind in einer kaum übersehbaren Fülle von Handschriften und Drucken bis ins 16. Jahrhundert in ganz Europa verbreitet worden. Der altfranzösische Palmbaumtraktat und die Harpyie als Exempel der Compassio Die neue christliche Auslegung der Harpyie als Exempel für die rechte Trauer um Christi Kreuzestod, die den naturkundlichen Werken fehlt, hat sich dagegen mittels der Palmbaumallegorien verbreitet, die uns ebenfalls in über hundert bisher bekannten Kopien und Drucken aus dem gesamten europäischen Spätmittelalter und der frühen Neuzeit überliefert sind. Noch entscheidender als die schriftliche Verbreitung dürfte für unseren Zusammenhang jedoch die Tatsache sein, daß sowohl die mündliche Verbreitungsform als auch die schriftliche Rezeption der Palmbaumallegorie einem rituell bestimmten Platz im Glaubensleben zugeordnet war: Als Predigt gehörte sie zur Liturgie der Palmsonntagsgottesdienste und als Leseversion diente sie das ganze Jahr über einzelnen Laien oder geistlichen Gemeinschaften als Anleitung zur geistlichen Erbauung und Meditation. Eine Miniatur ohne Textüberlieferung, die wahrscheinlich als Andachtsbild für eine vornehme Kosterfrau um 1300 in Flandern oder den Rheinlanden geschaffen wurde, dokumentiert, welch hohen Bekanntheitsgrad die Palmbaumallegorie schon Ende des 13. Jahrhunderts erreicht hatte und wie fest sie bereits im Glaubensleben geistlicher Kreise verankert war (s. Abb. 2). 24 Auf welche Weise ist die Harpyie in diesen neuen religiösen Kontext integriert? Der älteste französische Textzeuge ist in Form eines Traktats verfaßt, worin die Auslegung des Predigtwortes im unpersönlichen Stil einer Aufzählung gehalten ist. Auf die litur gische Funk tion des Palm sonntags und die Palmenw eihe mit anschlie ßender Palmenprozession, die im lateinischen Westen seit dem 9. Jahrhundert bezeugt ist, geht der anonyme Verfasser nicht eigens ein. Verwendungsmöglichkeiten an anderen Festtagen mit der gleichen Perikope, wie Mariä Empfängnis beispielsweise, werden ebenso wenig erwähnt. 25 Statt dessen werden zunächst die unterschiedlichen allegorischen Bedeutungen des Palmbaums vorgestellt: 26 22 Speculum naturale . Liber XVI, Cap. 94. Der Druck von 1624 ist in folgendem Faksimile leicht zugänglich: Vincentius Bellovacensis. Speculum Naturale. Douai 1624. Faksimile-Ausg. Graz 1964. Incipit des Harpyienkapitels: »Avctor. Harpyæ dicuntur quedam aues maximæ quæ nunquam satiantur, manducando. Explicit: aliquando tamen domestica & docta loquitur humana voce.« - Woher die Vorstellung von der gezähmten Harpyie stammt, gehört zu den weiteren ungelösten Quellenfragen der »neuen« Harpyie, vgl. dazu Wirth (Fn. 1), S. 26. 23 Edition von Stadler, Hermann (Hrsg): Albertus Magnus De Animalibus Libri XXVI. Bd. 2. Münster 1920, Harpyien-Kapitel Lib. XXIII, 3, S.1439: Incipit: »Arpyam || quidam non magnae auctoritatis vir, quorum dicta non sunt experta, dicunt esse avem rapacem; « Explicit: »Sed haec inexperta sunt et fabulosa videntur quae maxime narrant Adelinus quidam et Solinus et Jorach de membris loquentes animalium.« Albertus zweifelt als einziger an den Nachrichten über die Harpyien; die Quellen bei Adelinus, Solin und Jorach, die auch in den übrigen Naturkunden angegeben werden, konnten bis heute nicht aufgespürt werden; siehe dazu Wirth (Fn. 1), S. 10 und 28 f. 296 Sieglinde Hartmann »Ascendam in palmam et aprehendam fructus eius. Li prophetes dist ces paroles: Je monterai dist il el palmier et si prenderai les fruits de lui. En sainte escriture Aucune fie entent on par le palmier le crois Aucune fie peneance Aucune fie contemplacion. El palmier de le crois cuelt on le fruit de vie.« [Ich werde auf den Palmbaum steigen und seine Frucht pflücken. Der Prophet spricht diese Worte: Ich werde auf den Palmbaum steigen seine Früchte(! ) pflücken. In der Heiligen Schrift versteht man unter dem Palmbaum manchmal das Kreuz, manchmal das Mitleiden, manchmal die Kontemplation. Auf dem Palmbaum des Kreuzes pflückt man die Frucht des Lebens.] Daß mit Leben das ewige Leben gemeint war, brauchte der Autor nicht eigens zu erläutern. Die allegorischen Gleichsetzungen des Palmbaums im Hohelied- Vers Cc 7,8 mit dem Kreuz und der Frucht mit Christus, der ewiges Leben durch seinen Kreuzestod spendet, war schon in der Spätantike entwickelt und im Hochmittelalter längst zum Gemeingut der Glaubensverkündigung geworden. 24 Gemeint sind die sogenannten Rothschild Canticles, eine geistliche Sammelhandschrift aus Pergament, kleinformatig (118x84 mm), aber kostbar illuminiert. Der Inhalt besteht aus zwei ungleichen Teilen. Teil II (Bl. 107 - 190) enthält ein Florilegium aus lateinischen Bibelexzerpten, Auszügen aus Väterschriften, dem Elucidarius plus 14 Exempel, die in traditioneller Weise zur Erläuterung der Texte illustriert sind. Im I. Teil (Bl. 1 - 106) bilden die Miniaturen den Hauptsinnträger, welche (nicht durchgängig) durch lat. Meditationstexte, komponiert aus Liturgie- und Bibelzitaten, ergänzt sind. Zu diesen reinen Andachtsbildern ohne Textbeigabe zählt die Illustration der Palmbaumallegorie auf. Bl. 5 r . Aufbewahrungsort und Signatur der Hs.: Yale University, New Haven, USA, Beinecke Rare Book and Ms-Library, MS 404. Beschreibung und Analyse der Hs. bei Hamburger, Jeffrey F.: The Rothschild Canticles. Art and Mysticism in Flanders and the Rhineland circa 1300. Yale University Press New Haven; London 1990; Abbildung der Palmbaumallegorie als Illustration 4, ikonographische und geistesgeschichtliche Einordnung der Palmbaumallegorie auf S.35 - 42; die Abbildung stellt eine Variante dar, die nach Fleischer (Fn. 21) zur sogenannten G-Redaktion gehört. Die unterschiedlichen Textredaktionen weichen nur unwesentlich in der Harpyienbeschreibung ab und werden daher hier nicht erörtert. Ikonographisch folgt der Miniator der Harpyiengestaltung im Bestiaire d es Pierre de Beauvais, der sie als geflügelten Löwen mit Menschenantlitz über seinem Opfer darstellt. 25 Textabdruck einer Predigt mit Palmbaumallegorie zu Mariä Empfängnis aus einer dt. Papierhandschrift des 14./ 15. Jahrhunderts bei Fleischer (Fn. 21), S. 256 - 264. - Lat. Predigten zu dem Thema Cc 7,8 verzeichnet Schneyer, J. B.: Repertorium der lateinischen Sermones des Mittelalters für die Zeit von 1150 - 1350. Münster 1989, S. 52 (Index der Textanfänge, A-L); Schneyer verzeichnet Predigten auf St. Andreas (= S 1), Erhebung des Kreuzes (= S 66), das Fest in visitatione domus religiosae (= C 19), Palmsonntag (= T 24) und die Karwoche (= T 26). Hinweise zu weiteren volkssprachlichen Predigten bei Fleischer (Fn. 21). 26 Zitiert wird hier und im folgenden aus der in Paris aufbewahrten Handschrift der Bibliothèque Nationale, fr. 6447, f. 362 va - 364 va (Pergament, flandrisch, entstanden nach 1275, Provenienz unbekannt) nach der Edition bei Fleischer (Fn. 21), S. 227 - 231, Zitat: S. 227. Unabhängig von Fleischer hat Michel Zink: La prédication en langue romane avant 1300. Paris 1982, den französischen Ursprung der Palmbaumallegorie genauer bestimmt; Zink hält die Versionen in Hs. 2058, f. 67 r2 - 69 r1 , Paris, Bibl. de l’Arsenal, sowie Hs. 788, f. 189 v2 - 195 v1 , Paris, Bibl. Mazarine, für die ältesten Überlieferungszeugen; aufgrund sprachlicher Merkmale weist er sie nördlichen Bereichen des Afz. zu (S. 57), aus stilistischen Gründen charakterisiert er sie als eigenständige Redaktionen einer gemeinsamen lat. Quelle (S. 55), inhaltlich von Lehren des Heiligen Bernhard sowie Alain de Lille geprägt (S. 132 und S.465 - 468), ursprünglich für Beguinenkreise in nördlichen Teilen des französischen Sprachgebiets (Diözese Lüttich, S.136 - 137) verfaßt. Eine Edition der beiden Versionen, die Fleischer ebenfalls berücksichtigt, sowie paläographische Analysen der beiden Handschriften stehen jedoch noch aus. Vgl. deshalb die ältere Edition einer pikardischen Version vom Ende des 13. Jahrhunderts durch Christ, Karl: Le Livre du Paumier. Leipzig 1926, S. 57 - 81. Harpyie 297 Neu hinzu kommt hingegen die Gleichsetzung des Palmbaums mit der Kontemplation, der Beschauung. Dieser programmatische Schlüsselbegriff zahlreicher mystischer Bewegungen des 12. und 13. Jahrhunderts beinhaltete gewöhnlich ein sogenanntes mehrgliedriges Aufstiegsschema. In den Palmbaumallegorien umfaßt dieses Aufstiegsschema sieben Läuterungsstufen, welche die menschliche Seele erklimmen muß, um zur unio mystica mit Gott zu gelangen und Christus, die göttliche Frucht, zu kosten, wie es nach Ps 33,9 (»gustate et videte quoniam bonus Domini« [schmeckt und seht wie gütig der Herr ist]) 27 gelehrt wurde. Welcher Art diese sieben Stufen sind, enthüllt sich in der sinnbildlichen Bedeutung der sieben Äste und sieben Blumen des Palmbaums. Die sieben Vögel, die auf den sieben Ästen nisten, exemplifizieren mit ihrem Verhalten dagegen, wie diese Stufen zu erreichen sind. Im einzelnen ergeben diese dreifachen Septenare, welche in den übrigen lateinischen, mittelniederländischen, mittelniederdeutschen und mittelhochdeutschen Versionen mit nur geringen Abweichungen verbreitet sind, 28 folgendes Aufstiegsschema: 29 27 Zit. nach Biblia Sacra iuxta Vulgatam Versionem. Hrsg. B. Fischer u.a. Stuttgart 1985, Bd. 1, S. 807. Peter Dinzelbacher, Salzburg, stimmte mir zu, daß hier das sogenannte Kosten Gottes Erleben gemeint war, »das Kirchenväter wie Augustinus oder Bonaventura als Inbegriff der Gottesbegegnung behandelt hatten«, Zitat aus: Dinzelbacher, Peter: Heilige oder Hexen? Schicksale auffälliger Frauen in Mittelalter und Frühneuzeit. Zürich 1995, S. 111, Hinweis auf folgenden Artikel ebda. S. 328: Adnès, P.: Goût spirituel. In: Dictionnaire de la Spiritualité. Bd. 6, 626 - 644. 28 Zusammenfassung der Überlieferungs- und Verbreitungsgeschichte, vor allem der unterschiedlichen Redaktionen, von Fleischer, Wolfgang: »Palmbaumtraktate«. In: Die Deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Bd. 7. Berlin; New York 2 1989, Sp. 277 - 287. Abb. 2: Palmbaumallegorie, Miniatur aus den Rothschild Canticles (ca. 1300). 298 Sieglinde Hartmann 1. Ast: Selbsterkenntnis Als erstes muß die Seele zur Selbsterkenntnis gelangen: »Li premiers rains est consideracions de li quant li ame se connoist« 30 [Der erste Ast ist die Betrachtung, wodurch sich die Seele erkennt]. 31 Auf diesem Ast nistet der Pfau, dessen Verhalten die Seele lehrt, wie sie ›in der Nacht dieser Welt‹ die Gnade Gottes bewahrt und alle ihre Fehler erkennt. Das Veilchen, das auf diesem Ast wächst, bedeutet die dazu nötige Tugend der Demut, deren angenehmer Duft zum Himmel steigt. 2. Ast: Barmherzigkeit Auf dem zweiten Ast des »Mitleidens mit seinem Nächsten« 32 dient der Wiedehopf als Beispiel für die rechte Barmherzigkeit. Denn wie der Wiedehopf um die Gräber der Toten streicht und den nahenden Tod eines Menschen durch Klagelaute anzeigt, so soll die Seele versuchen, die Todsünder unter ihren Nächsten durch Mitleiden, Gebete und Tränen auf den Weg des Heils zurückzuführen. Die Gladiolen auf diesem Ast symbolisieren die Tränen, weil diese Blumen »in Wassern wachsen«, weshalb sie in der mhd. Version auch mit »wasserblum« übersetzt werden. 33 3. Ast: Buße Auf dem dritten Ast der »zeitlichen Betrübnis« 34 soll sich die Seele wieder der eigenen Läuterung zuwenden und am Beispiel des Schwans, der singt, wenn er sterben muß, lernen, wie man Buße und alle Widrigkeiten um des Herrn willen fröhlich und mit Friedem im Herzen erleiden kann. Als Sinnbild für diese Freude in Schmerzen blüht die Lilie auf diesem Ast, weil sie nach den Worten des Hohelieddichters »unter Dornen« wächst. 35 4. Ast: Reue Mit dem dritten Ast hat die Seele alles Irdische hinter sich gelassen. Denn mit dem vierten Ast der Reue (»compunctions«) erklimmt sie die erste Stufe zur Vereinigung mit Christus. Reue bedeutet hier nämlich nicht Zerknirschung über eigene Sünden, sondern reui- 29 Überblick von Köpf, U.: Aufstiegsschemata. In: Wörterbuch der Mystik. Hrsg. Peter Dinzelbacher. Stuttgart 1989, S. 35 - 37. - Zink ([Fn. 25], S.465 - 468) führt das Aufstiegsschema auf Alain de Lille und seinen Traktat De sex alis cherubim zurück. 30 Fleischer (Fn. 21), S. 227. 31 Lat.: »Primus (ramus) est consideratio sui«; zitiert nach Fleischer (Fn. 21), S. 232 - 235, aus Ms. Nr. 671 (A 454), Bibliothèque Municipale, Rouen, Perg., Provenienz: Abtei St. Ouen/ Rouen, 13./ 14. Jh., f. 89 r - 91 v . - Mndl.: »Die yerste telch es dat die siele bescouwen haer seluen«; zitiert nach Fleischer (Fn. 21), S. 236 - 242, aus Hs. Nr. 1305, Centrale Bibliotheek, Rijksuniversiteit, Gent, Pap. + Perg., Provenienz: Katherinendael/ Hasselt, 2. Hälfte 15. Jahrhundert, f. 209 - 228. - Mhd.: »Der erst ast ist ein betrachtung ir selbs«; zitiert nach Fleischer (Fn. 21), S. 243 - 245, aus Cod. 74 A 50, S’Gravenhage, Koninglijke Bibliotheek, Pap., Provenienz: unbekannt, Sprache: rheinfränkisch, Anfang 15. Jahrhundert, f. 102 rb - 104 vb . 32 »Li secons rains de contemplacion est compassions de ses proismes«; Fleischer (Fn. 21), S. 228. Zink (Fn. 25, S.132) interpretiert diese Zuwendung zu den Nächsten als »Unterbrechung« im Aufstiegsschema, welche auf den Einfluß der Bernhardinischen Mystik zurückzuführen sei. 33 Fleischer (Fn. 21), S. 243. 34 »Li tiers rains del palmier est temporels afflictions quant li ame est afflite par peneance et ke ele suefre liement e a pais de cuer toutes aduersites por nostre signor«; Fleischer (Fn. 21), S. 228. 35 Vulgata-Text: »sicut lilium inter spinas sic amica mea inter filias«, zit. nach der Edition von B. Fischer (Fn. 26), S. 997. Harpyie 299 ge Trauer über das Leiden des Herrn am Kreuz: »Compunctions est quant li ame est si pointe des maus nostre signor ke ele en oublie tous les trauaus ki au cuer li poignent« 36 [Reue ist, wenn die Seele von den Leiden des Herrn so gepeinigt ist, daß sie darüber alle Schmerzen vergißt, die ihr eigenes Herz peinigen]. Wie die Seele zu dieser Art reuiger compassio mit Christi Leiden gelangt, vergegenwärtigt das Verhalten der »neuen« Harpyie, das hier etwas knapper als in Pierres Bestiarium geschildert wird: »Sor cest rain fait li arpie sen nit. Li arpie a sanlane d’omme et est si cruels ke ele ocit le premier home ke ele voit et s’en va deseur vne aigue si se mire si voit ke ele a mort sen sanblant si mainne grant dolor. Ceste senefie l’ame ki doit penser ke ele a mort sen sanlant ki prist se sanlance quant ihesucris fu mors por nos pechiés. de cou doit li ame auoir grant duel.« 37 [Auf diesem Ast nistet die Harpyie. Die Harpyie ähnelt dem Menschen und ist so grausam, daß sie den ersten Menschen, den sie sieht, tötet, dann geht sie zu einem Wasser, betrachtet sich darin und sieht, daß sie ihresgleichen getötet hat, und verharrt dort in großem Schmerz. Diese (Harpyie) bedeutet die Seele, die bedenken soll, daß sie ihresgleichen umgebracht hat, als Jesus Christus, der ihresgleichen geworden war, um unserer Sünden willen umgebracht worden ist. Darüber soll die Seele große Trauer empfinden.] Wie wichtig dieses reuige Mitleiden für den Aufstieg der Seele zur unio mystica ist, demonstrieren die beiden zusätzlichen Exempel von der Turteltaube und der Königstochter, die sich zwar ebenfalls in Pierres Harpyienkapitel wiederfinden, aber erst hier ihren eigentlichen spirituellen Zweck erfüllen. Gleichzeitig wird nur aus dem Kontext der Palmbaumallegorie deutlich, daß der Vergleich mit der Turteltaube, die in der mittelalterlichen Tierallegorese traditionell als Beispiel für eheliche Liebe und Treue angeführt wird, hier als Variante des Harpyienexempels fungiert. Denn die Harpyie wird hier zwar als mordgierige Bestie eingeführt, in ihrer reuigen Trauer wandelt sie sich jedoch zu einem guten Sünder, welcher den Tod »seinesgleichen« gleich einem liebenden Ehegatten »in großem Schmerz« betrauert. Deshalb darf es nicht mehr verwundern, wenn der Harpyie im Palmbaumtraktat die Rose als Symbol zugeordnet wird (Abb.3). Die Rose fungiert in diesem Zusammenhang verständlicherweise nicht als Symbol weltlicher, sondern geistlicher Liebe, deren Bedeutung zudem noch als »geistliche Marter aus Liebe« spezifiziert wird. 38 5. Ast: Sehnsucht nach dem Herrn Nachdem die Seele auf dem vierten Ast in rechter geistlicher Liebe entzündet ist, beginnt sie auf dem fünften Ast mit den direkten Vorbereitungen für die unio mystica. Die Seele muß die Ankunft ihres Herrn im Zustand solch sehnsüchtigen Verlangens erwarten wie die Nachtigall die aufgehende Sonne: »Cis oiseles senefie le sage ame ki en le nuit de cest monde atent nostre signor le vrai soleil de iustice« 39 [Dieser Vogel bedeutet die weise Seele, die in der Nacht dieser Welt unsern Herrn, die wahre Sonne der Gerechtigkeit, erwartet]. Als weiteres Symbol für die zum Himmel aufsteigende Sehnsucht erblüht auf diesem Ast der gelbe Safran aus dem Hohelied (Cc 4,13), dessen Symbolik mit einem anderen 36 Fleischer (Fn. 21), S. 229. 37 Fleischer (Fn. 21), S. 229. 38 »Sor cest rain croist li rose ki senefie martire. car li ame ki si est eslite par compunction est martirue espirituelment. Et cele ki ensi est pointe oublie de legier toutes autres pointures et si puet dire: Wlnerata caritate ego sum. Je suis nauree par carite. Ciste oeure est de carite.« (Fleischer [Fn. 21], S. 229). 39 Fleischer (Fn. 21), S. 230. 300 Sieglinde Hartmann Wort der biblischen Braut erläutert wird: »Erquickt mich mit Blumen, labt mich mit Äpfeln, denn ich verzehre mich in Liebe« (Cc 2,5). 40 6. Ast: Heimsuchung (unio mystica) und 7. Ast: Zunichtewerden (mors mystica) Folgerichtig erreicht die Seele jetzt die mystische Vereinigung mit Christus, deren Erlebnis hier in zwei Etappen gegliedert ist. Auf Ast 6 wird der Seele die Gnade der göttlichen Schauung zuteil 41 und auf dem 7. Ast folgt die »defectio« (afz. »defections« = Zunichtewerden), 42 die in heutiger Terminologie als mors mystica bezeichnet wird. Den obersten Ästen werden nacheinander folgende Vögel und Blumen zugeordnet: zunächst die Schwalbe und die Wegwarte (afz. »li flamine«, lat. »solsequium«) als Sinnbilder für die Seele, sodann der Phönix und die Feldblume aus Cc 2,1 (»ego sum flos campi«), als Christus-Symbole, wobei die Todesart des Vogels Phönix, das zum Himmel aufsteigende Rauchopfer, hier zugleich auf die Seele bezogen wird: »Li fenix ausi senefie le sainte ame espirituel ki assanle les espesces de bones vertus et les porte en haut en le caleur de charite. si fait sacrefice a deu de son cors et de s’ame quant ele s’offre a lui en odeur de suauite en l’autel de le crois de sen cuer par saint desirier.« [Der Phönix bedeutet auch geistlich die heilige Seele, welche die Gewürzkräuter guter Werke sammelt und sie nach oben zum Feuer der Liebe trägt. Dort bringt sie ihren Leib und ihre Seele Gott zum Opfer, wenn sie sich ihm im süßen Duft auf dem Altar des Kreuzes seines Herzens aus heiligem Verlangen hingibt.] Diese abschließende zweifache Allegorese des Vogels Phönix macht vollends deutlich, daß die Vögel in dieser Palmbaumallegorie die zentrale Funktion von Handlungsträgern erfüllen. Daher sind die Verhaltensweisen aller genannten Vogelarten wie Pfau, Wiedehopf, Schwan, Harpyie, Nachtigall, Schwalbe und Phönix ausschließlich in bonam partem, d.h. positiv auf die Seele bezogen 43 und entsprechen der inneren Logik des mystischen Aufstiegsschemas (s. Abb. 3). 44 Die Verquickung von Christus-, Passions- und Brautmystik in diesem Schema ergibt sich aus der liturgischen Bedeutung des Palmsonntags sowie der Hohelied-Perikope: Einzug Christi in Jerusalem (d.h. in die Seele), Erlö- 40 »Fulcite me floribus. Apoiies moi de fleurs. Auirones moi de pumes car ie languis d’amours«; Fleischer (Fn. 21), S. 230. 41 In bezeichnender Unbeholfenheit für die Frühzeit volkssprachiger Mystik vermag der Verfasser diese Erlebnisse nur ungelenk zu umschreiben: »Li siziemes rains del paumier est visitations quant nostre sires a pitie de l’ame desirant et il le uisite par se grace ke il li done sentir presente ke ele auoit tant desiree«; Ed. Fleischer (Fn. 21), S. 230. Die lat. Version setzt statt dessen den Begriff »uisitatio suprena« (Fleischer, Fn. 21, S. 234), und in der rheinfränk. Redaktion aus dem 15. Jahrhundert erscheint schon der feste Begriff »gotlich schauwung« (Fleischer [Fn. 21], S. 245). 42 »Li sietimes rains de contemplacion ce est defections« (Fleischer [(Fn. 21], S. 231). 43 Zur geistlichen Allegorese dieser Vögel in der mittelalterlichen Literatur s. unter den entsprechenden Begriffen in der grundlegenden Arbeit von Schmidtke, Dietrich: Geistliche Tierinterpretationen in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters (1100 - 1500) 2 Teile. Berlin 1968 (Diss.); zur Harpyie s. Teil II, S. 514, Anm. 380. 44 Im Unterschied zur Darstellung in den Rothschild Canticles vollzieht sich hier der Aufstieg im Uhrzeigersinn von unten rechts nach unten links: Pfau, Wiedehopf, Schwan, Harpyie (4. Ast oben Mitte mit Rose), Nachtigall, Schwalbe und Phönix auf dem Palmbaum, Holzschnitt zu einer mittelhochdeutschen Version der Palmbaumallegorie. In: Gaistliche vßlegung des lebens Jhesu Christi. Wiegendruck o. J. Augsburg bei Joh. Schobser, ca. 1490/ 95; abgebildet und erläutert bei Philipp Strauch: Palma Contemplationis. In: PBB 48 (1924), S. 374 B. Harpyie 301 sertod und Auferstehung zu neuem ewigem Leben, woran die Seele als Braut Christi mittels Unio und mors mystica schon im Diesseits teilhaben kann. Daß die Harpyie in diesem Zusammenhang als Exempel für die rechte compassio fungiert und ihr gleichzeitig die Tugend der caritas zugeordnet ist, erklärt sich mithin aus der mystischen Exegese der Palmsonntags-Perikope. Aber nicht nur aus dem spezifisch religionshistorischen Kontext, sondern auch aus mythengeschichtlicher Sicht läßt sich die Funktion der Harpyie in dieser Palmbaumallegorie schlüssig erklären. Diese Schlußfolgerung mag zunächst überraschen. Aber bei Vergleichen mit antiken und altorientalischen Mythen erweisen sich alle Motive der mittelalterlichen Harpyienallegorie als christliche Umdeutungen von Elementen archaischer Toten- und Fruchtbarkeitskulte. So begibt sich die Harpyie nach dem Mord an ein Wasser, um in ihrem Spiegelbild zu erkennen, daß sie ihresgleichen getötet hat, was mythengeschichtlich gesprochen bedeutet, daß sich die Harpyie im Element ihres (göttlichen) Ursprungs (= die griechischen Meeresgötter Thaumas, Pontos und Okeanos) selbst erkennt. Dort verharrt sie in großer Trauer. In dieser Funktion einer Totenklägerin ist die Harpyie auf Grabmonumenten aus der griechischen Antike dargestellt - möglicherweise in Kontamination mit den gleichgestaltigen Sirenen. 45 Des weiteren sitzt sie auf einem Palmbaum und weist der Seele den Weg zum Genuß der Frucht, die ewiges Leben spendet. Ein vergleichbarer Vorgang ist laut Bericht des Symbolforschers Manfred Lurker aus der altägyptischen Mythologie überliefert: »Aus einer P.[alme] heraus reicht die ägyptische Himmelsgöttin dem Abb. 3: Harpyie (4. Ast oben Mitte mit Rose) auf dem Palmbaum, dt. Holzschnitt ca. 1490/ 95. 302 Sieglinde Hartmann Toten oder seinem Seelenvogel Speise und Trank; P.[alm]wedel (bzw. -rippen) waren Symbol für langes, ja unendliches Leben und wurden deshalb bei Begräbnisprozessionen mitgetragen.« 46 Bezeichnend für den wahrscheinlich polygenetischen Ursprung der Harpyie ist ihr in der mittelalterlichen Palmbaumallegorie die Rose als Blume zugeordnet, die im Hohelied nicht vorkommt, sondern aus der griechisch-römischen Antike stammt, wo sie als Attribut der Schönheits- und Fruchtbarkeitsgöttinnen Aphrodite bzw. Venus galt. Auf die Tatsache, daß die Harpyien Charakteristika aufweisen, welche an Aussehen und Wesenszüge vorgeschichtlicher weiblicher Fruchtbarkeitsgottheiten mit chthonischvegetabilischen Zügen erinnern, ist Beryl Rowland, ein Kenner mythischer Wesen in Vogelgestalt, schon vor einigen Jahrzehnten gestoßen, und zwar in einer methodischen Kombination von mythenvergleichenden und psychologischen Deutungen. Rowland hat auf diesem Wege auch eine Erklärung für die Dämonisierung dieser archaischen Vogelgottheiten in der klassischen Antike gefunden. Seine Ergebnisse, die jedoch noch nicht die Harpyie der Palmbaumallegorie miteinbeziehen, hat er kürzlich so zusammengefaßt: »Psychologically, these creatures are not difficult to explain. As I have observed elsewhere, 47 the wings and avian body symbolize feminine, nurturing characteristics; the talons represent an infantile projection of destructive impulses which converts the maternal figure into a cruel predator [...]. For this reason nearly all the great mother-goddesses had birdlike features. Horapollo described the Egyptian mother-goddess as a vulture [...]. She possessed traits sometimes ascribed to the Harpies - she was made pregnant by the wind, and she had the gift of prophecy. She was also death-bringing and corpse-devouring. In the case of Harpies, Greek and Roman writers simply chose to emphasize their negative role as destroyers of life and the object of masculine fear and hatred. Yet references to the Harpies’ flowing hair and virginal faces as well as subsequent illustrations of firm, seductive breasts or soft avian curves suggestive of fecundity point to their dual role. The so-called Harpy monument brought to the British Museum from the ruins of Xanthos, the ancient capital of Lycia in Asia Minor, shows a flying Harpy holding a child in a suckling position in her arms while she clings to the child’s lower limbs with her talons. 48 Centuries earlier, features of the Harpy were represented in the winged mother goddess of the Isin-Larsa period in Mesopotamia[...]. In a Sumerian terra-cotta relief (ca. 2000 B.C.), Lilith, the goddess of death, has wings and talons [...]. Such examples raise the possibility that the harpy figure may have been more widely disseminated and more ancient than her appearance in classical literature suggests.« 49 Rowlands Erwägungen, daß die klassischen Harpyien aus altorientalischen Vogelgottheiten hervorgegangen sein könnten, liefern Hinweise auf eine mögliche Symbiose beider 45 Das legt die kunsthistorische Studie von Hofstetter, Eva: Sirenen im archaischen und klassischen Griechenland. Würzburg 1990, nahe. Hofstetter weist auf Spuren von Windkulten im Sirenenmythos (ebda. S.14.), und auf eine ähnliche polymorphe Genese, die sich vor allem in der Abstammung von Acheloos, »einer der bedeutenden Flüsse, ein Gott mit einem umfassenden Wirkungsbereich und als Spender des fruchtbringenden Wassers ein Gott mit chthonisch-vegetabilischen Zügen« (S. 15), manifestiere. Gleichzeitig deutet Hofstetter die Funktion der Sirenen auf Grabstelen u.a. »als Vollzieherinnen der Totenklage« (S. 185). 46 Lurker, Manfred: Wörterbuch der Symbolik. Stuttgart 5 1991, S. 550 f., Forschungsliteratur ebda. unter Artikel »Baum«, S. 81; ausführlich zur Baumsymbolik: Ders.: Der Baum in Glauben und Kunst. 2 1976. 47 Rowland, B.: Birds with Human Souls: A Guide to Bird Symbolism. Knoxville 1970. 48 Abbildung in: Lexikon der antiken Mythen und Gestalten. Hrsg. M. Grant; J. Hazel. München 11 1995, S.170. 49 Rowland, B.: Harpies. In: Mythical and Fabulous Creatures. A Source Book and Research Guide. New York u.ö. 1987, S.155 - 161, hier: S.160; weiterführende Literatur ebda. S.160 - 161. Harpyie 303 Mythen im Orient. Zu welchem Zeitpunkt dies geschehen sein könnte, bleibt allerdings völlig unbestimmt. Rowland weist überdies auf die Tatsache, daß Harpyien in ähnlich dualistischer Bedeutung wie die westlichen Vögel mit Menschenantlitz ab dem 11. Jahrhundert in der islamischen Kunst und Literatur des Orients auftauchen. Ob westliche Kreuzfahrer und Geistliche die Harpyien des islamischen Kulturkreises kennengelernt und mit den Harpyien aus der lateinischen Tradition identifiziert oder verwechselt haben, gehört zu den weiteren Fragen, die vorläufig unbeantwortet bleiben müssen. Denn die literarischen Zeugen unserer westeuropäisch-mittelalterlichen Harpyien liefern dafür keinerlei Indizien. Zudem konnten Islamforscher wie Eva Baer bisher keine direkte Verbindung zwischen den westlichen und östlichen Harpyien entdecken, sondern lediglich Vermutungen über eine mögliche Beeinflussung islamischer Harpyienvorstellungen durch Traditionen der klassischen Antike äußern. 50 Die Entstehungsgeschichte oder besser: die Renaissance archaischer Harpyienmythen in der »neuen« Harpyie des christlichen Mittelalters muß infolgessen weiterhin als ungeklärt gelten. Derzeit verdichten sich lediglich Hypothesen, die auf ein Weiterleben archaischer Harpyienvorstellungen im Vorderen Orient deuten, woher sie dann durch Vermittlung von Kreuzfahrern auf einem nicht näher zu bestimmenden Wandlungsprozeß nach Frankreich in den Westen gelangt sein könnten. 51 Für eine Vermittlung durch direkte Kontakte mit den Kulturen des Orients würde überdies die Tatsache sprechen, daß französische Kreuzritterheere als erste nach Palästina gezogen waren und dort sowie in Griechenland eigene Staaten gegründet haben. 52 Die vielfältigen Beziehungen, welche sich daraus entwickeln sollten, geben den wenigen Fakten, die das erste Erscheinen der »neuen« positiven Harpyie in Frankreich dokumentieren, ein besonderes Gewicht: - Erstens stammen die ältesten schriftlichen Zeugen für die »neue« Harpyie zweifelsfrei aus dem französischen Sprachraum. Das gilt sowohl für das Bestiarium Pierres de Beauvais als auch für den Palmbaumtraktat. Denn beide Versionen sind in Handschriften überliefert, die kurz nach 1200 in französischer Sprache aufgezeichnet worden sind. - Zweitens ist das Exempel von der mordenden und trauernden Harpyie von Frankreich aus verbreitet worden. Das haben die bisherigen Ergebnisse der rezeptionsgeschichtlichen Forschungen zu den lateinischen Enzyklopädien des Thomas von 50 So die Zusammenfassung von Baer, Eva: Sphinxes and Harpies in Medieval Islamic Art. An Iconographical Study. Jerusalem 1965, S. 82. E. Baer weist außerdem auf Parallelen in der christlich-armenischen Kultur des Mittelalters. Ihre Beispiele (Abb. 62 aus einer Evangelienhandschrift und Abb. 52 aus einer Alexanderroman-Handschrift) sind jedoch jünger als die ältesten westl. Zeugen der »neuen« Harpyie. Zudem sind die Vögel mit Menschantlitz im Alexanderroman namenlos und geschichtslos, also nicht unbedingt mit Harpyien zu identifizieren. Die armenischen Harpyien-Illustrationen in biblischen Handschriften des Spätmittelalters könnten aber ein weiteres Indiz dafür liefern, daß wesentliche Impulse zur Verbreitung der »neuen« christlichen Harpyie aus dem Vorderen Orient kamen. 51 Eventuell ist mit einer bisher unentdeckten Christianisierung der griechischen Harpyien-Mythen durch griechische Kirchenväter zu rechnen, so wie es für die Sirenen-Mythen bezeugt ist: s. Rahner, Karl: Griechische Mythen in christlicher Umdeutung. Freiburg; Basel; Wien 1992, S. 300 - 315; Rahner weist nach, daß die Sirenen durch einen Übersetzungsfehler von Hiob 30,29 und Isaias 13,21 in die Septuaginta gelangt sind, und zeichnet dann die Anverwandlung des Mythologems in christlicher Exegese nach. 52 Grundlegend dazu Lock, Peter: The Franks in the Aegean, 1204 - 1500. London; New York 1995; zur Kirche, zu den christlichen Orden sowie zur kulturellen Symbiose siehe S. 193 - 239 und 266 - 309. 304 Sieglinde Hartmann Chantimpré und Vincent von Beauvais sowie zu den Palmbaumallegorien bestätigt. - Hinzu kommt drittens ein spezifisch französischer Brauch im Ritus der Palmsonntagsfeier. Nach der Palmweihe, d.h. nachdem die immergrünen Zweige, die man in Ermangelung echter Palmwedel verwendete, mit Weihwasser (! ) besprengt waren, schmückten die Gläubigen in mehreren Regionen Nord- und Mittelfrankreichs die Gräber ihrer Vorfahren und Verwandten mit den gleichen Zweigen, die in der Palmsonntagsprozession mitgeführt wurden. 53 Im deutschen Sprachraum waren im Mittelalter zwar auch Frühlingsbräuche mit der Palmweihe verbunden: »Bei der Palmsonntagsfeier vermischte sich offenbar jüdischchristlicher Einfluß mit uralten einheimischen Bräuchen, die in Lebenserweckung und Schutz mit Frühlingszweigen bestanden.« 54 Die gesegneten Zweige, die in Deutschland meist aus Buchsbaum geschnitten waren, wurden aber lediglich in Haus, Hof und Feld befestigt. Damit erweisen sich die deutschen Praktiken zwar ebenfalls als christianisierte Formen heidnischer Fruchtbarkeitsriten. Ihnen fehlt jedoch die Verbindung mit Elementen des Totenkults, wie sie für die Funktion der »neuen« Harpyie in der Palmsonntagsmeditation so wesentlich sind. Möglicherweise liefern die französischen Palmsonntagsbräuche ein bisher unentdecktes Indiz dafür, daß in die christianisierte Harpyienvorstellung neben antiken und orientalischen auch gallo-romanische oder gar keltische Mythen eingeflossen sind. Die Langlebigkeit der französischen Bräuche, die sich in ländlichen Gegenden außerhalb von Paris, wie in der Sarthe beispielsweise, bis heute erhalten haben, spricht jedenfalls für eine tiefe Verankerung dieses Brauchtums in vorchristlichen Glaubenspraktiken. Die Popularisierung der »neuen« Harpyie im Spätmittelalter Inwieweit die Anverwandlung und Umformung mythischer Traditionen die Verbreitung der Palmbaumallegorie und damit die Entstehung einer »neuen« Harpyienmythe begünstigt hat, ist beim gegenwärtigen Forschungsstand kaum abzuschätzen. Die einzig kon- 53 Dokumentiert ist dieser Brauch im 20. Jahrhundert für folgende Regionen bzw. Départements: Picardie, Seine-et-Oise, Ardennen, Marne, Meuse, Centre, Touraine und Sarthe, in: Manuel de Folklore Français contemporain. Hrsg. Arenold van Gennep. 3. Bde. Les Cérémonies Périodiques cycliques et saisonnieres. Paris 1947, S. 1158 - 1209. 54 Zit. aus: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Hrsg. Hanns Bächthold-Stäubli. Bd. 6. Berlin; New York 1987, Sp. 1383 - 1386 unter dem Stichwort »Palm«, hier: Sp. 1368; allerdings nur in wenigen Gegenden (Böhmen z.B.) wurden Palmwedel bzw. andere immergrüne Zweige »auch auf Gräber von Verwandten und Freunden gesteckt«, ebda. Sp. 1386. - Meine eigenen Nachforschungen ergeben allerdings ein anderes Bild: In ländlichen Gemeinden des Hunsrück und in Oberschwaben bei Füssen werden die Palmwedel der Palmsonntagsprozession ebenfalls noch heute auf die Gräber gesteckt. In den städtischen Gemeinden des Mittelrheins hat sich der Brauch jedoch nicht erhalten. Somit ergäbe sich, zumindest für diese Regionen ein ähnlicher Befund wie in Nordfrankreich. D.h. in den Landgemeinden hat sich die mittelalterlichen Verbindung von Palmweihe und Totenkult in den Glaubenspraktiken erhalten, während sich das Glaubensleben in den Städten verändert hat. Falls sich diese These einer ununterbrochenen Tradition religionsgeschichtlich erhärten läßt, gewinnt die Verbreitung der Palmbaumpredigt im deutschen Sprachraum ein neues Gewicht. Dann wäre auch der etwaige Einfluß der Verehrung galloromanischer Gottheiten in den deutschen Gebieten zu klären, die in der Spätantike zum römischen Reich gehört haben. Harpyie 305 kret bestimmbaren Faktoren, die nachweislich eine Popularisierung der »neuen« Harpyie bewirkt haben, liefern uns die volkssprachlichen Verbreitungszeugen der Mythe von der mordenden und reuig trauernden Harpyie. Die literarische Rezeptionsgeschichte des »neuen« Harpyienmythos ist allerdings noch nicht systematisch erforscht. Infolgedessen läßt sich hier lediglich ein vorläufiges Bild skizzieren. Dabei fallen zunächst erhebliche geographische Unterschiede ins Auge. In der volkssprachlichen Literatur Frankreichs bleiben bis zum Ende des Mittelalters die beiden unterschiedlichen Versionen der Harpienmythe aus dem mystischen Palmbaumtraktat sowie aus dem Bestiarium Pierres de Beauvais nebeneinander erhalten. Im deutschen Sprachraum haben die Tierbücher vergleichsweise wenig zur Verbreitung der »neuen« Harpyie beigetragen. Denn Pierres Bestiarium ist nicht ins Deutsche übersetzt worden. Und die führende deutsche Tierenzyklopädie, das Buch der Natur Konrads von Megenberg, enthält das Harpyienkapitel nicht in allen Abschriften bzw. Drucken. 55 Dafür ist die Harpyiengeschichte hauptsächlich mit der Palmbaumallegorie sowie in mehreren abweichenden Versionen über Predigthandbücher wie den sogenannten Etymachietraktat bekannt gemacht worden. Für die italienische Literatur ist die Rezeptionsgeschichte der Palmbaumallegorie meines Wissens noch nicht erforscht. Die überlieferten italienischen Bestiarien enthalten, soweit sie bisher bekannt geworden sind, keine Harpyienkapitel. 56 Statt dessen ist die Kenntnis von Aussehen und Wesen der Harpyien wohl hauptsächlich durch Dante und die Harpyienepisode in seiner Göttlichen Komödie vermittelt worden. Dantes Harpyien unterscheiden sich jedoch in wesentlichen Aspekten von den übrigen »neuen« Harpyien. Für die englische Literatur des Mittelalters liegen meinen Kenntnissen zufolge noch keine Spezialuntersuchungen vor. Angelsächsische Mythenforscher wie Beryl Rowland haben die Harpyie jedoch in der Heraldik entdeckt. 57 In der Tat sind Harpyien mehrfach in englischen Wappen dokumentiert (s. Abb. 4). Die älteste heraldische Beschreibung aus dem 15. Jahrhundert stammt ebenfalls von einem englischen Autor, Nicholas Upton. 58 In seinem Werk über die Kriegskunst (De studio militari) zitiert er die Harpyiengeschichte, wie sie in den lateinischen Enzyklopädien verbreitet war, und erläutert, daß die Harpyie den Wappenträger zur immerwährenden Reue über den von ihm begangenen 55 Ausgabe von Pfeiffer, Franz: Das Buch der Natur von Konrad Megenberg. o.O. 1861 (Nachdruck Hildesheim 1971); Harpyienkapital ebd. S. 167 - 168, Überschrift: »Von dem Arpen«, Incipit: »Arpia ist ain vogel, sam Adelînus spricht, der wont in verren landen an der stat, diu Strapedes haizt, in der wüesten pei dem mer Jonicum«, Explicit: »der vogel wenn er gezämt wirt redet menschleich stimm, aber er hât nihit menschleich vernunft«. Außer dem Genuswechsel in der Namensform inhaltlich keine Abweichung zu den lat. Enzyklopädien. - Das Werk ist in über 100 Handschriften und 8 Drucken überliefert. Zur Textgeschichte s. Steer, Georg: Zur Überlieferung des »Buchs von den natürlichen Dingen« Konrads von Mergenberg. In: ZfdA 113 (1984) und zusammenfassend Steers Artikel zu Konrad von Mergenberg in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Bd. 5, Sp. 231 - 234, bes. Sp. 234: »Das ›BnD‹ fand in Laienkreisen rasch weite Verbreitung. Kaum tradiert wurde es jedoch im monastischen Bereich. Weitgehend unbekannt ist neben der Textgeschichte noch immer seine Wirkungsgeschichte. »Daß die Harpyrie nicht in allen Überlieferungszeugen des ›BnD‹ behandelt wird, haben meine eigenen stichprobenartigen Recherchen ergeben. 56 Vgl. folgende Editionen: McKenzie, K: Unpublished mss. of Italien Bestiaries. In: PLMA 20 (1905), S. 380 - 433; McKenzie, K.; Garver, M. S.: Il Bestiario Toscano. In: Studi Romanzi VIII (1912), S. 1 - 100 (Neudruck 1942). 57 Rowland (Fn. 47), S. 158 - 159. 306 Sieglinde Hartmann Todschlag mahnen solle. 59 Die Bedeutung des Wappens entspricht mithin der Funktion, welche die »neue« Harpyie seit dem 13. Jahrhundert im christlichen Glaubensleben erfüllte. Ein genaueres Bild wird sich erst nachzeichnen lassen, wenn die Überlieferungsgeschichten der einzelnen Texte gesondert rekonstruiert vorliegen. Ohne solche Vorarbeiten läßt sich die Wirkungsgeschichte der »neuen« Harpyienmythe nur in schemenhaften Umrissen erkennen. Wir begnügen uns daher damit, diejenigen Werke vorzustellen, welche die spätmittelalterliche Rezeption der »neuen« Harpyie um neue Aspekte ergänzen. Dazu zählen Predigthandbücher wie der Etymachietraktat und Dantes Divina Commedia, beides Werke des 14. Jahrhunderts. Die Harpyie im Etymachietraktat und anderen Predigthandbüchern des 14. Jahrhunderts Der Etymachietraktat gehört zu der Gattung theologischer Handbücher des Spätmittelalters, die zwar überwiegend in lateinischen Abschriften verbreitet waren, die aber den Stoff für Predigten in der Volkssprache lieferten und daher auf mündlichem Wege eine erheblich umfangreichere Wirkung entfalteten. Insofern dürfen wir damit rechnen, daß der zahlreich überlieferte Etymachietraktat in ähnlichem Ausmaß wie die Palmbaumallegorie zur Popularisierung der neuen Harpyienvorstellung beigetragen hat. 60 Die Verwendung des Traktats ist zudem an keinen spezifischen Festtag im Kirchenjahr gebunden, da sein Inhalt aus einer 58 Näheres dazu siehe Dennis, Rodney: The Heraldic Imagination. London 1975, S. 76 - 82, über Harpyien- Wappen s. S. 125 - 129; über die Unterschiede zum deutschen Jungfrauenadler, u.a. im Wappen der Stadt Nürnberg, ebda. S. 128 - 129. Die deutsche Heraldik sieht im deutschen Jungfrauenadler neuerdings eine Ableitung aus dem hochmittelalterlichen männlichen Kaisersiegel, also keine Harpyiendarstellung, sondern eine Umformung des kaiserlichen Adlers. 59 »De Arpia. Arpiam quedam avis est, ut dicit Adelmus, in remotis mundi partibus loco qui Strapades dicitur in solitudine juxta mare Jonicum, rabida fame semper fere insaciabilis esse dicitur, ungues habet mirabiliter graves, ad discerpendum & lacerandum semper paratos. Avis ista habet faciem humanam, set nihil in se habet virtutis humane, nam ferocitate grassatur ultra humanum modum, hec primum hominem quem viderit in deserto fertur occidere, Inde cum fortuito aquas invenerit in quibus faciem suam fuerit contemplata, mox sui similem hominem se occidisse perspiciens multum tristatur, & aliquando propter hoc usque ad mortem se abstinendo a cibis cruciat, plangitque occisum omni tempore sue vite. Hec avis aliquando domesticata loquitur docta humana voce, set racione omnino caret. Tales aves videlicet arpias portare deberunt hominum occisores, ad plagendum hoc peccatum.« Zitiert nach folgender Ausgabe Nicolai Vptoni. De studio militari. Libri Quatuor. Typis Rogeri Norton, impensis Johannis Martin, Jacobi Allestrye. London 1654, S. 174.; vgl. die wörtlichen Anklänge zu Thomas von Chantimpré in Fn. 20. Abb. 4: Drei Harpyien Wappen des William Tenderden, ca. 1450. Harpyie 307 allgemeinen Tugend- und Laster-Darstellung in Form von Tierallegoresen besteht. Der Titel wirkt heute leicht irreführend, da die Gegensätzlichkeit der Tugenden und Laster nicht am Beispiel eines Kampfes (= »etimachia«) vorgeführt wird, sondern mittels einfacher gedanklicher Gegenüberstellungen. Bewegung und Anschaulichkeit kommen dadurch in die Darstellung, daß die personifizierten Laster und Tugenden, wie für einen Kampf gerüstet, auf Tieren reitend eingeführt werden und ihre Rüstung mit je drei redenden Tierwappen auf Helm, Schild und Rock ausgestattet sind. Da insgesamt sieben Laster und sieben Tugenden behandelt werden, liefert der Traktat mit seinen 56 Tierexempeln zugleich ein kleines Bestiarium nach Art des Physiologus, eine Tatsache, die nicht unerheblich zur Beliebtheit dieses Traktats beigetragen haben dürfte. Wie wichtig die Tierexempel waren, zeigt sich unter anderem darin, daß die volkssprachlichen Versionen vielfach theologische Erläuterungen und Schriftzitate auslassen, die Tierbeispiele aber vollständig wiedergeben. In der ältesten lateinischen Fassung, die aus einer auf 1332 datierten Handschrift aus der Stiftsbibliothek Vorau in Österreich stammt, treten zunächst die sieben Hauptsünden »superbia« (Hochmut), »luxuria« (Unzucht), »avaricia« (Geiz), »ira« (Zorn), »invidia« (Neid), »accidia« (Melancholie) und »gula« (Völlerei) auf den imaginären Plan. Dann kommen folgende Tugenden, um die Laster unschädlich zu machen: »humilitas« (Demut), »castitas« (Keuschheit), »largitas« (Freigebigkeit) , »paciencia« (Geduld), »caritas« (Liebe), »devocio« (Andacht) und »abstinencia« (Enthaltsamkeit). Die Harpyie ist hier, ähnlich wie im Palmbaumtraktat, der »caritas« zugeordnet. Ich zitiere aus einer der deutschen Übersetzungen, die, wie ihr Herausgeber Nigel Harris ermittelt hat, größtenteils für Laienkreise hergestellt waren: 61 »De funft tugent ist de lieb, vnd chumpt wider den neid vnd siczt auff einem tyer haist orasius. Furt auff dem helem ein coredulum, an dem schilt ein pellican, an dem roch ein arpium.« [Die fünfte Tugend ist die Liebe und kommt gegen den Neid und sitzt auf einem Tier, das Orasius heißt. Sie führt auf dem Helm einen Coredulum, auf dem Schild einen Pelikan, auf dem Rock eine Harpyie.] Das dazu gehörige Exempel trägt in dieser Version folgenden Wortlaut: »An dem roch furt sy ein vogel haist arpia, vnd hat ein menschleichen anplich, vnd den ersten menschen, den er ansich, den czucht er vnd zereist in. Darnach chumpt er zw dem wasser vnd schaut sich darin, vnd wan er dann erchent, das er getot hot sein geleich, so chlagt er es, de weil er lebt, vnz in den tod. Der vogel bedeut ain menschen, der Got lieb hat, wann er gedencht, das Christus, der im geleich ist nach der menschait, ist durch seiner sund willen gestorben, den chlagt vnd waint er, dy weil er lebt, das leiden vnd de marter Christi.« 62 60 Zusammenfassend Schmidtke, Dietrich: Etymachietraktat. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon.Bd. 2. 2 1980, Sp. 636 - 639. 61 Harris, Nigel: The Latin and German ›Etymachia‹. Introduction, edition and commentary. Oxford 1988 (Diss.); Edition des lat. Originals (in 106 Textzeugen erhalten) S. 133 - 160; von 4 deutschen Übersetzungen sind hier 2 ediert: Version A von 1443 = freie Übersetzung, erhalten in bair.-österr. Handschriften des 15. Jahrhunderts, S.164 - 197; Version B = schwäbische Version des 15. Jahrhunderts, die eine Kontamination aus unterschiedlichen lat. Redaktionen darstellt, S. 198 - 247; Zitat aus Version A, S. 190. Diese Diss. ist in überarbeiteter Form mit Abb. in Deutschland unter folgendem Titel erschienen: The Latin and German ›Etymachia‹. Textual History, Edition, Commentary. Tübingen 1994 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters, Bd. 102). Wichtig ist ebenfalls folgende Faksimile-Edition: Etymachie-Traktat. Ein Todsündentraktat in der katechetisch-erbaulichen Sammelhs. Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek, 2º Cod. 160. Hrsg. von Harris, Nigel und Williams- Krapp, Werner. München 1995 (Codices illuminati medii aevi, Bd. 36). 308 Sieglinde Hartmann [Auf dem Rock führt sie (= die Tugend der Liebe) einen Vogel, genannt Harpyie. Der hat ein menschliches Antlitz. Und den ersten Menschen, den er erblickt, ergreift er und zerfleischt er. Darnach kommt er zum Wasser und betrachtet sich darin. Und wenn er dann erkennt, daß er seinesgleichen getötet hat, so beklagt er das zeit seines Lebens bis in den Tod. Der Vogel bedeutet einen Menschen, der Gott lieb hat, wenn er bedenkt, daß Christus, der ihm in seiner menschlichen Natur gleich ist, um seiner Sünden willen gestorben ist; den beklagt er und beweint er zeit seines Lebens, d.h. das Leiden und die Marter Christi.] Die Akzentverschiebung, die der unbekannte Autor hier vorgenommen hat, wirkt auf den ersten Blick gering. In Aussehen und Verhalten, mittelalterlich gesprochen: in den »proprietates« (Eigenschaften), wird die Harpyie nur etwas artgerechter als Greifvogel charakterisiert. Und die geistliche Auslegung (d.h. die »moralitas«) stellt nicht mehr Reue und Mitleiden mit Christi Martertod in den Vordergrund, sondern die christliche Liebe, die im Palmbaumtraktat lediglich als Attribut der Harpyie fungierte. Wenn man jedoch bedenkt, daß die »caritas« zu den Kardinaltugenden zählt, bewirkt diese Bedeutungsverschiebung, im Vergleich zur Palmbaumallegorie, eine nochmalige und nicht unerhebliche Aufwertung. Denn die Harpyie ist zwar als Beute schlagender Greifvogel charakterisiert, wird aber nicht mehr als grausam bezeichnet. Statt dessen ist sie zum Exempel vorbildlicher christlicher Liebe zu Gott erhoben. Karl-August Wirth hat als erster entdeckt, daß die »neue« Harpyie damit den Höhepunkt »ihrer erstaunliche[n] Karriere« erreicht. 63 Gleichzeitig hat Wirth beobachtet und beschrieben, wie rasch sich mit der vollständigen Christianisierung die Verwendungsmöglichkeiten der »neuen« Harpyie als Predigt-Exempel vervielfältigen und wie unterschiedlich sich ihr geistliches Bedeutungsspektrum innerhalb der Predigtliteratur erweitern sollte. Dies gilt erstmals wieder für Deutungen in »malam partem«, wobei erneut die chthonischen Züge der alten Harpyien hervortreten. 64 Die negativste dieser Auslegungen, die zugleich am engsten mit der christlichen Heilsgeschichte verflochten ist, findet sich in einem typologischen Predigthandbuch, das Ulrich von Lilienfeld, Abt des gleichnamigen Zisterzienserstifts in Österreich, um die Mitte des 14. Jahrhunderts verfaßt hat. Das lateinische Werk trägt den Titel Concordantiae caritatis 65 und bietet im Stil sogenannter Armenbibeln einen illustrierten Predigtzyklus für das gesamte Kirchenjahr, worin die christliche Glaubensbotschaft für jeden Sonn-, Feier- und Festtag mit Bildszenen aus dem Alten und Neuen Testament sowie mit naturkundlichen Gleichnissen, meist Tierexemplen, veranschaulicht ist. Die Harpyie ist hier, ähnlich wie im Palmbaumtraktat, der Passionszeit zugeordnet. Aber Ulrich führt sie als Gleichnis für Judas’ Selbstmord und seinen Lohn, die ewige Verdammnis, an. 66 62 Ebda., § 74. 63 Wirth, (Fn. 1), S. 36. 64 Wirth, (Fn. 1). S. 36 - 41. 65 Das Werk ist nach neustes Erkenntnissen in 36 Handschriften aus dem süddeutschen Sprachraum überliefert. Text- und Wirkungsgeschichte sind nur unzureichend erforscht. Der Text ist bisher unveröffentlicht, der Bilderzyklus ist hrsg. von Weis-Liebersdorf, J. E.: Das Kirchenjahr in 156 gotischen Federzeichnungen. Ulrich von Lilienfeld und die Eichstätter Evangelienpostille. Studien zur Geschichte der Armenbibel und ihrer Fortbildungen. Strassburg 1913. Das Projekt einer Textedition der ältesten Handschrift aus Lilienfeld, von H. Douteil angekündigt, ist aufgegeben. Zusammenfassend zu Ulrich von Lilienfeld siehe Suntrup, Rudolf: Ulrich von Lilienfeld. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Bd. 10. 2 1996, Sp. 1 - 8. Harpyie 309 Karl-August Wirth hat für diese Variante der Harpyiengeschichte eine Tradition aufgespürt, wonach sich die Harpyie »aus Verzweiflung über ihre Untat selbst richtet«. 67 Die typologische Gleichsetzung der Harpyie mit Judas sei so, wie sie Ulrich begründet, seines Wissens jedoch nirgends belegt: »Arpia est Iudas, qui quasi faciem, id est actum exteriorem, habuit hominis, sed propositum bestialem sui cordis. Hominem interfecit, cum Christum vendens in mortem dedit. In aqua autem se ipsam conspexit, quando se dampnandum aspexit, et sic pre dolore mortua fuit, cum ex desperacione laqueo se suspendit«. 68 [Die Harpyie ist Judas, der seinem Antlitz nach, d. h. seinem äußeren Betragen nach, menschlich gewesen ist, aber in seinem Herzen einen viehischen Vorsatz getragen hat. Er hat einen Menschen getötet, dadurch daß er Christus verkauft und ihm so den Tod gegeben hat. Aber im Wasser hat er sich erblickt, als er sich verdammt sah, und ward so voller Todesschmerz, daß er sich aus Verzweiflung mit einem Strick erhängte.] Bis in den Wortlaut seiner Judas-Interpretation identifiziert der Theologe Ulrich den Verräter Jesu mit der naturkundlichen Harpyienbeschreibung, wie sie in den lateinischen Enzyklopädien zur Verfügung stand. Ein erstaunlicher Vorgang, der nach heutigem Bibel- und Weltverständnis kaum nachvollziehbar ist, der aber die Prinzipien mittelalterlicher Schriftexegese vollkommen erfüllte. Dementsprechend hatte der geistliche Autor eigens den Titel »Concordantiae caritatis« gewählt und im Prolog seine Absicht bekräftigt, »die in der Heilsgeschichte und in der Natur geoffenbarte ›Übereinstimmung des liebenden Wirkens‹ Christi darzustellen«. 69 Zur Natur oder genauer: zur geschaffenen Welt des christlichen Gottes gehörte die Harpyie spätestens seit der Kodifizierung der Naturphänomene in den oben genannten Enzyklopädien. Die Zugehörigkeit zur Schöpfung bedeutete, daß jedes dieser Geschöpfe in seinen »proprietates« einzelne, teilweise sehr unterschiedliche Geheimnisse der Heilsgeschichte offenbarte und dadurch Teil an der Heilsgeschichte (wie in Ulrichs Judas-Erklärung) oder am Heilsgeschehen (wie in der mystischen Palmbaum-Meditation) haben konnte. Die Harpyie, die in diesem Sinn zum Werkzeug der allgemeinen Heilsgeschichte oder zum Medium der individuellen Gotteseinung gemacht wird, ist deshalb kein bloßes Vergleichsobjekt und darf daher nicht als abstraktes Gedankenbild mißverstanden werden. Sie ist, im Gegensatz zu den Allegorien der Spätantike, wieder höchst lebendig geworden. Mehr noch: Die Gläubigen begreifen die Harpyien als Wesen, die ihnen Wahrheiten und Wege zum christlichen Heil offenbaren, modern gesprochen: als Mythenwesen. Dante Alighieri (1265 - 1321) und die Harpyien in der Divina Commedia Auch Dante hatte sein Werk über die Hölle, das Fegefeuer und das Paradies zur Unterweisung seiner Landsleute im rechten Christenglauben verfaßt. Aber seine Harpyien unterscheiden sich dennoch von allen übrigen christlichen Harpyien des Spätmittelalters. In welcher Hinsicht? Und: Wo begegnet Dante den Harpyien? 66 In der Edition von Weis-Liebersdorf (Fn. 63) Nr. 85, Zusammenfassung des Textes auf S. 43, Abb. der Illustration auf S. LIII: Judas erhängt. 67 (Fn. 1), S. 40. 68 Zitiert nach einer Transkription von H. Douteil aus Wirth (Fn. 1), S. 40. 69 Zitiert nach R. Suntrup (Fn. 63), Sp. 3. 310 Sieglinde Hartmann Dantes Lehrdichtung besteht bekanntlich aus der poetischen Schilderung seiner eigenen visionären Wanderung durch die drei christlichen Jenseitsreiche. Als er mit Hilfe seines Mentors Vergil die gefahrvollen Kreise der Hölle durchquert, trifft er in einem dunklen Gehölz voller dornigen Buschwerks auf die Harpyien. Dante beschreibt sein Erlebnis folgendermaßen: »Quivi le brutte Arpie lor nido fanno, Che cacciar delle Strofade i Trojani Con tristo annunzio di futuro danno. Ale hanno late, e colli e visi umani, Piè con artigli, e pennuto ‘l gran ventre: Fanno lamenti in su gli alberi strani. E ‘l buon Maestro: Prima che più entre, Sappi, che se’ nel secondo girone, Mi cominciò a dire, e sarai, mentre Che tu verrai nell’orribil sabbione. Però riguarda bene, e sì vedrai Cose, che torrien fede al mio sermone. Io sentia d’ogni parte tragger guai, E non vedea persona, che ‘l facesse: Perch’io tutto smarrito m’arrestai. Io credo, ch’ei credette, ch’io credesse, Che tante voci uscisser tra quei bronchi Da gente, che per noi si nascondesse.« 70 [Hier nisten die häßlichen Harpyien, welche die Trojaner von den Strophaden mit einer Ankündigung künftigen Schadens vertrieben. Breite Flügel haben sie, Gesicht und Hals wie Menschen, Füße mit Krallen und gefiedert den großen Bauch: Klagen erheben sie auf den sonderbaren Bäumen. Und der edle Meister: ›Bevor du weiter eindringst, wisse, daß du auf der zweiten Stufe (des 7. Höllenkreises) bist,‹ so begann er zu reden, ›und du bleibst darin, bis du in die schreckliche Sandwüste kommst. Doch schau dich gut um; du wirst hier Dinge sehen, die dir den Glauben an meine Rede nehmen könnten.‹ Ich hörte von allen Seiten Wehgeschrei ertönen, und sah keinen, der es erhob: Deshalb blieb ich völlig verwirrt stehen. Ich glaube, daß er glaubte, ich könnte glauben, soviel Stimmen kämen aus dem Geäst von Leuten, die sich vor uns darin versteckten‹.] Dantes Lehrmeister zeigt ihm jedoch, wie er das Geheimnis lüften könne, und der Visionär erfährt, daß es Selbstmörder sind, die hier in Bäume verwandelt für ihre Sünde büßen. Als Vergil auf Dantes Bitte einen der Sünder, die Seele des berühmten Dichters und 70 Zitiert nach der führenden, kommentierten Ausgabe des Spätmittelalters: L’Ottimo Commento della Divina Commedia. Testo inedito d’un contemporaneo di Dante. Hrsg. Accademia della Crusca. Pisa 1827. Bd. 1, S. 240 - 242 (= 13. Gesang, V. 10 - 27). Harpyie 311 Kanzlers Kaiser Friedrichs II., Pier della Vigna, befragt, wie dies geschehen sei, »brauste« es im Stamm des Baumes und der »Wind verwandelte sich in jene Stimme« (V. 91 - 92): »Quando si parte l’anima feroce Dal corpo, ond’ella stessa s’è disvelta, Minos la manda a la settima foce. Cade in la selva, e non l’è parte scelta; Ma là dove fortuna la balestra, Quivi germoglia come gran di spelta; Surge in vermena, ed in pianta silvestra; l’Arpie pascendo poi delle sue foglie, Fanno dolore, ed al dolor finestra. Come l’altre, verrem per nostre spoglie, Ma non però ch’alcuna sen rivesta: Che non è giusto aver ciò, ch’uom si toglie. Qui le strascineremo, e per la mesta Selva saranno i nostri corpi appesi, Ciascuno al prun dell’ombra sua molesta.« 71 (V. 94 - 108) [Wenn sich die wilde Seele vom Leib scheidet, von dem sie sich selbst entwurzelt hat, schickt Minos sie in die siebte Senke (= 7. Höllenkreis). Sie fällt in diesen Wald, ohne die Stelle gewählt zu haben; sondern da, wo der Zufall sie hinschleudert, da keimt sie wie ein Samenkorn Dinkel. Sie treibt zum Schößling und zum Buschwerk: dann weiden die Harpyien sich an ihren Blättern, sie fügen Schmerzen zu und stoßen dem Schmerz ein Fenster auf. Wie die anderen werden wir nach unserer sterblichen Hülle suchen, aber nicht damit sich jede (= Seele) wieder mit ihr bekleide; denn es ist nicht recht, das zu behalten, wessen sich der Mensch entäußert. Wir schleifen sie dann hierher, und in diesem Wald der Trauer werden unsere Leiber aufgehängt, ein jeder am Dornbusch seiner unausstehlichen Seele.] Im Unterschied zu manchen anderen mittelalterlichen Visionen bedarf es bei Dante keiner langen Beweisführungen um zu erkennen, daß es sich bei seinen Jenseitsschilderungen um authentische Visionen und Auditionen handelt. Die visionäre Kraft und die Gestaltungskunst des italienischen Dichters zeugen auch heute noch von der Intensität emotioneller Erfahrung des Gesehenen und Gehörten. Haben die mittelalterlichen Leser und Interpreten Dantes Dichtung ähnlich beurteilt? Dank der zahlreich überlieferten und edierten Kommentare aus dem Spätmittelalter zur Divina Commedia kann uns die Dante-Forschung ein recht genaues Bild von ihrer Wirkungsgeschichte zeichnen. Dabei sind bisher drei Rezeptionsphasen unterschieden: In der ersten, teilweise noch zeitgenössischen Phase von rund 1330 bis 1375 wurde Dantes Dichtung »as an authentic account of a journey through the other world granted the 71 L’Ottimo Commento (Fn. 70), S. 248 - 251. - Um diese Passagen in wörtlicher Genauigkeit zu übersetzen, hat mir Paola Schulze-Belli, Triest, wertvolle Hinweise gegeben, wofür ich ihr an dieser Stelle herzlich danke. 312 Sieglinde Hartmann author by God« aufgefaßt. 72 In der zweiten, von Boccaccios Dante-Interpretation dominierten Phase von 1375 bis 1410 wird die Göttliche Komödie eher als Werk eines »großen Genius« gelesen, der seine »persönlichen Erfahrungen« beschreibt. In der letzten mittelalterlichen Phase von 1410 - 1480 ist Dantes Ansehen stark von Petrarcas Ruhm überschattet, sein Werk wird von den Humanisten wegen seiner Volkssprache wenig geschätzt und im übrigen als bloßes »Kompendium« eines großen aber teilweise abstrusen Wissens verachtet. 73 Die Schilderungen Dantes aus der jenseitigen Welt sind folglich recht unterschiedlich beurteilt worden. Das zeigt sich auch in den Kommentaren zu der Harpyienerscheinung im Wald der Selbstmörder. 74 Trotz der divergierenden Bewertungen fallen aber in unserem Zusammenhang zunächst folgende Eigenheiten auf. Die beiden wirkmächtigsten Kommentare aus der ersten Rezeptionsphase, der sogenannte Ottimo Commento 75 und das Werk des Jacopo della Lana 76 , behandeln Dantes Vision wie eine göttliche Offenbarung und legen die einzelnen Stellen wie Schriftworte im mehrfachen Schriftsinn aus. Sie stehen mithin in der selben hermeneutischen Tradition wie die Palmbaumtraktate und die Tierallegoresen in den Predigtexempeln. So wundert es eigentlich kaum, wenn beide Exegeten die spirituelle Bedeutung der Harpyien auch übereinstimmend im allegorischen Sinn auf die Verzweiflung der Selbstmörder und ihre Bestrafung deuten: »le arpìe, han per allegorìa a significare la volontade assoluta, cioè la desperazione« [= Die Harpyien bedeuten allegorisch den absoluten Willen, das heißt die Verzweiflung.] 77 Zur Untermauerung ihrer Auslegung führen beide mehrere Zitate aus der Heiligen Schrift und den Vätern an. In Erläuterungen zur wörtlichen Bedeutung einzelner Begriffe und Motive fügen sie noch eine Zusammenfassung von Vergils Schilderung der Harpyienepisode auf den Strophaden ein, wobei der jüngere Ottimo Commento Rolle und Namen der Harpyien in der Aeneis wesentlich ausführlicher beschreibt. Auf die Harpyienallegorese christlich-mittelalterlicher Theologen verweist jedoch keiner der Kommentatoren. 72 Die prägnante Zusammenfassung gibt Brieger, P.: Pictorial Commentaries to the Commedia. In: Brieger, P.; Meiss, M.; Singleton, Ch. S.: Illuminated Manuscripts of the Divine Comedy. Bd. 1. Princeton; New York 1969, S. 83 - 113, Zitat: S. 88. 73 Brieger (Fn. 72), S. 89. 74 Die mittelalterlichen Dantekommentare behandelt ausführlich Sandkühler, Bruno: Die frühen Dantekommentare und ihr Verhältnis zur mittelalterlichen Kommentartradition. München 1977. 75 Verfaßt vor 1350, nicht ganz so reichhaltig überliefert wie der Lana-Kommentar, aber grundlegend für das Dante-Wörterbuch der Accademia della Crusca. Zitiert nach der in Fn. 68 angegebenen Ausgabe. Neuerdings wird die Verfasserschaft des Ottimo Commento Andrea Lancia zugeschrieben, dazu siehe Sandkühler (Fn.72), S. 206 f. 76 Vor 1350 verfaßt, etwas älter als der Ottimo Commento, in über 80 Handschriften bis ins 15. Jahrhundert verbreitet, nach Sandkühler (Fn. 72), S. 193, »der beliebteste Dantekommentar« im 14. und 15. Jahrhundert; Untersuchung ebda. S. 192 - 206. Faks.-Ausgabe der Frankfurter Handschrift des 14. Jahrhunderts von Schmidt-Knatz, F.: La Commedia col commento di Jacobo della Lana: Frankfurt am Main 1939. Hier zitiert nach der Ausgabe von Scarabelli, Luciano: Commedia di Dante Allaghierii col comento die Jacobo della Lana. Bologna 1866. 77 Jacopo della Lana (Fn. 74), S. 250; Schriftzitate aus den Psalmen, Boethius’ De Consolatione, Paulus’ Brief an die Epheser, Pseudo-Dionysius, De divinis nominibus, ebda. - Ottimo Commento: »L’arpie hanno per allegoria a significare la volontade assoluta, cioè la disperazione« (Fn. 68), S. 236; dann folgen die gleichen Schriftzitate in der Einleitung, die in der fortlaufenden Kommentierung jedoch gegenüber Lana noch vermehrt werden. Harpyie 313 Das wirkt um so erstaunlicher, als die Parallelen aus unserer Sicht auf der Hand liegen. Die Übereinstimmungen beginnen schon im ersten Vers der Harpyienepisode, der sogar wörtliche Anklänge zur altfranzösischen Palmbaumallegorie aufweist: »Quivi le brutte Arpie lor nido fanno« »Sor cest rain fait li arpie sen nit«. Daß die Harpyien auf Bäumen nisten, wird außer in den Palmbaumtraktaten nirgends erwähnt. Bei Vergil hausen die Harpyien bekanntlich auf »Bergen« und »schroffen Klippen« hoch über der Meeresbucht, wo Aeneas mit seinem Volk gelandet war. Ihr äußeres Erscheinungsbild beschreibt Dante ebenfalls von Vergil abweichend: Sie tragen nicht an Händen, sondern an den Füßen Krallen. Und ihr Gesicht ist nicht als Jungfrauenantlitz (»virginei volucrum vultus«), sondern geschlechtsneutral als menschliches Antlitz charakterisiert, offensichtlich in einer Übersetzung der mittelalterlichen Formel »facies hominis« (Menschenantlitz), wie sie sich seit Thomas von Chantimpré eingebürgert hatte. 78 Desweiteren gehört ihr Klagegeschrei (»lamenti«) zu den typischen Verhaltensmerkmalen der »neuen« christlichen Harpyie, was bei Vergil überhaupt nicht vorkommt, aber über die Predigtexempel hinaus in den Tierbüchern weithin bekannt gemacht worden waren. Die Ähnlichkeiten scheinen zu groß, als daß man annehmen könnte, Dante habe weder die lateinischen Naturenzyklopädien noch die ebenfalls in lateinischen Versionen verbreiteten Predigtexempel von der »neuen« Harpyie gekannt. Zu offensichtlich verschmilzt der Dichter Dante die einzelnen »proprietates« der »neuen« Harpyie hier zu einem Negativexempel ähnlicher Art wie bei Ulrich von Lilienfeld. Denn wie der gelehrte deutsche Theologe schildert der nicht minder gelehrte italienische Autor die Harpyien als Allegorie für die Sünde des Selbstmords und ihre Strafe, die ewige Verdammnis. Dabei deutet Dante selbst die positiven Züge der »neuen« Harpyie aus den Palmbaumallegorien negativ um. Sie nisten auf den Bäumen der verdammten Seelen, aber sie weisen ihnen nicht den Weg zur Frucht, die ewiges Leben spendet. Im Gegenteil. In genauer Umkehrung dazu, nähren sich die Harpyien von den sündigen Seelen, wobei sie den Sündern zugleich Schmerzen zufügen und ihnen Erleichterung verschaffen, indem sie »dem Schmerz ein Fenster aufstoßen«. Ein circulus vitiosus, der bis zum Jüngsten Gericht dauert, wenn die Körper der Verdammten zum letzten Mal am »Dornbusch ihrer Seelen« erhängt werden. Damit beschließt Dante seine Harpyienvision ähnlich wie Ulrich von Lilienfeld: mit dem abschreckenden Beispiel des erhängten Selbstmörders. Einer der mittelalterlichen Dante-Illustratoren hat die Harpyienepisode mit diesem Schlußbild illustriert, vielleicht weil sich darin die erstrebte Abschreckung bis zu höchstem Grauen steigert. Erstaunlicherweise ist dort der Selbstmörder mit einem Strick an einem Ast aufgehängt, was aus Dantes Wortlaut nicht hervorgeht, wohl aber von Judas im Harpyienexempel überliefert ist. 79 Der Dante-Forscher Peter Brieger hatte schon 1969 vermerkt, wie sehr die italienischen Miniaturisten mitunter vom Dante-Text abwichen und sich bei ihren Harpyiendarstellungen mehr nach Vorbildern aus Bestiarien richteten (s. Abb. 5). 80 Deshalb wirkt es 78 In den altfranzösischen Palmbaumtraktaten und in Pierres Bestiarium heißt es »sanlane d’omme« bzw. »samblant a home«, was auch als »ähnlich wie ein Mann« übersetzt werden kann. In einigen Illustrationen zum 13. Gesang sind die Harpyien mit bärtigen Männerköpfen dargestellt, s. dazu Brieger (Fn. 70), S. 133 und Wirth (Fn. 1), S. 67 und Abb. 24. 79 Beschrieben bei Brieger (Fn. 70), S. 133. 314 Sieglinde Hartmann um so frappierender, daß die Text-Kommentatoren diese Traditionen, die den Miniaturisten offenbar bekannt waren, vollkommen mit Schweigen übergingen. 81 Statt auf das naheliegende Exempel von der mordenden und trauernden Harpyie, die sich »ex desperacione« (Ulrich von Lilienfeld) das Leben nimmt, verweisen die Kommentaren einzig auf die fernstehende antike Quelle. Dabei schildern sie die Harpyienepisode in Vergils Aeneis immer ausführlicher, um ihren Lesern Herkunft, Namen und Wesen dieser »häßlichen Vögel« im historischen Rückgriff auf den vermeintlichen Ursprung genauer zu erklären. 82 So wurden Dantes eigentlich »neue« Harpyien bereits in der ersten, noch sozusagen ganz mittelalterlichen Rezeptionssphase wieder in die »alten« Harpyien der Antike zurückverwandelt. 80 Siehe die ikonographische Analyse des 13. Gesangs von Brieger (Fn. 70), S. 132 f. sowie die dazu gehörigen Abbildungen. Brieger unterscheidet allerdings nicht deutlich genug zwischen Bestiarien (mit Allegorese) und Enzyklopädien (ohne Allegorese), daher sind unbedingt die Richtigstellungen von Wirth (Fn. 1), S. 65 - 68 zu beachten. 81 Folgender Aufsatz geht möglicherweise darauf ein, war mir jedoch nicht zugänglich: Stephany, William A.: Dante’s harpies. In: The Poetry of Allusion: Virgil and Ovid in Dante’s Commedia. Hrsg. Rachel Jacoff; Jeffrey T. Schnapp. Stanford 1991, S. 47 - 44, 258 - 261. 82 Im Lana-Kommentar (Fn. 74) in 8 Zeilen, im Ottimo Commento (Fn. 68) in 39 (! ) Zeilen. Im Ottimo Commento (S. 241) werden erstmals auch Namen genannt und in ihrer Bedeutung erläutert; bezeichnenderweise färbt der Kommentator Vergils Harpyien-Episode mit Dante-Motiven ein, indem er die Harpyien auch bei Vergil in einem Wald auf Bäumen, statt auf Klippen ansiedelt. Abb. 5: Männliche Harpyien mit Bärten, Miniatur von ca. 1400 zum 13. Gesang der Divina Commedia. Harpyie 315 Abb. 6: Gabrielle Wittkop, Harpyies. Federzeichnung 1984. 316 Sieglinde Hartmann Die Rückbesinnung auf die lateinische Antike löste bekanntlich zuerst in Italien einen vielschichtigen geistigen Erneuerungsprozeß aus. Daran war bereits Dante maßgeblich beteiligt, da er Vergil zu seinem Lehrmeister im Inferno erhoben hatte. Die Nähe zu Vergil oder genauer: seine unmittelbare Gegenwart in der Dichtung hatte jedoch zur Folge, daß Dantes Bezug auf mittelalterliche Inspirationsquellen wie beispielsweise auf das Exempel der mordenden und trauernden Harpyie stark überschattet oder vollkommen unkenntlich wurde. Bodo Guthmüller hat kürzlich nachgezeichnet, in welch widersprüchlichen und gegenläufigen Bewegungen sich im Italien des Humanismus, der Renaissance und der Gegenreformation das Mythenverständnis im Rekurs auf die antiken Quellen entwickelt hat. 83 Dabei zeigt Guthmüller anhand von Ovids Metamorphosen-Rezeption, wie neue Formen des Antikenverständnisses die mittelalterlichen Methoden christlicher Allegorese der mythischen »fabulae zu Predigtzwecken« obsolet werden lassen, 84 und warum schließlich »die christliche Allegorese heidnischer Autoren durch das Konzil von Trient offiziell verboten wird«. 85 Eine ähnliche Entwicklung bestätigt sich für den Harpyienmythos. Bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts, d. h. bis zum Verdikt des Trienter Konzils (1545 - 1563), bleibt die Geschichte von der »neuen« Harpyie in Kanzelreden und Predigtliteratur lebendig. Gleichzeitig erlebt die »alte« Harpyie eine erstaunliche Renaissance in Kunst und Literatur, zuerst in Italien, später in den übrigen Ländern Europas. Im Aussehen unterscheiden sich die neuen »alten« Harpyie allerdings wenig von ihren mittelalterlichen Vorgängerinnen. Wie es Karl August Wirth beschrieben hat, wird ihre Gestalt in einer ebenso großen Vielfalt von unterschiedlich zusammengesetzten Mischwesen dargestellt, wie es seit Pierres Bestiaire und den Illustrationen der Predigtbücher dokumentiert ist. 86 Auch wirken sie nicht immer als scheußliche Ungeheuer, sondern können, wie in Vasaris Urteil, sogar als »arpie bellissime« (wunderschöne Harpyien) gepriesen und geschätzt werden. 87 Möglicherweise lebt in der Schönheit dieser Harpyien ein Wesenszug aus der ältesten Mythenüberlieferung auf, wie wir sie aus Hesiod kennen, oder sogar aus noch älteren vorgeschichtlichen Zeiten. Die Renaissance der schönen Harpyien sollte jedoch nur von kurzer Dauer sein. Denn unsere Neuzeit hat lediglich das Bild von den häßlichen »alten« Harpyien bewahrt: Als Inbegriff weiblicher Furien, sprichwörtlicher Ausbund an Raffgier und als Projektion männlicher Ängste vor weiblicher Übermacht (s. Abb. 6). 83 Guthmüller, Bodo: Formen des Mythenverständnisses um 1500. In: Literatur, Musik und Kunst im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1989 bis 1992. Hrsg. H. Boockmann u.a. Göttingen 1995, S. 109 - 131. 84 Guthmüller (Fn. 83), S. 131. 85 Guthmüller (Fn. 83), S. 120. 86 Wirth (Fn. 1), S. 68 - 75. 87 In seinen Vite de’ più eccellenti pittori, scultori ed architetti beschreibt Vasari in diesen Termini einen Sokkel, den der Bildhauer Desiderio da Settignano geschaffen hatte, zitiert nach Wirth (Fn. 1), S. 68 f. Harpyie 317 Bibliographische Hinweise Baer, Eva: Sphinxes and Harpies in Medieval Islamic Art. An Iconographical Study. Jerusalem 1965. Bode, Georg Heinrich: Scriptores rerum mythicarum Latini tres Romae super reperti. Celle 1834; Nachdr. Hildesheim 1968. Bologna, Corrado (Hrsg. u. Übers.): Liber monstrorum de diversis generibus. Libro delle mirabili difformità. Mailand 1977 (Nuova Corona, Bd. 5). Brieger, Peter: Pictorial Commentaries to the Commedia. In: Brieger. P.; Meiss, M.; Singleton, Ch. S: Illuminated Manuscripts of the Divine Comedy. Bd. 1. Princeton; New York 1969. Cahiers, Charles; Martin, Arthur: Le Physiologus ou Bestiaire. In: Mélanges d’Archéologie, d’Histoire et de Littérature. Bd. II. Paris 1851, S. 85 - 232, Harpyien-Artikel, Kap. 16, S. 157 f.; Abb. der Harpyie ebda. im Anhang. Christ, Karl: Le Livre du Paumier. Ein Beitrag zur Kenntnis der altfranzösischen Mystik. In: Mittelalterliche Handschriften. Festgabe für Hermann Degering. Leipzig 1926. Fleischer, Wolfgang: Untersuchungen zur Palmbaumallegorie im Mittelalter. München 1976. Guthmüller, Bodo: Formen des Mythenverständnisses um 1500. In: Literatur, Musik und Kunst im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1989 bis 1992. Hrsg. H. Boockmann u.a. Göttingen 1995. Harris, Nigel: The Latin and German ›Etymachia‹. Textual History, Edition, Commentary. Tübingen 1994 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters, Bd. 102). Mermier, Guy R.: A medieval Book of Beasts. Pierre de Beauvais’ Bestiary. Followed by a diplomatic transcription of the Malines (Mechelen) ms. of Pierre de Beauvais, short version, and with, in appendix, an English transl. of the Cambrai Bestiary. Lewiston 1992. Nicolai Vptoni. De studio militari. Libri Quatuor. Typis Rogeri Norton, impensis Johannis Martin, Jacobi Allestrye. London 1654, Harpyienkapitel: S.174. L’Ottimo Commento della Divina Commedia. Testo inedito d’un contemporaneo di Dante. Hrsg. von der Accademia della Crusca. Pisa 1827. Bd. 1, S. 240 - 242 (13. Gesang). Pfeiffer, Franz (Hrsg.): Das Buch der Natur von Konrad von Megenberg. 1861; Nachdr. Hildesheim 1971; Harpyienkapitel ebda. S.167 - 168. Rowland, Beryl: Harpies. In: Mythical and Fabulous Creatures. A Source Book and Research Guide. New York u.a. 1987. Schmidtke, Dietrich: Geistliche Tierinterpretationen in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters (1100 - 1500) 2 Teile. Berlin 1968 (Diss.); zur Harpyie s. Teil II, S. 514, Anm. 380. Stadler, Hermann (Hrsg): Albertus Magnus De Animalibus Libri XXVI. Bd. 2. Münster 1920, Harpyienkapitel Lib. XXIII, 3. Strauch, Philipp: Palma Contemplationis. In: PBB 48 (1924), S.335 - 375. Thomae Cantipratensis Bonum universale de apibus. Douai 1627 (Stadtu. Univ.-Bibl. Frankfurt am Main, Sign. 44/ 7905). Harpyienbeschreibung in Kap. XXV,3. Thomas von Chantimpré: De natura Rerum. Hrsg. H. Boese. Berlin; New York 1973, Harpyie in Kap. V, 4. Vincentius Bellovacensis. Speculum Naturale. Douai 1624. Faksimile-Ausg. Graz 1964. Liber XVI, Harpyie in Cap. 94. Weis-Liebersdorf, J.E.: Das Kirchenjahr in 156 gotischen Federzeichnungen. Ulrich von Lilienfeld und die Eichstätter Evangelienpostille. Studien zur Geschichte der Armenbibel und ihrer Fortbildungen. Strassburg 1913. Wirth, Karl-August: Wege und Abwege der Überlieferungsgeschichte von Gestalten des klassischantiken Mythos: das Bild der Harpyie im ausgehenden Mittelalter (und bei Giorgio Vasari). Novi Sad 1981 (17 Zbornik Za Likovne Umetnosti 17). 318 Sieglinde Hartmann Zink, Michel: La prédication en langue romane avant 1300. Paris 1982. Zorzelti, N. (Hrsg.) und Berlioz, G (Übers.): Le premier mythographe du Vatican. Paris 1995 (= Collection des Universités de France), Harpyie auf S. 17 - 18, 35 und 63. Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Harpyie über menschlichem Opfer, Miniatur zu Pierre de Beauvais, Bestiaire. Hs. von 1245, Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, ms. fr. 3516, Bl. 201 v ; schwarz-weiß Wiedergabe mit freundlicher Erlaubnis der Bibliothèque de l’Arsenal. Abb. 2: Palmbaumallegorie mit Harpyie auf 2. Ast rechts unten, Andachtsbild von ca. 1300, 118 x 84 mm, aus den Rotschild Canticles, MS 404, Yale University, New Haven, USA, Beinecke Rare Book and Ms-Library. Beschreibung und Analyse der Hs. bei Hamburger, Jeffrey F.: The Rothschild Canticles. Art and Mysticism in Flanders and the Rhineland circa 1300. Yale University Press New Haven and London 1990; Abb. der Palmbaumallegorie als Illustration 4 im Anhang; ikonographische und geistesgeschichtliche Einordnung der Palmbaumallegorie auf S.35 - 42. Abb. 3: Pfau, Wiedehopf, Schwan, Harpyie (4. Ast oben Mitte mit Rose), Nachtigall, Schwalbe und Phönix auf dem Palmbaum, Holzschnitt zu einer mhd. Version der Palmbaumallegorie. In: Gaistliche vßlegung des lebens Jhesu Christi. Wiegendruck. Augsburg bei Joh. Schobser, ca. 1490/ 95; abgebildet und erläutert bei Philipp Strauch: Palma Contemplationis. In: PBB 48 (1924), S. 374 B. Abb. 4: Drei Harpyien, Wappen des William Tenderden, ca. 1450, gezeichnet von G. Mussett nach der Hs. L. 8, Bl. 45, College of Arms, London; abgebildet bei R. Dennys: The Heraldic Imagination. London 1975, S. 127. Abb. 5: Männliche Harpyien mit Bärten, Miniatur zu Dantes Divina Commedia, 13. Gesang; Rom, Biblioteca Angelica, ms. 1102, Anfang des 15. Jahrhunderts, Bl. 11 r ; die Abb. erfolgt »su concessione del Ministero per i Beni Culturali ed Ambientali« und schließt das Verbot jeglicher weiteren Reproduktion ohne ausdrückliche Genehmigung des Ministeriums ein. Abb. 6: Gabrielle Wittkop, Harpyies, Federzeichnung weiß gehöht auf olivgrünem Karton, 35 x 41,5 cm, 1984; Privatbesitz (S. Hartmann), Frankfurt am Main. Hexen Christa Habiger-Tuczay (Wien) Die weitverbreitete Meinung, daß Hexen 1 und Hexenverfolgungen im »finsteren« Mittelalter stattgefunden haben, ließ sich auch nicht durch die großangelegten Untersuchungen der letzten Jahrzehnte ausrotten. 2 Gewisse Abstriche sind in rezenter Zeit sogar in den populärwissenschaftlichen Werken zu beobachten, welche die echte Hexenverfolgung ins Spätmittelalter verlegen. Der Terminus Hexe wird aber nach wie vor für alle weiblichen Personen, die in irgendeiner Form mit übernatürlichen Kräften zu tun haben, angewendet bzw. verwendet. Daß das nicht gerade zu einer Klärung der Begriffe beiträgt, liegt auf der Hand, weshalb ich vorerst für das Mittelalter je nach Zeugnis entweder den Begriff Zauberin oder den in der jeweiligen Quelle ausgewiesenen spezifischen Begriff verwende. Aus der Antike ist die Vorstellung von der »strix« oder »striga« als Bezeichnung für nachtfahrende Frauen schon bei Schriftstellern wie Plinius dem Älteren, Apuleius, Petronius und anderen 3 überliefert. Die Nachtfahrerinnen Die Luftfahrt, bereits bei Apuleius anschaulich geschildert, geschieht mittels einer Salbe oder auf dem Rücken eines Tieres bzw. mit Hilfe der Verwandlung in einen Vogel. Grimm erwähnt in seiner Deutschen Mythologie, daß der Göttin Freja Besen geweiht wurden, eine Vorstellung, die bereits die Assyrer gekannt haben sollen. Die antiken Nachtfahrerinnen waren eigentlich Gespenster, Verbindungen zum Vampirglauben lassen sich auch bei den Lamien 4 und Empusen nachweisen. 1 Hier eine Bibliographie bieten zu wollen, wäre ein undankbares Unterfangen, da kaum ein Gebiet der Volks- und Völkerkunde in den letzten Jahrezehnten auf mehr Aufmerksamkeit gestoßen ist. Außer der zitierten Literatur habe ich vor allem benutzt: Russell, Jeffrey, B: Witchcraft in the Middle Ages. Ithaca 1972. - Kieckhefer, Richard: European Witch Trials. Berkely 1976. - Kors, C./ Peters, Edward: Witchcraft in Europe 1100 - 1700, a documentary History. Philadelphia 1972. - Lobouvie, Eva: Zauberei und Hexenwesen. Frankfurt 1991. - Ziegeler, Wolfgang: Möglichkeiten der Kritik am Hexen-und Zauberwesen im ausgehenden Mittelalter. Wien 1973. - Leutenbauer, Siegfried: Hexerei und Zaubereidelikt in der Literatur von 1450 - 1550. Berlin 1972. - Marwick, Max (Hrsg.): Witchcraft and Sorcery. London 1982. - Biedermann, Hans: Hexen. Graz 1974. - McFarlane, A.: Witchcraft in Tudor and Stuart England. A Regional and comparative Study. London 1970. - Michelet, Jules: Satanism and Witchcraft, a Study in Medieval Superstition. London 1965. - Russell, Jeffrey, B.: A History of Witchcraft, Sorcerers, Heretics, Pagans. London 1980. - Schormann, Gerhard: Der Krieg gegen die Hexen. Göttingen 1991. 2 Oft wird in der volkskundlichen Forschung, die mit der frühen Neuzeit ansetzt, nicht zwischen der mittelalterlichen Zauberin und den tatsächlich angeklagten Frauen unterschieden, bzw. ohne Einsehen der mittelalterlichen Zeugnisse, einfach zurückgeschlossen. 3 Vgl. Luck, Georg: Hexen und Zauberei in der römischen Dichtung. Zürich 1962. 4 Lecouteux, Claude: Lamia. In: Euphorion 75 (1981), S. 360 - 365. 320 Christa Habiger-Tuczay Auch bei mittelalterlichen Zeugnissen von »Holden« und »Unholden« hat es sich offenbar nicht um menschliche Wesen, sondern ebenfalls um Gespenster gehandelt. Die Volkssitte, diesen Nachtfahrerinnen Speiseopfer darzubringen, um dem Haus Glück zu gewährleisten, läßt sich in Italien, Gallien und Germanien nachweisen. 5 Damit gekoppelt war auch der Verwandlungsmythos, 6 der auch in Zusammenhang mit den Zauberkünsten auftritt. Bereits bei Apuleius ging ja die Verwandlung der Zauberin ihrem Flug voraus. Simon Magus wird neben seinen Flugkünsten auch der Gebrauch einer verwandlungskräftigen Zaubersalbe nachgesagt. 7 Die Herstellung der Salbe gehört in den Bereich des »Veneficiums«, des Schadenzaubers mittels Giften, und damit auch des »Maleficiums«, wodurch die Verbindung Maleficium-Verwandlung hergestellt ist. Stephan von Bourbon stellte sich die Holden Frauen auf Besen reitend vor, die Unholden auf Wölfen. In Gervasius’ von Tilbury Otia Imperialia hat die Vorstellung bereits ambivalenten Charakter: Einerseits nimmt er an, daß die Nachtfahrenden nicht-menschliche Wesen seien, aber an einer anderen Stelle spricht er davon, daß die Nachtfahrerinnen doch wirklich flögen. Er habe eine Frau gekannt, welche an Nachtfahrten teilgenommen hatte. Diese hatte nicht beachtet, daß sie dabei den Namen Christi nicht aussprechen dürfe, und wäre durch diesen Tabubruch in die Rhone gestürzt. 8 An die Tierverwandlung, vorzugsweise in Katzen, glaubt er ebenfalls: »Scimus quasdam (feminas) in forma cattarum a furtiva vigilantibus de nocte visas ac vulneratas in crastino vulnera truncationesque membrorum ostendisse.« 9 Die Antikerezeption hat eine Vermischung der römischen Striga mit der volkstümlichen Nachtfahrerin nach sich gezogen, wodurch aber auch die »unholden« Aspekte ein gewisses Übergewicht erhielten. In der Legenda Aurea des Jacobus de Voragine begegnen wir dieser Mischform. Er erzählt die Geschichte des Germanus von Auxerre, der Herberge in einem fremden Haus nahm und nach dem Abendessen bemerkt, daß der Tisch neuerlich gedeckt wird. Als er verwundert nach den neuen Gästen fragt, gibt man ihm zur Antwort: »do seitent si, es were eine gewonheit, daz die frowen die des nahtes farent gewonlich in daz hus koment; den were der tisch bereit. Hie von wachet Sant Germanus. do sach er daz vil túfel in menschen personen koment und sattent an den tisch.« 10 5 Hansen hat sie als keltische Vorstellung angesehen. Vgl. Hansen, Joseph: Zauberwahn, Inquisition und Hexenprozesse im Mittelalter und die Enstehung der großen Hexenverfolgung. München 1900, S. 17. 6 Über die Verwandlungskulte vgl. bes. Höfler, Otto: Verwandlungskulte, Volkssagen und Mythen. Wien 1973 (Sitzungsberichte der Österr. Akademie der Wiss., Phil-Hist. Kl., Bd. 279). 7 Kraus: Realenzyklopädie der christlichen Altertümer. Bd. II, S. 1001. - Döllinger, Johann: Christentum und Kirche, S. 322. - Kuhlen, Franz-Josef: Zur Geschichte der Schmerz-, Schlaf- und Betäubungsmittel in Mittelalter und früher Neuzeit, Stuttgart 1983, S. 266 - 357. Die Zauberin bei Apuleius bestreicht sich ebenfalls mit einer Salbe. - Ferckel, Siegbert: ›Hexensalbe‹ und ihre Wirkungen. In: Kosmos. Bd. 50. Stuttgart 1954, S. 414 f. - Peuckert, Will-Erich: Hexensalben. In: Medizinischer Monatsspiegel 8 (August 1960). 8 Vgl. Hansen (Fn. 5), S. 139 f. Liebniz, G.W.: Scriptores rerum Brunsvicensium. Bd. I. Hannover 1701, 3 c. 93; Die König Otto IV. gewidmete Schrift vermischte antike Lamienvorstellungen mit dem Alp, der Männer und Frauen drücken, aber auch die die Gebeine der Menschen zerstückeln und wieder zusammensetzen kann. 9 Gervasius von Tilbury: Otia imperialia I,c.93, zit. nach Hansen (Fn. 5), S. 140. 10 Aus Krapp, William (Hrsg.): Die Elsässische Legenda Aurea. Tübingen 1980, Bd. I, S. 480. Hexen 321 Aus dem Gesagten geht also hervor, daß die volkstümliche Vorstellung von den nachtfahrenden Frauen mit den Zauberinnen vorerst gar nicht bzw. nur am Rande zu tun hatte. In der Lex Salica 11 und den alemannischen und langobardischen Rechtsvorschriften wird ein Volksglauben erwähnt, der von vampirartigen Frauen, die Menschen innerlich verzehren können, weiß. Der Edictus Rothari (643) kennt ebenfalls diese Vorstellung und erklärt, daß Christen, die solches glauben, dem Wahn verhaftet wären und jene Frauen, die man als Strigen denunzierte, nicht zu bestrafen seien. Im alemannischen Recht gab es sogar eine Bestimmung gegen diese wahnhaften Denunziationen. Der Canon Episcopi 12 , der das erste Zeugnis der Nachtfahrerinnen im Detail beinhaltet, beschäftigt sich gleichfalls mit diesem Volksglauben. Er ermahnt die Bischöfe, diesen Wahn auszurotten, den der Teufel verwirrten Frauen im Traum eingibt, daß diese nämlich in der Nacht auf Tieren mit der Göttin Diana durch die Luft reiten. Diese Vorstellungen sollen als Wahnbilder bekämpft und als Vorspiegelungen des Teufels entlarvt werden. Burkhard von Worms (1020) hebt durch die Bezeichnung »Holde« den freundlichen Charakter dieser Wesen hervor. Wer diesem Wahn trotz Ermahnungen anhing, wurde mit zwei Jahren Buße bestraft. Burkhard erwähnt aber auch die unholden nachtfahrenden Frauen, welche die Christenmenschen mit unsichtbaren Waffen töten 13 , deren Fleisch kochen und essen und anstelle des Herzens einen anderen Gegenstand dafür einsetzen. Am nächsten Tag beleben sie ihre Opfer wieder. Der Dichter Stricker widmet ihnen in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts eine eingehende Beschreibung und tut die Vorstellung als kindischen Aberglauben ab: »Ich bin gewesen ze Portigâl und ze Dolêt sunder twâl, mir ist kunt Kalatrâ daz lant, [...] waz ein unholde waere? daz gehôrt ich nie gelesen, waz ein unholde müge werden. daz ein wip ein chalp rite, daz waeren wunderliche site, ode rit ûf einer dehsen, ode ûf einem hûspesem nâch slaze ze Halle füer; [...] daz en wip ein man über schrite und im sin herze ûz snite, wie zaeme daz einem wibe, daz sie snite ûz einem lîbe ein herze, und stieze dar in strô, wie möhter leben ode werden frô? [...] 11 Ward, John, O.: Witchcraft and Sorcery in the Later Roman Empire and the Early Middle Ages. In: Prudentia 12 (1980), S. 93 - 100. 12 Unverhau, Dagmar: Volksglaube und Aberglaube als glaubensmäßig nicht sanktionierte Magie auf dem Hintergrund des dämonologischen Hexenbegriffs der Verfolgungszeit. In: Volksreligion im hohen und späten Mittelalter. Hrsg. Peter Dinzelbacher/ Dieter Bauer, S. 375 - 397. 13 Zu »Hexenschuß« vgl. Schmitz, C.A.: Todeszauber in Nordost-Neuguinea. In: Religionsethnologie. Hrsg. Schmitz. Frankfurt/ M. 1964, S. 335 - 374, bes. S. 353 f. 322 Christa Habiger-Tuczay Ich wil iu sagen maere, waz sin rechte unholdaere: daz sint der herren râtgeben.« 14 Herbort von Fritzlar verwendet in seinem Trojaroman 15 das schauerliche Herausnehmen des Herzens als Metapher für die Liebeskrankheit: »Ich han nicht in dem lîbe, / Da miîn herz solde wesen, / Da trage ich ein lîhte vesen, oder ein stro oder eine wisch.«(V. 9418) 16 Jacob Grimm hat zu dieser Vorstellung auch die serbische »vjechtitza« gestellt, welche den schlafenden Männern mit einer Rute die Brust öffnet, das Herz herausnimmt und es aufißt. Die offene Brust schließt sie wieder. Einige leben darauf noch weiter, sterben aber bald. Im alpenländischen Volksglauben erzählt man ähnliches von der Berchta, welche den Körper aufschneidet und mit Heckerling auffüllt. 17 Johann von Salisbury hat beide Vorstellungen, die Holden und die Unholden, als Träume von Ungebildeten bezeichnet. Walter Map will beweisen, daß die Nachtfahrerinnen nicht mit den Frauen identisch seien, die schlafend im Bett liegen und dennoch behaupten auszufahren. Es handelt sich dabei vielmehr um Dämonen, die in Gestalt jener Frauen Böses tun. Er führt ein Beispiel an, in welchem ein Dämon in der Gestalt einer alten Frau bereits drei Kinder erwürgt hatte. Als er ein viertes bedroht, konfrontiert man ihn mit seinem Ebenbild. Der Dämon flüchtet durch ein offenstehendes Fenster. 18 Mensch oder Dämon? Die Anschuldigungen der Spätzeit, daß sich die Hexe an Ernte und Vieh vergreife und Wetterzauberei übe, bringt sie nicht nur mit den alten Tempestari in Zusammenhang, sondern auch mit einem Korndämon. 19 Es handelt sich dabei um den »Bilwiz«, den schon Berthold von Regensburg zusammen mit den Nachtfahrerinnen erwähnt: »non debes aliquo modo credere nec hulden nec unhulden nec pilwiz, nahtvare, nahtvrowen [...] Totum sunt demones.« 20 Bei ihm handelt es sich noch um Dämonen, während aus den Nachtfahrerinnen im Gefolge der Diana, Herodias, Abundia oder Berchta plötzlich Frauen werden. Auch der Bilwis entwickelt sich im letzten Viertel des 14. Jahrhunderts zum Zauberer bzw. wird mit den Hexen gleichgesetzt: »Auch wellen und gebieten wir, daß alle 14 Wiener Hs. 428, 154d; Vgl. Schwab, Ute: Die bisher unveröffentlichten geistlichen Bîspelreden des Strickers. Göttingen 1959; Zöllner, Walter/ Gloger, Bruno: Teufelsglaube und Hexenwahn. Wien 1985, S. 47 f. 15 Die Popularität des Trojastoffes im Mittelalter beruht nicht auf der Rezeption von Homers Dichtung, sondern auf den spätantiken Darstellungen der Pseudogeschichtsschreiber Dares Phrygius und Dictys Cretensis. Herbort verfaßte seine Version des Stoffes nach der französischen Fassung des Benoît de Sainte-More im Auftrag des Landgrafen Hermann von Thüringen. Die Datierung schwankt zwischen 1190 und 1210. 16 Frommann, G. K. (Hrsg.): Herbort von Fritzlar: Das liet von Troie. Quedlinburg; Leipzig 1837. 17 Grimm, Jakob: Deutsche Mythologie. Bd. II, S. 902 f.; Waschnitius, Viktor: Perht, Holda und verwandte Gestalten, ein Beitrag zur deutschen Religionsgeschichte. Wien 1913 (Sitzungsberichte der Kais. Akademie der Wiss. Wien Phil-Hist. Kl., Bd. 174). 18 Hansen (Fn. 5), S. 137. 19 Gerlach, Hildegard: Hexe. In: Enzyklopädie des Märchens. Bd. 6. Berlin 1990, Sp. 973. 20 Schönbach, A.E.: Studien zur Geschichte der altdeutschen Predigt. Bd. II: Zeugnisse Bertholds von Regensburg zur Volkskunde. Wien 1900, S. 18. Hexen 323 Zauberer, weydeler, pilwitte, Schwarzkünstler undt wie diese Gotteslesterer megen genandt werden [...]. 21 Lecouteux führt noch weitere Gemeinsamkeiten des Korndämons mit dem Hexenbild an. Den Bilwis faßte man ab 1400 als weibliches Wesen auf, das in Zusammenhang mit dem Flug zum Brocken Erwähnung findet. Es zeigt sich, daß ebenso wie bei der »Hagazussa« ein ursprünglich der niederen Mythologie angehöriges Naturwesen antropomorphisiert und zugleich dämonisiert wurde. »Wenn die Entwicklung des Bilwiz zwischen dem 13. und dem 15. Jahrhundert parallel zu der hagazussa verläuft, so kann man vermuten, daß sich eine kleine Gottheit hinter dem Bilwiz versteckt, wie eine hinter der hagazussa stand.« 22 Auf die langwierige etymologische Diskussion, die das Wort Hexe ausgelöst hat, sei nur kurz eingegangen. Die heute vielfach akzeptierte Meinung stellt das Wort als Kompositum »hag« verwandt mit gallisch »caium«, kymrisch »ke«, angelsächsich »haga«, altnordisch »hagi«, ahd. Glossen »indago« (Einfriedung, abgeschlossenem Weideplatz) mit »zussa« zusammen. Jakob Grimm stellt »lodix« (Decke) bzw. »cingulum« (Gürtel) dazu. Nach Kluge geht »zussa« auf die idg. Wurzel »dheuos/ dhus« (Dämon) zurück. Im angelsächsichen Raum ist das Wort »haegetesse« schon im 8. Jahrhundert bezeugt und wird lateinisch mit »striga«, »furia« und »pythonissa«, »filia noctis« wiedergegeben. Ein Zauberspruch des Lacnunga rückt den Begriff in die Nähe der Elfen. Die Etymologie ist nach wie vor noch nicht abschließend geklärt. Vorerst scheint nur, wie Lecouteux betont, der erste Teil des Kompositums, also »hag«, als Bestimmungswort zahlreicher Termini festzustehen: er bezeichnet das Zaubereiunwesen. 23 Dem Haag als Einfriedung kam kultische Bedeutung zu. »Alle Glaubensvorstellungen und Aberglauben, die der Einfriedung gelten, beweisen, daß dieser Ort - heilig für die alten Germanen - die Wohnstätte eines genius loci (an. landvaettr) ist.« 24 Diese durch einen Zaun geschützte Einfriedung deutet auch eine Verbindung zwischen Hexe und Zaun an. Altnordisch »tunrda« (Zaunreiterin), »hagazussa« wird aus diesem Grund auch oft mit Zaunreiterin übersetzt. Lecouteux führt weiter aus, daß es sich bei diesem genius loci um den gallischen Dusius handeln müsse. Dazu zieht er eine Augustinusstelle heran 25 , wo der Dusius mit einem »Incubus« und »Faunus« gleichgesetzt wird. Auch bei Hinkmar von Reims läßt sich diese Gleichsetzung belegen. Dieser Dusius oder Waldgeist lebt im heutigen bretonischen Volksglauben als »Dus« weiter. 26 Thomas von Cantimpré († 1273) hat sich ebenfalls mit dem Dusius beschäftigt. Allerdings gibt er als dessen Heimat Preußen an und hält ihn für einen Teufel in Menschengestalt, der unter anderen verwerflichen Künsten auch die Nekromantie ausübt. Lecoutoux kommt zum Schluß, daß das Wort »Hagazussa« auf eine Dusia der Einfriedung, also auf einen verweiblichten Genius loci hindeute: 21 Zitat aus den Gesetzen des Hochmeister Konrad von Jungingen (1394) nach Handwörterbuch des Deutschen Aberglaubens, Bd. I, S. 1317. 22 Lecoutoux, Claude: Hagazussa, Striga, Hexe. In: Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung NF 15 (1989), S. 57 - 70. 23 Lecouteux (Fn. 22). 24 Lecouteux (Fn. 22). 25 Augustinus: De civitate Dei. XV, 23. 26 Sébillot, Paul: Le Folk-Lore de France. 4 Bde. Paris 1904 - 1907 (Nachdr. 1968), Bd. I, S. 456. 324 Christa Habiger-Tuczay »...daß die Hexe im heutigen Sinne des Begriffs, keine deutsche Vorstellung ist, was schon die Vielfalt der Bezeichnugen nahelegt. Die alten Germanen kannten Zauberer, Hellseher, Wahrsagerinnen, Traumdeuter usw. Es ist anzunehmen, daß diese Anhänger der weißen wie der schwarzen Magie bei den Christen malem partem gedeutet wurden und sich folglich in Hexen und -meister verwandelten, also in die römische Striga.« 27 Schadenzauber Die Wettermacherei, welche die sogenannten »Tempestari« ausübten, ist bereits aus der Antike bekannt. Agobard, Bischof von Lyon, berichtet in seiner Schrift Gegen die törichte Volksmeinung über die Entstehung von Unwettern (9. Jahrhundert), daß in seiner Heimat sowohl Adelige als auch einfache Leute glaubten, daß Wetterzauberer einen Sturm entfachen und somit die Ernte gefährden bzw. zerstören könnten. Sie drohten den Bauern, daß, wenn sie die geforderten Schutzgelder nicht zahlten wollten, nicht nur Sturm und Hagel zu senden, sondern auch die Ernte zu rauben, die sie dann in ihren Wolkenschiffen nach »Mangonia« verfrachten, um sie dort zu verkaufen. 28 »Ich selbst habe mehrer dieser Narren gesehen, die so absurde Behauptungen für Wahrheit hielten. Sie zeigten der versammelten Menge drei Männer und eine Frau, die angeblich aus diesen über den Wolken fliegenden Schiffen gestürzt waren und seit mehreren Tagen in Ketten gehalten wurden. Jetzt wurden sie vor mich gebracht und sollten gesteinigt werden.« 29 Agobard war imstande diese Strafe zu verhindern. Die Teilnehmer der Synode zu Paris von 829 gehörten offenbar zu den Strafbefürwortern: »Man sagt, daß die Zauberer auch Sturm und Hagelschlag verursachen können, die Zukunft vorhersagen, Feldfrüchte und Milch dem einen wegnehmen und einem andere zukommen lassen und zahllose ähnliche Dinge vermögen. Wenn Männer oder Frauen entdeckt werden, die solche Taten begangen haben, muß man sie ganz besonders streng bestrafen, weil sie sich nicht scheuen, ganz offen dem ruchlosen Teufel zu dienen.« Eine weitere bereits in der Antike bekannte Vorstellung, die man auf die Hexen übertrug, stand ursprünglich nicht in Zusammenhang mit den Strigen, sondern mit einem sexuellen Schadenzauber, der nicht auf bestimmte Zauberpersonen bezogen war, das berüchtigte »Nestelknüpfen«, ein Brauch, der sich noch bis in unser Jahrhundert belegen läßt. 30 Das Ritual besteht darin, daß während einer Trauungszeremonie ein Knoten geknüpft bzw. ein Schloß zugesperrt wird. Dann wirft der Magier Knoten oder Schloß ins Wasser. Hinkmar von Reims erwähnt den Brauch und Vintler 31 listet ihn in seinem Aberglaubenskatalog auf. Als Abwehrzauber empfiehlt sich ein bereits verschlossenens Schloß in der Tasche zu tragen. 32 Der Hexenhammer gib t an, daß die Hexen 27 Lecouteux (Fn. 23), S. 66. 28 Boshof, Egon: Erzbischof Agobard von Lyon. Köln 1969. - Cohn, Norman: Europe’s Inner Demons. An Enquiry Inspired by the Great Witch Hunt. New York 1975, S. 152 f. 29 Agobard: Liber contra in salsam vulgi opinionem de Grandine. Hrsg. P. Migne. Paris (PL, Bd. 104), Sp. 148, übers. v. Riché, Pierre, in: Ders.: Die Welt der Karolinger. Stuttgart 1981, S. 221. 30 Vgl. Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. III, S. 1014. 31 Der Südtiroler Hans von Vintler hatte 1411 das italienische Exempelbuch Fiori di virtù e ines gewissen Tommaso Leoni übersetzt und in Versform gebracht. Vintler listet die zu seiner Zeit gebräuchlichsten abergläubischen Praktiken auf. Vgl. Ziegeler (Fn. 1), vor allem Kapitel II, S. 34 - 61. Hexen 325 »die Erektion des Gliedes, die zur Befruchtung nötig ist, unterdrücken [...] und die Sendung der Geister zu den Gliedern [...] verhindern, indem sie gleichsam die Samenwege versperren, daß er nicht zu den Gefäßen der Zeugung gelangt, oder nicht ausgeschieden oder ausgeschickt wird [...] durch die geheime Kraft der Dämonen, die derartige Hexen täuschen, können sie durch solche dann die Zeugungskraft behexen, daß nämlich der Mann der Fau nicht beiwohnen und die Frau nicht empfangen kann. Und der Grund ist, weil Gott bei diesem Akte, durch die erst Sünde verbreitet wird, mehr zuläßt, als bei den anderen Handlungen der Menschen.« 33 Nestelknüpfen ist ein Analogiezauber, den Handlungen bei der Kastration von Tieren nachgebildet. 34 Überhaupt verdächtigte man besonders die Hexen, Übles gegen die Männlichkeit und die Fruchtbarkeit im Sinne zu haben. Der Hexenhammer verleumdete die Hebammen und stellte sie in die Nähe der Hexen aber auch der Giftmischerinnen, die Liebes- und Abtreibungstränke brauen könnten. Diese angebliche Spezialität der Hexen war schon seit der Antike ein Zaubereidelikt. Schamanistische Vorstellungen Eine weitere recht alte Vorstellung, die dann gleichfalls auf die Hexen übertragen wurde, ist die Gabe der Verwandlung. Die Fähigkeit der Tierverwandlung wurde im Ausgang des Mittelalters mit den Flugvorstellungen gekoppelt. Die Hexe vermag sich in alle Tierarten zu verwandeln, außer eindeutig christlich religiös besetzten Symboltieren wie Taube oder Lamm. Eine der beliebtesten Verwandlungsmöglichkeit en war die in eine Katze, aber auch in Kröte, Hase, Pferd, Schwein, Kuh etc. Als Maus oder Ratte frißt sie die Feldfrüchte, in Katzengestalt hat sie es auf die Milch abgesehen. Die Katze gilt auch als besonderer Schutz- oder Hilfsgeist der Hexe, als »Familiar«, weshalb diese Tiere auch zusammen mit den Frauen verurteilt und hingerichtet wurden. 35 Diese Tiere sind unter anderem auch eines der Indizien, die viele Forscher veranlassen, Hexen mit schamanistischen Vorstellungen in Zusammenhang zu bringen. Die Erzählungen, daß in Katzen verwandelte Frauen in Tiergestalt verletzt wurden und am nächsten Tag dieselben Wunden am Menschenkörper sichtbar waren, stellt Hexen deutlich in den totemistischen schamanistischen Bereich, wie auch die Tranceerlebnisse, in denen sie zu fliegen meinen, bzw. glauben, in Tiergestalt herumzustreifen. Ein weiteres Indiz für diesen Komplex sind Hinweise auf die Hexe als Herrin der Tiere. »[...] daß wir in der Physiognomie der nächtlichen Göttin, und allgemeiner noch in der vielgestaltigen, später in das Sabbatstereotyp eingeflossenen Glaubensschicht, sehr viel ältere Elemente eingelagert sein könnten, überkommen von den Nomadenvölkern Zentralasiens, die wiederum mit den Kulturen der in den Genden des extremen Nordens ansässigen Jäger in Zusammenhang stehen.« 36 32 Zeitschrift für Volkskunde 14, S. 119. 33 Sprenger, Jakob; Institoris, Heinrich: Der Hexenhammer. München 3 1983, Bd. I, S. 175. 34 Vgl. Delaumeau, Jean: Die Angst im Abendland. Hamburg 1989, S. 81. 35 Vgl. Dale-Green, P.: The Cult of the Cat. London 1963, S. 74 - 143. 36 Ginzburg, Carlo: Nächtliche Zusammenkünfte. Die lange Geschichte des Hexensabbat. In: Freibeuter 25 (1985), S. 141. Ders.: Der Sabbat, Berlin 1990. 326 Christa Habiger-Tuczay Bis zu Ginzburgs Untersuchungen über die Benandanti 37 ging die Forschung davon aus, daß der Schamanismus, abgesehen von eindeutig bestimmbaren Beispielen aus dem finno-ugrischen Raum, im europäischen Volksglauben und der Religion des mittelalterlichen Europa und der Neuzeit keine Rolle spielt. Ginzburgs Entdeckung der guten Zauberer in Friaul, die gegen die bösen, die Fruchtbarkeit der Felder gefährdenden, Hexen kämpfen, zog Untersuchungen nach sich, die zu ähnlichen Ergebnissen kamen. Weitreichende Studien der jugoslawischen und ungarischen Volkskundler konnten Parallelen zu den jugoslawischen »kresnik« und den ungarischen »táltos« aufzeigen. Die kresnik kämpften nachts in verwandelter Gestalt gegen die Hexen, die in Gestalt eines weißen Tuches flohen. 38 Diese Kämpfe vollführten sie in Trance: Während der schlafende Körper bewegungslos dalag, focht die Seele in Tiergestalt gegen die Hexen. Ein anderer Gegenspieler der kresnik war »vucodhak«, eine Art Werwolf, der ebenso wie die kresnik und die Benandanti mit einer Glückshaube geboren wurde und deshalb die Fähigkeit zur Verwandlung besaß. In Serbien, Bosnien und Herzegowina heißt der Zauberer »zduhac« und besitzt ebenfalls eine Glückshaube, die ihn zur Verwandlung befähigt. Die Glückshaube hängt auch mit der Vorstellung von der »external soul« zusammen. 39 Die ungarische Variante, der »táltos«, wurde wie seine jugoslawischen Kollegen der Zauberei und Hexerei bezichtigt, konnte genauso den Vorwurf zurückweisen, indem er angab, den Schadenzauber der Hexen wieder rückgängig gemacht bzw. geheilt zu haben. Bei den Prozessen betonten die angeklagten táltos immer wieder, daß sie nicht infolge diabolischer Fähigkeiten, sondern durch die Kraft »gottgefälliger Wissenschaft« 40 zu heilen vermögen. Diese Gewalt erlangt der táltos durch Trance. Die Inquisition sah in den Berichten von jenen Seelenreisen Beweise für Hexerei. Vielen Beschuldigten gelang es, diesen Vorwurf zurückzuweisen und sich der Verurteilung zu entziehen. Im Unterschied zu den Benandanti und auch den kresnik kämpfen die táltos-Zauberer nicht gegen Hexen, sondern gegen andere táltos, was sie als die archaischere Form der im europäischen Volksglauben auftretenden Schamanen ausweist. All diese »Protagonisten der ekstatischen Kulte« wie Benandanti, Werwölfe, kresnike, táltos u.a. stellten sich als Wohltäter, als der Gemeinschaft dienende Menschen dar. Die táltos, die zuweilen die Bauern erpreßten, indem sie drohten, Gewitter zu entfesseln, die Benandanti, die angaben, die in der Gemeinschaft lebenden Hexen identifizieren zu können, zogen oft den Unmut ihrer Mitmenschen auf sich. Sie betätigten sich als Heiler, die in ihrer engen Umgebung als Hexer gefürchtet, Kranke von weitentfernten Gegenden versorgten. Vergeblich beteuerten sie, ihre Kräfte dem Enthexen zu widmen, man blieb bei der Meinung, daß jemand, der enthexen könne, auch das Hexen beherrschen müsse. »Wenn also eine schamanenähnliche Figur die Rolle des Heilers übernahm, wie es die Benandanti taten, geriet sie unweigerlich in die Falle, von ihrer eigenen Gemeinschaft als Hexe betrachtet zu werden.« 41 37 Ginzburg, Carlo: Die Benandanti. Feldkulte und Hexenwesen im 16. und 17. Jahrhundert. Frankfurt/ M. 1980. 38 Klaniczay, Gábor: Heilige, Hexen, Vampire. Vom Nutzen des Übernatürlichen. Berlin 1990, S. 31. 39 Vgl. Tuczay, Christa: Der Unhold ohne Seele. Wien 1982, S. 173 ff. 40 Klaniczay (Fn. 38), S. 36. 41 Klaniczay (Fn. 38), S. 49 f. Hexen 327 Der Sabbat Die typische Ausformung des Hexensabbats war wie auch die Ketzerbewegung zuerst auf Südfrankreich konzentriert. Hier mischte sich die jüdisch-mystische Bewegung mit islamisch-maurischen und häretischen Strömungen. Die Fülle der Quellen ist fast unübersehbar und die Protokolle der Inqusition ergeben die immer gleichen Erörterungen. Als Beispiel sei ein relativ später Bericht angeführt, der jedoch einige sehr interessante Details einthält: »Nun komme ich uff ein ketzerei und sect, davon ich will schreiben, und ist die allergroste und heisset ein irsall und sect Gazariorum, das ist der unholden, und die bei der nacht faren uff besamen, offengabeln, katzen, bocken oder uff andern dingen darzu dienend [...] Zum ersten, wer in die verflucht sect wil komen, so man ine uffnimpt, muss er schweren, als offt er berufft wirt von einem der sect, so soll er von stund an alle ding ligen lassen und mit dem beruffer in die sinagog und samelung gehen, doch also, das der verfurer salben, besame oder stecken mit ime neme, das er dem verfurten antworten sol. Item wie si in die singoga komen, so antwort man den verfurten armen menschen, dem deuffel, der zu stund erscheint in einr gestalt einr schwartzen katzen oder bock, oder in ein anderen gestalt des menschen. Darnach fragt der deuffel oder der verfurer den verfurten, ob er in der gesellschaft wil bleiben und gevolgig wil sein dem verfurer, und so antwort der arme verfurt mensch: ja. Darnach muss er schweren, als hernach steht. Item er schwerdt, das er getreuw wil sein dem ketzermeister und alle seinr gesellschaft; zum anderen, das er alle, die er moge zu solcher gesellschaft bringen, das er fleis dazu thun wollt; zum dritten, das er bis in den dot die heimlichkeit verschwigen wolt; zum vierten, das sie alle die kind, die under drein jarn sint, wollen doten und in die gesellschaft bringen; [...] das sie alle eheleut verwirren wollen und darvor woln sein, das inen ire gemacht verhalten werden mit zauberei oder sunst sachen. Un wenn der arme die artickel also geschwert, so kniet er nider und betet den ketzermeister an und ergibt sich ime und kust ine in den ars, und sie sagen, es sei der deuffel selbs, der uff dem stul sitzt in eins menschen wise und gibt im zins ein glidt von seinem leibe, so er gestirbt. Darnach so sint die in der gesellschaft frolich und freuwen sich des neuen gesellen und ketzers und essen, das sie haben, gebraten und gesodten kinder. Wen sie gessen haben so schreit der deuffel oder der ketzermeister: ›Meselet, Meselet‹ und lescht die liecht aus; darnach lauffen sie undereinander und vermischen sich fleischlich und der vatter mit der dochter, desgleich bruder mit der schwester etc. und halten nit naturlich ordenung in dem werck [...] Item wenn der arme verfurte mensch sich dem deuffel zu lehn hot gegeben, so gibt im der meister ein buchsen mit salben, ein stabe, besame oder was dazu gehort. Uff den muss der verfurt in die schule gehn und lert ine, wie er den stab sol schmeren mit der salbe, und die salbe wirt deuffelisch gemacht von der feistigkeit der kinde, gebaten und gesodt sein, und mit anern vergifften dingen, als schlangen, eidessen, krotten, spinnen. Die salben brauchen sie auch dazu, so sie iematen domit beruren oder bestreichen einmale, muss der mensch eines bosen dots sterben zustunde gehlingen. Item sie machen pulver aus dem inngeweide, aus der lungen, leber, hertz etc. und so es neblichte ist, so werffen sie das pulver in den nebel, der zeucht es uff in die lufft. Derselbig lufft ist vergifft, also das die leut sterben oder sunst ein ewig krankheit gewinen, und das ist die ursach, das in ettlichen dorffern pestilentz regiert und zu allernechst dobei ist man frisch und gesundt.« 42 42 Aus der Chronik des Mathias Widman von Kemnat, Hofkaplan des Kurfürsten Friedrich von der Pfalz in Heidelberg - zit. nach Becker, Gabriele / Bovenschen, Silvia/ Brackert, Helmut [u.a.]: Aus der Zeit der Verzweiflung. Zur Genese und Aktualität des Hexenbildes. Frankfurt/ M. 1977, S. 336 f. 328 Christa Habiger-Tuczay Diese Vorstellungen sind uns bereits als Anschuldigungen gegen die Urchristen, Juden und Ketzer begegnet, und zwar genau in dieser Form: sexuelle Orgie, Lichterverlöschen, Kindestötung und Kannibalismus, Verehrung eines tiergestaltigen Gottes, Krankheiten und Seuchen. Die spätere Vorstellung der Verfolgungszeit, daß die Hexen mit dem Teufel geschlechtlich verkehren bzw. daß sich der Teufel in Frauengestalt Männern nähert, um sie zu verführen, ist im Mittelalter erst ab dem späten 13. Jahrhundert nachgewiesen. Dazu Hansen: »Es ist bis zu diesem Zeitpunkt keiner Instanz eingefallen, einem Zauberer vorzuwerfen, daß er mit Dämonen Unzucht übe.« 43 Die Vorstellung des Verkehrs von Menschen mit elbischen bzw. göttlichen Wesen war im Altertum weit verbreitet, aber stand nicht in Zusammenhang mit Zauberei. Im Altertum und auch später rühmten sich viele Adelsgeschlechter aus einer Verbindung mit halbgöttlichen bzw. elbischen Wesen hervorzugehen. Carlo Ginzburg, hat mit seiner Studie über den Sabbat versucht, verschiedenen Vorurteilen gegenüber dem Stoff, die sowohl von der Seite der Forscher, als auch in den Quellenzeugnissen selbst zum Ausdruck kommen und die Interpretation erschweren, mit einem anderen Ansatzpunkt zu umgehen. Er konzentrierte sich nicht auf die Geschichte der Verfolgung, wie das Gros der Forscher vor und nach ihm 44 , sondern versucht den dahinterliegenden aber verdeckten Mythos freizulegen, also die Problematik religionsgeschichtlich phänomenologisch anzugehen. Das Ergebnis von Ginzburgs Untersuchungen der Verfolger und der Verfolgten ist die Definition des Hexensabbats als »kulturelle Kompromißgestalt« und als »das hybride Resultat eines Konfliktes zwischen Volkskultur und Gelehrtenkultur.« 45 Seit ca. 1114 waren die Kannibalismusanschuldigungen aus der antihäretischen Propaganda verschwunden und nun taucht in den letzten Jahren des 14. Jahrhunderts ein Bericht über eine namenlose Sekte mit dualistischen Vorstellungen auf, die Luzifer, den sie als verstoßenen Bruder Gottes betrachten, anbeten, die Sakramente ablehnen, sexuelle Orgien feiern und die eigenen Kinder töten. 46 Ginzburg regt an, den kathartischen Dualismus in Zusammenhang mit der Herausbildung des Hexensabbats zu überdenken. 47 Er betont abschließend: »Im Bild vom Sabbat hatten wir zwei kulturelle Schichten verschiedener Provenienz unterschieden: Zum einen das von Inquisitoren und Laienrichter ausgebreitete Thema vom Komplott, daß eine Sekte oder feindliche soziale Gruppe geschmiedet haben soll; zum anderen Elemente schamanistischer Provenienz, die in der Volkskultur bereits fest verwurzelt waren, so etwa den magischen Flug und die Tierverwandlung.« 48 Zwischen beiden besteht eine untergründige Affinität. Der chronologische Ablauf der Entwicklung des Phänomens kann folgendermaßen geschehen sein: Von der alten international nachgewiesenen Vorstellung, daß bestimmte Tiere den Kühen oder Ziegen die 43 Hansen (Fn. 5), S. 19. 44 Ginzburg (Fn. 36) bespricht die Forschungsgeschichte S. 1 ff. 45 Ginzburg (Fn. 36), S. 20. 46 Ginzburg (Fn. 36). Der Passus »Errores haereticorum Waldensium«, wonach ein gewisser Bruder Peter 600 Waldenser bekehrte, wobei er neben den Irrtümern dieser auch die einer unbekannten Sekte erwähnt. 47 Ginzburg (Fn. 36), S. 84. 48 Ginzburg (Fn. 36), S. 293. Hexen 329 Milch abziehen, die in Europa mit den Feen und später den Hexen verbunden wurden, können die ebenfalls recht alten Vorstellungen von den Nachzehrern, den eifersüchtigen Toten, die Blut saugen in Analogie gesetzt werden. In der Antike bezeichnete »strix« ursprünglich einen Nachtvogel, der Säuglingsblut trinkt, doch schon Ovid identifiziert strix mit den skythischen Zauberinnen, die sich in Vögel verwandeln und Säuglinge rauben. Stefan von Bourbon übernahm den Begriff, um damit einen Dämon, der in Gestalt eines alten Weibes auf dem Rücken eines Wolfes kleine Kinder ermordete, zu bezeichnen. Den letzten Entwicklungsschritt des Sterotyps stellten jene Frauen dar, die vom Teufel verblendet, ihre eigenen Kinder töten. Die historischen Vorläufer der Hexen wie Juden, Leprakranke, Ketzer, Benandanti, táltos u.a. können ebenso wie diese als Grenzbzw. Schwellengänger bezeichnet werden. Zusammenfassend ist zu sagen, daß der Hexenbegriff des Spätmittelalters nicht mit dem der Zauberin oder Magierin identisch ist, obwohl sich einige Gemeinsamkeiten feststellen lassen. Mit dem Begriff Hexe sind ganz bestimmte klar definierte Attribute verbunden, die sowohl aus den älteren Zauberei- und Aberglaubensvorstellungen als auch aus anderen Bereichen des Volksglaubens, aber auch aus der Definitorik der Theologen stammen. Auch der Ketzeraspekt spielt eine bedeutende Rolle, insbesondere bei der Entwicklung der Ketzersabbatvorstellung zum Hexensabbat. Die Gleichung Zauberin = Hexe geht nicht auf. Auch das bündische Element, Hexen als Hexensekte in Geheimgesellschaften organisiert, unterscheidet sie von den Zauberern, die stets als Einzelpersonen auftraten. 330 Christa Habiger-Tuczay Bibliographische Hinweise Quellen Hartlieb, Johann: Buch aller verbotenen Kunst. Hrsg. Dora Ulm. Halle 1914. Herbort von Fritzlar: Das liet von Troie. Hrsg. G. K. Frommann. Quedlinburg; Leipzig 1837. Caesarius von Heisterbach: Hundert auserlesene, wunderbare und merkwürdige Geschichten. Hrsg. O. Hellinghaus. Aachen 1925. Die Elsässische Legenda Aurea. Hrsg. 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Ziegeler, Wolfgang: Möglichkeiten der Kritik am Hexen- und Zauberwesen im ausgehenden Mittelalter. Wien 1973. Zöllner, Walter/ Gloger, Bruno: Teufelsglaube und Hexenwahn. Wien 1985. Incubus Christa Habiger-Tuczay (Wien) Das aus dem Lateinischen »incubare« (»auf etwas liegen«) abgeleitete Wort bezeichnet in der christlichen theologischen Überlieferung einen dämonischen Verführer bzw. Liebhaber. Im Spätlateinischen war der Terminus allerdings noch auf einen Alptraum bzw. durch einen Alp 1 verursachten sexuellen Traum begrenzt. Später wurde der Begriff in Bezug auf den männlichen Dämon, der Frauen zur körperlichen Liebe verführte, erweitert. Der Succubus bezeichnete das weibliche Pendant zum Incubus und spielte besonders in der Heiligenlegende als Illustration der Versuchung der männlichen Heiligen eine topische Rolle. Das Konzept findet sich bereits in antiken Belegen. Als herausragendes und bekanntestes Beispiel sind die als lüstern bezeichneten Elementargeister, Faune und Satyrn, zu nennen. Strabo erwähnt sie in seinen Geographika (I, 19) und Petronius im Satyricon (38, 8). Zur Zeit des Horaz glaubte man nächtliches Asthma und Alpträume von den Ephialtes oder Incubi verursacht. In späterer Zeit übertrug man die Vorstellung auf wollüstige Träume von Waldgeistern. In der Bibel (Gen. 6, 1) heißt es: »Als die Menschenkinder sich auf der Erdoberfläche zu mehren begannen und ihnen Töchter geboren wurden, da sahen die Gotteskinder, daß die Menschentöchter schöne seien und nahmen sich zu Frauen, welche immer sie wollten.« Über Augustinus, Hieronymus und Isidor von Sevilla 2 fanden die Begriffe Eingang in die mittelalterliche Theologie. Jene Gotteskinder (d.i. Söhne) beschäftigten die Theologen vielfach und regten zu unterschiedlichen Deutungen und Kommentaren an. Dabei setzte sich die Ansicht durch, daß es sich dabei um gefallene Engel handeln müsse. 3 Mensch und Dämon Die zahlreichen Geschlechtergründungssagen, die von einer halbmenschlichen bzw. halbgöttlichen Abstammung erzählen, lassen sich einerseits auf antike Vorstellungen und andererseits auf volkssprachlich-heidnische Traditionen zurückführen. Merovech 4 , der mythische Stammvater der Merowinger galt als Sohn des Meergottes. Die Bibel (Gen. 6, 1) läßt die Riesen aus der Verbindung der Söhne Gottes, welche mit gefallenen Engeln gleichzusetzen sind, mit den Töchtern der Menschen entspringen. 1 Stith Thompson hat Alp und Incubus der gleichen Kategorie zugeordnet und aufeinanderfolgen lassen: Mot. F 471.1 Nightmare; F 471.2 Incubus; F. 471.2.0.1 Demon lover; F 471.2.1 Succubus (Thompson, Stith: Motif-Index of Folk-Literature. 5 Bde. Kopenhagen 1955 - 58). 2 Isidor von Sevilla: Etymologiae seu Origines. Hrsg. W.M. Lindsay. Isidori Hispalensis episcopus etymoligiarum sive originum libri XX.II. (= scriptorum classicorum Bibliothecae Oxoniensis Lat. 8, 1 - 2) Oxoni 1911. VIII 9. 3 Vgl. Roskoff, Gustav: Die Geschichte des Teufels. Stuttgart 1993 (Nachdr.), S. 219. - Augustinus: De civitate Dei. Bde. I-III. Übers. C.J. Perl. Salzburg 1951 - 1953 (CSEL 40, 1 - 2), III, 5. 4 Grimm, Jakob: Deutsche Sagen, Nr. 419. 334 Christa Habiger-Tuczay Burkhard von Worms leugnet, daß es elfenartige Wesen gebe, die sich mit den Menschen verbinden, 5 aber später im 13. und 14. Jahrhundert treten diese Legenden gehäuft auf, nicht zuletzt wegen der Popularität des Merlinstoffes. Guibert von Nogent berichtet um 1120 nicht nur, daß sein Vater durch Zauberei am Vollzug der Ehe gehindert wurde, sondern auch, daß seine Mutter in Gestalt eines Incubus vom Teufel besucht worden war. Dieser konnte jedoch von einem Engel vertrieben werden. 6 Wilhelm von Paris hält diese Erzählungen für einen von Dämonen hervorgerufenen Traum, in dem ein erzwungener Verkehr stattfinde. Er bestreitet auch, daß Dämonen Nachkommen zeugen können. Um ein Vorurteil handelt es sich bei dem Bericht des Goten Jordanis, welcher in seiner Getica (um 550) behauptet, daß die verhaßten Hunnen Dämonenabkömmlinge seien 7 : »Magae mulieres, Halirunnae [...] quas spiritis immundi per heremum vagantes dum vidissent et eorum complexibus in coitu miscuissent, genus hoc ferocissimum ediderunt.« 8 In Prokopios Anekdota aus dem 6. Jahrhundert heißt es, daß Justinian der Sohn eines Dämons gewesen sei. Damals sei seiner Mutter ein Dämon erschienen, den sie aber nicht sehen, sondern dessen Anwesenheit sie lediglich spüren konnte. Er hätte ihr beigewohnt und wäre wie ein Traum (! ) verschwunden. Robert, der Vater Wilhelms des Eroberers, sogar Luther, Alexander der Große 9 , Plato, Caesar, Scipio Africanus, Romulus und Remus, Merlin, die Einwohner von Zypern etc. 10 sollen von Dämonen abstammen. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts war die Incubus-Vorstellung durchaus populär, wie die zahlreichen Varianten des Merlin- 11 und Melusinestoffes u.a. beweisen. Auch den gallischen Korndämon Dusius bezeichnet Augustinus als Incubus und erklärt den tatsächlichen sexuellen Umgang der Waldgeister mit Menschenfrauen als erwiesen. Jedes Leugnen des Sachverhaltes wäre unverschämt. 12 Als bedeutendster Vermittler der Incubus-Vorstellung kann Isidor von Sevilla gelten. 13 Im Corrector (d.i. das 19. Buch des Decretums) des Burkard von Worms († 1025) wird die Existenz der Succubi bestritten. 14 Psellus (1018 - ca. 1078) belegt als erster die absichtliche Verführung durch Incubi und Sucubi. Walter Map (1180) hat in seiner 5 Vgl. Hansen, Joseph: Zauberwahn, Inquisition und Hexenprozeß im Mittelalter. München 1900 (Nachdr. 1964), S. 83. 6 Hansen (Fn. 5), S. 142. 7 Wilhelm von Paris: Getica, 2. 24 (MG. Auct. ant., Bd. 89). 8 Wilhelm von Paris (Fn. 7). 9 In die Literaturgeschichte als »Trug des Nectanebos« eingegangen. Die Mutter Alexanders, vom Zauberer Nectanebos getäuscht, glaubte sich einem Gott hinzugeben, da ihr der Zauberer in Schlangengestalt erscheint. Vgl. Weinreich, Otto: Der Trug des Nectanebos. Leipzig 1911. 10 Molitor nennt Merlin im Dialogus de lamiis et pythonicis mulieribus einen Wechselbalg. 11 Nach Beda Venerabilis, Robert von Cluny, Martin von Troppau war er Sohn eines Incubus und einer Tochter des englischen Königs. (M.G. SS. 22,420). 12 Augustinus (Fn. 3), l. XV, c. 23. 13 Isidor von Sevilla: Etymologiae seu Origines. Hrsg. W. M. Lindsay. Oxonii 1911, XI, 3, 22 (Fn. 2); Hrabanus Maurus: De rerum naturis seu De universo. Hrsg. P. Migne (PL, Bd. 111), VII, 7; Liber monstrorum, I, 16; Gervasius von Tilbury: Otia imperialia. Hrsg. Felix Liebrecht. 1856, I, 18; Thomas von Cantimpré: Liber de natura rerum. Hrsg. H. Boese. o.O. 1973, III, 1. Vincent von Beauvais: Speculum historiale. Douai 1624 (Nachdr. 1964), I, 92: Faunus=Satyrus=Incubus=ficarius=homo silvestris; XXXI, 127. 14 Burkard von Worms: Corrector. Hrsg. P. Migne. Paris (PL), 140, 68,69,151,152,169. Incubus 335 Schrift De nugis curialium 15 zahlreiche Volkserzählungen von solchen Dämonen-Menschen-Verbindungen wiedergegeben. Besonders die Früchte dieser Verbindungen regte die Phantasie der Dichter an und gab zu Diskussionen und Spekulationen Anlaß. Da die ursprüngliche Vorstellung von Fruchtbarkeitsdämonen ausging, ergab sich zwangsläufig die Vorstellung von einer zahlreichen Nachkommenschaft. Doch diente das Konzept nicht allein zur Erhellung des mystischen Dunkels, die Geschlechtsgründer umgab, sondern wurde fester Bestandteil alltäglicher Glaubensvorstellungen. Das beweist der Bericht des Guibert von Nogent, der von seiner Mutter erzählt, daß sie den Teufel nächtens zu Besuch hatte. Dieser wurde aber glücklicherweise von einem Engel vertrieben. Durch dieses nächtliche Zwischenspiel kam es, daß Guibert erst nach sieben Jahren geboren wurde, da sich sein Vater seiner Mutter erst viel später nähern konnte. 16 Wilhelm von Paris, der den Incubi und Succubi in seiner Lebensbeschreibung einen längeren Absatz widmet, erwähnt ein interessantes Detail: Daß sich die Incubi besonders von Frauen mit schönem Haar angezogen fühlten, da diese dessen Pflege und damit ihrer Eitelkeit besonderen Raum gäben. Bernhard von Clairvaux soll »eigenhändig« durch Exorzismus einen Incubus vertrieben haben, wie Caesarius von Heisterbach (1180 - 1240) in seinem Dialogus miraculorum (1150) berichtet. 17 Matthäus Paris weiß von einem zu seiner Zeit im 13. Jahrhundert lebenden Dämonenkind. 18 Wilhelm von Paris wiedrum leugnet die Zeugungsfähigkeit der Dämonen. Wie allerdings käme es dann zu den behaupteten Nachkommen? Die Dämonen gaukeln den Menschen lediglich Halluzinationen vor (erinnert an die Alptraumvorstellung), aber sie könnten sich männlichen Samen verschaffen und diesen in die Gebärmutter der Frau plazieren. Diese komplizierte Beschreibung hängt mit der Vorstellung vom Luftkörper der Dämonen zusammen. Hervorstechend ist, daß er diesen Dämonenverkehr noch als erzwungen betrachtet, ähnlich einem Besessenheitsanfall. Der Incubus als Liebhaber In der Dietrichepik kommt eine Variante des Succubusglaubens vor. Als Dietrichs Mutter mit ihm schwanger ist, nähert sich ihr der böse Geist Machmet (Mohammed) in der Gestalt ihres Mannes Dietmar: »Als des berners muter sein swanger ward da machet ein böser geist machmet sein gespenst eins nachtens da dietmar in der reiss was, da trumte ir wie sie bey irem man dietmar lege. Da sie erwachet, da greiff sie neben sich, vnd greiff auf einen holen geist, da sprach der geist. Ich sag dir, der sun den du treist wort der sterckest geist der ye geborn ward.« 19 Incubi sollen besonders gern weibliche Heilige gequält haben. So z.B. die heilige Margaretha von Cartona: Während sie betete, sang der Teufel schmutztige Lieder und wollte sie zum Mitsingen animieren, was ihm allerdings mißlang. In der Vita des heiligen Bern- 15 Walter Map: De nugis curialium. Hrsg. M. R. James, Aned. Oxon. XIV (1914). 16 Guibert von Nogent: De vita sua. I c.12, 13. Hrsg. P. Migne. Paris (PL, Bd. 156), Sp. 857. 17 Caesarius von Heisterbach: Dialogus miraculorum. Hrsg. V. A. Hilka. 3 Bde. Bonn 1933 - 1937, Dial. 3,7. 18 Matthäus Paris: Chronica minor sive Historia Anglorum. o.O 1866 - 69 (Rer. Brit. Script., Bd. 44), Otia Imperialia III, 61. 19 Heldenbuch, Heldenlieder aus dem Sagenkreis Dietrichs von Bern und der Nibelungen. Hrsg. Friedrich von der Hagen. 2 Bde. Leipzig 1855, 6, 37 - 7,2. 336 Christa Habiger-Tuczay hard wird erzählt, daß bei einer Visitation in Nantes, 1135, eine Frau zu ihm gebracht wurde, welche 6 Jahre mit einem Incubus als Liebhaber gelebt hatte. Im 7. Jahr hatte der Ehemann ihre Untreue entdeckt und sie verlassen. Der Teufel bestand aber weiterhin auf der Beziehung, doch St. Bernhard gelang es, diesen zu vertreiben. Ab dem 13. Jahrhundert wird das Konzept, welches beim Decretum noch als unsinnig, bei Wilhelm von Paris u.a. als Angriff der Dämonen auf Menschen, nun als freiwillige Befriedigung sündiger Lust betrachtet. In engem Zusammenhang steht dieser Perspektivenwechsel mit der Vorstellung des freiwilligen Paktes 20 des Menschen mit einem dämonischen Wesen. Einen Fall brachte man vor den Inquisitor Sylvester Priarias, in dem eine Frau ihrer sündige Lust unbemerkt an der Seite ihres Ehemanns frönen konnte. Caesarius von Heisterbach erzählt in einer seiner Teufelsgeschichten von einem Bonner Priester, der seine liebliche Tochter, vor den lüsterenen Augen der Kanoniker verbarg. Doch besuchte diese der Teufel in Jünglingsgestalt. Schließlich beichtet das Mädchen seinem Vater, der es fortsandte. Der Teufel, um seine Gespielin betrogen, bedrohte den Priester und stieß ihn so heftig vor die Brust, daß er an den Folgen nach drei Tagen starb. In den apokryphen Thomasakten bittet der heilige Thomas einen Incubus zu verschwinden, der grollend bemerkt, daß er sich nun eine andere Dame suchen müsse, anstatt jener, die er schon 35 Jahre besessen habe. Der bereits erwähnte Inquisitor Prieras beschreibt in seiner Schrift De strigi magis (1521) die Verwendung eines doppelten Penis durch Incuben. Die volkstümliche Vorstellung wurde fester Bestandteil von theologischen Abhandlungen. Man debattierte über die Natur der Incubi (Körper oder Geist), das Ausmaß der Sünde, die der Verkehr mit diesen repräsentierte und die Techniken des Verkehrs selbst. »The curiosity of the judges was insatiable to learn all the possible details as to sexual intercourse and their industry in pushing the examinations was rewarded by an abundance of foul imagination.« 21 Papst Benedict XIV. behandelt in De Servorum Dei Beatificatione die Genesisstelle (VI, 4) als Beispiel für Incubi und Succubi. Papst Innozenz VIII. in seiner (Hexen)bulle Summi desiderantes affectibus (1484) und Bonaventura halten ebenfalls den Verkehr zwischen Menschen und Dämonen für möglich. Augustinus und sein wichtigster Nachfolger, Thomas von Aquin 22 , stimmen überein, daß die Dämonen entweder Leichname besetzten oder neue Körper aus den Elementen erschaffen. Martin von Arles meinte, daß diese Samen aus Leichen herauspressen oder ihn von den nächtlichen Ergüssen der Männer nähmen. Petrus von Avila verstieg sich sogar zu der Bemerkung, daß auf diese Weise der Antichrist in die Welt kommen werde: »sicut aliqui senserunt de generatione Merline, et forte quod illo modo concipietur Antichristus.« 23 Die Vorstellung verfestigte sich insoweit, daß sie als tatsächliches Verbrechen in die Rechtsvorschriften einging und auch geahndet werden konnte und als gewichtiger Vorwurf in den Prozessen - die Teufelsbuhlschaft kam bei den Hexen einem Pakt gleich - behandelt wurde. Der älteste Beleg von 1275 stammt aus den Akten des Inquisitors von 20 Vgl. Hansen (Fn. 5), S.167 ff.; Harmening, Dieter: Superstitio. Berlin 1979, S.116 ff. 21 Lea, Henry C: Materials towards a History of Witchcraft. New York 1957. 22 Thomas von Aquin: Summa theologica. 1,51,3; Zeugungsunfähigkeit behauptet er in De potentia 6,8. 23 Fol. 106, zit. nach Hansen (Fn. 5), S. 187, A. 1. Incubus 337 Carcassonne. Die Vorstellung des Verkehrs zwischen Menschen und Dämonen war vor dem 13. Jahrhundert allerdings nicht mit der Zaubereivorstellung verbunden. Nachdem die drei wichtigsten mittelalterlichen Theologen, Albertus Magnus, Thomas von Aquin und Bonaventura übereinstimmend die Existenz der Incubi und Succubi bestätigt hatten, konnten die praktischen Konsequenzen aus der christlichen Engels- und Dämonentheorie für das kirchliche und weltliche Strafrecht gezogen werden. Ende des 13. Jahrhunderts ging die Inquisition gegen zahlreiche Personen vor, die des Verbrechens der teuflischen Unzucht angeklagt wurden. Von 1430 an häufen sich die Belege der Inquisition. Sogar Berichte von Kinderhexen 24 , die mit dem Teufel sexuellen Kontakt hatten, sind belegt. Bereits im Templerprozeß hatte dieser Vorwurf einen der Anklagepunkte gebildet. Das Verbrechen des Teufelsverkehrs fügte sich gut in das Bild, das die Kirche von den Häretikern entworfen hatte. Damit konnte die Kirche das alte Konzept vom Dämonenverkehr in die Vorstellung vom Ketzersabbat integrieren, der die Folie für den Hexensabbat abgab. Alle jene Vorstellungskreise, die vordem nicht miteinander verknüpft waren wie: Zauberei, nächtlicher Flug, Kannibalismus, Dämonenverkehr, Sabbat wurde zu einem Schreckbild zusammengefaßt. Nach Johann Weyer wird den Hexen vom Teufel Schein für Wahrheit verkauft, gerade in Bezug auf die Buhlschaft. Durch ihn sind wir in den Besitz einiger Aussage von einer als Hexe angeklagten Frau gekommen: »Sey als bald ein mansbild langer gliedmaß vnd schöner gestalt zu jr getrete / mit eim schwartzem mantel sampt anderem gewant angethan [...] und darzu da er jimmer ewig wölle jr Bul sein versprochen hat.« 25 Auch Luther, der sich in seinen Tischreden mit der Thematik beschäftigt hat, diabolisiert die Gestalten des Volksglaubens. Der Teufel scheint nicht nur Hexen verführt zu haben, sondern er hat auch einsame und enttäuschte Frauen in Gestalt eines schönen Jünglings befriedigt. Eine Stelle bei Weyer zeigt aber noch das ältere Bild: wie der Teufel Frauen zu sexuellen Handlungen nötigt: Im Kloster St. Nazareth zu Köln waren die Jungfrauen vom Teufel besessen und zu unzüchtigen Handlungen gezwungen worden. 26 Weyer ist sich nicht sicher, ob es sich dabei um Wunschträume oder tatsächlichen Verkehr der Frauen gehandelt hat. Die Frauen hätten sogar geglaubt, schwanger zu sein, was ihn zu der Bemerkung veranlaßt, daß das wohl nicht möglich sein könne und auf die bereits angesprochene, theologisch konstatierte Zeugungsunfähigkeit der Dämonen rekurriert. Auch die umständliche Theorie mit dem Samenstehlen hält der Mediziner für blanken Unsinn. Er berichtet über den Volksglauben, daß nicht nur der Zauberer Merlin, sondern auch Luther aus der Verbindung mit einem Dämon abstamme. 27 Zu Ende des 15. Jahrhunderts war die Entwicklung der Theorie vom Dämonenverkehr noch nicht ganz abgeschlossen, als die beiden Inquisitioren Sprenger und Insistoris das vorhandene Material zusammenfaßten und systematisch einordneten. Der Malleus maleficarum 28 unterscheidet drei Personengruppen, die mit den Incubi Verkehr haben: 24 Vgl. Weber, Hartwig: Kinderhexenprozesse. Leipzig 1991, S. 143 ff. 25 186r / 691 f., 489 (zit. nach Nahl, Rudolf von: Zauberglaube und Hexenwahn im Gebiet von Rhein und Maas. Spätmittelalterlicher Volksglaube im Werk Johan Weyers (1515 - 1588). Bonn 1983, S. 87. 26 108, 427, 305 (zit. nach Nahl [Fn. 25], S. 88. 27 67r / 338 / 240 (zit. nach Nahl [Fn. 25], S. 91. 338 Christa Habiger-Tuczay 1. Freiwillige Teufelsdiener, die Hexen; 2. jene, die unfreiwillig von den Hexen zum Verkehr mit dem Teufel gezwungen werden; 3. jene, die von den Incubi zum Verkehr gezwungen werden. Die Teufelsbuhlschaft war einer der wichtigsten Anklagepunkte in den Hexenprozessen und wurde, weil der Incubus einer nicht-menschlichen Spezies angehört, als Sodomie, eine der schlimmsten Sünden, bestraft. Alle Hexen, die die beiden Inquisitoren zur Exekution führten, hatten zuvor den Teufelsverkehr gestanden. Die meisten Geständnisse in den europäischen Hexenprozessen erbrachten, daß die Frauen, welche den Sabbat besuchten, dort Geschlechtsverkehr mit dem Teufel hatten. Die berühmteste irische Hexe, Lady Alice Kyteler, wurde 1324 u.a. beschuldigt, mit dem Robert Artissan genannten Incubus verkehrt, Orgien gefeiert und eine Gruppe von dreizehn gebildet zu haben. 29 Während die früheren Belege die Intensität der Lust beim Dämonenverkehr betonten, häufen sich in der Spätzeit die Belege der Schmerzen beim Teufelsverkehr. Beschreibungen kreisen um die Kälte des Teufelsgliedes und seines Samens. Diese Kälte wurde auf verschiedene Weise erklärt. 30 Henry More (1653) war überzeugt, daß daß der Teufel aus komprimierter, also flüssiger Luft bestünde und deshalb eiskalt wäre. Succubi Im jüdischen Sohar findet sich die Vorstellung, daß die erotischen Träume bei Männern durch Succubi hervorgerufen würden. Im frühen Christentum stand wohl die Succubus- Vorstellung im Vordergrund in Zusammenhang mit der Tatsache, daß sich überwiegend Männer als Einsiedler zurückzogen. Die frühen Heiligen waren den Belästigungen von Succuben ausgesetzt, so der heilige Hieronymus u.a. Die meisten waren imstande, die Versuchung abzuwehren, nur St. Victorinus gab sich dem schönen Teufel hin. Durch diese Ausschweifungen geschwächt wurde er innerhalb eines Monats dahingerafft. Bei den zahlreichen Legenden um Gerbert von Aurillac, den späteren Papst Sylvester II. (999 - 1003) hören wir von der Begegnung des jungen Gerbert mit Meridiana 31 , einem Feenwesen, welches sich mit ihm verbindet und ihm jede Nacht erscheint. Johann Nider (1435) berichtet, daß beim Konzil von Konstanz (1414 - 1418) viele Prostituierte ihre Dienste anboten. Besonderen Erfolg soll ein Succubus gehabt haben, der sogar mit seinen großen Verdiensten prahlte. Nider weiß auch von einem Bordellbesitzer, den man deshalb zum Tode verurteilte, weil er nur Succubi beschäftigte. Erzählungen von dieser Mahrtenehe, die meist durch einen Tabubruch auseinandergeht, finden sich in der Literatur recht häufig. Im Nugis curialium des Walter Map (1181 - 1183) gehören zwei Erzählungen zu diesem Typus. Edric, der Wilde, begegnet im Wald 28 Sprenger, Jakob/ Institoris, Heinrich: Der Hexenhammer (Malleus maleficarum). Aus dem Lateinischen übertragen u. eingeleitet von J. W. R. Schmidt. Berlin 1906 (Nachdr. Darmstadt 1986), Bd. I, S. 39 f.; Bd. II, S. 53 ff. 29 Belege bei Robbins, Rossell Hope: Encyclopedia of Witchcraft and Demonology. London 1959, S. 294. 30 Vgl. Robbins (Fn. 29), S. 466 f. 31 Gualterus Mapes: De nugis curialium. Hrsg. M. R. James. Oxford 1914, IV, 10. Incubus 339 einem Elfenreigen und stiehlt daraus eine Frau, mit der er drei Tage verbringt. Sie erteilt ihm ein Frageverbot, das er bricht. Sie verschwindet, 32 nachdem sie ihm einen Sohn geboren hatte, welcher später ein Heiliger wurde. Die andere Geschichte erzählt von Wastinius, der eine Nixe heiratet. Diese verspricht bei ihm zu bleiben, solange er sie nicht mit seinem Zaum schlägt. Nach einiger Zeit übertritt er dieses Verbot, worauf sie mit den Kindern verschwindet. 33 Offensichtlich hat hier eine Vermischung mit dem alten Schlangenfraumotiv (bzw. Schwanenjungfrau) stattgefunden, wie auch die Geschichte von Henno mit den Zähnen beweist. Dieser trifft im Wald eine Frau, die er heiratet. Hennos Mutter bemerkt, daß die Frau immer vor der Wandlung die Kirche verläßt, sich einschließt und in einen Drachen verwandelt. Als der Priester sie mit Weihwasser besprengt, flieht sie heulend 34 übers Dach. Die Melusinensage geht in ihren Ursprüngen auf Gaufridus Athioderus zurück und ist durch Gervasius von Tilbury bezeugt. 1340 wurde sie mit dem Geschlecht von Lusignan verknüpft. Auch Melusine verwandelt sich einmal in der Woche vom Nabel abwärts in eine Schlange. Paracelsus hat später aus dieser Tatsache auf einen Teufelspakt geschlossen: »Ebenso ist ihr geschehen, denn der Hexerei ist sie nicht frei gewesen. Sie hat teil daran gehabt. Daraus dann ist ein superstitiotes gefolgt. Dasz sie am Samstag hat müssen ein Wurm sein, das ist ihr Gelübde gegen Beelzebub gewesen, damit er ihr zu dem mann hülfe.« 35 Peter von Staufenberg (in der Erzählung des Egenolf von Staufenberg) verbindet sich mit einer «merminne«, die der Priester als Teufelin, also als Succubus, entlarvt: »Der tüvel in der helle / ist üwer slafgeselle« (V. 953). 36 Auffällig erscheint, daß in den literarischen Bearbeitungen oft eine Art Exorzismus stattfindet. Im zitierten Fall identifiziert der Priester die Frau als Teufelin und zwingt den Jüngling, diese zu verlassen, um seine Seele zu retten. Die von den übernatürlichen Frauen durch geistlichen Eingriff verlassenen Geliebten zeigen sich in den wenigsten Beispielen besonders erfreut über diese »Erlösung« aus den Klauen des Teufelsweibes. Oft geht mit dem Verschwinden der Frau auch der Verlust von Glück, Reichtum und vor allem der gemeinsamen Kinder einher. 37 Teufelskinder Obwohl der Incubus allgemein als zeugungsunfähig galt und der Succubus als nicht gebärfähig, erscheinen beide in Geburtslegenden, um magisch-teuflische Fähigkeiten, die bestimmten Menschen zugeschrieben wurden, zu erklären. Mehr und mehr verfestigt sich der Gedanke, daß aus der Verbindung mit einem dämonischen Wesen immer mißgestaltete Kinder, Monstren, hervorgehen müßten. Auch aus der Ehe des Ritters mit Melu- 32 Gualterus Mapes (Fn. 31). 33 Gualterus Mapes (Fn. 31), II, 11. 34 Gualterus Mapes (Fn. 31), IV, 9. 35 Paracelsus: Werke. Hrsg. W. E. Peuckert. Darmstadt 1967, Bd. III, S. 487 f. 36 Egenolf von Staufenberg: Der Ritter von Staufenberg. Hrsg. Grunewald. 1979. 37 Vgl. Lecouteux, Claude: Zur Entstehung der Melusinensage. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 98 (1979), S. 73 - 85; Le Goff, Jacques: Für ein anderes Mittelalter. Frankfurt/ M. 1984, S. 147 f. 340 Christa Habiger-Tuczay sine entspringt ein einziges »normales« Kind, alle anderen tragen körperlichen Mißbildungen, sie sind »wunderlich«. 1275 soll in Toulouse Angèle de la Barthe, eine 56jährige Frau, innerhalb von mehreren Jahren jede Nacht Beischlaf mit einem Dämon gehabt haben. Das Kind aus dieser Verbindung, halb Wolf und halb Schlange, ernährte sich von Kleinkindern. Nach zwei Jahren verschwand es. Die Frau wurde verbrannt. 38 Eine Schottin soll ein »monstrum undequaquae aspectu foedum« zur Welt gebracht haben, das die Hebammen aber sofort verbrannten. 39 Manche gebaren Nicht-Menschliches, wie ein Mädchen in Gent, das stinkende Würmer zur Welt brachte 40 , und eine Dienstmagd gebar Nägel und Glas. 41 Eine gewisse Vermischung trat mit dem Konzept des Wechselbalges 42 ein, den man sich als häßliches und mißgebildetes Geschöpf vorstellt. Die Teufel würden, so die Volksmeinung, den Müttern ihre Kinder stehlen und diese Teufelskinder zurücklassen. 43 Dieser Kindertausch erhielt den Stellenwert einer göttlichen Strafe für die Sünden. Erzählungen von Mißgeburten verschiedenster Art finden sich vor allem in der Exempel- und Historienliteratur, die sie als göttliche Strafe für individuelles Vergehen verstanden wissen wollen. Die Dissertation des Johann Klein, 1698 vorgelegt an der Universität Rostock, listet die monströsen Nachkommen auf. Der Glaube an die Verfügungskraft des Teufels und seines dämonischen Heeres ist bis in die Jetztzeit besonders in den konservativen Kreisen des Christentums ungebrochen. 44 Erste rationale Erklärungen des Phänomens finden sich in medizinischen Abhandlungen des 17. Jahrhunderts. Dort wird wieder auf die Verbindung der Vorstellung mit Alpträumen hingewiesen. Zedlers Universallexikon schreibt den Incubus der verderbten Phantasie der »Weibs=personen« zu: »Sie machen aus einem Traum auch einen wirklichen Beyschlaff. Heut zu tage glaubt man es ihnen nicht mehr, daher auch die Comoedie vom Incubo und Succubo nicht mehr wie vordem gespielt wird.« 45 38 Vgl. Hansen (Fn. 5), S. 309. 39 Boethius: Hist. Scotor, liber VIII, fol. 149 l (zit. nach Meyer, Carl: Der Aberglaube des Mittelalters und der nächstfolgenden Jahrhunderte. Basel 1884, S. 266). 40 Meyer (Fn. 39), A. 8. 41 Weyer (Fn. 21), 216b f. 42 Aus der Incubus-Succubus-Zeugung entstehen nach Heinrich Institoris (Hexenhammer [Fn. 28], 2, 270) »campsores« Mißgeburten. Vgl. Brückner, Wolfgang (Hrsg.): Volkserzählung und Reformation. Ein Handbuch zur Tradierung und Funktion von Erzählstoffen und Erzählliteratur im Protestantismus. Berlin 1974, S. 433, Nr. 21; S. 479, Nr. 310; S. 445, Nr. 282; S. 444 ff. 43 Vgl. Weber (Fn. 18), S. 143 f. 44 Hansens Aussage von 1900 hat noch immer Geltung: Die katholische Theologie hat selbst bis heute noch nicht die Kraft besessen, sich von dieser geschmacklosen Ausgeburt einer unsauberen Phantasie zu befreien (Hansen [Fn. 5], S. 188 f.). 45 Zedler, J. H.: Einschl. D. Suppl, Bde. 68 Bde., Leipzig; Halle 1732 - 54, Bd. 40, Sp. 1744. Incubus 341 Bibliographische Hinweise Quellen Augustinus: De civitate Dei. CSEL 40, 1 - 2. Übers. C.J. Perl. Bde. I - III. Salzburg 1951 - 1953. Caesarius von Heisterbach: Die Wundergeschichten. Hrsg. V. A. Hilka. 3 Bde. Bonn 1933 - 1937. Egenolf von Staufenberg: Der Ritter von Staufenberg. Hrsg. V. E. Grunewald. Tübingen 1979 (ATB, Bd. 88). Gervasius von Tilbury: Otia imperialia. Hrsg. Felix Liebrecht. o.O. 1856. Gualterus Mapes: De nugis curialium. Hrsg.v. M. R. James. Oxford 1914. Heldenbuch, Heldenlieder aus dem Sagenkreis Dietrichs von Bern und der Nibelungen. Hrsg. Friedrich von der Hagen. 2 Bde. Leipzig 1855. Hrabanus Maurus: De rerum naturis seu De universo. Hrsg. P. Migne. Paris (PL, Bd. 111, 9 - 614). Jordanes: De origine actibusque Getarum. Hrsg. P. Migne. Paris (PL, Bd. 106, 121 - 394). Paracelsus: Werke. Hrsg. v. W.E. Peuckert. Darmstadt 1967. Sprenger, Jakob; Institoris, Heinrich: Der Hexenhammer (Malleus maleficarum). Aus dem Lateinischern übertr. u. eingeleitet von J.W.R. Schmidt. Berlin 1906 (Nachdr. Darmstadt 1986). Thomas von Cantimpré: De natura rerum. Hrsg. H. Boese. o.O. 1973. Vincent von Beauvais: Speculum historiale. Douai 1624 (Nachdr. 1964). Forschungsliteratur Biedermann, Hans: Handlexikon der magischen Künste von der Spätantike bis zum 19. Jahrhundert. Graz 1973, S. 256 f. Blöcker-Walter, Monika: Imago fidelis - Incubus. Die Umdeutung eines Traumbildes im Mittelalter. In: Variorum munera florum. Festschrift H. F. Haefele. Sigmaringen 1985, S. 205 - 209. Brückner, Wolfgang (Hrsg.): Volkserzählung und Reformation. 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Diese Stelle wurde mit der Vorstellung vom Klabautermann in Verbindung gebracht und Alberich gewissermaßen als Vorläufer dieser - freilich erst Jahrhunderte später in der Sagenüberlieferung dokumentierten - Gestalt ausgemacht. 2 Dieser Hinweis auf eine dem neuzeitlichen Klabautermann ähnliche Figur aus dem Ortnit ist in der mittelhochdeutschen Literatur nicht vereinzelt. Lecouteux hat in seinem Artikel über den Bilwiz 3 eine Stelle aus dem Jüngeren Titurel angeführt. Das Schiff des Schionatulander gerät in einen fürchterlichen Sturm, der die Reisenden zu Tode ängstigt. Die Gewalt des Unwetters illustriert der Text folgendermaßen: »schrawaz, pilwiz wart nie so snel so des mastboumes ende und orte.« 4 Die Stelle ist mit Wolf und Lecouteux, der sich ihm anschließt, wohl folgendermaßen zu deuten: »›dem Schrabas-Bilwis wurde nie so schnell Ende und Spitze des Mastbaumes‹ (dabei »snel« wohl noch in der Bedeutung »elastisch, schnellend«) = ›nie wurde der Bilwis auf Ende und Spitze des Mastbaums so geschnellt, so geschaukelt‹«. 5 Der bilwiz ist ein in der mittelhochdeutschen Literatur - die meisten Belege stammen aus dem bairisch-österreichischen Raum - öfter erwähnter Naturdämon, der allein oder in Gruppen in den Wäldern oder im Gebirge wohnt, mit dem Meer hingegen sonst nie in Verbindung steht. Zum ersten Mal wird der Bilwiz um 1220 in Wolframs Willehalm als pfeilschießender Geist erwähnt. Lecouteux sieht in ihm eine ursprünglich göttliche Gestalt, die sich im Laufe des Mittelalters zunächst zum Zwerg wandelt - er erscheint als Verwandter von Schrat und Kobold -, im Hoch- und Spätmittelalter mit den Wohlstandsmehrern und -minderern sowie den Nachtfahrenden vermengt wird, was zur Iden- 1 Ortnit und die Wolfdietriche. Hrsg. A. Amelung u. O. Jänicke. In: Deutsches Heldenbuch, Bd. III. Berlin 1878, hier: Ortnit, Str. 229. 2 Vgl. Kluge, Friedrich: Seemannssprache. Wortgeschichtliches Handbuch deutscher Schifferausdrücke älterer und jüngerer Zeit. Halle 1911, S. 450 - 51; Kluge verweist auf G. Gundermann. 3 Vgl. Lecouteux, Claude: Der Bilwiz. Überlegungen zu seiner Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte. In: Euphorion 82 (1988), S. 238 - 250, hier S. 239. 4 Albrecht von Scharfenberg: Jüngerer Titurel. Bd II/ 1. Hrsg. W. Wolf. Berlin 1964 (DTM, Bd. 55), Str. 2583/ 4. 5 Wolf, Alfred: Die germanische Sippe bil. Eine Entsprechung zu Mana. Mit einem Anhang über den Bilwis. In: Uppsala Universitets Årsskrift 1930, S. 17 - 156, hier: S. 145. - Vgl. Lecouteux (Fn. 3), S. 239, Anm. 8. 344 Karin Lichtblau tifikation des Bilwiz mit der Hexe führt. Vom 16. Jahrhundert an betrachtet man den Bilwiz hauptsächlich als Korndämon. In jüngeren Sagen scheint er dann eine Art Sammelbegriff geworden zu sein, der ganz allgemein kleinwüchsige Kreaturen der niederen Mythologie bezeichnet. 6 Albrecht erwähnt den Bilwiz noch ein zweites Mal (V. 4116), und zwar als lärmenden Waldgeist: »›Geu, geu! ‹ so hal ir krien. von schrabaz, pilwihten, fumf tusent imbe der pien so vil der ruch in walde niht enpflihten moht in aberillen ir geœze.« 7 Beide Male wird der Bilwiz mit dem Schrat, einem Kobold also, verglichen bzw. ihm gleichgestellt. Daraus könnte man einerseits mit Lecouteux schließen, daß der Bilwiz für Albrecht »ein recht unbestimmtes Wesen« 8 ist, andererseits unterstreicht diese Identifikation ein Ineinanderfließen der beiden dämonischen Gestalten, wie sie auch sonst belegt ist. 9 Sowohl der Bilwiz des Jüngeren Titurel als auch der Alberich des Ortnit ließen Assoziationen zum Klabautermann aufkommen. So meint R. J. Buss in seiner Monographie The Klabautermann of the Northern Seas, in Alberich »the only illustration available to me of a supernatural protector of seafarers originating in medieval Germany« 10 sehen zu dürfen. Er parallelisiert die Züge »Wache im Mastkorb«, »Unsichtbarkeit« und »Hilfsbereitschaft« mit den in der Klabautermanntradition geläufigen entsprechenden Motiven. Alberich stellt für ihn einen Hinweis dar auf die Existenz volkstümlicher Erzähltraditionen vor der Herausbildung der eigentlichen Klabautermanngestalt. 11 Lecouteux spricht dem Bilwiz eine ähnliche, vage Verwandtschaft zu: »Um 1270 macht Albrecht von Scharfenberg den Bilwiz zu einem Schiffsgeist, der oben auf dem Maste sitzt und folglich irgendwie mit dem norddeutschen Klabautermann verwandt ist.« 12 Es stellt sich nun die Frage, wie weit die jeweilige Charakteristik des Zwerges Alberich bzw. des Bilwiz auf der Mastspitze tatsächlich eindeutig mit der Figur des Klabautermanns in Verbindung gebracht werden kann. Helge Gerndt definiert den Klabautermann folgendermaßen: »Klabautermann ist in der Seemannsüberlieferung der bekannteste und heute im Deutschen allg. verbreitete Name für den Schutzgeist eines Schiffes, der sich durch Klopfen bemerkbar macht.« 13 Die Etymologie des Wortes ist unsicher und Gerndt 14 verweist auf mindestens vier ver- 6 Vgl. Lecouteux (Fn. 3), bes. S. 249 f. 7 Jüngerer Titurel (Fn. 4), Bd. II/ 2. Berlin 1968 (DTM, Bd. 61), Str. 4171/ 1 ff. 8 Lecouteux (Fn. 3), S. 240. 9 Vgl. dazu in diesem Band den Artikel »Kobold«. 10 »das einzige mir geläufige Beispiel für einen übernatürlichen Beschützer der Seefahrt aus dem mittelalterlichen Deutschland.« Buss, R. J.: The Klabautermann of the Northern Seas. Berkeley; Los Angeles; London 1973, S. 113. 11 Buss (Fn. 10), S. 113. - Vgl. dazu auch: Stammler, Wolfgang: Seemannsbrauch und Seemannsglaube. In: Dt. Philologie im Aufriß. Hrsg. W. Stammler, Bd 3. 3. Aufl. Berlin 1962, Sp. 2901 - 2972, hier Sp. 2945: »Wie im 13. Jahrhundert Alberich auf dem Mast Ortnits Überfahrt von Messina nach Tyrus beschirmt [...], so hat der Klabautermann seinen Platz am Ankerspill [...].« 12 Lecouteux (Fn. 3), S. 239. 13 Gerndt, Helge: Klabautermann. In: Enzyklopädie des Märchens [EM]. Hrsg. K. Ranke u.a., Bd 7. 1993, Sp. 1398 - 1400, hier Sp. 1398. - Vgl. dazu auch: Weiser-Aall, Lily: Klabautermann. In: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens [HdA]. Hrsg. Hanns Bächtold-Stäubli. Berlin 1927 ff. Bd. 4, Sp. 1437 ff. Klabautermann 345 schiedene Deutungsversuche, die ihn als Kobold, Klettermann, Poltermann oder Kalfaterer erklären: Sieht man im Klabautermann eine Sonderform des Kobolds (und in Klabatermann eine sprachlich verderbte Form von Kobold), so läßt er sich aus »*kuba-walda« (»Beschützer des Hauses«) als schützender Geist des Schiffes erklären, der dem Kobold als Hausgeist entspricht. Geht man davon aus, daß »kl(ab)âtermann« als Streckform von »klâtermann« zu »klautern« in der Bedeutung von klettern zu stellen sei, so ist der Klabautermann ein »Klettermann«. Die Erklärung des Klabautermanns als »Poltermann« verdankt sich der Assoziation mit dem lautmalenden Verbum »klabastern«. F. Kluge erklärt den Klabautermann als »Kalfaterer«, der das Schiff ausbessert. 15 Der erste Beleg für den Glauben an den Klabautermann findet sich im 19. Jahrhundert, im ersten Band von T. F. M. Richters Reisen zu Wasser und zu Lande (1821): Dort heißt es von holländischen Matrosen des dänischen Schiffes, auf dem der Autor 1806 von Hamburg nach St. Thomas reiste: »Auch sprachen sie viel von einer Art Kobold, Kalfatermännchen genannt, welche sich die Schiffe zu ihrem Aufenthalte wählen, dieselben in Schutz nehmen, zur Nachtzeit kalfatern, und das Schiffsvolk, wenn es in seinen Dienstpflichten nachlässig ist, mit unsichtbaren Bakkenstreichen oder auf andere Weise bestrafen sollen.« 16 Die Anregung zur weiteren literarischen Verwendung des Motivs ging freilich von den Reisebildern Heinrich Heines (Die Nordsee, 1826) aus. Dieser berichtet, der Steuermann seines Schiffes habe ihm den Klabautermann folgendermaßen erklärt: »Das ist der gute, unsichtbare Schutzpatron der Schiffe, der da verhütet, daß den treuen und ordentlichen Schiffern Unglück begegne, der da überall selbst nachsieht, und sowohl für die Ordnung wie für die gute Fahrt sorgt. [...], man sähe ihn nicht, auch wünsche ihn keiner zu sehen, da er sich nur dann zeige, wenn keine Rettung mehr vorhanden sei. [...] Vor fünfzig oder gar vor hundert Jahren sei auf dem Meere der Glaube an den Klabotermann so stark gewesen, daß man bei Tische immer auch ein Gedeck für denselben aufgelegt, und von jeder Speise, etwa das Beste, auf seinen Teller gelegt habe, ja auf einigen Schiffen geschähe das noch jetzt.« 17 Im 19. Jahrhundert erscheint der Klabautermann in Reisebüchern und ähnlichen Zeugnissen sowie vor allem in Sagensammlungen der Nord- und Ostseeküsten. Seine Namensvarianten sind vielfältig, am häufigsten erscheint er jedoch als Klabautermann, Klabotermann, Klabatermann oder Kalfatermann. Die vielfältigen mit dem Klabautermann verknüpften und oft widersprüchlichen Glaubensinhalte faßt Gerndt folgendermaßen zusammen: »In der Regel gehört er zu einem bestimmten Schiff, aber auch zum Kapitän; er kalfatert die Schiffsplanken oder kündigt durch Von-Bord-Gehen Schiffbruch an; er ist seemännisch gekleidet oder unsichtbar; er warnt oder straft, neckt oder befiehlt, macht auf Schiffbrüchige aufmerksam.« 18 14 Gerndt (Fn. 13), Sp. 1398. - Gerndt, Helge: Fliegender Holländer und Klabautermann. Göttingen 1971 (Schriften zur niederdeutschen Volkskunde, Bd. 4), S. 118. 15 Weitere Deutungsversuche, Belege und Literaturhinweise siehe Gerndt (Fn. 14). S. 118; vgl. Kluge (Fn. 2), S. 451, Anm. 1: Er verweist auf Heines Bericht, demzufolge der Klabautermann mit dem Kalfathammer am Schiff hämmert, um den Zimmermann auf schadhafte Stellen aufmerksam zu machen. 16 Richter, T. F. M.: Reisen zu Wasser und zu Lande (1. Aufl. 1821); zit. nach Gerndt (Fn. 14). S. 14. - Vgl. dazu: Glagla, Helmut: Heinrich Heine und der Klabautermann. In: Beiträge zur deutschen Volks- und Altertumskunde 17 (1978), S. 74 - 79. 17 Heine, Heinrich: Werke und Briefe in 10 Bänden. Bd. 3. Berlin; Weimar 1980, S. 99 f. 346 Karin Lichtblau Was die Erzählungen vom Klabautermann selbst betrifft, 19 so gibt es keinen festen Typus, sondern viele Klabautermann-Sagen, deren Motive entweder statisch das Dasein des Klabautermanns beleuchten, oder mehr auf Handlung zielen und sein Wesen illustrieren. So erzählen die Sagen und Glaubensberichte etwa von der Bindung des Dämons an das Schiff, seinem Bezug zum Kapitän, oder sie thematisieren seine Unsichtbarkeit. Der Klabautermann wird als tatsächliche Realität angesehen - wenigstens in der Mehrzahl der Berichte: Gespräche oder Selbstgespräche werden belauscht, ein Gedeck wird für ihn bereitgestellt und man tut gut daran, ihm nichts Minderwertiges vorzusetzen. Häufig wird auch die Frage erörtert, wie und warum der Geist aufs Schiff kommt: Ob er bereits beim Bau anwesend ist, oder erst erscheint, wenn der Kiel oder das Schiff selbst fertig sind. Meist sieht man in ihm den Geist eines Menschen - v.a. eines Kindes -, dessen Seele aufgrund verschiedener Umstände in einen Baum übergeht (Grabstätte unter einem Baum, Erhängen am Baum, u.ä.). Stets kommt der Klabautermann aber mit dem Holz auf das Schiff. Dabei läßt sich aus den Quellen durchaus eine regionale Differenzierung der Glaubensvorstellungen ablesen: Der norddeutsche Klabautermann ist öfter eine Kinderseele, die mit dem Bauholz ins Schiff gelangt, während man sich im Baltikum und in Skandinavien das Holz, im Sinne einer Baumseele, auch unmittelbar belebt denkt. 20 Fast immer wird er als anthropomorpher Dämon vorgestellt, als klein und alt, kann aber, freilich sehr selten, auch in Tiergestalt auftreten (so z.B. in Estland). Als Aufenthalt bevorzugt er den Laderaum, wo er hämmert, oder die Ladung nachstaut. Er klettert aber auch auf den Mast oder hält sich in der Takelage auf. Sein Wesen ist dem der Kobolde ähnlich: Er neigt zu Scherzen und Schelmereien, kann auch launisch und boshaft sein, wird ursprünglich jedoch stets positiv charakterisiert. Er warnt vor Gefahren, führt sein Schiff zu Schiffbrüchigen, hilft im Sturm, und gibt Befehle, die strikt zu befolgen sind. Seine Autorität ist absolut. Strandet das Schiff, so verteidigt es der nordische Schiffskobold, der Schiffsniss, gegen Strandräuber. 21 Wenn er das Schiff verläßt (als Gründe werden etwa Fluchen, Trunksucht, Toben, Verbrechen der Mannschaft u.ä. genannt), so bedeutet das die schlimmste Strafe für Kapitän und Mannschaft. Allmählich aber verdüstert sich die Gestalt zum Makaber-Drastischen und wird gleichzeitig entdämonisiert. Aus einem den Hausgeistern 22 entsprechenden, den Seeleuten wohlgesonnenen Geist entwickelt er sich 18 Gerndt (Fn. 13), Sp. 1399. 19 Vgl. im folgenden Gerndt (Fn. 13), Sp. 1398 - 1400; dort auch weitere Literatur, v.a. Loorits, Oskar: Der norddeutsche Klabautermann im Ostbaltikum. In: Sitzungsberichte der gelehrten estnischen Gesellschaft 1929. Tartu 1931, S. 76 - 125. 20 Gerndt, Helge: Zur Interethnik im Spiegel von Sagen. Beispiel »Klabautermann«. In: Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte 32/ N.F.17 (1989), S. 21 - 27, S. 22. - Aufgrund dieser Verbindung zu Baum und Holz stellt Mackensen den Klabautermann wohl auch zu den Naturgeistern, vgl. Mackensen, Lutz: Heinzelmännchen. In: Niederdeutsche Zeitschrift für Volkskunde 2 (1924), S. 158 - 173, hier S. 169. 21 Vgl. Feilberg, H. F.: Der Kobold in nordischer Überlieferung. In: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 8 (Berlin 1898), S. 1 - 20, 130 - 146, 264 - 277, hier S. 267. 22 Der Glaube an als »kaboutermannetje« oder ähnlich bezeichnete Geister ist sowohl in den Niederlanden als auch den angrenzenden Gebieten Frankreichs und Deutschlands gut bezeugt, entsprechende Quellen für solcherlei Geistervorstellungen reichen bis ins 16. Jahrhundert zurück, ein landbewohnender »kaboutermannetje« ist seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts belegt. Aus dieser Zeit stammen auch die ersten Belege für den Klabautermann als Schiffsgeist. Der landbewohnende Geist erscheint als Naturgeist oder Hausgeist, ähnlich wie die Zwerge lebt er in Familienverbänden (vgl. Buss [Fn. 10], S. 87 ff). Klabautermann 347 »seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts öfter zu einem Unglück bringenden Ozeangeist [...], der als Knochengestalt und mit Südwester aus dem Meer an Bord der Schiffe steigt«. 23 Von der Jahrhundertmitte an wird die Figur zunehmend ambivalent, und nach 1869 kann der Klabautermann auch ohne menschliches Verschulden als Unglücksbringer auftreten. Die ursprünglich dämonische Figur wird dabei zugleich verharmlost und entdämonisiert: Sein Auftreten wird zu einem schlechten Vorzeichen bzw. bedeutet Mißgeschick (z.B. Schlechtwetter), bringt aber keine existentielle Gefährdung mehr mit sich. 24 Der Glaube an den Klabautermann selbst existiert gleichzeitig in verschiedenen Abstufungen: Echter Glaube (etwa gelegentlich mit dem Auflegen eines Gedecks in der Kajüte), Zweifel, Spott und rationale Erklärungsversuche stehen nebeneinander. Tradiert werden die Klabautermannerzählungen naturgemäß meist von Seeleuten. Es handelt sich dabei in der Mehrzahl um kurze Memorate, es finden sich jedoch auch zahlreiche dialogische Erzählungen, meist Gespräche der Kobolde zweier im Hafen nebeneinanderliegender Schiffe über verborgene Mängel. Die beiden werden belauscht und in der Folge die Mängel - etwa der verfaulte Mast, den der Klabautermann während des letzten Sturms kaum mehr halten konnte - behoben. Häufig wird auch vom Streit mehrerer Geister um das Recht auf das jeweilige Schiff berichtet, in dem diese den Kapitän als Schiedsrichter anrufen. Er entscheidet meist für den Kobold, der schon mit dem Bauholz ins Schiff kam, gegenüber jenem, der erst mit dem Mast das Schiff bezog. Der Motivkomplex vom Streit der Geister scheint auch hier regional gewichtet zu sein: In Deutschland sind es meist Geister verschiedener Schiffe, bei schwedischen Seeleuten eher solche, die dasselbe Schiff für sich beanspruchen. Da der Klabautermann sonst analog zum Kobold ein Einzelgänger ist, hat Gerndt angenommen, daß dieser Erzähltyp vom Streit der Schiffsgeister in Analogie zu den in Gemeinschaften lebenden skandinavischen Trollen entstanden ist. 25 Was verbindet nun die beiden mittelhochdeutschen Belege mit der - modernen - Sagenfigur des Klabautermanns? Wie weit lassen sich dessen wesentliche Charakteristika, 1. (unsichtbare) Präsenz und ständiger Wohnsitz auf dem Schiff, 2. Funktion eines Warners und Schutzgeistes auch in den mittelalterlichen Belegen nachweisen? Was die Bindung des Geistes an das Schiff betrifft, läßt sich feststellen, daß weder Alberich noch der Bilwiz das Schiff im eigentlichen Sinne bewohnen, sie befinden sich umständehalber auf dem Schiff, sie können jedoch beide nicht als ständig dort präsent vorausgesetzt werden: Die Aussagen über den Bilwiz bleiben zu vage, um daraus irgendwelche Schlüsse zu ziehen. Auch für Alberich ist der Aufenthalt auf dem Schiff nicht ausschlaggebend: Er ist an Ortnit gebunden und hat keinen Bezug zum Schiff selbst. Der Klabautermann aber ist in erster Linie an das Schiff, erst später und seltener auch an den Kapitän gebunden, den er dann etwa auch an Land begleitet. Er nähert sich also letztendlich wieder der - hier bereits personalisierten - Hausgeist-Vorstellung, aus der er ursprünglich wohl hervorgegangen war. 26 Was die Funktion des Klabautermanns als Warner oder Schutzgeist betrifft, so kann Alberich durchaus als Schutzgeist gelten. Als Ortnits übernatürlicher Vater ist er zu- 23 Gerndt (Fn. 13), Sp. 1399. 24 Gerndt (Fn. 14), S. 116 - 130. 25 Vgl. Gerndt (Fn. 13), Sp. 1399 und Gerndt (Fn. 20), S. 22. 348 Karin Lichtblau gleich dessen persönlicher Schirmherr, sein Ratgeber und Bote: Er stattet ihn mit Rüstung und Schwert aus und steht ihm auf seiner Brautfahrt gegen die Heiden bei. Die Episode auf dem Schiff ist nur eine von vielen, Alberich ist an die Person des Helden gebunden. Er tarnt sich durch Unsichtbarkeit: Nur Ortnit, der im Besitz des entsprechenden Zauberrings ist, kann ihn sehen. Diese Unsichtbarkeit zählt zu Alberichs Zwergen-, bzw. Elfenattributen 27 (man denke nur an die Tarnkappe und ähnliche Requisiten der Zwerge), und charakterisiert ihn nicht speziell als Schiffsgeist. Es kann also nur von Koinzidenz der Erscheinungsform die Rede sein, in ähnlichen Handlungskonstellationen begründet, die Konzeptionen der Figuren selbst sind durchaus verschieden. Der Bilwiz hingegen als - auch in späterer Überlieferung - zumindest ambivalenter, ursprünglich menschenfeindlicher Naturdämon, der durch seine Geschosse Krankheiten verbreitet, und dem auch Alpcharakter zukommt 28 , kann nicht als Schutzgeist interpretiert werden. Außerdem stellt sich noch die grundsätzliche Frage, wie weit diese Passage des Jüngeren Titurel »wörtlich« verstanden und daher von einer konkreten Anwesenheit des Dämons ausgegangen werden kann: Ist er nicht vielmehr nur als »Dekor« der Sturmszene zu sehen? Der Text spricht nur davon, daß er auf dem Mast hin- und hergeschaukelt wird, er greift weder in die Handlung ein, noch wird ihm symbolische oder schicksalskündende Funktion zugeschrieben. Es handelt sich wohl vielmehr um eine Metapher, die die Heftigkeit des Sturms veranschaulichen soll. Der Bilwiz scheint für Albrecht entsprechend dem mittelalterlichen Volksglauben ein Naturdämon, und zwar ein lärmender Waldgeist zu sein: Wie dieser in den Baumwipfeln im Sturm geschaukelt wird, so beim Seesturm auf der Mastspitze. 29 26 Man hat auch eine Verbindung zum Alraunenglauben in Betracht gezogen. So wurden etwa 1836 in Edinburgh Figuren in Miniatursärgen aufgefunden. Unter Hinweis auf den Alraunenglauben in Mittel- und Norddeutschland und Belege für eine Alrauneneinfuhr von Deutschland nach England im 16. Jahrhundert hat man diesen Fund als Vorratslager eines Händlers interpretiert. Weder in England noch in Irland ließen sich dazu Parallelen feststellen, wohl aber gab es ähnliche Funde in Deutschland, stets in irgendeiner Weise mit der Seefahrt verknüpft, was eine Assoziation mit der Glaubensvorstellung vom Klabautermann nahelegte. Doch bei aller Verwandtschaft der Phänomene (Schutzgeist, Idol), gilt es doch grundsätzlich zwischen Geistern im Haus und Hausgeistern zu unterscheiden (vgl. dazu die Hinweise bei Lindig, Erika: Hausgeister. Die Vorstellungen übernatürlicher Schützer und Helfer in der deutschen Sagenüberlieferung. Frankfurt/ M. 1987 [Artes populares. Studia ethnographica et folkloristica, Bd 14], S. 15 ff.), wenn natürlich auch mit gegenseitiger Beeinflussung zu rechnen ist. Hausgeister sind primär an das Haus, an den Platz oder die dort ansässige Familie, gebunden, erst sekundär (und in späterer Überlieferung) an eine bestimmte Person. Bei Alraunen und ähnlichen Vorstellungen, wie etwa die vom »spiritus familiaris«, vom Geist oder Teufel im Glas etc., handelt es sich in erster Linie um personengebundene Hilfsgeister. - Vgl. dazu Hävernick, Walter: Wunderwurzeln, Alraunen und Hausgeister im deutschen Volksglauben. In: Beiträge zur deutschen Volks- und Altertumskunde 10 (1966), S. 17 - 34, und Hävernick, W.: Der Geist im Sarg. Zur Entstehung der Vorstellung vom Klabautermann. In: Beiträge zur deutschen Volks- und Altertumskunde 17 (1978), S. 68 - 73; Warncke, J.: Die Puppensärge aus dem Schonenfohrer-Schütting zu Lübeck. In: Niederdeutsche Zeitschrift für Volkskunde 9 (1931), S. 191 - 196. 27 Vgl. Lecouteux, Claude: Zwerge und Verwandte. In: Euphorion 75 (1981), S. 366 - 78, hier S. 376 f.: Alberich wird zwar als Zwerg bezeichnet, handelt jedoch wie ein Elf, indem er dem Königspaar zu einem Erben verhilft. Lecouteux nennt als Parallelen Aubéron und ähnliche Zwerggestalten in neueren deutschen Sagen. 28 Mackensen, Lutz: Bilwis. In: HdA, Bd. 1, Sp. 1308 - 1324. 29 Nach mittelalterlicher Anschauung wohnt der Bilwis im Gebirge, gelegentlich werden Bäume als seine Wohnsitze angesehen. Man bringt ihm dort Opfergaben (Kleidergaben und ähnliches), um Übel abzuwehren oder um die Zukunft zu erfahren. Klabautermann 349 Parallelen zum Klabautermann sind folglich auch hier nur generell durch den Handlungszusammenhang gegeben. Die Textstelle bleibt zu ungenau und zu verschwommen, um daraus weitere Schlüsse ziehen zu können. Ich würde eher von verblüffenden Ähnlichkeiten sprechen, die nur auf eines verweisen: Im 13. Jahrhundert war die Existenz bzw. der zeitweilige Aufenthalt eines koboldartigen Wesens - Zwerg oder Bilwiz - auf einem Schiff vorstellbar, und zwar auch im Binnenland. Diesem Wesen sprach man in erster Linie den Mastbaum als Aufenthaltsort zu, als »Seele« des Schiffes durchaus der geeignete Platz für einen dämonischen Helfer. Wenn also von einem »mittelalterlichen Klabautermann« auch nicht die Rede sein kann, so ist doch mit Gerndt 30 darauf hinzuweisen, daß eine allgemeine Vorstellung von einem Schutzpatron der Schiffe schon sehr weit zurückreicht. Sie ist bereits im 6. Jahrhundert in Griechenland bezeugt und Gerndt hält es aus diesem Grunde durchaus für möglich, daß eine solche Vorstellung vielleicht auch im Mittelalter lebendig gewesen sei. Es handelt sich um den Heiligen Phokas, dessen Legende sich vom Schwarzen Meer über alle damals bekannten Meere verbreitete, und von dem eine griechische Homilie Folgendes zu berichten weiß: »Immerfort führen sie [die Seeleute] den Namen des Phokas im Munde, da er ihnen auch deutliche Beweise seines Beistandes liefert. Denn oftmals ward er gesehen, bald des Nachts, wie er beim Drohen eines Sturmes den Steuermann weckte, der beim Ruder eingenickt war, oder sonst, wie er die Taue spannte und das Segelwerk besorgte und vorn vom Schiff aus nach den Untiefen ausspähte. Daher bildete sich auch bei den Seefahrern der Brauch, den Phokas zum Gaste zu haben.« 31 Radermacher meinte in Phokas einen den Laren ähnlichen, verchristlichten heidnischen Dämon bzw. Sondergott sehen zu können: »Phokas vertritt einen älteren Dämon, der dem nordischen Klabautermann urverwandt war und in gleicher Weise, wie er, geehrt wurde. Denn dieser Heilige, der sich den Schiffern zu jeder Tag- und Nachtzeit hilfreich erweist, ohne dass man ihn riefe, der beim Essen ihr Gast ist, muss doch recht eigentlich als Mitbewohner des Schiffes gelten. Dies ist nichts an sich Selbstverständliches, sondern erst erklärlich, wenn man annimmt, daß vor ihm ein echter Sondergott existiert hat, der der gute Geist und Schirmherr der Schiffe war und demgemäß in ihnen hauste. Dort hat man ihn nach einem Brauche, der auch in Griechenland und Rom volkstümlich war [Radermacher verweist auf die Laren] gespeist und getränkt, und als Phokas ihn ersetzte, da wurde der Heilige nicht anders behandelt.« 32 Aufgrund dieses Hinweises vermutete Radermacher, daß mittelalterliche lateinische Legenden in Europa den Glauben an den Heiligen lebendig gehalten und so ein Bindeglied zur Klabautermannsage hergestellt hätten. 33 Radermacher hat zugleich darauf hingewiesen, daß der Heilige Phokas als Beschützer der Seefahrer eine Funktion der Dioskuren übernimmt, 34 die in vielen indoeuropäischen Mythologien nicht nur als Retter und Helfer in der Schlacht, sondern auch als Helfer in Seenot bzw. als see- und hafenschützende Dämonen auftreten (oft in Verbindung 30 Gerndt (Fn. 13), Sp. 1399. 31 Radermacher, Ludwig: St. Phokas. In: Archiv für Religionswissenschaft 7 (1904), S. 445-452, hier S. 449. 32 Radermacher (Fn. 31), S. 447 f. 33 Kluge (Fn. 2); Kluge führt dafür leider keine Belege an. 34 Radermacher (Fn. 31), S. 448. 350 Karin Lichtblau mit ihrer Schwester Helena). 35 Belege dafür liefern verschiedene antike Autoren, wie Euripides, Strabon und Homer. Ihr Kult war in der gesamten hellenistischen Welt verbreitet und ging schon in früher Zeit auf Rom und den Mittelmeerraum über. 36 Die Dioskuren stehen allerdings nur den guten und tugendhaften Schiffern bei. Zwei leuchtende Flämmchen an der Mastspitze zeigen ihre Hilfe im Sturm an. Radermacher führt sie aufgrund dieser Hilfsfunktion als Zeugen »für das Alter der Vorstellungen, die sich an den nordischen Schutzgeist der Schiffe knüpfen« 37 an und versteht Phokas als Hinweis für das Vorhandensein eines »lar familiaris« oder »genius« auf antiken Schiffen. Neben dem heiligen Phokas nennt Radermacher noch ein Reihe anderer christlicher Heiliger, die die Dioskuren in der Verehrung der Seefahrer abgelöst haben: So z.B. den heiligen Petrus Gonzalez in Spanien, den heiligen Erasmus in Neapel, die beide wegen der Lichterscheinung (St. Elmsfeuer) auch den Beinamen St. Elmo, der aber auch als selbständiger Heiliger auftritt, tragen. Dazu zählt aber vor allem auch der heilige Nikolaus, Bischof von Myra in Kleinasien, 38 einer der herausragendsten Heiligen der Christenheit seit dem frühen Mittelalter, dessen Kult sich über ganz Europa verbreitete und der in der Ostkirche bis zum 9. Jahrhundert zum Hauptwundertäter neben Maria und zum volkstümlichsten Heiligen aufgestiegen war. Seine Beliebtheit läßt sich wohl vor allem daran ermessen, daß er bis 1500 über mehr als 200 Kultstätten verfügte. 39 Einer der Hauptgründe für die außergewöhnliche Volkstümlichkeit der Verehrung des heiligen Nikolaus liegt in der Legende von der Rettung der Schiffer aus Sturmesnot, die zur Erbauung der zahlreichen Nikolaikirchen in den norddeutschen und nordeuropäischen Küstenstädten, sowie den Nikolauskapellen an Gewässern ganz allgemein führte. Auch in Weiheformeln für ausfahrende Schiffe wurde er angerufen. 40 Um eine Hungersnot zu beenden, erscheint Nikolaus in dieser Legende - je nach Version noch zu seinen Lebzeiten bzw. erst nach seinem Tode - Kornschiffern auf dem Meer und bittet sie 35 In dieser Funktion entsprechen den Dioskuren in der nordischen Mythologie Thor und Njördr, die wie jene eng mit Holz, Schiffen und mit dem Pferd verbunden sind. Vgl. Buss (Fn. 10), S. 109 f. 36 Fauth, Wolfgang: Dioskuren. In: EM, Bd. 3, 1981, Sp. 681 - 688; vgl. Buss (Fn. 10), S. 109 - 116. - In Rom wurde allerdings nur mehr Castor verehrt, und direkte Hinweise auf eine Seefahrtsfunktion sind kaum nachzuweisen. Spuren dieser Verehrung der Dioskuren meint man noch in heutiger griechischer Folklore gespiegelt zu sehen. Interessant mag in diesem Zusammenhang sein, daß im 4. Jahrhundert entlang des Rheins der Heilige Castor von Koblenz als Patron der Schiffer galt. Auch wenn der Name Castor in frühen Zeiten sehr häufig war, so erscheint es doch auffällig, daß er gerade als Patron der Seefahrer genannt wird, umso mehr als das mit ihm verknüpfte Wunder, die Rettung eines Handelsschiffes auf der Mosel, nicht sehr bemerkenswert ist. Vgl. dazu allgemein: Jaisle, Karl: Die Dioskuren als Retter zur See bei Griechen und Römern und ihr Fortleben in christlichen Legenden. Tübingen 1907. - Harris, J. Rendel: The Dioscuri in the Christian Legends. London 1903. 37 Vgl. Radermacher (Fn. 31), S. 451. 38 Lexikon des Mittelalters. München; Zürich 1977 ff., Bd. 6, 1993, Sp. 1173 - 1176. 39 Nach der Translation von 1087 spielte das Nikolauspatrozinium in Mittel-, Nord- und Osteuropa sowie Teilen Westeuropas bei Gründung neuer Kirchen in Kaufmannssiedlungen an wichtigen Punkten des Fernhandels vor der Entstehung der Städte eine große Rolle. Vgl. die zahlreichen Legendenfassungen und die Nikolausspiele. Vgl. dazu Meisen, Karl: Nikolauskult und Nikolausbrauch im Abendlande. Düsseldorf 1931 (Forschungen zur Volkskunde, Heft 9 - 12). - Lexikon der christlichen Ikonographie. Bd. 8, 1976, Sp. 45 - 58; vgl. dazu auch Wrede, N.: Nikolaus. In: HdA, Bd. 6, Sp. 1086 - 1107; Lexikon des Mittelalters. München; Zürich 1977 ff. Bd. 6, 1993, Sp. 1173 ff. 40 Unter seinen Attributen findet sich auch der Anker; er ist nicht nur der Patron der Schiffer, Seefahrer, Flößer, Fischer, sondern auch der Reisenden, der Brückenbauer, Kolonisten, Kaufleute etc. Klabautermann 351 um einen Teil ihrer Ladung. Mit der Begründung, alles sei genau abgewogen, lehnen diese zunächst ab. Daraufhin bricht ein fürchterlicher Sturm los und um dem sicheren Untergang zu entgehen, sind sie doch zur Hilfe bereit. 41 Vergleicht man diese älteren Schützer der Seefahrer mit dem Klabautermann, so ergeben sich u.a. folgende Übereinstimmungen: Die Dioskuren und der heilige Phokas helfen den Seefahrern, indem sie ihnen bei Sturm beistehen oder böse Geister fernhalten, sie sind wenigstens zeitweise auf dem Schiff präsent und es werden ihnen Speiseopfer dargebracht. Viele dieser Übereinstimmungen liegen wohl in erster Linie in der allgemeinen Lebensweise der Seeleute und ihren Bedürfnissen begründet und beruhen nicht auf genetischer Abhängigkeit, auch wenn Buss gewisse Kontinuitäten vermutet. Zudem bestehen auch grundsätzliche Unterschiede: Der Klabautermann hat seinen Wohnsitz auf dem Schiff selbst (das gilt vielleicht auch für den heiligen Phokas) und zeigt sich nach eigenem Gutdünken, die Dioskuren wie etwa auch der heilige Nikolaus erscheinen nur bei Gefahr und wenn man sie ausdrücklich um Hilfe bittet. Gerndt meint dazu zusammenfassend: »Die verblüffende Ähnlichkeit mit unserem Schiffsgeist darf uns nicht verleiten, leichtfertig die Ahnenreihe des Klabautermann um fast anderthalb dunkle Jahrtausende nach rückwärts zu verlängern, auch nicht, wenn wir als einziges Zwischenglied Alberich einfügen wollen, der [...] als guter Geist bei Ortnits Meerfahrt von Messina nach Tyrus auf dem Schiffsmast saß und nur dem sichtbar ward, der einen bestimmten Ring am Finger trug.« 42 Es handelt sich letztlich um eine Koboldgestalt des 19. Jahrhunderts, die, so Gerndt 43 , wohl als Analogiebildung zum allgemeinen Hausgeist-Glauben zu erklären sein wird. Der Glaube an den Klabautermann hat seinen Ursprung in Norddeutschland, von wo er im 19. Jahrhundert ins Baltikum und nach Dänemark gelangte. 44 Im skandinavischen Raum ist mit dem Einfluß von Erzählmotiven der gemeinskandinavischen Troll-Vorstellung zu rechnen, wie sie sich dann in mecklenburgischen Geschichten vom Streit mehrerer Klabauter-Geister niederschlagen. »Insgesamt sind freilich aufgrund der Quellenlage und der internat. Verflechtung des Seemannslebens kulturräumliche Verteilungen und ›Wanderwege‹ nur mit großer Vorsicht zu erschließen.« 45 Als konkret vorgestellte Figur muß also der Klabautermann als Sagengestalt des 19. Jahrhunderts gelten, wenn auch vieles dafür spricht, daß die Vorstellung eines Schiffsgeistes an sich sehr viel älter ist. Buss hat in seiner Untersuchung The Klabautermann of the Northern Seas einen bereits indogermanischen Ursprung dieser Vorstellung angenommen. Wenn man, mit Gerndt, dies auch wohl als zu gewagt und spekulativ betrachten wird müssen, so sind doch die antiken und spätantiken Zeugnisse für ähnliche Gestalten in diesem Zusammenhang von Interesse. Freilich zeigen sie nur, daß es schon sehr früh eine allgemeine Vorstellung von Schutzgeistern zur See gab, deren Funktion zuerst Götter- und Heroengestalten, später verschiedenen Heiligen zukam - ohne daß ein genetischer Zusammenhang anzunehmen 41 Vgl. Meisen (Fn. 39), S. 249 ff. 42 Gerndt (Fn. 14), S. 161. 43 Gerndt (Fn. 13), Sp. 1400. 44 Thompson, Stith: Motif-Index of Folk-Literature. 5 Bde. Kopenhagen 1955 - 58, Mot. F 485. Ship-spirit. Thompson verweist auf deutsche, englische, finnische, schwedische und dänische Varianten. 45 Gerndt (Fn. 13), Sp. 1400. 352 Karin Lichtblau wäre. Jene Gestalt, die noch am ehesten Ähnlichkeiten mit dem Klabautermann aufweist, ist der Heilige Phokas: denn auch er »bewohnt« das Schiff. Aber von einer Kontinuität, in welcher Form auch immer, kann nicht die Rede sein. Kobold Karin Lichtblau (Wien) Definition und Etymologie Kobold bezeichnet in seiner primären Bedeutung einen häuslichen Schutzgeist oder Hausgeist. Sein Ursprung ist nicht in einer Einzelerscheinung zu suchen, vielmehr sind im Laufe der Zeit viele verschiedene Vorstellungen im Begriff Kobold zusammengeflossen. Die zunächst dämonische Gestalt wird allmählich entmythisiert und entdämonisiert und »Kobold« entwickelt sich im deutschen Sprachgebiet seit dem frühen 13. Jahrhundert zur bis heute gebräuchlichen Bezeichnung für alle neckischen und schalkhaft-tückischen Geister innerhalb und außerhalb des Hauses. 1 Das Haus gilt in der Volksüberlieferung als Tummelplatz einer Vielzahl von Geistern, die z.T. in besonderen Räumen wirken (wie die Kellergeister), als Aufenthaltsort von personenbezogenen Schutzgeistern und Reichtumsmehrern (spiritus familiaris, Alraun, Drak, Flaschengeister etc.), von Neck- und Poltergeistern, spukenden Seelen und anderen mehr. Man wird gut daran tun, im Sinne Erika Lindigs 2 zwischen all diesen »Geistern im Haus« und den eigentlichen »Hausgeistern« zu unterscheiden. Von beiden Gruppen abzuheben sind meiner Ansicht nach auch die personenbezogenen dienstbaren Geister, wie z.B. der Alraun oder die Flaschengeister, die sich zwar z.T. umständehalber innerhalb von Haus und Hof befinden, deren entscheidendes Charakteristikum aber die Dienstverpflichtung für eine ganz bestimmte Person ist. Wichtig scheint mir in erster Linie die Unterscheidung zwischen dämonischen Wesen, die an einen Ort und die dort wohnende Sippe (Hausgeist), bzw. an bestimmte Teile von Haus und Hof und was im weiteren Sinne dazu zählt (Kellergeister, Stallgeister, Almhüttengeister), gebunden sind und den gewissen Menschen dienenden Familiargeistern. Zu dieser Gruppe der »Geister im Haus« würde ich auch die von Lindig als spezielle Berufgruppengeister bezeichneten 1 Vgl. Lindig, Erika: Kobold. In: Enzyklopädie des Märchens [EM]. Hrsg. K. Ranke u.a. Berlin 1977 ff., Bd. 8 (1996), Sp. 34 f., hier Sp. 34. - Lindig, E.: Hausgeister. In: EM, Bd. 6 (1990), Sp. 610 - 617. Vgl. dazu auch: Linhart, Dagmar: Hausgeister in Franken. Zur Phänomenologie, Überlieferungsgeschichte u. gelehrten Deutung bestimmte r hilfreicher oder schädlicher Sagengestalten. Dettelbach 1995 (= Quellen u. Forschungen zur europäischen Ethnologie 17). - Lecouteux, Claude: Démons et génies du terroir au Moyen Age. Paris 1995. - Lecouteux, C.: Romanisch-germanische Kulturbeziehungen am Bspl. des Mahls der Feen. In: Mediävistik 1 (1988), S. 87 - 99. - Weiser-Aall, Lily: Kobold. In: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens [HdA]. Hrsg. Hanns Bächtold-Stäubli. Berlin 1927 ff., Bd. 5, Sp. 29 - 47, hier Sp. 29. - So wird etwa eine besondere Art des Hausgeistes, der Drak, als Kobold bezeichnet, seltener auch der Alraun. - Vgl. Feilberg, H. F.: Der Kobold in nordischer Überlieferung. In: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 8 (1898), S. 1 - 20, 130 - 146, 264 - 277. - Vgl. dazu auch die sprichwörtlichen Redensarten, die Kobold in diesem Sinne, als neckisch und schalkhaft verwenden: Röhrich, Lutz: Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten. 5 Bde. Freiburg; Basel; Wien 1994 (Taschenbuchausgabe), Bd. 3, S. 862 f. 2 Lindig, Erika: Hausgeister. Die Vorstellungen übernatürlicher Schützer und Helfer in der deutschen Sagenüberlieferung. Frankfurt/ M. 1987 (Artes populares. Studia ethnographica et folkloristica, Bd. 14), S. 15 ff. 354 Karin Lichtblau Gestalten zählen. Ein Schiffsgeist wie der Klabautermann ist im Grunde nach ein übertragener Hausgeist, der sich dann parallel zur Koboldentwicklung zum persönlichen Schutzgeist wandelt bzw. als moralische Instanz zur Disziplinierung (à la Heinzelmännchen) auftritt. Auch die Sennhütte ist in gewissem Sinne und in ihrer Funktion eindeutig ein Haus, der Unterschied liegt nicht in der Art der Geister sondern der Häuser bzw. Gebäude (Geister bewohnen ja auch Kirchen und Klöster). Auch diese »Gebäudegeister« sind zu den verschiedenen Geistern im Haus zu zählen, differenziert nach ihren jeweiligen Bereichen. Es ist klar, daß strenge Trennlinien wohl kaum zu ziehen sind, zu stark sind die Verzahnungen und gegenseitigen Beeinflussungen. Erst eine klare Definition aber macht es möglich, die einzelnen Phänomene zu beurteilen und über Herkunft und Übertragungswege bestimmter Züge der einzelnen Geisterwesen etwas auszusagen. Lindig zieht der, wie sie einräumt, »etymologisch eigentlich aussagekräftigere[n] Bezeichnung« »Kobold« den Begriff »Hausgeist« vor: »Noch mehr als die Bezeichnung »Hausgeist« wird der Name »Kobold« sowohl in der Überlieferung als auch in der Sekundärliteratur undifferenziert gebraucht; er dient zur Benennung von neckenden und plagenden Geistern im Haus wie außer Haus (z. B. Waldkobold). Der Koboldbegriff ist verengt; er kennzeichnet eine bestimmte Entwicklungsstufe im Hausgeistglauben und soll für diese freigehalten werden.« 3 Trotz dieser Einwände würde ich dennoch die Bezeichnung Kobold vorziehen, eben aufgrund der etymologischen Aussagekraft. Die Problematik des Begriffes vor allem im heutigen Sprachgebrauch spiegelt seine komplexe Entwicklung. Für die mittelalterlichen Belege ist das Wort Hausgeist weniger brauchbar, es ist nicht immer klar, ob es sich tatsächlich um einen solchen handelt, oft wird eine entsprechende Funktion nicht ausdrücklich erwähnt und es kommen andere Züge des Kobolds zum Tragen (Einflüsterung, Puppenhaftigkeit, Unbeweglichkeit, Starrheit etc.). Für meinen Untersuchungsgegenstand erscheint mir daher der Begriff Kobold besser geeignet und einsetzbar. Die Etymologie weist das zweigliedrige Wort Kobold als »Hausgeist«, »Hauswalter« oder »-hüter« aus: Der erste Bestandteil gehört in der Bedeutung »Hütte, Haus, Gemach« zu »Koben« (ags. »cofa«, »cofi«: Gemach, Haus; vgl. »cof-godas« altengl. für die römischen Hausgötter, die Laren und Penaten), den zweiten Teil stellt man entweder zu »walten« (vgl. »Herold«) oder zu »hold«. 4 Dieses Wort bezeichnet also »ein im Hause waltendes Wesen«. Der Kobold im deutschen Mittelalter Im Mittelhochdeutschen erscheinen für den Kobold verschiedene Bezeichnungen, die z.T. auf seine Vermischung mit mehr oder weniger verwandten oder ähnlichen dämoni- 3 Lindig (Fn. 2), S. 16. 4 Vgl. dazu Pfeifer, Wolfgang: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. 3 Bde. Berlin 1989. - Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 22. Aufl. neu bearb. v. Elmar Seebold. Berlin; New York 1989. - Zum Teil andere Herleitungen verzeichnet bei Grimm, Jacob u. Wilhelm: Deutsches Wörterbuch (DWb). München 1984 (Nachdruck d. Ausg. 1854), Bd. 14, Sp. 1550 f. - Vgl. dazu auch: Weiser, Lily: Germanische Hausgeister und Kobolde. In. Niederdeutsche Zeitschrift für Volkskunde 4 (1926), S. 1 - 19, hier S. 8, Anm. 7. Kobold 355 schen Wesen bzw. auf die grundsätzliche Schwierigkeit, die Vielfalt der dämonischen Wesen der sog. niederen Mythologie in eindeutige Begriffe zu fassen, verweisen. Neben »kobolt« sind hier zu nennen: »schrat« oder »schretel(în)«, »taterman«, »bilwiz«. Auch für »der (daz) wiht«, »wihtelîn«, »wihtund« für »tuster« geben die mittelhochdeutschen Wörterbücher als Nebenbedeutungen »Kobold« an, was der Vieldeutigkeit des Begriffes entspricht: »wiht« aber ist so gut wie immer als Zwerg aufzufassen (mit möglicherweise koboldartigen Zügen), und »tuster« bezieht sich auf das Dämonische, Unheimliche allgemein, im Sinne von »Gespenst«. Die in den mittelhochdeutschen Wörterbüchern angegebenen Bedeutungen von »kóbolt«, »kobólt« beziehen sich in erster Linie auf eine künstlich geformte Figur oder Puppe: Lexer hat »lächerliche, aus holz od. wachs gebildete figur eines neckischen hausgeistes, kobold«, Benecke »kobold, neckischer hausgeist.« Auch beim Lemma »schrat« wird als eine der Bedeutungen »Waldteufel, Kobold« angegeben. Dazu kommen noch einige eigentlich in erster Linie andere dämonische Gestalten kennzeichnende Namen wie der »bilwiz«. 5 Geschichtlich gesehen tritt der Kobold zunächst für die antiken Hausgeister, die Laren und Penaten, ein - man kann also davon ausgehen, daß es wenigstens ähnliche, entsprechende Glaubensvorstellungen gegeben hat. Die frühesten Quellen deuten zudem auf die Existenz von Idolen oder Götzen hin: Der Kobold bezeichnet meist eine Art Puppe; der Bezug zum Wohnort, zum Haus und der Hinweis auf seine eigentlichen Aufgaben ist von Anfang an gegeben. Aus den Quellen, sofern sie genauer auf diese dämonischen Wesen eingehen, ergibt sich folgendes Bild: Es handelt sich bei den Kobolden um gutartige und hilfreiche Hausgeister, Reichtumsmehrer, späterhin dann lästige aber letztlich ungefährliche Poltergeister. Aus den Belegen seit althochdeutscher und mittelhochdeutscher Zeit ergeben sich zwei grundsätzliche Bedeutungsmöglichkeiten, ob Kobold jetzt mit »kobolt«, »schrat«, »tatermann« oder anders wiedergegeben wird ist sekundär, entscheidend ist die Phänomenologie: 1. Idol oder Puppe, was an die Verehrung von Hausgötzen denken läßt; 2. antropomorphe Dämonenfigur, für die sich aufgrund der Vielfalt der Bezeichnungen, die die Durchdringung mit anderen ähnlichen Gestalten spiegelt (auch Naturgeister wie der Bilwiz sind z.T. als Kobolde zu deuten), kaum eine eindeutige Definition geben läßt. Der Kobold als Puppe: »kobolt« und »taterman« Als wichtigste Charakteristika können hier gelten: die kleine Gestalt, unbelebt aus Holz oder anderem Material geformt, die Puppenhaftigkeit (aus Vergleichen etwa bei Hugo von Trimberg geht hervor, daß man sie sich »hampelmannartig« vorgestellt hat), der Bezug zum Haus, zur Wohnstatt, die Verehrung bzw. das Opfer, die daraus sich ergebende Funktion als Reichtumsmehrer oder Glücksbringer. Die frühesten Zeugnisse, die wohl als Beweis für das Vorhandensein der Glaubensvorstellung herangezogen werden können, finden sich in althochdeutschen Glossen, 5 Vgl. dazu: Lexer, Matthias: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Mit e. Einleitung v. Kurt Gärtner. 3 Bde. Stuttgart 1992 (Nachdruck d. Ausg. Leipzig 1872 - 1878). - Benecke, Georg Friedrich; Müller, Wilhelm; Zarncke, Friedrich: Mittelhochdeutsches Wörterbuch, 3 Bde. Leipzig 1863. 356 Karin Lichtblau wenn für die lateinischen Laren und Penaten adäquate deutsche Übersetzungen gesucht werden: Die Glossen des 10. und 11. Jahrhunderts geben dafür »Heimgott«, »Herdgott« und »Hausgott« an. Notker Teutonicus verdeutscht lat. »lar«, »lar familiaris«, »lares« als »ingoumo«, bzw. »ingoumen« (»hiusero alde burgo«) - die wörtliche Bedeutung von »ingoumo« wäre »Hüter des inneren Hauses« - und »penas«, »penates« als »hûsing, stetigot«, bzw. »ingesid«, »ingesîde« und »hûsinga«. 6 Unsicher bleibt, ob es sich um gebräuchliche Bezeichnungen altgermanischer Hausgeister handelt, 7 bzw. was man sich genau darunter vorzustellen hat. Aus den Namen scheint sich jedoch mit einiger Sicherheit ein Bezug zum Haus und eine Hüter- oder Schutzfunktion herauslesen zu lassen. Daß möglicherweise damit auch Opfer verbunden waren, legen andere Quellen nahe, wie etwa um 1000 Burchard von Worms (s.u.). Es spricht einiges dafür, daß die Hausgeister der Germanen z.T. Hausgötzen waren: So nennt der Indiculus superstitionum (743) aus Teig oder Lumpen hergestellte Bildnisse oder Puppen - »de simulacro de consparsa farina«, »de simulacris de pannis factis« 8 -, die man wohl als Darstellung von Hausgeistern auffassen darf. Weitere Hinweise ergeben sich aus altnorwegischen Gesetzen, die den Leuten verboten, Götzen und Altäre im Hause zu haben, sowie aus literarischer Überlieferung: Die Fridthjofssaga etwa weiß von Götzen im Hause zu berichten, die mit Butter gesalbt und am Feuer getrocknet werden, um dem Haus Glück und Fruchtbarkeit zu bringen. Daß ganz allgemein eine derartige Idolvorstellung dem Koboldglauben zugrundeliegt, dafür sprechen auch die Namen des Kobolds, die »Götze«, »Puppe«, »Ding« bedeuten (z.B. »kobold«, »wicht«). 9 Sind in den Glossen nur die Begriffe und deren Bezug zur römischen Hausgeist-, Hausgottvorstellung faßbar, so belegt eine andere frühe Quelle einen Opferbrauch an dämonische Wesen: Burchard von Worms (965 - 1025) spricht im Decretum, einer Sammlung kanonischer Rechtsvorschriften, von Opfergaben an »satyri vel pilosi«, Wald- und Alpgeister also, denen man im Keller oder in der Scheune allerhand Spielzeug opferte, damit sie Güter herbeischleppten und den Opferer bereicherten. Die Vorstellung vom Reichtum (anderer) bringenden Kobold war zu dieser Zeit also schon ausgebildet 10 : »fecisti pueriles arcus parvulos et puerorum suturalia, et projecisti sive in cellarium sive in 6 Grimm, Jacob: Deutsche Mythologie. 3 Bde. Graz 1968 (Um eine Einleitung vermehrter Nachdruck d. 4. Auflage besorgt v. Elard H. Meyer, Berlin 1875 - 78). Bd. 2, S. 413 f. - Vgl. Weiser, Germanische Hausgeister (Anm. 4), S. 7. - Mackensen, Lutz: Heinzelmännchen. In: Niederdt. Zf. f. Volksk. 2 (1924), S. 158 - 173, S. 158 f. - Laut Grimm, DWb (Anm. 4), Sp. 1550 f. bezeichnet noch im 16. Jahrhundert Trochus die römischen Hausgötter, Herdgötter als Kobolde »lares foci sunt vulgo kobelte«, mit dem Beisatz »manes boni«, unterschieden von »manes mali«, in einem Kapitel »deorum nomina«. 7 Vgl. Mogk, E.: Hausgeister. In: Hoops, Johannes (Hrsg.): Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Straßburg 1913 - 1915, Bd. 2, S. 455 ff., hier S. 456. 8 Zit. nach Grimm (Fn. 6), Bd. 3, S. 404. 9 Vgl. Weiser-Aall (Fn. 1), Sp. 29 f. - Weiser (Fn. 4), S. 7: Verwiesen sei hier auf die notorische Vorliebe der Kobolde für Butter auch in der neueren Tradition. Im 17. Jahrhundert referiert Voetius einen am Fest der Bekehrung Pauli geübten Brauch, bei dem ein Strohmann neben den Herd gestellt und mit Butter eingeschmiert wird. Man vergleiche dazu auch die alpenländische Sage von der Sennenpuppe: Hirten haben einen Strohmann oder Holzgötzen, den sie mit Butter füttern, als sie es einmal vergessen, wird er lebendig und übt furchtbare Rache. Vereinzelt scheint dieser Brauch auch auf das hölzerne Christkind übertragen worden zu sein, das alle Weihnachten gewaschen werden und ein reines Hemd bekommen muß. Wird dies verabsäumt, so gibt es ein Gepolter, das erst endet, wenn der Fehler gutgemacht worden ist. 10 Vgl. Weiser (Fn. 4), S. 7. - Mackensen (Fn. 6), S. 159. Kobold 357 horrem tuum, ut satyri vel pilosi cum eis jocarentur, ut tibi aliorum bona comportarent et inde ditior fieres.« 11 »Stetewaldiu«, also »Walter des Platzes« 12 , dem von Notker angesprochenen »stetigot« wohl an die Seite zu stellen, erscheinen vor 1250 in Schlesien in einer Schrift des Zisterziensers Rudolfus. 13 Dort heißt es: »In den neuen Häusern oder in Häusern, in die sie neu einziehen sollen, graben sie Töpfe, die mit verschiedenen Dingen gefüllt sind, an verschiedenen Ecken und bisweilen hinter dem Herde in die Erde ein für die Hausgötter (penates), die das Volk stetewaldiu (stetewalden) nennt. Daher lassen sie auch nichts hinter den Herd gießen und von ihren Speisen werfen sie bisweilen dorthin, damit sie den Hausbewohnern günstig gesinnt bleiben.« 14 Auch hier sind die wesentlichen Aspekte des Hausgeistglaubens angesprochen: die Opfergaben an Hausgeister, von deren Wohlwollen man in irgendeiner Weise profitiert. Seit dem 13. Jahrhundert wird das Wort Kobold allgemein. Nach vereinzelten Frühbelegen (»Koboltesdorp« 946, »Adalpertus chobolt«, »kobolt« 1185), tritt jetzt Kobold auch häufiger als Teil von Personenbzw. Eigennamen auf, z.B.: »Heinricus dictus Coboldus« (1250), »Lodowicus Cabolt« 1257, 1272, »Johannes et Henricus fratres de Kaboldisdhorpe«, 1273, 1277, und öfter. 15 Wie schon erwähnt, legen die ältesten mittelhochdeutschen Belege nahe, Kobold in erster Linie als »aus Holz geschnitzte, oder aus Wachs geformte Figur« 16 zu verstehen, wie etwa auch der Ausdruck »einen kobolt von wahse machen« zeigt. 17 Von einem »Kobold aus Holz« ist in einem Lied des Konrad von Würzburg um 1250 die Rede: »Mir ist ein lôser hoveschalk als ein kobolt von buhse: jâ wahset ein unküstec wilt von wolfe und ouch von fuhse, daz sich zeinem luhse kan bilden schiere und alzehant: daz selbe tier unfrühtec ist, von arte ez niht enkindet. wê daz der ungetriuwe alsam niht an geburt erwindet! « 18 Gemeint ist - im Kontext einer Kontrastierung von inneren Werten (wie »triuwe«) und Äußerlichkeiten (Kleiderpracht) - offenbar die Starrheit, Unmenschlichkeit einer Puppenfigur, Kobold dient zur Illustration der Kritik am »lôsen hoveschalc«. 11 Zit. nach Grimm (Fn. 6), Bd. 3, S. 408. 12 Dieser Name würde »Walter des Platzes« bedeuten und dem nordischen »tomterådare« genau entsprechen. Weiser (Fn. 4), S. 7 f. 13 Bruder Rudolfus (1235 - 1250): Summa de confessionis discrecione. Kap. 10; - Vgl. dazu Mackensen (Fn. 6), S. 158 f. 14 Zit. nach Weiser (Fn. 4), S. 7. 15 Grimm (Fn. 6), Bd. 2, S. 413 f.; Bd. 3, S. 145. Dort auch weitere Belege. 16 Grimm (Fn. 6), Bd. 1, S. 414 ff., Bd. 3, S. 145. 17 Grimm (Fn. 6), S. 415. - Die Assoziation zum Zauber mit Wachspuppen liegt nahe. Vgl. dazu: Tuczay, Christa: Die Darstellung des populären Zauberwissens in den mittelalterlichen literarischen und Gebrauchstexten am Beispiel des Wachspuppenzaubers bzw. Bildzaubers und der Dämonenbeschwörung. In: Penzliner Symposion über Zaubereigeschichte und Hexenverfolgung in landschaftsgeschichtlicher und europäisch vergleichender Sicht. 24. - 26.11.1995. Penzlin 1997, S. 247 - 268. 18 Konrad von Würzburg: Kleinere Dichtungen. Hrsg. Edward Schröder, mit e. Nachwort v. Ludwig Wolff. Bd. 3: Die Klage der Kunst, Leiche, Lieder und Sprüche. 2. Aufl., Berlin 1959, Nr. 32, V. 211 ff. 358 Karin Lichtblau Der Meißner, ein fahrender Sangspruchdichter der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, spricht von »stummen Kobolden«: »Swaz ich gesinge oder gesage, daz enget sumelichen liuten niht in ir oren, die verschopfent ir oren hol, siene wellen weder sen, noch hoeren; sam die toren gebarent sie: we den kobolden, die alsus erstummen! Mir ist ein hülzin bischof (vil) lieber, dan ein stummer herre, der niht git durch ere; « 19 Auch hier hat man wohl mit einer Anspielung auf Puppenfiguren zu rechnen: Dem »hölzernen Bischof« wird der »stumme herre« gegenübergestellt - geistliche Herren und knausrige weltliche Fürsten, werden kontrastiert, wobei der Meißner dem Bischof den Vorzug gibt. Ein Gedicht Rüdigers von Munre, das Studentenabenteuer (B) (auch unter dem Titel Irregang und Girregar bekannt) vom Ende des 13. bzw. Anfang des 14. Jahrhunderts, hat die Wendung »in koboldes sprâche« für leise, zaghaft sprechen - die beiden Protagonisten geben sich bei einem erotischen Abenteuer als Kobolde Irregang und Girregar aus: »mit kleiner stimme dô sprach / Ein jungelink von Ache, / reht in koboldes sprâche«. 20 Weitere Belege für den Kobold im Sinn von Puppe bzw. Idol finden sich im Renner (1300) des Hugo von Trimberg (1220/ 40 - nach 1313) 21 : V. 5522 ist davon die Rede, daß man einen Kobold an die Wand malt. Der Dichter thematisiert hier echte Gastfreundschaft, zu der weniger die reichliche Bewirtung als vielmehr großzügige Freundlichkeit gehört: »Des wirtes hûs und êre ich prîse, Der fröude mischet ze sîner spîse: An der spîse wil ich erworgen, Die ich ezzen sol mit sorgen.« (V. 5503 ff.) »Ich bin wol zwirunt dâ gesezzen, Dâ man zwelf gerihte hât gezzen Mit sôgetânem ernste und rimpfen, Daz ich ein lachen und ein schimpfen Hête vür driu gerihte genumen.« (V.5509 ff.) Ein solcher Wirt soll sich statt seiner lieber einen an die Wand gemalten Kobold als Gast laden: »Swer mich wil mâlen an ein want, Daz ich weder munt noch hant Wol vor im geregen tar, Der mâle einen andern kobolt dar, Der ungezzen bî im sitze, Und zel mir niht wie manige snitze Ich habe ich den munt geschoben.« 22 Derartige gemalte Kobolde werden anderweitig als »tatermanne« bezeichnet, worunter 19 von der Hagen, Friedrich Heinrich: Minnesinger. Deutsche Liederdichter des 12., 13. und 14. Jahrhunderts. Bd. 3/ 1. Aalen 1963 (Neudruck d. Ausg. 1838 - 1861), S. 108 (Der Misnaere XVII, 13). 20 von der Hagen, Friedrich (Hrsg.): Gesamtabenteuer. 3 Bde. Stuttgart; Tübingen 1850 (Neudruck Darmstadt 1961), Bd. 3, S. 78, V. 97 f. 21 Hugo von Trimberg: Der Renner. Hrsg. von Gustav Ehrismann. 2 Bde. Tübingen 1908 - 1909 (BLVSt, Bde. 247 - 248). 22 Hugo von Trimberg (Fn. 21). Bd. 1, V. 5519 ff. Kobold 359 man sich eine Art Strichmännchen, also wieder etwas Unbelebtes, Starres, vorzustellen hat: Im Gedicht Der Jüngling des Konrad von Haslau (Ende 13. Jahrhundert) ist davon im Zusammenhang mit guten Tischsitten die Rede: man solle den Tisch nicht mit irgendwelchen »Grafitti« verunzieren: »ez ist den guten wirten leit, wer die unzuht niht vermidet, daz er in sinen tisch snidet. wan daz han ich gesehen dicke, er bicket, der ritzet, er machet stricke oder malet einen taterman: da wirt der tisch niht schoner van.« 23 Einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem Puppenspiel im Renner des Hugo von Trimberg hat u.a. Leopold Schmidt gesehen: »Swer rîch und achpêr nu wil werde, Der trahte nach triuwen und künste niht vil Und lern ein ander goukel spil, Under des mantel er kobolde mache, Der manic man tougen mit im lache; Und daz sîn êre dester lenger wer, Sô sol er sîn ein glîchsener Und als ein engel gebâren ûzen, Doch sol in im her Satân lûzen.« (V. 5008 ff.) 24 Um Reichtum und gesellschaftliche Achtung zu erlangen, reicht es also aus, Gaukelspiel zu erlernen, »unter dem mantel« mit »kobolden«, also Puppen, die Leute zu unterhalten. Damit ist wohl gemeint, daß man etwas vorgaukelt, die Leute täuscht - passend zur folgenden Passage vom Heuchler, der nach außen wie ein Engel sich gebärdet, innerlich aber ein Satan ist. Wie man sich die Form des Spieles mit der Koboldpuppe im einzelnen vorzustellen hätte, läßt sich der Stelle nicht entnehmen. Man hat an eine Handpuppe gedacht, die über den vom zweiten Arm hochgehaltenen Mantelrand hervorschaut, oder aber das runde Dach der Puppenspielbude als Mantel aufgefaßt. Feststehen dürfte indes nur, »daß mit ›Kobold‹ tatsächlich die Spielpuppe bezeichnet wurde oder daß zumindest Hugo von Trimberg den Dämonennamen für die Spielpuppe verwendet habe, um in seiner Moralistenart davon abzuschrecken.« 25 Für Spielpuppen Dämonennamen zu verwenden, ist auch damals durchaus üblich. Aber geht es überhaupt um Puppenspiel unter einem Mantel, wird »kobold« nicht vielmehr im Sinne von Täuschung als Metapher verwendet? Sicher sind mit »kobolden« Spielpuppen gemeint, aber die Erklärung des Mantels erscheint mir unbefriedigend, eine Übersetzung mit »Dach der Spielbude« verfehlt. 23 Konrad von Haslau: Der Jüngling. Hrsg. Walter Tauber. Tübingen 1984 (Altdeutsche Textbibliothek, Bd. 97), V. 540 ff. 24 Hugo von Trimberg (Fn. 21). Bd. 1, V. 5008 ff. 25 Schmidt, Leopold: Vom Kobold zum Kasperl. Dämonische Lustigmachergestalten im deutschen Puppenspiel des Mittelalters und der frühen Neuzeit. In: L. Schmidt, Die Volkserzählung. Märchen - Sage - Legende - Schwank. Berlin 1963, S. 202 - 210, S. 203 ff. 360 Karin Lichtblau An mehreren Stellen nennt Hugo von Trimberg den Kobold in einem Atemzug mit dem »taterman«: So etwa wenn er Betrunkene mit starren Puppen vergleicht, wie in Ein mêre von trunkenheit: »Sô trinker werdent âne güzze, Sô tuont in sô sanfte die düzze Die ûf diezent in den ôren, Daz si sitzent als die tôren Und einer siht den andern an Als Kobolt hern Taterman.« (V. 10313 ff.) 26 Etwas später bezeichnet der Text die Abgötter, die Götzen der Heiden als »kobolde« und »taterman«: »Abgöte, als ich gelesen hân, Wâren kobolde und taterman: Si heten munt und sprâchen niht, Si heten ougen und sâhen niht, Si heten ôren und hôrten niht, Si heten hende und griffen niht, Si heten füeze und giengen niht, Si heten keln und schriren niht: Swer karge rîche liute an siht, Des selben er ouch von in giht: [...]« (V. 10883 ff.) 27 Scherzhaft für Turnierer, im Sinne von Puppen, werden »tatermennelîn« im Abschnitt Von stechen genannt, wohl am ehesten mit »Hampelmänner« zu übertragen: »Got möhte wol lachen, sölte es sîn, Swenne sîne tatermennelîn Sô wunderlîch ûf erden lebent, Daz zwei gein einander strebent Und selber des niht wöllen enpern Si enwöllen mit zwein langen spern Ûf einander stechen: [...]« (V.11567 ff.) 28 Im 13. Jahrhundert waren also Kobold und Taterman nahe verwandte Begriffe, die man gleichsetzen konnte. Die Bezeichnung »taterman« selbst scheint sich seit dem 13. Jahrhundert verbreitet zu haben. 29 Die Etymologie ist unklar, vermutet werden verschiedene Wurzeln. 30 Kobolde und Tatermänner denkt man sich als puppenkleine Hausgeister, mit dämonischen Zügen, die leicht mit Spielfiguren zu assoziieren sind. 31 26 Hugo von Trimberg (Fn. 21), Bd. 2, V. 10313 ff. 27 Hugo von Trimberg (Fn. 21), Bd. 2, V. 10883 ff. 28 Hugo von Trimberg (Fn. 21). Bd. 2, V. 11567 ff. 29 Vgl. Schmidt (Fn. 25), S. 204. 30 Meist verweist man auf die Tataren, oder auf »tatern« (= zittern). Vermutlich liegt beiden ein ursprünglicher »Tartarusmann« zugrunde. »Tatermann« heißt auch der Salamander, wobei man an »tartaruga« (Schildkröte) denken muß, Tartarustiere und Tartarusmänner sind also offenbar an der gleichen Ableitung beteiligt gewesen. Diese sprachliche Verbindung unterstreicht das Dämonische an der Gestalt wesentlich. Vgl. dazu Schmidt (Fn. 25), S. 204. - Webinger, A.: Tattermann. In: HdA (Fn. 1), Bd. 8, Sp. 676 - 683. 31 Vgl. Schmidt (Fn. 25), S. 204 ff. Kobold 361 Der Kobold als antropomorphes dämonisches Wesen: »kobolt« - »schrat« - »bilwiz« Neben diesen Hinweisen auf den Kobold als eine Art Idol, finden sich auch im 13. Jahrhundert Belege für die Vorstellung vom antropomorphen gutartigen, helfenden Hausgeist, wie ihn schon Burchard von Worms an der Wende vom 10. zum 11. Jahrhundert erwähnte. Jans Enikel (1230/ 40 - 1290) vergleicht in seinem Fürstenbuch einen heimlichen Ratgeber mit einem Kobold: Enikel erzählt von den Versuchen Herzog Friedrichs, den Wiener Bürgern Steuern abzupressen. Ein »her Wolfgêr von Parouwe« (V. 2190 f.), der mit den Vermögensverhältnissen der Bürger vertraut ist, verbirgt sich hinter einem Wandteppich (»umbehanc«), durch den er ein kleines Loch schneidet, um seinen Fürsten »auf Koboldes Art« heimlich zu beraten: »dâ durch kan ich wol spehen. ich lâz mich wærlîch nieman sehen. ich red in koboldes wîse, dâ dien ich sanft mit mîn spîse.« (V. 2207 ff.) 32 Zwei Vorstellungen werden hier angesprochen: die Unsichtbarkeit - wie der Kobold ist er nur da, zeigt sich aber nicht bzw. ist tatsächlich unsichtbar - und der heimliche Ratschlag. Letzterer läßt an eine ganz wesentliche Fähigkeit der Kobolde der späteren Volksüberlieferung denken: Sie wissen mehr. Und in diesem Sinne versteht auch Lutz Mackensen die angesprochene Stelle: »Sie (die Heinzelmännchen) sind nicht nur Wetterpropheten, sie können auch in die Zukunft schauen und sind so befähigt, ihren Schützlingen vor drohenden Gefahren Rat und Hilfe angedeihen zu lassen. ›Ich rede in chowolts weise‹, heißt es in diesem Sinne in Enenkels Fürstenbuch.« 33 Ob hier beide Aspekte angesprochen sind oder nur die Unsichtbarkeit, das »Sich-nichtzeigen«, läßt sich letztlich nicht mit Sicherheit sagen. Man vergleiche dazu die oben erwähnte Wendung »in koboldes sprâche« im Studentenabenteuer des Rüdiger von Munre. Kobold ist im 13. Jahrhundert ein vieldeutiger Begriff: Spielfigur, antropomorphes Dämonenwesen mit übernatürlichen Fähigkeiten, manchmal hilfreich (Ratgeber) oft aber auch nur Poltergeist oder neckender Hausgeist. Der Bezug zum Haus ist nicht immer eindeutig gegeben, denn mitunter halten sich als Kobolde bezeichnete oder charakterisierte Wesen auch im Freien, in Feld und Wald auf. 34 Und Züge anderer dämonischer Figuren, die ihm ähnlich und doch nicht gleich sind, fließen in die Vorstellung ein. Der Vermengung der Vorstellungen entspricht die Begrifflichkeit: Die Begriffe Kobold - Schrat - Bilwiz fließen ineinander, es gilt das Koboldartige der jeweiligen Gestalt hervorzuheben. So trägt etwa der Bilwiz im Studentenabenteuer (B) des Rüdiger von Munre, obwohl in erster Linie ein Alpgeist, durchaus koboldartige Züge. Eine Frau versucht ihrem Mann 32 Jans Enikel: Fürstenbuch. In: Jansen Enikels Werke: Weltchronik. Fürstenbuch. Hrsg. Philipp Strauch (MGH, Dt. Chroniken, Bd. III), München 1980 (Nachdruck d. Ausg. Hannover 1891 - 1900), S. 597 - 679, V. 2207 ff. 33 Mackensen (Fn. 6), S. 165. 34 Vgl. Weiser, Germanische Hausgeister (Anm. 4), S. 8. 362 Karin Lichtblau einzureden, er wäre vom Alp geritten worden, in unserem Zusammenhang interessiert vor allem die Erklärung, die sie dafür gibt: »Es ist ein geslehte, ich weiz wol, daz er rehte Sîn hulde hât verlorn, wan in dar an hie bevorn Versûmet hât sîn muoter: er solde sîn ein guoter Und ein pilewiz geheizen; dâ von ist, daz in reizen die übelen ungehiuren.« 35 Lecouteux deutet die Stelle folgendermaßen: »Der Hauswirt wird angeblich von Unholden geplagt, deren Gunst er verloren hat, weil seine Mutter etwas versäumte, das leider nicht näher bestimmt wird. Es liegt nahe, an ein nicht dargebrachtes Opfer zu denken, aber dies kann nur als Hypothese aufgestellt werden.« 36 Doch nur durch diese Verbindung versäumtes Opfer - Alp wird der Text verständlich, denn warum sollte sonst die Mutter des Betroffenen damit zu schaffen haben? 37 Damit wird in dieser Erzählung ebenfalls ein Opfer an den Hausgeist, hier als »bilwiz« bezeichnet, angesprochen. Der »bilwiz« ist allerdings eher ein Naturdämon. Zum ersten Mal wird der Bilwiz um 1220 in Wolframs von Eschenbach Willehalm als pfeileschießender Geist erwähnt. Vom 13. bis zum 15. Jahrhundert erscheint das Pfeileschießen (v.a. Krankheitspfeile) als ein Hauptmerkmal des Bilwiz. Lecouteux sieht in ihm eine ursprünglich göttliche Gestalt, die sich im Laufe des Mittelalters zunächst zum Zwerg wandelt - er erscheint als Verwandter von Schrat und Kobold -, im Hoch- und Spätmittelalter mit den Wohlstandsmehrern und -minderern sowie den Nachtfahrenden vermengt wird, was zur Identifikation des Bilwiz mit der Hexe führt. Vom 16. Jahrhundert an betrachtet man den Bilwiz hauptsächlich als Korndämon. In jüngeren Sagen scheint er dann eine Art Sammelbegriff geworden zu sein, der ganz allgemein kleinwüchsige Kreaturen der niederen Mythologie bezeichnet. 38 Der Bilwiz erscheint aber auch als »genius loci«: Im Traktat De decem praeceptis des Thomas Ebendorfer von Haselbach, von 1428 bis 1460 Professor an der theologischen Fakultät zu Wien, opfert man ihm beim Bilwizbaum. 39 Bilwiz entspricht hier dem Kobold der jüngeren Bräuche, dem man zu bestimmten Zeiten Kleider oder Grütze opfert, damit 35 Gesamtabenteuer (Fn. 20). Bd. 3, S. 43 - 82, hier S. 70, V. 997 ff. 36 Lecouteux, Claude: Der Bilwiz. Überlegungen zu seiner Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte. In: Euphorion 82 (1988), S. 238 - 250, hier S. 240. - Vgl. dazu auch: Mackensen, Lutz: Bilwis. In: HdA (Fn. 1), Bd. 1, Sp. 1308 - 1324. 37 Die von Lecouteux (Fn. 36), S. 240, noch angeführten Interpretationsvorschläge seien hier kurz angesprochen: »Die Verse 1002/ 3 können auch auf das Toben des Hauswirtes bezogen werden und somit metonymisch aufzufassen sein: Der Mann benimmt sich wie ein Kobold.« Oder man bezieht bilwis auf bayr. »bulwechs« (= stumpf), siebenb. »bellesch« (= schwerfälliger, dummer, plumper kraftloser Mann) und übersetzt: »Man sollte ihn einen guten und dummen Mann nennen«. Keine der beiden Möglichkeiten scheint mir befriedigend. 38 Vgl. Lecouteux (Fn. 36), S. 238 ff., bes. S. 249 f. 39 Vgl. Lecouteux (Fn. 36), S. 241. Kobold 363 er den Hof schütze. Der Bilwizbaum ist als Behausung des Geistes gedacht, der über den Wohlstand der Familie waltet. Auch sonst ist diese Glaubensvorstellung vom Bilwizbaum bezeugt, dem man insbesondere Kinderkleider opferte. 40 Neben dem Bilwiz erscheint vor allem der Schrat als Kobold: Viele Glossierungen rücken den Schrat zwar in die Nähe der Wald- und Feldgeister, Lecouteux konnte jedoch nachweisen, daß es sich vielmehr bei dieser Gestalt ursprünglich um einen Totengeist handelt. Der Schrat steht also in Verbindung mit dem Totenglauben, dem Glauben an Ahnengeister und den mit diesen oft vermengten Platzgeistern. 41 In Hans Vintlers 1411 abgeschlossenem Lehrgedicht Pluemen der Tugent schimmert laut Lecouteux dieser Glaube noch durch. 42 Der Schrat erscheint hier als Arme Seele: »und etleich die jehen, das schrattel sei ain claines chint, und sei als ring als der wint, und sei ain verzweivelter gaist.« 43 Auch in einem weiteren Beleg erscheint eine Art Kobold als erlösungsbedürftige Seele: In einem Bericht aus dem Jahre 1135, der vom Bischof Hugo von Mons herrührt, ist von einem seltsamen »Faunus« namens »Garnier« die Rede, der als Poltergeist beschrieben wird: Er ist ein Toter, der mit bösartigen Begleitern aus dem Fegefeuer gekommen ist, um die Fürbitte der Verwandten, die ihn zu erlösen vermag, zu erwirken. Lecouteux verweist auf die heimkehrenden Toten bei Caesarius von Heisterbach, die ebenfalls von Teufeln begleitet werden. 44 Als reiner Poltergeist, den man lieber früher als später loswerden möchte, erscheint der Schrat in der Ende des 13. Jahrhunderts zu datierenden Reimpaarerzählung Kobold und Eisbär. 45 Ein norwegischer Bärenführer ist mit einem gezähmten Eisbären unterwegs, den er als Geschenk seines Königs dem König von Dänemark überbringen soll, und sucht auf einem Bauernhof ein Nachtlager. Der Bauer warnt ihn: »Der guote Tene einvaltic sprach: ›ich bin ungewaltic des hûses und des hoves mîn.‹ [...] ›[...] des tiuvels vâlant und sîn gespenste ist zu mir kumen in mînen hof und hât benumen mir, swaz ich vröuden ie gewan. mit nichte ich daz ervaren kan, waz crêatiuren es sî. [...]‹ «(V. 87 ff.) Dieses »boese tuster« hat ihn von seinem Hof vertrieben: 40 Vgl. Lecouteux (Fn. 36), S. 241. 41 Vgl. Lecouteux, Claude: Vom Schrat zum Schrätel. Dämonisierungs-, Mythologisierungs- und Euphemisierungsprozeß einer volkstümlichen Vorstellung. In: Euphorion 79 (1985), S. 95 - 108, hier S. 107. - Vgl. dazu: Ranke, F.: Schrat, Schrätel (Schraz, Schrätzel). In: HdA (Fn. 1), Bd. 7, Sp. 1285 - 1290. 42 Vgl. Lecouteux (Fn. 41), S. 95 - 108. 43 Hans Vintler: Die Pluemen der Tugent. Hrsg. Ignaz V. Zingerle. Innsbruck 1874 (Aeltere Tirolische Dichter, Bd. 1). V. 7803. - Vgl. dazu auch: Lecouteux (Fn. 41). S. 105. 44 Vgl. Lecouteux (Fn. 41), S. 105 f. 45 Röhrich, Lutz: Erzählungen des späten Mittelalters und ihr Weiterleben in Literatur und Volksdichtung bis zur Gegenwart. Bd. 1. Bern; München 1962, S. 11 - 26. 364 Karin Lichtblau »seht, mîn gesinde und al mîn vihe hât ez her ûz von im getriben und ist aleine drinne bliben.« (V. 122 ff.) Noch nie hat es der Bauer zu Gesicht bekommen: »sîne gestalt und sîne gelider, die enmochte ich leider nie gesehen, [...]« (V. 102 f.) Bär und Bärenführer richten sich im Backhaus für die Nacht ein. Als beide eingeschlafen sind, erscheint der Kobold und, da er sich durch den Bären gestört fühlt, reizt er ihn, bis ein heftiger Kampf entbrennt, in dem der Kobold unterliegt. Die beiden Gäste ziehen ab. Der Kobold zeigt sich am nächsten Morgen dem Bauern am Feld und fragt: »lebet dîn grôze katze noch? « (V. 322). Der Bauer versichert ihm, es gehe ihr ausgezeichnet und sie hätte fünf Junge bekommen, worauf sich der Kobold nicht mehr blicken läßt. 46 Obwohl zwischen dem mittelalterlichen Text und den neuzeitlichen Varianten (der erste - chronikalische - Beleg stammt aus der Zeit um 1700) eine Überlieferungslücke von ca. 300 Jahren besteht und eine schriftliche Vermittlung auszuschließen ist, bleibt die Erzählung konstant. Das gilt vor allem für die einprägsame Kernfrage »lebet dîn grôze katze noch? «, die in gleicher oder ähnlicher Form in so gut wie allen Varianten aufscheint. Kern dieser im Ursprung skandinavischen Sage (dort wird sie in die Zeit zwischen 1300 und 1400 datiert) ist eine historische Bärenschenkung. Die Erzählung ist vor allem in Skandinavien und Norddeutschland, aber auch darüber hinaus verbreitet: So gibt es Varianten aus Schwaben, Tirol und Schottland, aber auch aus Osteuropa (Estland, Polen, Tschechien, Slowakei). Die Sage ist jedenfalls im 13. Jahrhundert schon mit all den Zügen vollständig ausgestattet, wie wir sie auch in den neuzeitlichen Fassungen finden. Charakteristisch für die Form der Sage in der vorliegenden Erzählung um das Kernmotiv »Vertreibung eines Kobolds« 47 ist die weitgehende Entdämonisierung: Man macht sich über das dämonische Wesen, das so wie der Bär auch, dem Bauern unheimlich ist, lustig. Einerseits wird das Schrätel im Text zwar mehrfach als Teufel bezeichnet: »[...] des tiuvels vâlant und sîn gespenste ist zu mir kumen« (V. 92 f.) »waz ob mir lîchte hilfet got, daz der tiuvel und sîn spot und sîn trucnüsse mich verbirt? « (V. 137 ff.). Doch trotz dieser Diabolisierung ist der Dämon - ein Geist, der die ganze Macht im Haus an sich gerissen hat, also gewissermaßen die tyrannische Extremform eines Hausgeistes - relativ harmlos, nur den leicht einzuschüchternden Bauern konnte er vertreiben, der Stärke des Bären unterliegt er und durch die listige Antwort läßt er sich täuschen. Beschrieben hat der mittelhochdeutsche Dichter das »schretel« als einen ausgesprochenen Kobold und Hausgeist: Es handelt sich um ein winziges Wesen, das ein rotes Käppchen trägt (V. 190); auch die Speisung und das Hantieren am Herd gehören wesentlich zur Kobold-Überlieferung. 48 46 Vgl. Williams, Ulla: Kobold und Eisbär. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Hrsg. K. Ruh. Berlin 2 1978 ff., Bd. 4 (1983), Sp. 1279 f. 47 Vgl. Christiansen, Reidar Th.: The Migratory Legends. A proposed list of types with a systematic catalogue of the Norwegian variants. Helsinki 1958 (FFC, Bd. 175), S. 189 ff. (»7000. Fighting Nisse in the Service of a Farmer.«). Kobold 365 »daz was kûme drîer spannen lanc. gein dem viure ez vaste spranc. ez was gar eislîch getân und hête ein rôtez keppel an; daz ir die wârheit wizzet: ez hête ein vleisch gespiezet an einen spiez îsenîn; den truoc ez in der hende sîn. daz schretel ungehiure sich satzte zu dem viure und briet sîn vleisch durch lîpnar.« (V. 187 ff.) Trotz allem ist das Schrätel gar nicht so böse, wie es aus den stereotypen Wendungen zu folgern wäre. Es poltert, wirft Möbel und Geschirr durcheinander und schlägt alles nieder, was sich ihm in den Weg stellt: »sîn hant ist swêr alsam ein blî: swen ez erreichet mit dem slage, swie grôz er sî, swie starc sîn clage, ez sleht in, daz er vellet nider. [...] tische, stüele und benke, die sint im ringe alsam ein bal. ez wirfet ûf und zu tal die schüzzeln und die töpfe gar, ez rumpelt stête vür sich dar. ovenbret und ovensteine, körbe, kisten, algemeine, die wirfet ez hin unde her.« (V. 98 ff.) Dennoch läßt es sich überrumpeln und kann dem Menschen nicht schaden. Das Wesen ist also letztlich kein Teufel. Hierin entspricht die Gestalt völlig den »Fauni«, den französischen »follets« und jenen Dämonen, die nach Gervasius von Tilbury »domos simplicium rusticorum inhabitant et nec aqua nec exorcismis arcentur.« 49 Der Zug, daß sich der Dämon am Herd sein Fleisch brät, erinnert an die Geschichte von den »portuni« (»brownies«) der Angelsachsen in einem Bericht des Gervasius, wo zwerghafte Dämonen des nachts auf einem Bauerhof mitgebrachte Frösche zubereiten wollen. 50 In späteren Varianten der Schrätel- Geschichte - Schauplätze (Mühle oder Bauernhof) und dämonische Wesen (Zwerg, Wassermann, Schrat etc.) variieren landschaftlich - ist davon die Rede, daß der Dämon Fische braten will. In dieser Erzählung haben wir also einen Beleg für die Euphemisierung des Schrates, der ehemalige Dämon ist dabei, sich zu einem harmlosen, bei Michel Beheim im 15. Jahrhundert ausschließlich guten Hausgeist zu entwickeln. 51 Daß es sich bei dieser Märe um eine Rationalisierung und Entdämonisierung der Ge- 48 Vgl. Röhrich (Fn. 45), Kommentar zu Schrätel und Wasserbär: S. 235 - 243. 49 Gervasius von Tilbury: Otia imperialia. In einer Auswahl neu hrsg. v. Felix Liebrecht. Hannover 1856, S. 6 (I, 18). 50 Vgl. Otia Imperialia (Fn. 49), S. 29 (III, 61). 51 Vgl. Lecouteux (Fn. 41), S. 104 f. 366 Karin Lichtblau stalt und letztlich zugleich die Auflösungsform der Sage handelt, zeigt auch die Tatsache, daß das Schrätel nur noch lästig und boshaft ist und man es aus diesem Grunde loswerden möchte. Von einem hilfreichen Hausgeist ist keine Spur mehr vorhanden. Ins 13. Jahrhundert fällt auch eine andere Variante dieses Motivs »Vertreibung eines Kobolds«, was ja, wie spätere Volkserzählungen ausführen, keine einfache Sache ist: Den Kobold wird man nur schwer wieder los, verläßt man sein Haus, so zieht er mit. Die früheste Version dieser Erzählung »Kobold zieht mit« wurde in einem Text Reinmars von Zweter gesehen. 52 Der Gegner ist hier allerdings kein Kobold, sondern die personifizierte »Unsælde«: Ein Mann, der nur Unglück hat, zieht in die Fremde aus, um dort sein Glück zu suchen: »Unsæld wart sîn geverte, diu huop sich mit im ûf die vart; er lief gein einem walde, er wânde, er wære Unsælden worden vrî. Er sprach: ›Unsæld, nû bin ich dir entrunnen! ‹ ›Nein‹, sprach Unsæld, ›ich hân den sic gewunnen: swaz dû gelief, daz selbe ich rande: ûf dînem hals was mîn gemach‹.« 53 Der Mann kehrt nach Hause zurück. Wie andere, ähnliche Versionen dieser Geschichte zeigen, handelt es sich um die Illustration des Bildes vom Unglück (oder Armut, Siechtum etc.), das einem im Nacken sitzt (man wünscht z.B. auch das Unglück jemandem »an den Hals«). Die Erzählung ähnelt zwar oberflächlich in ihrem Ablauf jener vom lästigen Kobold, sie ist aber wohl, wie zwei weitere Belege aus dem 14. Jahrhundert beweisen, in denen es dem Bedrängten gelingt, das Unheil loszuwerden, zu dem besonders in Osteuropa nachgewiesenen Erzähltyp AaTh 735A »Bad Luck Imprisoned« zu stellen, und gehört zum Komplex »dienstbare Geister« (Geist in der Flasche, »spiritus familiaris«) verbunden mit der Vorstellung von nützlichen Hausgeistern. 54 Vom Glauben, jedes Haus habe sein »schretlein«, zeugt im 15. Jahrhundert ein Meisterlied des Michel Beheim: Das mit »dis getiht sagt von mancher hand keczer und zaber und unglauben« überschriebene Lehrgedicht gegen Ketzerei und Aberglauben (etwa 1459 verfaßt), nimmt Bezug auf verschiedene Bereiche des Aberglaubens, darunter Wahrsagerei und Zukunftsdeutung, volksmedizinische Praktiken, Tagwählerei etc. Neben anderen dämonischen Gestalten wie Schicksalsfrauen, Alp oder Werwolf, erwähnt es auch den Hausgeist, das »schretlein« 55 : 52 Vgl. Taylor, Archer: The pertinacious cobold. In: Journal of English and Germanic Philology 31 (1932), S. 1 - 9, hier S. 4 f. Taylor verweist auf zwei weitere Belege für diese Geschichte: eine jüdische Erzählsammlung des 16. Jahrhunderts und eine Variante aus dem 17. Jahrhundert. Als Sagenmotiv ist sie weit verbreitet. 53 Rothe, Gustav (Hrsg.): Die Gedichte Reinmars von Zweter. Amsterdam 1967 (Nachdruck d. Ausg. Leipzig 1887), S. 499, Nr. 178, 5 ff. 54 Vgl. dazu Uther, Hans-Jörg: Zur Bedeutung und Funktion dienstbarer Geister in Märchen und Sage. In: Fabula 28 (1987), S. 227 - 244, S. 234 ff. - Vgl. auch: Bolte, Johannes; Polívka, Georg: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Bd. 2. Leipzig 1915, S. 420 ff. - Rothe, Gustav (Hrsg.): Die Gedichte Reinmars von Zweter. Amsterdam 1967 (Nachdruck d. Ausg. Leipzig 1887), S. 499, Nr. 178, 5 ff. - Vgl. dazu: Grimm (Fn. 6), Bd. 2, S. 732. 55 Vgl. Güting, Ernst Dietrich: Michel Beheims Gedicht gegen den Aberglauben und seine lateinische Vorlage. In: Forschungen und Berichte zur Volkskunde in Baden Württemberg 1974 - 77. Stuttgart 1977, S. 197 - 220, hier S. 198. Kobold 367 »Auch etlich glauben haben, iglich haus hab ein schretlein, wer das er, dem geb es gut und er. auch vint man etlichs, das an der percht nacht seinen tisch richte.« (V. 100 ff.) 56 Jedes Haus besitzt also sein »schretlein«. Wer es ehrt, d.h. wohl ihm opfert, dem bringt es Reichtum und Ansehen. Dieser Beleg ist im 15. Jahrhundert durchaus nicht vereinzelt: Ein altbayerischer Beichtspiegel stellt Kleidergeschenke an Schrat oder Trud den unter dem Bann stehenden teuflischen Handlungen gleich: »Und ist darzue mercken, das die christenleich chirchen schäczt Das all die lewt die mit dem teuffel machen ein geding, die sind all im pan ... Also auch die, die im etwas opfern und dem schrätlein oder der trut rote schühel.« 57 Ein Buch der zehen gebot aus dem Jahr 1458 nennt Leute, die »am ersten jar monden des abentz ein tisch mit guter speysz seczen die nacht den schretelen«. 58 Solche Speiseopfer sind im allgemeinen zu bestimmten jahreszeitlichen Terminen mit dem Namen der Percht verbunden, und diese Verbindung zum jahreszeitlichen Brauchtum um die Percht zieht auch Michel Beheim, wobei die Speiseopferbräuche wesentlich älter sind als die Gestalt der Percht selbst. 59 Neben diesem Hinweis auf den Kobold als guten Hausgeist und Reichtumsmehrer spricht Beheim auch dessen negative Seite an: Wie der Bilwiz reitet er das Vieh. »Etlich glauben, das claine chind czu wildweiczen verwandelt sind. auch wie die schretlein so geswind auf vich reiten und varen.« 60 In neueren Volkserzählungen gehört dies zum Standardrepertoire des Kobolds, der besonders die Pferde liebt, und, wenn er nicht bei Laune gehalten wird, deren Mähnen in »Schräteleszöpfen« unauflöslich verwirrt. Der Schrat wird hier mit dem Bilwiz in einem Atemzug genannt, synonym wie schon im Jüngeren Titurel des Albrecht von Scharfenberg (ca. 1270/ 79). 61 »schrawaz, pilwiz wart nie so snel so des mastboumes ende und orte.« (Str. 2583/ 4) »›Geu, geu! ‹ so hal ir krien. von schrabaz, pilwihten, fumf tusent imbe der pien so vil der ruch in walde niht enpflihten moht in aberillen ir gedœze.« (Str. 4171/ 1 ff.) Zweifellos sind in dieses Gedicht Beheims zeitgenössische Glaubensvorstellungen eingeflossen, wenn auch nicht unbedingt in erster Linie jene des Dichters selbst. Beheim bearbeitet in seinem Gedicht eine lateinische Vorlage, der er inhaltlich sehr genau folgt. Fast alle Volksglaubensphänomene, die er in seinem Lehrgedicht anspricht, gehen auf ein 56 Die Gedichte des Michel Beheim. Hrsg. Hans Gille u. Ingeborg Spriewald. 3 Bde. Berlin 1968 - 72 (DTM, Bde. 60, 64, 65), Bd. 2, S. 326 - 330 (Nr. 235). 57 Zit. nach Güting (Fn. 55), S. 209. 58 Zit. nach Güting (Fn. 55), S. 209. 59 Vgl. Güting (Fn. 55), S. 209 f. - Vgl. dazu Rumpf, Marianne: Perchta in Sage und in mittelalterlichen Quellen. In: Röhrich, Lutz (Hrsg.): Probleme der Sagenforschung. Freiburg im Breisgau 1973, S.112-138. 60 Michel Beheim (Fn. 56), V. 105 ff. 61 Albrecht von Scharfenberg: Jüngerer Titurel. Bd. II, T.1 - 2. Hrsg. W. Wolf. Berlin 1964 - 1968 (DTM, Bde. 55 u. 61). 368 Karin Lichtblau theologisches Werk zurück, das ein unbekannter Kompilator zweihundert Jahre vorher, gestützt auf dogmatische und kirchenrechtliche Lehren weit höheren Alters, verfaßt hatte. 62 Beheims Gedicht beruht auf einem theologischen Traktat des 13. Jahrhunderts: De divinacionibus. Dort lautet die von Beheim angesprochene Stelle folgendermaßen: »(101) Alii credunt quod quelibet domus numen habet quod plus vel minus honoranti sedet vel subtrahat salutem. [eine Parallelhandschrift ergänzt hier: ›et vocatur huoswirt.‹] (104) Qui ornant menses perchte. (106) Qui credunt permutari infantes et eos ledi a pilwiz. (108) Qui credunt quod satiri equitent porcos.« 63 Dieser Text entspricht wieder einem Kapitel einer theologischen Lehrschrift über verschiedene als häretisch betrachtete Bewegungen und stellt eine umfangreiche Bearbeitung und Erweiterung der 1250 entstandene Summa de Catharis des Rainer Sacconi dar 64 , verfaßt um 1260 von einem anonymen Inquisitor der Passauer Diözese, bezeichnet als »Pseudo-Rainer« oder als »Passauer Anonymus«. »In diesem Theologen ist der Aufzeichner fast aller Bräuche und Glaubensvorstellungen zu sehen, die sich zweihundert Jahre später in Michel Beheims Meistergesang von mancherlei keczere und zaber wiederfinden.« 65 Die im Werk des Passauer Anonymus vorliegende Aberglaubensliste ist wesentlich älter als die Vintlers. Sie hat ein zeitgenössisches Gegenstück in dem bereits erwähnten Traktat des schlesischen Zisterziensers Rudolfus (um 1250), mit dem sie auch inhaltliche Verwandtschaft zeigt. Der Passauer Anonymus steht nach Güting zwar zum überwiegenden Teil also in der theologischen Tradition, dennoch ist damit zu rechen, daß auch eigene Beobachtungen des in der Passauer Diözese tätigen Theologen darin ihren Niederschlag gefunden haben. Kennzeichnend hierfür sind eine Reihe volkssprachlicher Ausdrücke, so vor allem die Dämonennamen Trud, Alp, Percht und Pilwiz, deren Verbreitungsgebiet der bayerisch-österreichische Raum ist. Michel Beheim scheint die Aberglaubensliste im Wesentlichen übernommen zu haben - abgesehen davon, daß er auf einige Punkte seiner Vorlage nicht eingeht -, sein eigener Anteil bleibt eher bescheiden: Neu fügt er nur den Namen des Trolls ein. Dennoch lassen sich gewisse Verschiebungen gegenüber seiner Vorlage ausmachen - und sie betreffen die Stellen über das Schrätel: Für das »numen« des Hausgeisterglaubens setzt er den Namen »schretlein« ein (die Parallelhandschriften haben »schreczlin« bzw. »schreczlein«), und mit eben diesem Wort gibt er die die Schweine reitenden »satiri« wieder. »Beide Züge des Schrättelglaubens könnte Beheim in seiner württembergischen Heimat kennengelernt haben.« 66 Einige Verwirrung hat der angesprochene Glaube an die Verwandlung von Kindern in Bilwize ausgelöst: Güting spricht von einem Übertragungsfehler, der Dichter hätte eben die Vorstellung nicht gekannt, und diesen Glauben habe es auch nie gegeben. 67 Michel Beheim könnte hier aber durchaus eine Vorstellung meinen, die sich später im Volksglauben sehr wohl findet: daß die Bilwize nämlich eigentlich die Seelen ungetaufter Kinder sind (oder etwa die Seele eines verstorbenen Angehörigen), 62 Güting (Fn. 55), S. 218. 63 Zit. nach Güting (Fn. 55), S. 213. 64 Vgl. Güting (Fn. 55), S. 213. 65 Güting (Fn. 55), S. 213. 66 Güting (Fn. 55), S. 217. 67 Güting (Fn. 52), S. 218. Kobold 369 wie ja überhaupt der Bilwiz bzw. Schrat eine starke Affinität zu den armen Seelen aufweist. 68 Sicherlich ist das Gedicht Michel Beheims nur bedingt als Zeugnis für den Volksglauben im 15. Jahrhundert zu werten. Es ist allerdings damit zu rechnen, daß der Autor nur solche Glaubensvorstellungen beschreibt, die ihm in irgendeiner Weise als »Aberglauben« geläufig waren. Die bereits im Mittelalter festzustellende Entdämonisi erung bzw. Diabolisi erung setzt sich im Laufe der folgenden Jahrhunderte fort: Der Diabolisierung unterliegen dabei in erster Linie die Flaschengeister 69 , wie Ende des 15. Jahrhunderts die folgende Stelle aus der Schrift Buch von den acht Fragen des Johannes Trithemius, Abt von Sponheim, beweist: »Das dritt Geschlecht der bösen Geister nennen wir die irdischen Teufel, welche, als wir in keinen Zweifel setzen, aus dem Himmel auf das Erdreich für ihre Verschuldung gestürzt worden sind ...« Neben denen, die in Feld und Wald leben, in Höhlen etc., gibt es auch andere, »die da nit so gar wütend und tobend seind als die andern, die wohnen gern um die Menschen, doch in einem verborgenen dunkeln Winkel. Sie haben nit all einen, sondern mancherlei Sinn, Willen und Anmutung, denn es ist immer einer böser denn der andere ... Zu Zeiten, die sie den unsinnigen törichten Leuten zusagen, lassen sie sich in ein Glas oder Berillen in einen Spiegel einsperren, und wenn man sie also versperrt beschwört, geben sie Antwort ...« 70 Die Vorstellungen vom Hausgeist und vom Geist in der Flasche, der die Zukunft voraussagt, lassen sich also nicht mehr voneinander trennen. Aus den Dämonensystemen des 15. und 16. Jahrhunderts (Agrippa von Nettesheim, Trithemius, Paracelsus Liber de nymphis) bleiben die Kobolde, obwohl von einigen den Erdmännlein zugerechnet, weitgehend ausgeklammert. 71 Neben der Kontamination mit dem Motivkomplex »Geist in der Flasche«, verwischen sich im 15. und 16. Jahrhundert auch die Grenzen zwischen dienstbaren Hausgeistern, persönlichen Hilfsgeistern und Zwergen. Wie Belege aus der Chronik der Grafen von Zimmern (Ende des 15. Jahrhunderts) zeigen, fungiert der Kobold um 1500 einerseits als Familien- und Geschlechterschutzgeist sowie andererseits als Hausschutzgeist, beschrieben wird er oft ähnlich wie ein Zwerg: Der »Entenwick« etwa wird als Familiengeist geschildert, von dem Glück und Bestehen des Geschlechtes abhängen. 72 Sind also zwischen 1450 und 1500 Bezüge dieser dämonischen Gestalten zu Haus und Sippe und zu bestimmten Personen denkbar, so vollzieht sich vom 16. Jahrhundert an eine Verschiebung vom Haus- und Familiengeist zum Hilfsgeist, zum persönlichen Familiar. Das illustriert etwa die Sage von des Rechbergers Knecht aus der Zimmerschen Chronik, der seinem Herrn treu dient. Dabei wird betont, daß der Betreffende keinen Schaden genommen hat bzw. daß er den Geist heil an Leib und Seele wieder losgeworden ist. Der Besitz eines solchen Wesens bzw. das Vertragsverhältnis mit diesem rückt in die 68 Vgl. Güting (Fn. 55), S. 212 - 215. - Dazu: Lecouteux (Fn. 41). 69 Vgl. dazu den gesamten Komplex vom »Geist im Glas«, wie er sich z.B. in der Virgilius-Tradition des Mittelalters (Herzog Ernst, Reinfried von Braunschweig etc.) findet. 70 Zit. nach Peuckert, Will-Erich: Deutscher Volksglaube des Spätmittelalters. Stuttgart 1942, S. 121. 71 Vgl. Peuckert (Fn. 70), S. 139. 72 Vgl. dazu: Die Chronik der Grafen von Zimmern. Hrsg. Hansmartin Decker-Hauff. 3 Bde. Konstanz; Stuttgart 1964 - 1972, Bd. 2, S. 342 ff.: Dort auch einige vergleichbare Gestalten wie König Goldemar oder der Geist Hutgen (vgl. »Hütchen«) in Hildesheim. - Vgl. Peuckert (Fn. 70), S. 150 f. 370 Karin Lichtblau Nähe der Teufelspakte. Derlei teuflische Diener und Hilfsgeister kennt auch Luther, es sind indes keine guten Hausgeister mehr, auch wenn sie häusliche Dienste leisten, sondern ausschließlich teuflische Hilfsgeister, zu denen Luther auch des Rechbergers Knecht zählt. 73 Anhand von Aussagen der Zimmerschen Chronik und Martin Luthers hat Peuckert an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit um 1500 das Nebeneinander zweier Auffassungen betont: Während die Zimmersche Chronik die Kobolde zu den Erdmännlein zählt und sie für verstoßene und erlösungsbedürftige Engel hält, sind sie für Luther einfach Teufel. Den Glauben der älteren Generation an »Gütel« also an gute (Haus)Geister diffamiert er als Irrglauben der Papisten. Gleiches läßt sich von Johannes Agricola sagen, wenn er von Kobolden oder auch vom Drak spricht: »Es haben sich vil hoher und weiser leute bekummert / was doch das sey / das ynn menschlicher gestalt offt vnter den leutten wandelt / auch yhnen vnterweylen dient / yhres vihes yhrer pferde Warttet [ein typischer Kobold-Dienst] / vnd es gedeyet alles wo sie sind.« 74 Die Kobolde in der Volkserzählung - ein Ausblick 75 Die verschiedenen Aspekte der mittelalterlichen Koboldgestalt fließen auch in die späteren Erzähltraditionen ein. In der Volkserzählung erscheinen Kobolde nur in bestimmten Genres, in Sage, Fabulat und Schriftfolklore. Das Märchen ist kein Genre für Kobolde, es kennt nur Zwerge. Der Glaube an Kobolde ist ubiquitär, ein Schwerpunkt liegt jedoch vor allem im Baltikum und in Finnland, aber auch in der deutschsprachigen und angelsächsischen Überlieferung. Was die Phänomenologie betrifft, so erscheinen Kobolde in den unterschiedlichsten Gestalten: anthropomorph, theriomorph (gerne z. B. als Katze) oder als Ding (z. B. Strohgarbe). Es handelt sich fast immer um Einzelwesen, doch gibt es auch Belege für ganze Gruppen von Kobolden im Haus. Sie können sichtbar oder unsichtbar sein, meist ziehen sie es aber vor sich nicht zu zeigen. Kann man sie doch dazu überreden, so erscheinen sie zuweilen auch als Schreckgestalten oder verlassen beleidigt das Haus. Sie sind an Haus und Hof gebunden (wohnen im Haus, auf dem Dachboden, in der Scheune etc.). Es werden die verschiedensten Möglichkeiten geschildert, wie Kobolde ins Haus kommen: Man kann sie herbeirufen, erben, finden (einen herrenlosen Kobold am Weg etwa, der sich um Dienst bewirbt), aber auch kaufen, oder unter Beachtung besonderer Bedingungen aus einem Ei in der Achselhöhle ausbrüten. Ihr Wirken besteht in Schutz und Dienst für den Menschen, durch Mitarbeit, aber auch durch Zutragen fremder Reichtümer. Da sie sich dabei natürlich auch gegenseitig bestehlen, mündet das mitunter in heftige Auseinandersetzungen zwischen Kobolden verschiedener Höfe. Kobolde lieben Neckereien und Schabernack, sind aber im allgemeinen sehr empfindlich, wenn man es ihnen gegenüber an Ernst und Respekt fehlen läßt. Die sozialen Beziehungen zwischen Geist und Mensch sind im Rahmen eines »Dienstverhältnisses« 73 Vgl. Peuckert (Fn. 70), S. 142. 74 Zit. nach Peuckert (Fn. 70), S. 148. 75 Vgl. zu diesem großen Komplex, den ich hier natürlich nur streifen kann: Lindig (Fn. 2). Dort auch weiterführende Literaturhinweise. Kobold 371 streng reglementiert: Kobolde müssen mit Opfergaben und Speisen bedacht werden, sie legen Wert auf Ungestörtheit, auf eine gewisse »Privatsphäre«. Werden derlei Verhaltensregeln und Tabus nicht beachtet, so nehmen die Kobolde fürchterliche Rache und verlassen das Haus. Vertreiben kann man sie auch ohne Absicht, indem man ihnen ein unpassendes oder zu wertvolles Geschenk macht (»Ausgelohnt«-Motiv). Die Personengebundenheit dieser Geister zeigt das Motiv »Kobold zieht mit«: Hat man einmal einen Kobold, so wird man ihn nur schwer wieder los. »Kernthematik des Hausgeistglaubens ist das Glück, die Sicherung und Förderung der häuslichen und familiären Prosperität«, betont Lindig 76 , der Glaube spiegelt das menschliche Sicherheitsverlangen. Zugleich aber fungieren sie als übernatürliche Ordnungshüter, ja als eine Art »moralische Instanz«, indem sie etwa Verhaltensweisen wie Faulheit, Fluchen, Trunksucht bestrafen (man vergleiche den Klabautermann, der diese ebensowenig duldet). Es sind also durchaus auch Figuren, die in der Volkserzählung zur Disziplinierung eingesetzt werden. Grundätzlich läßt sich festhalten: Kobolde sind ursprünglich gutartige, wenn auch ambivalente Wesen, für deren Dienstleistungen der Mensch Gegendienste zu erbringen hat. Mensch und Dämon sind mehr oder weniger gleichrangige Vertragspartner. Es liegt in der Natur der Kobolde arbeiten zu müssen (manche sind so arbeitsam, daß ihnen der Begriff Ausruhen erst beigebracht werden muß). Dies unterscheidet sie etwa von den Zwergen, die über Reichtümer verfügen, niemandem verpflichtet sind und nur nach eigenem Gutdünken tätig werden. Das Verhältnis Mensch - Dämon verschiebt sich im Laufe der Zeit. Einerseits wird das Wesen entdämonisiert, andererseits diabolisiert. Jeder Vertrag mit ihm gilt einem Teufelsbund gleich, er ist ein Helfer wie der Teufel, den man höchstens überlisten kann. Auf dieser diabolisierten Ebene ergibt sich die Vermischung des Kobolds mit den Flaschengeistern, dem »spiritus familiaris«, dem Alraun und sonstigen persönlichen Hilfsgeistern. In diese Kategorie sind jene Kobolde zu zählen, die ihren Herrn eher durch illegale Aktionen (Diebstahl, Zauberei) bereichern, ein Zug, den sie vermutlich der Figur des Drak verdanken: Der Drak arbeitet nicht, er stiehlt und trägt zu (obd. »Tragerl«). Auch er verlangt Opfer wie der Kobold, vernachlässigt man diese, nimmt er furchtbare Rache. Mit dem Kobold wurde er um seiner Funktion willen in einen Topf geworfen, nach Wesen und Herkunft sind beide jedoch zu unterscheiden: Haus- und Ahnengeist der eine, der Drak eine jenseits von Gut und Böse stehende »elementische« Erscheinung, gewissermaßen die »anarchische« Ausgabe des Kobolds. 77 Die wohl harmloseste Variante des Kobolds sind die Poltergeister, wie der Bilwiz und der Schrat ursprünglich Elementarbzw. Totengeister (sie werden etwa auch mit armen erlösungsbedürftigen Seelen oder mit gefallenen Engeln gleichgesetzt). Sie sind zwar lästig, letztendlich aber nicht gefährlich. 76 Lindig (Fn. 1), Sp. 613. 77 Peuckert (Fn. 70), S. 139 - 154. Laurin John L. Flood Will man sich mit der Figur des Zwergenkönigs Laurin beschäftigen, geht man am besten vom mittelhochdeutschen Laurinepos aus. Es ist von den zahlreichen Dichtungen um die Großtaten des Dietrich von Bern zweifellos eine der interessantesten 1 Karl Müllenhoff preist es als »die anmutigste Blüte der freieren Spielmannsdichtung, eine Blume unserer Volksdichtung überhaupt« 2 , während Georg Holz, der 1897 die bis heute gültige Standardausgabe herausbrachte, das Werk weniger hochschätzte und dem Dichter seine »höchst saloppe Art« und »mangelnde Motivierung« vorwarf. 3 1 Zur Dietrichdichtung siehe Flood, John L.: Dietrich von Bern. In: Herrscher, Helden, Heilige. Mittelalter-Mythen. Bd. 1. Hrsg. Ulrich Müller, Werner Wunderlich. St. Gallen 1996, S. 287 - 303. Der Laurin, mit dem wir uns hier befassen, hat nichts zu tun mit dem französischen Roman de Laurin a us dem 13. Jahrhundert (von Lewis Thorpe 1960 in Cambridge herausgegeben), der zum Kreis der französischen Dichtungen um die »Sieben Weisen Meister« gehört. 2 Müllenhoff, Karl: Deutsches Heldenbuch. Berlin 1866, Reprint 1963, Bd. I, S. XLV. 3 Holz, Georg: Laurin und der kleine Rosengarten. Halle/ S. 1897, S. XXXXIV. Abb.1: Laurin entführt Dietliebs Schwester. Holzschnitt aus dem Heldenbuch (Straßburg, um 1483). 374 John L. Flood Im Mittelalter war das Epos weit verbreitet und beliebt. Aus der Zeit vom späten 13. Jahrhundert bis ins frühe 16. Jahrhundert sind mindestens achtzehn Handschriften erhalten, und zwischen ca. 1483 und 1590 wurde das Werk elfmal gedruckt. 4 Joachim Heinzle unterscheidet die folgenden fünf Versionen 5 : I Eine ältere, in dreizehn Handschriften beglaubigte, wahrscheinlich aus dem Südosten Deutschlands stammende Vulgat-Version; sie umfaßt 1596 Reimpaare und entspricht im wesentlichen dem Text A von Georg Holz. II Eine jüngere, ursprünglich alemannische Vulgat-Version. Ihr liegt eine rheinfränkische Version (Holz C) aus dem späten 13. Jahrhundert zugrunde, die uns vom Manuskript des Straßburger Heldenbuchs bekannt ist; ca. 1480 von Diebolt von Hanowe geschrieben, 1870 verbrannt. Diese Version (Holz D) ist die Grundlage der gesamten Drucküberlieferung und umfaßt 2830 Reimpaare. III Die Version in einer Handschrift aus dem 15. Jahrhundert (in Venedig verfaßt, heute in Kopenhagen, Hs. L 1 ) und in einem fast wörtlich dazu stimmenden Bruchstück aus dem 14. Jahrhundert (heute in München, L 2 ). Diese entspricht der Version K I von Georg Holz und umfaßt 1856 Reimpaare; hinzu kommt die Fortsetzung Walberan (Holz K II mit 1266 Reimpaaren). IV Die strophische Version des 1472 geschriebenen Dresdner Heldenbuchs; in 326 Strophen in der »Heunenweise« abgefaßt. V Die Version des Preßburger Bruchstücks aus dem 15. Jahrhundert (Bratislava, Hs. L 14 ); 113 Reimpaare auf unbeschriebenen Blättern in einem Brevier. Der Laurin wurde auch ins Tschechische 6 und ins Dänische (Dværgekongen Lavrin) 7 übersetzt. Von der dänischen Version ist die in zwei Fassungen überlieferte Faröer Ballade Larvin dvørgakongur abgeleitet. 8 Die Versionen I - III sind eng aufeinander bezogen und gehören zur selben Textfamilie. Die Versionen IV und V hingegen sind selbständige Texte. Das Dresdner Heldenbuch hält sich zwar auch an die in Version I erzählte Geschichte, weicht aber in vielen Einzelheiten und besonders in der Form davon ab. Am Beginn der älteren Vulgat-Version (I) wirft Hildebrand Dietrich vor, daß er sich »der getwerge âventiure« noch immer nicht gestellt habe und den Rosengarten des Zwer- 4 Die einzelnen Textzeugen sind verzeichnet bei Heinzle, Joachim: Mittelhochdeutsche Dietrichepik. Untersuchungen zur Tradierungsweise, Überlieferungskritik und Gattungsgeschichte später Heldendichtung. MTU 62. München 1978, S. 298 - 313. Hinzugefügt sei das von Klaus Klein besprochene Manuskript »Eine wiedergefundene Handschrift mit ›Laurin‹ und ›Rosengarten‹«. In: ZfdA 113 (1984), S. 214 - 228 (Berlin Ms. germ 4º1497, jetzt in Krakau). 5 Einzelheiten bei Heinzle, (Fn. 4), S. 23 - 26; sowie Heinzle, Joachim: Laurin. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Hrsg. von Kurt Ruh et al. 2. Aufl. Berlin, New York 1978ff., Bd. 5, Sp. 625 - 30. 6 Siehe Brückner, A.: Böhmische Studien V. Archiv für slavische Philologie 13. 1891, S. 1 - 25; Loriš, J. (Hrsg.): Sborník hrab ě te Baworowského. Sbírka pramenu, 1,1,6. Prag 1903, S. 353 - 406; Thomas, Alfred: The Czech Chivalric Romances Vévoda Arnošt and Lavryn in their Literary Context. GAG 504. Göppingen 1989. Die auf Text A basierende tschechische Version des Laurin entstand ca. 1380. 7 Olrik, J.: Danske Folkebøger VI. Kopenhagen 1925. Zum Verhältnis der dänischen Fassung zur deutschen Überlieferung siehe Dahlberg, Torsten: Zum dänischen Lavrin und niederdeutschen Lorin. Lunder germanistische Forschungen 21. Lund 1950. 8 Siehe dazu Djurhuus, N. (Hrsg.): Føroya Kvædi. Corpus Carminum Faeroensium VI. Kopenhagen 1972, S. 375 - 85. Laurin 375 genkönigs Laurin noch immer nicht kenne, woraufhin sich Dietrich und Witege alsogleich auf den Weg machen, den Rosengarten zu suchen. Witege zerreißt den Seidenfaden, der den Garten umspannt, und zerstört die Rosen: diu wünne wart zerstoeret, swaz vröuden an dem garten lac. die rôsen liezen iren smac und darzuo irn liehten schîn. (V. 142 - 14 6) 9 Laurin erscheint und fordert Genugtuung. Er überwältigt Witege und will ihm als Strafe die rechte Hand und den linken Fuß abhauen. 10 Dietrich, dem sich Hildebrand, Wolfhart und Dietleib zugesellen, stellt sich dazwischen. Dem Rat Hildebrands folgend, gelingt es Dietrich schließlich, Laurin trotz seiner wunderbaren Schutzrequisiten (unzerstörbare Brünne, Tarnkappe, Zaubergürtel) im Ringkampf zu besiegen. (Mit eben diesem Kampf haben wir es vermutlich bei den aus dem 15. Jahrhundert stammenden Fresken in der Vintschgauer Burgruine Lichtenberg zu tun. 11 ) In höchster Not und unter Hinweis auf die durch Laurin entführte Schwester Dietleibs (Künhild in Laurin A, Similte in Laurin D) bittet Laurin Dietleib, er möge sich einschalten und ihn retten. Aber auch Dietleibs Bitten fruchten nichts. Dietrich gerät mit Dietleib in Streit, doch die Ermordung Laurins wird verhindert. Eine allgemeine Aussöhnung folgt; Laurin und die vier Helden schwören sich Treue. Der Zwergenkönig lädt Dietrich, Hildebrand, Wolfhart und Dietleib in sein Reich in der Unterwelt ein. Wenn auch zögerlich, nehmen sie an, denn sie wollen nicht als Feiglinge dastehen. Bei ihrer Ankunft werden sie von Künhild empfangen. Sie versichert ihrem Bruder Dietleib, daß es ihr hier zwar an nichts fehle, sie den Berg aber dennoch verlassen wolle, weil Laurin und die anderen Zwerge Heiden seien. Dietleib beschließt, sie zu befreien. Laurin gibt seinen Gästen einen prachtvollen Empfang, kränkelt aber noch an der schändlichen Niederlage im Rosengarten und plant einen Hinterhalt. Als es ihm mißlingt, Dietleib für sich zu gewinnen, nimmt er ihn fest. Den andern reicht er einen Betäubungstrunk und wirft sie in den Kerker. Während die Zwerge schlafen, befreit Künhild Dietleib. Er wappnet sich und gibt auch den andern ihre Waffen zurück. Vom Lärm erwachen die Zwerge und treten mit Laurin 9 Zitiert nach Müllenhoff (Fn. 2). 10 Der Verlust der rechten Hand sollte das Opfer daran hindern, Schwert und Lanze zu führen, und ohne den linken Fuß würde es ihm unmöglich sein, über die Steigbügel aufs Pferd zu kommen. Diese Form der Strafe finden wir auch im Helmbrecht von Wernher dem Gartenaere erwähnt, hrsg. von Friedrich Panzer, 7., von Kurt Ruh überarbeitete Aufl. Tübingen 1965, Z. 592 - 97 und 1690 - 91. 11 Siehe Müllenhoff, Karl: Zeugnisse und Excurse zur deutschen Heldensage. In: ZfdA 12 (1865), S. 253 - 386 und 413 - 36, hier S. 425 - 27, abgedruckt in Grimm, Wilhelm: Die deutsche Heldensage. 4. Aufl. Darmstadt 1957, S. 685 - 87. Müllenhoff gibt Ignaz Zingerles Beschreibung der Fresken wieder: »In den ruinen des schloßes Lichtenberg im Vinstgau habe ich ein wandgemälde aufgefunden, das unter andern helden Dietrich von Bern darstellt. das bild hat acht ellen in der breite und drei ein viertel ellen in der höhe. der breite nach ist es durch bäume in drei felder abgetheilt. auf dem ersten felde schlagen zwei helden einen erbitterten schwertkampf; im hintergrunde sehen einige gewappnete dem kampfe zu. auf dem mittelbilde liegt ein ritter am boden, der andere reitet von dannen. auf dem letzten felde umarmen und küssen sich die zwei helden. über diesen drei bildern zieht sich ein anderes hin, das ebenfalls acht ellen breit ist und einen festaufzug darzustellen scheint. das dreigetheilte gemälde reicht wohl in das 15. jahrh. zurück und kommt an composition und ausführung den fresken zu Runkelstein am werthe wenigstens gleich.« Obwohl nicht auf den ersten Blick einsichtig, gibt es laut Müllenhoff trifftige Gründe dafür, die Gemälde (sie hängen heute im Ferdinandeum in Innsbruck) mit Laurin in Verbindung zu bringen. 376 John L. Flood an der Spitze zum Kampf gegen Dietleib an. Inzwischen ist es Hildebrand gelungen, sich und seine Mitstreiter zu befreien. Es folgt ein erbitterter Kampf. Fünf Riesen kämpfen auf der Seite der Zwerge, aber Dietrich und seine Männer siegen und nehmen Laurin fest. Künhild setzt sich bei Dietrich noch einmal durch und rettet das Leben des Zwergenkönigs. Alle kehren nach Bern (Verona) zurück. Laurin wird als Hofnarr eingespannt. 12 12 Dieses Motiv finden wir auch in einer ladinischen Volkserzählung, die vielleicht mit der Laurinsage zusammenhängt; siehe weiter unten im Text, und vor allem Zips, Manfred: König Laurin und sein Rosengarten. In: Tiroler Heimat. Jahrbuch für Geschichte und Volkskunde 35. Innsbruck 1972, S. 5 - 50, hier S. 13. Zips’ Studie ist bis heute der umfassendste Beitrag zum einschlägigen volkstümlichen Erzählgut. Siehe auch Wessels, P. B.: König Laurin. Quelle und Struktur. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 84. Tübingen 1962, S. 245 - 65, hier S. 247ff. Zu Wessels Beitrag siehe Zips, S. 18 - 20. Abb. 2: Laurins Rosengarten. Eingangsholzschnitt aus dem Heldenbuch (Straßburg, um 1483). Laurin 377 Die jüngere Vulgat-Version (II), die fälschlicherweise Heinrich von Ofterdingen zugeschrieben wurde, unterscheidet sich von der älteren Vulgat-Version zum einen durch die Vorgeschichte, in der der Leser näheres über die Entführung von Künhild erfährt, zum anderen durch eine Erweiterung des Schlusses, der von Künhilds Rückkehr in die Steiermark berichtet. Die Version III nimmt einen versöhnlichen Ausgang, und es folgt ihm eine Fortsetzung. Auf dem Höhepunkt der Schlacht im Berg, nachdem Laurin festgenommen wurde und Witege und Wolfhart im Begriffe sind, alle Zwerge umzubringen, bittet Laurin Dietrich um Gnade. Anfänglich will Dietrich nichts davon wissen, gibt dann aber dem Flehen von Künhild, Hildebrand und Dietleib nach. Laurin wird als Gefangener nach Bern (Verona) gebracht. Der Zwerg Sintram, dem nun die Herrschaft über Laurins Reich anvertraut wird, schwört Dietrich Treue. Dietleib und Künhild bleiben noch zwei Wochen bei Dietrich in Bern. Aus Dankbarkeit für die gute Behandlung, die Künhild bei Laurin im Berg erfahren hat, bittet sie Dietrich beim Abschied, er möge versuchen, Laurin zur Errettung seiner Ehre zum Christentum zu bekehren. Laurin empfängt die Taufe, schwört Dietrich Gehorsam und lebt in Ehren an dessen Hof. Die Fortsetzung (Holz K II) berichtet von Sintrams Rache. Er knüpft Kontakte zu anderen Zwergenreichen, und Walberan, ein Verwandter Laurins und mächtiger Herrscher über die Zwerge des Orients, stellt ein riesiges Heer zusammen, zieht nach Venedig und erklärt Dietrich den Krieg. Laurin indessen gibt Walberan zu verstehen, daß es ihm gut geht und daß er keinen Krieg will. Also greift Walberan Bern nicht an, fordert aber Dietrich und seine Leute zum Kampf außerhalb der Stadtmauern auf. Schiltung, ein Mitstreiter Walberans, bezwingt Wolfhart; Walberan überwältigt Dietrich, obschon es Laurin und Hildebrand gelingt, die Kämpfenden zu trennen. Schließlich geloben sich alle Freundschaft, und Dietrich gibt zu Ehren Walberans und seines Heers ein glanzvolles Fest. Zu guter Letzt gibt es das Bruchstück einer Version, die die Geschichte ins Parodistische zu ziehen scheint. Es ist davon nur gerade der Anfang in einem Fragment von 113 Zeilen erhalten: Während eines Festes, das Dietrich zur Fastnacht gibt, erzählt Hildebrand von Laurins Rosengarten, worauf Dietrich, Hildebrand, Dietleib, Witege, Siegfried (! ) und Wolfhart sich auf den Weg machen, diesen zu suchen. (Hier bricht die Geschichte ab.) Vielleicht hat Albrecht von Kemenaten an Laurin gedacht, als er die dritte Strophe seines Goldemar verfaßte, denn auch dort ist die Rede von Dietrichs Kampf mit Zwergen, die eine Frau entführt haben, und auch dort wird berichtet, wie Dietrich seine Feinde gefangennimmt und nach Bern (Verona) bringt. Diesen Verlauf gibt es außer im Laurin nirgends in der Dietrichdichtung. Die Schlußfolgerung wäre also, daß die Urform des Laurin bereits spätestens um die Mitte des 13. Jahrhunderts verfaßt wurde. Die frühesten Hinweise auf Laurin außerhalb der hier besprochenen Dietrichdichtung finden wir in der deutschen Literatur im Wartburgkrieg aus dem 13. Jahrhundert 13 , in Heinrich Wittenwilers Ring (ca. 1410), wo Laurin und seine Zwerge Dietrich im Kampf gegen die Riesen beistehen (V. 8146) 14 , und bei Hermann von Sachsenheim 13 Siehe Grimm (Fn. 11), S. 192f. 14 Siehe dazu Boesch, Bruno: Zum Nachleben der Heldensage in Wittenwilers ›Ring‹. In: Deutsche Heldenepik in Tirol. Hrsg. von Egon Kühebacher. Bozen 1979, S. 329 - 54, besonders S. 337 - 38. Für Verweise auf Laurin im 16. und 17. Jahrhundert siehe Grimm (Fn. 11), S. 340, 349, 352, 357, 362; ebenso die Nachträge von Müllenhoff und Jänicke, abgedruckt auf S. 691 und 715 dieser Ausgabe. 378 John L. Flood († 1458). 15 In einer Ergänzung zum Wartburgkrieg aus dem 14. Jahrhundert wird Dietrich von Laurin nach Palackers (Bagdad? ) gebracht, ins Reich seines Bruders Sinnels (Sintram? ), wo es ihm beschieden ist, tausend Jahre lang zu leben, auch wenn die Menschen glauben, ein Vulkan habe ihn verschlungen 16 ; diese von der Kirche verbreitete Version von Theoderichs Ende ist erstmals belegt in den Dialogi von Papst Gregor dem Großen († 601). 17 Der Name Laurin wird auch verwendet für einen der Soldaten des Herodes im Künzelsauer Fronleichnamspiel aus dem 15. Jahrhundert. 18 Im 16. Jahrhundert finden wir das Laurinepos bei Autoren wie Martin Luther, Johann Fischart, Cyriacus Spangenberg und Paracelsus erwähnt. 19 Hie und da begegnen wir dem Namen Laurin auch außerhalb literarischer Quellen. Ob sich aus dem in einem Salzburger Dokument aus den vierziger Jahren des 11. Jahrhunderts vorkommenden Namen Luaran Schlüsse ziehen lassen auf das Alter des Epos, ist zu bezweifeln. 20 Karl Felix Wolff erwähnt einen gewissen »Laurinus de Innsbruck« 21 , und Otto von Zingerle spricht von einem Steuerregister aus dem Jahr 1343, in dem von einem »ager dicti Lawrein« die Rede ist. 22 Immerhin deuten diese beiden letzten Beispiele womöglich auf einen gewissen Bekanntheitsgrad der Lauringedichte in Tirol hin, einer Gegend, die, wie wir im folgenden noch sehen werden, mit der Geschichte des Zwergenkönigs eng verbunden ist. Das Grundmuster des Laurinstoffs besteht aus zwei Hauptmotiven: dem Rosengarten-Motiv und dem Bericht von Dietrichs Überlebenskampf, den wir aus der übrigen Dietrichdichtung kennen (Goldemar, Ecke, Herr Dietrich von Bern (Sigenot), Virginal, Wunderer). P. B. Wessels gliedert den Stoff in drei Schichten: er unterscheidet das heldische Element (mit Blick auf Dietrich, Hildebrand, Witege); das höfische Element, und zwar nicht nur als modisch über die Geschichte ausgegossenen Zuckerguß, sondern als prägenden Einfluß ritterlichen Gebarens auf die Personen der Handlung; und schließlich die Südtiroler Volksdichtung als Substrat. 23 Das heldische und das höfische Element sollen uns hier nicht weiter beschäftigen. 24 Von größerem Interesse ist das Rosengarten-Motiv; es ist das Charakteristikum des den Lauringedichten zugrunde liegenden volkstümlichen Erzählguts. Im Laurin (dem Kleinen Rosengarten) dreht sich alles um dieses Motiv, während im Rosengarten zu Worms (dem Großen Rosengarten) dem den Garten umspannenden Seidenfaden weder Funktion noch Bedeutung zukommt. 25 Es wird allgemein angenommen, daß die Vorstellung vom Rosengarten im Gebirge der volkstümlichen Überlieferung Südtirols entsprungen ist. So deutet der Volksglaube das Alpenglühen, wenn die Bergspitzen im letzten Licht der un- 15 Siehe Grimm (Fn. 11), S. 314; Müllenhoff (Fn. 2), S. I, XXXIX. 16 Siehe Müllenhoff (Fn. 2), S. I, LVIff. 17 Flood (Fn. 1), S. 287 - 303, hier S. 292. 18 Grimm (Fn. 11), S. 478. 19 Siehe ZfdA 12 (1865), S. 431. 20 Siehe Müllenhoff, Karl: Luaran. In: ZfdA 7 (1849), S. 531; ebenso ZfdA 12 (1865), S. 310. 21 Wolff, Karl Felix: König Laurin und sein Rosengarten. 3. Aufl. Bozen 1947, S. 169. 22 Zingerle, O. von: Die Verbreitung der Namen Laurin und Rosengarten in Tirol. In: Forschungen und Mitteilungen zur Geschichte Tirols und Vorarlbergs 15. 1918, S. 8 - 21, hier S. 8; siehe Zips (Fn. 12), S. 29 - 30. 23 Siehe Wessels, P. B.: Dietrichepik und Südtiroler Erzählsubstrat. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 85 (1966), S. 345 - 69, hier S. 348. 24 Siehe dazu Flood (Fn. 1), S. 287 - 303. Laurin 379 tergehenden Sonne rot leuchten. 26 Schon im Jahr 398 hat Claudius Claudianus in seinem Hochzeitsgedicht für Kaiser Honorius dieses Naturschauspiel besungen: Veneti favete montes, Subitisque se rosetis Vestiat Alpinus apex Et rubeant pruinae. »Segnet sie, ihr Berge Venetiens. Laßt die Bergspitzen der Alpen sich mit Rosenbüschen kleiden und die Eisfelder erröten.« 27 Bei Karl Felix Wolff finden wir die folgende Geschichte, die ihm 1903 ein Mann aus der Gegend von Mazzin im Fassatal erzählte: Der Alpenkönig von Nyès lebte hoch oben auf einem Berg, dessen Gipfel über und über mit den prächtigsten Alpenrosen bedeckt war. Diese hatten hier schon geblüht in uralter Zeit, als es noch keine Mörder und Kriege gab. Immer wieder hatten kluge Männer dem König geraten, sich von den Rosen zu trennen, aber er brachte es nicht übers Herz. Eines Tages kamen Krieger, deren Pferde die Rosen zertrampelten. Der König wollte das nicht leiden und setzte sich zur Wehr, aber die Krieger waren stärker. Sie nahmen ihn gefangen und schleppten ihn fort. Wenn sie sich versammelten, mußte er, mit einer Leine an einen Pfosten gebunden, zu ihrer Belustigung singen und tanzen. Als er schließlich entkommen konnte und den Weg zurück in die Berge fand, erblickte er wieder seine Rosen und dachte, es wäre nie ein Fremder hierher gekommen, hätten nicht die Rosen geblüht. Also sprach er über sie einen Zauberbann: sie mögen sich alle in Stein verwandeln, auf daß keines Menschen Auge sie mehr erblicke, weder am Tag noch zur Nacht. Die Dämmerung aber hatte er vergessen, und so geschah es, daß bei Sonnenuntergang im Zwielicht die verzauberten Rosen wieder leuchteten wie ehedem. Bis heute treten zu dieser Stunde die Menschen aus ihren Häusern heraus und schauen wie gebannt zu den glutroten Bergeshöhen empor. Dann steigt in ihnen eine Ahnung auf, wie es damals gewesen sein muß, als es weder Mörder noch Kriege gab und alle Menschen sich wohl befanden. 28 Wolff hielt es aufgrund seiner Nachforschungen zur Entstehungsgeschichte der Laurinsage für möglich, daß diese ätiologische, um ein Naturschauspiel sich rankende rätische Legende mit der Versteinerung der Rosen im Mittelpunkt über dreitausend Jahre alt sein könnte. Da die einschlägigen Volkssagen jedoch erst im 19. Jahrhundert systematisch gesammelt wurden, ist diese These schwer beweisbar. Heuberger mißtraut den im 19. Jahrhundert gesammelten Legenden und bezweifelt ihren Wert als verläßliche Zeugen der Vergangenheit, und Carlo Battisti hält eine Verbindung zwischen der alten ladinischen Sage und dem mittelhochdeutschen Gedicht für »das [bloße] Produkt philologischer Spekulation«. Auch Zips äußert sich kritisch, ist aber immerhin bereit, den Legenden einige Bedeutung zuzusprechen. 29 25 Siehe Hoffmann, Werner: Mittelhochdeutsche Heldendichtung. Grundlagen der Germanistik 14. Berlin 1974, S. 185. Zu den Rosengartengedichten siehe Heinzle (Fn. 4), S. 27 - 33. Im Laurin t rennt der Seidenfaden die Welt der Menschen vom Reich der Zwerge. Er bezeichnet die Grenzlinie zwischen Diesseits und Jenseits. Siehe Braches, Hulda Henriette: Jenseitsmotive und ihre Verritterlichung in der deutschen Dichtung des Hochmittelalters. Assen 1961, S. 140 - 47. 26 Wolff (Fn. 21), S. 127ff. 27 »Give your blessing, Venetian hills. Let Alpine heights on a sudden clothe themselves with rose-bushes and the fields of ice grow red.« Platnauer, Maurice (Hrsg.): Claudian. Loeb Classical Library. London und New York 1922, Bd. 1, S. 232 - 33; siehe Zips (Fn. 12), S. 42 - 43. 28 Siehe dazu Zips (Fn. 12), S. 12 - 13. 380 John L. Flood Der Name Laurin - das hat auch Wolff bei seinen Nachforschungen festgestellt - ist in diesen Legenden nirgends anzutreffen 30 . Er scheint von einem nicht-germanischen Stamm abgeleitet, von *lawa oder *lauwa, Fels, der nicht nur in Wörtern wie Lawa oder Lawine überlebt, sondern auch im Ortsnamen Laurein (ital. Laurengo) ca. 20 Kilometer westlich von Bozen. 31 Wolff glaubt, daß *lawareno die Bezeichnung war für einen kahlen Felsabschnitt. Ein Deutschsprachiger jedoch konnte sich unter dem Wort *lawareno nichts vorstellen. Man hielt es für irgendeinen beliebigen Eigennamen; so wurde aus dem König, der jenen »kahlen Fels« bewohnte, der König vom Lawareno, dann König Lawareno und schließlich König Laurin. 32 Deutschsprachige stellen leicht eine Verbindung her zum germanischen Stamm *lur, wie im mittelhochdeutschen »lûren«, lauern, und »lûre«, Betrüger, mit der frühen bayerischen Verschiebung von »û« zu »au«; so könnte die Namensform Laurin schon vor der allgemeinen deutschen Diphthongierung von »û« zu »au« entstanden sein. 33 Laurin - für einen Zwerg also ein Name wie nach Maß? Bei Ignaz Vinzenz Zingerle heißt es: »Das arglistige, böse Wesen finden wir schon im Namen des Laurin ›Lauerer, Laurer‹ ausgedrückt«; 34 und W. Hertz leitet den Namen von »lur« (Kobold) ab und versteht darunter »ein mit halbgeschlossenen Augen aus dem verborgenen hervorspähendes, bald schalkhaftes, bald arglistiges Wesen«. 35 Auf diese Weise soll aus dem König Laurin ein Zwergenkönig geworden sein. Zwerge lebten in den Bergen, und wenn deren König gefangengenommen und gedemütigt wurde, so meint Wolff, dann, um die schon durch seinen kleinen Körperwuchs bedingte Schwäche noch zu unterstreichen. Stellt man sich Eroberer doch in der Regel groß und kräftig, Unterlegene klein und schmächtig vor. In dieser Legende jedoch gehört die Sympathie des Erzählers eindeutig dem König; sie scheint auch in den Lauringedichten noch durch: Als Witege die Rosen niedertrampelt, plagt Dietrich das schlechte Gewissen: den helm soltu verbinden baz, ich fürhte, ez trage uns beiden haz. Und ist sîn eigen dirre plân, sô hât ez guot reht dar an. (V. 243 - 46). Und zweimal versichert auch Laurin selbst, er habe Dietrich kein Leid getan: und hân iu nie kein leit getân. (V. 292 bzw. 1160) Wenn Laurin das moralische Recht auf seiner Seite hat, kann er kein Unhold sein. Ob uns allerdings diese etwas nachsichtigere Außenansicht dazu berechtigt, einen Ur- Laurin im Sinne Brestowskys zu rekonstruieren, bleibt fraglich. Heinzle jedenfalls hält 29 Siehe Heuberger, Richard: Rätien im Altertum und Frühmittelalter. Schlern-Schriften 20. Innsbruck 1932, S. 264, und Anm. 5a; Battisti, Carlo: I nomi locali del Catinaccio (Rosengarten). Florenz 1961, S. 16; Zips (Fn. 12), S. 15 - 17. 30 Zips (Fn. 12). Siehe aber auch Fn. 41. 31 Lunzer, Julius: Rosengartenmotive. Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 50 (1927), S. S. 161 - 213, hier S. 216. Zur Etymologie siehe auch Wolff, Karl Felix: Die Laurinsage. In: Mannus, Zeitschrift für Vorgeschichte 24 (1932), S. 291 - 303, hier S. 293 - 95. 32 Wolff (Fn. 31) S. 297. 33 Holz (Fn. 3), S. XXXXIf. Siehe auch Zips (Fn. 12), S. 14, Fn. 24. Zips bemerkt, daß der nicht-germanischen Etymologie heute allgemein der Vorzug gegeben wird. 34 Zingerle, Ignaz Vinzenz (Hrsg.): König Laurin oder der Rosengarten in Tirol. Innsbruck 1850, S. XVII. 35 Hertz, W.: Über den Namen Lorelei. Sitzungsberichte der Kgl. Bayerischen Akademie der Wissenschaften, philos.-philologische u. historische Klasse. München 1886, S. 207 - 251, hier S. 240; siehe auch Zips (Fn. 12), S. 14, Fn. 24. Laurin 381 Brestowskys Meinung, daß sowohl die überlieferten Volkssagen als auch die literarischen Laurintexte auf die gleiche Quelle zurückgehen, die sich ausschließlich um die Rosengartensage drehte und den Bericht von Laurins Errettung noch nicht kannte, für unwahrscheinlich. 36 Ob der Ursprung des Laurin in einer solchen Legende zu finden wäre, können wir nicht mit Sicherheit sagen. Zwar hat die Hypothese einiges für sich, aber beglaubigt sind die lokalen Überlieferungen alle erst im 19. Jahrhundert, lange nach der Entstehung der mittelalterlichen Laurintexte. 37 Julius Lunzer hat schon 1927 auf diese Schwierigkeit aufmerksam gemacht 38 , und Alexander Haggerty Krappe bestreitet eine gemeinsame Wurzel mit dem stichhaltigen Argument, daß sich in keinem der mittelhoch deutschen Lauringedichte irgendein Hinweis auf die »Alpenglühen-Theorie« finden läßt. 39 Es ist höchst unwahrscheinlich, daß wir es bei den Volkssagen selbst mit einer entstellten Form der höfischen literarischen Überlieferung zu tun haben. Die weite Verbreitung der Laurintexte im Mittelalter und in der frühen Neuzeit und die vielen sonstigen Verweise auf die Figur des Zwergenkönigs zeugen von der einstigen Beliebtheit dieses Erzählstoffs. Seine Wiederentdeckung durch die Germanisten im 19. Jahrhundert hat in Südtirol eine wahre Begeisterungswelle ausgelöst, und bis heute regt das Thema zu künstlerischen und literarischen Neuinterpretationen an. Laut Helmut Stampfer war diese Wiederbelebung des Stoffs vor allem Ignaz Vinzenz Zingerle und seiner 1850 erschienenen modernen Version König Laurin oder der Rosengarten in Tirol zu verdanken. 40 In der Einleitung behandelt Zingerle die Verbindungen des Gedichts mit der Volkssage. Da dieses Buch nicht ohne weiteres zugänglich ist, scheint es mir sinnvoll, hier die relevante Textstelle wiederzugeben: »Die Volkssage, das arme Stiefkind das man von jeder Thüre stößt und das jetzt nur mehr so selten umgeht, weiß uns vom Rosengarten wenig oder besser fast gar nichts zu erzählen. Es gehört zu den frühesten Erinnerungen meiner Kindheit, daß ein altes Mütterchen in der Nähe von Plarsch mir die großen abgelagerten Felsstücke zeigte und sagte: hier sei einst der Garten des Zwergs Laurin gestanden 41 und in dem Berge wohne er in einer Kristallburg. - Freigebiger ist die Namenwelt. Wir finden in Südtirol drei Rosengärtchen, die sich um Laurin streiten sollen, wie die sieben klein asiatischen Städte um Homer. Diese sind: Ein Rosengarten in Lana, der nichts als den Namen für sich hat, ein Rosengarten bei Algund und der auf dem Schlern. 36 Brestowsky, C.: Der Rosengarten zu Worms. Tübinger germanistische Arbeiten 7. Tübingen 1929; Heinzle (Fn. 5, Verfasserlexikon), Bd. 5, Sp. 629. Zur Frage eines Ur-Laurin siehe Rosenfeld, Hellmut: König Laurin (Nachtrag). In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Hrsg. von Wolfgang Stamm ler und Karl Langosch. 1. Aufl. Berlin, Leipzig, Bd. 5, Sp. 531 - 33; Zips (Fn. 12), S. 17. 37 Zips (Fn. 12), S. 21 - 29; leider ist es hier nicht möglich, auf Zips’ umfassende und ausführliche Analyse der Volksüberlieferungen näher einzugehen. 38 Lunzer (Fn. 31), besonders S. 197. 39 Krappe, Alexander Haggerty: Laurins Rosengarten. Archiv für das Studium der neueren Sprachen 183. 1933, S. 161 - 71. Siehe auch Zips (Fn. 12), S. 34. Krappe vermutet eine Verbindung zur griechischen Mythologie. Seiner Meinung nach geht die Geschichte von den Früheinwohnern Illyriens und Thrakiens aus. 40 Siehe Stampfer, Helmut: Dreimal Laurin. Bildliche und plastische Rezeption in Südtirol. In: Mittelalter- Rezeption. Hrsg. von J. Kühnel et al. Göppingen 1979, S. 537 - 50, hier S. 537 - 8. 41 Wenn »das alte Mütterchen« das tatsächlich gesagt hat, so liegt hier eine der seltenen Erwähnungen des Namens Laurin in der Volksüberlieferung vor. Siehe Zips (Fn. 12), S. 22, ebenso S. 27f. zur Namensform »Lorein« in einer novellistisch bearbeiteten, in der Mitte des 19. Jahrhunderts herausgebrachten Sage von M. Meyer. 382 John L. Flood Der Rosengarten bei Algund ist ein Weinberg in der angenehmsten Lage und hat den Bestätigungs-Brief von der herrlichen Natur, wie das Zeugniß der Volkssage für sich. Die Gegend ist reich und wonnig, wie Laurins »Abentheuer«, und jedes Herz muß genesen, wenn es dies Weben und Schaffen der nimmermüden Natur sieht. Zudem finden wir hier die Hauptstätte der Zwerglein (Nörglein) und in der Nähe des Schlosses Tirol wohnten, wie uns die Sage meldet, die Riesen. Ein bedenklicher Nebenbuhler des Algunder Rosengartens ist das Rosengärtchen am Schlern. Wer einmal diese Dolomitenpiramiden im rosigen Abendrothe glühen sah, der glaubt sich in die Mährchenwelt versetzt und pflanzt den Rosengarten allzugerne auf das seltsam geformte Gebirge, auf dem in knorriger Steinrinde die violetten Amethysten schlummern und das die herrlichste Gebirgsflora zu einem der ersten Hochgärten Tirols macht. Müßte ich zwischen beiden Gärten entscheiden, würde der Ausspruch schwer werden. Beide sind Rosengärten, beide würdig, sich rühmen zu dürfen, Laurins Garten gewesen zu sein.« (S.xxi - xxii) 42 Zingerles Erinnerung an seine frühe Jugend (er wurde 1825 in Meran geboren) zeigt, daß den Menschen seiner Heimat die Vorstellung vom Zwergenkönig im Gebirge bis ins frühe 19.Jahrhundert lebendig war. Sein Bericht, in der einheimischen Landschaft verwurzelt, hat in der Region bei vielen neues Interesse an den literarischen Laurintexten geweckt, und noch in den siebziger Jahren unseres Jahrhunderts publizierte der Bozener Verlag Athesia die Reihe Kleine Laurin-Kunstführer, in deren Bändchen die lokalen künstlerischen und architektonischen Sehenswürdigkeiten zum Thema beschrieben sind. Das Interesse am Thema hat im Laufe der Zeit auch über die Region hinaus zugenommen, im angelsächsischen Raum besonders nach der Veröffentlichung des Buches The Dolomite Mountains der britischen Bergsteiger Josiah Gilbert und G. C. Churchill im Jahre 1864, in dem die atemberaubende Schönheit der Südtiroler Bergwelt einem breiteren Publikum nähergebracht wurde. Zwar wird Laurin dort nicht namentlich genannt, aber vom Rosengarten heißt es: »Jene Gruppe der Dolomiten nennen sie »Rosengarten«. Aber wer dächte bei diesem beinahe abweisenden Anblick an einen Rosengarten! Vielleicht, daß die Glut der untergehenden Sonne die Vorstellung für ein paar Augenblicke zuläßt, aber im Nu ist der Zauber vorbei, und was bleibt, ist Fels - kalt und unnahbar. Der »Garten«, wenn es einen Garten gibt, liegt weiter unten, an den Hängen des Val Fasso, wo am Fuß der steilen Berge im späten Frühjahr die Rhododendren verschwenderisch blühen.« 43 Die kleine Stadt Bozen, die nach den Napoleonischen Kriegen in die Bedeutungslosigkeit versunken war, erlebte gegen Ende des 19. Jahrhunderts nicht zuletzt dank der Verbindung zu Laurin und dem Rosengarten eine neue Blüte. Zwar sagen manche, diese Verbindung sei genauso an den Haaren herbeigezogen wie jene zwischen Bozen und Walther von der Vogelweide (zu dessen Ehre 1889 nicht zuletzt auf Betreiben von Ignaz Zingerle ein Denkmal errichtet wurde), aber dieser Vorwurf ist unberechtigt, denn schon um 1600 herum hatte Marx Sittich von Wolkenstein jene Berge als »Rosengarten« bezeichnet. 44 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand eine Vielzahl literarischer Werke um 42 Zu den Lokalisierungen des Geschehens siehe Zips (Fn. 12), S. 35 - 44. 43 »Those Dolomites are the ›Rosen Garten‹ - the Rose Garden! - a name you would never associate with their almost ghastly aspect. The flush of sunset may, indeed, for a moment suggest it in its rosy tint; but that passes and leaves them stark and cold. The ›garden‹, if there be one, lies on the further side, where the slopes of Val Fasso, at the foot of the precipices, are in their season a mass of rhododendrom [! ] bloom.« Gilbert, Josiah; Churchill, G. C.: The Dolomite Mountains. Excursions through Tyrol, Carinthia, Carniola, and Friuli in 1861, 1862, and 1863. London 1864, S. 45. Laurin 383 den Zwergenkönig, die, obschon heute fast gänzlich vergessen, dennoch untrennbar zur Rezeptionsgeschichte des Laurin gehören. Unter anderen Zwerg Laurin und sein Rosengarten bei Meran, nach einem alten deutschen Gedicht (Meran 1867), ein acht Seiten umfassender, auf der mittelhochdeutschen Version D basierender Prosatext eines unbekannten Verfassers; Gottlieb Putzs König Laurin und sein Rosengarten, in neue Reime gebracht (Innsbruck 1868), mit einer 16 Seiten umfassenden Einführung von Ignaz Vinzenz Zingerle sowie einem Hinweis auf Zingerles eigene Ausgabe von 1850 am Schluß des Buches; König Laurin. Ein Gedicht von Johannes Treumann (Dresden und Leipzig 1888), Felix Dahn gewidmet; und König Laurin (Berlin 1902), eine Tragödie in fünf Akten von Ernst von Wildenbruch (1845 - 1909), »Preussens National-Dramatiker in Wilhelminischer Zeit«, die das Leben Laurins mit ostgotischer Geschichte verwebt. 45 Es ist interessant zu verfolgen, wie sich die Laurinliteratur von Südtirol ausgehend weiter verbreitet hat. 46 Stampfer erwähnt drei neuere Darstellungen aus der bildenden Kunst, die alle drei im Zusammenhang stehen mit dem Bozener Touristenrummel. Erstens einen von Ignaz Stolz dem Älteren (geboren 1840) geschaffenen Gemäldezyklus zur Verschönerung einer Gaststube am Völser Weiher am Fuße des Schlern. Nach dem Zweiten Weltkrieg restauriert, hängen die Bilder seit 1961 in der neuerbauten Laurinstube. Die einzelnen Gemälde sind übertitelt mit »Laurin raubt Similde« 47 , »Die Befreiung Simildens«, »Laurin fordert Dietrich zum Kampf«, »Gefangennahme Laurins« 48 , und »Der versteinerte Laurin am Tschavon«. Stampfer weist darauf hin, daß die Sympathie des Künstlers eindeutig Dietrich und seinen Männern gehört, ganz im Sinne Zingerles, für den der Kampf zwischen den Helden und den Zwergen »das Anringen des nach Hohem strebenden Menschen gegen die bald heimliche und tückische, bald offenbare und grobe Gewalt des Nächtlichen und Schlechten« versinnbildlicht. 49 Zweitens beschreibt Stampfer einen Brunnen mit der Darstellung von Dietrichs Sieg über Laurin, den König-Laurin-Brunnen, den die Bozener Firma Kompatscher und Winder 1907 in ihrer Stadt aufstellen ließ. Schön ist er nicht, dieser Brunnen mit den aufdringlichen weißen Marmorfiguren. 50 1931 startete der Südtiroler Ettore Tolomei, Hauptdrahtzieher der faschistischen Bewegung in Südtirol, eine Hetzkampagne gegen die 44 Den Touristen Geld abzuknöpfen, war keine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Schon im 16. Jahrhundert erwähnt der bayerische Chronist Johann Turmair, genannt Aventinus, einen Harnisch, der einst König Laurin gehört haben soll und der in Tirol zu besichtigen war. Siehe Zips (Fn. 12), S. 30; ebenso Rydl, Gert: König Laur in. In: Deutsche Heldenepik in Tirol. Hrsg. von Egon Kühebacher. S. 490 - 507, hier S. 503. 45 So Kosch, Wilhelm: Deutsches Literatur-Lexikon. 2. Aufl. Bern 1958, Bd. IV, S. 3376. 46 Trotz ihres Titels König Laurin hat die 1981 bei Suhrkamp, Frankfurt a. M., veröffentlichte Geschichte von Siegfried Wollseiffen keinen erkennbaren Bezug zum mittelalterlichen Laurin. Der Klappentext geht so: »Frankfurt/ Main. Ein heimatlos gewordener Linker sucht Geborgenheit in der Normalwelt von Schleiflack und Bürowitz, bei einer Frau; wird Vater und trifft auf eine Generation, die ihre Kinder wie Standarten vor sich herträgt. Anziehend / abstoßend - so läßt Wollseifen den Leser an dieser Radikalisierung ganz gewöhnlichen Lebens teilhaben.« 47 Der Name Similde zeigt eindeutig, daß die Inspiration für die Malereien (wenn auch indirekt) von der Version D ausging. 48 Reproduziert bei Stampfer (Fn. 40), als Abb. 1, S. 548. 49 Stampfer (Fn. 40), S. 541; Zingerle (Fn. 34), S. XVII. Für eine nähere Beschreibung der Gemälde siehe Stampfer (Fn. 40), S. 539 - 41. 50 Reproduziert bei Stampfer (Fn. 40), als Abb. 2, S. 549. 384 John L. Flood Brunnenskulpturen, mit dem Argument, sie stellten das großmächtige Deutschland dar, das »unsere kleine Nation« zur Unterwerfung zwingt. 51 Tolomei erreichte, was er wollte: In der Nacht vom 3. auf den 4. Juli 1934 zertrümmerten Unbekannte die Figuren, und auch das Brunnenbecken wurde bald darauf weggeschafft. Zwei Jahre später fanden die Figurenfragmente einen Platz im Museum von Rovereto. Dort sind sie bis heute geblieben; ein Ersuchen der Bozener Behörden um Rückschaf fung wurde abgelehnt. Schließlich erbauten die Münchener Architekten Alois und Gustav Ludwig 1909 / 10 das »König Laurin Hotel« in Bozen, dessen Halle der Nürnberger Maler Bruno Goldschmitt 1911 mit Wandmalereien schmückte. Diese wurden durch Bombenangriffe in den Jahren 1944 / 45 arg beschädigt und, da sich kein geeigneter Restaurator finden ließ, später übermalt. Anders als bei Stolzens romantischen Gemälden und beim oben beschriebenen Brunnen fehlt Goldschmitts Fresken jede Idealisierung des Helden. In ihrer grotesken Phantasie sind sie ganz der modernen Kunst verpflichtet. Bibliographische Hinweise Quellen Die Hauptversionen der mittelhochdeutschen Gedichte sind abgedruckt in Holz, Georg: Laurin und der kleine Rosengarten. Halle/ S. 1897. Für Einzelheiten der Versionen III, IV und V siehe Heinzle, Joachim: Mittelhochdeutsche Dietrichepik. Untersuchungen zur Tradierungsweise, Überlieferungskritik und Gattungsgeschichte später Heldendichtung. München 1978 (MTU 62); und Heinzle, Joachim: Laurin. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Hrsg. von Kurt Ruh u.a. 2. Aufl. Berlin und New York 1978ff., Bd. 5, Sp. 626. Ein ziemlich vollständiges Verzeichnis der Ausgaben und Faksimiles findet sich bei Norbert H. Ott: Laurin. In: Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Hrsg. von Walther Killy. Gütersloh 1990, Bd. 7, S. 177 - 78. Am leichtesten zugänglich ist das Epos wohl in Müllenhoff, Karl: Deutsches Heldenbuch I. Berlin 1866, Reprint Berlin und Zürich 1963, S. 198 - 257. Die Texte nach Holz in moderner deutscher Übersetzung sind enthalten in Lemmer, Manfred: Deutschsprachige Erzähler des Mittelalters. Sammlung Dieterich 370. Göttingen 1977. Forschungsliteratur 52 Commetta, Marina: Il Laurin e il mondo dei racconti populari. Mailand 1981. Gillespie, George T.: Laurin. In: Geistliche und weltliche Epik des Mittelalters in Österreich. Hrsg. David McLintock, Adrian Stevens, Fred Wagner. Göppingen; London 1987 (GAG 446), S. 107-117. Heinzle, Joachim: Mittelhochdeutsche Dietrichepik. Untersuchungen zur Tradierungsweise, Überlieferungskritik und Gattungsgeschichte später Heldendichtung. München 1978 (MTU 62). 51 Tolomei, Ettore: Alto Adige e politica latina. Archivio per l’Alto Adige 26. 1931, S. 279. 52 Für weitere Literatur (bis 1984) siehe Heinzle (Fn. 5, Verfasserlexikon), Bd. 5, Sp. 630; und Ott, Norbert H.: Laurin. In: Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Hrsg. von Walther Killy, Gütersloh 1990, Bd. 7, S. 178. Laurin 385 Heinzle, Joachim: Laurin. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Hrsg. von Kurt Ruh u.a. Berlin; New York 2 1978ff., Bd. 5, Sp. 625-30. Heinzle, Joachim: Überlieferungsgeschichte als Literaturgeschichte. Zur Textentwicklung des Laurin. In: Deutsche Heldenepik in Tirol. Hrsg. von Egon Kühebacher. Bozen 1979, S. 172-91. Hoffmann, Werner: Mittelhochdeutsche Heldendichtung. Grundlagen der Germanistik 14. Berlin 1974. Jiriczek, Otto Luitpold: Deutsche Heldensagen I. Straßburg 1898. Klaaß, Eberhard: König Laurin. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Hrsg. von Wolfgang Stammler und Karl Langosch. Berlin, Leipzig 1933-55. 1. Aufl., Bd. 2, Sp. 841-47. Kühebacher, Egon (Hrsg.): Deutsche Heldenepik in Tirol. König Laurin und Dietrich von Bern in der Dichtung des Mittelalters. Beiträge der Neustifter Tagung 1977 des Südtiroler Kulturinstitutes. Bozen 1979. Lunzer, Julius: Rosengartenmotive. Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 50. 1927, S. 161-213. Lütjens, A.: Der Zwerg in der deutschen Heldendichtung. Breslau 1911, Reprint Hildesheim, New York 1977. Ott, Norbert H.: Laurin. In: Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Hrsg. von Walther Killy. Gütersloh 1990, Bd. 7, S. 177-78. Pausch, Oskar: Laurin in Venedig. In: Deutsche Heldenepik in Tirol. Hrsg. von Egon Kühebacher. Bozen 1979, S. 192-211. Ranke, K.: Rosengarten, Recht und Totenkult. Hamburg o.J. Rosenfeld, Hellmut. König Laurin (Nachtrag). In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Hrsg. von Wolfgang Stammler und Karl Langosch. Berlin, Leipzig 1933-55. Bd. 5, Sp. 530- 33. Rydl, Gert. König Laurin. In: Deutsche Heldenepik in Tirol. Hrsg. von Egon Kühebacher. Bozen 1979, S. 490-507. Schneider, Hermann: Germanische Heldensage. 3 Bde. Berlin 1928-34, 2. Aufl. Bd. I, 1962. Stampfer, Helmut. Dreimal Laurin. Bildliche und plastische Rezeption in Südtirol. In: Mittelalter-Rezeption. Hrsg. von J. Kühnel et al. Göppingen 1979, S. 537 - 50. Vries, Jan de: In: Bemerkungen zur Laurindichtung. Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 56. 1932, S. 153 - 80. Wessels, P. B.: König Laurin, Quelle und Struktur. Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 84. Tübingen 1962, S. 245 - 65. Wessels, P.B.: Dietrichepik und Südtiroler Erzählsubstrat. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 85 (1966), S. 345 - 69. Wisniewski, Roswitha: Mittelalterliche Dietrichdichtung. Stuttgart 1986. Wolff, Karl Felix: Die Laurinsage. In: Mannus, Zeitschrift für Vorgeschichte 24 (1932), S. 291 - 303. Wolff, Karl Felix: König Laurin und sein Rosengarten. 3. Aufl. Bozen 1947. Zingerle, O. von: Die Verbreitung der Namen Laurin und Rosengarten in Tirol. Forschungen und Mitteilungen zur Geschichte Tirols und Vorarlbergs 15. 1918, S. 8 - 21. Zips, Manfred: König Laurin und sein Rosengarten. Ein Beitrag zur Quellenforschung. In: Tiroler Heimat. Jahrbuch für Geschichte und Volkskunde 35. Innsbruck 1972, S. 5 - 50. Leviathan Daniel Brühlmeier (Baden) Den Befund von Carl Schmitt, daß »dieser Leviathan in der langen, an bunten Bildern und Symbolen, an Ikonen und Idolen, an Paradigmen und Phantasmen, Emblemen und Allegorien überaus reichen Geschichte der politischen Theorie [...] das stärkste und mächtigste Bild« 1 ist, kann man durchaus auf die allgemeine Mythengeschichte anwenden: In der Klassifikation von Malcom South 2 handelt es sich um ein prominentes Fabeltier, das aber anderen, bekannten Tierarten ähnlich sieht. Unterschiedliche Aspekte des Mythos werden in unterschiedlichen Zeiten aktualisiert; ein chronologischer Faden bietet sich deshalb an. Der Leviathan im Alten Testament Der Leviathan ist ein mythologisches Ungeheuer aus dem Alten Testament; wörtlich (hebräisch: »liwjatan«) bedeutet er das »sich Windende«. Möglicherweise ist er aber auch schon archaischer Mythenstoff und etwa als »Kingu«, eines der Urmonster, in der babylonischen Mythologie bekannt. Allein in der Bibel nimmt er verschiedene tierische Formen an. In der ausführlichsten und bekanntesten Passage Hiob 40, 25 bis 41, 26 3 ist er ein Krokodil, beschrieben als das stärkste und unbändigste, allerdings wiederum recht phantastische Seeungeheuer (ebd. 40, 15 - 24 erscheint dagegen der Behemoth als Landungeheuer; als solches den anderen babylonischen Urmonster, Tiamat, ähnlich). In den Psalmen wird der Leviathan als mehrköpfiges, von Gott zermalmtes Tier (Ps. 74, 14) genannt, ebenso als Spielzeug oder -partner Gottes: »Da ist das Meer ... Dort ... auch der Leviatan, den du geformt hast, um mit ihm zu spielen« (Ps. 104, 26). In Jes. 27, 1 erscheint er als eine, resp. zwei Schlangen (»tannîn«): »An jenem Tag bestraft der Herr mit seinem harten, großen, starken Schwert den Leviatan, die schnelle Schlange, den Leviatan, die gewundene Schlange. Den Drachen im Meer wird er töten.« Die Doppelung soll hier nicht überraschen: der Verfasser der apokalyptischen Darstellung brauchte zwei Ungeheuer zur Bezeichnung von zwei Weltreichen. Auch die schwankenden Darstellungsformen sind nicht stoßend: Möglicherweise hat der ursprüngliche Mythos zwischen vier Drachenbezeichnungen: Schlange, Liwjatan, Rahab und Tannîn unterschieden; die alttestamentlichen Schriftsteller allerdings differ enzier en nicht. 4 Leviathan ist so in erster Linie eine mythologische Bezeichnung: ge- 1 Schmitt, Carl: Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols (1938). Hrsg. G. Maschke. Köln-Lövenich 1982, S. 9. 2 South, Malcom (Hrsg.): Mythical and Fabulous Creatures. A Source Book and Research Guide. New York 1987, S. 372. 3 Zit. nach: Die Bibel. Altes Testament. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Stuttgart [u.a.] 1980. 388 Daniel Brühlmeier meinsam ist all seinen verschiedenen Darstellungsformen im Alten Testament (Schlange, Drache, Fisch, Krokodil) eine ungeheuerliche, zuweilen chtonische, vor allem aber Meereskraft; von seinem Aussehen vermochte man sich keine allzu genauen Vorstellungen zu machen. 5 Brauchte man wohl auch nicht, ebenso wenig wie man es genau lokalisieren mußte: daß er sich auch am Himmel aufhalten konnte, erklärt sich dadurch, daß sich nach uralter Anschauung über dem Himmel Wassermassen befanden (vgl. z.B. Gen. 1,6 f.). Entscheidender gemeinsamer Nenner ist sein durchgehender Charakter des Widergöttlichen, unbändig Chaotischen, das dann nach dualistischer Weltanschauung von Gott besiegt wird. Nach C.G. Jung gehört der Leviathan zur »Urmenagerie« in der Auseinandersetzung eines maßlosen, antinomischen und innerlich gegensätzlichen Jahwe mit seinem gerechtigkeitssuchenden Knecht Hiob; der Leviathan ist dabei »großes Beweisstück« für die (plumpe) Allmacht Gottes, vielleicht aber auch einfach nur dessen dunkle Seite. 6 Weil gott- und menschenfeindlich, aber doch seit Anbeginn (vgl. Gen. 1,21) Teil der Schöpfung - und zwar als Einzeltier, nicht als Art -, »bezeichnen [Leviathan und Behemoth] damit die äußersten Widersprüche der geschaffenen Welt, die keine heile Welt ist« 7 . Der als Richter angerufene Gott ist im Buch Hiob zugleich auch Täter und Rächer, und er antwortet Hiob mit der (den) Gewalt(en) einer außer-, ja widermenschlichen Natur - eben prominent mit dem Bild des Leviathan. Zur ikonographischen Darstellung des Leviathan Die Gestaltikonographie des Leviathan 8 ist entsprechend auch in der nachchristlichen Zeit schwankend; in der Regel aber ist der Leviathan als im Wasser lebendes (Un-)Wesen gekennzeichnet. Dies belegen bereits Mosaikdarstellungen aus Nordafrika in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts, wo der Leviathan als Fisch erscheint. In byzantinischen Psaltern erscheint er prominent als große, manchmal feuersprühende Wasserschlange, wobei das Feuerspeien ebenfalls bedeutendes Motiv im Buch Hiob (41,11) darstellt. Die im 11. Jahrhundert in der Abtei von Bury St. Edmunds in der englischen Grafschaft Suffolk entstandene Psalter-Illustration, ein englisches Hauptdokument mittelalterlicher Zeichenkunst im Utrechter Stil, zeigt ein schlangen- und drachenähnliches, sich windendes Tier 9 ; eine pittoreske Besonderheit dieser Darstellung ist der »Wikinger Geschmack« in der Darstellung des Bootes, das sich dem Tier nähert. 10 4 So Baudissin, Wolf. In: Haucks Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, Bd. 5. Leipzig 1898, S. 9. 5 Vgl. Keel, Otmar: Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das alte Testament. Zürich 1992, S. 41. 6 Vgl. Jung, Carl Gustav: Antwort auf Hiob. Zürich 1952, S. 36 ff., 103 und passim. 7 Ebach, Jürgen: Leviathan oder Behemoth. Eine biblische Erinnerung wider die Kolonisierung der Lebenswelt durch das Prinzip der Zweckrationalität. Paderborn [u.a.] 1984, S. 7, zum Einzeltier-Charakter auch S. 40. 8 Zum folgenden s. die Zusammenstellung bei Lucchesi Palli, E.: Stichwort »Leviathan (und Behemoth)«. In: Lexikon der christlichen Ikonographie. 3. Bd. Rom [u.a.] 1971, Sp. 93 ff. 9 Abb. 28 (b) in Wormald, Francis: English Drawings of the Tenth and Eleventh Centuries. London o.J. 10 Vgl. Wormwald (Fn. 9), S. 49. Leviathan 389 Nachdem der Leviathan schon in patristischer Zeit als Symbol für den Satan verstanden wurde - etwa bei Cyrill von Jerusalem oder Johannes Chrysostomus 11 -, war seine Vereinnahmung als apokalyptische Figur naheliegend. Leviathan konnte aber auch schlicht das alles verschlingendes Meertier, oder sogar das Meer selbst sein 12 - ja eine spätere (14. Jahrhundert) Zeichnung des Opicinius de Canistris scheint ihn mit dem Mittelmeer, dem »diabolicum mare«, zu identifizieren 13 . Ein im Mittelalter wirkungsmächtiges Bild ist dasjenige des »geköderten Leviathan«, wie ihn Johannes Zellinger 14 anhand einer Illustration im Hortus deliciarum, der breit angelegten Enzyklopädie Herrads von Landsberg aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts beschreibt. Sie zeigt eine von einer väterlichen Gottheit ausgeworfene Angel in Form eines Kreuzes (mit einem aufgelegten, nicht gekreuzigten Christus), deren Haken die Kiemen eines Seeungeheuers durchbohrt, das mit verrenktem Kopfe und weitgeöffnetem Rachen sich bäumt und windet. Dieses an Hiob 40, 25 (resp. Vulgata 20) angelehnte Bild des durch die menschliche Gestalt angelockten und überlisteten Teufels geht in die Zeit frühchristlicher Prediger- oder Katechetenexempel zurück. Es wurde »breit getreten« 15 durch Gregor den Großen; der auch im Hortus beigegebene, erläuternde und für das Mittelalter repräsentative Text stammt wohl direkt aus Honorius Augustoduniensis’ Speculum ecclesiae, ebenfalls aus dem 12. Jahrhundert: »Jesus Christus perforat maxillam Leviathan« und: »Leviathan est piscis marinus similis draconi et significat diabolum«. Es hat so auch in die Wandmalerei sowie auch in die Volksphantasie des Mittelalters Eingang gefunden; im 11. Jahrhundert sagt Priester Ezzo von Bamberg in seinem Gesang von den Wunden Christi: »O crux benedicta aller holze beszista an dir wart gevangan der gir Leviathan.« Vertont vom ebenfalls Bamberger Priester Willo sollen Ezzos Strophen ein beliebtes Pilgerlied zur Zeit der Kreuzzüge gewesen sein. In der Verwendung des Bildes in einer Reimpredigt in Mittelfranken wird im übrigen der exotische und zoologisch undefinierbare Begriff des Leviathan den deutschen Lesern und Hörern als »der michele walvisch« übersetzt 16 . Auch Luther wird in der Interpretation der Psalmen-Stelle 74, 14 den Leviathan als Walfisch wiedergeben, andererseits zuweilen auch den Papst als Leviathan apostrophieren 17 , womit das Bild des Leviathan explizit und prominent eine (kirchen-)politische Dimension erlangt 18 . Im 12. Jahrhundert sind noch eine ganze Reihe weiterer ikonographischer Darstel- 11 Vgl. Migne, Jean Paul (Hrsg.): Patrologia Graeca. Paris 1857 ff., Bd. 33, S. 742 u. Bd. 66, S. 753 f. 12 Vgl. Martin, A.; Cahier, Ch.: Monographie de la Cathédrale de Bourges. 1. Teil: Vitraux du XIIIe siècle. Paris 1841 - 44, S. 137 ff. 13 Vgl. dazu Salomon, Richard: Opicinius de Canistris, Weltbild eines avignonesischen Klerikers des 14. Jahrhunderts. In: Studies of the Warburg Institute. London 1936, S. 72 f. 14 Johannes Zellinger. In: Historisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft (1925), S. 161 - 77. 15 Zellinger (Fn. 14), S. 170. 16 Zellinger (Fn. 14), S. 174. 17 Vgl. Ebach (Fn. 7), S. 25 sowie S. 74. 18 Diese war natürlich davor bereits vorhanden, etwa in der alttestamentarischen Identifikation des Krokodils mit Ägypten u.a.m. 390 Daniel Brühlmeier lungen auszumachen. So findet man einen mehrköpfigen Leviathan an der Angel Gottvaters in einem Chorbuch aus Zwiefalten, entstanden zwischen 1138 und 1148. 19 Im weiteren zeigt der Genter Liber floridus den Antichristen auf einem schlangen-teuflischen Leviathan ruhend 20 , eine in den Hiob-Kommentaren beliebte Verbindung. Ein weiteres Angelmotiv gibt ein Gemälde des Brixener Domkreuzgangs, das um 1400 entstanden sein dürfte 21 : zwei Hände langen aus dem Himmel herab, wobei die eine die Angel hält, an der der Leviathan hängt, also das bekannte, offensichtlich an Hiob Kap. 40 angelehnte Bild. Die andere schneidet ihm mit einer Sichel den Bauch auf, um die von ihm verschlungene Menschheit (aus der Vorhölle) zu erlösen, wobei mit einem Spruchband aus Jes. 52,11 an die Befreiung der Juden aus babylonischer Gefangenschaft erinnert wird. Integriert ist das Ganze in eine Darstellung des Demütigen und des Stolzen; an letzteren knüpft die Darstellung des Leviathan an und erinnert damit eben auch daran, daß der Leviathan der »König aller stolzen Kinder« ist. Der Leviathan bei Hobbes Name und Bild des Leviathans sind heute wohl weniger stark mit biblischen oder mittelalterlichen Texten verbunden als mit Hobbes großem Werk LEVIATHAN/ Or/ the Matter, Forme,/ and Power of A Common-/ wealth Ecclesiasticall/ and Civil von 1651 22 . In diesem höchst einflußreichen Werk der frühen Neuzeit erlangt der Mythos des Leviathanus meines Wissens zum ersten Mal Titelwürdigkeit und wird zudem noch in einem höchst eindrücklichen Frontispiz-Titelkupfer versinnbildlicht. Auf den ersten Blick scheint sich damit vorerst ein von Carl Schmitt mit seiner Meisterschaft des ersten Satzes hingeworfenes Diktum zu bestätigen: »Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe« 23 - auch wenn dies natürlich nur die rechtskonservative Variante einer methodisch ohnehin unzulänglichen »Dialektik der Aufklärung« abgibt. Auf den Mythos bezogen und ohne in die volle Bedeutung Hobbes und seiner Schrift eingehen zu können, zeigt sich hier aber vor allem eindrücklich, wie sich die Betonung der verschiedenen Elemente des Mythos’ zeit- und kontextbedingt verschieben kann. Es ist nicht mehr wie im Mittelalter primär das Spiel Gottes mit dem (satanischen) Ungetier oder die wirkungsmächtige Figur des guten Engels Gottes oder Christus’ - vornehmlich in Anlehnung an Hiob 40, 25 -, sondern Gott wird aus dem Bild und Blickfeld gerückt - und dies nicht nur metaphorisch, wie zu zeigen sein wird. Hobbes verdeutlicht 19 Cod. hist. fol. 415 der Stuttgarter Landesbibliothek, abgebildet in Schmitt, Otto (Hrsg.): Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte. Stuttgart 1937, Bd. I, Sp. 696 (Angel). 20 Siehe die Darstellung Nr. 5 in Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte (Fn. 19), Sp. 726 (Antichrist). 21 Vgl. für das Folgende Walchegger, Johann E.: Der Kreuzgang am Dom zu Brixen. Brixen 1895, S. 37 f. 22 London: Printed for Andrew Crooke. Die Schreibweise hier versucht die graphische Gestaltung des Frontispiz-Titels wiederzugeben, der selbst in der Zeilenanordnung und in der Schreibweise von »Civil[l]« von der Titelseite differiert. Es sei hier nur in einer Fußnote erwähnt, daß Hobbes auch den Behemoth für titelwürdig befinden wird: ein in den sechziger Jahren geschriebenes Ms. über die Anarchie des Bürgerkriegs wurde nach seinem Tode unter diesem Titel veröffentlicht. Und zuguterletzt: In einer großen Hobbes-Kritik, der Oceana von James Harrington (1656), wird als Codename für Hobbes schlicht »Leviathan« verwendet. 23 Schmitt, Carl: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. München; Leipzig 1922, S. 49 (erster Satz im gleichnamigen dritten Kap.). Leviathan 391 dies bildlich wie textuell mit einem resolut politisch verstandenen Bibel-, resp. Vulgatazitat, das sich am oberen Bildrand des Titelkupfers befindet: »Non est potestas Super Terram quae Comparetur ei«. 24 Auch wenn sich bei vielen Kommentatoren die Enttäuschung bezüglich einer exakten Begründung von Hobbes’ Wahl des biblischen Motivs des Meeresungeheuers zur Versinnbildlichung neuzeitlicher Herrschaft 25 oder auch der Klarstellung des Bildes des Leviathan bei Hobbes 26 breit macht, ist doch die politiktheoretische Absicht Hobbes’ wohl unbestritten: Er will durch die Text- und Bildanspielung auf dem nach den Regeln der Emblematik gestochenen Kupferstich 27 - die riesenhaft menschliche Figur eines in seinem (Ober-)Körper aus einer Vielzahl von Einzelmenschen gebildeten und gekrönten Herrschers mit einem Schwert in seiner Rechten und einem Bischofsstab in seiner Linken zeigend - die animalische, unvergleichliche, sich vor nichts zu fürchten brauchende Macht des auf dem Vertragsgedanken beruhenden und Frieden und Gerechtigkeit bringenden erfolgreichen modernen Souveräns (oder gar Staates) »verkörpern«. Die drei Textzitate, die im Leviathan das mythische Bild explizit aufnehmen, bestätigen dies und explizieren es gleichzeitig: Hobbes’ Staat zeichnet sich durch extreme Künstlichkeit aus, ja diese Künstlichkeit der göttlichen, aber auch menschlichen Schöpfung allgemein und des Staates (Common-wealth) im besonderen ist Thema der eindrücklichen Eingangssätze in den Leviathan: »NATURE (the Art whereby God hath made and governes the World) is by the Art of man, as in many other things, so in this also imitated, that it can make an Artificial Animal ... by Art is created that great LEVIATHAN called a COMMON-WEALTH, or STATE, (in latine CIVITAS) which is but an Artificiall Man; though of greater stature and strength than the Naturall, for whose protection and defence it was intended.« 28 Das Bild dieser künstlichen Staatsbildung wird wieder aufgenommen zu Ende des XVII. Kapitels, ergänzt um die wichtige Präzisierung der Eigenschaft eines sterblichen Gottes, der unweigerlich auch zur Erwähnung des unsterblichen Gottes führt: »This is the Generation of that great LEVIATHAN, or rather (to speak more reverently) of that Mortall God to which we owe, under the Immortall God, our pe ace and defence.« 29 24 Ergänzt durch die Fundstelle der Vu lgata : Iob 41,24. Ansonsten wird diese Stelle als 41,25 gehandelt. 25 So Brandt, Reinhardt: Das Titelblatt des Leviathan und Goyas El Gigante. In: Bermbach, Udo; Kodalle, Klaus M. (Hrsg.): Furcht und Freiheit. Leviathan-Diskussion 300 Jahre nach Hobbes. Opladen 1982, S. 215 f. 26 So Schmitt (Fn. 23), S. 29. Und weiter heißt es: »Nach dem Buch- und Textbefund besteht demnach die Bedeutung des Leviathan in dem nach ihm benannten Buch des Hobbes nur darin, daß er, als ein wirksames Bibelzitat, die stärkste irdische Macht durch ein Tier veranschaulicht, dessen überragende Stärke alle weniger Starken im Zaume hält.« (S. 35) 27 Hierzu auch: Brown, Keith: The Artist of the Leviathan Title-Page. In: The British Library Journal 4 (1978), S. 24-36. Brown belegt eindrücklich die Schwierigkeit und die falschen Pisten, Ähnlichkeiten im Gesicht des Titelkupfers mit Karl I., Cromwell oder Karl II. festzumachen, vor allem aber klärt er die Autorschaft ex negativo (nicht W. Hollar, s. auch unten). Brandts Ausführungen sowie die ihm stark verpflichteten von Herfried Münkler (Thomas Hobbes. Frankfurt/ M. [...] 1993 (Campus: Einführungen), Vgl. S. 48 ff.) kranken in diesem Punkt leider daran, diesen präzisen Artikel nicht genau gelesen zu haben. 28 The Introduction, S. 9. Zitate und Paginierung von Hobbes stammen aus der nun verläßlichsten Ausgabe von Richard Tuck: Thomas Hobbes: Leviathan. Cambridge 1991. 29 Leviathan (Fn. 28), S. 120. 392 Daniel Brühlmeier Hobbes wird zu Ende des XXVIII. Kapitels noch deutlicher, was seine Absicht und seine Verwendung des Bibeltextes betrifft: »Hitherto I have set forth the nature of Man (whose Pride and other Passions have compelled him to submit himselfe to Government; ) together with the great power of his Governour, whom I compared to Leviathan, taking that comparison out of the two last verses of the one and fortieth of Job; where God having set forth the great power of Leviathan, calleth him King of the Proud. There is nothing, saith he, on earth to be compared with him. He is made so as not to be afraid. He seeth every high thing below him; and is King of all the children of pride. 30 But because he is mortall, and subject to decay, as all other Earthly creatures are; and because there is that in heaven, (though not on earth) that he should stand in fear of, and whose Lawes he ought to obey; I shall in the next following Chapters speak of his Diseases and the causes of his Mortality, and of what Lawes of nature he is bound to obey.« 31 Reinhard Brandt hat den Titelkupfer, der notabene, wie Keith Brown zeigt, nicht von Wenceslaus Hollar angefertigt wurde 32 , zum Anlaß für eine ganze Reihe kühner Interpretationsversuche gemacht. Als grundsätzlich beachtenswert betrachten wir seinen Versuch, die Vitruvscher Klassik verpflichteten Proportionen des Kupferstichs über den Bildrand hinaus offenzulegen. Dadurch werden zwei um ein Zentrum im Herzen der Herrscherfigur gezogene Kreise sichtbar. Der innere, kleinere Kreis geht dann genau der Rundung des Vorhangs unterhalb der realen Bildmitte entlang, durchschneidet die rechte Hand des Herrscherkörpers und streift genau die Schwertspitze und den Schweif des Bischofsstabs. Ein zweiter, größerer Kreis hat als Radius die Distanz vom Herz bis zur Hälfte der unteren realen Bildmitte, endet also präzis zwischen der Textfolge »... and Civil./ By Thomas Hobbes«. Durch ihn wird oberhalb der realen Bildfläche ein höchst symbolträchtiger Punkt evoziert, der »das Auge zu einer imaginären Erweiterung des zu Sehenden« einlädt 33 : es ist der spitze Winkel eines Dreiecks, dessen Basis durch die untere Seite des den äußeren Kreis umfassenden Quadrates gebildet wird; gleichzeitig ziehen sich dessen beide Schenkel von den beiden imaginären unteren Eckpunkten exakt auf der Linie des Schwertes einerseits und des Bischofstabs andrerseits hoch. Damit wird zumindest plausibel gemacht, daß die Insignien der beiden Herrschaftsbereiche, die der Souverän ja in sich vereinigt - der weltlichen wie der geistlichen Macht -, zeltartig das (befriedete) Land überdachen, das Zelt aber auch imaginär das Schutzzelt Gottes darstellt, der den auf dem Bild nicht sichtbaren, aber regulae artis evozierbaren »transzendenten Konvergenzpunkt aller irdi- 30 Der Titelkupfer textualisiert nur den zweitletzten Vers, nicht aber den hier auch zitierten, sowohl in der Tradition wichtigen und wohl auch für ein volles (Selbst-)Verständnis von Hobbes unabdingbaren letzten Vers. 31 Leviathan (Fn. 28), S. 220 f. 32 Dagegen aber wohl eine frühere, gezeichnete Fassung, die als Frontispiz für das im November oder Dezember 1651 in Paris an Karl II. überreichte Geschenk-Manuskript des Leviathan diente; nach dieser wurde dann wohl der Kupferstich von einem für immer unbekannten, aber auch inferioren Stecher angefertigt, wobei als wahrscheinlich anzunehmen ist, daß eine Kopie der Zeichnung nach England geliefert wurde, ohne daß Hollar das Werk des Stechers noch begutachten konnte. Auffallendster und wohl bedeutendster inhaltlicher Unterschied bildet die Darstellung des Körpers des Herrschers: in der Zeichnung wird er - wohl werkgetreuer - durch dem Betrachter zugewandte Gesichter gebildet, während er im Stich - technisch gelungener - durch dem Gesicht zugewandte kniende und stehende Gestalten geformt wird. Brown vermutet (S. 31), daß dieser Eingriff so groß ist, daß er auf Veranlassung Hobbes und/ oder Hollars erfolgt sein muß. 33 Brandt (Fn. 25), S. 207. Leviathan 393 schen Macht« ausmacht. Damit ist auch der Weg frei, um in dieser oberen Spitze des Dreiecks eine Anspielung auf einen altisraelischen Topos - eben das Schutzzelt Gottes - zu sehen und mit einer esoterischen Tradition des vielfältigen Leviathan-Motivs zu verbinden, nämlich der Talmud-Stelle, die besagt, Gott besiege den Leviathan und fertige aus seiner Haut ein Zelt für die Gerechten. In seiner philosophisch wohl bedeutendsten Beschäftigung hat Carl Schmitt den ambitiösen Versuch unternommen, nicht nur der Vorgeschichte des Leviathan-Mythos nachzugehen, sondern auch bei Hobbes den »Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols« offenzulegen. 34 Sein Anliegen - »unsere Frage« ist »auf den politischen Mythos als eine eigenmächtige, geschichtliche Kraft gerichtet« - und die These, daß sich das Bild des Leviathan zu Hobbes’ Zeit in »einem ganz bestimmten geschichtlichen Entwicklungsstadium befand«, nämlich seiner mythischen, ja dämonischen, Kraft des Bildes verlustig ging, sind an sich interessant. Doch sie werden der geschichtlichen Größe Hobbes’ mit dem Diktum nicht gerecht, dessen »unausrottbar individualistischer Vorbehalt« würde in Verbindung mit der Innen und Außen radikal trennenden Gedanken- und Gewissensfreiheit »zum Todeskeim, der den mächtigen Leviathan von innen her zerstört und den sterblichen Gott zur Strecke gebracht hat.« Der zuweilen etwas dilettantische Umgang mit Quellen, vor allem aber die dieses Werk voll durchziehenden, auf Schmitts viszeralem Antisemitismus und Antiliberalismus beruhenden Vorurteile relegieren diesen ambitiösen Versuch, Philosophie- und Mythengeschichte mit politischem und biographischem Kampf zu verbinden und »Waffen einer einfachen, konkreten Entscheidung« zu schmieden, zum Dokument der Auseinandersetzung mit und der Bewältigung von Schmitt, weniger als mit dem Mythos des Leviathan. Spätere Erwähnungen des Leviathan Nach dieser mächtigen Kombination - prominentes Fabeltier des Alten Testaments und Titelfigur eines der wohl wichtigsten philosophischen Werke der Weltliteratur - war der Leviathan aus dem vielfältigen Referenz- und Zitierspiel nicht mehr wegzudenken, wobei es für die Resistenz der Bibel spricht, daß es beileibe nicht immer (explizit) nur Hobbes ist, auf den verwiesen wird. So ist etwa Heines ironische Disputation zwischen einem Rabbi und einem Mönch im 3. Buch des Romanzero noch ganz in der Tradition der alttestamentarischen und der apokalyptischen, ja vielleicht gar der kabbalistischen Tradition: »Leviathan heißt der Fisch, Welcher haust im Meeresgrunde; Mit ihm spielt Gott der Herr Alle Tage eine Stunde [...] 34 Siehe dazu auch Brühlmeier, Daniel: Carl Schmitt und die Philosophie. In: Studia philosophica 52 (1993), S. 199 ff., insb. 208 ff. Die folgenden Zitate finden sich ebd.: (Fn. 1). S. 45, 84, 86 und 130. Die von Schmitt manisch ins Zentrum gerückte und als aus jüdischem Haß auf heidnische Lebenskraft und Fruchtbarkeit erklärte und letztlich als jüdische Schmarotzerhaltung diffamierte »comestio Leviathanis« hat in der jüdischen Literatur (s. The Jewish Encyclopedia. Bd. VIII, S. 38) ohnehin allegorischen Charakter; nach Maimonides meint sie eine spirituelle Erfüllung. Schmitt zitiert selbst eine Stelle Adrian Relands resp. des Großrabbiners Abraham de Cologna zu dieser communis opinio (ebd., S. 17 Anm.), will sie aber offensichtlich nicht als solche (an)erkennen. 394 Daniel Brühlmeier Leviathan und Behemoth wurden von William Blake in Aquarellfolgen als Illustrations of the Book of Job (1820 ff.), also mit deutlicher Anspielung auf den biblischen Ursprung des Mythos’, wiederaufgenommen. Demgegenüber ist die Präsenz des Leviathan in Melvilles Mobby- Dick von 1851 schon fast enzyklopädisch, wie etwa die »Extracts« zu Beginn des Buches belegen 35 . Die dortigen expliziten Verweise auf Leviathan-Referenzen bei Rabelais, Bacon, Miltons Paradise Lost , Dryden u.a.m. zeigen, daß dieses Thema nicht in seiner ganzen Fülle behandelt werden kann und die auch hier getroffene Auswahl immer auch (unbeabsichtigte) Präferenzen des Autors wiedergibt. Im 20. Jahrhundert gibt es verschiedene literarische Werke, die den Leviathan im Titel führen: Etwa der Léviathan von Julien Green aus dem Jahre 1929, wo die Chiffre des »feurige Funken schießenden« Ungeheuers (Hiob 41, 11) der Titelgebung zu einem Roman Hand bietet, der unter kleinstädtischen Konventionen eine leidenschaftliche Tragödie ablaufen läßt. Joseph Roth hat 1940 eine Erzählung Leviathan geschrieben, die in einem gleichnamigen Band von Erzählungen wieder aufgelegt wurde 36 ; in deutlicher Erinnerung an die biblische und messianische Tradition ertrinkt darin der jüdische Korallenhändler Nissen Piczenik auf der Überfahrt auf der »Phönix« nach Übersee: »Er war vielmehr - dies kann man mit gutem Gewissen erzählen - zu den Korallen heimgekehrt, auf den Grund des Ozeans, wo der gewaltige Leviathan sich ringelt [...] Möge er dort in Frieden ruhen bis zur Ankunft des Messias«. Auch Arno Schmidt hat 1949 eine Erzählung geschrieben: Leviathan, oder Die Beste der Welten 37 : Der Leviathan erscheint dort in einer protokollähnlichen Aufzeichnung einer Irrfahrt einer im Februar 1945 in der Nähe Berlins bebombten Eisenbahn als nationalsozialistisch-satanische, aber auch sterbliche Machtinstanz. Heute soll für den Juristen der Leviathan gebändigt und »alt geworden [sein]. Er wird sich mit seiner Rolle als nützliches Haustier abfinden müssen« 38 . Mag sein! Das Bild ist aber immer noch stark genug, um mit seiner ganzen Vieldeutigkeit heute noch Titelwürde für einen Kriminalroman von Paul Auster 39 abzugeben, und neuerdings ist er auch in Hannover in einem Theaterstück von Dea Loher auf die Bühne gebracht worden 40 . Ganz zu schweigen natürlich von Hiobs eigener Geschichte als solche: sie hat literarisch, philosophisch und lebenspraktisch kaum an Aktualität eingebüßt und gibt nicht zuletzt die Vorlage ab für eine gelungene Doppeldeutigkeit im Titel eines amerikanischen Breviers für Körpergefühl und Körperarbeit: Job’s Body! 41 35 S. dazu Melville, Herman: Redburn, White-Jacket, Moby-Dick. New York 1983, S. 783 ff. 36 Roth, Joseph: Leviathan. Erzählungen. München 1976, S. 168 ff.; das Zitat findet sich in fine S. 196. 37 Wieder in: Schmidt, Arno: Das erzählerische Werk in 8 Bänden. Bd. 2. Zürich 1985, S. 7 ff. 38 Denninger, Eberhard: Der gebändigte Leviathan. Baden-Baden 1990, S. 29. 39 Auster, Paul: Leviathan. London; Boston 1992. 40 S. Neue Züricher Zeitung, Nr. 233 vom 7.10.1993, S. 27. In dem Stück werden offensichtlich Versatzstücke von Hobbes verarbeitet. 41 Juhan, Deane: Job’s Body. A Handbook for Bodywork. Barrytown, N.Y. 1987. Lilith Edith Wenzel (Berlin) Lilith ist ein weiblicher Dämon, der in der jüdischen Dämonologie eine zentrale Stellung einnimmt und dessen Ursprünge auf den babylonischen bzw. sumerischen Kulturkreis zurückgehen. 1 Lilith werden unterschiedliche Rollen und Erscheinungsbilder zugeschrieben: — sie wird als dämonisch-schönes weibliches Wesen beschrieben, das allein schlafende Männer verführt; — sie erscheint als die Mutter unzähliger Dämonen (»Lilin«); — sie gilt als Adams erste Frau (die »erste Eva«), die sexuelle Gleichberechtigung einforderte und deshalb verbannt wurde; — sie erscheint aus Haß und Eifersucht auf Evas Nachkommen am Bett der Wöchnerinnen, um die Neugeborenen zu töten. I. Quellen Bibel In der Bibel wird Lilith nur einmal und zwar in der Vision des Propheten Jesaja erwähnt (Jes. 34,14). Sie taucht dort als Wüstengespenst auf, das sich am Tage der Rache zusammen mit Hyänen, Wüstenhunden und Bocksgeistern in dem verwüsteten Land niederlassen wird. Über ihr Wesen und Aussehen wird nichts Näheres berichtet. Talmud und Midraschim Im Babylonischen Talmud wird Lilith hingegen häufiger genannt. Als schöne Dämonin mit Frauengesicht, langem Haar und Flügeln wird sie in den Traktaten Erubin 100b und Nidda 24,6 beschrieben. Im Traktat Sabbat 151 b werden die Männer davor gewarnt, allein in einem Haus zu schlafen, weil Lilith sie zu überfallen drohe. 2 Im Traktat Erubin 18 b wird berichtet, daß Adam 130 Jahre lang nicht mit Eva geschlafen habe, in dieser Zeit aber von einem weiblichen Dämon in der Nacht heimgesucht wurde und daß aus dieser Verbindung zahlreiche Dämonen hervorgegangen seien. 3 In den Midraschim werden die unterschiedlichen Berichte über Lilith und ihr Ver- 1 Auf die zahlreichen Verbindungen der Lilith-Figur zu anderen Dämoninnen oder Göttinnen (Lamashtu, Lilu und Lilitu u.a.) kann hier nicht eingegangen werden. Darüber informieren u.a. Scholem, Gershom: Lilith. In: Encyclopaedia Judaica. 16 Bde. Jerusalem 1973 - 1978, Bd. 11, Sp. 245 - 249, hier Sp. 245 f. und Hurwitz, Siegmund: Lilith - die erste Eva. Eine historische und psychologische Studie über dunkle Aspekte des Weiblichen. 3. erweiterte Auflage. Einsiedeln 1993, S. 37 - 99. 2 Scholem (Fn. 1) Sp. 246 und Hurwitz (Fn. 1), S. 105. 3 Ginzberg, Louis: The Legends of the Jews. 7 Bde. Philadelphia 1925, hier Bd. 1, S. 118 und Bd. 5, S. 148. 396 Edith Wenzel hältnis zu Adam zu einer Art Biographie verdichtet. Ausgangspunkt ist die zweimalige - dabei widersprüchliche - Beschreibung der Erschaffung von Mann und Frau: Im ersten Schöpfungsbericht (Gen. 1, 27) werden Mann und Frau gleichzeitig und gleichwertig erschaffen, während im zweiten Bericht (Gen. 2, 7 und 2, 18 - 23) erst der Mann und dann die Frau erschaffen wird. Der erste Schöpfungsbericht erwähnt die Erschaffung des Menschen nur sehr kurz: »Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie.« In Genesis 2,21 - 23 wird aber die Erschaffung der Frau erneut und nun sehr viel detaillierter geschildert: »Da ließ Gott, der Herr, einen tiefen Schlaf auf den Menschen fallen, so daß er einschlief, nahm eine seiner Rippen und verschloß ihre Stelle mit Fleisch. Gott, der Herr, baute aus der Rippe, die er vom Menschen genommen hatte, eine Frau und führte sie dem Menschen zu. Und der Mensch sprach: Das endlich ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch. Frau soll sie heißen, denn vom Mann ist sie genommen.« Aus diesen beiden divergierenden Berichten schlossen die jüdischen Exegeten, daß Eva also nicht die erste Frau Adams gewesen sein könne, daß es vielmehr eine »erste Eva« gegeben habe: Lilith. Das Alphabet des Ben Sira, das auf die Zeit zwischen dem 9. und 10. Jahrhundert datiert wird, 4 präsentiert eine Art Ergänzung zu den beiden biblischen Schöpfungsberichten von Mann und Frau. 5 Zunächst habe Gott den ersten Menschen, Adam, aus Erde geschaffen. Nachdem Gott erkannt habe, daß es für diesen Menschen nicht gut sei, allein zu sein, habe er für ihn eine Frau aus Erde geschaffen und ihr den Namen Lilith gegeben. Doch schon bald begannen Adam und Lilith darüber zu streiten, wer beim Beischlaf oben liegen dürfe. Als Adam darauf bestand, daß Lilith unten zu liegen habe, habe sie ihm geantwortet: »Wir sind beide gleichberechtigt, denn wir sind beide aus Erde geschaffen.« 6 Aus Zorn habe Lilith den unaussprechlichen (verbotenen) Namen Gottes ausgesprochen und sei durch die Luft davongeflogen. Als Adam sich daraufhin bei Gott über seine Frau beklagte, habe der Herr drei Engel ausgesandt, um Lilith zurückzuholen mit der Drohung, daß täglich hundert ihrer Kinder sterben müßten, falls sie die Rückkehr verweigere. Lilith aber weigerte sich, den Gottesboten zu folgen und teilte ihnen statt dessen mit, daß sie dazu geschaffen sei, neugeborene Kinder zu schädigen. Allein ein Amulett mit den Bildern oder Namen der drei Engel (Sanvai, Sansanvai und Semenglof) 7 könne Neugeborene vor ihrem Zugriff retten. In diesem Midrasch verschmilzt die Figur der »ersten Eva« mit einer anderen Dämonin, die in den Quellen verschiedene Namen trägt und die Neugeborene erwürgt. 8 4 Vgl. Hurwitz (Fn. 1), S. 147 ff. 5 Übersetzung des Textes bei Hurwitz (Fn. 1), S. 142 f. 6 Hurwitz (Fn. 1), S. 142. 7 Schrire, T.: Hebrew Amulets. Their Decipherment and Interpretation. London 1966, S. 115. 8 Im Testament des Salomon (ca. 3. Jahrhundert) heißt diese Dämonin Obizoth (vgl. Scholem, Fn. 1, Sp. 246), in anderen Quellen taucht der Name Naamah auf (vgl. Ginzberg, Fn. 3, Bd. 5, S. 148). Auch mit der Königin von Saba wird Lilith identifiziert (vgl. Scholem [Fn. 1], Sp. 248). Lilith 397 Kabbala Die Kabbala greift die unterschiedlichen Vorstellungen von Lilith auf und fügt sie in eine umfassende Lehre von den Dämonen ein. Wie in den bereits angeführten Quellen, so erscheint Lilith auch in der Kabbala zunächst in ihren beiden dominanten Rollen als Verführerin der Männer und als Kindesmörderin. Das Hauptwerk der Kabbala, das Buch Zohar (14. Jahrhundert) spricht von Lilith als erster Frau Adams (wie das Alphabet Ben Sira, s.o.), die sich nach einer heftigen Auseinandersetzung mit Adam entfernt. Danach muß Lilith mitansehen, wie Eva dem Adam als geschmückte Braut zugeführt wird, und fortan ist es das erklärte Ziel der Lilith, Menschen zu fangen. 9 Haufig erwähnen die kabbalistischen Schriften Lilith als Verführerin, die sich wie eine Hure herausputzt, um den Männern am Wege aufzulauern. Nach erfolgreicher Verführung tötet sie den Mann und wirft ihn in die Hölle. 10 An anderer Stelle wird ausgeführt, daß Lilith als Succubus in der Nacht zu den schlafenden Männern eile, um durch deren Samenergüsse schwanger zu werden und unzählige Dämonen zu gebären. 11 Die Kabbala erweitert das Lilith-Bild um ein neues Motiv: Lilith erscheint als Partnerin des Satans (bzw. Samaels) und wird zur Königin im Reich des Bösen erklärt. 12 In dieser Eigenschaft taucht Lilith auch in der frühneuzeitlichen deutschsprachigen Literatur auf (s.u. zum Spiel von Frau Jutten). Zaubersprüche und Amulette Neben den schriftlich fixierten Quellen, die im Zusammenhang mit den heiligen Schriften entstanden sind, gibt es zahlreiche Belege für die Verankerung des Lilith-Mythos im Volksglauben. In Babylon wurden z.B. eine Reihe von Schalen aus dem 3. bis 7. Jahrhundert entdeckt, die auf ihrer Innenseite Inschriften zeigen, die als aramäische Zaubersprüche identifiziert wurden. 13 Mit diesen Zaubersprüchen sollen die Dämonen, darunter auch die namentlich aufgeführte Lilith, ferngehalten werden. Weitaus verbreiteter sind Amulette, die Wöchnerinnen, aber auch gefährdete Männer, vor dem schädigenden Einfluß der Lilith schützen sollen. Zur Abwehr der Dämonin war es üblich, den Namen der Lilith oder der drei Engel (s.o. zum Alphabet des Ben Sira) aufzuschreiben und an das Bett der Wöchnerin zu hängen oder aber ein entsprechendes Metall-Amulett um den Hals zu tragen. Die von Schrire 14 gesichteten Amulette bezeugen die ununterbrochene Vitalität des Lilith-Mythos seit dem 10. Jahrhundert bis in die Moderne. Zugleich belegen diese Untersuchungen die weite geographische Verbreitung des Mythos; die Beispiele stammen u.a. aus Deutschland, Persien, Afghanistan, Marokko, Kurdistan und Palästina. 9 Zohar III, 19a. Angabe und Text bei Hurwitz (Fn. 1), S. 166. 10 Zohar I, 148a/ b, Angabe und Text bei Hurwitz (Fn. 1), S. 166 f. 11 Scholem (Fn. 1), Sp. 247. 12 Scholem, Gershom: Ursprung und Anfang der Kabbala. Berlin 1962, S. 261. 13 Isbell, Charles D.: Corpus of the Aramaic Incantation Bowls. Missoula 1975. 14 Schrire (Fn. 7), S. 114 - 117 und Abbildungen. 398 Edith Wenzel II. Rezeption Abgesehen von der ununterbrochenen Tradierung des Lilith-Mythos in Form von Amuletten zeugt eine Reihe von Erzählungen von der Tradition des Stoffes im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Daß die Geschichten um Lilith hauptsächlich in jüdischen Versionen (vereinzelt auch in jiddischen Textsammlungen) 15 überliefert werden, die Spuren von Lilith in der christlichen Literatur dagegen eher spärlich sind, kann dabei nicht verwundern. In Anlehnung an die rabbinische Literatur (Talmud und Midraschim) erscheint Lilith in den kleineren volkstümlichen Erzählformen in ihrer Doppelrolle als Dämonin, die einerseits den Neugeborenen nach dem Leben trachtet und andererseits den Männern nachstellt. Eine verbreitete Legende, die zum Themenkreis der kinderraubenden Dämonin zu rechnen ist, ist die Begegnung Liliths mit dem Propheten Elija. 16 Lilith teilt dem Propheten mit, daß sie gerade auf dem Weg zu einer Wöchnerin sei, die sie töten wolle, um deren Neugeborenes aufzuessen. Elija droht ihr mit dem Bann, und Lilith nennt ihm ihre geheimen Namen, um dem Bannfluch zu entgehen. Wenn fortan diese Namen aufgeschrieben oder genannt werden, dann wird jedes neugeborene Kind vor ihr geschützt sein. In enger Anlehnung an diese Legende erscheint der Name des Propheten Elija auf einigen Amuletten. 17 Zahlreiche Varianten dieser Erzählung sind auch in christlicher Überarbeitung überliefert. 18 Anstelle des Propheten Elija trifft Lilith in diesen christlich geprägten Versionen auf den Erzengel Michael, der sie fesselt, damit sie ihren geplanten Weg nach Bethlehem zur schwangeren Jungfrau Maria nicht fortsetzen kann. Sehr beliebt scheint auch die Figur der Lilith als Verführerin zu sein. In einer Erzählung aus dem 13. Jahrhundert 19 wird berichtet, wie ein armer Jude Frau und Kinder verlassen muß, um in der Fremde seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Er gerät in ein Land, das von Teufeln in Menschengestalt bewohnt ist, und wird dort mit einer Teufelin verheiratet. Auf sein Drängen hin darf er für eine begrenzte Zeit zurück zu seiner Familie. Als er sich weigert, seine Familie wieder zu verlassen, erscheint die Teufelin als schöne Frau und will ihn zur Rückkehr zwingen. Er weigert sich, erfüllt jedoch ihre Bitte um einen Abschiedskuß. Sie aber saugt ihm mit diesem Kuß die Seele aus. Zwar wird in dieser Version nicht der Name der Lilith genannt, aber die Hinweise auf die Dämonin, die die Männer erst verführt und dann tötet, verweisen eindeutig auf Lilith. In einer anderen Erzählung 20 wird von einem Mann mit zwei Frauen berichtet, einer Ehefrau und einer Geliebten. Diese erweist sich als Dämonin in Menschengestalt. Mit Hilfe eines Amuletts 15 Vgl. Timm, Erika: Zur Frühgeschichte der jiddischen Erzählprosa. Eine neuaufgefundene Mai ś e-Handschrift. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 117 (1995), S. 243-280, hier S. 252. 16 Text bei Schrire (Fn. 7), S. 115 und Hurwitz (Fn. 1), 154. 17 Z.B. auf einem Silberamulett aus Kurdistan, siehe Schrire (Fn. 6), Tafel 53. 18 Gaster, M.: Two thousand Years of a Charm against the Child-stealing Witch. In: Gaster, M.: Studies and Texts in Folklore, Magic, Medieval Romance, Hebrew Apocrypha. 3 Bde. New York 1971, hier Bd. 2, S. 1008 f. 19 Angabe nach Sadeh, Pinchas: König Salomos Honigurteil. Märchen und Legenden der Juden. München; Wien 1989, S. 495. Sadeh präsentiert hier eine Nacherzählung des Sefer Ha-Ma'asijot von Mordechai Ben Jeseskel unter dem Titel »Der Kuß« (S. 99 - 102). 20 Text bei Sadeh (Fn. 19), S. 113 - 116; vgl. ferner »Lilit und das Unkraut«, o.c. S. 119. Lilith 399 wird die Dämonin zwar vertrieben, doch die Nachkommenschaft aus dieser Verbindung bevölkert viele Jahre lang als böse Geister das Haus der Familie, bis sie schließlich durch einen Rabbi in die Wüste verbannt werden. Spuren eines weiblichen Dämons, der die Männer zur Liebe zwingen will, finden sich auch in der christlichen mittelalterlichen Literatur. So berichtet Caesarius von Heisterbach in seinem Dialogus Miraculorum 21 (1219 - 1223) von einem Soester Bürger, dem eine schöne weibliche Gestalt am Wegrand auflauert, um ihn zu verführen. Als er den Liebesakt verweigert, ergreift sie ihn und trägt ihn durch die Luft mit sich fort. Nahe bei einem Kloster läßt sie ihn auf einer Weide zurück. Der Mann verliert danach den Verstand und stirbt ein Jahr später. Vorstellungen über weibliche Dämonen, die Männer verführen wollen oder Kinder aufessen, scheinen in der oralen Tradition weit verbreitet gewesen zu sein, obwohl die christliche Kirche (zumindest bis ins 13. Jahrhundert) diese Vorstellungen als gefährlichen Aberglauben und Götzendienst denunzierte. Einige Wesensmerkmale der hebräischen Dämonin vermischen sich dabei mit dem Bild der aus der griechischen Mythologie stammenden Lamia, 22 mit der sich die Schriften der Kirchenväter auseinandersetzen. 23 Die direkte Nennung Liliths ist in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters bzw. der Frühen Neuzeit selten. Im Spiel von Frau Jutten 24 (1480) läßt der Autor Dietrich Schernberg gleich in der ersten Szene Lilith (Lillis) auftreten. Sie wird als des »Teufels grosmutter« vorgestellt, die übermütig im Kreise der Teufel tanzt, während diese darüber beraten, wie sie die weltliche Macht an sich reißen können. Auf rabbinisches Schrifttum greift hingegen Hans Folz zurück. In seinem Fastnachtspiel Die alt und neu ee, die sinagog, von uberwindung der Juden in ir Talmud 25 , das um 1474 in Nürnberg entstanden ist, setzt der Autor eine fingierte Disputation zwischen einem Rabbi und einem christlichen Gelehrten in Szene. In dieser Disputation erzählt der Rabbi auf die Frage des Christen, was die Juden denn über Adam wüßten, folgende Geschichten: »Der Rabi: Im buch Broschitz Adam der rein Spricht: Das gepein von meinem pein. Da nimt rabi Elezer ab, Das Adam sich vermischet hab Mit allen tiren, darvon alsbalt Kemen man, so wunderlich gestalt Der menschen nach gestalt der tir. Darauf redt rabi Schlanis schir, Das Adam vor Even gewis Ein frauen hett, genant Lilis, 21 Zitiert nach Becker, Gabriele; Bovenschen, Silvia; Brackert, Helmut [u.a.]: Aus der Zeit der Verzweiflung. Zur Genese und Aktualität des Hexenbildes. Frankfurt/ M. 1977, S. 328 f. 22 Zur Lamia vgl. Hurwitz (Fn. 1), S. 51 f. 23 Bächtold-Stäubli, Hanns (Hrsg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. 10 Bde. Berlin; Leipzig 1927 ff., hier Bd. V, Sp. 1302. Vgl. ferner den Artikel »Hexe« im Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, o.c. Bd. III, Sp. 1830 ff. 24 Dietrich Schernberg: Ein schoen Spiel von Frau Jutten. Nach dem Eislebener Druck von 1565 hrsg. von Manfred Lemmer. Berlin 1971. 25 Keller, Adelbert von (Hrsg.): Fastnachtspiele aus dem 15. Jahrhundert. 4 Bde. Stuttgart 1853 - 1858 (Nachdr. Darmstadt 1965/ 66), Bd. 1, S. 1 - 33 (= K 1). 400 Edith Wenzel Die eitel teufel im gepar. Und rabi Ezerei sagt clar, Das Eva mit der schlangen sich Auch hab vermischt unleuterlich.« (K 1, S. 19, V. 6 - 20) [Im Buch Broschitz (= Genesis) spricht Adam, der Reine: Das ist Bein von meinem Bein. Daraus leitet der Rabbi Elezer ab, daß Adam sich mit den Tieren vermischt habe und daß daraus Menschen mit seltsamer Gestalt, den Tieren gleich, hervorgegangen seien. Danach berichtet Rabbi Schlanis, daß Adam vor Eva ganz sicher eine Frau gehabt habe mit Namen Lilis, die ihm lauter Teufel gebar. Und Rabbi Ezerei sagt klar, daß Eva sich mit der Schlange auf unreine Art gepaart habe.] Hans Folz gehört zu den wenigen mittelalterlichen deutschsprachigen Dichtern, die relativ gute Kenntnisse über das talmudische Schrifttum besaßen und diese in ihren Werken aufbereiteten. Über die Wege der Vermittlung können wir bis heute nur Vermutungen anstellen. 26 In der deutschsprachigen Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts ist Lilith nicht gerade populär, aber vereinzelte Spuren lassen erkennen, daß die literarische Tradierung des Lilith-Mythos in der deutschsprachigen Literatur nicht abbricht. So beschreibt u.a. Johannes Praetorius (1666) Lilith als verführerische Teufelin (succuba): »von Angesicht wie ein schön Weib gestalt / die vorgehenden mit lieblichen anblicken / und entblössung der Brust zu sich locke / und hindenzu eine schüpichte Schlange.« 27 Die Schrift von J. Praetorius hat vermutlich 28 J.W. Goethe zu seiner Lilith-Szene im Faust angeregt und damit der Lilith-Figur zu einem hohen Bekanntheitsgrad verholfen. Im Dialog zwischen Faust und Mephistopheles, der den Hexentanz Fausts einleitet, klärt Mephistopheles über die Verführungskünste der Dämonin auf: Faust: Wer ist denn das? Mephistopheles: Betrachte sie genau! Lilith ist das. Faust: Wer? Mephistopheles: Adams erste Frau. Nimm dich in Acht vor ihren schönen Haaren Vor diesem Schmuck, mit dem sie einzig prangt. Wenn sie damit den jungen Mann erlangt, So läßt sie ihn sobald nicht wieder fahren. 29 26 Über die Vorlagen von Hans Folz und mögliche Vermittlungs-Instanzen siehe Wenzel, Edith: »Do worden die Judden alle geschant« - Zur Rolle und Funktion der Juden in spätmittelalterlichen Spielen. München 1992, S. 193 - 217. 27 Praetorius, Johannes. Anthropodemvs Plvtonicvs. Das ist/ Eine Neue Welt-beschreibung Von allerley wunderbahren Menschen. Magdeburg 1666, S. 21. Zitiert nach Schöne, Albrecht: Johann Wolfgang Goethe, Faust. Texte. Kommentare. Frankfurt am Main 1994 (J. W. Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bde. Bd. 7/ 1 und 7/ 2), hier Bd. 7/ 2, S. 355 f. 28 Vgl. Schöne (Fn. 27), Bd. 7/ 2, S. 355. Lilith 401 Diese Szene wird von Thomas Mann in seinem Zauberberg anzitiert und ironisch umspielt: »›Betrachte sie genau! ‹ hörte Hans Castorp Herrn Settembrini wie von weitem sagen, während er ihr, die bald weiterging, gegen die Glastür, zum Saal hinaus, mit den Blicken folgte. ›Lilith ist das.‹ ›Wer? ‹ fragte Hans Castorp. Der Literat freute sich. Er replizierte: ›Adams erste Frau. Nimm dich in acht ...‹ [...] Hans Castorp sagte: ›Du steckst heute voller Poesie und Versen. Was ist nun das wieder für eine Lilli? War Adam also zweimal verheiratet? Ich hatte keine Ahnung ...‹ ›Die hebräische Sage will es so. Diese Lilith ist zum Nachtspuk geworden, gefährlich für junge Männer besonders durch ihre schönen Haare.‹ ›Pfui Teufel! Ein Nachtspuk mit schönen Haaren. So etwas kannst Du nicht leiden, was? Da kommst du und drehst das elektrische Licht an, sozusagen, um die jungen Männer auf den rechten Weg zu bringen, - tust du das nicht? ‹« 30 Lilith, als schöne dämonische Verführerin, beschäftigt die literarische Phantasie des 19. und 20. Jahrunderts intensiv. Das Bild von der »femme fatale« trägt Liliths Konterfei. 31 Für Victor Hugo ist sie »la fille du démon«, die »monstre femme« und »la grande femme d’ombre«. 32 Die tödliche Gefahr des weiblichen Zaubers in der Inkarnation der Lilith beschreibt eindrücklich Dante Gabriel Rossetti: Of Adam’s first wife, Lilith, it is told (The witch he loved before the gift of Eve,) That, ere the snake’s, her sweet tongue could deceive, And her enchanted hair was the first gold. And still she sits, young while the earth is old, And, subtly of herself contemplative, Draws men to watch the bright web she can weave, Till heart and body and life are in its hold. The rose and poppy are her flowers; for where Is he not found, O Lilith, whom shed scent And soft-shed kisses and soft sleep shall snare? Lo! as that youth’s eyes burned at thine, so went Thy spell through him, and left his straight neck bent. And round his heart one strangling golden hair.« 33 III. Die »neue« Lilith Die feministische Bewegung hat Lilith wiederentdeckt und den Mythos in gewisser Weise auch populär gemacht. Frauenbuchläden tragen Liliths Namen als Signet, Ballettaufführungen sind ihr gewidmet 34 , und auch im wissenschaftlichen Bereich - insbesondere 29 Schöne (Fn. 27), Bd. 7/ 1, S. 176. 30 Mann, Thomas: Der Zauberberg. Frankfurt/ M. 4 1960, S. 301. 31 Zahlreiche Belegstellen aus der englischen und französischen Literatur präsentiert Killen, A.M.: La légende de Lilith et quelques interprétations modernes de cette figure légendaire. In: Revue de Littérature Comparée 12(1932), S. 277 - 311. 32 Zitiert nach Killen (Fn. 30), S. 277 und S. 306. 33 Rossetti, Dante Gabriel: The House of Life. Part II, Sonnet 78. London 1907. 34 »Lilith, the Black Moon«. In: Ballett International 1994, August/ September. 402 Edith Wenzel in der Psychologie 35 , in den Religionswissenschaften 36 und in der Literaturwissenschaft 37 - sind in den letzten Jahren viele Beiträge veröffentlicht worden, in denen der Lilith-Mythos aus feministischer Perspektive neu interpretiert wird. In dem dämonisierten Imago der großen Verführerin Lilith, das das rabbinische Schrifttum so sehr betone, äußere sich die patriarchalische Einstellung des Judentums gegenüber dem Weiblichen als einer bedrohlichen Macht, konstatiert Hurwitz; daher werde in der jüdischen wie auch in der christlichen Kulturentwicklung »das Weibliche aus einer gewissen Abwehrstellung heraus nicht nur entwertet, sondern geradezu dämonisiert«. 38 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen auch Baring und Cashford: »It is hard to escape the conclusion that Lilith became an image of denied sexual desire, repressed and projected on the female, who thereby becomes the seducer.« 39 Es kann daher nicht überraschen, daß Liliths Rolle in der Auseinandersetzung mit Adam als symptomatisch für den Geschlechterkampf angesehen wird. 40 Lilith sei bestraft worden, weil sie auf ihrer Gleichstellung und Gleichwertigkeit insistiert habe. Zwar habe Gott den Versuch unternommen, Liliths mangelnde Insubordination zu korrigieren, indem er Eva aus Adams Rippe geschaffen habe, doch auch Eva war bekanntlich kein rechter Erfolg, denn sie habe das einzige Gebot gebrochen und damit die Vertreibung der Menschen aus dem Paradies ausgelöst: »In the simple logic of the legends Lilith was the first wife, who was worse than the second.« 41 Als »erste Feministin« wird Lilith schließlich in einer kleinen Parabel gefeiert. 42 Die Autorin imaginiert Lilith als selbständige Persönlichkeit, die Eva in die Freuden weiblicher Unhabhängigkeit einführt, bis sich schließlich die beiden Frauen in enger emotionaler Gemeinschaft (»sisterhood«) miteinander verbünden, um die Zukunft neu zu gestalten: »And God and Adam were expectant and afraid the day Eve and Lilith returned to the garden, bursting with possibilities, ready to rebuild it together.« 43 35 V gl. Hurwitz (Fn. 1) mit weiteren bibliographischen Hinweisen. 36 Baring, Anne; Cashford, Jules: The Myth of the Goddess. Evolution of an Image. London 1991. 37 Zur Rezeption des Lilith-Mythos in der modernen englischen Literatur siehe Price, Meredith: ›All Shall Love and Despair‹: The Figure of Lilith in Tolkien, Lewis, Williams, and Sayers. In: Mythlore (1982) 9, S. 3 - 7 und Mc Gillis, Roderick: Phantastes and Lilith: Feminity and Freedom. In: Raeper, William (Hrsg.): The Gold Thread: Essays on George MacDonald. Edinburgh 1990, S. 31 - 55. Zur französischen und italienischen Literatur siehe Braun, Sidney D.: Lilith: Her Literary Portrait, Symbolism, and Significance. In: Nineteenth Century French Studies 1982/ 83, 11, S. 135 - 153 und Palacio, Jean de: La figure de Lilith dans le roman d’entre deux guerres. In: Revue d’Etudes du Roman du XX e siècle (1991) 12, S. 87 - 98. 38 Hurwitz (Fn. 1), S. 103. 39 Baring/ Cashford (Fn. 36), S. 511. 40 Birk, Anne (Hrsg.): Beifall für Lilith. Autorinnen über Gewalt. Weissach 1991. 41 Baring/ Cashford (Fn. 36), S. 511. 42 Plaskow Goldenberg, Judith: Epilogue: The Coming of Lilith. In: Ruether, R. (Hrsg.): Religion and Sexism. Images of woman in the jewish and christian traditions. New York 1974, S. 341 - 343. 43 Plaskow Goldenberg (Fn. 42), S. 343. Medusa, Pegasos und Perseus Antiker Mythos, mittelalterliche Rezeption und Nachleben in der Neuzeit Albrecht Classen (Tuscon) In der griechischen Mythologie gehören die drei Gorgonen Stheno, Euryale und Medusa zur ältesten Göttergeneration. Gezeugt hatte sie der Meeresgott Phorkys mit seiner Schwester, dem Meeresungeheuer Keto (Hesiodos, Theogonia, 270 - 282). Diese drei Frauen waren so häßlich, daß ihr Anblick den Betrachter zu Stein erstarren ließ. In der griechischen und römischen Dichtung lassen sich verschiedentlich Belege für die Verbreitung und Neugestaltung dieses Mythos’ finden, so insbesondere in Ovids Metamorphosen (4, 604 - 5, 249), in Apollodoros’ Bibliotheke (1, 2, 6; 2, 4, 2 - 3, griechisch) und in Lucans Pharsalia (9, 624 - 733, lateinisch). Zum Glück für die Menschheit lebten die Gorgonen fern im Westen an der Küste des Weststroms. Sie hatten bronzene Hände, goldene Flügel, riesige Zähne und Schlangenhaar. Nur der Gott des Meeres Poseidon bzw. Neptun vermochte es, ihrem Blick standzuhalten, ohne in Stein verwandelt zu werden. Ovid gestaltete den Mythos abweichend von seinen griechischen Quellen: Medusa erhält erst nach der Vergewaltigung durch Neptun in einem von Minervas Tempeln von dieser das furchterregende Schlangenhaar. Aus der geschlechtlichen Vereinigung mit dem Meeresgott gebar Medusa ein Kind. Perseus tötete seine Mutter, die von allen drei Schwestern als einzige sterblich war, noch vor der Geburt. Aus ihren tödlichen Wunden wurden das geflügelte Pferd Pegasos und der Riese Chryasor geboren. Später trug Athena das von Perseus überreichte Haupt der Medusa zur Abschreckung auf ihrem Schild 1 . Während Stheno und Euryale nur selten mit ihrer Schwester oder auch einzeln abgebildet wurden (beispielsweise auf der Vase des »Gorgonenmalers«, ca. 590 v. Chr., Louvre), wurde Medusa in der griechischen und römischen Kunst mit Vorliebe immer wieder als Motiv aufgegri ffe n. Aus dem Mittelalter und der frühen Neuzeit sind zunächst zwei Sagen des östlichen Mittelmeerraumes bekannt, in denen die Medusa wieder auflebte. Laut W.H. Roscher handelt es sich bei der Hauptfigur der ersten Sage um eine Jungfrau auf der Insel Megiste an der lykischen Küste, die zeit ihres Lebens die Umwerbungen eines Mannes abweist, von diesem aber nach ihrem Tod geschwängert wird. Sie gebiert sogar noch einen Sohn, dessen Haupt auf Geheiß des Vaters abgeschnitten wird, der es als Abschreckmittel gegen Feinde benutzt. Ein Motiv, wie wir es auch vom Haupt der antiken Medusa kennen. Die neugierige Gattin des Mannes stöbert eines Tages diesen schrecklichen Kopf auf und wirft ihn voller Entsetzen in den Meerbusen von Satalia. Dort bewirkt seitdem der Kopf, wenn er nach oben gewendet ist, einen Sturm, wenn er nach unten gewendet ist hingegen Windstille. Die zweite Sage, die noch weit bis in die Neuzeit hinein im östlichen Mittel- 1 Moorman, Eric M.; Uitterhoeve, Wilfried: Lexikon der antiken Gestalten. Mit ihrem Fortleben in Kunst, Dichtung und Musik. Übers. Marinus Pütz. Stuttgart 1995 (Kröners Taschenausgabe, Bd. 468), S. 287 - 289; siehe auch Niese: Gorgo. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaften. 14. Halbband. Stuttgart 1912, Sp. 1630 - 1655. 404 Albrecht Classen meer verbreitet gewesen sein soll, berichtet von einer Gorgo als Meeresgöttin, die Seeleuten als Ungeheuer erscheint und ihnen schwierige Fragen oder Rätsel stellt. Falls sie diese richtig beantworten können, verwandelt sie sich in eine schöne Jungfrau, doch bei falschen Antworten ertränkt Gorgo die unglücklichen Opfer 2 . Viel bedeutsamer für die Rezeption des Medusa-Mythos im Mittelalter aber war die lateinische Schulliteratur. Die klassische Mythologie fand hier bereits im 8. oder frühen 9. Jahrhundert ihre Nachgestalter, wie die ersten Mythographi Vaticani zeigen 3 . Der anonyme Autor, der sich seinerseits auf Fulgentius’ († 532) Mitologiae stützte, bietet einen ausführlichen Bericht über die Gorgonen und deutet den Sieg von Perseus über Medusa als Beweis, daß Tugend mit Hilfe der Weisheit alle Schrecken besiege: »uirtus auxiliatrice sapientia omnes terrores uincit«. Dies erkläre, warum der Kopf der Medusa auf der Brust der Minerva erscheine, denn an dieser Stelle sei der Sitz der menschlichen Weisheit lokalisiert. Bernardus Silvestris (12. Jahrhundert) allegorisierte in seiner Cosmographia die Welt der griechischen Götter und Unwesen im christlich-ethischen Sinne. Er sah die Funktion der Medusa darin, daß sie verwerfliche Taten beging; die Bedeutung des Pegasos erkannte er hingegen in der Verbreitung von Gerüchten und falschen Meinungen 4 . Ganz anders urteilte Remigius von Auxerre († ca. 908), der in seinem Commentum in Martianum Capellam ebenfalls auf Medusa verweist, um das angestrebte Ausbildungsziel, Meisterschaft in den Artes liberales (die sieben freien Künste: Rhetorik, Dialektik, Logik, Arithmetik, Geographie, Mathematik und Musik) im Sieg von Perseus über dieses Monster allegorisch zu exemplifizieren, d.h. als Triumph der humanistischen Bildung über die wilde Natur 5 . Weiterhin müssen wir Martianus Capella (5. Jahrhundert) in unsere Betrachtungen einbeziehen, der in seinem berühmten Schultraktat De nuptiis Philologiae et Mercuriae (Von der Hochzeit von Philologia und Merkur) - wenn auch nur flüchtig - auf die Gorgonen zu sprechen kommt (V. 331) 6 . Er berichtet, wie die Figur der Dialektika, in einer Hand eine giftige Schlange haltend, in der anderen eine Tafel mit verwirrenden Mustern, vor den Göttern erschien und zunächst von ihnen ausgelacht wurde, bis sich Pallas Athena darüber entrüstete und sie zurechtwies, denn die Figur der Dialektik sei eine würdige Vertreterin der Wissenschaften. Pallas Athena aber, so Martianus, die Göttin der Weisheit, habe sich dadurch ausgezeichnet, daß sie die furchtbare Medusa besiegt habe.Vergleichbar wichtig für die Rezeption des Medusa-Mythos im Mittelalter erwies sich auch eine einflußreiche Abhandlung Williams von Conches (ca. 1080 - 1154/ 60), der sich in seinen Glossen über das Werk des ersten Vatikanischen Mythographen, selbst wieder ein Kommentar über Martianus Capellas De nuptiis, mehrfach auf die Gorgonen bezog und damit den antiken Mythos für die mittelalterliche Universität aufbereitete 7 . 2 Roscher, W. H.: Die Gorgonen und Verwandtes. Leipzig 1879, S. 109 und 126. 3 Mythographi Vaticani I et II. Hrsg. Peter Kulcsàr. Turnhout 1987 (CCSL, Bd. 91c). 4 Silvestris, Bernard: Cosmographia. Hrsg. Peter Dronke. Leiden 1978. 5 Remigius von Auxerre: Commentum in Martianum Capellam. Hrsg. Cora E. Lutz. 2 Bde. Leiden 1962 - 1965. 6 Martianus Capella: De nuptiis Philologiae et Mercurii. Hrsg. F. Eyssenhardt. Leipzig 1866; hier stütze ich mich auf die englische Übersetzung: Martianus Capella and the Seven Liberal Arts. Bd. II: The Marriage of Philology and Mercury. Trans. William Harris Stahl; Richard Johnson with E.L. Burge. New York 1977, S. 108. 7 von Conches, William: Fabula: Explorations into the Uses of Myth in Medieval Platonism. Hrsg. u. Übers. Peter Dronke. Leiden; Köln 1974 (Mittellateinische Studien und Texte, 9). Medusa, Pegasos und Perseus 405 Der zweite Vatikanische Mythograph verfolgte sogar eine ausführliche genealogische Linie über die von Neptun vergewaltigte Medusa zu deren Sohn, den Riesen Chrysaor, verheiratet mit Kallirhoe, wiederum zu deren Sohn Geryoneus, verheiratet mit Echidna, bis zu den verschiedenen antiken Monstern und höllischen Gestalten wie Cerberus, Hydra und Chimäre, schließlich zuletzt bis zur Sphinx und den Nemanischen Löwen 8 . Mittelalterliche Philosophie und Naturkunde waren gut mit dem aus dem Blut der Medusa entsprungen geflügelten Pferd Pegasos vertraut. Bereits Notker Labeo († 1022) hatte sich in seinen Glossen zu Martianus Capellae De nuptiis darauf bezogen 9 , indem er das Blut des Pegasos’ als Lebensquell und als Quelle für Ansehen und Ehre deutete. Die weltlichen Dichter würden folglich Ruhm erwerben, indem sie aus der Quelle trinken, die durch das Hufscharren des Pegasos’ entstanden war: »Únde dér brúnno dés rósses pegasi. dáz úzer démo blûote uuárd gorgone. hábet tíh sáment tien poetis ketrénchet. Pegasus chît fáma. uuánda poete sínt famosi. bedíu chît man sîe getrúnchen háben dés prúnnen. dén pegasus ûzer dero érdo slûog. mít sînemo fûoze« 10 (Zum Brunnen des Pferdes Pegasos: er entstand aus dem Blut der Gorgone. Die Dichter haben daraus getrunken. Pegasos bedeutet Ruhm, denn die Dichter sind berühmt; dies bedeutet, daß sie aus dem Brunnen getrunken haben, den Pegasos mit seinem Huf aus der Erde schlug). 11 Schon in der Antike hatte der Brunnen in dieser Hinsicht allegorischen Sinngehalt. Der Brunnen Hippocrene, der sich auf dem Musenberg Helikon befindet, hatte beispielsweise die Bedeutung einer Musenquelle, worüber insbesondere Hesiod in Theogonia (5 ff., 22f.) und Juvenal in seinen Satires (3. 118) berichteten. Auch Albertus Magnus (1193 - 1280) behandelt in seinem De animalibus kurz das geflügelte Pferd und sagt, daß es in Äthiopien lebe und durch seine monströse Gestalt alle anderen Tiere zutiefst erschrecke. Zwar habe der Pegasos Flügel, doch bediene er sich dieser nur, um die Luft zu schlagen und so den Gallop zu beschleunigen 12 . Diesen naturwissenschaftlich interessierten Philosophen ging es also nicht mehr um den antiken Mythos an sich, sondern sie bemühten sich, dieses Wissen in empirische Betrachtungen einzubeziehen und die Erscheinung mythischer Gestalten mit konkreten biologischen Kenntnissen in Übereinstimmung zu bringen. Damit freilich geriet der Ursprungsmythos der Medusa in Vergessenheit und der Pegasos-Mythos spielte die wesentlichere Rolle. Ganz anders behandelten die höfischen Dichter das Medusa-Motiv. Gottfried von Straßburg kommentierte in seinem berühmten Literaturexkurs (Tristan, 4621 ff.) u.a. Heinrich von Veldeke, dessen poetische Begabung und Weisheit er mit jener Quelle in Beziehung brachte, die Pegasos mit seinen Hufen geschlagen hatte: »ich waene, er sîne 8 Hierzu insgesamt Chance, Jane: Medieval Mythography. From Roman North Africa to the School of Chartres, A.D. 433 - 1177. Gainesville; Tallahassee [...] 1994. 9 Chance (Fn. 8), S. 380. 10 Notker Labeo: De nuptiis Philologiae et Mercurii. In: Notkers des deutschen Werke. Hrsg. E. H. Sehrt; Taylor Starck. Bd. 2. Halle a.d. S. 1935 (Altdeutsche Textbibliothek, Bd. 37), S. 60; siehe dazu Chance (Fn. 8), S. 380. 11 Backes, Herbert: Die Hochzeit Merkurs und der Philologie. Studien zu Notkers Martianus-Übersetzung. Sigmaringen 1982, S. 120. 12 Zitiert nach: Albert the Great: Man and the Beast. De animalibus (Books 22 - 26). Trans. James J. Scanlan. Binghamton; New York 1987 (Medieval & Renaissance Texts & Studies, Bd. 47), S. 172. 406 Albrecht Classen wîsheit / ûz Pegases urspringe nam, / von dem diu wîsheit elliu kam« (V. 4730 - 4732) 13 (»ich glaube, erschöpft seine Weisheit aus Pegasos, der sie zuerst fand«). Freilich, solches Zitat setzt die Kenntnis des Medusa-Mythos’ voraus, und wir dürfen davon ausgehen, daß auch Gottfried mit ihm vertraut gewesen ist 14 . Dieses geflügelte Pferd ist bis heute beliebte Allegorie der Kreativität und künstlerischen Freiheit 15 . Erst aus dem späten Mittelalter ist uns die volkssprachliche Rezeption des Medusa- Motivs in der höfischen Literatur überliefert, nämlich zuerst in Strickers Artusroman Daniel von dem Blühenden Tal (ca. 1220/ 30). Eingeflochten in die Handlung ritterlicher Hilfeleistung Daniels für König Artus ist eine Episode, in der ein Motiv 16 aus dem Medusa- Mythos eine Rolle spielt: Die Dame vom »Liehten Brunnen« fleht Daniel an, ihr in ihrer Not beizustehen: Ein bauchloses Monster mit einem riesigen Kopf sei mit seinen vampirähnlichen Gesellen aus dem Meer gekommen (V. 1913) und bedrohe sie und alle Menschen. Noch nie habe sie solch ein schreckliches Monster gesehen, das besonders gefährlich für alle Menschen sei, weil es einen weiteren Kopf in der Hand halte, der die Gewalt besitze, denjenigen sofort zu töten, der ihn anschaut: »swer daz houbet siht, der lît tôt« (V. 1916; »wer das Haupt ansieht, stirbt«). Eine Metamorphose des Medusa-Motivs also 17 . Der Medusen-Blick, hier einem scheinbar männlichen Wesen zugeschrieben (»tîfelsman«, V. 1879), ist so vernichtend, daß die teuflischen Gestalten das ganze Land der Dame vom Liehten Brunnen zerstören und die Menschen umbringen konnten, um deren Blut zu trinken. Auch die Kinder der Dame wurden die Opfer der Ungeheuer, denen nur die Dame, ihre Frauen und ihr Gatte vorläufig entkommen konnten. Die Dame fürchtet insbesondere um das Leben ihres Gatten und erklärt Daniel, sie werde freiwillig das Medusen-Haupt ansehen, um ihren Mann gegebenenfalls in den Tod zu folgen (V. 1951 - 1955). Daniel wagt es jedoch, das Ungeheuer anzugehen, weil ihm einfällt, wie es mit seinen eigenen Waffen geschlagen werden kann. Mittels eines Spiegels, in dem das Monster seinem eigenen Blick ausgesetzt ist, tötet es Daniel. Danach überlegt er, ob er nicht selbst das fürchterliche Medusen-Haupt im Kampf gegen die Riesen und gegen König Matûr, den Gegnern König Arturs, benutzen sollte: »wer kunde mir des widerstân / sît ich diz houbet hân« (V. 2167 f.; »wer könnte mir widerstehen, wenn ich dieses Haupt besäße«). Daniel überlegt aber auch, daß jeder diese Waffe für ganz unterschiedliche, niemals aber gute Zwecke einsetzen könnte, etwa ein »armez wîp« (V. 2183), das die gesamte Welt damit zu töten in der Lage wäre. Er selbst würde ein Teufel genannt werden (V. 2187), der den Kopf nur deswegen benutze, weil er es aus Feigheit nicht wage, wie ein Ritter zu 13 Gottfried von Strassburg: Tristan. Nach dem Text von Friedrich Ranke neu hrsg., ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn. Stuttgart 1980. 14 Dazu Hahn, Ingrid: Zu Gottfrieds von Straßburg Literaturschau, in: ZfdA 96 (1967), S. 218 ff., hier zitiert nach: Wolff, A. (Hrsg.): Gottfried von Straßburg. Darmstadt 1973 (Wege der Forschung, Bd. 320), S. 444 ff.; vgl. auch den ausführlichen Artikel Krahners über den Pegasos, in: Ersch, J. S.; Gruber, J. G.: Allgemeine Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste. Bd. 14. Leipzig 1840 (Neudr. Graz 1989), S. 455 - 463. 15 Decker, Elisabeth: Pegasus in nachantiker Zeit. Frankfurt a.M. 1997 (Europäische Hochschulschriften, Reihe XXXVIII: Kunstgeschichte, Bd. 284). 16 Der Stricker: Daniel von dem Blühenden Tal. Hrsg. Michael Resler. Tübingen 1983 (Altdeutsche Textbibliothek, Bd. 92). 17 Zum Medusa-Motiv vgl. auch Lecouteux, Claude: Das bauchlose Ungeheuer. Des Strickers Daniel vom blühenden Tal, 1879 ff. In: Euphorion 71 (1977), S. 272 - 276; er konzentriert sich freilich überwiegend auf die typologische Herkunft des bauchlosen Wesens und streift nur beiläufig das Medusa-Motiv. Medusa, Pegasos und Perseus 407 kämpfen (V. 2189 f.). Außerdem würde man sich bald vor ihm als ein Ungeheuer fürchten: »und würden mir unheimlich« (V. 2192). Ganz zu schweigen von der ständigen Gefahr, daß er aus Versehen selbst in die Augen des Monsters schauen und sterben könnte (V. 2196 - 2198). Also wirft Daniel schließlich den Kopf in einen See und entledigt sich damit einer höchst teuflischen Waffe: »dû bist von dem tîfel komen, / der müeze dîn ouch walten« (V. 2200 f.) 18 . Der arturische Held entledigt sich damit zugleich eines Mythos’, der für ihn nur noch im militärischen Kontext eingesetzt werden kann. Unterschiede zum antiken Medusa-Mythos sind unverkennbar, ebenso aber auch die Gemeinsamkeiten. Das Monster tötet nicht selbst durch seine Blicke, sondern benutzt ein Medusen-Haupt. In der griechischen Sage erstarrten die Opfer zu Stein, während sie hier umgebracht und dann ausgesaugt werden. Das Ungeheuer wird als Schöpfung des Teufels bezeichnet und so schnell wie möglich unschädlich gemacht. Die Bemerkung, daß gegen den Medusen-Blick nur ein Spiegel nütze, so wie ihn Perseus - gewissermaßen als Vorbild für Daniel - bei der Überwindung des Monsters benutzt habe, erweist sich hingegen erneut als direkt aus Ovids Metamorphosen geschöpft. In enger Anlehnung an des Strickers Daniel schuf der Pleier um ca. 1250 den Artusroman Garel vom blühenden Tal und übernahm neben wesentlichen Handlungselementen auch das Medusa-Motiv. Ähnlich wie im Daniel gelangt Garel in ein Land, das von einem Seemonster namens Vulganus verwüstet worden ist, indem es die Menschen mit Hilfe eines Kopfes tötete, der mitten auf seinem Schild angebracht ist. Anders aber als das bauchlose Monster (Daniel) ähnelt das Unwesen im Garel in seiner Gestalt mehr einem Kentaur, wenngleich der mörderische Blick weiterhin eine zentrale Funktion hat. Garel bezwingt das Ungeheuer, nachdem der mittels eines Tarnmantels unsichtbare Zwergenkönig Albewin dessen Schild mit dem todbringenden Haupt gestohlen hat. Im Gegensatz zu Daniel ist Garel niemals in Versuchung, sich selbst des Hauptes zu bedienen. Statt dessen befolgt er einen Rat des Zwergenkönigs, bedeckt den Medusen-Kopf mit flüssigem Blei und läßt den Schild im Meer versenken. Der Erzähler weiß sogar, daß es sich bei der fraglichen Stelle um die Region Satellege handelt, wo die vier Meere zusammentreffen. Wie in der oben erwähnten Sage aus dem Mittelmeerraum verursacht das Medusen-Haupt auch noch auf tiefem Meeresgrund bedrohliche Wellenbewegungen. Bis zum Jüngsten Gericht müsse das Haupt dort ruhen; der Ort werde von manchen Leuten »Wolfsatelleg« genannt 19 . Einige Veränderungen des Pleiers lassen auf eine Vertrautheit mit der Sagenversion in den Otia imperialia des Gervasius von Tilbury (1209 - 1214) schließen. Gervasius er- 18 Spiewok, Wolfgang: Der Stricker - Durchbruch zu neuen Formeln und Inhalten. In: Geschichte der deutschen Literatur. Mitte des 12. bis Mitte des 13. Jahrhunderts. Hrsg. Rolf Bräuer. Berlin 1990 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. 2), S. 479, bezeichnet dieses Monster als eine »Erfindung, die die menschliche Vorstellungskraft arg strapaziere[ ]«, erkannte aber nicht, daß sich der Stricker auf das antike Motiv der Medusa bezieht; vgl. hingegen de Boor, Helmut: Die deutsche Literatur im späten Mittelalter. Erster Teil: 1250 - 1350. Fünfte Aufl. neubearb. von Johannes Janota. München 1997 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. 3/ 1), S. 71; de Boor hat aber nicht genau den Text gelesen und spricht von einem »Medusenschild«. 19 Walz, Michael: Garel von dem blüenden Tal. Ein höfischer Roman aus dem Artussagenkreise von dem Pleier. Freiburg 1892. Hier zitiert nach der englischen Übersetzung: The Pleier’s Arthurian Romances. Transl. and with an Introduction by J. W. Thomas. New York; London 1992 (Garland Library of Medieval Literature, Series B, Bd. 91), Kapitel 6, S. 71 - 89. 408 Albrecht Classen zählt, Perseus habe das »caput Gorgonis« (das Haupt der Gorgo) in den »Gulfus Sataliae« in der Nähe der gleichnamigen Stadt geworfen: »Syrtes, quae vulgo Gulfus Sataliae nominantur, ubi caput Gorgonis in mare projectum dicunt, respiciuntque Sataliam urbem, quae ad Soldanum Iconii dicitur pertinere« (Sec. decisio XII. Die Syrten, die im Volksmund satalischer Golf genannt werden, wo das Haupt der Gorgo, wie man sagt, hineingeworfen wurde, und die Stadt der Salia tragen, die dem Soldan von Konia gehört.). Wie in der Version des Pleiers habe sich der Protagonist mit einem Zaubermantel unsichtbar gemacht, bevor er sich der Medusa genähert habe. Während des Strickers Daniel durch das Monster mittels List besiegt, überwindet Garel es im »ritterlichen« Kampf und kann sich so als Ritter zu bewähren 20 (was der von vornherein vollkommene Daniel nicht mehr nötig hat). Somit lassen die Unterschiede in der Ausgestaltung des antiken Medusa-Motivs vermuten, daß sich der Pleier wahrscheinlich vor allem auf Gervasius’ Otia imperialia stützte, der Stricker hingegen primär auf Ovids Metamorphosen 21 . Auch in der nicht-deutschsprachigen Literatur des Mittelalters entdecken wir Hinweise auf die Medusa, und zwar überall dort, wo die klassische Bildung eine gewichtige Rolle besaß und die Autoren in kritischer Auseinandersetzung besonders mit Ovid nach eigenständiger Verarbeitung des Motivs strebten 22 . In Dante Alighieris Inferno, dem ersten Teil seiner Divina Commedia, stößt der Wanderer an der Seite seines Führers Vergil auf die schrecklichen Erynnien bzw. Gorgonen, hier Tisiphone, Alektro und Megära benannt (IX, 45 - 48), die Medusa dazu aufrufen, den Fremden durch ihren Blick zu Basalt zu verwandeln (IX, 52). Aber Vergil rettet seinen Schützling, indem er ihn sofort dazu auffordert, seine Augen zu verschließen und sich abzuwenden (IX, 55). Um sicher zu gehen, hält er sogar seine Hand vor Dantes Augen und sie begeben sich gemeinsam aus der großen Gefahr 23 . Die Funktion der Medusa deutet der Erzähler ausdrücklich an: »Merkt auf die Lehre, die verborgen ruht / Unter dem Schleier seltsamen Gedichtes! « (IX, 64 f.). Eine Sentenz, die Gildemeister in Übereinstimmung mit der Deutung König Johanns von Sachsen als Metapher für »den das Herz versteinernden Zweifel« auslegt 24 . Indem aber Dante gerade nicht der Medusa ansichtig wird, besteht für ihn die Möglichkeit, weiter in das höllische Dunkel einzudringen und mehr an Erkenntnis zu gewinnen, anstatt mit versteinertem Blick unverständig das Schicksal der Verdammten zu betrachten 25 . Auch Geoffrey Chaucer, der oft genug seine ausgezeichneten Kenntnisse Dantes beweist, dürfte mit diesem spezifischen Motiv aus dem Inferno vertraut gewesen sein, obwohl es sich namentlich in keinem seiner Werke findet. In der Franklin’s Tale aus den 20 Kern, Peter: Die Artusromane des Pleier. Untersuchungen über den Zusammenhang von Dichtung und literarischer Situation. Berlin 1981 (Philologische Studien und Quellen, Bd. 100), S. 198 f. 21 Des Gervasius von Tilbury »Otia imperialia«. In einer Auswahl neu hrsg. von F. Liebrecht. Hannover 1856, S. 11. 22 Zur Rezeption Ovids im Mittelalter siehe jetzt Allen, Peter L.: The Art of Love. Amatory Fiction from Ovid to the Romance of the Rose. Philadelphia 1992 (Middle Ages Series), S. 46 ff. 23 Hier zitiert nach Dantes Göttliche Komödie. Übersetzt von Otto Gildemeister. Stuttgart 1983. 24 Dante (Fn. 23), S. 563. 25 Singleton, Charles S.: Dante Alighieri: The Divine Comedy. Trans., with a Commentary. Bd. 1: Inferno. Bd. 2: Comentary. Princeton, N.J. 1970, S. 143, bietet eine gute Erklärung, warum sich die zwei Wanderer hier nach rechts und damit von Medusa abwenden, denn im Inferno halten sie sich sonst stets nach links, in Purgatorio hingegen stets nach rechts, worauf hier also bereits angespielt wird. Medusa, Pegasos und Perseus 409 Canterbury Tales läßt sich eine diesbezügliche Anspielung entdecken, bei der zwar der Name der Medusa nicht erscheint, aber das Wortspiel von »stumm wie Stein« und »Monster« einen entsprechenden Hinweis gibt 26 . Der Knappe Aurelius bemüht sich um die Liebe der mit Arveragus verheirateten Dorigen, freilich ohne Erfolg bei ihr zu haben. Während Arveragus langjähriger Abwesenheit bedrängt der Knappe sie unablässig. Dorigen aber will nur dann seine Geliebte werden, falls es ihm gelingen sollte, die ganze Küste der Bretagne bis zur Mündung der Gironde und der Seine (V. 989 - 998; 1221 f.) von schwarzen Steinen zu befreien. Freilich bewerkstelligt er genau dieses endlich doch als optische Illusion mit der Hilfe eines Zauberers (V. 1294 f.). Als Aurelius seine Geliebte mit der Erfüllung der von ihr gestellten Bedingung konfrontiert, bricht sie entsetzt aus: »He taketh his leve, and she astoned stood; In al hir face nas a drope of blood. She wende nevere han come in swich a trappe. »Allas,« quod she, »that evere this sholde happe! For wende I nevere by possibilitee That swich a monstre or merveille myghte be! « It is agayns the proces of nature« 27 . Die Anspielung auf Medusa besteht laut Shoaf darin, daß Dorigen »astoned stood« und die zauberhafte Verwandlung der Natur als »monstre« bzw. »merveille« bezeichnet. Letztlich scheitert aber Aurelius’ Vorhaben, und er lernt seine Lektion, denn Dorigen gesteht ihrem Mann Arveragus bei seiner Rückkehr, wie sich sich im Gestrüpp ihrer eigenen, fast frevelhaften Worte hat fangen lassen und nun sich durch Magie gezwungen sieht, entweder ihr Wort zu brechen oder ihre Ehre zu verlieren. Arveragus achtet jedoch mehr auf ihre Ehre und erträgt lieber die Schmach, als daß sie ihrem Eid zuwiderhandelt, und schickt sie zum Stelldichein mit Aurelius in einen Garten. Aber diesen erfüllt letztlich Scham und zugleich soviel Respekt für den Ehemann, daß er Dorigen aus ihrer Verpflichtung entläßt und sein Werben um sie aufgibt. Die seelische Versteinerung ist damit aufgehoben und Aurelius von seiner manisch zu nennenden Liebe befreit; denn der große Eindruck, den die Haltung Arveragus’ auf ihn gemacht hatte, befreite ihn vom Blick dieser metaphorisch aufzufassenden Medusa. Demnach erwartete Chaucer vom Leser, sich nicht wie Arveragus, der sich in seiner Liebesleidenschaft ganz auf die Steine fixiert hatte und nichts von den wahren Gefühlen Dorigens verstanden hatte, durch oberflächliche Erscheinungen täuschen zu lassen und so viel wie möglich an Erkenntnis zu erwerben, denn nur so vermag sich der Mensch vor Unheil zu hüten und wird nicht durch den Medusen-Blick der Liebe zur Handlungsunfähigkeit versteinert 28 . Sowohl bei Dante als auch bei Chaucer wäre freilich der Grund- 26 Siehe dazu Shoaf, R. A.: The Franklin’s Tale: Chaucer and Medusa. In: The Chaucer Review 21/ 2 (1986), S. 274 - 290. 27 The Works of Geoffrey Chaucer. Hrsg. F. N. Robinson. Oxford; London; Melbourne 2 1957, S. 141, V. 1339 - 1345; in deutscher Übersetzung lauten diese Verse: »Er geht; sie steht entsetzt und ohne Mut; / In ihrem Antlitz ist kein Tropfen Blut. / Die Falle hatte sie nicht vorgesehen. / »Weh«, rief sie, »ach, wie konnte das geschehen! / Ich wähnte nicht, daß solche Zauberei, / Daß solches Wunder jemals möglich sei! / Das widerspricht Gesetzen der Natur.«« Zitiert nach: Chaucer, Geoffrey: Die Canterbury-Erzählungen. Vollständige Ausgabe. Aus dem Englischen übertragen und herausgegeben von Martin Lehnert. Frankfurt a.M. 1987. 28 Shoaf (Fn. 26), S. 278. 410 Albrecht Classen gedanke, zwischen formaler Erscheinung und tiefem Sinn zu unterscheiden, auf das biblische Wort 2. Kor. 3, 6 zurückzuverfolgen: »Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig« 29 . Noch deutlicher als bei Chaucer gibt sich die Vertrautheit mit der altgriechischen Mythologie bzw. ihren altrömischen Versionen im zweiten Teil des Roman de la Rose zu erkennen, den Jean de Meun, nachdem Guillaume de Lorris ihn ca. 1237 abgebrochen hatte, ca. 1277 fortsetzte und abschloß. Dieser berühmte allegorische Roman wurde in den folgenden Jahrhunderten oft kopiert, viele Fassungen verändern den Text, schmücken Episoden aus, erfinden neue Episoden, lassen andere weg. In einer dieser neuen Fassungen gibt es eine Passage von 52 Zeilen, die sich V. 20.780 anschließt. Hier vergleicht der Erzähler das weibliche Haupt über dem Eingang zum Turm der Eifersucht mit dem Kopf der Medusa, denn die weibliche Erotik erweise sich als größte Gefahr für die menschliche Vernunft und könnte den Liebhaber vollkommen auf Abwege führen und die Rationalität zugunsten der Liebesempfindung aufgeben - ein unübersehbarer Hinweis auf die misogyne Tedenz des zweiten Romanteils! Während aber die Medusa traditionell mit ihrem Blick tötet, indem sie den Betrachter versteinert, weist ihr hier der Erzähler indirekt die Kraft des Heilens zu, denn ihr Blick vermöge sogar diejenigen, die vorher versteinert worden seien, erneut zum Leben zu erwecken, was auch in der nachfolgenden Erzählung von Pygmalion indirekt bestätigt wird 30 , der von den Göttern den Wunsch erfüllt bekam, einer steinernen, von ihm aber geliebten Figur Leben einzuhauchen. Sowohl der Einschluß des Medusa-Stoffes als auch andere Erzählstränge des Romans belegen, wie gut der Dichter mit Ovids Metamorphosen vertraut war. Für die Rezeptionsgeschicht der Medusa interessant dürfte sein, daß es dem Amant gelingt, sich vor den Augen des Monsters, d.h. den Augen der Eifersucht, zu hüten und weiter zur Geliebten vorzudringen, da er nicht wie Narcissus zum Opfer eines Blickes wird und sich in falschen Verdächtigungen, Ängsten und Mißtrauen verliert. Giovanni Boccaccio fügte eine kurze Schilderung des Medusa-Mythos in seine Abhandlung über berühmte Frauen, De mulieribus claris (1356 - 1364), ein. Freilich mit einem deutlichen Unterschied zu dem klassischen Erzählmuster. Er unterstreicht die Tragik von Medusas Monstererscheinung: Minerva habe sich an der Gorgone für die Entweihung ihres Tempels durch die Kopulation mit Perseus rächen wollen. Erst dann seien ihre goldenen Haare zu Schlangen geworden und habe ihr Blick die totbringende Wirkung angenommen. Dieser Frevel aber sei nicht Medusa selbst anzulasten; Pegasos hat die Rolle des Frauenschänders, der aus weiter Ferne zu ihr kam, um sich ihres Reichtums und ihrer Jungfräulichkeit zu bemächtigen: »ibique prudentia usus et armis reginame occupavit et aurum« 31 . Diesen Reichtum hätte Medusa im übrigen durch ihr Geschick im Landbau erworben. Boccaccio glaubte nämlich, der Name »Gorgo« bedeute »Bauer« im Griechischen. In der Renaissance wurde das Medusa-Motiv überaus beliebt. Geistesgeschichtlich wurde der Sieg von Perseus über dieses schreckliche Monster als allegorisches Motiv ver- 29 Freccero, John: Medusa: The Letter and the Spirit. In: Yearbook of Italian Studies 1972, S. 1 - 18. 30 Huot, Sylvia: The Medusa Interpolation in the Romance of the Rose: Mythographic Program and Ovidian Intertext. In: Speculum 62/ 4 (1987), S. 865 - 877, hier 871. 31 Boccaccio, Giovanni : Tutte le Opere. A cura di Vittore Branca. Verona 1967, S. 98; dazu McLeod, Glenda: Virtue and Venom. Catalogs of Women from Antiquity to the Renaissance. Ann Arbor 1991, S. 70 u. 76. Medusa, Pegasos und Perseus 411 wendet, um die Entwicklung der poetischen Individualität in klassisch-antiker Form darzustellen. Besonders in der französischen Lyrik etwa zwischen 1549 und 1592 entdeckt man immer wieder Hinweise auf diese zwei Figuren, weil sich Dichter wie Ronsard, Du Bellay, Baïf u.a. (Pléiade), die sich erneut mit der Literatur der Antike vertraut machten und daraus Inspiration für ihre eigenen Werke schöpften, mit Perseus identifizierten. Wie dieser versuchten sie die versteinernden Auswirkungen der Liebe, die von der - etwa von Petrarca als Medusa beschriebenenen - angebeteten höfischen Dame ausgingen, in ihren Texten zu überwinden. Die von ihnen mehrfach neu beschriebene Enthauptung der Medusa durch Perseus, deren Urform sie in den verschiedenen griechischen und lateinischen Texten vorfanden, besaß für die Vertreter der Pléiade die poetische Funktion, sich selbst als die Vorkämpfer für eine klassizistisch orientierte Dichtkunst hinzustellen, die in ihren Gedichten den Bruch mit der spätmittelalterlichen Epoche (vor allem mit der lateinischen Sprache) vollzogen und so den Weg zur Erneuerung der französischen Sprache und Literatur einschlugen. Die nächste Generation französischer Renaissance-Dichter (Desportes, De Brach, Jamyn) allerdings nahm bereits eine ganz andere Haltung ein, fehlte ihr ja der Fortschrittsoptimismus, der noch die Dichter der Pléiade beflügelt hatte. Ihre Rezeption des Perseus-Mythos sah deshalb ganz anders aus: Man bezog sich zwar immer noch auf Perseus als Symbolfigur für die Dichtkunst, aber inzwischen verzichtete man darauf, den berüchtigten Kopf zu erwähnen, ging es ja nicht mehr um den Kampf gegen die spätmittelalterliche Tradition, sondern bloß um die Perfektionierung und Kontinuität der von der Pléiade gelegten Grundlagen. Dieser entscheidende Wandel in der Einstellung zum Medusabzw. Perseus-Mythos reflektierte das Gefühl der Dichter, dem humanistischen Ideal der Pléiade nicht mehr gerecht zu werden und der Gefahr ausgesetzt zu sein, erneut durch den Blick der Medusa, d.h. durch die Rückwendung zur petrarkistischen Tradition, an Innovationskraft zu verlieren, d.h. zu versteinern. Mit anderen Worten, man sorgte sich nicht mehr um den Sieg Perseus’ über die Medusa bzw. um die radikale Auseinandersetzung mit der Poetologie der italienischen Renaissancedichter, sondern setzte bloß noch die von Ronsard und Malherbe begründeten Traditionen fort 32 . Ganz anders gestaltete dagegen Hans Sachs den Medusa-Mythos, als er 1541 sein Gedicht Historia. Meduse mit dem helden Perseo verfaßte. 33 Zunächst erwähnt er die Vorgeschichte der Medusa, wie er sie bei Ovid gelesen hat, laut dem sie die hochbegabte und angesehene Tochter des Königs Pherci gewesen sei, die durch ihre Schönheit in vielen Männern Liebe weckte. Der Meeresgott Neptun verlangte ebenfalls nach ihr, doch verspottete sie ihn nur. Eines Tages kam er aus dem Meer, verfolgte und vergewaltigte sie im Tempel der Minerva und schwängerte sie. Minerva verwandelte darauf Medusas goldgelbes Haar in Schlangen und gab ihr den todbringenden Blick, wodurch sie auf lange Zeit völlig vereinsamt lebte. Perseus hörte von ihren Schätzen, erhielt von Minerva die notwendige Ausrüstung, tötete Medusa und gelangte so in den Besitz ihres Silbers und Goldes. 32 McNeil, Michael: Medusa’s Metamorphosis: Petrification and Renaissance Self-Fashioning from Ronsard to Montaigne, 1552 - 1592. Princeton 1995 (Ph.D.), zitiert nach: Dissertation Abstracts - DAI-A 56/ 05, S. 1811, November 1995. 33 Hans Sachs. Hrsg. Adelbert von Keller. 2. Bde. Hildesheim 1964 ( Neudr. der Ausgabe Stuttgart 1870 [Bibliothek des Literarischen Vereins, 103]), S. 170 - 172. 412 Albrecht Classen Sachs urteilt über Medusas Schicksal, daß sowohl ihre Schönheit als auch ihr Vermögen dafür verantwortlich gewesen seien, sie zu vernichten: »Ir eygen gelt bracht sie umbs leben./ Ir schön bracht sie auch umb ir ehr« (S. 171, V. 27 f.). In typisch patriarchalischer Manier wies er Medusa die Schuld für die Vergewaltigung und Mord zu, denn weibliche Schönheit müsse verborgen und Reichtum dürfe nicht angestrebt werden: »Derhalb der schön und reichthumb gnad/ Dient dem besitzer offt zu schad,/ Das ihm darauß als unglück wachs« (S. 172, V. 17 - 19). Zwar gibt er eingangs zu, daß Medusa durch die Natur zu ihrer Schönheit gelangt sei (V. 7) und daß der Reichtum sich durch ihre gute Regierung eingestellt habe (V. 6), aber trotzdem verdammt er sie - und damit alle Frauen - dazu, bei Gewaltverbrechen gegen sie die Schuld dafür selbst tragen zu müssen. In der Frühen Neuzeit bedienten sich auch Künstler oftmals der Medusa-Figur, um den Gegensatz von weiblicher Schönheit und Häßlichkeit darzustellen. Von Caravaggio (1591/ 92; Uffizien) und Rubens (1617/ 18, Kunsthistorisches Museum Wien) besitzen wir Bilder, auf denen der Kopf der Medusa nach der Enthauptung mit einem Gesichtsausdruck des Schreckens, des Entsetzens gezeigt wird. Kaiser Karl V. erhielt von Negroli einen eisernen Prunkschild mit dem Medusen-Haupt (ca. 1541, Wien, Kunsthistorisches Museum), der ihn direkt mit Perseus gleichsetzte, weil er sich auf einen Algerien-Feldzug begeben hatte und symbolisch für seine militärische Leistung gewürdigt werden sollte. Seit dem Barock hat es immer wieder Medusen-Bilder gegeben, ohne daß hier jedes Beispiel aufgeführt werden könnte. Besonders berühmt wurde Théodore Géricaults Gemälde Floß der Medusa (1817 - 21; Paris, Louvre), auf dem er das Schicksal von Schiffsbrüchigen abbildete und zugleich symbolisch scharfe Kritik an der französischen Regierung übte. In der Literatur gewann das Medusa-Motiv seit Goethes intensiver Beschäftigung mit ihm wieder größere Bedeutung. Vor allem bei Romantikern wie Shelley (Gedichte, 1819) oder Rossetti (Gedichte, 1865) war es beliebt. Beheim-Schwarzbach wählte das Haupt der Medusa als Thema seiner Sonette (1941), die er unter dem Pseudonym Christian Corty schrieb. Auch die Musikgeschichte kennt das Medusa-Motiv, wenn wir an die Oper von Charles-Hubert Gervais (Méduse, 1697), die Kompositionen von Erik Satie (Le piège de Méduse, 1913), das Streichquartett von Misha Mengelberg (Medusa, 1962) oder die Multimedia-Produktion von Harrison Birtwistle (Medusa, 1969) denken 34 . Birtwistle bezog sich freilich kaum mehr auf das antike Motiv, sondern dachte primär an den wissenschaftlichen Namen von Quallen, die sich durch Teilung vermehren. In der deutschen Gegenwartsliteratur beziehen sich u.a. Ernst Weiss (Die Galeere, 1913) und Peter Weiss auf die Medusa. P. Weiss erwähnt den Mythos in seinem großen Roman Die Ästhetik des Widerstands (1975), und zwar in der Analyse der symbolischen Aussage des Gemäldes von Géricault 35 . 34 Moorman/ Uitterhoeve: Lexikon der antiken Gestalten, S. 288 f. 35 Knittel, Anton-Philipp: Medusa als Modell literarischer Psychoanalyse: Ernst Weiss’ Die Galeere und Peter Weiss’ Das Duell. In: Wirkendes Wort 42/ 2 (1992), S. 225 - 240; zu anderen antiken Gestalten siehe Riedel, Volker: Literarische Antikerezeption. Aufsätze und Vorträge. Jena 1996 (Jenaer Studien, Bd. 2). Midgardschlange Wilhelm Heizmann (Göttingen) Die von Endzeitvisionen geprägte mythische Überlieferung des Spätheidentums stellt den wichtigsten Repräsentanten der nordischen Götterwelt ebenbürtige, ja überlegene dämonische Widersacher gegenüber, in denen sich auf charakteristische Weise das Schicksal dieser Götter erfüllen wird: Óðinn, der in der Urzeit die Welt aus den Teilen des getöteten Riesen Ymir schuf, endet im Rachen des Verschlingungsungeheuers Fenrir. 1 Der Vanengott Freyr, in dessen gewaltigem Zeugungsglied sich seine Zuständigkeit für den Bereich Fruchtbarkeit manifestiert, erliegt dem Feuerriesen Surtr. Þórr schließlich, der mit seinem Hammer Mjölnir die Grenzen der Ökumene (altnord. miðgarðr) vor dem Einbruch der kosmosbedrohenden Riesenwelt schützt, fällt im Kampf mit dem Chaosungeheuer, das als gewaltige, erdumspannende Schlange im Weltmeer liegt. Der isländische Historiker und Mythograph Snorri Sturluson (1178/ 79 - 1241) nennt dieses Ungeheuer Midgardschlange (altnord. miðgarðsormr), ein Ausdruck, der in altnordischer Prosa sonst sehr selten begegnet und in der Dichtung überhaupt nur ein einziges Mal unter den Schlangennamen in den Synonymenlisten (þulur) von Handschriften der Snorra- Edda überliefert wird (Þul 2 IV qq 4). 3 Sowohl in der Skaldendichtung als auch in der Lieder-Edda begegnen dagegen Bezeichnungen wie jô r mungandr »Riesen-Stock« bzw. »Riesen-Wolf« (Vsp 4 50, Rdr 16, vgl. Skáldsk 74), 5 ormr »Wurm, Schlange, Drache« (Vsp 50, 55H, Hym 22, 23), naðr »Natter, Schlange« (Vsp 56, Húsdr 6, Hallv 4) und fiskr »Fisch« (Hym 24, vgl. Grm 21). I Allein dem antiquarischen Interesse des Snorri Sturluson ist es zu verdanken, daß wir so etwas wie eine Biographie der Midgardschlange nachzuzeichnen vermögen. Er präsentiert die ihm zugängliche Überlieferung in seinem um 1220 entstandenen Skaldenlehrbuch, der sog. Snorra-Edda, insbesondere in dessen erstem Hauptteil, der Gylfaginning 6 (Gylf 33, 46 - 48, 51; vgl. auch Skáldskaparmál 7 1, 4, 16): 8 Die Midgardschlange entstammt demnach der Verbindung des zwielichtigen Gottes Loki mit der Riesin Angrboða (vgl. Þdr 1). Mit ihr zeugt er noch zwei weitere dämoni- 1 Siehe dazu den Beitrag »Fenriswolf« in diesem Band. 2 Skaldische Gedichte werden zitiert nach Finnur Jónsson 1912, 1915; die Siglen nach Finnur Jónsson 1931a. 3 Vgl. von See & al. 1997, S. 323. 4 Die Gedichte der Lieder-Edda werden mit den entsprechenden Siglen zitiert nach Neckel & Kuhn 1983. 5 Vgl. Lorenz 1984, S. 419 f. 6 Zitiert nach Finnur Jónsson 1931. 7 Zitiert nach Finnur Jónsson 1931. 8 Für zusammenfassende Darstellungen zur Midgardschlange vgl. Simek 1995, S. 272 f.; Halvorsen 1966, Sp. 610 ff. 414 Wilhelm Heizmann sche Wesen, den Fenriswolf (Skáldsk 16; Haustl 8; Ls 10; Hdl 40; Hym 23) und Hel (vgl. St 25; Sturl 4, 24). 9 Von unheilvollen Prophezeiungen aufgeschreckt befiehlt Óðinn, die drei Sprößlinge zu ergreifen und zu ihm zu bringen. Während der Wolf bei den Asen selbst zu gewaltiger Größe heranwächst und schließlich unter betrügerischen Umständen gefesselt wird, 10 betraut er Hel mit der Herrschaft über das Totenreich. Die Midgardschlange aber schleudert er ins Weltmeer. Dort nimmt sie so bedrohliche Dimensionen an, daß sie schließlich um die ganze Erde herum liegt und sich selbst in den Schwanz beißt. Im Zentrum der mythischen Überlieferung zur Midgardschlange stehen deren insgesamt drei Begegnungen mit dem Gott Þórr, dem kampfgewaltigsten Vertreter des Asengeschlechts (vgl. Skáldsk 4). Von dem ersten Aufeinandertreffen der beiden Gegner macht allein Snorri Mitteilung. Þórr trifft auf sie bei seiner Fahrt ins Reich des Útgarðaloki. Dort werden ihm und seinen Begleitern (dem Diener Þjálfi sowie Loki) in der gewaltigen Burg seines Gastgebers verschiedene Proben ihrer Kräfte abverlangt. Nachdem es Þórr trotz mehrfacher Anstrengungen nicht gelingt, ein Trinkhorn zu leeren, fordert ihn Útgarðaloki mit der süffisanten Bemerkung, dieses Spiel würden hier die jungen Burschen betreiben, auf, seine Katze vom Boden aufzuheben. Þórr faßt der Katze mit der Hand unter den Bauch und will sie hochheben. Die macht aber einfach nur einen Buckel. Und so hoch sich Þórr auch streckt, er bringt es nicht weiter, als daß sie eine Pfote lüpft. Für diesen Mißerfolg muß er sich als kleiner Däumling beschimpfen lassen. Wütend verlangt Þórr schließlich nach einem Gegner im Ringkampf. Dazu wählt Útgarðaloki seine Amme mit Namen Elli aus. Die erweist sich als weit zäherer Gegner als Þórr vermutet hatte. Nicht nur gelingt es ihm nicht, sie von der Stelle zu bewegen, sie zwingt ihn sogar mit einem Knie auf den Boden. Als Útgarðaloki seine Gäste am nächsten Tag verabschiedet, macht er ihnen eine erstaunliche Entdeckung. Wenn er geahnt hätte, welche Kräfte Þórr habe, dann hätte er ihn niemals in die Burg eingelassen. Nur mit Hilfe von Sinnestäuschungen habe er vermocht, ihn zu schlagen. So habe sich etwa die Spitze des Horns draußen im Weltmeer befunden und Þórrs gewaltige Züge hätten immerhin die Ebbe verursacht. Hinter der Katze hätte sich niemand anderer als die weltumspannende Midgardschlange verborgen. So hoch habe sich Þórr gestreckt, daß nur mehr deren Schwanz und Kopf auf der Erde blieben. Bis zum Himmel hätte gar nicht mehr viel gefehlt. Und schließlich der Ringkampf mit der Amme Elli. Es sei schon ein Wunder gewesen, daß Þórr überhaupt so lange widerstanden habe, denn es habe noch niemanden gegeben und es werde auch keinen geben, den nicht das Alter (altnord. elli) zu Fall brächte. Als Þórr daraufhin wütend zu seinem Hammer greift, um Útgarðaloki den Garaus zu machen, ist dieser urplötzlich wie vom Erdboden verschwunden und ebenso die Burg. Þórr kehrt schließlich nach Þruðvang, seinem Wohnsitz, zurück. Er hatte sich aber vorgenommen, seine Kräfte bei nächster Gelegenheit noch einmal mit der Midgardschlange zu messen. Von dieser Begegnung berichtet Snorri im unmittelbaren Anschluß. 11 Þórr kehrt eines Abends in Gestalt eines jungen Burschen bei einem Riesen namens Hymir ein. Am nächsten Morgen bietet er dem Riesen an, ihn beim Fischfang zu begleiten. Nur widerwillig gibt der seine Zustimmung, weil im Þórr zu schwächlich erscheint. 9 Vgl. von See & al. 1997, S. 327. 10 Vgl. den Beitrag »Fenriswolf« in diesem Band. 11 Vgl. dazu de Vries 1957, S. 142 f.; Turville-Petre 1964, S. 75 f.; Kabell 1976; Wolf 1977; Simek 1995, S. 416 ff. Midgardschlange 415 Allerdings muß er sich selbst um einen passenden Köder kümmern. Þórr beschafft sich diesen, indem er dem größten Stier aus Hymirs Herde mit Namen Himinhriótr den Kopf abreißt. Beide rudern schließlich das Boot gemeinsam aufs Meer hinaus. Zweimal erklärt Hymir, es sei jetzt genug und weiter draußen drohe Gefahr von der Midgardschlange, doch läßt sich Þórr davon nicht abhalten. Schließlich kommt es zum Angeln. Þórr wirft seine Angelschnur mit dem Stierkopf als Köder aus, nach dem tatsächlich die Midgardschlange schnappt (Abb. 1). Sie zieht so heftig an der Angelschnur, daß Þórrs Fäuste auf der Bordwand aufschlagen. Daraufhin fährt Þórr in seine Asenstärke. Er hält so heftig dagegen, daß er mit beiden Füßen durch das Schiff bricht und sie gegen den Meeresboden stemmt. So gelingt es ihm schließlich, die Schlange zum Bordrand herauf zu ziehen. Þórr blickt sie mit durchbohrendem Blick an, das Ungeheuer starrt ihm von unten entgegen und bläst Gift (vgl. Rdr 18, Húsdr 5). 12 Dieser furchterregende Anblick ängstigt den Riesen so sehr, daß er just in demselben Augenblick, als Þórr seinen Hammer schwingt, mit dem Messer die Angelschnur durchtrennt und die Schlange zurück ins Meer sinkt (Abb. 2). Zwar schleudert Þórr ihr den Hammer nach, doch mit ungewissem Erfolg. Es heißt zwar, daß Þórr der Schlange das Haupt am Meeresboden abgeschlagen habe, doch vermutet Hár, dem die ganze Geschichte von König Gylfi erzählt wird, daß die Midgardschlange noch draußen im Weltmeer lebe (vgl. Skáldsk 1). Voller Wut verpaßt Þórr dem Riesen einen Faustschlag, so daß dieser mit den Fußsohlen nach oben über Bord stürzt, und watet an Land. Nach den Skáldskaparmál bringt dieser Hieb dem Riesen den Tod (Skáldsk 1). Das Überleben der Midgardschlange bildet bei Snorri die Voraussetzung für das dritte und letzte Aufeinandertreffen der beiden Gegner im großen Endkampf (Ragnarök), wenn sie sich mit Vater (Loki) und Bruder (Fenrir) sowie anderen dämonischen Mächten des Chaos und der Zerstörung zum Kampf gegen die Götter zusammenrottet. In gewaltigem Riesenzorn bäumt sie sich auf und strebt dem Lande zu. Dies verursacht große Überschwemmungen (vgl. Vsp 50). Auf dem Schlachtfeld Vígríðr kommt es zum Kampf. Zwar gelingt es Þórr, die Midgardschlange zu töten, doch tritt er vom Kampfplatz nur neun Schritte zurück, dann fällt er, überwältigt von ihrem Gifthauch, tot zu Bo- 12 Vgl. von See & al. 1997, S. 326. Abb. 1 416 Wilhelm Heizmann den (Vsp 55H und 56; vgl. Vm 51; siehe auch Skáldsk 1, wo die Midgardschlange Þórr tötet und ihr eigener Tod als asische Propaganda desavouiert wird). II Wenn die Dichte der Überlieferung als Indikator für die Verbreitung und Popularität eines Mythos angesehen werden kann, dann nimmt die Geschichte von Þórrs Angelung der Midgardschlange bei den Nordgermanen einen singulären Platz ein. Für keinen anderen Mythos nämlich steht ein vergleichbar reiches literarisches und bildliches Quellenmaterial zur Verfügung, das zudem bis weit in die heidnische Zeit zurückreicht. Nicht weniger als fünf Skaldengedichte, die allesamt vor der Jahrtausendwende liegen, gehen auf Þórrs Machttat ein. 13 Sie alle sind nur in Handschriften der Snorra-Edda überliefert und dokumentieren damit eindrucksvoll die zentrale Bedeutung dieses Textes für die Überlieferung mythologischer Skaldengedichte. 14 Bereits Bragi inn gamli Boddason, der älteste namentlich bekannte Skalde (1. Hälfte 9. Jahrhundert) 15 widmet 6 von insgesamt 20 erhaltenen Strophen und Halbstrophen seiner Ragnarsdrápa (»Preisgedicht auf Ragnarr«) Þórrs Kampf mit der Midgardschlange (Rdr 14 - 19). 16 Es handelt sich bei dieser Drápa um ein sog. Schildgedicht. Bragi beschreibt darin je zwei mythologische und heroische Szenen, die sich auf einem bemalten Prunkschild befanden, der von einem gewissen Ragnarr stammte. Der Kampf wird durch das Verb freista »sich versuchen mit« als Kräftemessen motiviert (Rdr 14). Als Þórr erkennt, daß er die Midgardschlange an der Angel hat, ergreift seine rechte Hand den Hammer (Rdr 15). Er schleppt die Schlange in Richtung Strand (Rdr 16). Sie starrt von oben auf ihn herab (Rdr 17). Die Gift-Schlange 17 windet sich heftig, als sie an der Angel hängt (Rdr. 18). Aus Angst vor dem aufgewühlten Meer schneidet Þórrs namenloser Begleiter (von Bragi mit der Mannkenning vágs hyrsendir »Verteiler des Buchtenfeuers [= Gold]« umschrieben) die Angelschnur durch (Rdr 19). Lediglich zwei Verse sind erhalten von einem Gedicht des norwegischen Skalden Öl- 13 Eine Zusammenstellung der Gedichte findet sich bei del Zotto (1979, S. 107 ff.). 14 Vgl. dazu insbesondere Schier 1981, S. 413 ff. (111 ff.). 15 Die Datierungen der skaldischen Gedichte nach Finnur Jónsson 1912, 1915. 16 Vgl. Vogt 1929; 1930 - 1931, S. 14 ff.; Lie 1952, S. 33 ff. 17 Bragi umschreibt hier die Midgardschlange mit der Kenning hrokkinn hrøkkviáll V ô lsunga drekku »der sich krümmende Winde-Aal des Tranks der Völsungen« (Rdr 18), spielt also ausdrücklich auf die Giftigkeit der Schlange (Trank der Völsungen = Gift) an. Abb. 2 Midgardschlange 417 vir hnúfa (9. Jahrhundert). Genannt werden darin die rasende Midgardschlange und Þórr (Ôlv 1). In der vielleicht um 983 verfaßten Húsdrápa (»Hausgedicht«) beschreibt der isländische Skalde Ulfr Uggason die Schnitzereien in der von Ólafr pái in Hjarðarholt erbauten Halle (vgl. Laxdœla saga, Kap. 29). Die Innenwände der Halle waren mit Szenen aus der Mythologie verziert. 18 Erhalten sind 12 Strophen und Halbstrophen, von denen vier Þórrs Kampf gewidmet sind (Húsdr 4 - 6). Mit im Boot sitzt ein ängstlicher Riese (þjokkvaxinn þiklingr »feister Dickwanst«), der Þórr vergeblich vor der drohenden Gefahr warnt (Húsdr 3). Eindringlich wird der Augenblick geschildert, als sich die giftschnaubende Midgardschlange und Þórr gegenseitig anstarren (Húsdr 4 - 5). Þórr verpaßt dem Riesen einen Faustschlag auf das Ohr, der wohl als Strafe für das (nicht erwähnte) Durchschneiden der Angelschnur gedacht werden muß. 19 Dennoch gelingt es Þórr, der Schlange den Kopf abzuschlagen (Húsdr 6). Nur sehr fragmentarisch überliefert ist die Þórsdrápa des isl. Skalden Eysteinn Valdason (um 1000), über den sonst nichts bekannt ist. Die 3 erhaltenen Halbstrophen des Gedichts beschränken sich allein auf Þórrs Angelabenteuer (EVald 1 - 3). Hier ist es Þórr, der die Schlange anstarrt. Diese zieht mit solcher Gewalt gegen die Schnur, daß Þórrs Faust an den Bordrand schlägt. Mit im Boot sitzt ein namenloser Begleiter, der als karl »Mann, alter Mann« bezeichnet wird (EVald 1). Von dem Þórr-Gedicht des Skalden Gamli gnævaðarskáld (10. Jahrhundert) ist überhaupt nur eine einzige Halbstrophe überliefert (GGnæv 1). Sie schildert den Augenblick, in dem Þórr die Midgardschlange mit dem Hammer erschlägt. Während diese nur unvollständig überlieferten skaldischen Gedichte lediglich schlaglichtartig eine einzelne Szene des Mythos beleuchten, nämlich den Augenblick der unmittelbaren Konfrontation des Gottes mit der Midgardschlange, und den Zusammenhang dieser Szene somit voraussetzen - gleiches gilt im übrigen auch für die Bildüberlieferung (siehe dazu unten) 20 - liefert einen erzählerischen Kontext neben der Snorra-Edda allein die eddische Hymisqviða (»Lied von Hymir«). 21 Dieses Gedicht ist mit 39 Strophen vollständig in den beiden Haupthandschriften der Edda, dem Codex regius (R) und AM 748 I 4to (A) überliefert. Die Datierung des Gedichtes ist umstritten. 22 Auch wenn heute eine Entstehung vor der Mitte des 12. Jahrhunderts als sehr wahrscheinlich angenommen wird, so gilt grundsätzlich, daß keine der bisher vorgetragenen Datierungsversuche mit wirklich überzeugenden Argumenten gestützt werden konnte. Die Darstellung von Þórrs Angelabenteuer weicht in dem eddischen Lied von der bei Snorri erheblich ab. Insbesondere ist die Vorgeschichte eine gänzlich andere, und die Angelung der Midgardschlange ist als ein Abenteuer neben andere gereiht, die Þórr während seines Aufenthalts beim Riesen Hymir zu bestehen hat. Eigentlicher Anlaß für die Fahrt ist die Beschaffung eines gewaltigen Braukessels für die Götter. Þórrs Begleiter ist Týr, der nur in diesem Gedicht als Sohn den Riesen vorgestellt wird (Hym 5). Da Þórr beim 18 Vgl. Schier 1976, zu Þórrs Begegnung mit der Midgardschlange speziell S. 427 f. (83 f.) und 433 ff. (88 ff.). 19 Vgl. Marold, im Druck. 20 Zu Parallelen zwischen den Ausdrucksweisen von Skaldik und wikingerzeitlicher Kunst vgl. Lie 1952, S. 44. 21 Gschwantler 1993; von See & al. 1997, S. 253 - 361. 22 Zur Datierung vgl. del Zotto 1979, S. 99 ff.; Strid 1983, S. 3 f.; Gschwantler 1993, S. 308; von See & al. 1997, S. 277; Marold, im Druck. 418 Wilhelm Heizmann Abendessen die Vorräte des Riesen erschöpft, muß am nächsten Tag die Verpflegung durch Jagd beschafft werden. Þórr schlägt eine Angelpartie vor und fordert von Hymir einen Köder. Der Riese will seinen Mut erproben und fordert ihn auf, sich diesen selbst aus der Herde zu holen. Daraufhin reißt Þórr einem Stier den Kopf ab. Schließlich rudert der Riese auf das Meer hinaus, weigert sich aber, soweit hinauszurudern, wie Þórr es wünscht. Als die Angelschnüre ausgeworfen werden, fängt Hymir zwei Wale, Þórr dagegen die Midgardschlange. Er zieht sie zur Bordwand herauf und schlägt mit dem Hammer auf ihr häßliches Haupt ein. Die ganze Erde erbebt und die Schlange versinkt im Meer. Der Riese ist mißmutig und schweigsam als sie zurückrudern. Nach weiteren Kraftproben endet die Geschichte damit, daß Þórr Hymir und eine kampflüsterne Riesenschar, die ihm und seinem Begleiter in feindlicher Absicht nachsetzen, erschlägt. Die Unterschiede zwischen der Hymisqviða und der Snorra-Edda sind, vom zentralen Bericht über die Angelung der Midgardschlange einmal abgesehen, beträchtlich. Andererseits gibt es aber auch eine Reihe von so spezifischen Gemeinsamkeiten in Motivik und Wortschatz, daß ein irgendwie gearteter Zusammenhang wohl angenommen werden muß. Bei dieser Feststellung muß es jedoch bleiben, denn es ist bis heute nicht geglückt, das Verhältnis der beiden Texte genauer zu bestimmen. 23 Auf keinen Fall ist der Schluß zulässig, die Hymisqviða sei jünger als die Snorra-Edda, weil bei Snorri einige Motive nicht vorkommen. Erstens muß Snorri nicht jede mythische Erzählung gekannt haben und zweitens ist durchaus zu erwägen, daß er bestimmte Überlieferungen aus nicht mehr zu eruierenden Gründen weggelassen bzw. sogar unterdrückt hat. Dies zeigt nachdrücklich die Kesselholung. Snorri erwähnt sie nicht, doch findet sich schon im ersten grammatischen Traktat aus der 1. Hälfte des 12. Jahrhunderts ein Beispielsatz, der auf diese Geschichte abzielt: »Man hörte den Henkel, als Þórr den Kessel trug.« 24 Einmal mehr werden wir hier an die Zufälligkeiten der Überlieferung erinnert, von deren Variantenreichtum wir uns nur in seltenen Glücksfällen ein konkreteres Bild machen können. 23 Vgl. von See & al. 1997, S. 258 f., 275 f. mit der dort angeführten Literatur. 24 enn hærðí til hô D o þa er þo R R bar hverenn (Gramm 1 244.15; Hreinn Benediktsson 1972). Abb. 3 Midgardschlange 419 III Zur umfangreichen literarischen Überlieferung von Þórrs Angelung der Midgardschlange gesellt sich mit vier Denkmälern eine reiche und ebenfalls alte Bildüberlieferung, die sich zudem auch auf die britischen Inseln erstreckt. Ältestes Zeugnis ist der gotländische Bildstein Ardre VIII, der noch dem 8. Jahrhundert angehört. 25 Eine Szene unmittelbar links unter dem großen Schiff zeigt zwei Gestalten in einem Boot, aus dem an einer dicken Schnur ein gewaltiger Köder in Form eines mehrfach gezackten, sonst nicht näher bestimmbaren Gegenstandes hängt. Es herrscht weitgehende Übereinstimmung, daß hier die Angelung der Midgardschlange dargestellt wird. 26 Die Schlange selbst ist zwar nicht zu sehen, könnte sich aber in der heute stark beschädigten Partie darunter befunden haben (Abb. 3). 27 Durchaus erwägenswert ist, ob auf dem Bildstein nicht auch Þórrs Köderbeschaffung dargestellt wurde. In der Mitte des unteren Bildfeldes ist ein Stall bzw. eine Tierhürde zu sehen, worin sich ein nach links gerichteter Bovide sowie zwei nach rechts gehende Männer befinden. Einer von ihnen hat einen mehrfach gezackten Gegenstand geschultert. Vor dem Boviden steht, durch die Stallwand oder Hürde getrennt, ein Mann (Abb. 4). Hierbei könnte es sich um Þórr handeln, der sich zunächst den Stierkopf als Köder verschafft und dann in Begleitung des Riesen den Stall bzw. die Hürde verläßt. 28 Bedenkenswert ist auch der Vorschlag Edith Marolds, in der zweiten Person nicht den Riesen, sondern einen Beglei- 25 Vgl. Lindqvist 1941, Taf. 59, Fig. 139; 1942, S. 22 ff.; Buisson 1976, S. 57 ff., Taf. 1, 2, 6, 7; Marold, im Druck. 26 Lindqvist 1941, S. 95 f.; 1942, S. 24; Buisson 1976, S. 57 ff.; Althaus 1993, S. 211 f.; völlig überzogen ist dagegen die hyperkritische Haltung von Horn Fuglesang (1993, S. 697). 27 Vgl. Lindqvist 1941, S. 95; 1942, S. 24; Buisson 1976, S. 95. 28 Lindqvist 1941, S. 95 f.; zustimmend Althaus 1993, S. 212; anders Buisson 1976, S. 67 ff.; vgl. dazu auch die differenzierte Argumentation bei Marold, im Druck. Abb. 4 420 Wilhelm Heizmann ter Þórrs zu sehen, der bei den Kämpfen und Abenteuern des Gottes in der einen oder anderen Form fast immer zugegen ist. 29 Wahrscheinlich läßt sich auf Ardre VIII sogar noch eine weitere Szene zur Hymiskviða in Bezug setzen. Sie findet sich zwischen der Angelung und der Köderbeschaffung und zeigt einen Mann zusammen mit einem mehrköpfigen Wesen. Schon Karl Hauck hat diese Darstellung als Tötung des Riesen Þrívaldi gedeutet. 30 Neuerdings greift Edith Marold diese Deutung wieder auf und verbindet die Szene mit guten Argumenten sowohl mit einer Bragi zugeschriebenen Halbstrophe (Bragi 2, 1) als auch mit der Hymiskviða. 31 In die nordenglische Landschaft Cumberland führt die Steinplatte von Gosforth aus der 1. Hälfte des 10. Jahrhunderts, der sog. »Fishing Stone«. 32 Sie war vielleicht einmal Teil eines Frieses oder einer Wandverkleidung. In ihrem unteren Teil zeigt sie ein Boot wikingerzeitlichen Typs mit zwei Gestalten en face zu beiden Seiten des Masts. Die Figur zur Rechten umfaßt mit der Linken den Steven bzw. den Heckpfosten des Bootes, die andere hebt eine Axt. Die linke Figur hält in der rechten Hand einen Gegenstand, der vielleicht als Hammer gedeutet werden kann, in der anderen eine Angelschnur, an der ein Tierkopf als Köder hängt. Um diesen tummeln sich vier große Fische. Ob außerdem Reste eines sich krümmenden Schlangenleibes erkennbar sind, 33 sei dahingestellt. Es könnte sich dabei genausogut um die Schwanzflosse des unteren rechten Fisches handeln (Abb. 5). Bis auf wenige Ausnahmen hat die Forschung überwiegend daran festgehalten, daß hier Þórrs Angelabenteuer dargestellt wird. 34 Im Gegensatz zu den bisher genannten Darstellungen zeigt die Þórr-Szene 35 auf dem uppländischen Runenstein von Altuna (1. Hälfte 11. Jahrhundert) 36 nur eine einzige Person in einem Boot mit hochgezogenem Steven und Heck sowie einem Ruder. Sie hält den Hammer in der rechten Hand und faßt mit der Linken die Angelschnur, an der ein Tierkopf als Köder hängt. Nach ihm schnappt eine mehrfach verschlungene Schlange. 37 Als signifikantes Detail, das diese Visualisierung von Þórrs Angelung der Midgard- 29 Marold, im Druck. 30 Hauck 1957, S. 363. 31 Marold, im Druck; für andere Deutungen vgl. Buisson 1976, S. 59 ff. 32 Vgl. Bailey 1980, S. 131 f., 112 mit Plate 36; Bailey & Cramp 1988, S. 108 ff. mit ausführlicher Bibliographie und Illustration 332. 33 So Bailey & Cramp 1988, S. 108. 34 Stephens 1884, S. 33 ff.; Bugge 1899, S. lxxvii; Reitzenstein 1924, S. 156; 1926, S. 158; Bailey 1980, S. 131; Bailey & Cramp 1988, S. 108; anders Krohn 1907, S. 177; 1922, S. 160; (Alexander) Bugge 1905, S. 329. 35 Zu deren Zusammenhang mit der darüber befindlichen Óðinn-Szene vgl. Meulengracht Sørensen 1986, S. 265. 36 Wessén & Jansson 1957, S. 610 ff., Nr. 1161; 1953 - 1958, Pl. 139. 37 Edith Marold verweist in diesem Zusammenhang auf die schon genannte Kenning hrokkinn hrøkkviáll Vôlsunga drekku in Bragis Ragnarsdrápa (im Druck). Abb. 5 Midgardschlange 421 schlange mit der Darstellung Snorris verbindet, ist ein Fuß erkennbar, der den Schiffsboden durchstoßen hat (Abb. 6). Letzteres Detail kehrt auch auf dem erst 1954 bei Restaurierungsarbeiten an der Kirche von Hørdum in der jütländischen Landschaft Thy entdeckten Stein wieder, der nur grob in die Wikingerzeit datiert werden kann. 38 Seine einfache Ritzung läßt lediglich Umrisse erkennen. In dem Boot sitzen hier ebenfalls zwei Personen, die im Profil wiedergegeben werden. Die Gestalt zur Linken richtet eine Axt gegen die Angelschnur, die von der rechten Gestalt mit beiden Händen gehalten wird. Unter dem Boot sind Teile eines großen Schlangenleibes erkennbar (Abb. 7). IV Die Forschung hat immer wieder hervorgehoben, daß innerhalb der reichen Überlieferung zu Þórrs Angelabenteuer zwei unterschiedliche Versionen vom Ausgang des Kampfes im Umlauf waren, von denen die eine die Tötung der Midgardschlange mitteilte, die andere ihr Überleben. 39 Der Húsdrápa zufolge gelingt es Þórr, der Midgardschlange den Kopf abzuschlagen. Gleiches bezeugt die Halbstrophe des Þórr-Gedichts von Gamli gnævaðarskáld. In dieser »Triumphvariante« 40 hatte der Riese einen 38 Brøndsted 1955, S. 98 ff. mit Fig. 86 und 87. 39 Vgl. Vogt 1929, S. 213 f.; Gschwantler 1968, S. 161; Schier 1976, S. 433 ff. (88 ff.); Meulengracht Sørensen 1986, S. 270 f.; von See & al. 1997, S. 324. Abb. 6 422 Wilhelm Heizmann eher burlesken Auftritt, der offensichtlich auch weggelassen werden konnte. 41 Jedenfalls fehlt er auf dem Stein von Altuna, eine Tatsache, die sonst nur recht unbefriedigend mit dem Argument erklärt wird, daß der Riese auf dem Stein keinen Platz mehr gefunden hätte. 42 Welche Version die Hymisqviða mitteilt, ist umstritten. Wenn man mit Lücken in der überlieferten Form operiert, 43 wird die ganze Szene völlig unberechenbar. Es könnten nämlich in den verlorenen Passagen genau die entscheidenden Details mitgeteilt worden sein. Geht man aber von der überlieferten Form aus, die immerhin in beiden Textzeugen gleich überliefert ist, dann bezeugt die Hymisqviða eher die Triumphvariante. 44 Entscheidend ist hier das Argument, daß Þórr mit seinem Hammer nie vergeblich zuschlägt. 45 Diesen siegreichen Kampf gegen die Midgardschlange, Þórrs größte und ruhmreichste Machttat, haben Franz Rolf Schröder u.a. 46 in den Zusammenhang jener über die ganze Welt verbreiteten primordialen Kämpfe von Göttern und mythischen Helden gegen die Mächte des Chaos (Marduk - Tiamat, Jahve - Leviathan, Indra - Vritra, Apollon - Python etc.) gestellt, deren Tötung erst kosmische Ordnung etabliert. 47 Es gibt zwar keinen eindeutigen Hinweis darauf, daß sich Þórrs Machttat in den Urtagen der Welt zutrug, 48 doch spricht Bragi in diesem Zusammenhang immerhin von snimma, ein Wort, das hier wohl in der Bedeutung »früher, einst, in den alten Tagen« verstanden werden muß. 49 Snorri plaziert Þórrs Angelabenteuer unmittelbar vor den Ereignissen, die den Ragnarök vorausgehen. Allerdings 40 Dieser Begriff wurde von Karl Hauck eingeführt (1976, S. 581). 41 Vgl. Hauck 1976, S. 581; Meulengracht Sørensen 1986, S. 265, 270. Daß auf dem Stein von Altuna Þórrs Sieg dargestellt wird, erwägen u.a. auch Vogt 1929, S. 203 und Schier 1976, S. 434 (89). 42 von Friesen 1921, S. 482; Wessén & Jansson 1957, S. 616. 43 Vgl. von See & al. 1997, S. 327 f. 44 So etwa Boer 1922, S. 92 f.; Guðrún Nordal, Sverrir Tómasson & Vésteinn Ólason 1992, S. 108; anders Schier 1976, S. 428 (83). 45 von See & al. 1997, S. 322, 328 mit Belegen. 46 Schröder 1955, S. 11, 30 ff.; 1957; de Vries 1957, S. 143; Turville-Petre 1964, S. 76; Ström 1975, S. 136; Schier 1976, S. 435 f. (89 f.); Meulengracht Sørensen 1986, S. 270, 274; Motz 1996, S. 42 ff., 51 ff.; Marold, im Druck. 47 Merkelbach 1959, Sp. 229 ff.; Fontenrose 1959, S. 217 ff. 48 Vgl. Meulengracht Sørensen 1986, S. 273 f. 49 So Finnur Jónsson 1912, S. 3; 1931a, S. 523; anders Vogt 1929, S. 212 f. Abb. 7 Midgardschlange 423 stellt er Þórr dabei als jungen Mann vor. 50 Dies läßt erahnen, daß diese Episode ursprünglich wohl einen anderen Platz im mythischen Zeitgefüge einnahm. Auch die Hymisqviða bezeichnet Þórr einmal ausdrücklich als sveinn »Bursche« (Hym 18). 51 Dies wurde von der Forschung zumeist so verstanden, daß Þórr einen Gestaltwandel vorgenommen habe, um den Riesen über seine wahre Identität zu täuschen. 52 Von einem regelrechten Gestaltwandel Þórrs hören wir aber sonst in den Quellen nie. Das ist Óðinns Domäne. Als Chronzeuge für ein hohes Alter der »Pattvariante« wurde von der Forschung bisher übereinstimmend die Ragnarsdrápa in Anspruch genommen. Der erhaltene Text teilt diesen Ausgang jedoch nicht mit. 53 Die Strophen enden nämlich mit dem Durchschneiden der Angelschnur. Daß dies kein Garant für das Überleben der Midgardschlange ist, zeigt aber die Húsdrápa, bei der dieses Detail aller Wahrscheinlichkeit nach vorausgesetzt werden muß. Damit wird jener Argumentation der Boden entzogen, die die Anwesenheit eines Begleiters als Indiz für das Loskommen der Schlange in Anspruch nimmt. Dies gilt sowohl für die Bildüberlieferung auf Ardre VIII, der Gosforth-Platte und dem Hørdum-Stein, 54 als auch für die Þórsdrápa des Eysteinn Valdason. Mit Edith Marold stellt sich daher zurecht die Frage, »ob nicht der Riese mit seinem Versuch, die Konfrontation mit dem Ungeheuer abzubrechen, ein burlesker Zug in dem kosmogonischen Mythos sein könnte, der aber den Erfolg des Donnergottes nicht verhindern konnte.« 55 Sicher bezeugt ist das Loskommen der Midgardschlange somit allein bei Snorri. 56 Als bester Mythenkenner seiner Zeit war er offensichtlich sowohl mit der literarischen Überlieferung wie mit Bildüberlieferungen vertraut. 57 Woher er allerdings seine Informationen über Þórrs Mißerfolg bezog, muß offen bleiben. Erwägbar ist, daß er diese Version den ihm vollständiger vorliegenden Skaldengedichten entnehmen konnte, vielleicht hat er diese Gedichte aber auch nur mißverstanden. Snorri favorisiert eindeutig Þórrs Scheitern, denn dieser Ausgang begünstigt den finalen Kampf zwischen Þórr und der Midgardschlange bei den Ragnarök, wie er in seiner wichtigster Quelle, der V ô lospá geschildert wird. 58 Nicht auszuschließen ist daher auch die Möglichkeit, daß einzig die V ô lospá den Anstoß gab, eine alternative Version einzuführen. 59 Es fällt nämlich auf, daß Snorri hier 50 sva sem vngr drengr bzw. litill ok vngmenni eitt (Finnur Jónsson 1931, S. 61.13, 17f.); vgl. auch Þórrs Bezeichnung als kogursveinn »Bürschlein« im Codex Upsaliensis (Grape, Kallstenius & Thorell 1977, S. 29.22). 51 Vgl. von See & al. 1997, S. 311; siehe dort auch S. 266. 52 Vogt 1929, S. 211; Reichardt 1933, S. 147 f.; Wolf 1977, S. 10. 53 So gesehen auch von Edith Marold (im Druck). 54 Hauck 1976, S. 580 f.; Schier 1976, S. 434 (88 f.); Meulengracht Sørensen 1986, S. 270. 55 Marold, im Druck. 56 Bedenkt man, auf welch unsicherer Beleglage die Annahme eines als alt überlieferten unentschiedenen Ausgangs des Kampfes beruht, dann sind die weitreichenden Schlüsse, die Preben Meulengracht Sørensen daraus ziehen will, kaum nachvollziehbar. Seiner Ansicht nach bestätigt dieser Ausgang die kosmische Ordnung: »Thór’s fishing is an attempt to dissolve the cosmic order, and in the attempt itself, and especially in its failure, lies a confirmation of that order.« (1986, S. 271 f.; vgl. auch Clunies Ross 1989, S. 10). Die Intervention des Riesen geriete bei dieser Sicht geradezu zur Rettungstat der Weltordnung. Mit Recht wendet daher Edith Marold ein, daß diese Deutung im völligen Widerspruch zu der Rollenaufteilung steht, die wir sonst aus der skandinavischen Mythologie kennen (im Druck). 57 Vgl. Vogt 1929, S. 208 f.; Kabell 1976, S. 123; Wolf 1977, S. 11; Meulengracht Sørensen 1986, S. 259; von See & al. 1997, S. 261 f. 58 Vgl. Vogt 1929, S. 205 f.; Meulengracht Sørensen 1986, S. 272 ff. 59 Vgl. von See & al. 1997, S. 262. 424 Wilhelm Heizmann Hár ausdrücklich seine persönliche Meinung wiedergeben läßt, ohne sich auf irgendwelche andere Autoritäten zu berufen. 60 Die Einbettung des Kampfes in einen eschatologischen Kontext wird allein in der V ô lospá manifest. Man hat daher vermutet, daß es sich hierbei um eine späte Ausgestaltung auf der Basis eines unentschiedenen Ausgangs des Kampfes handelt. 61 Wenn man bereit ist, Þórrs Angelung der Midgardschlange in den Kontext primordialer Drachenkämpfe zu stellen, dann repräsentiert der Endzeitkampf der beiden Gegner in der Tat eine jüngere Phase. Solange die ursprüngliche Einheit von Mythos und Kultus bewahrt war, mußte die kosmische Ordnung stets neu begründet werden, indem der Drachenkampf zu bestimmten Zeiten durch Wiederholung reaktualisiert wurde. Hat sich der Mythos jedoch vom Kultus gelöst, kann der Drachenkampf als ein einmaliges historisches Ereignis gesehen werden, das einmal in der Urzeit stattgefunden hat. Dies ermöglicht die Projektion der Wiederholung in die Endzeit. 62 Aus dieser Perspektive gesehen, schließt ein primordialer Sieg Þórrs die Vorstellung eines wiederholten Aufeinandertreffens beim Weltuntergang nicht a priori aus. Er kann nämlich letztlich die fundamentale Menschheitserfahrung von Unsicherheit und Gefährdung durch die Mächte des Chaos nicht beseitigen. Sie sind als stete Bedrohung allgegenwärtig. Die letztliche Ungewissheit, ob die Schlange sich nicht vielleicht doch noch einmal erhebt, begünstigt die Annahme eines finalen Kampfes. Es muß daher keineswegs so sein, daß erst eine Pattsituation die Voraussetzung für die Einbettung in die Ragnarök schafft. Es ist auch der umgekehrte Weg denkbar: Ist der Gedanke eines Endzeitkampfes erst einmal etabliert, dann kann er auf die Vorstellung vom Ausgang der ersten Begegnung zurückwirken. 63 V Unter den zahllosen Erzählungen von mythischen Drachenkämpfen verdient im Vergleich zu Þórrs Kampf mit der Midgardschlange insbesondere eine weit verbreitete christliche Allegorie Beachtung, die von Christi Sieg über den Leviathan berichtet. Beide Überlieferungen verbindet der auffallende Zug der Angelung des Ungeheuers. Ausgangspunkt der Allegorie bildet eine Stelle im Buch Hiob (40,20 - 21): »›Kannst du den Leviathan mit der Angel ziehen, mit einem Strick seine Zunge fassen? Kannst du ihm einen Ring in die Nase legen und mit einer Spange seine Kinnbacke durchbohren? ‹« 64 Schon früh hat sich die christliche Exegese dieser Stelle angenommen und mit einer eigenartigen Täuschungstheorie (pia fraus) 65 verbunden, die bis auf Origines (185 - 254) zurückgeht: Getäuscht über die wahre, gottmenschliche Natur Jesu, habe der Satan ihn ans Kreuz geliefert. Gerade durch seinen Tod aber wurde erst das Erlösungswerk möglich 60 » E n ec hy G hitt vera þer satt at segia« (Finnur Jónsson 1931, S. 63.8); vgl. Gschwantler 1968, S. 162. 61 So de Boor 1930, S. 117, 141, Anm. 129; zustimmend Schier 1976, S. 435, Anm. 38 (100, Anm. 38); Meulengracht Sørensen 1986, S. 270; vgl. auch de Vries 1957, S. 143; Marold, im Druck, Anm. 9; anders dagegen Olrik 1922, S. 56. 62 Vgl. Merkelbach 1959, Sp. 229 f.; siehe auch Clunies Ross 1989, S. 10, 23. 63 Vgl. Schröder 1955, S. 12; Gschwantler 1968, S. 161. 64 »an extrahere poteris Leviathan hamo et fune ligabis linguam eius numquid pones circulum in naribus eius et armilla perforabis maxillam eius.« 65 Vgl. Marchand 1975, S. 333. Midgardschlange 425 und die Herrschaft des Satans gebrochen. 66 Der menschliche Leib des Gottessohnes wurde so für den mit Satan gleichgesetzten Leviathan zum Köder, in dem die göttliche Natur Jesu als Angelhaken verborgen war. Dieses Bild lag insofern nahe, da der Leviathan als Meeresungeheuer entweder in Gestalt eines riesigen Walfisches, einer Wasserschlange oder eines Drachen vorgestellt wurde. 67 Die Kirchenväter haben von dieser Allegorie reichlich Gebrauch gemacht. 68 Über die Schriften Gregors des Großen (ca. 540 - 604) 69 gelangte sie schließlich auch in das Abendland und fand dort im theologischen Schrifttum wie in der lateinischen und volkssprachlichen Dichtung weite Verbreitung. 70 James Marchand spricht in diesem Zusammenhang geradezu von einem »medieval commonplace«. 71 Daneben haben sich vereinzelt Zeugnisse in der bildenden Kunst des Mittelalters erhalten. 72 Im Vergleich zur theologischen Literatur, bei der die Abhängigkeit von Gregor dem Großen häufig recht deutlich zu erkennen ist, kam es aber offensichtlich nie zur Herausbildung eines festen Bildtypus. Die erhaltenen Beispiele zeigen jedenfalls erhebliche Unterschiede. Am bekanntesten ist davon zweifellos die nur in zwei Kopien bewahrte Darstellung aus dem 1870 verbrannten Hortus deliciarum (um 1190) der elsässischen Äbtissin Herrad von Landsberg (Fol. 84r): 73 Gottvater hat eine Angel ausgeworfen, an deren Schnur sich sieben Medaillons mit Brustbildern der Vorfahren Christi wie Perlen reihen. Am Angelhaken, der dem als Seeungeheuer in den Meeresfluten dargestellten Leviathan durch die Kinnbacke gedrungen ist, hängt als Köder der gekreuzigte Christus (Abb. 8). Diese Verbildlichung der Allegorie folgt recht genau den entsprechenden Ausführungen in zwei Predigten des Honorius Augustodunensis aus dem Speculum ecclesiae. 74 Daß dieses göttliche Täuschungsmanöver auch im Norden nicht unbekannt war, attestieren mehrere Zeugnisse. 75 Das älteste stammt aus dem in die Zeit um 1200 datierten Stockholmer Homilienbuch (Holm perg 15 4to). Es findet sich in einem Abschnitt (HómÍsl 76 75.16 - 77.7), 77 der auf Gregors des Großen 25. Homilie beruht. 78 Teile dieser Homilie hat auch das nur wenig jüngere Handschriftenfragment AM 686 c 4to bewahrt (Hóm686c ciii.1 - 11). 79 Noch im 12. Jahrhundert dürfte die Niðrstigningar saga entstan- 66 Zellinger 1925, S. 165; vgl. Reitzenstein 1924, S. 158 f. 67 Vgl. Bang 1882, S. 224 ff.; für Beispiele aus der christlichen Bildüberlieferung vgl. Lucchesi Palli 1971, Sp. 93 f. 68 Brøndsted 1882, S. 21 ff.; Reitzenstein, 1924, S. 159; Zellinger 1925, S. 165 ff.; Reizenstein 1926, S. 158 f.; Gschwantler 1968, S. 149. 69 Moralia in Iob 33, 9 (Adriaen 1985, S. 1687 ff.); Homilia 25 (Migne 1849, Sp. 1194 - 1196). 70 Brøndsted 1882, S. 23 ff.; Reitzenstein 1924, S. 160 ff.; 1926, S. 159; Zellinger 1925, S. 170 f., 173 ff.; Stauch 1937, Sp. 696 f.; Gschwantler 1968, S. 149 f.; vgl. auch Marchand 1975, S. 330 f. sowie dort die Literaturhinweise in Anm. 9. 71 Marchand 1975, S. 332. 72 Martin 1856, S. 191 ff.; Zellinger 1925, S. 171 ff., 174 f.; Strauch 1937, Sp. 697 f.; Lucchesi Palli 1971, Sp. 94; Haefeli-Sonin 1992, S. 94 ff. 73 Vgl. dazu Zellinger 1925, S. 161 ff.; Gillen 1931, S. 66 ff.; Cames 1971, S. 40 ff. 74 Migne 1895, Sp. 906 (In Annunciatione Sanctæ Mariæ), 937 (De Paschali die). 75 Vgl. von See & al. 1997. S. 324. 76 Altnordische Prosatexte werden mit den Sigeln des ONP zitiert. 77 Wisén 1872; auch de Leeuw van Weenen 1993, bll. 35v.4 - 36r.19; vgl. auch Gschwantler 1968, S. 151; Marchand 1975, S. 331 f. 78 Migne 1849, Sp. 1194 - 1196; Marchand 1975, S. 332; vgl. Vrátný 1916, S. 40. 79 Konráð Gíslason 1846 = Wisén 1872, S. 75.16 - 75.27. 426 Wilhelm Heizmann den sein, eine altnordische Bearbeitung des zweiten Teils des weit verbreiteten apokryphen Nikodemusevangeliums (Descensus Christi ad inferos). 80 Die Saga ist in vier Handschriften überliefert, von denen nur die älteste (AM 645 4to) aus dem zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts den Text vollständig enthält. Die Täuschung Satans kommt in zwei Interpolationen zur Sprache (Niðrst 1 4.27 - 33, 5.1 - 14; Niðrst 2 3.15 - 22, 3.29 - 4.14; Niðrst 3 14.27 - 15.11; Niðrst 4 20.3 - 8, 20.17 - 24). 81 Möglicherweise beruhen sie auf Gregor dem Großen, 82 doch ist der Inhalt so verbreitet, daß genausogut auch andere Quellen in Frage kommen. 83 Ein drittes Beispiel schließlich findet sich in der Lilja, einem geistlichen Gedicht des Isländers Eysteinn Ásgrímsson aus dem 14. Jahrhundert (Lil 60). 84 Bekannt war aber nicht nur die Angelung des Leviathan. Es läßt sich darüber hinaus auch der Nachweis erbringen, daß der Leviathan mit der Midgardschlange geradezu gleichgesetzt wurde. Dies geht unzweifelhaft aus einer Interlinearglosse hervor, die sich sowohl im Stockholmer Homilienbuch wie im Fragment AM 686 c 4to findet. In beiden Handschriften wurde über leviaþan/ leviat H an das Wort miþgarþar ormr 85 bzw. Miþgarzormr gesetzt. 86 Auch in der Niðrstigningar saga wird der drachengestaltige Satan ausdrücklich miþgarsþormr genannt (Niðrst 1 4.29; Niðrst 2 3.17/ 18; Niðrst 4 20.5). Diese Gleichsetzung mit dem Hinweis auf die interpretatio germanica abzutun, die Vertreter des antiken Pantheons mit den Namen germanischer Gottheiten belegt, 87 greift viel zu kurz. Denn auch diese interpretatio setzt ein Mindestmaß an Reflexion über die Natur und das Wesen derjenigen Gestalten voraus, die hier über ihre Namen zueinander in Bezug gesetzt werden. Im Falle des Satans in Drachengestalt dokumentiert dies unmißverständlich der ausdrückliche Vergleich mit der Midgardschlange in der 4. Recension der 80 Vgl. Wülcker 1872; Schelb 1980; Jacobsen, Briesemeister & Ehrhardt 1986; Bernt 1993. 81 Unger 1877: 2 (AM 645 4to); Finnur Jónsson 1927 (AM 623 4to) = Unger 1877: 2, S. 10.20 - 25, 10.32 - 11.3; Unger 1877: 2 (AM 233 fol); Unger 1877: 2 (AM 238 V fol); vgl. auch Magnús Már Lárusson 1955; Gschwantler 1968, S. 151 ff.; Marchand 1975, S. 328 f. 82 Vgl. Magnús Már Lárusson 1955, S. 164 f. 83 Vgl. Marchand 1976, S. 333. 84 Vgl. Gschwantler 1968, S. 156 f.; Marchand 1975, S. 331. 85 de Leeuw van Weenen 1993, bl. 35v.11. 86 Konráð Gíslason 1846, S. ciii.11. 87 So Marchand 1975, S. 333. Abb. 8 Midgardschlange 427 Niðrstigningar saga: »Da verwandelte er sich in die Gestalt eines schrecklichen Drachen, der hinsichtlich seiner Größe mit der Midgardschlange verglichen wird, von der es heißt, sie liege um die ganze Welt.« 88 Anlaß für diesen Vergleich bot hier die Vorstellung, daß sowohl die Midgardschlange wie der Leviathan als riesige Meeresungeheuer die ganze Welt umschließen und sich selber in den Schwanz beissen. 89 Ob dabei auch eine Rolle spielte, daß sowohl vom Leviathan wie von der Midgardschlange Erzählungen im Umlauf waren, die von der Angelung dieser Ungeheuer durch einen Gott berichteten, 90 läßt sich dem vorhandenen Quellenmaterial nicht zweifelsfrei entnehmen. Dies ist eine zwar naheliegende, aber nicht beweisbare Annahme. 91 Die Forschung ist auf die frappanten Übereinstimmungen zwischen christlicher und heidnischer Überlieferung schon früh aufmerksam geworden. 92 Umstritten war dabei, wie man sich das gegenseitige Verhältnis vorzustellen hat. So ging etwa Jacob Grimm zuerst noch von einer Übertragung »jüdischchristlicher sagen auf den heidnischen gott« aus, 93 an späterer Stelle war für ihn die Angelung Leviathans dagegen »anklang an die ungeheure von Thôr aus dem grund des meers geangelte, feindliche weltschlange.« 94 Jacob Grimms frühere Position wurde vor allem in der älteren Forschung vertreten. Während radikale Anhänger Þórrs Angelung der Midgardschlange unmittelbar auf die christliche Allegorie zurückführten, 95 wollten andere nur allgemein von einem christlichen Einfluß sprechen. 96 Die Vertreter der Gegenposition beharrten trotz der unbestrittenen Ähnlichkeiten auf der Annahme zweier ursprünglich getrennter Überlieferungen, ohne dabei je- 88 Þa likti hann sik i mynd ogurligs dreka, þeim er iafnat er at mikeleik vid midgard(z)orm, sa er sagt, at ligi um allan heimin (Niðrst 4 20.20ff.). 89 So spricht etwa in den apokryphen Thomasakten (1. Hälfte 3. Jahrhundert) ein Teufel in Drachengestalt: »›... ich bin der Sohn dessen, der die (Welt-)Kugel umgürtet; ich bin ein Verwandter dessen, der außerhalb des Ozeans ist, dessen Schwanz in seinem Munde liegt ...‹« (Bornkamm 1964, S. 321; der griech. Text bei Bonnet 1903, S. 149). In der fälschlicherweise dem Beda Venerabilis zugeschriebenen Schrift De mundi cœlestis terrestrisque constitutione heißt es über den Leviathan: Alii dicunt Leviathan animal terram complecti, tenetque caudam more suo. (Migne 1862, Sp. 884). Vgl. Bang 1882, S. 228 ff.; Gschwantler 1968, S. 159 f.; von See & al. 1997, S. 324. 90 Vgl. Gschwantler 1968, S. 160 f., 164, 167 f.; von See & al. 1997, S. 324 f. 91 Gschwantler erwägt ferner, ob jene Angabe der späten Niðrstigningsvísur des Bischofs Jón Arason (1484 - 1550), wonach der drachengestaltige Leviathan beabsichtigt, die Welt zu versenken (Jón Helgason 1936, S. 230, Str. 27), einen Zug der Midgardschlange bewahrt, da laut Gylfaginning der Aufbruch der Midgardschlange zum letzten Kampf mit heftigen Überschwemmungen verbunden ist (Gschwantler 1968, S. 158 f.). Allerdings werden mit dem Leviathan große Fluten auch in der christlichen Überlieferung in Verbindung gebracht, so etwa in der genannten Schrift De mundi cœlestis terrestrisque constitutione (Migne 1862, Sp. 884). 92 Vgl. Finn Magnusen 1828, S. 484 ff. 93 Grimm 1835, S. 124. 94 Grimm 1835, S. 559. 95 Brøndsted 1882, S. 30 f., 40; Bang 1882, S. 222; Bugge 1889, S. 11 f.; 1899, S. LXXVI ff.; Krohn 1907, S. 167 ff.; 1922, S. 157 f. In jüngerer Zeit wurde diese These noch (vorsichtig) vertreten von Peter Paulsen (1966, S. 46) und vor allem Aage Kabell (1976). Letzterer verfiel auf die Idee, die Angelung der Midgardschlange wegen des Stierköders, der in den christlichen Darstellungen von der Überlistung Leviathans tatsächlich fehlt, unter Hinweis auf ein Mosaik der Synagoge von Hammam Lif (Tunis) aus der 2. Hälfte des 5. Jahrhunderts (Goodenough 1953: 2, S. 89 ff., 1953: 3, Fig. 887 & 888), unmittelbar aus der jüdischen Überlieferung herzuleiten (Kabell 1976). Auf welchem Wege diese Vermittlung stattfand, bleibt dabei allerdings unerklärt. 96 Marchand 1975, S. 333. 428 Wilhelm Heizmann doch die Möglichkeit einer Übernahme einzelner christlicher Züge kategorisch abzulehnen. 97 Angesichts der zahlreichen und variantenreichen Zeugnisse für den heidnischen Mythos, die nicht nur eine weite geographische Verbreitung, sondern z.T. auch ein hohes Alter beanspruchen können, muß in der Tat davon ausgegangen werden, daß Þórrs Angelabenteuer bereits fest im mythischen Weltbild der Nordgermanen verwurzelt war, bevor das Pendant d er christlic hen Überlief erung in den Norde n gelan gte. 98 Dies schließt eine späte Beeinflussung nicht aus, doch ist ein sicherer Nachweis im Einzelfall nur schwer zu erbringen. So erwägt etwa Alois Wolf, ob die Betonung, die Snorri darauf legt, daß die Midgardschlange von Þórr mit dem Stierköder überlistet wird, 99 nicht vor einem christlichen Hintergrund zu verstehen sei. 100 Sophus Bugge machte auf jene Stelle in der Fornkonunga saga aufmerksam, wo der Dänenkönig Ívarr viðfaðmi von seinem Ziehvater in eindeutig pejorativer Absicht mit der Midgardschlange identifiziert wird. 101 Seiner Meinung nach wird hier die Midgardschlange unter christlichem Einfluß praktisch mit dem Teufel selbst gleichgesetzt. 102 Immer wieder hat man auch vermutet, daß die alte und weit verbreitete Vorstellung von der die weltumgürtende und sich in den Schwanz beißenden Schlange (Uroboros) 103 wenigstens im Norden jüngeren Datums sei und christlichem Einfluß verdankt werde. 104 Dem ist entgegenzuhalten, daß bereits eine Reihe von bildhaften Umschreibungen (Kenningar) insbesondere in Skaldengedichten des 9. und 10. Jahrhunderts 105 dieses Bild offensichtlich voraussetzen. 106 Dies darf auch deshalb angenommen werden, weil schon auf dem Revers des Goldbrakteaten von Lyngby-A (IK 297) aus der Mitte des 5. Jahrhunderts das Bildrund von einer sich in den Schwanz beißenden Schlange eingeschlossen wird (Abb. 9). Obwohl einerseits an der Bekanntheit der christlichen Allegorie von der Angelung des Leviathan im Norden kein Zweifel besteht, bleibt andererseits doch festzuhalten, daß es für eine tatsächlich vollzogene Gleichsetzung mit dem heidnischen Mythos von Þórrs Angelung der Midgardschlange kein einziges Zeugnis gibt. Daher ist auch keine sichere 97 Meyer 1889, S. 144; 1891, S. 145; Reitzenstein 1924, 156 ff.; 1926, S. 159; Schröder 1955, S. 30 f.; de Vries 1957, S. 142 f. 98 Vgl. von See & al. 1997, S. 325. 99 Snorri verwendet in diesem Zusammenhang das Verb ginna »täuschen« (Finnur Jónsson 1931, S. 62.16). Zu vergleichen ist damit die Hymisqviða, wo es heißt, daß Þórr die Angelschnur við vélar »mit Hinterlist« anfertigt (Hym 21); der Frankfurter Edda-Kommentar bevorzugt hier allerdings die Bedeutung »mit Kunstfertigkeit« (von See & al. 1997, S. 321). 100 Wolf 1977, S. 18 mit Anm. 70. 101 »Muntu vera ormr sa, sem uerstr er til, er heitir Miðgarðzormr«. (Fornk 11.26f.; af Petersens & Olsen 1919 - 1925). 102 Bugge 1899, S. lxxvi; vgl. Gschwantler 1968, S. 160. 103 Vgl. Olrik 1922, S. 279; Merkelbach 1959, Sp. 227 f. 104 Krohn 1907, S. 168; de Vries 1957, S. 373; Gschwantler 1968, S. 159 f. 105 Vgl. jarðar reistr »das um die Erde gebogene« (Rdr 14), allra landa endiseiðr »Fisch, der die Grenze für alle Länder bildet« (Rdr 15), enn ljóti hringr borðróins barða brautar »der häßliche Ring der Straße der beidseitig mit Rudern versehenen Schiffe (Meer)« (Rdr 17), allra landa umg jôrð »Gürtel aller Länder« (Hym 22, Ôlv 1), storðar men »Halsband der Erde« (Húsdr 4), storðar stirðþinull »steife Netzschnur der Erde« (Húsdr 5), brattrar brautar baugr »Ring des Berglandes« (EVald 2), jarðar seiðr »Fisch der Erde« (EVald 3), grundar fiskr »Fisch der Erde« (Ggnæv 1), lôgseimr »Meer-Band« (Þdr 1), lindi iarðar »Gürtel der Erde« (Vsp 55H), moldþinurr »erdumspannendes Tau« (Vsp 60), sæþráðr »Meer-Faden« (ÞjóðA 3, 33). 106 Vgl. von See & al. 1997, S. 323. Midgardschlange 429 Aussage darüber möglich, ob die Ähnlichkeit der beiden Überlieferungen von den Predigern der christlichen Lehre im Norden in den Dienst der Glaubensverkündigung gestellt wurde. Wenn »sich dem christlichen Prediger ein Vergleich geradezu aufdrängte«, 107 dann hätte dies sicher tiefere Spuren hinterlassen. Ohne diese Möglichkeit a priori ausschließen zu wollen, sei doch zu bedenken gegeben, daß tatsächlich selbst die Belege für eine Gleichsetzung von Midgardschlange und Leviathan insgesamt recht spärlich sind und zudem wenig aussagekräftig. Irgendein tiefergreifenderes Konzept wird dabei nicht erkennbar. Inwieweit fügt sich nun die Bildüberlieferung im Bereich der skandinavischen Siedlungen auf den britischen Inseln in dieses Bild? Hier werden auf eindeutig christlichen Denkmälern Szenen aus der germanischen Heldensage und Mythologie neben christliche Bilder gestellt. 108 Unter diesen Bildern findet sich auch eine Darstellung, die höchstwahrscheinlich als Angelung Leviathans zu deuten ist. 109 Das Thorwald-Kreuz von Kirk Andreas auf der Isle of Man (10. Jahrhundert) zeigt eine bärtige männliche Gestalt, oben und unten eingerahmt von zwei Schlangen. Die Verknotung ihrer Leiber erweist sie den antiken und mittelalterlichen Bildkonventionen gemäß als überwunden. 110 Dies bestätigt auch der triumphierende Tritt auf den Kopf der unteren Schlange. 111 Die Gestalt hält in der erhobenen Rechten einen Gegenstand, der als Buch zu identifizieren ist. Die linke Hand umfaßt den Schaft eines Kreuzes, an dem an einer Schnur ein Fisch 112 herabhängt. Dieser Szene wird der heidnische Mythos von der Verschlingung Óðinns durch den Fenriswolf gegenüber gestellt (Abb. 10). 113 Eindrucksvoll kontrastiert hier der Sieg des neuen, christlichen Gottes 107 Gschwantler 1968, S. 159, vgl. auch S. 148. 108 Vgl. Bailey 1980, S. 101 ff. 109 Vgl. Reitzenstein 1924, 178 ff.; 1926, S. 164; Gschwantler 1968, S. 166 f. Daß die christliche Allegorie zu dieser Zeit auf den britischen Inseln vorausgesetzt werden darf, zeigt Ælfric, der sie um 1000 in einer seiner Homilien verwendet (Thorp 1844, S. 216/ 217). 110 Vgl. Hauck 1988 (XL), S. 33, 35, 36. 111 Hauck 1986 (XXXV), S. 497 ff.; (LV), im Druck, nach Anm. 233. 112 Als großer Fisch ist Leviathan zu sehen auf Illustrationen zu Hiob 40,20 - 21 in einer Handschrift der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts von Gregors Moralia in Iob aus dem Stift Herzogenburg Cod. 54, fol. 257v (Swarzenski 1930, S. 18, 23, Abb. 35) sowie auf einem Tryptichon aus der Werkstatt des Godefroi de Claire (um 1150) im Victoria and Albert Museum (Cornell 1925, S. 128, Taf. D). Vgl. weiter die Abbildung einer nicht näher bestimmten »peinture d’Aquilée assez ancienne« bei Martin 1858, S. 197, Anm. 1, Fig. 57. 113 Vgl. dazu den Beitrag »Fenriswolf« in diesem Band. Abb. 9 430 Wilhelm Heizmann die Niederlage des wichtigsten Repräsentanten der alten, heidnischen Götterwelt und stellt damit umso nachdrücklicher die Überlegenheit des christlichen Glaubens unter Beweis. 114 Anders lautet dagegen die Botschaft auf der Gosforth-Platte. Über Þórrs Angelung der Midgardschlange ist nämlich der Kampf zweier Schlangen 115 mit einem Vierfüßler dargestellt, der wohl am ehesten als Hirsch anzusprechen ist (Abb. 5). 116 Der Antagonismus von Hirsch und Schlange steht in einer reichen literarischen und bildlichen Tradition. 117 In christlichem Kontext ist er auf Christus bezogen, der gegen den Teufel in Schlangengestalt kämpft. 118 Über den Ausgang der Kampfes besteht kein Zweifel, dies zeigt auch, wie auf dem Thorwald-Kreuz, die Verknotung der Schlangenleiber sowie der Tritt auf den Kopf der einen Schlange. Beide Darstellungen verbindet der siegreiche Kampf 119 über einen schlangengestaltigen Gegner, doch wird dieser Vorgang sozusagen von zwei Seiten her beleuchtet: von einer christlichen und einer heidnischen. Daß dieser Vergleich die Gleichsetzung zwischen Þórrs Angelung der Midgardschlange und der christlichen Allegorie zur Voraussetzung hätte, 120 ist für ein angemessenes Verständnis der Gosforth-Platte in keiner Weise vonnöten. 121 Dies zeigt ein Blick auf das Gosforth- 114 Erst diese Gegenüberstellung sowie der Kreuzschaft, an dem der Fisch hängt, erlauben eine sichere Zuweisung der Angelszene zum Komplex »Angelung des Leviathan«. Offen bleibt dagegen der Zusammenhang einer Darstellung des jugendlichen Christus in Tunica und Pallium, der einen Fisch an der Schnur trägt, auf einem Goldglas der vatikanischen Sammlungen (Garrucci 1864, Tav. VI, 10), die von Richard Reitzenstein zum Vergleich herangezogen wurde (1924, S. 179). Anders als auf dem genannten Tryptichon, wo der typologische Kontext eine eindeutige Zuweisung ermöglicht, ist hier eher von einer symbolischen Darstellung Christi als Menschenfischer auszugehen (vgl. Stauch 1937, Sp. 694 f.). 115 Für Bailey handelt es sich hier um die beiden Teile einer Schlange (1980, S. 132); vgl. Bailey & Cramp 1988, S. 108. 116 So die Deutung aufgrund des Feinbefunds, der ein Geweih erkennen läßt, bei Bailey 1980, S. 132 und Bailey & Cramp 1988, S. 109; vgl. auch Stephens 1884, S. 36; Krohn 1922, S. 160. Dagegen sah Reitzenstein in dem Tier das Kreuzeslamm (1924, S. 168 f.; 1926, S. 160); vgl. Gschwantler 1968, S. 165. 117 Für Literaturhinweise siehe den Beitrag »Fenriswolf« in diesem Band, Anm. 99. 118 Vgl. Bailey 1980, S. 132. Das Motiv des Hirsches, der mit Schlangen kämpft, begegnet im Norden auch in einem nicht-christlichen Kontext, so auf gotländischen Bildsteinen (Lindqvist 1941, Fig. 50, 52, 65, 341; 1942, Fig. 352, 564), auf frühen Silbermünzen des Nordens aus der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts (Malmer 1966, Pl. 2) oder auf dem südjütländischen Goldbrakteaten Skrydstrup-B (IK 166; vgl. hierzu auch den Beitrag »Fenriswolf« in diesem Band nach Anm. 95). Dennoch ist hier ein christlicher Bezug vorzuziehen, da die Gosforth-Platte mit großer Wahrscheinlichkeit von demselben Steinmetz geschaffen wurde wie das Gosforth-Kreuz (Bailey 1980, S. 131; Bailey & Cramp 1988, S. 108). 119 Gschwantler 1968, S. 165. Einen unentschiedenen Ausgang von Þórrs Kampf favorisieren dagegen Stephens 1884, S. 38; Hauck 1976, S. 580 f.; Schier 1976, S. 434 (89); Meulengracht Sørensen 1986, S. 270. Abb. 10 Midgardschlange 431 Kreuz, wo neben eine Darstellung von Christi Tod am Kreuze, der ja letztlich zur Überwindung des Todes und zur Erlösung der Menschheit führt, der siegreiche Kampf des Óðinn-Sohnes Viðarr über den Fenriswolf gestellt wird. Das Nebeneinander von christlichen und heidnischen Bildern läßt sich hier nicht mit Ähnlichkeiten der zugrundeliegenden Überlieferungen begründen. Die Szenen verbindet vielmehr allein ein gemeinsamer Grundgedanke: der Sieg eines jungen Gottes über die Mächte des Todes. 122 Im Gegensatz zum Norden, wo Vergleichbares zumindest nicht nachzuweisen ist, 123 werden auf den genannten Bilddenkmälern ganz offensichtlich heidnische Mythen in den Dienst der Glaubensverkündigung gestellt. Zur Erläuterung christlicher Vorstellungen wird auf einheimische Überlieferungen zurückgegriffen, die in irgendeiner Weise als verwandt empfunden wurden. 124 Das Erstaunliche dabei ist: weder auf der Gosforth- Platte noch auf dem Gosforth-Kreuz wird erkennbar, daß bei diesem Vergleich die heidnischen Mythen dazu herhalten mußten, die Überlegenheit des neuen Glaubens zu dokumentieren. Die heidnischen Götter treten vielmehr als Sieger über gefährliche Ungeheuer auf. 125 Diese Denkmäler stehen damit in krassem Gegensatz zu der Strategie, die Daniel von Winchester im 8. Jahrhundert in einem Brief an Bonifatius vorschlägt (Epistola 23): Die Missionare sollen sich mit den Riten und Erzählungen der Heiden durchaus vertraut machen, aber nur, um sie dann durch die Gegenüberstellung mit den christlichen Dogmen als absurd bloß zu stellen. 126 Es muß daher für die Gebiete der britischen Inseln mit stark skandinavischem Einschlag, wenn vielleicht auch nur für einen begrenzten Zeitraum, damit gerechnet werden, daß die heidnische Mythenüberlieferung nicht grundsätzlich als Teufelswerk verworfen wurde. Hier wird eine Einstellung erkennbar, die durchaus an eine Äußerung Gregors von Tours gegenüber Agila, dem arianischen Gesandten des westgotischen Königs Leuvigild erinnert (Historiae 5, 43): »... wir sehen es nicht als ein Verbrechen an, dies und jenes zugleich zu verehren. Es ist bei uns eine gewöhnliche Rede, es sei nicht sträflich [oder ›schädlich‹], wenn man zwischen den Altären der Heiden und der Kirche Gottes durchgehe, beiden seine Verehrung zu beweisen.« 127 VI Die literarische und die bildliche Überlieferung zu Þórrs Angelung der Midgardschlange erstreckt sich zusammengenommen über einen großen Teil der wikingerzeitlichen Welt: Island (skaldische Dichtung, eddische Dichtung, Snorra-Edda), Norwegen (skaldische 120 Vgl. Bugge 1899, S. lxxvii; Reitzenstein 1924, S. 158; 1926, S. 158; Schröder 1929, S. 72; 1955, S. 31; de Vries 1957, S. 397 f.; Gschwantler 1968, S. 164, 166 f.; von See & al. 1997, S. 325. 121 Vgl. auch Bailey 1980, S. 132. 122 Vgl. dazu den Beitrag »Fenriswolf« in diesem Band. 123 Vgl. Gschwantler 1968, S. 146 f. 124 Vgl. Bailey 1980, S. 132; Bailey & Cramp 1988, S. 109. 125 Vgl. Olrik 1922, S. 13 f. 126 Tangl, Levison, Külb & Rau 1968, S. 78/ 79 ff. 127 »... non deputatur crimini, si et illa et illa colantur. Sic enim vulgato sermone dicimus, non esse noxium, si inter gentilium aras et Dei ecclesiam quis transiens utraque veneritur.« (Krusch, Giesebrecht & Buchner 1964, S. 362/ 363). 432 Wilhelm Heizmann Dichtung), Schweden, Gotland, Dänemark sowie England (Bilddenkmäler). Dieses überaus reiche Material vermag eine Ahnung davon zu vermitteln, wie variantenreich die Tradierung nordischer Mythen gewesen sein muß, von denen die zumeist trümmerhaften Reste oft nur einen willkürlichen Ausschnitt aus einer in stetem Fluß und steter Veränderung befindlichen Überlieferung zeigen. 128 Gerade den Bilddenkmälern fällt in diesem Zusammenhang eine Schlüsselrolle zu. 129 Sie erinnern nämlich eindrucksvoll daran, daß die literarisch nur im Bereich des Altwestnordischen bezeugten Göttermythen nicht allein auf diesen Sprachraum beschränkt waren, sondern zumindest teilweise, wie ähnlich die Heldensage, zum Allgemeingut der Skandinavier gerechnet werden müssen. Zudem wirft die Bildüberlieferung ein neues Licht auf die Frage der Kontinuität. Folgt man nämlich der von Edith Marold vorgetragenen Interpretation des Bildsteins von Ardre VIII, so zeigt bereits dieses älteste Zeugnis, das wir von Þórrs Angelabenteuer besitzen, eine Kombination von Motiven, die wir so nur aus der Hymisqviða kennen. Dieser Befund steht im Gegensatz zu einer Auffassung, die in der Hymisqviða ein mehr oder weniger zusammenhängendes Sammelsurium einzelner Mythen und Märchenmotive sah. 130 Gestützt wird vielmehr die Annahme eines inneren Zusammenhangs, wenngleich eingeräumt werden muß, daß die bisher vorgelegten Versuche, die in diese Richtung zielten, nicht befriedigen können. 131 Mit Ardre VIII und der Hymisqviða wird eine Überlieferungskontinuität greifbar, die sich nicht nur auf ein einzelnes Motiv erstreckt, sondern auf einen Mythenkomplex. Allein die nachweisbare Kontinuität erstreckt sich auf einen Zeitraum von ca. 500 Jahren (Ardre VIII - Codex regius), 132 gewinnt aber noch an größerer zeitlicher Tiefe durch die Tatsache, daß Ardre VIII die Mythen ja schon als bekannt voraussetzt. Dieses Beispiel steht keineswegs vereinzelt im Raum. Insbesondere die Forschungen von Karl Hauck haben hier zahlreiche weitere Beispiele in die Diskussion eingeführt. Stellvertretend sei hier nur auf die Fenriswolf-Überlieferung 133 oder den Baldermythos hingewiesen. 134 Diese Beispiele zwingen zu einer neuen Sicht auf die literarischen Mythenzeugnisse des Nordens aus dem hohen Mittelalter und zeigen die Grenzen einer rein literaturimanenten Herangehensweise an diese Texte auf. 128 Die Stabilisierung dieses Mythenwissens im Spätheidentum durch Aufreihlieder erörtert Franz Rolf Schröder (1954). Daß es eine vergleichbare Überlieferung auch von den Machttaten Óðinns gegeben haben muß, bezeugen die Strophen 49 - 50 der Grímnismál (vgl. Hauck (LVI), im Druck, nach Anm. 19). 129 Die Bedeutung der Bilddenkmäler für den Mythos von Þórrs Angelung der Midgardschlange betont nachdrücklich Meulengracht Sørensen: »The stone pictures are our most important and most certain authentic material« (1986, S. 257). 130 Vgl. die entsprechenden Literaturhinweise bei von See & al. 1997, S. 255 f. sowie ferner Kuhn 1960, S. 67; Wolf 1977, S. 14 f.; Gschwantler 1993, S. 308. 131 Dies gilt sowohl für die gelehrte, wenngleich äußerst spekulative Deutung von Franz Rolf Schröder (1955) als auch für die von Robert J. Glendinning vorgetragene Interpretation, die mit C. G. Jungs Archetypen operiert (1980); vgl. von See & al. 1997, S. 257 f. 132 Vgl. Meulengracht Sørensen 1986, S. 269; Marold, im Druck. 133 Vgl. den Beitrag »Fenriswolf« in diesem Band. 134 Vgl. vor allem folgende Publikationen aus jüngster Zeit: Hauck (LV), im Druck, Abschnitt 3; (LVI), im Druck, Abschnitt 2; (LVII), im Druck, nach Anm. 114. 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Abbildungsnachweis Abb. 1: Midgardschlange und Köder; AM 738 4to x (1680), Bl. 42v - 43r (Wilson 1980, S. 32) Abb. 2: Þórr schlägt mit dem Hammer nach der Midgardschlange; NKS 1867 4to x (1760), Bl. 93v (Bæksted 1986, S. 44) Abb. 3: Angelung der Midgardschlange (oben links); Gotländischer Bildstein Ardre VIII, Detail (Buisson 1976, Taf. 2) Abb. 4: Þórr verschafft sich einen Stierkopf als Köder (unten Mitte); Gotländischer Bildstein Ardre VIII (Lindqvist 1941, Taf. 59, Fig. 139) Abb. 5: Hirsch im Kampf mit zwei Schlangen (oben); Angelung der Midgardschlange (unten); Gosforth-Platte, Cumberland (Stephens 1884, S. 16) Abb. 6: Angelung der Midgardschlange; Stein von Altuna, Uppland (Roesdahl 1992, S. 146) Abb. 7: Angelung der Midgardschlange; Stein von Hørdum (Kjærum & Olsen 1990, S. 183) Abb. 8: Gottvater angelt den Leviathan; Herrad von Landsberg: Hortus deliciarum (Green & al. 1979, Bd. 2, Pl. 49) Abb. 9: Sich in den Schwanz beißende Schlange; Goldbrakteaten von Lyngby-A, Revers (IK 297) Abb. 10: Óðinn kämpft mit dem Fenriswolf (links), Angelung des Leviathan (rechts); Thorwald-Kreuz, Kirk Andreas, Isle of Man (McKinnell 1994, Fig. 5) »Nicchus - Nix« Claude Lecouteux (Paris/ Caen) Besonders schwer ist es, die letzten Spuren der niederen Mythologie der deutschen Stämme aufzudecken, da die Romanisierung, die Völkerwanderungen und zuletzt das Christentum sie verwischt haben. Einiges wurde in neuer Form beibehalten, anderes wurde völlig verwandelt, manches wurde verdrängt und lebte im Volke fort, um dann als Erzählstoff bzw. -motiv in den Volksmärchen wieder aufzuleben. Wer diese alten Traditionen in der Oralität oder in den jüngeren Erzählungen nachweisen will, läuft Gefahr, nämlich die der Hinein- oder der Rückinterpretation. Wenn man sich dem Studium von Begriffen widmet, die vor etlichen Jahrhunderten geprägt wurden, kann man sich zuerst nur auf die Textzeugen verlassen und man muß sich vor jeder Schlußfolgerung hüten, solange man die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs nicht ermittelt hat. Erst danach ist es angebracht, die neueren Aufzeichnungen vom mündlich Tradierten zu gebrauchen und zu verwerten. Die letzten Spuren der alten Vorstellungen haben sich einige Zeit in dem Wortschatz erhalten, was die Forschungen Heinrich Wesches und Richard Jentes bewiesen haben. 1 In meiner Untersuchung des althochdeutschen Wortes »hagazussa« (Hexe) konnte ich zeigen, daß dieses Kompositum auf den Glauben an einen genius loci hinwies, der in Hainen, umzäunten Orten und Einhegungen lebte und dessen Existenz schon im 4. Jahrhundert nach Christi bezeugt ist. 2 Heute soll die rätselhafte Figur des ahd. »nihhus« Ziel dieser Untersuchung sein. 1. Das ahd. »nihhus/ nicchus« »Nihhus« bzw. »nicchus« ist in den Texten spät bezeugt. Der Terminus kommt zum erstenmal in Notkers Werken vor, also gegen Ende des 10. Jahrhunderts, aber als Femininum: »[...] fors etiam. dér zwîfel-got. Limphe. Nicchessa. Diique iouensiles. i. tonsores iouis« 3 »Limphe« kann »nymphae« bedeuten, d.h. »dea aquarum wazzergótin« 4 , kann auch Plural von »limpha« bzw. »linpha«, »lipha« sein, d.i. »aqua«. Wie dem auch sei, verweist das Wort auf eine weibliche in dem Wasser hausende Gestalt. 1 Wesche, H.: Der althochdeutsche Wortschatz im Gebiete des Zaubers und der Weissagung. Halle 1940. Jente, R.: Die mythologischen Ausdrücke im altenglischen Wortschatz. In: Anglistische Forschungen 56 (1921) [Neudruck Amsterdam 1975]. 2 Lecouteux, Claude: Hagazussa - Striga - Hexe. In: Etudes Germaniques 38 (1983), S. 161-178. 3 Tax, P.W. (Hrsg.): Notker der Deutsche. Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et mercurii. Tübingen 1979 (ATB 87), S. 52. 4 Summarium Heinrici. Hrsg. R. Hildebrandt. 2 Bde. Berlin; New York 1974 - 82, S. 128 u. 379. 440 Claude Lecouteux Zwischen dem 11. und dem 12. Jahrhundert taucht das Wort »nicchus« auf mit der Bedeutung von Krokodil. Einstimmig schreiben die Glossatoren jener Zeit: »corcodrilus/ crocodilus a croceo colore dictus, id es niches« bzw. »nic.hes, nichis, nikes.« 5 Oder noch: »crocodilus mala bestia nili flumini id es nichus.« 6 Diese Glosse fehlt im althochdeutschen Physiologus, aber die Millstädter und die Wiener Handschrift dieses Bestiariums übersetzen Krokodil mit »nichus« und belegen folgende Formen 7 : Millst. Hs., Bl. 88r cap. IV: »daz Nikhus; dem Nikhuse«. Bemerkenswert ist, 1. daß das Wort jedesmal mit einer Majuskel geschrieben steht, 2. daß es sich um ein Neutrum handelt, was aus den Glossen nicht ersichtlich ist, 3. daß das lateinische Wort männlich ist, 4. daß die Entsprechung »nikhus-crocodilus« erst aus dem Vergleich mit den lateinischen Physiologus-Fassungen zu ermitteln ist. Das heißt: Der Leser des althochdeutschen Textes sollte sich vom Begriff angesprochen fühlen, der Schreiber bzw. Übersetzer appellierte an die Kenntnis des Lesers. Eine solche Glosse ist im Grunde genommen unverständlich, wenn wir nicht annehmen, daß es in der germanischen wirklichen oder mythischen Tierwelt ein Wesen, eine Bestie gab, die mit dem, was über das Krokodil erzählt wurde, einiges gemeinsam hatte, sei es in ihrer Morphologie, sei es in ihrer Handlungsweise. Da die Glossen hierüber keine Auskunft geben, ist es notwendig, sich den anderen germanischen Sprachen zuzuwenden. Im Altenglischen ist ein Wesen namens »nicor« belegt, westsächsisch »nicor«, in den flektierten Kasus »nicr-«, »nicer-«, »nicor-«, spätangelsächsisch »niccres« (Gen. Sg.). Die ersten Belege begegnen uns in der Londoner Handschrift Cottonianus Vitellius A XV, der sogenannten Beowulf-Handschrift (um 1000 geschrieben), nämlich in der altenglischen Übersetzung von Alexanders Brief an Aristoteles (Bl. 119v). 1. und sona Þaes ðe hie inne wae ron, swa waeron Þa nico ras gearwe tobrudon hie swa hie Þa o ðr e aer dydon [...] 2. him waeron Þa breost gelice niecres breostum (hippotami pectore, duo capita habens [...]) 5 Summarium Heinrici (Fn. 4), Bd. II, S. 213. An der Wende des 14./ 15. Jahrhunderts verschwindet diese Glosse und »Lintwurm« ersetzt »nichus«, vgl. Schmitt, P. (Hrsg.): Liber ordinis rerum. 2 Bde. Tübingen 1983 (TTG V 1 - 2), cap. 94, I, 303; cap. 104, I, 328. 6 Summarium Heinrici (Fn. 4), Bd. II, S. 213. Steinmeyer, E. von; Sievers, E.: Die althochdeutschen Glossen. 5 Bde. Berlin 1879 - 1922, I 348, 51; 354, 22 ff.; II 449, 43; 571, 49 ff.; III 15, 56; 81, 44; 84, 14 ff.; IV 49, 21; 138, 7 ff. Die Zahl der Belege zeigt die Ausbreitung des Begriffs. 7 Maurer, F. (Hrsg.): Der althochdeutsche Physiologus. Die Millstädter Reimfassung und die Wiener Prosa. Tübingen 1967 (ATB 67), S. 14 ff. Hier ist das Nichus der Feind des »hydrus« bzw. »Ydris«. Im ahd. Physiologus (Hrsg. W. Braune. In: Althochdeutsches Lesebuch. 16. Aufl. bearb. von E.A. Ebbinghaus. Tübingen 1979, S. 78 - 80, hier S. 79) steht: »in demo uuázzere nilo ist éinero slahta nátera dîu heizzit ídris un ist fîent démo korcodrîllo«, d.h.: Das Wort »nichus« ist ins alemannische Gebiet im 11. Jahrhundert noch nicht vorgedrungen. »Nicchus - Nix« 441 Jedesmal ist »nicor« die Übertragung von »hippo(po)tamus«, d.h. Flußpferd. Im Beowulf 8 ist »nicor« als Simplex viermal belegt und einmal als Kompositum: V. 845: »nicera« (Gen. Plur.): »on nicera mere«; V. 422 u. 575: »niceras« (Akk. Plur.); V. 1427: »nicras« (Akk. Plur.); V . 1 41 1: »n i c o r hû sa « (G e n . P lu r. ) . Bei V. 422, 575, 845 und 1427 zeigt der Zusammenhang, daß sich diese Wesen von Menschenfleisch ernähren und im Moor, in Fenn und Sumpf hausen. Ferner erfahren wir, daß sie einen mächtigen Griff (faergripe, V. 738) und lange feindliche Finger/ Klauen (lâÞan fingrum, V. 1505) haben. »Nicor« bezeichnet Grendels Mutter, die sich wie eine menschliche Kreatur verhält: Sie umklammert Beowulf und greift zum Messer (V. 1545 f.). Grendel selbst empfindet Furcht, sinnt und hat Hände (V. 746). Die sonst auf beide Gestalten angewandten Appellative betonen nur ihre Dämonie. Der Terminus begegnet uns zuletzt in den Blickling-Homilien, wo er nur noch die Bedeutung von Teufel besitzt. Sankt Paulus erblickt Steine, unter welchen die »nicora« wohnen (»and under Þaem stane waes nicera eardung«), die sich der schwarzen Seelen (»swearte saula«) bemächtigen. 9 Der letzte Textzeuge gibt uns eine recht spärliche Auskunft über diese Wesen. »Nicor« wird zugleich mit Elfen und Nattern erwähnt: »summe sende ylves and summe sende nadderes summe sende nikeres.« 10 Die Zitate belegen, daß »nicor« ein Wasserwesen bezeichnet, das man sich als Pferd dachte (Glosse »hippotami«) und auch als ungeheuerlichen Menschen (vgl. Beowulf). Hier möchte ich darauf hinweisen, daß es eine Tradition gibt, wonach das Flußpferd halb Mensch halb Pferd ist, und sie kommt in der Epistola Alexandri Magni ad Aristotelem vor: »vidimus venire de profundo aquarum ippotamos fortiores quam sunt elefanti. Ippopotami dicuntur, qui medii sunt homines, medii caballi.« 11 Im skandinavischen Norden ist das »Nichus« wohl bekannt. Es wird in zahlreichen jüngeren Sagen und Märchen erwähnt und heißt: nisl./ fär. »nykur«, ndän. »nøk(ke)«, nschwed. »näck«, »neck«, »nick«, finn. »näkki«. In früher Zeit ist der Name kaum belegt. In der Landnámabók 12 , wo es anscheinend zum erstenmal erscheint, wird es nicht genannt; der Zusammenhang zeigt jedoch, daß es sich um dieses Wesen handelt: Es hat die Gestalt eines Schimmels, der eines Tages vom Hjarðavatn her kommt, und am Abend 8 Beowulf. Hrsg. G. Nickel. 3 Bde. Heidelberg 1976 - 1982 (Germ. Bibl. 4. Reihe: Texte). 9 Morris, R. (Hrsg.): The Blickling Homilies. London 1874 - 1880 (Early English Text Series, Bde. 58 u. 63), S. 209, 34 ff. und 221, 5. 10 Kluge, F.: Angelsächsisches Lesebuch. Halle 4 1915, S. 130; Jente (Fn. 1), S. 140 f. 11 Bamberger HS., Codes E II 14 (11. Jahrhundert) Bl. 230r o ; auch zu lesen in Morall, J.R. (Hrsg.): Mandevilles Reisen. Berlin 1974 (DTM, Bd. 66), 153, 8 - 10: »[...] da sint tier die haissent Ypotames, und die wonant inden wassern. Das tier ist halb ain mensch, halb ain pfa e rit, und wa sie die lút erwúschend, die essen sie«. 12 Landnámabók. Hrsg. J. Benediktsson. 2 Bde. Reykjavík 1968 (Íslenzk Fornrit, Bde. 11 u. 12), »Sturlubók« 83. 442 Claude Lecouteux sich losreißt und bis zum See hintrabt und im Wasser verschwindet. Der Artikel Nykur von Dag Strömbäck 13 lehrt uns, daß dieser Schimmel nur eine der vielen Formen ist, die das Nykur besitzt. Auf deutschem Boden verwundert die Entsprechung »nichus-crocodilus« und die bisherige etymologische Deutung des Wortes bringt kein Licht hierüber: Urgerm. *n iq w isî-, griech. »nizo« (wasche) veranlaßt O. Paul zu folgender Definition: »Ein sich mit Plätschern vergnügendes Wasserwesen« 14 . F. Kluge und J. de Vries bieten dieselbe Etymologie an, die J. Knobloch mit Recht bestreitet. 15 Nur eines ist klar: Der Bezug des Nichus zum Wasser. Auf der Isle of Man bestätigt dies der Ortsname Nikkesen, d. h. »*Nykrsvatn« (See des Nykur). In Schweden ist »näkrosblad« der Name der Seelilie (nymphaea). Wendisch »nykusove zele« bezeichnet die Wassernessel. Schwedisch »näckerbröd« ist der Name des Tuffsteines, eines porösen Gesteins (Kalktuff: Absatz aus Wasser). Neckar (anno 757 »Nihhar«), der Name des wohlbekannten Flusses, könnte darauf hinweisen, daß das »Nichus« ursprünglich ein Flußgott war, aber die Wurzel »nic-« ist in der Topographie nur ein Mal bezeugt, in Nichbodesheim (8. Jahrhundert), d.i. Neibsheim, Bezirk Bretten (Baden). Was die Personennamen anbelangt, verzeichnet Förstermann Nihburg (anno 850) im Codex diplomaticus Fuldensis und Niko (anno 1015) im Necrologium Fuldensis. 16 Beiden Zeugen ist wenig Wert beizumessen, da sich in Fulda seit 818 Reliquien von Sankt Nikolaus finden. All dies legt nahe, daß das Nichus sehr früh als bösartiges Wesen gedacht wurde, als Wasserdämon. Wir wissen ja, daß Orts- und Personennamen sonst die Verbreitung der Verehrung alter freundlicher bzw. wohlwollender Gottheiten dokumentieren. Man nennt Menschen, Dörfer und Weiler nach gutmütigen Gestalten, nicht nach böswilligen! 2. Johann Knoblochs Hypothese 17 In einem neulich erschienenen Aufsatz setzt sich J. Knobloch mit dem Begriff »nicchus« auseinander, widerlegt die herkömmliche Etymologie des Terminus, so wie sie in den Wörterbüchern F. Kluges, J. de Vries’ und F. Holthausens steht, und führt den Namen »nicchus/ Nick« auf die Sage von Nicolaus Cola, mit Spitznamen »piscis«, zurück. Die Sage besagt folgendes: Ein gewisser Nikolaus, mit dem Beinamen Kola der Fisch, der aus Apulien stammt und sich von Kindheit an im Meer aufhielt, an das er angepaßt war, konnte sich, ohne 13 Kulturhistorisk Leksikon för Nordisk Medeltid. 21 Bde. Kopenhagen 1956 - 1978, hier Bd. 12, sp. 432 - 438. Nach Strömbäck kommt das Wort zum ersten Mal in einer Kenning - »naefrland nykra borgar« - vor, die um das Jahr 1190 datiert wird. 14 Paul, O.: Althochdeutsch nichus, nihhus, Krokodil, Flußuntier, Wassergeist. In: Wörter und Sachen 20 (1939), S. 42 15 Kluge, Friedrich: Deutsches etymologisches Wörterbuch. Berlin 1967, S. 513; Vries, J. de: Altnordisches etymologisches Wörterbuch. Leiden 1962, S. 412b - 413a; Knobloch, J.: St. Nikolaus und die Nixe. In: Muttersprache 91/ 6 (1981), S. 373 - 375. 16 Vgl. Förstermann, E.: Die althochdeutschen Ortsnamen. 2 Bde. Bonn 1967, Bd. 2, S. 385; ders.: Die ahd. Personennamen, S. 1156; Kaufmann, H.: Ergänzungsband zu Ernst Förstermanns Personennamen. München 1968 S. 266. 17 Knobloch (Fn. 15), S. 373 »Nicchus - Nix« 443 Schaden zu nehmen, mehrere Tage hindurch unter den Meerestieren aufhalten und drang bis auf den Grund des Meeres vor. 18 »In dieser Sage ist der Bischof von Myra in Lykien (4. Jahrhundert) mit dem biblischen Jonas verschmolzen, der den Bauch des Meeresungeheuer unversehrt verlassen hat«, sagt J. Knobloch, der auf eine andere Sage verweist, die in Messina erzählt wurde: Nikola Pesce »hätte die beiden Sirenen Skylla und Charybdis im Keller des Leuchtturms angekettet«. 19 Wie ist aber der Name in die deutschsprachigen Gebiete vorgedrungen? Da glaubt J. Knobloch sagen zu dürfen: »Der hier nur kurz skizzierte Werdegang von Nix, das als Nickes und Nickel auf eine frühe, den Meeresküsten entlang verlaufende Ausbreitung des Nikolauskultes und seiner Paganisierung zurückgeht, steht im Gegensatz zu der bisherigen Annahme einer schon gemeingermanischen Geltung des Begriffs und seiner Ableitung von einem idg. [indogermanischen] Verbum waschen.« 20 Dagegen ist einzuwenden, 1. daß diese Hypothese von der Existenz des ags. »nicor« keine Notiz nimmt, 2. daß sich die Sage von Nicola Pesce erst im 12. Jahrhundert durchsetzt, 3. daß es in England und auf deutschem Boden im 10./ 11. Jahrhundert noch keinen ausgedehnten Nikolauskult gab, und 4. daß sich der Nikolauskult nicht den Meeresküsten entlang verbreitete. Werfen wir also einen Blick über die Verbreitung des Kultes im frühen Mittelalter, ohne zu vergessen, daß Notker, in dessen Werk das Wort »nicchessa« zum erstenmal belegt ist, im Jahre 1022 gestorben ist. 21 Italien In Süditalien (außer Bari) Kult ab 1087; auf Sizilien ab 1101 - 1112; in Mittelitalien ab 1090 (Kirche bei Arezzo); in Oberitalien ab 1088 - 1099 (Kloster »iuxta castrum Sexti«, Diözese Mailand). Deutschsprachige Gebiete Vor 1000 (Kloster Burtscheid, Diözese Lüttich) und vor 1005 (Kollegiatstift Aachen). Erzbistum Mainz: Ab 990 (Reliquien in Lipbach); im 10. Jahrhundert hat Nikolaus einen Festtag in einem Martyrologium in einer Rheinau-St. Galler Handschrift; im 9. Jahrhundert erscheint sein Name in einer Allerheiligenlitanei im Kloster Lorsch; 987 Kirche in Wende; 974 Altar in Halberstadt; 818 Reliquie im Kloster Fulda; 973 Kapelle im Kloster Kempten. Erzbistum Salzburg: um 989 - 996 Reliquien in Benediktbeuren. Erzbistum Magdeburg: 984 Kirche in Meissen. Diese Zentren werden allmählich zu Ausstrahlungsherden, aber ab Ende des 10. Jahrhunderts entwickelt sich der Nikolauskult wirklich. Im 11. Jahrhundert sind die Nikolaus gewidmeten Kapellen, Kirchen, Altäre u.a. zahlreicher. 18 Knobloch (Fn. 15), S. 373. 19 Knobloch (Fn. 15), S. 373. 20 Knobloch (Fn. 15), S. 374. 21 Im Folgenden gebe ich nur eine Auswahl aus K. Meisens Studie (Meisen, K.: Nikolauskult und Nikolausbrauch. Düsseldorf 1931). 444 Claude Lecouteux Frankreich Hier setzt sich der Kult ab ca. 1020 - 1050 durch. Erzbistum Vienne: 1011 (Priorat in Arbin). Erzbistum Tours: 1020 (Benediktinerabtei in Angers). Erzbistum Embrun: 1038 (Pfarrkirche in Château-Marcellin bei Cannes). Erzbistum Bordeaux: 1062 (Priorat in Poitiers). Erzbistum Besançon: 1029 (Kirche in Poligny). Erzbistum Tarentaise: 1049 (Hospita l und Kirche auf dem Großen St .- Be r na rd ). Er zb is tu m S en s: Vo r 10 31 (K ap el l e in Paris). Erzbistum Rouen: 1049 (Kapelle an der Seine). Erzbistum Reims: 1022 (Kirche und Vorstadt Saint-Nicolas-les-Arras), 1036 (Kloster Walten bei Dünkirchen), 1047 (Friedhofskapelle in Cambrai). Die Kerngebiete des Kultes, die dann zu Ausstrahlungsherden werden, sind: 1. Nordfrankreich; von hier aus verbreitet sich der Kult nach Flandern und Niederlothringen; 2. die Grafschaft Anjou mit Maine und Touraine: Von hier aus verbreitet sich der Kult nach den Landschaften südlich und östlich der Loiremündung (Poitou und Bretagne); 3. Köln und Trier: die Verbreitung des Kultes folgt zuerst dem Moseltal; 4. die Gegenden westlich vom Bodensee und am Lech um Augsburg. Der Kult ist zunächst im ganzen Stromgebiet der Seine verbreitet, er folgt den alten Schiffahrtswegen der Seine und ihrer Nebenflüsse Oise, Marne, Yonne (mit Armançon) und den mittelalterlichen Handelsstraßen im Seinegebiet. J. Knobloch stimme ich zu, wenn er sagt, »nicchussa« sei keine Partizipialbildung (Wäscherin), sondern analog nach ahd. »hagazussa« (Hexe) gebildet (S. 374). Die Untersuchung von »hagazussa« hat ergeben, daß dieses Kompositum von »hag-« + »dusius/ dusia« gebildet ist, und die Göttin der Einhegung, der Einfriedigung und der Umzäunung bedeutet. 22 Demzufolge sollte »nicchussa« aus »nic-« + »dusia« entstanden sein, d.h. die Göttin »Nic«, bzw. »nick«, »neck«, »näck« u.a., wobei Nic der Name einer Wassergottheit, die wir in Neckar wiederfinden, wohl gewesen ist. Früher waren ja die Flüsse unter dem Schutz einer Göttin - zum Beispiel »deae Sequanae«, »deae Icauni«. Da die Gewässer als besonders gefährlich empfunden wurden, verwandelte sich die Flußgottheit in einen Dämon, daher der auffällige Mangel an Personen- und Ortsnamen, die das Grundwort Nicenthalten. Darauf will ich nun näher eingehen. 3. Nicchus, Nikolaus und Nix Von Anfang an ist der Nikolauskult mit den Gewässern verbunden, 23 sei es mit Flüssen und Quellen, sei es mit dem Meer. Dies rührt wohl vom bekannten Schifferwunder her sowie von der Begegnung des Kultes mit der Furcht der Schiffer vor einem im Wasser hausenden Ungeheuer. Ein Blick in das von K. Meisen gesammelte Material bestätigt, daß 22 Vgl. Lecouteux (Fn. 2), S. 175 - 178. Dieser Aufsatz ist mit folgender zusätzlicher Information zu ergänzen, die ich meinem Freund Prof. Dr. Christian Abry (Grenoble) verdanke: »Omnis possessio tres Sylvanos habet: Unus domesticus, possessioni consectratus; alter dicitur agrestis, pastoribus consecratus, tertius dicitur orientalis, cui est in confinio lucus positus«. Dieses Zitat entstammt dem Fragment eines römischen Feldmesserbuchs, das in den Grommatici veteres abgedruckt ist. »Nicchus - Nix« 445 Nikolaus zum Schutzpatron der Schiffer und der an den Flüssen wohnenden Menschen wurde. Im 11. Jahrhundert begegnen uns St. Nikolaus geweihte Gebäude und Altäre an der Seine (1049), der Ruhr (1059), der Weser (1064), an der Loir (12. Jahrhundert), an der Risles (ca. 1100), auf der Pariser Ile de la Cité (1108 - 1137), an der Mosel (1138), am Gardon (1156), an der Maas (1182), am Aix (1190), am Meer (in Vannes, 1203), an der Seine (1217), an der Isère (1220), an der Somme (1292). Undatierbare Belege sprechen vom Nikolauskult an Garonne (Meisen Nr. 40), Beronne (Nr. 75), Dive (Nr. 79), am Meer (Nr. 85), an der Loire (Nr. 94.), am Grandry (Nr. 229), an der Risies (Nr. 474), am Gaillon (Nr. 478), an der Eure (Nr. 479) und an der Maas (Nr. 727). 24 Ferner verweisen Belege auf das Brücken-, Brunnen- und Quellenpatronat des heiligen Nikolaus: 1138 Saint-Nicolas-de Sept-Fonds (Diözese Langres), um 1131 Prämontanerkloster Saint-Nicolas-de-Clairfont (Diözese Laon), 1258 Hospital Saint-Nicodasdu-Pont (Diözese Senlis). Undatierte Belege: Kapelle und Quelle in Mussy-sur-Seine (Diözese Troyes), in Grand-Champs (Diözese Vannes), Name von Bach und Brücke in Guer (Diözese Saint-Malo), Kapelle und Polder (Diözese Utrecht), Kapelle und Insel Sankt Nikolaaswaard (ebd.). Diese Liste ist unvollständig: In jedem Fall sollte an Ort und Stelle geprüft werden, wie weit die jeweiligen Nikolausgebäude von einem Wasser stehen. Da Meisen über 1500 Belege anführt - mit den Textzeugen sind es 2137! -, habe ich mich auf das mir Bekannte beschränkt. Nikolaus mußte eines Tages dem Nichus begegnen oder den verschiedenen im Wasser lebenden gefährlichen Wesen und die Menschen vor ihnen schützen. Die Gewässer sind nämlich seit eh und je als lebendige Wesen betrachtet worden, wobei negative Vorstellungen meistens überwiegen. Die Volksmärchen wissen davon zu erzählen. So heißt es, die Lahn raffe alle Jahr jemanden zu sich, in der Fulda ertrinke jedes Jahr jemand; bei Leipzig, wo die Elster in die Pleiße fällt, sagt man, der Fluß müsse jedes Jahr einen Menschen haben ... In Frankreich finden wir Verse wie: »L’Indre a tous les jours sa proye Chaque jour quelqu’un s’y noye.« Oder: »La rivière de Drome A tous les ans cheval ou homme.« Daher der Glaube an Wesen, die darin hausen, Wesen, die später Nix und Nixe heißen. In J. Grimms Deutsche Sagen wird berichtet, daß Nixen in der Laibach (Nr. 51), der Elbe zu Meißen (Nr. 54) und zu Magdeburg (Nr. 57), in der Saale (Nr. 60) leben. In Hessen, bei Kirch- 23 K. Meisen zitiert folgende Verse von Johannes Diaconus: »Opressi naute fluctibus eius virtutem postulant procelle mox sevissime turbo sedatur imminens« (Meisen [Fn. 21], S. 246). Vgl. auch S. 276 (Geschichte des ins Meer gefallenen Kindes, Ende des 11. Jahrhunderts, in Nordfrankreich entstanden). 24 Nummerierung von K. Meisen (Fn. 21). 446 Claude Lecouteux hain, liegt ein See, der Nixenbronn (Nr. 56); zu Halle liegt vor dem Tor ein rundes Wasser, Nixteich genannt (Nr. 60). Auf Rügen wohnt ein Nickel in einem tiefen See (Nr. 55). An der Maas entlang begegnen wir dem Mann mit den roten Zähnen; im Douaisis (wallonisches Belgien) reißt der »Homme des Hoyoux« die Waschweiber an sich, auch der Mann mit dem Haken zu Huy. Im Blaisois reißt die »Carne aquoire« (Wasserpferd) die Kinder zu sich … 25 In Deutschland hat sich der Name Nix/ Nixe durchgesetzt, aber in Frankreich begegnen wir sehr verschiedenen Namen wie »Gueular« (Morvan), »Culards« (Yonne, Nivernais, Champagne), »Vogeotte« (Doubs), »Dracs« (Rhône), 26 »hôgemann« (Elsaß). In Belgien wohnt ein Teufel in den Gewässern; er hat einen menschlichen Kopf; in der Maas haust der Mahwot, der die Gestalt einer Eidechse besitzt. Der heilige Nikolaus scheint mancherorts diese Wasserdämonen verdrängt zu haben. Für diese Hypothese spricht die Tatsache, daß er im Volksbrauch eine doppelte Gestalt ist. Selten kommt Nikolaus allein, meistens begleitet ihn eine andere Person, eine geister- oder schreckhaft verkleidete Gestalt oder eine lärmende Schar. »Bei jedem Chlauß muß ein tüfel drin«, sagt das schweizerische Sprichwort. Der Begleiter ist eine Art Dämon und trägt je nach den Gegenden verschiedene Namen - Knecht Ruprecht, Nickel, Grampus/ Krampus (Österreich), Leutfresser (Ostalpen), was dem gefährlichen Charakter der Gewässer entsprechen kann, Düsseli (Schweiz), worin das lateinische »Dusius« noch stecken dürfte. Er ist immer fürchterlich und gefährlich, und im Jahre 1663 singt Knecht Ruprecht: »Ich bin der alte böse Mann, Der alle Kinder fressen kann.« Meisen, der gar kein Verständnis für volkstümliche Traditionen und niedere Mythologie hat, 27 sieht hier eine Paganisierung des Kultes unter dem Einfluß der Legende von Nikolaus und dem Teufel (vgl. S. 269 ff. und 428), und er kommt zu dem Schluß: »Dagegen läßt sich zeigen, daß die Rolle, die der Teufel im Nikolausbrauche spielt, sehr wohl in das kirchlich-klösterliche Milieu des Mittelalters hineinpaßt, aus dem sich der Brauch der Einkehr des Nikolaus entwickelt hat« (S. 426). Ich glaube vielmehr, daß der den Nikolaus begleitende Teufel das Überbleibsel des volkstümlichen Wasserdämons ist, den der Heilige verdrängt hat, wobei natürlich die sog. Artemisbzw. Dianageschichte mitgespielt hat. Sonderbar ist es, in einem Dialog des Papstes Viktor II. (1085 - 1088), des ehemaligen Abtes Desiderius von Monte Cassino, folgendes zu lesen: »Ein Kind sammelte Holz am Nikolaustag, als der Teufel in der Gestalt eines schwarzen Burschen erschien, der jenes ins Wasser werfen wollte, weil es den Festtag des Heiligen geschändet habe. Als das Kind das Kreuzzeichen schlug, verschwand der Teufel unter fürchterlichem Gebrüll, das dem eines Wolfes, Esels oder Löwen glich.« 28 25 Vgl. Sébillot, P.: Le Folklore de France. 4 Bde. Paris 1904 - 1907, Bd. II: Le Folklore des Eaux. 26 S. Gervasius von Tilbury: Otia imperialia. Hrsg. G.W. Leibnitz. In: Scriptores rerum Brunsvicensium. Bd. I. Hannover 1707, S. 881 - 1004, hier: III, 85: »De lamiis, dracis et phantasiis«. 27 Vries, Jan de: Altgermanische Religionsgeschichte. 2 Bde. Berlin 1956 - 57, Bd. I, S. 212. »Nicchus - Nix« 447 Unter dem christlichen Gewand läßt sich die volkstümliche Vorstellung erblicken. Ferner wirft diese Legende Probleme auf: Warum will dieser Teufel das Kind gerade ins Wasser werfen? Soll das nicht heißen, daß er ein Wasserdämon ist? Und: Seit wann kümmern sich Teufel um die Verehrung der Heiligen? Das Verhältnis des Heiligen zum Wasser hat sich beinahe überall erhalten. In Savoyen dienten Nikolaus-Umzüge zur Vorbeugung der Überschwemmungen, und jeder weiß, daß sie die Bewegungen der im Wasser hausenden Ungeheuer verursachen. Solche Umzüge sind noch im 18. Jahrhundert nachzuweisen. 29 In der Auvergne, in Le Bouchet Saint-Nicolas, lebte der Kult des Heiligen lange fort in der Nähe des Sees, auf dessen Grund eine heidnische Stadt versunken liegt. 30 Daß sich der Nikolauskult mit dem Glauben an einen Wasserdämon bzw. an eine Wassergottheit deckt, ist nicht erstaunlich, da Nikolaus ja Schutzpatron der Schiffer war. Daß es irgendein Verhältnis zwischen dem Heiligen und dem Nichus gibt, wie es J. Knobloch mit Recht betont hat, sollte außer Zweifel bleiben. Vielleicht trug sogar die anlautende Silbe »Nic/ Nik-« zur Annäherung beider Gestalten bei. 31 Aber wir wissen noch nicht, weshalb althochdeutsch »nicchus« »crocodilus« wiedergibt. 4. Nicchus und crocodilus »Nicchus« bezeichnet also ursprünglich eine Wassergottheit, daher Notkers Glosse »nichussa/ nympha«, aber je nach den Gegenden nahm diese verschiedene Formen an - Pferd, Untier, menschliches Ungeheuer -, worauf der ungenaue Begriff »dusius« hinweist, der ein übernatürliches Wesen charakterisiert und in diesem Sinne dem ahd. »wiht« und dem mhd. »kunder« (genus, Geschöpf) - entspricht. Das Wasserwesen, das diesen Namen trägt, wurde dämonisiert, und zwar zwischen dem 4. Jahrhundert, wo der Name Nicer, Nicrus (= Neckar) in Ausonius’ Werken erscheint, und dem 10./ 11. Jahrhundert. Die Wasserwesen, die als Tiere vorkommen, haben gewöhnlich die Gestalt eines Pferdes - vgl. nord. »nykur«, schott. »kelpi«, ir. »pooka«, isl. »Nennir« und »vatnahestur« 32 -, und ich erinnere daran, daß Nikolaus einen Schimmel reitet, während der ihn begleitende Teufel auf einem Esel sitzt. 33 Aber es gibt in der lehrhaften Literatur des Mittelalters pferdartige Monstren, das Meerpferd, halb Pferd halb Fisch, das Nilpferd, das »crura et pedes et ungues ut cocodrilus habet sed multo maiora« 34 , und das Flußpferd, 28 Zit. nach: Migne, Pat. lat. 149, Sp. 944 ff. 29 Gennepp, A. van: Le Folklore du Dauphiné (Isère). Paris 1932, Bd. I, S. 433; vgl. auch S. 365. 30 Gennepp, A. van: Le Folklore de l’Auvergne et du Vélay. Paris 1942 S. 248. Über die Sage der versunkenen Stadt s. Marchesson, R.: Vélay et Auvergne. Contes et Légendes. Marseille 2 1980, S. 5 - 8. 31 Vgl. Knobloch (Fn. 15), S. 3754. Sonderbar sind Namen wie italienisch »niculizia« (glycyrrhiza glabra), oder »Vasi-nicola« (Basilienkraut), nordfranzösich: »Nicole« (für den Maikäfer), »oiseau de Saint Nicolas« für den Eisvogel/ alcedo hispidia (im Finistère, Bretagne): Sie zwingen zum Nachforschen. 32 Krappe, A.H.: La Genèse des Mythes. Paris 1952, S. 203. 33 Vgl. Meisen (Fn. 21), S. 442 f.: Schimmel in den Niederlanden, Norddeutschland, Oberschlesien und Schwaben. S. auch Hoffmann-Krayer, E.; Bächthold-Stäubli, H.: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. 10 Bde. Berlin; Leipzig 1927 - 1942., Bd. VI, Sp. 1086 - 1107, bes. Sp. 1094. 34 Thomas von Cantimpré: De natura rerum. Hrsg. H. Boese. Berlin; New York 1973, Bd. VI, S. 19; Konrad von Megenberg: Buch der Natur. Hrsg. F. Pfeiffer. Stuttgart 1861, 236, 29 ff. Im Kapitel »De cocodrillo« wird immer auf den Nilfluß verwiesen (Thomas VI, 7; Konrad 233, 2 - 20). 448 Claude Lecouteux groß wie ein Esel. Nur das Nilpferd, das mit dem Krokodil einiges gemeinsam hat, könnte zur Verschmelzung des Nichus mit dem Krokodil angeregt haben. Zieht man die mittelalterlichen Zeichnungen von diesem Tier in Betracht, so stellt man natürlich einige Verzerrungen fest, dennoch ist das Krokodil zu erkennen: Es gleicht einer großen Eidechse. Unter den vielen von mir studierten Darstellungen des »crocodilus« gibt es eine einzige Ausnahme: Im Liber floridus, das Lambert von Saint-Omer im Jahre 1120 vollendet hat, zeigt eine Miniatur ein Krokodil mit dem Haupt eines bärtigen Menschen, und der Text, der sonst den Etymologiae Isidors von Sevilla folgt, enthält den Zusatz: »faciem habet hominis« 35 . Dies erklärt sich nur durch die Annahme, daß der Verfasser von einem dem Krokodil ähnlichen Tier gehört hat, an welches er sich bewußt oder unbewußt erinnert . D.h.: Er sollte aus volkstümlicher Überlieferung geschöpft haben. In Nordfrankreich gibt es in den Flüssen ein solches Ungeheuer, den Mahwot, der in der Maas haust. Ich erinnere daran, daß wir der Maas entlang zahlreiche Spuren von germanischen bzw. fränkischen Siedlungen finden, besonders im Saint-Omer-Gebiet. 36 Das Krokodil, so wie es im Liber floridus abgebildet ist, könnte wohl einem jener Wasseruntiere entsprechen, die nach germanischem (Aber)glauben in den Gewässern hausen. Wenn die Glosse »cocodrilus/ nichus« nicht unerklärt bleiben will, muß diese Hypothese zu weiteren Forschungen über die Morphologie der Wasserwesen im Frühmittelalter anregen, bis sie angenommen oder verworfen wird. Wiederabdruck aus: C.L.: Nicchus - Nix. In: Euphorion (78), 1984, S. 280 - 288. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors. 35 Gent, Cod. 92, Bl 61v o . Ferner möchte ich darauf aufmerksam machen, daß St. Nikolaus seit dem Beginn des 12. Jahrhunderts als bärtiger Mann erscheint, vgl. Meisens Ikonographie S. 50, 79, 83, 101, 192 f. (Meisen [Fn. 21]). Vgl. auch Braunfels, Wolfgang (Hrsg.): Lexikon der christlichen Ikonographie. Ikonographie der Heiligen. Rom; Freiburg; Basel; Wien 1976, Bd. 8, Sp. 45 - 58. 36 Vgl. Gamillschleg, E.: Romania germanica. Sprach- und Siedlungsgeschichte der Germanen auf dem Boden des alten Römerreiches. Bd. 1. Berlin; Leipzig 1934, S. 46-57 [das germ. Saint-Omer-Gebiet]. Lambert von Saint-Omer: Lieber Floridus. Bl. 61v o (Genter Hs.Cod. 92). Percht und Krampus, Kramperl und Schiach-Perchten Felix und Ulrich Müller I »Percht« und »Krampus« Perchten und Krampusse 1 wie man sie zur Winterszeit im bayerisch-österreichischen Alpenraum in vielerlei Ausprägungen sehen und erleben kann, sind dort allgemein bekannt und (ungeachtet bzw. vielleicht gerade wegen ihres schrecklichen Aussehens) höchst beliebt; andererseits haben sie die Fachleute zur gelinden Verzweiflung getrieben. Denn: »Perchten-Glaube und Perchten-Brauch sind die bekanntesten Mittwinterbräuche Salzburgs und gehören zu den schwierigsten und vielfältigsten Kapiteln der Volkskultur in Österreich.« 2 Wen immer man auf der Straße dazu befragt, ist mehr oder minder fest davon überzeugt, daß diese Bräuche und ihre Figuren weit ins Mittelalter und darüber hinaus in mythisch-heidnische Vorzeit zurückreichen; schon im Titel von Publikationen zu diesem Thema taucht das Wort »Mythos« bzw. »Mystik« auf (vgl. auch das anschließende Literaturverzeichnis), und noch öfters erscheint es in den Abhandlungen selbst. Was aber sind Krampus und Percht heute, und wo findet man sie? Die Herkunft des Wortes »Krampus« 3 ist ungeklärt. Es ist in den alpenländischen Dialekten der Name für den wilden, d.h. maskierten und zottigen Begleiter des vorweihnachtlichen Heiligen Nikolaus. Der einzelne Krampus oder eine Krampus-Gruppe entspricht hinsichtlich der Funktion also dem Knecht Rupprecht; »ihre Zeit« sind der 6. Dezember und die Tage unmittelbar davor. Das Wort »Percht« ist in Österreich, Bayern und unmittelbar angrenzenden Landschaften verbreitet, und zwar insbesondere in den Alpengebieten. 4 Es erscheint im Singular und im Plural, als Einzelwort (Simplex) und in zahlreichen Komposita (z.B.: Dreikönigspercht, Schiachpercht, Schönpercht, Schnabelpercht, Perchtlfrau); mehr oder minder sinngleiche Bezeichnungen sind Stampa (Niederösterreich), Luzia (Burgenland), Pudelfrau (Oststeiermark, Burgenland), Hexe, Rauhweib, Baba (Kärnten, Slowenien). Bezeichnet werden damit Masken-Figuren ganz unterschiedlichen Aussehens, das von fast feierlicher Schönheit (»Schönperchten«) bis zu grotesker Fratzenhaftigkeit (»Schiachperchten«) reicht. Sie erscheinen einzeln und in verschieden großen Gruppen, und zwar im Umkreis von drei bestimmten Winterabenden und -nächten, den sog. »rauhen Nächten«: in der Nacht vor Nikolaus (6. Dezember), zu Wintersonnwend (22. Dezember) und vor Dreikönig (6. Januar). »Percht« meint ursprünglich eine weibliche Ge- 1 Der einheitliche Singular und Plural im Dialekt lautet heute: »Kramperl«; ursprünglich war damit aber, noch Auskunft von philologischen Dialektsprechern, doch ein eher »kleinerer Krampus« gemeint. 2 Salzburger Kulturlexikon. Hrsg. Adolf Haslinger und Peter Mittermayr. Salzburg 1987, S. 370. 3 Siehe Fn. 1. 4 Das Folgende weitgehend nach: Wolfram, Richard: Percht und Perchtengestalten. In: Österreichischer Volkskunde-Atlas. Kommentar, Bd. VII (Lieferung 6, Teil 2), Wien 1980, S. 1 - 122; sowie: Rumpf, Marianne: Perchten. Populäre Glaubensgestalt zwischen Mythos und Katechese. Würzburg 1991 (Quellen und Forschungen zur europäischen Ethnologie, Bd. 12). 450 Felix und Ulrich Müller stalt (Frau Percht, Domina Perchta), verkörpert wird sie bzw. ihre Gruppe aber ausschließlich von Männern, zumeist von jungen Burschen. Das Wort »percht« entspricht althochdeutsch »peraht/ beraht« und bedeutet strahlend, glänzend, und es ist in dieser Bedeutung in Eigennamen wie Berchthold, Albrecht, Rupprecht/ Rupert bis heute erhalten. Als Datumsbezeichnung (»giperchtennaht«) findet sich das Wort erstmals in einer Mondseer Glosse (ca. 900/ 1200): Es bezeichnet dort die »Nacht der Erscheinung Christi« (»theophania, apparitio« 5 ), also die Nacht vor Epiphanias (Dreikönig, 6. Januar). Mit der Etymologie des Namens »Bercht(a)/ Percht(a)« hat man sich seit dem frühen 18. Jahrhundert 6 beschäftigt: Er wurde einerseits mit dem bereits erwähnten althochdeutschen Wort »peraht/ beraht« in Verbindung gebracht; demgemäß würde er also entweder die Leuchtende, Strahlende meinen - oder aber die »Frau der Perchtnacht«. Andererseits wurde der Name gelegentlich aber auch von dem althochdeutschen Verb »pergan« (bergen, verbergen, im Sinne von: schützen, aufbewahren) abgeleitet, und zwar bezogen auf den Maskenträger. Wirkliche Einigkeit besteht bis heute nicht, doch neigt man am ehesten der Erklärung »Percht« = die Leuchtende zu. In jüngster Zeit kann man beobachten, daß die Grenzen zwischen den Bezeichnungen »Percht« und »Krampus« zumindest im Salzburgischen, und zwar für den Nikolaus- Termin, fließend geworden sind: Nikolaus wird zwar nach wie vor von (zumeist mehreren) Krampussen begleitet, die aber völlig das Aussehen von Schiachperchten (häßlichen Perchten) haben. Und das nächtliche Treiben der Perchten am und vor dem Nikolaus- Tag, mit und vor allem auch ohne den die Belohnungen und Strafen bringenden Bischof, heißt in den Dörfern südlich von Salzburg (und auch in der Stadt selbst, wo es eher eine Neuheit ist) »Krampus-Treiben«. Es kann nun nicht das Ziel dieses Beitrages sein, die sehr komplizierten Ausformungen und speziellen Bräuche der Perchten, die von Tal zu Tal, von Dorf zu Dorf verschieden sein können (bei ersichtlich gleichem Kern), hier auszubreiten - dafür sei auf die volkskundlichen Spezialabhandlungen verwiesen, von denen einige im Literaturverzeichnis aufgeführt sind. Unsere Ausführungen 7 beziehen sich - als exemplarischer Fall - auf das Krampus- und Perchten-Treiben in den Flachgau-Gemeinden unmittelbar südlich der Stadt Salzburg, insbesondere Niederalm, Anif und Grödig, und zwar so wie wir es in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten miterlebt haben. 5 Schmeller, Andreas: Bayerisches Wörterbuch. Bd. I. München 1872, S. 269. 6 Erstmals bezeugt bei Haltaus, Christin Gottlob: Calendarium Medii aevi praecipue Germanicarum. Leipzig 1729. 7 Spätestens hier sind einige Informationen zu den beiden Verfassern dieses Beitrages und ihren Bezügen zum Thema nötig, da gerade bei einem solchen Gegenstand die jeweilige persönliche Perspektive von entscheidender Bedeutung ist bzw. sein kann: Ulrich Müller (geb. 1940), der im Rahmen seines Germanistik-Studiums an der Universität Tübingen erstmals durch Hermann Bausinger auch mit Volkskunde in Kontakt kam, war in seiner Stuttgarter Assistentenzeit, zusammen mit seinen dortigen Kollegen und Studierenden, regelmäßiger Besucher von alemannischen Fasnet-Orten; seit Anfang der siebziger Jahre zuerst gastweise, dann ab 1976 für ständig im Süden Salzburgs ansässig, konnte er das dortige »Krampus«-/ »Perchten«-Treiben aus unmittelbarer Nähe beobachten. An diesem war und ist bis heute Felix Müller (geb. 1974, Sohn des Erstgenannten) aktiv beteiligt. Der hier abgedruckte Beitrag behandelt das Thema aus einer doppelten Perspektive (siehe dazu auch unten), nämlich als fach-germanistischer Beobachter (U.M.: Kap. I und III) und als aktiv Mitwirkender (F.M.: Kap. II). Für wertvolle Hilfe und für Auskünfte danken die Verfasser: Ulrike Kammerhofer (Salzburg); Angelika und Franz Viktor Spechtler (Salzburg/ Grödig) sowie Alfred Winter (Salzburg). Percht und Krampus, Kramperl und Schiach-Perchten 451 Hier haben, wie auch anderswo, Perchten und Krampusse in jüngster Vergangenheit, etwa seit Mitte der siebziger Jahre, eine veritable Renaissance erfahren. Die Fachleute sind sich dabei bis heute nicht einig, ob es sich hier um die Wiederbelebung früherer, tatsächlich alter Bräuche handelt - oder um einen modernen Folklorismus, wo »auf der Suche nach Geschichte« eine »Selbstfindung im Mythos« (um Formulierungen aus einem Aufsatztitel von Hans Schubladen aufzugreifen) angestrebt wird, unter Ausbeutung der Geschichte und der Tradition. Das »Krampus-Treiben« in unserem Dorf (Niederalm) und der unmittelbaren Nachbarschaft konzentriert sich auf die Tage vor und um Nikolaus. Die Krampusse entsprechen hier im Aussehen den Schiachperchten, und sie treten in größeren oder kleineren Gruppen sowohl als Begleiter des Heiligen als auch alleine auf. Die Burschen, welche die Krampusse verkörpern, haben sich ihre jeweilige Ausrüstung zumeist selbst besorgt und hergestellt: furchterregende Holzmasken, stark bemalt und stets mit eindrucksvollen Hörnern versehen; ein zottiges Fellgewand, mit großen und schweren Schellen; und dazu, zur weiteren Einschüchterung des Publikums, etwas zum Zuschlagen (Pferdeschwanz, Rute). Die gesamte Ausrüstung ist viele Kilogramm schwer, und das Laufen als Krampus ist eine beträchtliche Anstrengung, die viel Kraft und Ausdauer verlangt. Im Sinne von Hans Schubladen 8 erscheint es nun aber wichtig, solche brauchtümliche Traditionen nicht nur von außen zu beobachten, sondern auch auf das »Bewußtsein der Akteure, ihrem Herangehen an Traditionen und/ oder Geschichte besonderes Augenmerk« zu geben. Dies geschieht im folgenden Kapitel, das als persönlicher Erfahrungsbericht, aus der Sicht eines an dem Brauch aktiv Beteiligten, gleichzeitig ein zusammenhängendes Dokument zum hier behandelten Thema darstellt und damit eine moderne volkskundliche Primärquelle bildet. (U.M.) II »Wenn der Nebel über die Felder zieht«: Erfahrungsbericht eines Krampus Die Tage werden kürzer, die Nächte länger, das Wetter kälter. Nebelschwaden ziehen über die Felder. Im Dorf hängt der Geruch verbrennenden Holzes, der aus den Schornsteinen steigt. Was für die meisten Menschen ein Signal für den kommenden Winter, die Zeit des Einigelns ist, ruft bei den jungen Männern, die bei den »Niederalmer Krampussen« sind, ein eigenartiges Herzklopfen hervor. Schon immer gab es in Niederalm - in meinem Heimatdorf mit ca. 1500 Einwohnern - das Brauchtum des Krampus. Niemand weiß eigentlich so richtig, woher der Krampus kommt, ob er nun heidnischen oder sonstigen Ursprungs ist. Niemand interessiert sich auch dafür, warum der Krampus mit dem St. Nikolaus von Haus zu Haus zieht. Faktum ist, daß schon, solange man zurückdenken kann, um die erste Rauhnacht - also den fünf- 8 Schubladen, Hans: Auf der Suche nach Geschichte - Selbstfindung im Mythos. Zu Neuschöpfungen steirischer Nikololäufe. In: Pöttler, Burkhard [...] (Hrsg.): Innovation und Wandel. Festschrift für Oskar Maser zum 80.Geburtstag. Graz 1994 (Veröffentlichungen des österreichischen Fachverbandes für Volkskunde), S. 377 - 395, dort S. 392. 452 Felix und Ulrich Müller ten Dezember - diese Perchten ihr Unwesen treiben. Mit Sprüchen, wie: »Früher sind wir noch mit angemalten Strumpfhosen und umgedrehten Mänteln unterwegs gewesen«, versuchen Ältere uns natürlich darauf hinzuweisen, daß wir schon sehr von der heutigen Zeit korrumpierte Krampusse sind. Doch auch das stört uns nicht sonderlich. Krampus bedeutet eine Woche lang »high life« - denn natürlich laufen wir nicht mehr nur am fünften und sechsten Dezember: Eine Woche des Feierns, der durchzechten Nächte und des Junggesellenlebens. Die Vorbereitungszeit beginnt schon im September. Krampuslaufen ist heutzutage nicht mehr nur ein bloßes »Von- Haus-Zu-Haus-Ziehen«. Krampuslaufen ist - auch wenn es vielen Brauchtumschützern und einigen von uns nicht gefällt - eine professionelle Angelegenheit geworden. Jedes Jahr veranstalten wir nicht nur in unserem Dorf Läufe, »Kränzchen« (d.h.: wenn die Krampusse Wirtshäuser und Diskotheken besuchen) und Hausbesuche. Auch in umliegenden Städten und sogar im grenznahen Bayern sind wir unterwegs. Jährlich entstehen neue Krampusgruppen in anderen Dörfern, was bedeutet, daß der Kampf um die begehrten Veranstaltungen härter wird. Der Vorstand und alle Mitglieder unseres Vereines haben alle Hände voll zu tun, alles für »die Woche des Jahres« vorzubereiten. (Für einige von uns ist Krampus schon fast wichtiger, aufregender und lustiger als Weihnachten). Plakate müssen gedruckt und aufgehängt, Listen für Hausbesuche ausgelegt werden, Termine vereinbart, Fahrer und Autos eingeteilt werden usw. usw. Bei aller organisatorischer Hektik darf natürlich nicht vergessen werden, die Ausrüstung vorzubereiten. Nicht wenige schnitzen auch noch heute ihre Masken selbst - oder auch für andere Mitglieder des Vereines. Die Felle müssen gemustert werden, die Glocken entstaubt und die Ruten gebunden. In den letzten Tagen schaffen es doch alle bis zum Freitag vor dem ersten Advent, beim »Bau-Bezug« dabei zu sein. Jede Krampusgruppe hat ihre eigenen Räumlichkeiten, wo sie sich während der »Krampuswoche« einnistet. Jede dieser Unterkünfte hat natürlich seinen eigenen, unverwechselbaren Namen. Heißt es bei anderen Gruppen »Gruft« oder »Fuchsloch«, so heißt unsere Behausung »Bau«. Dieser befindet sich in den Umkleidekabinen der Sportanlage. Somit sind wir mit den zahlreichen Duschen, die uns nach den Einsätzen bereitstehen, fast schon privilegiert. Gewandständer für die schweren Felle werden herbeigeschleppt, Tische und Bänke aufgestellt, der Proviant für die langen Nächte der Krampuswoche eingelagert, und natür- Percht und Krampus, Kramperl und Schiach-Perchten 453 lich die Ausrüstung gebracht. Die Stimmung und die Freude auf den ersten Einsatz sind riesengroß. Die neuen Masken werden kritisch gemustert, neue Stilrichtungen bestaunt, Vergleiche gezogen. Wer wird der »schönste« (also der häßlichste) Krampus dieses Jahres sein? Nicht jeder konnte oder wollte sich in diesem Jahr eine neue Ausrüstung besorgen. Immerhin kostet eine komplette Ausrüstung zwischen 8.000.- und 15.000.- ÖS. 9 Mittlerweile leben ganze Gerbereibetriebe davon, langhaarige Schaf- und Ziegenfelle bis aus Griechenland und der Türkei zu organisieren und zu Krampusanzügen zu verarbeiten. Schlimmer noch ist es mit den Hörnern: Der österreichische Markt ist abgegrast. Von den noch wenigen Hammeln und Ziegenböcken mit brauchbaren Hörnern sind diese bereits meist zu Lebzeiten versprochen und verkauft. Auch viele Schnitzer verdienen eine erträgliche Summe Geld damit, Masken zu schnitzen. Jeder Schnitzer hat seinen eigenen Stil. Neue Stile entstehen, alte vergehen. Waren früher die grimmigen Masken mit den riesigen Klappmäulern eines St. Johanners (im Pongau) der Renner, so sind es heute die fiesen, spitzen und kleinen Masken aus Großarl. Doch auch hier gibt es wieder Bewegung: Mittlerweile konnten sich auch Schnitzer aus der Umgebung Salzburgs etablieren. Viele verschiedene Stilrichtungen existieren nebeneinander. Die Unterschiede dürften allerdings nur eingefleischten Experten auffallen. Auch beim Geläut gibt es Differenzen: Ist der rollende Klang der runden, geschlossenen Schellen, oder der hämmernde Lärm der geschmiedeten Kuhglocken das richtige für die grimmigen Gesellen? Ähnliche Optionen gibt es bei den Schlaginstrumenten. Der Pferdeschwanz sieht zwar mit seinem langen, wallenden Haar majestätisch aus, ist aber nicht sehr effizient beim Zuschlagen. Auch wenn die Schläge der Krampusse längst nicht mehr furchterregend und gefährlich sind, sollten doch ab und zu ein paar freche Knaben oder hübsche Mädchen spüren, was ein Krampus ist. Für diese Zwecke ist die Rute wieder geeigneter. Von allen Modeströmungen unbeeinflußt bilden die Nikoläuse eine kleine Minderheit in der Gruppe. Weißer Bart ist weißer Bart, Krummstab ist Krummstab, und Robe ist Robe. Auch sonst sind sie etwas anders. Meist etwas älter und ruhiger, lieben sie die 9 Entsprechend ca 1.120 bis 2.100 DM. 454 Felix und Ulrich Müller Macht des gesprochen Wortes. Aus Versicherungsvertretern, Ärzten, Studenten und sogar sozialdemokratischen Gemeindepolitikern setzt sich diese Spezies zusammen. Der typische Krampus ist zumeist jünger und genießt lieber die Anonymität unter der Maske. Das heißt nicht, daß er dabei seine Aggressionen abbaut. Solche Leute haben bei uns im Verein kein langes Auskommen. Was die Faszination ausmacht, wird ein Nicht-Krampus vielleicht erst am Ende dieses Berichtes - oder vielleicht nie richtig nachvollziehen können. Viele von den heutigen Krampussen laufen schon seit unzähligen Jahren um den fünften Dezember auf den Straßen umher. Die Karriere beginnt als »Kramperl-Jager«. »Krampus jagen« bedeutet: Vor dem Krampus davonzulaufen. Meist sind die Jäger so feige, daß noch nie ein Krampus je die Chance hatte, einem ein paar Hiebe zu versetzen. Später oder bereits parallel beginnt der typische »Kramperl-Jager« seine erste Ausrüstung zu fabrizieren: Zuerst eine Waschtrommel mit Kuhhörnern und ein alter Mantel. Werden die Jungen 16 Jahre alt, dann haben sie die Chance, bei den »echten Krampussen« aufgenommen zu werden. Dort sind einige schon über zehn Jahre dabei. Ich z.B. war mit sechs Jahren das erste Mal »Kramperl-Jagern«, mit acht Jahren besaß ich meine erste Pappmaske und mit 14 die erste selbstgeschnitzte Holzmaske, die noch mehr einer Waschrumpel als einem schrekkenerregenden Krampusgesicht glich. Seit 16 bin ich bei den »Niederalmer Krampussen«. Was macht nun die Faszination des Krampuslaufens aus: Viele Komponenten spielen hier zusammen. Eine Sache ist das Laufen selbst. Schon wenn man in die meist kalten, feuchten Felle steigt, beginnt eine innere Verwandlung: Plötzlich sieht man kaum mehr über seine Schultern, vor lauter Fell, das sich links und rechts auftut. Ja, wann hat man schon so höllisch breite Schultern? Der Glockengurt hat den angenehmen Nebeneffekt, daß er den Bauch einschnürt. Die richtige Statur für einen höllischen Gesellen ist somit gegeben. Mit oder ohne Maske, gewollt oder ungewollt, ab diesem Zeitpunkt ist man für alle Nicht-Krampusse etwas anderes, und auf Schritt und Tritt zu hören. Noch ist man zwar nicht der Krampus mit der furchterregenden Maske, aber doch bereits nicht mehr ein normaler Mensch. Man bewegt sich auffälliger, und die Mächtigkeit des Felles gibt Kraft. Die Leichtigkeit des Krampus-Dasein beginnt: Üble Scherze, Mädchen »anquatschen«, Brüllen, Essen und Trinken. Es gibt zwei Hauptunterschiede in der Rolle des Krampus: Einerseits der wüste Geselle bei den Läufen und Kränzchen, andererseits der Streichelbär für die Kinder. Der Krampuslauf in Niederalm ist wohl die aufregendste Sache in der Saison. Alle stehen sie vor dem Feuerwehrhaus, das ganze Dorf und alle Freunde. Hunderte von Leuten warten bei Glühwein, Bier und Blasmusik auf ihre Krampusse. Wie immer viel zu spät, Percht und Krampus, Kramperl und Schiach-Perchten 455 um die Spannung zu steigern, kommt das Signal. Von einem Hinterhalt rennen über 20 der haarigen Teufel los. In diesem Augenblick vergißt man, daß die Maske überall drückt und das Gewicht der Ausrüstung einen fast zu Boden reißt. Vom höllischen Lärm der unzähligen Glocken angespornt rasen die Krampusse in die aufgeregte Menschenmenge. Auch für die Zuschauer ist das der atemberaubendste Moment. Menschengassen tun sich vor einem auf, Kinder und Mädchen kreischen, einige Burschen werfen mit Schneebällen, Erwachsene mustern dich, und Großväter fühlen sich an ihre Jugend erinnert. Ein Brüller, ein Hieb mit der Rute in die Menschenmenge ... auf die Knie gefallen siehst du ein kleines, verängstigtes Kind vor dir stehen. Du beruhigst dich, die Glocken hören auf zu hämmern, brummelnd und gurrend fängst du an, das Kind zu streicheln. Es lacht, du ziehst ihm die Mütze über die Augen ... mit einem Satz springst du auf, das Kind heult wieder, und die Leute kreischen, ein weiterer Hieb in die Menge, und die Tour durch die Menschengasse geht weiter. Nach zehn Minuten bist du völlig ausgepumpt und verschwitzt. Die 15 bis 20 Kilogramm hängen sich doch sehr an. Nun beginnt die Durchhaltephase. Siehst du einen andern Krampus, stürzt du auf ihn zu: Eine Keilerei am Boden sieht immer atemberaubend aus und ist doch nicht sehr anstrengend. Mit neuer Kraft geht das Spiel weiter. Hinein in die Menschenmenge, ein Brüller, ein Hieb. Zwischenzeitlich sondierst du, wer sich alles beim Lauf blicken läßt. Hübsche Frauen und gute Bekannte bekommen eine Sonderbehandlung (d.h. ein paar Hiebe mehr). Währenddessen machst du dir aus, wann du wo wen triffst. Immerhin wollen dir die Bekannten ja sagen, wie schmerzhaft die Schläge waren, und die Damen möchten sehen, ob sich unter der Maske nicht ein schöneres Gesicht verbirgt. Das Ende des Laufes zieht sich. Immer weniger wird gesprungen und mehr Kinder werden gestreichelt. Einige konditionsschwache Krampusse - wie ich - gelten nicht nur aus Kinderfreundlichkeit als Streichelkrampusse. Noch schnell einer auftoupierten Dame die Frisur zerstört und dem Pfarrer die Glatze poliert - ein Krampus hat Narrenfreiheit - und das Spektakel ist vorüber. Mit letzter Kraft findest du dich zum gemeinsamen Abtritt, wütest noch einmal mit dröhnenden Glocken und höllischem Geschrei durch die Massen - raus aus dem Hexenkessel, zu dem Platz, wo wir uns umgezogen hatten. Von der Pracht und der Gefährlichkeit ist nichts mehr zu sehen bei uns Krampussen. Mit roten Köpfen kauern wir am Boden, leeren ganze Wasserflaschen in unsere aufgeheizten Körper. Die Hitze dampft aus allen Öffnungen des Felles. Schon werden die ersten Schnurren erzählt, das »Krampus-Seemannsgarn«. Wie toll haben wir doch nicht ausgesehen. Einer war auf der Hütte, wo Glühwein verkauft wurde, gestanden und ist mit einem Satz heruntergesprungen ... Doch das teuflische Leben geht bei aller Erschöpfung weiter. Die Wirte warten auf unsere Auftritte. Ein Wirtshaus nach dem anderen klappern wir ab, ziehen einige Leute hinter den Tischen hervor und geben ihnen ein paar Hiebe. Ein Tisch wird abgeräumt, die Gläser fliegen, der Wein spritzt... macht alles nichts, denn heute ist Krampus. Dem Wirt ist es egal, solang sich der Schaden in Grenzen hält. Die Gäste lieben es, etwas herumgezerrt zu werden, denn für das sind sie ja heute gekommen. Echte schmerzhafte Schläge setzt es sowieso nicht. Die Ruten haben wir vorm Haus gelassen und hantieren mit den Pferdeschwänzen. Gelegentlich bekommt einer versehentlich eine Glocke ins Kreuz gedrückt oder ein Horn auf den Kopf geschlagen, bei unseren wilden Bewegungen. Aber auch das wird als normal hingenommen, da man als Krampus praktisch nichts sieht und mehr einem manövrierunfähigen Walroß als einem Teufel gleicht. 456 Felix und Ulrich Müller Nach dem Auftritt setzen wir Krampusse uns kurz ins Wirtshaus, trinken ein paar Biere und Schnäpse und essen eine Kleinigkeit. Ohne Maske sind wir hier die Könige. Von allen bestaunt, lassen wir ein paar Scherze fallen, quatschen irgendwelche Mädels an und ziehen weiter. Gegen Mitternacht sind fast alle Krampusse eingetroffen im Bau. Zwischenzeitlich hatten wir uns für die Kränzchen aufgeteilt. Erschöpft und schon mehr oder weniger angeheitert gehts endlich in die Duschen, den Gestank von den Fellen und den Schweiß abwaschen. Noch haben sich nicht alle wieder angezogen, schon geht das Feiern los. Der Proviant und das Trinken wird herbeigeschafft. Es wird die ganze Nacht gefeiert. Am Ende schlafen wir entweder auf den Fellen, oder gehen mit einigen Zwischenhalten bei Freunden oder Wirtshäusern doch nach Hause. Am nächsten Tag geht’s schon bald weiter. Hausbesuche stehen auf dem Programm. Immer zwei Krampusse ziehen mit einem Nikolaus und einem Fahrer umher. Längst sind nicht mehr alle Einsätze zu Fuß zu erledigen. Zur fast gleichen Zeit an verschiedenen Orten zu sein, ist nur so möglich. Hausbesuche sind ein Kapitel für sich. Meist wartet schon die ganze Familie von Enkerln bis Großeltern auf den Nikolaus und seine wüsten Gesellen. Lieder und riesige Geschenkskörbe sind vorbereitet. Zumeist sind es sehr schöne Familien-Idyllen, manchmal skurrile und gelegentlich auch traurige Erlebnisse, die man unter der Maske oder dem Nikolausbart mitbekommt. Die Krampusse spielen bei den Hausbesuchen eigentlich nur eine Statistenrolle, und sie dürfen maximal ein bißchen mit den Glocken bimmeln oder die Geschenke überreichen. Lustig ist es aber allemal, dem Nikolaus bei seinen Formulierungen zuzuhören, und rührend ist es, die Kinder zu beobachten, wie sie mit glasigen Augen den weißen, bärtigen Mann anhimmeln, ihm ein Gedichtlein aufsagen, selbstgemalte Geschenke überreichen und versprechen nicht mehr den Schnuller zu verwenden, die Mutter nicht mehr zu ärgern und die Hausaufgaben zu machen. Nach den beschaulichen Momenten mit der Familie gibt der Vater zumeist einen Schnaps her. Nach zehn bis 15 Hausbesuchen ist das dann schon zu spüren. Einige von uns sind richtige Hausbesuchexperten geworden. Man erlebt so viel wie sonst nirgendwo beim Krampuslaufen, hat ein ideal eingespieltes Team dabei und kennt schon die verschiedenen Hausgebräuche und Schnäpse der Familien. Zum Abschluß des Hausbesuchtages gibt es zumeist noch ein Kränzchen, wo auch die Krampusse zu etwas Bewegung kommen. Gegen zwölf Uhr kommen wir wieder alle in den Bau und freuen uns auf die Dusche und das Feiern danach ... Percht und Krampus, Kramperl und Schiach-Perchten 457 Für alle Außenstehenden sind wir sicherlich unerträglich während dieser Zeit. Die meisten der Freundinnen ziehen es vor, uns in dieser Woche nicht zu sehen, denn das ist die Woche des wüsten Lebens. Nicht nur unter der Maske oder mit dem Fell ist man Krampus. Während der ganzen Woche färbt diese höllische Gestalt auf unser Wesen ab: Es ist die Woche des exzessiven und des regellosen Lebens. Der Fasching kann da in unseren Breiten bei weitem nicht mithalten. Ja, und so geht das eine Woche dahin: Läufe, Kränzchen und Hausbesuche. Völlig erschöpft, aufgedunsen vom vielen Essen und Trinken, motten wir nach dem letzten Auftritt unser Sachen ein, machen aus dem Bau wieder die Sportumkleidekabine, erholen uns von den durchzechten Nächten, specken ein paar Kilo ab und warten auf das nächste Jahr, bis der Nebel über die Felder zieht. (F.M.) III Krampus und Percht: »ain abgedisch Gotlos, verruechts wesen« - mythische Figuren aus dem Mittelalter? Das Treiben der maskierten Perchten und Krampusse gehört sicherlich in den großen, ja weltweiten Kontext des Sich-Maskierens zu bestimmten Terminen, verbunden mit bestimmten Freiheiten und Lizenzen für die Beteiligten. Naheliegend ist ein Vergleich mit dem Masken-Treiben der alemannischen Fasnet, deren Masken teilweise eine erstaunliche Ähnlichkeit mit den Schiachperchten aufweisen. Dieselbe Faszination des Maskierens und deren Beobachten kann man aber auch bei sehr viel ruhigeren Anlässen dieser Art feststellen, etwa beim Venezianischen Karneval (der übrigens in den letzten Jahren gleichfalls eine erstaunliche Renaissance erlebt hat). Zur geradezu archetypischen, fast atavistischen Freude am Maskieren und Verkleiden kommt die Freude am erlaubten, wenn auch mehr oder minder genau begrenzten Exzess. Kurzfristige Verkehrung des Normalen, die genau terminierte Erlaubnis zum Über-die-Stränge-Schlagen findet sich in vielen Kulturen - erinnert sei nur an die römischen »Saturnalien« oder die mittelalterlichen »Knabenbischöfe« 10 (oder an den heutigen Karneval der unterschiedlichsten Ausprägung). Und daß es zumeist Gruppen, Banden, Vereine junger Männer sind, die sich hier zusammentun und austoben, ist gleichfalls kennzeichnend. 11 All dies findet sich sicherlich auch bei den alpenländischen Perchten und Krampussen. Doch noch weiteres kommt hier wohl hinzu: Zumindest die Schiachperchten, mit ihren grotesk-häßlichen und tatsächlich furchteinflößenden Masken, die ursprünglich über die Felder und von Haus zu Haus zogen, erinnern auch an Teufelsgestalten - oder an noch ältere, vorchristliche Dämonen. Denn es ist nicht nachzuweisen, und die moderne Volkskunde ist in diesem Punkt auch vorsichtig 10 Der gewählte Anführer (abbas, episcopus) bei den mittelalterlichen Narrenfesten der Jungkleriker und die Kinder. 11 Siehe dazu, am Beispiel des Spätmittelalters in Flandern und dem Artois, etwa Muchembled, Robert: Die Jugend und die Volkskultur im 15. Jahrhundert. In: Dinzelbacher, Peter; Mück, Hans-Dieter (Hrsg.): Volkskultur des europäischen Spätmittelalters. Stuttgart 1987 (Kröners Taschenausgabe, Bd. 662), S. 35 - 58. 458 Felix und Ulrich Müller bis abwehrend: Heutige Volksmeinung ist aber fast einhellig, daß das Treiben der Perchten und Krampusse alte heidnische Wurzeln habe und zusammenhinge mit vorchristlichen Ritualien der Bekämpfung und des Vertreibens des Winters. Wirklich beweisbar ist es nicht, aber schon der Augenschein spricht dafür, daß die wilden Masken unter anderem auch sozusagen domestizierte Teufels-Verkörperungen sind, die an bestimmten Terminen und in einem genau umgrenzten Rahmen ihr Unwesen treiben dürfen. Und fast schon eine Frage der persönlichen Weltanschauung, ja Ideologie ist es, wie es um die sogenannten heidnischen also die vorchristlichen Wurzeln steht. Die historischen Belege für die Perchten können hier letztlich nicht weiterhelfen, weder in der einen noch der anderen Hinsicht: Sie zeigen zwar, daß diese Tradition mindestens bis ins späte Mittelalter nachweisbar ist, aber über die frühere Zeit und die eigentlichen Wurzeln kann dies alles nichts aussagen - Brauchtümliches hat es ja oft an sich, daß es erst verhältnismäßig spät schriftlich oder sonstwie dokumentiert wird (unter anderem durch offizielle Verbote). Den umfassendsten Versuch, das Perchten-Treiben in einen großen mythischen Kontext zu stellen, unternahm der französische Ethnologe Henri Rey-Flaud 1985: Er sieht das Perchten-Treiben in Verbindung mit dem Mythos des germanischen Gottes Odin, dessen Wilder Jagd, den Rüge- und Straf-Ritualien des Haberfeld-Treibens und der Charivaris, 12 und er lokalisiert das Zentrum des Ganzen um den Salzburger Untersberg und den mit diesem Berg verbundenen Mythos vom Schlafenden Kaiser, 13 welcher dereinst auf dem Walserfeld (nördlich von Salzburg) den Antichrist bekämpfen und besiegen und anschließend das Tausendjährige Friedensreich, das dann mit dem Ende der Welt und dem Jüngsten Gericht seinen Abschluß und sein Ziel findet, heraufführen würde. Rey-Flaud verknüpft das von ihm geknüpfte mythische Netzwerk auch mit der modernen Geschichte, wenn er postuliert, daß die Wahl des Obersalzbergs als Feriensitz für Hitler kein bloßer Zufall und nicht durch die Schönheit der Landschaft verursacht worden sei, sondern - vielleicht halb- oder gar unterbewußt - gesteuert worden wäre durch den alten Mythos von den Perchten und dem Untersberg (der ja in Blicknähe zum Obersalzberg liegt). So überzogen diese Theorie auf den ersten Blick wirkt und sowenig Zuspruch sie bei den Volkskunde-Fachleuten (insbesondere denen der betroffenen Gegend) gefunden hat, so sollte sie doch nicht sofort als Beispiel einer entfesselten wissenschaftlichen Phantasie und Beziehungssucht abgetan werden - denn möglicherweise hat der Verfasser hier zumindest etwas erahnt, was sich im einzelnen aber nicht oder nur ganz schwer glaubhaft machen und beweisen läßt. Daß die Tradition von Percht und Krampus aber zumindest bis ins (christliche) Mittelalter zurückreicht, ist wohl eindeutig; inwieweit noch ältere Bräuche darin aufgenommen wurden, wie es bei der Überlagerung durch einen neuen und »siegreichen« Glauben immer wieder geschieht (und an der Geschichte der christlichen Volkskultur unschwer abzulesen ist), ist unsicher. Die heutigen Mitwirkenden und auch Beobachter beim Trei- 12 Die Etymologie des Wortes Charivari ist ungeklärt; bezeichnet wird damit ein Rüge-Umzug mit lautem Lärm (Katzenmusik); siehe dazu den zusammenfassenden Artikel von Kramer, K.-S.: Rügebräuche. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. VII/ 5 (1994), Sp. 1090 f. [mit Literaturhinweisen]. 13 Er suggeriert auch eine Beziehung zwischen der Bezeichnung »Percht« und dem Ortsnamen des nahegelegenen Berchtesgaden. Allgemein wird der Ortsname von dem Personennamen »Berchtold« abgeleitet, in dem, wie oben ausgeführt, das ahd. Wort »peraht/ beraht« steckt. Percht und Krampus, Kramperl und Schiach-Perchten 459 ben der Perchten und Krampusse sind davon jedoch, ohne langes Überlegen, mehr oder minder fest von einer (sehr) alten Tradition überzeugt, und dies wird durch die moderne Perchten-und Krampus-Renaissance auch nicht falsifiziert. Daß der offensichtlich revitalisierte, nicht aber neuerfundene oder von anderswo her importierte Brauch und seine Figuren - Krampus und Schiachpercht - für die Beteiligten eine mythische Faszination haben, die rational nicht so recht erklärbar ist und die man einfach miterlebt haben muß: dies ließ vielleicht Kap. 2 unseres Beitrages erahnen. Daß es der Obrigkeit mit jenem Treiben stets unheimlich war, zeigt eine Verlautbarung des Berchtesgadener Hofrats vom 7. Januar 1601 14 , also einen Tag nach Dreikönig: »Ir habt zweifelsohn negst verganngene Nacht, am Vor Aben der heilligen drei Khinnigen, nit weniger als ich selb, was für ain merckhliche grosse unzucht, mit dem Percht-Lauffen, allda beim Marckht für übergangen, (wil geschweigen das ungezweifelt auf dem Gei noch villmerers beschechen) angehert unnd vernumben, weillen dann dis ain abgedisch Gotlos, verruechts wesen, dabei aller hanndt grosse Sündt unnd allerlai Übels fürgeet, unnd einlaufft, Ist derwegen solches Umblauffen, verschinen etliches Jar, nit unbillich bei vermeidung ernnstlicher straff offentlich Abgeschafft, unnd (ver)podten, unnd seidhero meines wissens nit widerruefft oder bewilligt worden ... Also ist mein bevelch, das Ir die Jhenigen, so sich in disem Perchtlauffen gebraucht, mit allem fleiß, sovill Imer müglich erkhundiget, dieselben erfordert unnd zugebürlicher stroff ziechet, vnnd nembt, vnnd darunndter solchen Ernst verweist unnd maß gebraucht, damit sy fürter der Obrigkhait gepot unnd Verpot in besserm Respect halten vnnd erkhennen [...]« Genützt hat das erneute »Gebot und Verbot der Obrigkeit« - wie sich erweisen sollte - allerdings nichts. (U.M.) Bibliographische Hinweise Andree-Eysn, Marie: Die Perchten im Salzburgischen. In: Volkskundliches aus dem bayerisch-österreichischen Alpengebiet. Braunschweig 1910 (Nachdruck Hildesheim 1978), S. 156 - 184. Bausinger, Hermann: Da capo: Folklorismus. In: Lehmann, Albrecht; Kuntz, Andreas (Hrsg.): Sichtweisen der Volkskunde. Zur Geschichte und Forschungspraxis einer Disziplin. Festschrift für Gerhard Lutz zum 60. Geburtstag. Berlin/ Hamburg 1988, S. 321 - 328. Haiding, Karl: Berchtenbräuche im steirischen Ennsbereich. 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Masken und Maskenbrauchtum aus Ost- und Südosteuropa. Hrsg. von Robert Wildhaber. Bonn 1968. Moser, Hans: Volksbräuche im geschichtlichen Wandel. Ergebnisse aus fünfzig Jahren volkskundlicher Quellenforschung. München 1985 [Aufsatzsammlung]. Muchembled, Robert: Die Jugend und die Volkskultur im 15.Jahrhundert. In: Dinzelbacher, Peter; Mück, Hans Dieter (Hrsg.): Volkskultur des europäischen Spätmittelalters. Stuttgart 1987 (Kröners Taschenausgabe, Bd. 662), S. 35 - 58. Prodinger, Friederike: Beiträge zur Perchtenforschung. In: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, Bd. 100 (1960), S. 545 - 563. Prodinger, Friederike: Perchtenbilder aus dem 18. Jahrhundert. In: Jahresschrift, Salzburger Museum Carolino Augusteum, Bd. 4 (1959), S. 123 - 142. Rey-Flaud, Henri: Le Charivari. Les rituels fondamentaux de la sexualité. Paris 1985 (Bibliothèque scientifique). Riesen. Hrsg. von Roland Floismair und Lucia Luidold. Salzburg/ München 1996. Rumpf, Marianne: Perchten. 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Perkeo Jürgen Fröhlich (Essen) Es gibt zu Perkeos Leben kaum verifizierbare Daten: Das dürftige Material setzt sich fast ausschließlich zusammen aus Anekdoten und überlieferten Geschichten. Vielleicht ist er gerade deshalb zu einem bevorzugten Arbeitsobjekt von Heimatforschern geworden und zu einem Gegenstand zahlreicher Spekulationen. Selbst die wenigen direkten und indirekten Quellen können heute nicht immer als zweifelsfrei gelten; so beruft sich etwa eine Beschreibung Perkeos auf ein »Gedenkbüchlein, für alle, die in Heidelberg froh und vergnügt waren« von 1837, das aber bereits um 1890 als verschollen gilt. 1 Alle Erwähnungen und die (seltenen) Informationen zu ihm werden im Stadtarchiv der Stadt Heidelberg zusammengetragen; der überwiegende Teil dieser Informationen setzt sich aus Artikeln der Tagespresse zusammen; in der Regel sind für diese Beiträge keine Autoren namentlich zu ermitteln. Clemens Perkeo war Zwerg und nach mittelalterlicher Tradition Hofnarr des pfälzischen Kurfürsten Carl Philipp (1661-1742 in Mannheim, Kurfürst seit 1716) 2 . In die Geschichte eingegangen ist er vor allem wegen seiner sagenhaften Trinkfestigkeit und Schlagfertigkeit. Ein Holzstandbild Perkeos, das noch zu seinen Lebzeiten angefertigt wurde, befindet sich im Keller des Heidelberger Schlosses gegenüber dem Großen Faß. Zu weiteren bildlichen Darstellungen s.u. Geboren wurde Perkeo in Salurn (Süd-Tirol, zwischen Bozen und Trient) um 1700 oder kurz danach (1702? ). Als Geburtstag gilt der 1. April, doch dieses Datum ist nicht zu verifizieren. 3 Aufgrund fehlender Quellen dürfte dieses Datum eher vom närrischen Brauch dieses Tages beeinflußt sein. Die Patrozinien geben für die Namensgebung keinen Anlaß. Todesjahr und -tag sind unbekannt, man geht jedoch davon aus, daß Perkeo nach Pfalzgraf Carl Philipp gestorben ist, also nach 1742. Eine Begründung für diese Theorie gibt e s nicht, nur das stark abweichende Alter g ibt dafür Anlaß. So unsicher wie die Lebensdaten ist auch der Geburtsname Perkeos, so daß selbst die folgende überlieferte Anekdote nicht auszuschließen ist: Auf die Frage des Kurfürsten, ob er das Heidelberger Faß leertrinken könne, soll er »Perche no? « (Warum nicht? ) geantwortet haben. 4 Perkeo ging in jungen Jahren nach Innsbruck und erlernte dort den Be- 1 Vgl. Ohne Titel. In: Burschenschaftliche Blätter (1890), S. 44 2 Killy, Walter; Vierhaus, Rudolf (Hrsg.): Deutsche Biographische Enzyklopädie. Bd. 5: Hesselbach-Kofler. München 1997, S. 446. 3 Vgl. Laufenberg, Walter: Der Zwerg von Heidelberg: Perkeo, Hofnarr auf dem Schloß der Pfälzer Kurfürsten. Stuttgart 1990 (Engelhorns Romanbibliothek), S. 171. - Vgl. hierzu auch den Abschnitt »Sonstige Nachwirkungen; Kuriosa« (s.u.). 4 Vgl. Moos, Hermann: Wie der Zwerg Perkeo zu seinem Namen kam. Rhein-Neckar-Zeitung, 24.01.1967. - Ohne Autor: Warum Perkeo nicht Perkeno heißt - neue Überlegungen zur Entstehung des Namens, Rhein-Neckar-Zeitung, 25.02.1992; Walter Laufenberg: Perkeo und sein Name, Rhein-Neckar- Zeitung, 05.05.1992. - Umminger, Gernot: Perkeo, der Betreuer des Heidelberger Fasses. In: Badische Heimat (43) 1963 Heft Heidelberg, S. 153 - 160, hier: S. 154f. - Selbst Tiroler Namensbücher geben hier keinen Aufschluß. 462 Jürgen Fröhlich ruf des Knopfmachers. In Innsbruck trifft Perkeo auf den Pfalzgrafen - und späteren Kurfürsten - Carl Philipp, der 1707 als Statthalter des Kaisers nach Innsbruck beordert worden war. Zu dieser Zeit gehörte Perkeo zu einer Gruppe von Herumtreibern, die den Namen »die böse Sieben« trug und stets zu Streichen aufgelegt war. Perkeo trank mit einem Untergebenen Carl Philipps (Baron von Pöllnitz? 5 ) um die Wette und gewann; als der Hofmann nicht zahlen konnte, brachte Perkeo diesen zur Residenz, um die offene Zeche einzufordern, worauf Carl Philipp Perkeo zu einem erneuten Wettkampf aufforderte, der am folgenden Tag begann. Auch diesmal blieb Perkeo Sieger und der spätere Kurfürst bat ihn, bei ihm zu bleiben, und verlieh ihm den Titel »Lustiger Rat«. Im Jahre 1718 gelangt Perkeo - im Gefolge des jetzigen Kurfürsten vom Rhein und von der Pfalz - nach Heidelberg, der Residenz Carl Philipps. Als der Kurfürst im Streit mit der Stadt um die Heiliggeistkirche 1720 den Entschluß faßt, seine Residenz nach Mannheim zu verlegen, bahnt sich das Ende der Beziehung zwischen beiden an: Am 1. Mai 1728 folgt die Ernennung Perkeos zum »Ritter und Kammerherrn des Faßkönigs« und damit zum Wächter des Großen Fasses, das kurz zuvor aufwendig renoviert worden war. 6 Damit war Perkeo an Heidelberg gebunden, während der Kurfürst nach Mannheim zog, wo er bis zu seinem Tode blieb. Ikonographisches Es gibt - neben dem erwähnten Holzstandbild im Heidelberger Schloßkeller - zwei bildliche Darstellungen Perkeos, die sich im Besitz des Kurpfälzischen Museums in Heidelberg befinden. 7 Das Bild des Hofmalers Adriaen van der Werff zeigt den Zwerg vor der Kulisse der Schwetzinger Sommerresidenz. Mit roter Perücke und Gardeuniform gekleidet nimmt Perkeo den Mittelpunkt des Bildes ein, während er mit dem Daumen der linken Hand die Nase berührt. Dies wird als »närrische[.] Pose« 8 interpretiert. Das zweite Bildnis eines unbekannten Künstlers 9 zeigt Perkeo mit weißer Perücke im Beisein seines Mandrills Ruperto. Auf beiden Gemälden ist der Zwerg mit den Insignien seines Amtes, Ritterkreuz und Kellerschlüssel, dargestellt. Diese dienen besonders zur Untermalung von Perkeos Kleinwüchsigkeit, reicht doch der im Original 33cm lange Schlüssel vom Gürtelbund des Hofnarren bis fast zum Boden. Ein weiteres Bild befindet sich im Besitz des Südtiroler Weinmuseums auf dem Schloß Ringberg am Kalterer See. Dieses Bild von Jan Philip van der Schlichten dürfte jedoch eine Teil-Kopie des oben beschriebenen Gemäldes von Adriaen van der Werff darstellen. Die Figur Perkeos ist übernommen und in eine andere Umgebung, die einer Wirtshausszene, verlagert worden. - Das Original des Holzstandbildes ist verschollen. Es war auf Veranlassung der staatlichen Denkmalpflege nach München geschickt worden, wo es restauriert werden sollte. Es wird vermutet, daß eine 5 Weber, Günter: ohne Titel und bibliographischen Nachweis; im Stadtarchiv der Stadt Heidelberg auf einer Karteikarte unter dem Stichwort »Perkeo«. 6 Pfaff, Karl: Heidelberg und Umgebung. Frankfurt am Main 1978. Unveränderter Nachdruck der Ausgabe 1910, S. 253f. 7 Vgl. Umminger (Fn. 4), S. 155f. 8 Umminger (Fn. 4), S. 155. 9 Dieses Bildnis soll eine Kopie sein, die durch den Hofmaler A. Sadeler angefertigt worden ist. Vgl. Pfaff (Fn 6), S. 254. Perkeo 463 Kopie nach Heidelberg zurückgeschickt wurde und das Original in das Bayerische Nationalmuseum gewandert ist; nachweisbar ist es dort nicht. Der Daumen der jetzigen Figur wurde kurz nach dem Ersten Weltkrieg von der Düsseldorfer Polizeidirektion zurück nach Heidelberg geschickt: Ein italienischer Raritätensammler soll ihn entwendet haben. 10 - Neben dieser Holzstatue befindet sich eine Scherzuhr, die Perkeo selbst konstruiert haben soll. Anstatt die Uhrzeit anzugeben, springt dem neugierigen Benutzer dieser Uhr eine Art Fuchsschwanz ins Gesicht, begleitet vom einem lauten Klingelgeräusch. Trink- und Studentenlieder Der immense Weinkonsum, der letztendlich auch seinen Weg zum Kurfürsten öffnete, begründete Perkeos Ruf und Nachleben. Einige Quellen sprechen von einem täglichen Weindeputat von 30 Flaschen 11 , so daß Perkeo zum Inbegriff überdimensionaler Trinkfestigkeit wurde. Über dieses Motiv gelangt die Figur Perkeo auch in Trink- und Studentenlieder, von denen das bekannteste das Josef Victor von Scheffels Das war der Zwerg Perkeo aus dem Jahre 1849 12 sein dürfte 13 : Das war der Zwerg Perkêo im Heidelberger Schloß, An Wuchse klein und winzig, an Durste riesengroß. Man schalt ihn einen Narren, er dachte: »Liebe Leut’, Wärt Ihr wie ich doch alle feuchtfröhlich und gescheut! « Und als das Faß, das große, mit Wein bestellet war, Da ward sein künftiger Standpunkt dem Zwergen völlig klar. »Fahr wohl,« sprach er, »o Welt, du Katzenjammertal, Was sie auf dir hantieren ist Wurst mir und egal! « 14 »Um lederne Ideen rauft man manch heißen Kampf, Es ist im Grund doch alles nur Nebel, Rauch und Dampf.« »Die Wahrheit liegt im Weine. Beim Weinschlurf sonder End Erklär’ ich alter Narre fortan mich permanent.« Perkêo stieg zum Keller; er kam nichtmehr herfür Und sog bei fünfzehn Jahre am rheinischen Malvasier. War’s drunten auch stichdunkel, ihm strahlte inneres Licht, Und wankten auch die Beine, er trank und murrte nicht. Als er zum Faß gestiegen, stands wohlgefüllt und schwer, Doch als er kam zu sterben, klang’s ausgelaugt und leer. Da sprach er fromm: »Nun preiset, ihr Leute, des Herren Macht, Die in mir schwachem Knirpse so Starkes hat vollbracht: Wie es dem kleinen David gegen Goliath einst gelang, also ich arm’ Gezwerge den Riesen Durst bezwang. 10 Vgl. Heidelberger Tagblatt, 05.06.1963. 11 Ohne Autor: Perkeo-Bild im Südtiroler Weinmuseum. In: Rhein-Neckar-Zeitung, 20.2.1960. 12 Vgl. Selbmann, Rolf: Dichterberuf im bürgerlichen Zeitalter. Joseph Victor von Scheffel und seine Literatur. Heidelberg 1982 (Beiträge zur neueren deutschen Literaturgeschichte: N.F. 3; Bd. 58), S. 107 ff. 13 Scheffel, Joseph Victor von: Perkeo. In: ders.: Frau Aventiure. Gaudeamus. (Gesammelte Werke in sechs Bänden. Mit einer biogr. Einl. von Johannes Proelß. BD. 1 - 6 ; 6) Stuttgart 1907, S. 220 - 221. - Vertont von Stefan Gruwe. Notation: Kubizek, Augustin: Das war der Zwerg Perkeo. Blätter für den gemischten Chor. Wien, München 1963. 14 Hier - wie auch im Folgenden - fehlen in der Werkausgabe die beendenden Anführungszeichen. 464 Jürgen Fröhlich Nun singt ein De Profundis, daß das Gewölb’ erdröhnt, Das Faß steht auf der Neige, ich falle sieggekrönt.« . . . Perkêo ward begraben. - Um seine Kellergruft Beim Riesenfasse weht heut noch feuchte Luft, Und wer als frommer Pilger frühmorgens ihr genaht: Weh’ ihm! Als Weinvertilger durchtobt er Nachts die Stadt. Durch den früher üblichen Studienortswechsel dürfte Perkeo auch über die Grenzen Heidelbergs hinaus in weitere Trink- und Studentenlieder gelangt sein. So findet sich der trinkselige Zwerg z.B. in einer Trinklied-Sammlung des Academischen Clubs zu Hamburg von 1859. 15 Neben von Scheffels Version kommt der Trunkenbold dort in zwei weiteren Liedern vor: Unser Scheffel. (Singweise: Wohlauf, die Luft geht frisch und rein) [...] Es summt aus feuchter Kellerluft der Chor der sel’gen Geister Perkeo Heil in tiefer Gruft, ihm, aller Zecher Meister! [Es reit’ mit sieben Knappen an der Herr vom Rodensteine und trinkt dir zu, als so viel er kann, in allerbestem Weine. Valleri, Vallera] 16 Lobgesang auf Heidelberg [...] So gedeih bei Storch und Kater, fröhliche Studentenschaft! brausend kling dein Landesvater stets bei Wein und Gerstensaft! Prosit deinem Sangesmeister, Prosit deinem großen Zwerg, Scheffels und Perkeo’s Geister walten über Heidelberg! [...] 17 Anekdoten Als ein baumlanger Kavalier scherzte: »He Perkeo, Marquis Däumling, flugs mir einen Bruderkuß, aber wohlgemerkt, ohne Dich zu recken und zu strecke«, da antwortete der Angerempelte völlig ernsthaft mit der allbekannten Einladung des Götz von Berlichingen, fügte jedoch neckend hinzu: »doch ohne Dich zu ducken, Du Giraffen-Hengst.« 18 Ein kurfürstlicher Beamter, der nicht gerade als der fleißigste bekannt war, eilte einmal früh zum Fürsten und fragte Perkeo, den er müßig in den Vorsälen herumschlendern sah: »Wie geht’s, hat mein gnädiger Herr, der Pfalzgraf, ausgeschlafen? « Perkeo antwortete: »Willst ein kluger Mann sein und fragst, ob der Pfalzgraf schlafe. Wenn er es täte, wer würde dann wachen für sein Land und seine Leute? Ein Fürst muß wachen, damit wir faule und volle Narren schlafen können.« 19 15 Perkeo. Hundert alte Trinklieder. Ausgewählt vom Academischen Club zu Hamburg von 1859. Hamburg-Blankenese 1949. Der Name »Perkeo« fungiert also als Titel einer Sammlung von Trinkliedern! 16 Hübbe, Thomas: Unser Scheffel. (Singweise: Wohlauf, die Luft geht frisch und rein). In: Perkeo (Fn. 15), S. 63. 17 Graf Albr[echt] Wickenburg: Lobgesang auf Heidelberg. In: Perkeo (Fn. 15), S. 39. 18 Daehne, Paul: Das große Faß zu Heidelberg und seine Vorgänger. Berlin, Leipzig 1930, S. 24. Perkeo 465 Ein andermal sah Perkeo den Doktor Helmreich, »ein eitel stolzes Männlein«, in einem neuen Anzug. Schnell zog der Narr sein bestes Kleid an, ging zu ihm hin und sagte: »Lieber, laß uns unsere Röcke tauschen.« »Und wozu das? « fragte der Doktor ärgerlich. »Damit du siehst, wie schnell ich dann in den Augen der Welt ein großer Doktor und du ein kleiner Narr würdest«, war des Zwergen Antwort. 20 Sonstige Nachwirkungen; Kuriosa Zu diesen verstreuten Materialien gesellt sich ein historischer Roman, der das Leben Perkeos ausschmückend beschreibt. 21 Der Autor bezeichnet diesen Roman als »Biographie« 22 , doch kann zum einen ein Großteil der Handlung nicht verifiziert werden, und zum anderen ist das biographische Material so unsicher, daß man besser von einem historischen Roman spricht. Perkeo gilt heutzutage als Symbolfigur und Schutzpatron der Heidelberger Fastnacht. So gibt es z.B. eine »Perkeo-Gesellschaft Heidelberg 1907 e.V. - Verein zur Förderung heimatlichen Brauchtums« mit einem regelmäßig erscheinenden Organ, den Perkeo-Nachrichten. Diese Gesellschaft ist eine Karnevalsvereinigung, und die Veröffentlichungen sind nicht-wissenschaftlicher Art. In entsprechender Funktion wird Perkeo auch zum Sammelbegriff für mundartliche Humoresken: Unter der Überschrift Perkeo erschienen seit dem 21.04.1906 regelmäßig samstags mundartliche Anekdoten im Heidelberger Tageblatt, bis diese Zeitung eingestellt wurde.- Unter dem Titel Perkeo lacht - Humor aus der Kurpfalz finden sich Witze im Pfälzer Dialekt, die mit dem historischen Perkeo nichts zu tun haben. 23 Darüber hinaus ist »Perkeo« das erste eingetragene Warenzeichen des Deutschen Patentamtes; 24 unter dieser Bezeichnung wurden Lampen und Lampenteile in das Register beim Kaiserlichen Patentamt eingetragen. Ein Radioteleskop bei Effelsberg trägt den Namen »Perkeo«. 19 Kurpfälzer Sagenborn. Alte und neue Sagen aus der rechtsrheinischen Pfalz mit besonderer Berücksichtigung der Heidelberger Gegend sowie der angrenzenden Gebiete des Neckartals, des Odenwaldes und des Kraichgaues, der Bergstrasse und der Rheinebene, mit 34 Originalzeichnungen versehen von Karl und Martha Buckenhan in Heidelberg. Gesammelt und für die Jugend bearbeitet von Jakob Bernhard in Heidelberg. Heidelberg 1933, S. 13 - 16. 20 Kurpfälzer Sagenborn (Fn. 19). 21 Laufenberg (Fn. 3). 22 Laufenberg, (Fn. 3). 23 Schick, Paul; Lehr, Rudolf (Hrsg.): Perkeo lacht. Humor aus der Kurpfalz. Gesammelt und hrsg. von P.S. und R.L. Mit einem Vorwort von Elsbeth Janda. Heidelberg 2 1992. 24 Jung, Hermann: Es begann mit »Perkeo«. In: Tagesspiegel Berlin, 13. 7. 1980, S. 18. 466 Jürgen Fröhlich Bibliographische Hinweise [Ohne Autor]: Warum Perkeo nicht Perkeno heißt - neue Überlegungen zur Entstehung des Namens, Rhein-Neckar-Zeitung, 25.02.1992. Daehne, Paul: Das große Faß zu Heidelberg und seine Vorgänger. Berlin, Leipzig 1930. Killy, Walter und Vierhaus, Rudolf (Hrsg.): Deutsche Biographische Enzyklopädie. Bd. 5: Hesselbach-Kofler. München 1997, S. 446. Kurpfälzer Sagenborn. Alte und neue Sagen aus der rechtsrheinischen Pfalz mit besonderer Berücksichtigung der Heidelberger Gegend sowie der angrenzenden Gebiete des Neckartals, des Odenwaldes und des Kraichgaues, der Bergstrasse und der Rheinebene, mit 34 Originalzeichnungen versehen von Karl und Martha Buckenhan in Heidelberg. Gesammelt und für die Jugend bearbeitet von Jakob Bernhard in Heidelberg. Heidelberg 1933, S. 13 - 16. Laufenberg, Walter: Der Zwerg von Heidelberg: Perkeo, Hofnarr auf dem Schloß der Pfälzer Kurfürsten. Stuttgart 1990 (Engelhorns Romanbibliothek). Laufenberg, Walter: Perkeo und sein Name, Rhein-Neckar-Zeitung, 05.05.1992. Perkeo. Hundert alte Trinklieder. Ausgewählt vom Academischen Club zu Hamburg von 1859. Hamburg-Blankenese 1949. Pfaff, Karl: Heidelberg und Umgebung. Frankfurt a. M. 1978. Unver. Nachdr. d. Ausg. 1910. Scheffel, Joseph Victor von: Perkeo. In: Ders.: Frau Aventiure. Gaudeamus. (Gesammelte Werke in sechs Bänden. Mit einer biogr. Einl. von Johannes Proelß, Bd. 6) Stuttgart 1907, S. 220 - 221. Schick, Paul und Lehr, Rudolf (Hrsg.): Perkeo lacht. Humor aus der Kurpfalz. Gesammelt und herausgegeben v. P.S. und R.L. Mit einem Vorwort von Elsbeth Janda. 2. Aufl. Heidelberg 1992. Selbmann, Rolf: Dichterberuf im bürgerlichen Zeitalter. Joseph Victor von Scheffel und seine Literatur. Heidelberg 1982 (Beiträge zur neueren deutschen Literaturgeschichte: N.F. 3; Bd. 58). Umminger, Gernot: Perkeo, der Betreuer des Heidelberger Fasses. In: Badische Heimat 43 (1963), Heft Heidelberg. S. 153 - 160. Der Phönix: Vom Christussymbol zum Firmenlogo Romy Günthart (Basel) Der Phönix, dieser sagenhafte Vogel, der sich selbst verbrennt und aus der eigenen Asche zu neuem Leben findet, wird in naturwissenschaftlichen und theologischen Schriften bis ins 17. Jahrhundert immer wieder beschrieben und ist von der Antike, über das Mittelalter, bis in die Neuzeit ein beliebtes Motiv in Literatur und Kunst. Gedichte, Romane, Filme, Theaterstücke, Ballette, Musikwerke und Performances aller Art tragen ihn im Titel. 1 Er fand Eingang in die Heraldik und wurde zum Namensgeber für Städte, Gebäude, Gesellschaften und zahllose Produkte aller Art. Der Phönix steht ganz allgemein als Symbol für die Erneuerung; dann konkret für die Sonne, die Zeit, das Reich, die liturgische Wandlung, die Auferstehung, das Leben im himmlischen Paradies, Christus, Maria, die Jungfräulichkeit und verschiedene Aspekte des christlichen Lebens, den außergewöhnlichen Menschen und anderes mehr. Im täglichen Sprachgebrauch ist er bis heute präsent in der Redewendung »sich wie ein Phönix aus der Asche erheben«, womit gemeint ist, nach scheinbar völliger Zerstörung neu erstehen. Schon in der antiken und frühchristlichen Literatur finden sich zahlreiche Belege für den Phönixmythos. Die mittelalterlichen Autoren und Künstler, die sich mit diesem Vogel beschäftigten, schöpften aus einer breiten Tradition. Die früheste Erwähnung in der klassischen Literatur findet sich bei Hesiod (frg. 304). Erstmals ausführlich berichtet Herodot (Historien 2, 73) über den Phönix. Die wichtigsten antiken Quellen für die mittelalterliche Ausgestaltung des Mythos sind: Ovid (Metamorphosen 15, 392 - 409), Plinius der Ältere (Naturalis historia 10, 3 - 5) und Tacitus (Annalen 6, 28), sowie die beiden Gedichte De ave phoenice, das Laktanz zugeschrieben wird, und De phoenice von Claudian. 2 Auf römischen Kaisermünzen abgebildet, steht er als Bild für die »Aeternitas Romae« (Unvergänglichkeit Roms) oder die Erneuerung des Zeitalters beim Amtsantritt eines neuen Herrschers. 3 Darüber, ob der Phönix zu den biblischen Tieren gehört, herrscht in den theologischen Schriften seit der Patristik Uneinigkeit. Die Stelle, die dabei am häufigsten zur Diskussion steht, ist Hiob 29, 18, wobei es um die Übersetzung des hebräischen Wortes h . ôl geht, was gewöhnlich mit »Sand« wiedergegeben wird. So heißt die Stelle nach der Übersetzung Luthers: »Ich dachte: ›Ich werde in meinem Nest verscheiden und meine Tage so zahlreich machen wie Sand‹.« Zwingli dagegen wählte für seine Übersetzung das Wort 1 Zur Verbreitung des Mythos in der Kunst und Literatur seit dem Mittelalter vgl. Reid, Jane Davidson: The Oxford Guide to Classical Mythology in the Arts, 1300 - 1990s. Band 2. New York, Oxford 1993, S. 898 - 901. 2 Zur Stoffgeschichte in der Antike vgl. Broek, Roelof van den: The Myth of the Phoenix. Leiden 1972 (Études préliminaires aux religions orientales dans l’Empire romain, Bd. 24), S. 469 - 480. 3 Vgl. Kramer, Joachim: Art. Phoenix. In: Lexikon der christlichen Ikonographie 3 (1971), Sp. 430 - 432, hier Sp. 430; Walla, Marieluise: Der Vogel Phoenix in der antiken Literatur und der Dichtung des Laktanz. Wien 1969 (Dissertationen der Universität Wien, Bd. 29), S. 103 - 111. 468 Romy Günthart »Phönix«, was besser in den Kontext paßt und eine mögliche Entsprechung im griechischen Wort fo…nix (phoinix) hat, das in der Septuaginta für »h . ôl« steht und sowohl »Dattelpalme« als auch »Phönix« heißen kann. 4 In der Zürcherbibel lautet die Stelle dementsprechend: »So dachte ich: ›Mit meinem Nest werde ich sterben und lange leben wie der Phönix‹.« In den Kommentaren zum Talmud wird »h . ôl« ebenfalls meistens als »Phönix« gelesen. Die jüdisch-apokalyptische und rabbinische Literatur nimmt denn auch öfters auf den Vogel Bezug. 5 Neben Hiob 29, 18 wurde auch vereinzelt die Psalmstelle Ps. 92, 13: »Der Gerechte wird grünen wie ein Palmbaum, / er wird wachsen wie eine Zeder im Libanon« als Anspielung auf den Phönix verstanden. So schreibt Tertullian in De resurrectione carnis: »Deus etiam Scripturis suis ›Et florebit‹ enim inquit (Ps. XCI, 13), ›velut phoenix‹; id est, de morte, de funere; uti credas, de ignibus quoque substantiam corporis exegi posse.« 6 Die meisten Autoren interpretieren das griechische fo…nix aber als »Palmbaum«, und so kann auch diese Stelle nicht als eindeutiger Beleg für die Nennung des Vogels in der Bibel gelten. Der früheste bekannte christliche Text, in dem der Phönix erwähnt wird, ist eine Predigt des Clemens von Rom, mit der er die korinthische Gemeinde in ihrem Glauben an die Auferstehung stärken wollte. Dabei dient ihm der Phönix als Naturexempel, das augenscheinlich Zeugnis ablegt für die Realität der Auferstehung. 7 Von größter Bedeutung für die Ausgestaltung des Phönixmythos in den folgenden Jahrhunderten wurde dann die Beschreibung des Vogels, wie sie im sogenannten Physiologus überliefert wird. Diese anonyme frühchristliche Naturlehre entstand im zweiten Jahrhundert und wurde aus verschiedenen antiken Quellen kompiliert. In zahlreichen Versionen überliefert, genoß sie über dreizehn Jahrhunderte eine außerordentliche Popularität. Basierend auf der Annahme, daß alle von Gott geschaffenen Dinge einen Doppelsinn haben, werden im Physiologus die beschriebenen Tiere, Pflanzen und Steine für eine christliche Gemeinde allegorisch auf das Heilsgeschehen hin gedeutet. Das Geschehen in der Natur, wie es im Physiologus und anderen Werken der geistlichen Tierauslegung beschrieben wird, legt nicht nur Zeugnis ab von Gottes Allmacht, sondern bezeichnet seinerseits durch ein Analogieverhältnis das geistliche Geschehen. Die Realien er- 4 Vgl. McDonald, Mary Francis: Phoenix redivivus. In: Phoenix 14 (1960), S. 187 - 206, hier S. 190; auch die dritte Möglichkeit, die Stelle mit »Dattelpalme« zu übersetzen, findet ihre Befürworter. So schreibt Gregor der Große im 27. Kapitel seiner »Moralia in Job« (In: PL 75, Sp. 509 - PL 76, Sp. 780) zum Vers 18: »Dicebamque: In nidulo meo moriar et sicut palma multiplicabo dies« (»Und ich sagte: In meinem Nest werde ich sterben und meine Tage mehren wie die Palme.«). Seinen Entscheid für »palma« begründet er mit der Anmerkung: »Hebraice sicut arena. Attamen quibusdam Hebraeis phoenix est. Et quia fo…nix Graece significat ›palmam‹, hinc interpretes verterunt, ›sicut palma‹. Aliis placet eo loci mentionem injectam phoenicis avis famosissimae, sed fabulosissimae.« (»Auf Hebräisch heißt es ›Sand‹. Aber bei den Hebräern heißt dieses Wort ›phoenix‹. Und weil fo…nix auf griechisch ›Palme‹ bedeutet, übertragen es einige Übersetzer als ›wie die Palme‹. Andere bevorzugen an dieser Stelle den Phoenix einzusetzten, den hochberühmten aber fabelhaften Vogel.«) In: PL 76, Sp. 128. 5 Vgl. Van den Broek (Fn. 2), S. 58 - 60; McDonald (Fn. 4), S. 192 - 195. 6 (»Denn auch Gott sagt in seinen Schriften ›Er wird erblühen wie der Phoenix‹, womit gemeint ist: vom Tode, vom Sterben; damit du glaubst, daß auch aus dem Feuer körperliche Materie hervorgehen kann.«) Tertullian: De resurrectione carnis. In: PL 2, Sp. 791 - 886, hier Sp. 811. 7 Vgl. Reinitzer, Heimo: Vom Vogel Phönix. Über Naturbetrachtung und Naturdeutung. In: Natura loquax. Naturkunde und allegorische Naturdeutung vom Mittelalter bis zur frühen Neuzeit. Hrsg. von Wolfgang Harms und Heimo Reinitzer. Frankfurt a. M. 1981, S. 17 - 72, hier S. 20 f. Der Phönix: Vom Christussymbol zum Firmenlogo 469 scheinen als Bilder für Christus, den Menschen, den Teufel. 8 Im siebten Kapitel des Physiologus heißt es über den Phönix: 9 »Unser Herr Jesus Christus spricht in dem göttlichen Evangelium: Ich habe die Macht, mein Leben zu lassen, und habe die Macht, es wiederzunehmen. Und die Juden waren über dieses Wort unwillig. Nun gibt es fürwahr in Indien einen Vogel, der wird Phönix geheißen. Ist aber der Phönix ein noch lieblicherer Vogel als der Pfau; denn des Pfaues Flügel schimmern von Grün und Gold, die des Phönix aber von Hyazinth und Smaragd und kostbarem Edelgestein, und ein Krönlein trägt er auf dem Haupte und eine Kugel hat er zu seinen Füßen gleich einem König. Aber jeweils alle fünfhundert Jahre macht er sich auf zu den Zedern des Libanon, und da füllt er sich seine Flügel ganz an mit Wohlgerüchen und dies zeigt er dem Priester der Sonnenstadt an, im neuen Monat, das heißt im Phamenoth, oder im Pharmouth. Der Priester, dem dies angezeigt ist, geht hin und schichtet auf dem Altar Holz vom Weinstock hoch auf. Der Vogel aber kommt zur Sonnenstadt, vollbeladen mit Wohlgerüchen, und stellt sich oben auf den Altar, und das Feuer erfaßt ihn, und er verbrennt sich selbst. Und der Priester, wenn er am folgenden Tage den Altar durchsucht, findet er einen Wurm in der Asche. Und am zweiten Tage wachsen ihm Flügel, und man findet ihn als ein Vogel-Junges. Am dritten Tage aber findet man, daß er wieder so geworden ist wie ehedem. Und er grüßt feierlich den Priester, und fliegt hoch, und ziehet von dannen nach seiner alten Stätte. Wenn nun dieser Vogel Macht hat sich selbst zu töten und lebendig zu machen - wie nur sind die unverständigen Menschen unwillig darüber, daß unser Herr Jesus Christus spricht: Ich habe die Macht, mein Leben niederzulegen, und ich habe Macht, es wieder aufzunehmen? Denn der Phönix nimmt das Antlitz unseres Heilandes an. Hat er doch vom Himmel herab gebracht die beiden Schwingen voll Wohlgeruchs, das ist: voll heilsamer himmlischer Worte, damit wir im heiligen Gebet die Hände ausstrecken und geistlichen Wohlgeruch nach oben senden in Gestalt eines gut geordneten Gemeindelebens. Wohlgesprochen also hat der Physiologus über den Phönix.« In der Beschreibung der natürlichen Eigenschaften des Phönix folgt der Physiologus in seinen wesentlichen Elementen der antiken Tradition. Entsprechend der primären Intention des Werkes, heilsgeschichtliche Wahrheit zu vermitteln, wird die Auslegung aber ganz von der biblischen Deutung bestimmt. Die Erzählung vom sterbenden und auferstehenden Vogel dient der Exemplifizierung des Jesuswortes Joh. 10, 18: »Ich habe Macht, mein Leben zu lassen, und habe Macht, es wiederzunehmen.« Die Erzählung vom Phönix soll Gottes Allmacht beweisen, der seinen Sohn von den Toten auferstehen ließ. Dabei verweist der liturgische Sitz dieses Textes in der Karwoche auf die spezielle Christussymbolik. Ohne eine detaillierte Auslegung der Eigenschaften auf die Auferstehung Christi hin zu geben, wird der wunderbare Vogel allgemein als Bild für Christus bezeichnet und auf den Heiland hin gedeutet, der die beiden Flügel voll Wohlgeruchs brachte, welche der Physiologus als »heilsame, himmlische Worte« auslegt. Spätere Versionen und Bearbeitungen deuten die beiden Flügel konkret auf das Alte und Neue Testament. So schließt das Phönixkapitel im sogenannten Altdeutschen Physiologus mit den Versen: 10 8 Vgl. Henkel, Nikolaus: Studien zum Physiologus im Mittelalter. Tübingen 1976 (Hermaea, N. F. 38), S. 139 - 160; Beitrag von Ulrich Müller in diesem Band. 9 Der Physiologus: Tiere und ihre Symbolik. Übertragen und erläutert von Otto Seel. Zürich, München, 6 1992, S. 14 f. 470 Romy Günthart »Dirre vogil bezeichint Christ, des vedrach sint vol mit suozzem smache, von niwer unde alter e gemachet. wol gelert ist er, in dem himilriche ein meister. niwe unde alten e er uobet, vaterlichen er unsir huotet. des si geseit lop und genade unserem herren got! Amen. Amen.« Auf das Faktum, daß es sich beim Phönix um ein zyklisches Werden und Vergehen handelt, was dem christlichen Weltbild klar widerspricht, gehen weder der Physiologus noch seine späteren Bearbeiter ein. Für die Ausgestaltung und Verbreitung des Phönixmythos im Mittelalter war neben dem Physiologus die Beschreibung des Vogels in den Etymologien des Isidor von Sevilla besonders wichtig. Über den Phönix schreibt Isidor: 11 »Phoenix Arabiae avis, dicta quod colorem phoeniceum habeat, vel quod sit in toto orbe singularis et unica. Nam Arabes singularem ›Phoenicem‹ vocant. Haec quingentis ultra annis vivens, dum se viderit senuisse, collectis aromatum virgulis, rogum sibi instruit, et conversa ad radium solis alarum plausu voluntarium sibi incendium nutrit, sique iterum de cineribus suis resurgit.« Wie in den Etymologien üblich geht Isidor bei der Beschreibung einer Sache von deren Namen aus. Die Bezeichnung »Phönix« erklärt er einerseits mit der purpurnen Farbe des Vogels (lat. phoeniceus), andererseits mit dem arabischen Wort für den Einzelnen. Die folgende Beschreibung von Aussehen, Sterben und Auferstehung ist gegenüber dem Physiologus stark verkürzt. Was die äußere Erscheinung des Vogels angeht, so begnügt sich Isidor mit der Beschreibung der Farbe. Ergänzend zum Physiologus erwähnt er, daß es nur einen einzigen Phönix auf der Welt gibt. Dieser errichtet sich selber den Scheiterhaufen und entfacht das Feuer, indem er sich zur Sonne dreht und sich selbst mit seinen Flügeln schlägt. Von dem Priester der Sonnenstadt und seiner Rolle bei der Verbrennung und Auferstehung ist bei Isidor nicht die Rede. Die symbolische Deutung der Beschreibung (descriptio) fehlt ebenfalls. Isidor kolportiert enzyklopädisches Wissen ohne Allegorese. Diese muß in einem weiteren Schritt von den Benutzern seines Werkes geleistet werden. Isidors Etymologien waren wie der Physiologus im folgenden Jahrtausend außerordentlich erfolgreich. Beide wurden zu wichtigen Quellen für die patristischen Werke geistlicher Tierauslegung, die mittelalterlichen Naturenzyklopädien, Bestiarien und literarischen Werke, die naturkundliches Wissen bearbeiten. Wichtig für die Konstituierung des Phönix als christliches Symbol (Abb. 1) in der Kunst und Literatur des Mittelalters wurden neben dem Physiologus vor allem die homi- 10 (»Dieser Vogel bezeichnet Christus, dessen Flügel, die gefüllt sind mit lieblichem Wohlgeruch, sind gebildet aus dem Alten und dem Neuen Testament. Er ist äußerst gelehrt; im Himmel ein Herrscher. Er herrscht nach dem Gesetz des alten und neuen Bundes; er beschützt uns väterlich. Dafür sei unserem Herrn und Gott Lob und Dank gesagt.«) Der altdeutsche Physiologus. Die Millstätter Reimfassung und die Wiener Prosa (nebst dem lateinischen Text und dem althochdeutschen Physiologus). Hrsg. von Friedrich Maurer. Tübingen 1967 (Altdeutsche Textbibliothek, Bd. 67), S. 73 [Strophe 180, Verse 1 - 5]. 11 (»Der Phoenix, ein Vogel Arabiens, wird so genannt, weil er eine purpurne Farbe hat, oder weil er einzigartig und einmalig in der ganzen Welt ist. Denn die Araber nennen einen Einzelnen ›Phoenix‹. Wenn dieser 500 Jahre gelebt hat, und sieht, daß er alt wird, sammelt er Zweige von aromatischen Sträuchern, baut sich einen Scheiterhaufen, wendet sich den Strahlen der Sonne zu und entfacht mit dem Schlag der Flügel sein freiwilliges Feuer, und so erhebt er sich wiederum aus der Asche.«) Isidori Hispalensis Episcopi (Isidor von Sevilla): Etymologiarum sive Originum. New York 1987 (Oxford Classical Texts), Kapitel 12, 7, 22. Der Phönix: Vom Christussymbol zum Firmenlogo 471 letischen und exegetischen Schriften der Kirchenväter, in denen der Vogel des öfteren erwähnt wird. 12 In der Gestaltung der descriptio folgen die Autoren im allgemeinen den Beschreibungen, die aus dem Physiologus und/ oder den Etymologien bekannt sind. Als Vorlagen können dabei die unterschiedlichsten Versionen und Bearbeitungen dieser oder ähnlicher Werke gedient haben, welche die selben Tiergeschichten überliefern. Direkte Quellen sind nur gelegentlich nachzuweisen, und auch eigene Um- oder Neugestaltungen sind denkbar. Zusammenfassend lassen sich aufgrund der frühchristlichen Schriften und den Versionen des Physiologus folgende wesentliche Elemente bei der Beschreibung des Vogels festhalten: 13 - Der Phönix heißt so wegen seiner purpurnen Farbe (lat. phoeniceus). - Es gibt nur einen auf der ganzen Welt. - Der Vogel ist bisexuell bzw. asexuell. - Seine äußere Erscheinung wird meistens vage beschrieben. Fest steht, daß es sich beim Phönix um einen Vogel handelt. Er wird gelegentlich mit einem Pfau oder Adler verglichen. Es kann erwähnt werden: Seine außerordentliche Schönheit; sein Gefieder, das als einfarbig, verschiedenfarbig oder auch mit Edelsteinen durchsetzt beschrieben wird; sein Kopf mit einem Krönlein geschmückt; eine Kugel zu seinen Füßen. 12 Vgl. Stellenverzeichnis bei Van den Broek (Fn. 2), S. 469 - 480. 13 Zu den Stellennachweisen, Sonderformen des Mythos und speziellen Details im einzelnen vgl. Mermier, Guy R.: The Phoenix: Its Nature and Its Place in the Tradition of the Physiologus. In: Beast and Birds of the Middle Ages. The Bestiary and Its Legacy. Hrsg. von Willene B. Clark und Meradith T. McMunn. Philadelphia 1989, S. 69 - 87; Van den Broek (Fn. 2), S. 51 - 389. Abb. 1: Phönixdarstellung aus St.Peter, Rom 472 Romy Günthart - Gewöhnlich erscheint er im Blickfeld der Menschen nur, um zu sterben und wieder geboren zu werden. - Am häufigsten ist von einer zyklischen Lebensspanne von 500 Jahren die Rede. Die Periode kann aber auch mehr als 500, 540, 1000 Jahre oder eine sonstige Zeitspanne betragen. - Als Aufenthaltsorte des Vogels werden genannt: Arabien, Indien, Ägypten, insbesondere die Stadt Heliopolis, der Libanon und das himmlische Paradies. - Um zu sterben bereitet der Vogel oder ein Priester ein Nest aus Zweigen eines Weinstocks oder aromatischen Hölzern. Die Sonnenstrahlen entzünden den Scheiterhaufen, und der Phönix wird von den Flammen verzehrt. Aus der Asche entsteht ein Wurm, der zu einem jungen Vogel wird und dann die Gestalt seines Vorgängers erreicht. Die Zeitspanne, welche die Metamorphose braucht, wird entweder mit drei Tagen angegeben oder bleibt unerwähnt. In einer anderen, sehr viel selteneren Version wird berichtet, daß der Vogel sich in sein Nest setzt, stirbt und mit diesem verwest. Aus den Überresten entsteht dann ein neuer Phönix. 14 Im Physiologus wird der Phönix wie die meisten Tiere auf Christus gedeutet. In den Schriften der Kirchenväter erscheint er am häufigsten als naturkundliches Exempel für die Auferstehung. Tod und Wiedergeburt des Vogels werden in Analogie gesehen zum Tod Christi am Kreuz und seiner Auferstehung am dritten Tage (resurrectio Christi). Daneben wird er auch als Beispiel benutzt in Schriften zur Auferstehung des Leibes am Jüngsten Tag (resurrectio carnis) und der Auferstehung der Gerechten (resurrectio justorum) im himmlischen Paradies sowie der unsterblichen Seele. 15 Kyrillos von Jerusalem, der in seiner Catechesis 18, 8 ebenfalls auf den Phönix zu sprechen kommt, vertritt sogar die Ansicht, daß Gott diesen Vogel erschaffen habe, weil er um den schwachen Glauben der Menschen an die Auferstehung wußte und ihnen deshalb mit dem Phönix ein sichtbares Beispiel für ein Lebewesen geben wollte, das vom Tode aufersteht. Er schließt das Phönixexempel mit der Bemerkung, daß Gott die Menschen, die ihm dienten, sicherlich auferstehen läßt, wenn er die Auferstehung sogar einem Vogel gewährt. 16 Auch Ambrosius, der in drei verschiedenen Texten auf den Phönix zu sprechen kommt, führt die Geschichte als Beweisgrund für die Auferstehung an. Dabei erzählt er den Vorgang nach der Version, nach welcher der Phönix im Nest stirbt und sich aus seiner Verwesung ein Wurm und in weiterer Entwicklung der neue Vogel bildet. 17 Am Schluß der Passage über den Phönix fügt er hinzu, daß sich der Vogel nach anderer Erzählung verbrenne und aus der Asche neu erstehe. Nach der ersten Variante erzählt er die Geschichte auch im Hexaemeron, hier mit moralischer Anwendung. Nach dem Beispiel des Vogels soll sich der Mensch den Glauben als schützendes Nest nehmen und mit den Wohlgerüchen der Tugenden anfüllen. 18 Ein drittes Mal spricht er vom Phönix in der Auslegung von Psalm 118. Diesmal geht es Ambrosius um die Verbrennung und Erstehung aus der Asche. Auf diese Weise pflanzt sich der Vogel ohne sexuelle Lust und ungeschlechtlich fort. 19 Da der Geburt des Phönix keine Zeugung vorangeht, wird er in anderen Texten 14 Zu den beiden Versionen vgl. Van den Broek (Fn. 2), S. 146 - 161. 15 Vgl. Van den Broek (Fn. 2), S. 9.; Walla (Fn. 3), S. 111 - 118. 16 Vgl. Reinitzer (Fn. 7), S. 22. 17 Vgl. Ambrosius: De excessu fratris sui Satyri. In: PL 16, Sp. 1285 - 1354, hier Sp. 1331. 18 Vgl. Ambrosius: Hexaemeron. In: PL 14, Sp. 119 - 274, hier Sp. 238. Der Phönix: Vom Christussymbol zum Firmenlogo 473 auch als Symbol für die Jungfrau (virgo) und als Bild für die Tugend der Keuschheit (castitas) verwendet. 20 Die Eigenschaft des Phönix, einzigartig zu sein, wird ebenfalls auf Christus gedeutet, kann aber auch auf Maria und sogar den außergewöhnlichen Menschen bezogen werden. Mit Bezug auf die Inkarnation Christi wird Maria auch mit dem Feuer verglichen, in dem sich der Phönix (Gott) erneuert. Die wundervolle Erneuerung aus sich selbst wird zudem in Analogie zur unversehrten Jungfräulichkeit Marias gesetzt. 21 Die Erzählung vom Phönix kann auch ohne allegorische Auslegung als Naturexempel verwendet werden. So erzählt Absalon von Springiersbach in seiner Predigt In accensione domini die wunderbare Geschichte und fordert danach seine Zuhörerschaft auf, es dem Vogel gleichzutun und ebenfalls wohlriechende Hölzer zu sammeln (Tugenden und gute Werke) und sich zu verbrennen (im Feuer des Geistes Gottes), damit sie dereinst im Paradies auferstehen. 22 Im Überblick über die zahlreichen Nennungen des Phönix in den Schriften der Kirchenschriftsteller fällt auf, daß er in überwiegendem Maß »ad bonam partem« gedeutet wird. Nur ein einziges Mal wird sein Feuertod negativ auf den Heuchler bzw. Neider ausgelegt. In der Augustinus zugeschriebenen Predigt De invidia cavenda heißt es im Anschluß an die bekannte Geschichte: »Sic et hypocrita facit, sic et invidus agit cunctis diebus vitae suae, intus et extra se comburens, se infestans, primo se ipsum vulnerans et vexans«. 23 Die Stelle ist aber meines Wissens die einzige Deutung des Vogels »ad malam partem«, und so wird der Phönix als außerordentlich positiv konnotiertes Symbol auch von den mittelalterlichen Autoren verwendet. Die natürlichen Eigenschaften des Phönix werden am ausführlichsten in den großen Enzyklopädien des 13. Jahrhunderts beschrieben. Die drei umfassendsten und einflußreichsten Kompendien der Zeit sind von Thomas von Cantimpré (Liber de natura rerum), Bartholomaeus Anglicus (De proprietatibus rerum) und Vinzenz von Beauvais (Speculum naturale). 24 Bei der Beschreibung des Vogels berufen sich die Kompilatoren auf die antiken Autoren Plinius und Solinus, den Physiologus sowie Isidor und Ambrosius als Quellen aus der Patristik. Thomas von Cantimpré erwähnt außerdem noch einen nicht näher identifizierbaren Haimo. Dabei werden gewöhnlich die verschiedenen Fassungen kommentarlos nebeneinander gestellt. Während Bartholomäus Anglicus und Vinzenz von Beauvais sich damit begnügen, Tod und Auferstehung des Vogels entsprechend ihren verschiedenen Vorlagen zu schildern, erwähnt Thomas von Cantimpré mit Bezug auf Haimo zusätzlich, daß in Heliopolis auf Befehl des Königs Ptolemäus ein Tempel zu Ehren des obersten Gottes gebaut wurde, der dem Tempel Salomons in Jerusalem entspricht. Er berichtet außerdem, daß sich Maria mit dem Jesuskind auf der Flucht vor Herodes nach Ägypten in der 19 Vgl. Ambrosius: Expositio in psalmum David CXVIII. In: PL 15, Sp. 1193 - 1525, hier Sp. 1472. 20 Vgl. Van den Broek (Fn.2), S. 384 - 388. 21 Zur marianischen Deutung des Phönix allgemein vgl. Nitz, Genoveva: Art. Phönix. In: Marienlexikon 5 (1993), S. 206 - 208. 22 Vgl. Absalon von Springiersbach: Sermo »In accensione domini«. In: PL 211, Sp. 194 - 199, hier Sp. 199. 23 (»So handelt auch der Heuchler, so handelt auch der Neider, durch alle Tage seines Lebens, der sich innwendig und auswendig verbrennt, sich peinigt und sich selbst verletzt und quält.«) Augustinus; Auctor incertus: Sermo »De invidia cavenda«. In: PL 40, Sp. 1264 - 1266, hier Sp. 1266. 24 Zu den Phönixkapiteln vgl. Thomas von Cantimpré: Liber de natura rerum 5, 45; Bartholomaeus Anglicus: De proprietatibus rerum 12, 14; Vinzenz von Beauvais: Speculum naturale 16, 74. 474 Romy Günthart Stadt Heliopolis aufhielt. Im Gegensatz zu Bartholomaeus Anglicus und Vinzenz von Beauvais fügt Thomas von Cantimpré seiner Beschreibung des Vogels eine allegorische Auslegung bei. In der deutschen Übertragung, die der Regensburger Domherr Konrad von Megenberg anfertigte, lautet der Schluß des Phönixkapitels: 25 »Der fenix bedäut die hailigen sêl, diu ist mit irem spiegelschawen in die götleichen sunnen grôz sam der adlar. si ist schôn gekroent an dem haupt als der pfâwe mit dem, daz si lauter und rain ist an dem muot. diu sêl hât gevalten guomen mit zwairlai gir in irm gepet, wan si begert ir selbes hail und auch der naehsten hail. ir hals ist goltvar, daz ist diu hailig lêr und der guot rât. den si andern läuten vortregt. diu hailig sêl ist an dem aftern tail purpervar, daz ist ir nâchvolg der martaer Christi, wan die mag niemant vermeiden, der zuo got wil. auch maht dû Christum dem vogel wol geleichen mit seiner marter und mit seiner urstend an dem dritten tag.« Das Kapitel endet mit einer doppelten Auswertung der Eigenschaften des beschriebenen Tieres. Zum einen verweist die äußere Gestalt des Phönix auf die heilige Seele, zum anderen ist der Vogel in seinem Sterben und der Auferstehung am dritten Tage mit Christus zu vergleichen. Neben den naturgeschichtlichen Beschreibungen des Phönix in den Enzyklopädien und Bestiarien finden sich auch in der volkssprachlichen Dichtung des Mittelalters zahlreiche Belegstellen für die Verbreitung des Mythos. Als Beispiel sollen im folgenden einige Texte der deutschsprachigen Literatur vorgestellt werden. 26 Die meisten Anspielungen auf die wunderbare Geschichte finden sich in der Lyrik der gelehrten Spruchdichter. So kommt Heinrich von Mügeln in seiner Dichtung viermal auf den Phönix zu sprechen, wobei er das Bild des sich selbst verbrennenden Vogels durchaus unterschiedlich deutet. In zwei Gedichten seiner Marienlyrik vergleicht er Maria mit dem Feuer, in dem sich der Phönix (Gott) erneuert. Der Spruch Nr. 130 lautet: 27 »Meit, blünder salden stam, dem alden fenix wol anzam, das er in diner küsche flamm smelzte das hoe alder sin. doch sunder mannes stür 25 Konrad von Megenberg: Das Buch der Natur. Die erste Naturgeschichte in deutscher Sprache. Hrsg. von Franz Pfeiffer, Stuttgart 1856, S. 187. 26 Vgl. die Stellenverzeichnisse bei Henkel (Fn. 8), S. 202 f.; Schmidtke, Dietrich: Geistliche Tierinterpretation in der deutschsprachigen Literatur (1100 - 1500). Berlin 1968, S. 377 - 380. 27 (»Jungfrau, du blühender Ursprung des Heils; für den alten Phönix war es angemessen, daß er in der Reinheit deiner Flammen sein hohes Alter zum Schmelzen brachte. Aber das Feuer des Heils wurde ohne die Hilfe eines Mannes entzündet. So nahm er in der Gestalt eines Knaben die kostbare Pforte ohne Schmerz./ O reine Jungfrau, drücke und schmelze das Siegel der Tugend in den Tigel unseres Herzens, bevor uns der Igel des Fluches gefesselt vor das Gericht des Todes führe.«) Alle Zitate folgen der Ausgabe: Die kleineren Dichtungen Heinrichs von Mügeln. Die Spruchsammlung des Göttinger Cod. Philos. 21. Hrsg. von Karl Stackmann, Berlin 1959 (Deutsche Texte des Mittelalters, Bd. 50 - 52). Abb. 2: Cosmographei Der Phönix: Vom Christussymbol zum Firmenlogo 475 entzündet wart des heiles für. des nam sin edelie tür sins knechtes forme sunder pin. o reine meit, in unsers herzen tigel drück unde smelz der tugende ingesigel, e uns des fluches igel für bündig in des todes schrann.« Im Spruch Nr. 183 weist Heinrich zusätzlich auf die Jungfräulichkeit Mariens hin, wenn er in den Versen 7 f. schreibt: »doch bleib der meide phort gespart, / sus jungte sich der fenix alt.« Folgt er in diesen Sprüchen einer bekannten Auslegungsvariante, so verwendet Heinrich von Mügeln im Spruch Nr. 42, der an den werden man gerichtet ist, das Bild vom Phönix durchaus eigenwillig. Am Schluß des Textes fordert er den Menschen auf, es dem Vogel gleichzutun und sich selbst zu erneuern: »der fenix, der verbrinnet sich, wann sich sin alder swachet. sus alles wandel von dir brin, truw, ere, minn! so stet din nam in wirdikeit mit lobe rich gedachet.« In einem Minnegedicht (Nr. 394) schließlich vergleicht er sein liebendes Herz mit dem Vogel. Die Geliebte wird, wie Maria in der bekannten Deutung, mit dem Feuer gleichgesetzt, aus dem der Phönix neu ersteht. Das Gedicht beginnt mit den Versen: »Sich jungt in diner glut min herze sam der fenix tut, in flammen frut der sich erquicket, in des himels touwe.« Neben diesen Gedichten gibt es in der deutschsprachigen Literatur mehrere Texte, in denen der Phönix entsprechend der Physiologustradition als Christussymbol verstanden und auf die Auferstehung gedeutet wird. 28 Im ausgehenden Mittelalter verfaßte Hans Sachs ein längeres Gedicht, dem er den Titel gab »Der eynig vogel fenix« und in dem er die einzelnen Elemente der Phönixgeschichte Punkt für Punkt allegorisch auf Tod und Auferstehung Christi deutet. Der Auslegungsteil lautet: 29 »Christus, der hymlisch fenix reyn, Hat auch auff erd gewont allein Ein könig aller königreych. Kein creatur im ward geleich. Ein adler starck, er uberwand Hell, teuffel, sünd und todtes band. Sein gotheyt ist die guldin farb, Sein verdienst, das uns hayl erwarb. Das purpur-kleyd het er auch on, Auff seinem haupt ein dörne kron. Das blut über sein leib ab-floß. Selbs trug er auch sein creutze groß Auß rechter lieb inbrünstigklich 28 Vgl. Schmidtke (Fn. 26), S. 377 - 379; Reinitzer (Fn. 7), S. 23 f. 29 Vgl. Sachs, Hans: Werke. Bd. 1. Hrsg. von Adelbert von Keller. Tübingen 1870 (Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart, Bd. 102), S. 324 f. 476 Romy Günthart Und opffert darauff willig sich, Starb also auff deß creutzes stam. Als man ihn tödlich herab nam, Begrub man ihn ehrlichen frey Mit wol-riechender specerey. Also der hymlisch fenix lag Im grab biß an den dritten tag, Alda er wider lebend wurt Durch sein geystlich himlisch geburt. Darinn er lebet ewigkleich In seinem hymelischen reich, Alda wir Christen alle samen Ihn ewig sehen werden. Amen.« Neben den Erwähnungen des Phönix in der Lyrik ist auch in verschiedenen epischen Texten des Mittelalters in unterschiedlichen Kontexten von diesem wunderbaren Vogel die Rede. 30 In der mittelalterlichen Fabeldichtung tritt der Phönix zweimal als Akteur in Erscheinung. Beide Texte gehören zum Korpus der sogenannten cyrillischen Fabeln, einer außerhalb der Äsoptradition stehenden Sammlung von 95 Texten. Den einzelnen Fabeln des Speculum sapientiae steht jeweils eine Titelsentenz voran, deren Gültigkeit im erzählerischen Teil dargelegt wird. Im Gegensatz zu den sogenannten äsopischen Fabeln entstammen viele der Eigenschaften, welche den handelnden Figuren eigen sind, dem naturkundlichen Wissen, das die zeitgenössischen Enzyklopädien tradieren. 31 Die beiden Fabeln, die einen Phönix zum Protagonisten haben, stehen im dritten und vierten Teil der Sammlung, die sich gegen den Geiz (Teil III) und die Unkeuschheit (Teil IV) richten. Die Fabel III, 25 trägt den Titel: Ein frygebiger gibt mit freüden / das wirt in diser fabel von dem Adler und Phönix angezeigt . Auf die Frage des Adlers nach den Gründen seiner Selbstverbrennung, nennt der Phönix seine Großzügigkeit, die Tugend der Freigebigkeit (liberalitas), als wichtigstes Motiv. In der Fabel IV, 8 Phönix und Natter, einer Fabel zum Lobe der Keuschheit, erklärt der Vogel der fragenden Natter, warum er geschlechtslos und der einzige seiner Gattung sei. In der Übersetzung Sebastian Münsters heißt es: 32 »Uff das antwuortet der Fenix / dem nit unwissend was / waß unlust in unküscheit ist / also sprechende. Du solt wissen / das ich nit halt / das die natur / die alle ding so wol versehen hat / gegen mir gytig oder unfürsichtig sey gewesen. Dann die gantze welt ist mir ein suesse geselschafft / wohin ich fliege / so find ich creaturen / die mir innigliche vereynigt sind. [...] Warumb vereynigen sich anderst menlin und wyblin mit freüden / dann das uß zweyen glych etwas eyntzig wirdt? O wie sueß unnd anmuetig ist die unzertrenlich einikeit / ein nachfolgerin der unabscheydlicher tugent. Darumb sichstu / diewyl ich allein bin in myner art / wird ich den hymmelischen verglichen [...] Jch gebire mich mit dem luteren füer / on zerteylung oder befleckung / so ich alt verdrossen wird / und erstand wider uff new.« Der Phönix dieser Fabel ist nicht nur allgemein moraltheologisch und philosophisch ge- 30 Vgl. die Stellennachweise bei Henkel (Fn. 8), S. 202 f.; Schmidtke (Fn. 26), S. 377 - 380. 31 Zum »Speculum sapientiae« vgl. Günthart, Romy: Sebastian Münster: Spiegel der wyßheit, Bd. 1: Einleitung und Edition. München 1996, S. 9 - 21. 32 Münster, Sebastian: Spiegel der wyßheit, Band 1: Einleitung und Edition. Hrsg. von Romy Günthart, München 1996, S. 144 - 146. Der Phönix: Vom Christussymbol zum Firmenlogo 477 schult, sondern er weiß um seine eigene Bildfunktion und argumentiert selbst mit seinem Vergleichscharakter. Auch in dieser Fabel fällt ihm die positive Rolle zu. Die Darstellungen des Phönix in der bildenden Kunst orientieren sich an den »naturwissenschaftlichen« Beschreibungen. Entsprechend seiner Deutung im Physiologus und bei den Kirchenvätern, steht er auch in der christlichen Ikonographie als Symbol Christi, seines Todes und seiner Auferstehung, der Auferstehung der Toten und des ewigen Lebens, als Symbol bzw. Attribut der Tugenden Keuschheit (castitas) und Standhaftigkeit (constantia); erscheint in Darstellungen des Paradieses, der Übergabe »Traditio legis« (Gesetzesübergabe an Paulus) und der Himmelfahrt Christi. In Illustrationen zum Defensorium wird der Phönix auf die Jungfräulichkeit Mariens gedeutet. 33 Im 16. und 17. Jahrhundert erhält er neben den genannten Bildfunktionen auch eine religiös-politische Symbolik (Abb.3). So ist auf einem Flugblatt aus dem Jahre 1631, das einen allegorischen Triumphzug Gustav Adolfs darstellt, über dem Triumphwagen ein Phönix abgebildet mit der Inschrift »Salvs Ecclesiae« (Heil der Kirche), dessen Funktion es ist, den Schwedenkönig als gottgesandten Friedensbringer auszuzeichnen. 34 Auf einem anderen Flugblatt, das den aufgebahrten Gustav Adolf zeigt, ist ebenfalls ein Phönix zu sehen. Dieser soll eine Analogie herstellen zwischen dem Weiterleben im Sinne der Auferstehung und dem Weiterwirken der Taten des Königs. 35 Immer wieder wird der Phönix auch an profanen Bauten angebracht, wobei es vor allem die Eigenschaft des Vogels ist, einzigartig zu sein, die sich zum Vergleich mit den Machthabenden anbietet. Seine Verbindung zur Sonne und zum Feuer machen den Phönix auch zu einem Attribut des Elementes Feuer. Als solches wird er gelegentlich in Abbildungen gezeigt, welche die vier Elemente darstellen. 36 In der Alchimie kann die Quintessenz des Feuers und sogar der Stein der Weisen »Phoenix« genannt werden. Von der Alchimie fand er dann auch Eingang in die Symbolik der Rosenkreuzer und Freimaurer. Trotz dieses erweiterten Interpretationskontextes bleiben die Phönixdarstellungen im profanen Bereich begrenzt. Die meisten künstlerischen Ausgestaltungen im Barock sind in geistlichen Zusammenhängen zu finden. Wie in den Jahrhunderten vorher steht der Phönix im 16., 17. und frühen 18. Jahrhundert primär als Symbol für Christus und Maria. Daneben ist er »Sinnbild einer nützlichen Widerwärtigkeit, einer heilsamen, obgleich strengen Zucht eines keuschen Wittwenstandes, eines freudigen Sterbens, heiliger Andacht, unsterblicher Tugend, und selbst der Aufferstehung« 37 , wie es im Phönixartikel von Johann Heinrich Zedlers Universal-Lexicon von 1741 heißt. Entsprechend der künstlerischen Verbreitung ist der Phönix ein ausgesprochen häufiges Motiv der barocken Emblematik. Nach einem knappen Titel (inscriptio) stellt der Bildteil (pictura) meistens den Vogel in seinem brennenden Nest dar. Dieses Bild wird 33 Vgl. Kramer (Fn. 3). 34 Harms, Wolfgang (Hrsg.): Deutsche illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts. Kommentierte Ausgabe. Band 4: Die Sammlung der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek in Darmstadt. Tübingen 1987, S. 226 f. [Illustration IV, 176]. 35 Vgl. Harms (Fn. 34), S. 291 [Illustration IV, 226]. 36 Vgl. Frey, Gerhard; Beer, Ellen J.: Art. Elemente. In: Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte 4 (1958), Sp. 1256 - 1288, hier Sp. 1280. 37 Zedler, Johann Heinrich: Grosses Universal-Lexicon Aller Wissenschaften und Künste, welche bishero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden worden. Leipzig, Halle 1741 (Nachdruck Graz 1996), Sp. 2184. 478 Romy Günthart dann im Auslegungsteil (subscriptio) auf seinen allegorischen oder verborgenen Sinn hin gedeutet. 38 Nur ganz selten wird die pictura mit dem sich selbst verbrennenden Vogel negativ ausgelegt, wie in den Sacra Emblemata des Johann Mannich, wo es in der subscriptio mit Bezug auf den Phönix heißt: 39 »Der Vogel Phoenix der hie sitzt/ Der lehrt vns was das neiden nützt: Denn wie der Vogel sich selbst tödt/ Also es mit dem Neid ergeht: Eyter der Neid in Beinen ist/ Vnd frisst sein Fleisch zu jeder frist.« Auch in diesem Emblem ist es das Laster des Neides (invidia), das durch den Flammentod des Vogels symbolisiert wird. Da die Emblembücher häufig als Vorlagen für die Ausgestaltung sakraler Bauten des 17. und 18. Jahrhunderts dienten, überrascht es nicht, daß der Phönix auch in barocken Kirchen und Klöstern immer wieder anzutreffen ist. 40 Wie bereits erwähnt, wurde er auch auf Flugblättern abgebildet. Ganz ähnlich dem Gedicht von Hans Sachs Der eynig vogel fenix werden beispielsweise in einem Flugblatt geistlichen Inhalts von 1612 die einzelnen Eigenschaften des Vogels auf Christus, den himmlischen Phönix, hin ausgelegt. 41 Auch in der emblematischen Predigt des Barock kommt der Phönix gelegentlich zur Sprache. So predigt der Kapuziner Prokop von Templin über Luk. 19, 5 »Der Herr Jesus schauete auff / und sahe den Zachaeum« unter dem Titel »Zachaeus und der Herr JESUS Christ / jener dem Phoenix / dieser der Sonnen zu vergleichen ist.« 42 Nachdem Prokop den wunderbaren Vogel in bekannter Weise vorgestellt hat, deutet er über mehrere Seiten die einzelnen Eigenschaften auf den Zöllner Zachäus und seine Begegnung mit Christus aus: »[...] ein Phoenix / das ist / eine seltzame raritet, Zachaeus ein Obrister/ das Haupt der Publicanen«. Im Gegensatz zum Phönix braucht sich Zachäus aber keinen Holzhaufen zu machen, da die göttliche Vorsehung einen Baum auf das Feld gestellt hat. Auf diesen kletterte er »vnnd erwartete der Ankunfft der seligmachenden Sonnen der Gerechtigkeit / unseren HErren vnnd Heyland JEsum Christum«. Dieser »würckete dermassen mit seinen Göttlichen Gnaden=Strahlen an ihm / daß er innerlich anfienge in Liebe gegen JESUM zum brennen / darauff den weiter erfolgete / daß der in Sünden eraltete Publican ersturbe / zu Aschen / ja gar zu nichten wurde / hergegen auß derselben Aschen mittels der Rew vnd Buß / welche sich gemeinlich in Ascherfarb zu bekleiden pflegt 38 Vgl. Henkel, Arthur; Schöne, Albrecht (Hrsg.): Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Stuttgart 1967, Sp. 794 - 797; Picinello, Philippo: Mundus Symbolicus. Köln 1681. Index rerum notabilium, abgedruckt in: Henkel; Schöne (Fn. 38), Sp. 2173 f., wo mehr als 30 Hinweise auf die Bedeutungsebene des Phönix verwemerkt werden. 39 Mannich, Johann: Sacra Emblemata. Nürnberg 1624, S. 75, zit. in: Henkel; Schöne (Fn. 38), Sp. 797. 40 Zur Verbreitung des Motivs im süddeutschen Raum vgl. Kemp, Cornelia: Angewandte Emblematik in süddeutschen Barockkirchen. München 1981 (Kunstwissenschaftliche Studien, Bd. 53). 41 Harms, Wolfgang (Hrsg.): Deutsche illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts. Kommentierte Ausgabe. Band 1: Die Sammlung der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel. Tübingen 1985, S. 493 [Illustration I, 239]. 42 Vgl. Prokop von Templin: Encaeniale. Das ist: Hundert Kirch-Tag-Predigen. Salzburg 1671. Photomechanischer Nachdruck. Hrsg. von Dieter Bitterli. Amsterdam, Maarssen 1990 (Geistliche Literatur der Barockzeit, Bd. 13 - 14), Band 1. S. 23 - 34. Der Phönix: Vom Christussymbol zum Firmenlogo 479 / ein demühtiges Würmel entsprosse [...] auß diesem demüthigen Würmelein ein ander neuer / auß einem sündigen ein Frommer / auß einem Ungerechten ein Gerechter erwachsen«. 43 Der Auslegung voran stellt Prokop eine kurze Reflexion über den Wahrheitsgehalt der Phönixgeschichte: »denn weil nur ein einiger Phoenix in der Welt seyn soll / daran man eben so wohl sehr zweiffelt / wer ist jehmals darbey gewesen / der demselben einigen zugeschauet hat wie er sich verbrennet / vnnd wie auß seinem Aschen das Würmel / auß dem Würmel aber ein neuer Vogel wird? « 44 Er fährt dann aber fort, daß es für ihn unwichtig sei, ob die Geschichte wahr oder erfunden sei, da er in der folgenden Predigt eine höhere Wahrheit verkünden wird. Nachdem Prokop von Templin die Geschichte vom Zöllner Zachäus erzählt und ausgelegt hat, meint er: »ist also dise Phoenix=Histori viel besser an disem Mann verificirt, vnd wahr worden / als an jenem Vogel«. 45 Zweifel an der realen Existenz des Vogels wurden schon in der Antike geäußert und auch in späteren Zeiten immer wieder formuliert. 46 So schreibt Gregor der Große in der Anmerkung zur Übersetzung des hebräischen »h . ôl« in Hiob 29, 18: »Aliis placet eo loci mentionem injectam phoenicis avis famosissimae, sed fabulosissimae.« 47 Albertus Ma- 43 Prokop von Templin (Fn. 42), S. 24 f. 44 Prokop von Templin (Fn. 42), S. 24. 45 Prokop von Templin (Fn. 42), S. 25. 46 Vgl. Reinitzer (Fn. 7), S. 34 - 42. 47 (»Andere bevorzugen an dieser Stelle den Phoenix einzusetzten, den hochberühmten aber fabelhaften Vogel.«) Gregor der Große (Fn. 4). Abb. 3: Flugblatt 480 Romy Günthart gnus leitet seine Darstellung des Vogels ein mit den Worten: »Fenicem avem esse Arabiae in Orientis partibus scribunt, hii qui magis theologyca mistica, quam naturalia perscrutantur.« 48 In den naturgeschichtlichen und enzyklopädischen Werken wird der Phönix bis ins 16. Jahrhundert unter Berufung auf die Autoritäten als reale Kreatur beschrieben (Abb. 2). So kommt Sebastian Münster in seiner überaus erfolgreichen Cosmographei im Kapitel »Von dem edlen Arabia« auf den Vogel zu sprechen: »Es schreiben auch die Alten / daß in disem land gefunden wirt der vogel Fenix«. 49 Conrad Gesner widmet in seiner Naturgeschichte dem Phönix wie allen anderen Vögeln ein ausführliches Kapitel. Zur Frage nach der realen Existenz bezieht er nicht Stellung, sondern beschränkt sich auf Zitate der Autoritäten. Auch in den ersten deutschen Übertragungen des Vogelbuches wird zur Faktizität des Vogels nichts vermerkt. Erst in der Frankfurter Ausgabe von 1669 findet sich im Anschluß an das Phönixkapitel der Zusatz: »Laurembergius in Acerra Philol.cent.2hist.37. sagt unter andern: Jch lasse mich beduencken / es seye niemahls ein rechter Vogel gewesen / sey auch noch nicht deß Nahmens Gestalt und Werck / sondern es seyen literae hieroglyphicae, das ist / eine heimliche verborgene Deutung unter dieser Fabel / nemlich dieser Vogel Phoenix ist ein Bildnueß der gantzen Welt. Der gueldene Kopff bedeutet den Himmel mit seinen Sternen; der bunte Leib den Erdboden; die blaue Brust / und Schwantz / das Wasser und Lufft; Dieser Phoenix aber / oder die Welt / bestehe so lang / biß der Himmel und die Sterne wieder zu stehen kommen / an den Orth / da sie zur zeit der Erschaffung der Welt gstanden. Wann das geschicht / so seye der Phoenix todt; und habe die alte Welt ihren Lauff verbracht / und gehe alles wiederumb von neuem an.« Die Frage nach der realen Existenz des Vogels wurde zwar auch im 17. und frühen 18. Jahrhundert noch mehrfach diskutiert, doch war sie im wesentlichen schon längst entschieden. Der Phönix war zum Sinnbild geworden. 50 Als solches hatte er aber durchaus eine reale Existenz im Sinne einer höheren, christlichen Wahrheit. In einem Emblem, das den zur Sonne emporsteigenden Vogel zeigt, beantwortet Barthélemy Aneau die Frage, ob man die Wundergeschichte von Tod und Auferstehung des Vogels glauben soll: 51 »CREDIMUS. Et certe est volucris sub imagine, viuens Aeternum Phoenix vnicus ipse Deus. A se principium capiens resolutus et in se. Semper et exoriens luminis igne sui.« Was Barthélemy Aneau hier formuliert, gilt allgemein für das christliche Denken, in dem der wunderbare Vogel nicht nur signifikative Kraft für die christliche Wahrheit erhält, »sondern zugleich einen Wirklichkeitsstatus, der den poetisch-metaphorischen weit übersteigt und identisch ist mit dem, den eine an Tatsachen sich kontrollierende Vernunft formuliert.« 52 48 (»Diejenigen, die mehr die mystische Theologie als die Naturkunde erforschen, schreiben, daß der Phoenix ein Vogel Arabiens, einem Teil des Orients, sei.«) Albertus Magnus: De Animalibus XXIII. Cap. 24, 41. Zit. in: Reinitzer (Fn. 7), S. 35. 49 Münster, Sebastian: Cosmographei. Basel 1550, S. 1123. 50 Zu den Argumenten die gegen den Glauben an die Existenz des Phönix vorgebracht wurden vgl. Reinitzer (Fn. 7), S. 42 f. 51 (»Wir glauben es. Denn sicherlich ist dieser ewig lebende Vogel unter dem Bilde eines Vogels der alleinzige Gott selbst: Von sich selbst nimmt er den Ursprung und löst sich auf in sich selbst und entsteht immer neu im Feuer seines Lichtes.«) Anulus, Bartolomaeus (Barthélemy Aneau): Picta poesis. Lyon 1552, S. 93. In: Henkel; Schöne (Fn. 38), Sp. 795. Der Phönix: Vom Christussymbol zum Firmenlogo 481 Wenn aber die Gegenstände nicht mehr Schriftzeichen Gottes und Träger von Bedeutungen einer übergeordneten Wahrheit sind, verändert sich auch die Wahrnehmung und Beschreibung der Wirklichkeit. Die spirituell deutbare Natur, die in analoge Verweisungssysteme geordnet ist, wird von der Wirklichkeit des physikalischen Weltbildes verdrängt. Für den Phönix bedeutet das, daß er seinen Realitätsanspruch in der gegenständlichen Welt verliert. Doch auch wenn er spätestens seit dem 18. Jahrhundert von den Naturwissenschaftlern zu den Fabelwesen gezählt wird, geriet er keineswegs in Vergessenheit. Der Mythos lebte weiter, und der Vogel erfreut sich nach wie vor großer Beliebtheit. Sein hauptsächlicher Lebensraum verschob sich allerdings seit dem 18. Jahrhundert von der christlichen Symbolik immer stärker in profane Bereiche. In religiös-politischer Funktion findet er Aufnahme in heraldische Bildprogramme. Elisabeth I. von England brauchte ihn ebenso wie Maria Stuart als persönliche Bilddevise. Er ist Sinnbild des fürstlichen Hauses Hohenlohe. Unter ihrem Wappen wurde häufig der auf den Phönix bezogene Wahlspruch angebracht: »Ex flammis orior« (Ich steige aus den Flammen empor). Abgeleitet vom Helmkleinod dieses Hauses wurde der Phönix auch Symbol des 1757 von Fürst Philipp Ernst I. zu Hohenlohe-Waldenburg-Schillingsfürst gestifteten Phönixordens. 53 Um 1600 benutzte der Weihbischof Jakob Johann Mirgel einen Phönix als Exlibris. Als Wappenbild erscheint er in der modernen Heraldik 1932 und 1973 in den Wappen der Republik Griechenland, im Wappen des ehemaligen Kaiserreichs Haiti, der englischen Stadt Cirencester, von Buenos Aires, Mailand, Potosí (Bolivien) und mehrerer Städte in den Vereinigten Staaten von Amerika. Die größte Stadt der USA, die den Vogel im Wappen trägt und auch nach ihm benannt wurde, ist Phoenix, die Hauptstadt des Bundesstaates Arizona. Auf ihrer aktuellen Homepage wird auf die Namenwahl Bezug genommen: Demnach habe die 1868 gegründete Siedlung wie alle neuen Ortschaften einen Namen gebraucht. Der Engländer Darell Duppa, ein Bewohner des Ortes, schlug den Namen »Phoenix« vor. Mit dieser Bezeichnung sollte die Zuversicht zum Ausdruck gebracht werden, daß die neue Stadt »phönixgleich« aus den Ruinen des alten Pueblo Grande erstehen würde. Die indianische Siedlung Hohokam, die früher an diesem Ort war, wurde vermutlich im 15. Jahrhundert durch eine langanhaltende Dürre zerstört. 54 Neben Phoenix (Arizona) tragen noch sechs weitere Städte der USA den Namen des sagenhaften Vogels: Phenix (Alabama), Phoenix (Illinois), Phoenix (Louisiana), Phoenix (Mississippi), Phoenix (New York) und Phoenix (Oregon). Daneben gibt es in Pennsylvania ein Phoenixville und zahlreiche kleinere Ortschaften, die ebenfalls Phoenix heissen. Auf der Homepage von Phenix (Alabama) wird ebenfalls der Bezug zum mythischen Vogel hergestellt. Es heißt da: »Although our spelling may be slightly different our city symbol is the legendary phoenix bird and this is especially appropriate because of the difficulties we encountered during the 1940s and 1950s. At the same time it recognizes the rebirth we have experienced as we have sought to provide a friendly, family oriented, community for our children and generations to come.« 55 Warum die Stadt bei ihrer Gründung so genannt wurde, ist damit zwar nicht gesagt, es 52 Reinitzer (Fn. 7), S. 28. 53 Vgl. Oswald, Gert: Lexikon der Heraldik. Mannheim 1984, S. 308 f. 54 Vgl. »History of Phoenix« unter http: / / www.ci.phoenix.az.us/ citygov/ histbidx.html. 55 http: / / www.viper.net/ clients/ phenix/ history2. html 482 Romy Günthart wird aber zum Ausdruck gebracht, daß die Bezeichnung als angemessen empfunden wird. Auch außerhalb der USA gibt es mehrere Städte, die den Namen des mythischen Vogels tragen. Dabei fällt auf, daß die Phoenix-Städte allesamt in Staaten liegen, die zu den ehemaligen europäischen Kolonialreichen gehören. Es gibt in Zimbabwe ein Phoenix, zwei in Jamaica, zwei in Guyana, zwei auf Mauritius und fünf in Südafrika. Das frühere Phoenix Island, das zu Kiribati gehört, heißt inzwischen wieder Rawaki. Die weißen Kolonialisten waren offenbar der Ansicht, daß es passend sei, eroberte, besetzte, zerstörte und wiederaufgebaute oder von ihnen gegründete Orte nach dem sich erneuernden Vogel zu benennen. Der Phönix diente aber nicht nur als Namensgeber für Städte, er wurde auch seit dem 18. Jahrhundert für immer zahlreichere Firmen und Produkte verwendet. So wählten die Gründer einer englischen Versicherungsgesellschaft im Jahre 1782 den Namen Phoenix für ihre Firma. Auch auf den Plaketten der Feuerversicherung wurde der Vogel abgebildet (Abb. 4). In einer Werbebroschüre der »Sun Alliance«, zu der die Phoenix Assurance heute gehört, wird diese Entscheidung begründet: »The legend of the Phoenix rising from the ashes was an obvious and apt choice for the firemarks of Phoenix Assurance which were issued following the foundation of the company in 1782.« Auch zahlreiche andere Versicherungen wählten den Phönix als Namensgeber oder verwendeten ihn als Logo oder Teil ihres Logos. So wird unter anderem die Figur der Helvetia, Namensgeberin einer schweizerischen Feuerversicherungsgesellschaft, in Abbildungen des 19. Jahrhunderts von einem Phönix flankiert. Die Elemente Feuer und Erneuerung des Mythos legen eine Verbindung des Vogels mit den Feuerversicherungsgesellschaften nahe. Aus dem Mythos erklärbar ist auch die Wahl der Bezeichnung »Superphénix« für den Schnellen Brüter, mit dem Frankreich gehofft hatte, ein nukleares »Perpetuum mobile« zu bauen. Eine gewisse Anlehnung an den sagenhaften Vogel lassen sich auch bei Zeitschriften (regelmäßige Wiederkehr), kosmetischen und pharmazeutischen Produkten (Erneuerung), Gummi- und Kunststoffartikeln (Feuer) und dem Energiegetränk (Erneuerung) mit Namen »Phoenix« erkennen. Ein Computerspiel namens »Phoenix« erklärt in der Spielanleitung: »Like the mythical bird of long life that perished in fire only to rise again from the ashes, these birds don’t stay dead long. Phoenix pits your small ship with a limited use shield against flocks of these seemingly immortal birds«. 56 Abb. 4: Feuerversicherungsplakette Der Phönix: Vom Christussymbol zum Firmenlogo 483 Bei zahlreichen anderen Produkten ist der Bezug zum Mythos nur schwer oder gar nicht zu erkennen. Warum heißt eine Fahrradmarke Phoenix, ein Transportunternehmen, eine Nähmaschinenmarke oder ein Vinylhandschuh? Auch Treuhand und Verwaltung, Buchhandlungen und private Sicherheitsfirmen haben auf den ersten Blick kaum etwas mit der bekannten Geschichte zu tun. Es gibt Cafés, Hotels und Boutiquen, die nach dem mythischen Vogel benannt sind, das Linzer Theater »Phönix«, die Oper »La Fenice« in Venedig und das »Phoenix Theatre New York«, Verlage und Computerprogramme, Fußballmannschaften und Schulen und vieles andere mehr (Abb. 5). In den letzten Jahrzehnten sind die Firmen, Produkte und Projekte, die irgendwie mit dem Namen Phönix verbunden sind, fast unüberschaubar geworden. Eine Internetsuche im Februar 1997 ergab rund 400 000 Einträge unter dem Stichwort »Phoenix«, 20 000 unter »Phenix«, 8000 unter »Fenix« und 5000 unter »Fenice«. In einem Artikel in der Wochenzeitung Die ZEIT über die Verteilung von Internet-Adressen wird als Beispiel für einen besonders problematischen Fall der Firmenname »Phoenix« genannt. 57 In einer Zeit, in der Jugendlichkeit und Dynamik zu einem wichtigen Credo der Wirtschaft und Gesellschaft geworden sind, scheint der Phönix das richtige Image zu gewährleisten. Sein klingender Name ist kurz, einprägsam und verheißt in der englischen Schreibweise (Phoenix) Internationalität. Seine Erstehung und Verjüngung sind gefragte Eigenschaften. Wie in den Jahrhunderten vorher ist der Phönix auch heute noch wie kaum ein anderes Tier ein positiver Bedeutungsträger, und so scheint es, daß sein Weiterleben auch für das nächste Jahrtausend gesichert ist. 56 http: / / www.ipass.net/ ~kestep/ phoenix.htm 57 Vgl. Gröndahl, Boris: Verteilungskampf im Namenraum. In: Die ZEIT, Nr. 6 vom 31. Januar 1997, S. 82. Abb. 5: Getränkeetikette Satan, Teufel, Antichrist Werner Wunderlich (St. Gallen) Der Teufel als Erscheinungsform des Bösen und Widersacher des guten Schöpfungsgottes ist als dämonologischer Typus nicht nur in christlicher Tradition lebendig und allgegenwärtig, sondern in archaischen und antiken Kulturen ebenso zu Hause wie im Islam und in östlichen Religionen. Als Personifizierung des Urbösen und Inkarnation des Negativen hat dieses Phantasma in den Mythen der verschiedendsten Zeitalter sowie in der volkstümlichen Erzähltradition, der Literatur, Kunst und Musik der unterschiedlichsten Gesellschaften Ausdruck gefunden. Unsere Gegenwart, die eine Aktualität des Okkulten und Irrationalen erlebt, kennt ein neues Interesse am »Teuflischen«, das sich in Büchern und Filmen niederschlägt, aber auch eine neue Lust am »Teuflischen«, die sich in Sekten und Ritualen auslebt und irdische Feinde und Widersacher in Ausgeburten der Hölle verwandelt. Damit nimmt der Teufel nicht nur als Fantasiegestalt, die auch sympathische Züge haben kann, seinen Platz in der Geschichte ein, sondern er wird auch zum Instrument selbstgerechter Moral, zum Medium ideologischer Macht und zum Rechtfertiger brachialer Gewalt gegenüber Andersdenkenden und Minderheiten. Katholische Inquisition, stalinistischer Terror, nazistischer Holocaust - Teufelsaustreibungen, die Millionen von Menschenleben kosteten. Der Teufel (von griech. διαβολος im Sinne von »Verleumder« oder »Verwirrer«) geht als die Personifikation der widergöttlichen Macht im christlichen Bereich auf den Satan des Alten Testaments zurück, wo er zunächst der Gegner im Krieg und vor Gericht, dann der Ankläger vor Gott, der Zweifler und Opponent Gottes, schließlich der Versucher und Verführer ist. Erst in den Apokryphen wurde Satan ganz zum Feind Gottes und zum Teufel schlechthin. Daher wird Satan dann im Neuen Testament synonym zu Teufel gebraucht, den die christliche Ikonographie auch als Schlange (der Maria den Kopf zertritt) und als Drachen (der vom Erzengel Michael besiegt wird) darstellt. Da Jes. 14,12 einen in die Unterwelt gestürzten Engel erwähnt, der als »Sohn der Morgenröte« (in der römischen Mythologie, Lucifer, d.h. Lichtbringer, der Sohn der Aurora) bezeichnet wird, und da Luk. 10,18 diesen Engelfall mit Satan verbindet, kam es zu einer Gleichsetzung Luzifers mit dem biblischen Satan. Vor allem in der Zeit der Hexenverfolgungen wird der Teufel auch Beelzebub (nach Mt. 12, 24 der Herr der Dämonen) genannt, weil sich mit diesem Namen die Vorstellung der teuflischen Bocksgestalt verbindet. Für die geschichtliche Entwicklung der Teufelsgestalt in der christlichen Dämonologie war die neuplatonische Kosmologie ausschlaggebend: Dämonen besitzen einen luftartigen Leib und können deshalb in fremde Körper eindringen und von Geist und Seele der betreffenden Personen Besitz ergreifen. Als Abwehrmittel hilft Exorzismus, der von der katholischen Kirche noch heute vollzogen wird. Vor allem der Teufel der Volkssage, der Schwankliteratur und des Brauchtums tritt in menschlicher oder auch tierischer Gestalt auf. Nach mittelalterlicher Vorstellung erscheint der Teufel leibhaftig als Kröte, Fisch, Drache, Katze, Hund, Wolf, Schwein oder Ochse. Als furchterregender Soldat, Jäger oder Schwarzer Mann und sogar als schönes Mädchen tritt der Teufel auf. Hildegard von Bingen beschreibt ihn als kohlschwarzes Untier, mit glühenden Augen und Eselsohren, mit aufgerissenem Rachen voller Eisenfänge. Unter mancherlei Namen wie Belial oder Mephistopheles hat er sich zu einer ganzen Ansammlung von Teufeln vervielfältigt. Er 486 Werner Wunderlich wird er angerufen und zum Vertragspartner von Menschen, die durch eine Wette, ein Bündnis oder einen Pakt mit dem Teufel für eine begrenzte Zeit übernatürliche Fähigkeiten erwerben und dafür ihre Seele geben. Für die Entstehung des Teufelskults spielt auch die Vorstellung vom Inkubus, vom Teufel, der mit einer Hexe Geschlechtsverkehr hat, eine wichtige Rolle. Der Zauberer Merlin beispielsweise ist der Sproß einer derartigen Verbindung. Unzählige sprichwörtliche Redensarten bezeugen heute noch Aberglauben und Furcht, aber auch Versuchung und Bannung, die Menschen gegenüber dem Teufel empfinden und bewältigen wollen. Die Vorstellung vom Dämonischen hat auch noch in einem anderen christlichen Mythos machtvoll Gestalt angenommen: im Antichrist. Ausgehend von der neutestamentlichen Apokalypse rief dieser Mythos Furcht und Angst ganzer Zeitalter vor dem Weltenende und globalen Katastrophen hervor. Der Antichrist wird als der Teufel selbst oder als dessen Sohn dargestellt, der, erfüllt vom Bösen, sich gegen den Heiland wendet. Er kündet den Weltuntergang an und wird am Jüngsten Tage von Christus endgültig besiegt. Die Komplexität des Themas und die Vielfältigkeit seiner Aspekte rechtfertigen drei Beiträge zum Mythos des Satans, des Teufels und des Antichrists. Francis G. Gentry befaßt sich mit Teufelskult und Teufelsgestalt in der amerikanischen Gegenwartskultur und mit der biblischen Tradition. Günther Mahal stellt die Ursprünge, Verbreitung und Überlieferung der Teufelsgestalt vornehmlich in der deutschen Literatur dar. Barbara Könneker schreibt über die literarische Tradition des Antichrists in Mittelalter und Früher Neuzeit. Werner Wunderlich Bibliographische Hinweise Gloger, Bruno; Zöllner, Walter: Teufelsglaube und Hexenwahn. Wien, Köln, Graz 1984. Daxelmüller, Christoph: Art. ›Exorzismus‹. In: Enzyklopädie des Märchens. Bd. 4. Berlin; New York 1982 - 84, Sp. 664 - 674. Frick, Karl R.H.: Das Reich Satans. Luzifer, Satan, Teufel und die Mond- und Liebesgöttinnen. Graz 1982. Messadié, Gerald: Teufel, Satan, Luzifer. Universalgeschichte des Bösen. Frankfurt a.M. 1995. Nola, Alfonso di: Der Teufel. Wesen, Wirkung, Geschichte. München 1990. Osterkamp, Ernst: Lucifer. Sationen eines Motivs. Berlin, New York 1979. Petzoldt, Leander: Art. ›Teufel‹. In: Ders.: Kleines Lexikon der Dämonen und Elementargeister. München 1990 , S. 158 - 160. Röhrich, Lutz: Das große Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, Bd. 3. Freiburg, Basel, Wien 1992, S. 1608 - 1621. Scherf, Dagmar: Der Teufel und das Weib. Eine kulturgeschichtliche Spurensuche. Frankfurt a. M. 1990 Der Teufel in der amerikanischen Kultur und in der biblischen Tradition Francis G. Gentry (State College) Heutzutage glauben immer noch viele Menschen an den Teufel, aber wenige fürchten sich vor ihm. Das hat natürlich im höchsten Grade mit unserer zunehmend säkularisierten Gesellschaft zu tun. Ein Prozeß, wohlgemerkt, der seit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts im Gange ist. Freilich, selbst wenn der Teufel nicht mehr gefürchtet wird, ist er trotzdem, wie seit eh’ und je, ein fester Bestandteil der »Unterhaltungsindustrie« ist, besonders in den Vereinigten Staaten. 1 Zwar gibt es eine Fülle von Musik- oder Theaterstücken mit dem Teufel als Hauptcharakter (man denke nur an die Flut von Bühnenwerken, die Faust und Mephistopheles auftreten lassen). In erster Linie aber ist die Leinwand das Metier, wo der Satan bzw. der Teufel und seine »Helfer« am meisten vertreten sind. Die Zahl sowohl von anspruchsvolleren Horror- und Fantasyfilmen oder auch Comedies wie The Devil and Daniel Webster (1941), Night of the Demon (1957), Rosemary’s Baby (1968), The Exorcist (1973), Carrie (1976), Damien-Omen II (1978), Invitation to Hell (1984), Angel Heart (1987), The Witches of Eastwick (1987), She-Devil (1989) wie auch von völlig anspruchslosen, z.T. aber auch beim Publikum sehr beliebten Versuchen wie Satanic Rites of Dracula (1973), Satan’s Mistress (1981), Buffy the Vampire Slayer (1992) oder dem klassischen Pornofilm The Devil in Miss Jones (1973) zeugen von dem geradezu teuflischen Appetit der Amerikaner auf Darstellungen der Schattenseite des Daseins. 2 Dieser Exkurs über einen Aspekt populärer Kultur in den Vereinigten Staaten würde schon eine äußerst interessante Studie für sich ergeben, aber ihn hier an dieser Stelle weiter zu verfolgen, würde dem Zweck des vorliegenden Essays kaum dienen. Es zeigt aber klar, daß Satan viele Gesichter hat und daß seine Anziehungskraft im Laufe der Zeit wenig eingebüßt hat. Es ist bemerkenswert, daß jede Kultur ihn kennt oder gekannt hat und damit, daß es das Böse auf der Welt gibt und ferner, daß sehr oft - scheinbar willkürlich - guten Menschen unerklärliches Unglück zustößt. So ist es nicht Zufall, daß in fast jeder Mythologie ein Wesen erscheint, das immer wieder versucht, den Menschen Schaden zuzufügen, manchmal ernsthaften, oder manchmal auch nur listigen, streichartigen. Die Erfindung Satans bzw. des Teufels stellt den Versuch einer Gesellschaft dar, sich das Vorhandensein des Bösen in der Welt zu erklären, in einer Welt, die doch von einem Schöpfer 1 Zum Thema »Satan in/ und Amerika« vgl. Delbanco, Andrew: The Death of Satan: How Americans Have Lost the Sense of Evil. New York 1995 und Rosenbaum, Ron: Staring into the Heart of the Heart of Darkness. In: The New York Times Magazine (June 4, 1995), S. 36 - 45, 50, 58, 61, 72. 2 Von 1914 bis 1996 erschienen über 250 Filme mit dem Wort »Devil« und über 60 mit dem Wort »Satan« im Titel, allerdings thematisieren nicht alle Filme die Figur/ das Motiv. Einige Filme waren so erfolgreich, daß Fortsetzungen gedreht wurden. Die bekanntesten sind Wes Cravens’ A Nightmare on Elm Street (1984), Nightmare 7 erschien 1994, und Nummer 8 soll 1997 erscheinen; ferner: Prom Night (4 Filme, 1980 - 1992), The Amityville Horror (7 Filme, 1979 - 1996), Poltergeist (3 Filme, 1982 - 1988) u.a.m. [Quelle: Internet Movie Database (http: / / www.msstate.edu/ movies/ )]. 488 Francis G. Gentry geschaffen wurde, der, wie es heißt, nur das Gute wollen kann. Damit stellt sich ein besonders akutes Problem in den drei monotheistischen Hauptreligionen - Judaismus, Christentum und Islam. Anders ausgedrückt: der Teufel/ Satan spielt in jeder der drei Theodizeen eine Hauptrolle. 3 Wie Jeffrey Burton Russell dazu feststellt, war das Böse im gesamten Lauf der Geschichte nie etwas Abstraktes (The Devil, S. 17), sondern nur verständlich in Bezug auf persönliches Unglück. Also bedurfte das Prinzip des Bösen der Personifizierung. Die Erfindung der Satansbzw. Teufelsgestalt war notwendig, um mit den leider zum Alltag gehörenden Grausamkeiten fertig zu werden. 4 So einfach und so schnell verlief der ganze Prozeß freilich nicht. Es ist ein langer Weg von dem Satan im Buch Hiob bis zur Satansbzw. Teufelsdarstellung in der mittelalterlichen Literatur und Kunst. Im folgenden werden wir der Entwicklung der Satansgestalt anhand der biblischen Zeugnisse nachgehen, um festzustellen, wie aus Luzifer der Teufel wurde. 5 Die Satansgestalt im Alten Testament hat im allgemeinen, wie oben angedeutet, wenig Ähnlichkeit mit ihren mittelalterlichen und modernen Nachfolgern. 6 Das hebräische Wort »satan« ist eigentlich eine Bezeichnung für »Widersacher.« Satan ist also im Alten Testament noch nicht der »Erzfeind,« sondern im Grunde eine Lokigestalt, die einen festen und bestimmten Platz innerhalb der Schöpfung innehat. Letzten Endes ist der alttestamentliche Teufel ein Werkzeug Gottes mit der Aufgabe, von Zeit zu Zeit auf Anordnung Gottes die Menschheit zu »prüfen.« Noch bezeichnender, weil so grundsätzlich anders als bei seinem mittelalterlichen Namensvetter ist, daß der Satan des Alten Bundes vor dem Angesicht Gottes erscheinen und sich dessen Anblick erfreuen darf. Ja, im Buch Hiob wird er gar als »Kind Gottes« (ben elohim) bezeichnet (Hiob 1, 6; 2, 1). Erst in der zwischentestamentlichen Periode (um 400 vor Christus bis etwa Christi Geburt) begann das Bild des Teufels, sich zu ändern. In der religiösen Literatur vor dem christlichen Zeitalter erhielt Satan das Grundgerüst seiner späteren, wohlbekannten »Geschichte.« Zunächst erfährt man hier von dem unlauteren Tun und Treiben einiger Engel auf der Erde. In der Genesis werden diese Ereignisse ziemlich sachlich dargestellt: 3 In den letzten Jahren sind einige Monographien - und zwar in englischer Sprache - über den Teufel erschienen. Die wichtigsten unter ihnen: Pagels, Elaine: The Origin of Satan. New York 1995; Link, Luther: The Devil: The Archfiend in Art from the Sixth to the Sixteenth Century. London 1995 (amerikanische Ausgabe: New York, 1996); Turner, Alice K.: The History of Hell. San Diego; New York; London 1993. Doch die meiner Ansicht nach bedeutendste Studie über Satan/ Teufel, die in diesem Jahrhundert erschienen ist, ist das vierbändige Werk: Russell, Jeffrey Burton: The Devil: Perceptions of Evil from Antiquity to Primitive Christianity. Ithaca; London 1977; Satan: The Early Christian Tradition. Ithaca; London 1981; Lucifer: The Devil in the Middle Ages. Ithaca; London 1984; Mephistopheles: The Devil in the Modern World. Ithaca; New York 1986. 4 Ein Beispiel aus jüngster Geschichte: Obwohl der Holocaust wie die Verfolgung und Ermordung von Anne Frank aus dem gleichen bösen Willen entstanden sind, ist für uns das individuelle Leiden des jüdischen Mädchens leichter nachzuvollziehen als die Gesamtheit aller Greuel des Holocausts. Wie aber schon angedeutet, gab es auch vor dem Dritten Reich und an anderen Orten genügend Anlässe, den Teufel zu suchen, wenn nicht gar zu erfinden (vgl. Russell, The Devil [Fn. 5], S. 17 - 24). 5 Eine mögliche Erwähnung von Luzifer findet sich in Jesaia 14, 12 - 15: »Wie bist du vom Himmel gefallen, du schöner Morgenstern! Wie bist du zur Erde gefället, der du die Heiden schwächtest! Gedachtest du doch in deinem Herzen: Ich will in den Himmel steigen und meinen Stuhl über die Sterne Gottes erhöhen; ich will mich setzen auf den Berg des Stifts, an der Seite gegen Mitternacht; ich will über die hohen Wolken fahren; und gleich sein dem Allerhöchsten. Ja, zur Hölle fährest du, zur Seite der Grube.« Zit. nach: Die Bibel, oder die ganze Heilige Schrift des alten und neuen Testaments. New York 1867. 6 Satan erscheint viermal im Alten Testament: Hiob 1, 6-12 und 2, 1-7; Zacharia 3, 1-2; und I. Chron. 21, 1. »Da sich aber die Menschen beginneten zu mehren auf Erden, und zeugten ihnen Töchter; da sahen die Kinder Gottes nach den Töchtern der Menschen, wie sie schön waren, und nahmen zu Weibern, welche sie wollten. Da sprach der Herr: Die Menschen wollen sich meinen Geist nicht mehr strafen lassen, denn sie sind Fleisch. Ich will ihnen noch Frist geben hundert und zwanzig Jahre.« ( I Mose 6, 1 - 3) Von den späteren hebräischen sowie frühen christlichen Gelehrten wurden jedoch die »Kinder Gottes« (bene elohim) als gestürzte Engel verstanden. Nach dem vierten Jahrhundert, erschien eine weitere Erklärung auf die Frage, ob die Engel denn sexuelle Wesen seien (Antwort: nein, nach Matthäus 22, 30, wo gesagt wird, daß nach der Auferstehung am Ende der Zeit die Menschen nicht heiraten, denn sie werden wie die Engel, die ebenfalls nicht heiraten). Die oben zitierte Genesis -Stelle wurde also neu gedeutet: die Söhne Gottes sind die Nachkommen von Seth (Adams drittem Sohn), und die Töchter der Menschen, die die Engel verführt haben, sind die Nachkommen von Kain. Obwohl letztere Erklärung den guten Ruf der Engel aufrecht hält, ist sie doch weniger zufriedenstellend. Die erstere ist, besonders für unsere Zeit, interessanter und »verständlicher«, aber die Interpretation ist nicht völlig nachvollziehbar, denn in Genesis sagt Gott nicht: »Verdammt noch mal, ihr bösen Geister! In die Hölle mit euch, die ich zufälligerweise geschaffen habe und die noch gänzlich unbewohnt ist! « Kein Wort davon. Die Bibelepisode steht zwischen der Geschichte von den langlebigen Patriarchen wie z.B. Methusalem (er starb im Alter von 969 Jahren) und der Erzählung von der Sintflut. Gott billigt es zwar nicht, daß die »bene elohim« mit Menschentöchtern tändeln und auch nicht, daß Kinder aus diesen Verbindungen hervorgehen. Aber er bestimmt hier nur, daß diese menschlichen Wesen nicht so lange wie bisher leben sollen, denn mit ihrer Menschheit besudeln sie die himmlische Reinheit, deren sie durch ihre Väter teilhaftig sind. Aus diesem Grund bestimmt Gott, daß von da an der Mensch nicht länger als 120 Jahre leben sollte. Freilich steht nichts vom Engelsturz (oder Satansturz) in der Genesis. Die Verbindung zwischen dem Sturz der Engel und deren näherer Bekanntschaft mit den Menschentöchtern wurde nicht zuerst in einer kanonischen Schrift dargestellt, sondern erscheint in dem apokryphen I Enoch von ca. 100 bis 50 vor Christus. 7 Auch dort wird die Geschichte von der Hingabe der Engel an die Fleischeslust erzählt. Es kommen aber ein paar neue Elemente hinzu. Zunächst werden die Anführer der Engel mit Namen genannt, z.B. Sêmîazâz. Weiterhin erfahren wir, daß sich die Engel verschworen haben, einander beizustehen und gemeinsam die Schuld auf sich zu nehmen, denn sie wissen, daß sie eine schwere Sünde begehen werden (Kap. VI). Die unmittelbar darauffolgenden Kapitel, die von dieser Episode handeln, enthalten auf der einen Seite eine einzigartige Beschreibung des Chaos auf der Erde, das die verschwörerischen Engel hervorgebracht haben. Die Kinder dieser Vereinigung der Engel und Menschen sind, wie in der Genesis , Riesen, die alles zerstören und die Erde selber schänden. Auf der anderen Seite, und genauso schwerwiegend in den Augen Gottes wie der Beischlaf mit Menschen, ist die Tat der Engel, vergleichbar der des Prometheus, den Menschen verschiedene Künste bzw. Wissen überbringen, z. B. Kräuter- und sonstige Pflanzenkunde, Waffenschmiedekunst, Himmelskunde, Astrologie usw. Als Strafe besonders für diese Sünden werden die Anführer der Engel gebunden und in die Dunkelheit geworfen, wo sie bis zum Jüngsten Gericht bleiben müssen und dann dem ewigen Feuer übergeben werden. Ihre Kinder und Frauen werden getötet, und sie 7 The Book of Enoch. Übersetzt von R.H. Charles. London 12 1970. 490 Francis G. Gentry dürfen Gottes nie wieder ansichtig werden. In Enoch findet sich auch eine Beschreibung der Hölle, denn wie viele nach ihm, macht auch Enoch eine Reise durch die Unterwelt. Sein Begleiter ist der Erzengel Uriel. Im Neuen Testament werden diese zwei bisher voneinander unabhängigen Teufelsdarstellungen langsam vereinigt, nämlich die des Satans, der noch nicht der Höllenfürst ist, sondern mehr Ähnlichkeit mit dem Satan der Hiobsgeschichte aufweist (Lukas 4, 6 - 7), und die des Anführers der gefallenen Engel, der aus Rache nur darauf aus ist, Christus zu verletzen sowie die Menschen in Versuchung zu führen und vom Heilsweg abzubringen. Im Gegensatz zum Herrscher des Himmels ist er der Fürst der Welt (Johannes 12, 31, 14, 30, 16, 31). Auf der einen Seite mag diese Bezeichnung bloß als Bestätigung der Fortsetzung seiner Tätigkeiten als ein Kind Gottes, in dessen Auftrag oder mindestens mit dessen Erlaubnis er die Beständigkeit und den festen Glauben der Menschen gelegentlich prüfen soll. Auf der anderen Seite allerdings ist die Situation im Neuen Testament entschieden extremer. Einmal wird Satan nicht als »ben elohim« bezeichnet. Ferner wird er nicht dargestellt als ein von Gott Geschickter, um Christus zu prüfen, sondern er entpuppt sich sehr schnell als ernsthafter und unerbittlicher Gegner des Gottessohnes (Lukas 22, 3, Johannes 13, 27). Damit wird der Satan/ Teufel zum Feind erklärt, und er beginnt, die bis heute für ihn typischen Konturen des »Anderen« anzunehmen. Wurde er vorher als Kind Gottes bezeichnet und auch in Gottes Gegenwart geduldet, so ist er von nun an, zumindest in der christlichen Vorstellung, der Antagonist, der Widersacher schlechthin. Er ist der furchtbare Löwe, der brüllend durch die Welt geht, auf der Suche nach Seelen, die er verschlingen kann (I Petrus 5, 8). 8 Er hat nichts gemeinsam mit den Menschen, auch nichts mehr mit den himmlischen Mächten des Guten. Diese Entwicklung des Teufelbildes nimmt eine Schlüsselstellung ein und wird sich als notwendiger Faktor im Selbstverständnis der sich herausbildenden christlichen Sekte im Mittelmeerraum des ersten Jahrhunderts erweisen. Für ihr Selbstverständnis und um sich als unverkennbare Gruppe von den zahlreichen anderen zu unterscheiden und sich als eine auserwählte, von Feinden umzingelte Gemeinschaft zu verstehen, brauchten die Christen ein Kennzeichen. Diese Erkenntnis war ein genialer Entschluß der christlichen Religion. Im Unterschied zum Judentum und den verschiedenen heidnischen Sekten und Mysterienreligionen, die den religiösen und kultischen Alltag in dieser Region bestimmten, hingen die Christen nicht an einer abstrakten oder auf Ewigkeiten fernen Gottheit. Ihr Gründer kam immerhin aus dem Fleisch und Blut eines Zimmermanns und dessen Ehefrau. Obwohl alle vier Evangelisten in der menschlichen und göttlichen Natur Christi 8 Der Teufel sieht seine größte Aufgabe darin, die Menschen zu verführen. Nach 1. Joh. 3, 8 - 10 ist der Teufel sündhaft vom Anfang an (theologisch gesehen schwierig mit der christlichen Theodizee in Einklang zu bringen), und jeder, der ein sündiges Leben führt, gehört zum Teufel. Weiter heißt es, daß der Gottessohn erschienen ist, um das verderbliche Werk des Teufels zunichte zu machen: »Wer Sünde tut, der ist vom Teufel; denn der Teufel sündiget von Anfang. Dazu ist erschienen der Sohn Gottes, daß er die Werke des Teufels zerstöre. Wer aus Gott geboren ist, der tut nicht Sünde, denn sein Same bleibet bei ihm, und kann nicht sündigen, denn er ist von Gott geboren. Daran wird es offenbar, welche die Kinder Gottes und die Kinder des Teufels sind. Wer nicht reht tut, der ist nicht von Gott, und wer nicht seinen Bruder lieb hat.« Offenbar sieht hier der Evangelist einen Zusammenhang zwischen dem ben elohim-Satan als Prüfer der Menschen - im Auftrag Gottes - wohlgemerkt, und dem Sündenfall im Paradies, obwohl der Engelsturz theoretisch gesehen noch nicht hätte passieren können, denn bis zur Vertreibung aus dem Paradies gab es keine »Menschentöchter,« nach welchen die Engeln hätten lüsten können. Der Teufel in der amerikanischen Kultur und in der biblischen Tradition 491 übereinstimmen, bestätigt Christus selber seine zweifache Natur nur in Markus 14, 61. 9 Das Evangelium betont hauptsächlich den Christus, der umherzog, lehrte, aß, trank, schlief, zornig sein konnte, verzieh und seinen Eltern Respekt erwies. Kurz gesagt, die Evangelisten stellten einen Führer dar, der im wesentlichen von der gleichen Natur war wie seine Anhänger. Christus mag zwar göttlich sein, aber er ist auch menschlich und als solcher ein Insider, »einer von uns.« Diese Selbstbestim mung als »Ingroup « kann allerdings erst dann sinnvoll werden, wenn es auch eine »Outgroup« gibt. Zunächst sind dies diejenigen Juden, die sich weigern, den neuen Glauben anzunehmen, die als »Outsider« bezeichnet werden 10 wie natürlich auch die Christen von ihren Gegnern als »Outsider« angesehen wurden. Aber wie in jedem Kampf, in diesem Fall einem echten Kulturkampf, muß es Sieger und Verlierer geben. Den Christen ist es gelungen, nach langer Mühe den Sieg davonzutragen, nicht zuletzt weil sie den Gegnern praktisch und taktisch überlegen waren, denn sehr schnell wurde das Christentum zu mehr als nur einer weiteren jüdischen Sekte. Christi Gebot folgend, haben seine Jünger auch unter den Nichtjuden missioniert und dadurch die Basis einer Weltreligion geschaffen, die letzten Endes eine größere und inklusivere Wirkung auf die Menschheit haben sollte als die unzähligen, nichtchristlichen Sekten bzw. Religionen, die z.T. launische und/ oder den Menschen weit entrückte Gottheiten anbeteten und infolgedessen einen viel kleineren Einflußbereich hatten. Solche Überlegungen gehen freilich weit über das hinaus, was in diesem Essay angestrebt wird. Aber man muß auch bedenken, daß es ohne diese Entwicklung höchstwahrscheinlich kein Christentum in der heutigen Gestalt gäbe und das Teufelsbild, wenn es überhaupt vorhanden wäre, entschieden anders aussähe. Das Satansbild nahm also nach der neutestamentlichen Periode die Form an, die es bis ins Mittelalter hinein behielt und zum allgemeinen Kulturbzw. Mythengut wurde: (1) Satan ist der Führer der gefallenen Engel, die wegen ihres Hochmuts aus dem Himmel vertrieben wurden; (2) er ist mit der Schlange im Paradies zu identifizieren, die aus Rache gegen Gott die Menschen verführte; (3) er hat kein von Gott bestimmtes Amt inne, z.B. die Menschen auf ihre Treue Gott gegenüber zu prüfen, wie der Satan im Buch Hiob, sondern er ist der Gegner Christi und der furchtbarste Feind aller Menschen. In den Jahren zwischen dem Zeitalter der Evangelien und der Zeit des Augustinus konzentrierten sich die Kirchenväter bei ihrer Darstellung des Teufels überwiegend auf den Aspekt den Sünde. Diese wird ihm in toto angelastet. 11 Es ließe sich behaupten, der 9 Pagels (Fn. 5), S. 94 - 100. 10 Nach Johannes 8, 44 wirft Christus den Juden vor, der Teufel sei ihr »Vater«: »Ihr seid von dem Vater dem Teufel, und nach eures Vaters Lust wollt ihr tun. Derselbige ist ein Mörder von Anfang, und ist nicht bestanden in der Wahrheit; denn die Wahrheit ist nicht in ihm.« Nach Offenbarungen 2, 9 sind die »echten« Juden diejenigen, die Christus folgen. Die anderen sind Angehörige der »Schule Satans«: »Ich weiß deine Werke, und deine Trübsal, und deine Armut, (du bist aber reich) und die Lästerung von denen, die da sagen, sie sind Juden, und sind es nicht, sondern sind des Satans Schule.« (Vgl. auch 3, 9). 11 Johannes Chrysostomus (ca. 344 - 407): »Die Sünde ist ja des Teufels große Macht. Ihretwegen ist ja Christus gestorben, um sie zu vernichten. Denn sie hat den Tod in die Welt gebracht, ihretwegen ist alles in Unordnung gebracht.« (Matthäus-Kommentar 46, 4. Zit. nach: Texte der Kirchenväter. Band III. München 1964, S. 445); ferner: »Laßt uns auch zusehen, wie der Mund des Teufels gebildet wird, um uns davor zu hüten! Wie wird er gebildet? Durch Fluchen, Lästern, Scheelsucht, Meineid. Wer die Reden des Teufels führt, nimmt auch seine Zunge an.« (Matthäus-Kommentar 78, 4. Zit. nach: Texte der Kirchenväter, Band 1. München, 1963, S. 430). 492 Francis G. Gentry Teufel wurde jetzt moralisch definiert, nachdem er zuvor historisch bestimmt wurde. Im 5. Jahrhundert war dieser Prozeß praktisch beendet, und das bekannte Bild des Teufels war geschaffen. Den Teufel als den Anderen, den Fremden darzustellen, war nun ein integrierter Teil der christlichen Theodizee. Wenn nun der Teufel den unmoralischen, unchristlichen Anderen repräsentieren sollte, müßte dieses Anderssein auch sichtbar sein. Aber wie Luther Link (Anm. 3) in seiner Studie über dieses Thema feststellt, ist es leider nicht einfach, eine Ikonographie des Teufels zusammenzustellen. Im 6. Jahrhundert, nach der Zeit also, als die Kirchenväter die sündhafte Natur des Satans fixierten bzw. erläuterten, wurden Teufelchen, aber nicht der Teufel, am Rande einer Seite der »Rabbula Gospels« gezeichnet. Vom 9. bis zum 11. Jahrhundert erschien der Teufel häufiger, und zwar zunächst als menschenähnliches Wesen mit schwarzen Flügeln. Doch begegnet man vor dem 12. Jahrhundert sehr selten der verwachsenen, monströsen, tierähnlichen Teufelsfigur in den bildenden Künsten. Es scheint, als entginge Satan der menschlichen Vorstellungskraft. Weil auf der einen Seite es verhältnismäßig leicht ist, ein idealisiertes Bild von Christus herzustellen, denn er repräsentiert das Edelste und das Schönste, können sich auf der anderen Seite die meisten Menschen ein solches boshaftes, verneinendes Geschöpf wie den Teufel überhaupt nicht vorstellen. Und nicht nur das: Das Böse verleugnet das Leben an sich, ist selber eine Leere. Wie ein schwarzes Loch verschlingt es alles Licht, jegliche Existenz. Aus diesen Gründen kann es keine echte bildhafte Darstellung des Teufels geben. Zwar gibt es sehr dramatische Bilder (besonders im Spätmittelalter), aber nichts was bleibt, was überzeugt, daß das Böse im Bild vollkommen zur Deckung gebracht werden kann. Vielleicht deshalb sind die eindruckvollsten Teufelsdarstellungen des Mittelalters und natürlich auch in der Neuzeit in der Literatur zu finden. Offenbar kann man Satan leichter und besser mit Worten »malen« als mit Farbe. Obwohl Satan in dem Großteil der mittelalterlichen Literatur keine besondere Stelle einnimmt, es sei denn als der Urheber aller Sünde und der größte Feind der Menschheit, die seit dem 5. Jahrhundert gängigen Bilder, gibt es einige Werke, die eine unübertroffene Teufelsdarstellung liefern. 12 Zum Beispiel: Dantes Beschreibung des riesigen, weinenden, tierischen, blind wütenden Dis (Inferno: Canto 34), jetzt so ekelerregend wie er einmal makellos war, ist zweifellos die beachtlichste Schilderung in der Weltliteratur. Aber auch andere, frühere Werke, wie die altenglischen Genesis B und Christ and Satan, sind nicht zu übersehen. 13 Das Satansbild in Genesis B, das möglicherweise Milton beeinflußt hatte, wird im heldenepischen Rahmen skizziert. Satan wird als einer repräsentiert, der gegen seinen Herrn rebelliert und infolgedessen exiliert wird, das übliche Los eines Gefolgsmannes, der seinem Herrn seinen Dienst weigert. Drei Tage lang fallen Luzifer und seine Kumpane vom Himmel in die Hölle, währenddessen sie allmählich eine Teufelsgestalt annehmen. Gott ordnet an, daß Luzifer künftig Satan heißen soll und ihm die Verwaltung der Hölle obliegt (Z. 338 - 346). Aber statt dem völlig abscheulichen, nur tierisch handelnden Teufel Dantes, ist Satan hier 12 Die spätmittelalterlichen/ frühneuzeitlichen Teufelsdarstellungen wie in den Teufelsbüchern des 16. Jahrhunderts oder im Drama werden wir nicht berücksichtigen. Denn die Schilderungen tragen zur Diskussion wenig bei. Erst seit der Aufklärung wird der Teufel wieder »interessant« (Mephistopheles! ), aber leider auch, wie eingangs bemerkt, unsichtbarer - und gefährlicher. 13 Genesis; Christ and Satan. In: The Junius Manuscript. Hrsg. von George Philip Krapp. New York; London 4 1931 (The Anglo-Saxon Poetic Records, Band I). Der Teufel in der amerikanischen Kultur und in der biblischen Tradition 493 zwar ein gefallener Engel, aber ein stolzer, trotziger, gefallener Engel. Er erkennt an, daß Gott ihn gestraft hat und daß er nie wieder die himmlischen Gefilde bewandern wird, aber er meint auch, daß Gott ungerecht gehandelt hat (Z. 360 - 362). Was ihn aber am meisten ärgert, ist, daß die Menschheit die himmlischen Plätze der gefallenen Engel einnehmen wird. Er bestimmt dann, den ersten Menschen Adam zu verführen und so Gottes Plan zu vereiteln. Satan rechtfertigt sein Vorhaben, denn er meint, wie oben erwähnt, daß Gott ihn und seine Brüder ungerecht bestraft habe, denn eine Sünde konnte er ihnen nicht nachweisen. Also dürfen, ja müssen sie etwas gegen Gott unternehmen (Z. 390 - 395). Und damit fängt der aeonenalte Streit an. Satan mag zwar eine Schlacht verloren haben, aber nicht den Krieg, so meint er. Seine trotzigen Worte finden einen fernen Nachhall in dem stolzen Ausdruck von Miltons Satan in dem gewaltigen Paradise Lost: »Better to reign in hell than serve in heaven« (Z. 263). Ähnliches findet man in Christ and Satan. Dort wüten die gefallenen Engel zunächst gegen Luzifer selbst und dann gegen Gott. Sie versuchen Gottes Heilsplan zunichte zu machen, werden aber selbst besiegt von Christus. Wenn auch weniger heroisch im Ton als Genesis B ist Christ and Satan ein bedeutendes Meisterwerk der frühen mittelalterlichen Literatur. Trotzdem ist es sehr wichtig vor Augen zu halten, daß genausowenig wie der spätere Milton die Dichter der beiden altenglischen Werke es nicht bei einer Darstellung von aussichtslosem Heldentum seitens der gefallenen Engel, was Bewunderung hervorrufen könnte, belassen. Im Gegenteil, sie zeigen klar, daß Satan seines eigenen Unglückes Schmied ist. Wie Jeffrey Burton Russell zu den altenglischen Werken treffend bemerkt: »The wretched spirits refuse to accept the world as God has constructed it, yet they can never change it. The Devil’s eternal refusal to accept reality produces the eternal misery in which he dwells: he constructs his own hell« (Lucifer, S. 142). Das Bild des im Eis gefangengehaltenen, weinenden Dis, dessen Tränen in der absoluten Leere seines Seins zufrieren und mithelfen sein Gefängnis noch stärker zu machen, liefert ein beredtes Zeugnis von Russells Behauptung. Wie das Beispiel Dantes vorgibt, hatte das Mittelalter diese ewige Wahrheit verstanden. Ob der Mensch im kommenden Jahrtausend sie wiederentdecken wird? Der Teufel Anmerkungen zu einem nicht allein mittelalterlichen Komplex Günther Mahal I Im Vergleich etwa mit Gunnhild, St. Gallus, der Harpyie oder dem Picaro wird man beim Teufel des Mittelalters schon deshalb nicht von einem vergleichbaren Mythos reden können, weil es sich um einen vielen anderen vor- und übergeordneten handelt; klänge es nicht gar zu rekordsüchtig, müßte man von einem Super-Mythos sprechen, ohne den viele Heiligen- und alle Paktierer-Mythen kein peripetisches Moment gewännen und ohne den höchst reale Blutigkeiten wie die Ketzer- und Hexenverfolgungen undenkbar wären. Eine Sonderstellung innerhalb der Mittelalter-Mythen nimmt der Teufel auch deswegen ein, weil er seine geistige Konturierung im Neuen Testament und in der Patristik erfährt, also schon vormittelalterlich eine Bündelung von nach oft strittigen Debatten als kanonisch geltenden Kennzeichnungen aufweist, die als Glaubenswahrheiten verpflichtend bleiben. Erst der »Amalgamirungsprocess« 1 mit dem nicht unterdrückten, sondern ›umgetauften‹ Erbe der missionierten heidnischen Götter und Geister verschafft dem bislang theoretisch-fern bleibenden Teufelsbild der ersten christlichen Jahrhunderte jene Formen von Körperlichkeit, die aus einer geistigen Latenz durch überreich-auffällige Veranschaulichung jene widerständige und aggressive Brisanz entstehen lassen, die das »ubique daemon« 2 zur lebenslang erfahrenen und dann auch ewigkeitlich bestimmenden Macht konkretisieren. Aus der Verquickung theologischer Vorgaben, die in der kirchlichen Verkündigung wach gehalten werden, und dem mythischen Arsenal ›eingemeindeter‹ Religionen entsteht das mittelalterliche Teufelsbild, das im Gegensatz zu anderen Mythen keinesfalls von narrativer Eindeutigkeit oder weithin invariabler Problemlage gekennzeichnet ist; bereits im »Kern« 3 zeigt es einen bis zur Widersprüchlichkeit gehenden Variantenreichtum: zum Mythos des Teufels gehört der Sieg ebenso wie die Niederlage, die über einen Dualismus hinausgehende Weltbeherrschung gleichermaßen wie seine eschatologische Überwindung, Luzidität wie Tumbheit, Angst wie Lächerlichkeit. Erbringt schon dies eine strikte Differenz zu einem idealtypisch aufgefaßten Mythos, so taugen für den Mittelalter-Mythos Teufel auch nicht die sonst unterscheidungstüchtigen Kriterien vorhandener oder fehlender Bewußtheit, symbolischer oder konkreter Wahrnehmung, heiliger oder profaner Orientierung oder auch der Gegensatz von mythischem und empirischem Weltbild. 1 Roskoff, Gustav: Geschichte des Teufels. Eine kulturhistorische Satanologie von den Anfängen bis ins 18. Jahrhundert. Zwei Bände. Nördlingen 1987 (Faksimile-Druck der Ausgabe Leipzig 1869), Bd. II, S. 8 - 18. 2 Der Ausspruch des Salvianus von Marseille (ca. 400 - 468/ 70) wird zitiert bei: Papini, Giovanni: Der Teufel. Anmerkung für eine zukünftige Teufelslehre. Stuttgart 1955, S. 46. 3 Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. Frankfurt am Main 1979, S. 40. 496 Günther Mahal Wenn im Mittelalter Des Teufels Netz 4 für alles Bedrängende, Störende und Sündhafte eine Universalerklärung lieferte; wenn die Existenz jedes Christen im Widerstreit eines als gütig geglaubten Gottes mit dem Reich Satans oder Luzifers 5 auf dem zeitlichen wie ewigen Spiel stand; wenn demnach nicht wie bei vielen anderen Mythen erzählendkulturelle Abständigkeit zu verzeichnen ist, vielmehr eine handlungsbestimmende und mentalitätsbeherrschende, nur bei größter Glaubensanstrengung vielleicht entrinnbare Dominanz; wenn der Teufel zudem unabhängig von Bildungsniveau 6 und gezieltem Interesse als Mythos empirisch wurde - dann bleibt die Frage, ob der Terminus Mythos der beherrschenden Totalität dem »Gott dieses Äons« (2. Kor. 4,4) gegenüber nicht überfordert erscheint. Waren viele andere Mythen zur bereichernden oder didaktisch korrigierenden Feineinstellung des Lebens geeignet, so tritt der kerygmatisch vermittelte Teufel mit einem Gesamtanspruch auf, der jedem Leben vorgegeben und dem von der Geburt bis zum Tod nicht zu entkommen ist. Seitab solcher Überlegungen gilt für das in höchstem Maß inhomogene Vorstellungssyndrom eines als daseinsprägend aufgefaßten Teufels, daß die mit ihm verknüpften Bilder und Alpträume, aber auch die gelegentlich zu Hoffnung und Heilsgewißheit stimulierenden Überwindungen seiner Macht mythengemäß »zu Identitätsbewußtsein und Orientierungsmustern« dienen können, weiter, daß seine lebenspraktische und ewigkeitliche Wirkung »allgemein-menschliche Bedürfnisse und Hoffnungen, aber auch Ängste und Nöte formuliert.« 7 Dem Verfasser, der vor 25 Jahren eine breit angelegte Dissertation vorgelegt hat, in der einige wichtige Teufelsgestalten der literarischen Faust-Tradition auf der Grundlage allgemeiner Diabolologie verglichen wurden, 8 wird man es nicht als bloße captatio benevolentiae anrechnen, wenn er im vorliegenden Aufsatz mehr als holzschnittartige Linien 4 Das 1441 entstandene Werk besteht in einem Dialog zwischen einem Einsiedler und dem Teufel, der von den sieben Todsünden als seinen Knechten unterstützt wird; das Bild vom Netz geht wohl auf 2. Tim. 2,26 zurück, wo von des Teufels Strick die Rede ist; möglicherweise handelt es sich auch um eine negative Analogie zum Bild vom Himmel als Netz in Mt. 13,47. - Wenn hier wie in weiteren Fußnoten auf dichterische Quellen des Mittelalters (oder auch späterer Jahrhunderte) hingewiesen wird, kann Vollständigkeit nicht das Ziel sein: schon eine kurze Charakterisierung der literarischen Darstellungen von Teufel, Hölle, Antichrist oder Endzeit würde einen eigenen Aufsatz erfordern. Wichtige Textbeispiele und -auszüge sind gesammelt in: Mittelalter. Texte und Zeugnisse. Hrsg. Helmut de Boor. München 1965 (Die deutsche Literatur. Texte und Zeugnisse. Erster Band. Erster Teilband), S. 3 - 202: Heilsgeschichte; S. 203 - 366: Religiöse Erzählung; S. 397 - 478: Maria; S. 518 - 553: Memento mori; S. 615 - 660: Kreuzzug. - Eine Fülle von »Lesestücken« bringen auch: Wentzlaff-Eggebert, Friedrich W. und Erika: Deutsche Literatur im späten Mittelalter 1250 - 1450. 3 Bde. Reinbek bei Hamburg 1971 (rowohlts deutsche enzyklopädie, Bde. 350/ 351/ 352, 353/ 354/ 355, 356/ 357/ 358). 5 Zu den Teufelsnamen vgl. Frick, Karl R.H.: Das Reich Satans. Graz 1982 (Satan und die Satanisten, Teil I), S. 116 ff. u. S. 138 - 153. - Der zweite Teil von Fricks Sammelwerk erschien 1985 unter dem Titel Die Satanisten, der dritte Teil 1986 unter dem Titel Satanismus und Freimaurerei. 6 Daxelmüller, Christoph: Aberglaube, Hexenzauber, Höllenängste. Eine Geschichte der Magie. München 1996 (dtv, Bd. 30548), S. 31: im Mittelalter hatte »der Teufel seinen festen Platz im Denken der Eliten wie der Massen«. 7 Müller, Ulrich; Wunderlich, Werner: Mittelalter-Mythen. Zu Begriff, Gegenstand und Forschungsprojekt. In: Diess. (Hrsg.): Herrscher, Helden, Heilige. Mitarbeit und Redaktion Lotte Gaebel. St. Gallen 1996 (Mittelalter-Mythen, Bd. 1), S. XII. 8 Mahal, Günther: Mephistos Metamorphosen. Fausts Partner als Repräsentant literarischer Teufelsgestaltung. Göppingen 2 1982 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik, Bd. 71). Der Teufel 497 des mittelalterlichen Teufelsbildes nicht versprechen kann. 9 Gerade »das schwer überschaubare Gebiet des mittelalterlichen Teufelsglaubens«, 10 aber auch die Literatur über die keineswegs nur als Weise Frauen 11 begriffenen »Hexen« oder über die Traditionen des Sabbats und des Satanismus sind in den letzten Jahren zu einem Modethema oft weitschweifiger Untersuchungen geworden; zusammen mit früheren Studien theologischer, literarhistorischer, sozialpsychologischer, kulturgeschichtlicher oder textanthologischer Art steht heute eine derartige Fülle an Material und zuweilen innovativ daherkommenden Interpretationen bereit, daß auf dem vorgegebenen Raum nur grobstrichige Nachzeichnungen möglich sind. Vor allem für die nachmittelalterlichen literarischen Gestaltungen und auch für die außerliterarisch dem Teufel zugeschriebenen Zuständigkeiten müssen Kursorik und Exemplarik an der Stelle von möglicherweise erhofften Komplettheiten stehen, die zu erreichen weiterführende Anmerkungs-Hinweise nützlich sein könnten. II Der Eintrag des Teufels ins kirchenhistorische Geburtsregister erfolgt mit erheblicher Verzögerung: ein nachgereichter Mythos, der angesichts einer von Gott gut geschaffenen Welt das Erklärungs-Vakuum auffüllen soll, wie das Böse entstanden sei und weshalb es so übermächtig wirken könne. 12 - Lernen die Juden während des babylonischen Exils im sechsten vorchristlichen Jahrhundert den dualistischen Parsismus zarathustranischer Prägung kennen, also den Gegensatz eines Zwillingpaars des guten Ormuzd und des bösen Ahriman, zwischen welchen sich der Mensch ethisch entscheiden müsse, wobei aber am Ende der Zeiten nach zwölfstufiger Wanderung im Feuerstrom Dinur alle Seelen gereinigt und gerettet würden, so bleibt dieses für die Gnostiker 13 und Manichäer 14 sowie für mehrere Häresien auch des Mittelalters verbindliche System von Licht und Finsternis, Wahrheit und Lüge oder Geist und Materie für die kanonischen Schriften des Alten Testaments folgenlos; das apokryphe Buch des äthiopischen Henoch bewahrt den Kampf der guten Geister gegen die bösen Dämonen und deren Sturz. 15 Der strenge Monotheismus Jahwes umfaßt als »Einheit der Vielheit« 16 das ganze Spektrum von Gut und Böse; der im Alten Testament selten auftretende Satan ist ledig- 9 Vgl. Roskoff (Fn. 1), Bd. 2, S. 18-33: Geschichtliche Verhältnisse. - Vgl. Lecanu, Abbé: Histoire de Satan. Paris 1861; Thompson, R. Lobe: The History of the Devil. London 1929. 10 Gloger, Bruno; Zöllner, Walter: Teufelsglaube und Hexenwahn. Leipzig 1983, S. 16. 11 Vgl. Golowin, Sergius: Die weisen Frauen. Die Hexen und ihr Heilwissen. Basel 2 1982. 12 Vgl. Russell, Jeffrey Burton: Lucifer. The Devil in the Middle Ages. Ithaca and London 1984, S. 104 ff. 13 Gegen die von Valentin und Marcion vertretene Annahme, Gott habe zwei Söhne, Christus und den als Demiurgen wirksamen Teufel, wandten sich Irenaeus und Tertullian - vgl. Mahal (Fn. 8), S. 37; vgl. Roskoff (Fn. 1), Bd. I, S. 225; vgl. Daxelmüller (Fn. 6), S. 136-141: Gnostische Mythen und ihre Konsequenzen. - Vgl. Nola, Alfonso di: Der Teufel. Wesen, Wirkung, Geschichte. München 1990, S. 59-71: Die Gnosis. 14 Den Manichäismus nennt Messadié, Gerald: Teufel, Satan, Luzifer. Universalgeschichte des Bösen. Frankfurt am Main 1995, S. 339, einen »Synkretismus zwischen dem zoroastrischen Vedismus und dem Judenchristentum«. - Sein Begründer Mani wurde »als ›Apostel des Teufels‹ [...] bei lebendigem Leibe geschunden und ans Kreuz genagelt«: Maslowski, Peter: Das theologische Untier. Der sogenannte Teufel und seine Geschichte im Christentum. Berlin 1978, S. 26. - Vgl. Roskoff (Fn. 1), Bd. I, S. 261 - 265; Nola (Fn. 13), S. 79 - 88; Daxelmüller (Fn. 6), S. 81 f. 498 Günther Mahal lich eine »Randfigur«, 17 allein ein »getreuer Agent des göttlichen Willens«, 18 ein Versucher im Auftrag, nicht aber eine widergöttliche Instanz. 19 - Erst die Verkündigung eines lieben Gottes im Neuen Testament verlangt einen gegen ihn und die Menschen agierenden Teufel, der selbst Jesus zu versuchen trachtet, an ihm aber scheitert. Das diabolische Vakuum des Alten Testaments wird durch eine umwegige und konstruiert-p ostulato rische Genese d es neutestame ntlich en Teufels aufgefüll t, indem man den Fall des letzten Königs von Babylon (Jes. 14,12 - 15) interpretatorisch auf den Sturz des schönsten Engels und seines Anhangs umbiegt, 20 der aus Hochmut, Stolz oder Neid auf den verheißenen Christus oder auf das künftige Geschlecht Adams von Michaels Heerscharen aus dem Himmel vertrieben wird, um - mit Gottes Zulassung - zum ewigen Kampf verdammt zu bleiben. 21 Die »Frohbotschaft« des Neuen Testaments zeigt sich gegenüber der parsischen Weltbrand-Erlösung ebenso unversöhnlich wie gegenüber der einen Auflehnung des nachmaligen Teufels; der als gut und milde gepriesene Gott dispensiert hier die von Christus gepredigte Feindesliebe: Teufel und Hölle werden unwiderrufliche Fixpunkte eines Glaubenssystems, das kirchenoffiziell dualistische Ideen strikt ablehnt und nicht allein argumentativ, sondern auch blutig verfolgt. Weil in den Schriften des Neuen Testaments der zunächst körperlose und erst in der Patristik zu einer noch durchschnittlich-unbestimmt menschenähnlichen Gestalt verdichtete Teufel »beinahe auf jedem Blatte« 22 erscheint, 23 wird eine Satanologie vermittelt, die nur deshalb noch nicht als gleichwertiger oder gar präponderiender Gegenpol zum Gottesreich erscheinen kann, weil die graue Teufels-Theorie noch ohne zwingende Anschaulichkeit und die nachmalige Häßlichkeit bleibt. - »Jesu Heilswirken als den entscheidenden göttlichen Kampf gegen die Macht des Bösen« 24 zu bezeichnen, setzt eine - im Glauben erhoffte (vgl. Mt. 12, 28 ff; Lk. 10,28; Joh. 12,31; 16,11) - Endgültigkeit an die Stelle eines den »Kindern des Ungehorsams« (Eph. 2,2) nur mit der »Waffenrü- 15 Nach Nola (Fn. 13), S. 187, handelt das 6. Buch des Henoch über Zauberei und Hexerei. - Vgl. Haag, Herbert: Teufelsglaube. Mit Beiträgen von Katharina Elliger, Bernhard Lang und Meinrad Limbeck. Tübingen 1974, S. 218 - 246: Die Dämonenlehre der Pseudepigraphen. 16 Paul Volz, zit. nach Mahal (Fn. 8), S. 31. - Vgl. Graf, Arturo: Naturgeschichte des Teufels. Jena 1893, S. 19: »In ihm sind Gott und Satanas noch vereinigt«. 17 Haag (Fn. 15), S. 217. 18 Messadié (Fn. 14), S. 325. 19 Vgl. Frick (Fn. 5), Bd. I, S. 108 - 116: Satan im Alten Testament. - Vgl. Corté, Nicolas: Unser Widersacher der Teufel. Aschaffenburg 1957 (Der Christ in der Welt, Bd. V, 5), S. 19 - 31: Der Versucher und der Ankläger. 20 Lk. 10,18 läßt Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen. - Die willkürliche Interpretation der Jesajas- Stelle stammt laut Roskoff (Fn. 1), Bd. I, S. 267, von Athanasius, jedoch laut Frick (Fn. 5), Bd. I, S. 193, von Origines. - Vgl. Ling, Trevor O.: The Significance of Satan. New Testament Demonology and its Contemporary Relevance. London 1961. 21 Die in Gen. 6,2 u. 6,4 erwähnte Vermischung der Engel mit irdischen Frauen wird als weitere Möglichkeit der Entstehung des Bösen gelegentlich erwähnt, ohne freilich überzeugen zu können. - Vgl. Mahal (Fn. 8), S. 51. 22 Roskoff (Fn. 1), Bd. I, S. 199. 23 Dagegen postuliert Haag, Herbert: Abschied vom Teufel. Einsiedeln 1969 (Theologische Meditationen, Bd. 23), S. 52, »daß Gott in der Mitte der Heiligen Schrift steht, der Teufel aber darin eine Randfigur bleibt«. - Vgl. Schlier, Heinrich: Mächte und Gewalten im Neuen Testament. Freiburg i. Br. (Quaestiones disputatae, Bd. 3) 1958. 24 Haag (Fn. 15), S. 273. Der Teufel 499 stung Gottes« (Eph. 6,11) punktuell gelingenden und stets durch den »mit Lügenzeichen und Scheinwundern« (2. Thess. 2,9) operierenden Versucher gefährdeten Kampfes. »Wir wissen, wir sind aus Gott, die ganze Welt aber liegt im Machtbereich des Bösen« (1. Joh. 5,19): diese und viele andere zu Heilsoptimismus keinesfalls berechtigende Äußerungen des Neuen Testaments lassen Präsenz, Gefahr, Tücke und Unausweichlichkeit eines dauernden Konflikts mit dem Teufel keinesfalls als durch Christi Beispiel gebannt erscheinen. Den »Fürsten dieser Welt« (Joh. 12,31) präsentierten die Bücher des Neuen Testaments als ein mit Gottes Generalpermiß ausgestattetes, in seinem irdischen Machtbereich geradezu monokratisch herrschendes, den Weg in den Himmel anpassungsfähig und mit tückischer Intelligenz versperrendes und allenfalls in der Nachfolge Christi zu überwindendes, gewaltiges und gewalttätiges Contra, als »Vater der Lüge« und »Menschenmörder von Anfang an« (Joh. 8,44), der durch die Erbsünde einen »Rechtsanspruch auf die Menschen« 25 zugestanden bekommen hatte und der zum irdisch vorwegnehmenden Träger einer »transzendentalen Justiz« 26 avancierte, indem bereits er alle zum Ort des »ewigen Feuers« (Mt. 25,41), der »Finsternis« und des »Heulens und Zähneklapperns« (Mt. 8,12) brachte, die das Letzte Gericht am »dies irae« dorthin verdammt hätte. Jesu Versuchung in der Wüste (Mt. 4,1 - 11; Lk. 4,1 - 13), die als »ziemlich unbeholfen und konfus« 27 zu bezeichnen exegetischen Avantgardismus verraten dürfte, 28 wird vom Gottessohn vorbildlich pariert. Ob freilich der schwache Christ dieses Modell späterer Verführungen und Paktvereinbarungen gleichermaßen übernehmen könnte, bleibt durch die Breite und Intensität der im Neuen Testament immer wieder betonten teuflischen Bedrohung mehr als zweifelhaft. Die Kirchenlehrer, 29 die neben den umfänglichen Aussagen über den Teufel bei den Synoptikern 30 und in der Apostelgeschichte eine Fülle von Beschreibungen der als Plagegeister charakterisierten Dämonen vorfinden - gerade die ›unteren Ränge‹ der Diabolik zeigen das Neue Testament als Ergebnis »des höchst lebendigen Synkretismus« 31 - , erkannten sehr genau die sensible Erklärungslücke zwischen der neutestamentlichen Existenz eines personal überantworteten Bösen und seinem ›Vergessen‹ in den Texten des Alten Testaments; dieses Vakuum zu schließen, machten sie die größten Anstrengungen, 25 Roskoff (Fn. 1), Bd. I, S. 226. - Vgl. Anselm von Canterburys 1098 verfaßten Traktat Cur Deus homo. 26 Korff, Hermann August: Geist der Goethezeit. Versuch einer ideellen Entwicklung der klassisch-romantischen Literaturgeschichte. Bd. 1. Leipzig 1962, S. 18. - Vgl. Mauthner, Fritz: Der Atheismus und seine Geschich te im Abendlande. Erstes Buch: Teufelsfurcht und Aufklärung im sogenannten Mittelalter. Frankfurt am Main 1989 (Neudruck der Auflage Stuttgart 1920 - 23), S. 186: »Die Teufelsfratze gehört als ein wesentlicher Bestandteil mit zur christlichen Theologie.« 27 Messadié (Fn. 14), S. 321. - Vgl. Fischer, Erich: Jesus und der Satan. Eine Studie zur Auslegung der Versuchungsgeschichte. Halle/ S. 1949. 28 Anders Corte (Fn. 19), S. 35: »Das ist zweifellos das gewaltigste Duell, das die Welt je gesehen hat.« 29 Vgl. Roskoff (Fn. 1), Bd. I, S. 212 - 244 u. Bd. II, S. 1 - 8; Frick (Fn. 5), Bd. I, S. 131 ff.; vgl. Maslowski (Fn. 14), S. 24 - 29. 30 Vgl. Haag (Fn. 15), S. 319 - 345: Das Böse im Verständnis der Synoptiker. - Aus Platzgründen werden die Erwähnungen synoptisch mehrfach belegter Stellen nicht alle genannt. 31 Vgl. Nola (Fn. 13), S. 189. - Daxelmüller (Fn. 6), S. 73: »Der spätantike Synkretismus entwickelte, gespeist aus zoroastrischen, ägyptischen, gnostisch-mandäistischen und manichäistischen Lehren, ein duales System von Gut und Böse, Gott und Materie, Seele und Leib, das nicht zuletzt seinen Ausdruck in der Konstruktion binärer Dämonensysteme fand.« 500 Günther Mahal die als »logische Delirien« 32 zu bezeichnen häufig genug zutrifft. Wenn sie gegen die Übergewalt teuflischer Bedrängung den auch zur Sünde hin freien Willen des Menschen setzten, 33 Christi Erlösungsopfer als pia fraus am seiner Hölleninsassen beraubten Teufel ansahen, 34 die Lüsternheit der Teufel aus 1. Mos. 6,2 (der Vermischung der Engel mit den Menschentöchtern) erklärten, ihnen Naturkatastrophen aller Art zuschrieben, 35 jedem Menschen neben seinem Schutzengel auch einen bösen Dämon beigaben 36 oder die Heiden als Truppen Satans bezeichneten 37 - wenn sie also die recht blassen Grundlinien teuflischer Physiognomie orientierungstüchtig verstärkten und somit der Böse »immer härtere, immer unmenschlichere, immer brutalere Züge« 38 gewann, so bereiteten sie die eher atmosphärisch grundierenden Einzeläußerungen des Neuen Testaments zu einer kirchlich anwendbaren Systematik auf und ließen spätestens seit Augustinus - er zieht die Summe der vorangegangenen Debatten, indem er die Erbsünde, die Macht des Teufels und die ewige Höllenstrafe kodifiziert 39 - »für das Christentum eine Epoche« entstehen, »in welcher es sich im Grunde mehr vor dem Teufel als vor Gott fürchtete«. 40 Bei allem erweiterten Wirkungsspektrum bleibt der von Gott lizenzierte Unheils- Automat eine eher diffus-monströse Größe ohne Innenleben. Des Origines Apokatastasis-Theorie, die dem Teufel am Ende der Zeiten eine Versöhnung mit Gott und den Nachlaß seiner Schuld einräumen, ihm mithin Himmels- und Erlösungssehnsucht und eine geradezu tragische Existenz nach nur einmaliger Verfehlung zugestehen möchte, wird auf dem fünften Konzil zu Konstantinopel 533 zur Ketzerei erklärt. 41 Die Patristik braucht den Teufel eindeutig; mit allen Finten einer flexiblen »Kasuistik« 42 wird der gefallene Engel - »un ange déchu, un ange pourtant« 43 - zum Feindbild schlechthin, individuell wie kollektiv einsetzbar. Wenn seit Tertullian die Frau 44 als »Gefäß der Sünde« 45 und als »Einfallspforte des Teufels« 46 gilt und die in Joh. 8,44 sowie Apk. 2,9 und 3,9 mit dem Antichrist 47 vergliche- 32 Messadié (Fn. 14), S. 358. - Zacharias, Gerhard: Satanskult und Schwarze Messe. Ein Beitrag zur Phänomenologie der Religion. Wiesbaden 1964, S. 19: »die bösen Geister erhielten nunmehr einen festen Platz in der Heilsökonomie.« Milder urteilt Mauthner (Fn. 26), S. 183: »das böse Prinzip [wurde] von der Theologie niemals widerspruchslos herausgearbeitet«. 33 Vgl. Roskoff (Fn. 1), Bd. I, S. 223. 34 Roskoff (Fn. 1), Bd. I, S. 228. 35 Roskoff (Fn. 1), Bd. I, S. 234. 36 Roskoff (Fn. 1), Bd. I, S. 219. 37 Roskoff (Fn. 1), Bd. I, S. 244. 38 Maslowski (Fn. 14), S. 22. 39 Maslowski (Fn. 14), S. 26. - Mauthner (Fn. 26), S. 182 f.: »man kann es sich recht gut ausmalen, daß der Manichäismus anstatt des Christentums die Welt erobert hätte, wenn der heißblütige Bischof von Hippo [Augustinus] nicht abtrünnig geworden wäre«; ebd., S. 198: »Augustinus wurde ein abtrünniger Manichäer, aber eigentlich ging er noch weiter als seine früheren Genossen, da er lehrte, die Menschen wären erst böse geworden durch die Erbsünde. [...] Und die Erbsünde, das Um und Auf des schlimmheiligen Augustinus, war ein Werk des Teufels gewesen.« 40 Maslowski (Fn. 14), S. 27. 41 Vgl. Nola (Fn. 13), S. 230 - 235: Der erlöste und errettete Teufel. 42 Messadié (Fn. 14), S. 327. 43 Zit. nach Mahal (Fn. 8), S. 73. 44 Roskoff (Fn. 1), Bd. I, S. 270, erwähnt als Frauen auftretende Teufel; ebd., S. 297, erscheint ein als Frau verkappter Teufel dem heiligen Antonius. 45 Gloger/ Zöllner (Fn. 10), S. 14. Der Teufel 501 nen Juden als »Synagoge des Satans« (Apk. 2,9 f.) angesehen werden, so hat dies weit über die Zeit der Kirchenväter hinaus kaum christlich zu nennende Folgen. - Daß die mittelalterliche Theologie wenig innovatorische Ambitionen zeigt und daß sich das von misogynen und wenn auch noch nicht rassistisch antisemitischen Implikaten bestimmte Teufelsbild stets am Neuen Testament 48 und an der Patristik rückversichert, braucht keine lange Beweisführung. Daß die dogmatischen Exaktheiten und glaubenspraktischen Festlegungen der Konzilien 49 oder Synoden im Mittelalter das Leben der religiösen ›Endverbraucher‹ mehr als der Glaubens-Grundstock der ersten christlichen Jahrhunderte bestimmt hätten, darf bezweifelt werden. Die Teufelskunde der gelehrten Patres bildete zusammen mit der Diabolologie der Heiligen Schrift ein Grundgesetz, das zu ändern auch von Thomas von Aquin 50 kein Anlaß gesehen wurde. III Neues Testament und Patristik hatten den Unheilskatalog des teuflischen Gegenreiches aufgeblättert und in eine anwendbare Systematik gebracht. Spirituell nachvollziehbar mochten die Vertreter des Bösen nun sein; vorstellbar und körperlich zu greifen waren sie indes keineswegs. - Bei aller Verpönung unhistorischer Was-wäre-wenn-Fragen: hätte die dem biblischen Missionsauftrag (Mt. 28,19) entsprechende Bekehrung der Heiden nicht einen riesigen und oft bizarren Fundus eingesessener Körperlichkeiten und katastrophaler Ätiologien vorgefunden oder hätten die kirchlichen Vertreter nach dem Bonifatius-Schema einen Kahlschlag angestammter Attribute vorgenommen, dann wäre das mittelalterliche Teufelsbild ein blasses Pensum theoretischer Lerninhalte geblieben, seelsorgerisch unbrauchbar und stets in Konkurrenz zu immer noch vitalen Farbigkeiten, die keineswegs durch fromme Federstriche zu ›bereinigen‹ gewesen wären. Die um Heidenbekehrung bemühte Kirche verhielt sich sehr viel diplomatischer und 46 Zit. nach Maslowski (Fn. 14), S. 28. 47 Nach 1. Joh. 4,3 ist der »Geist des Widerchrists [...] jetzt schon in der Welt«; das 13. Kapitel der Apokalypse schildert den Antichrist als präexistentes mythisches Wesen, das vor der Parusie Christi weltbeherrschend wird. - Vgl. Zacharias (Fn. 47), S. 18: »In der Gestalt des Antichristus verkörpert sich der endzeitliche Aspekt des Satans«; vgl. Gloger/ Zöllner (Fn. 10), S. 57 - 68: Der leibhaftige Antichrist; Nola (Fn. 13), S. 239 - 244: Die Gesichter des Antichrist. - Vgl. Maag, Victor: Der Antichrist als Symbol des Bösen. In: Das Böse. Zürich; Stuttgart 1961 (Studien aus dem C. G. Jung-Institut Zürich, Bd. XII), S. 63 - 90; Aichele, Klaus: Das Antichristdrama des Mittelalters, der Reformation und der Gegenreformation. Hague 1974; Rauh, Horst Dieter: Das Bild des Antichrist im Mittelalter von Tychonius bis zum deutschen Symbolismus. 2 Bde. Münster 1979; Emmerson, Richard Kenneth: Antichrist in the Middle Ages. A Study of Medieval Apocalypticism, Art, and Literature. Seattle 1981. - Zum Antichrist vgl. Beitrag von Barbara Könneker in diesem Band. 48 Die Frage von Haag (Fn. 23), S. 12, »ob solche biblische Aussagen zur verbindlichen Lehre oder nur zum unverbindlichen Weltbild der Bibel gehören«, mag dogmatisch klärend sein; für die Alltagsrealität ist sie eher spitzfindig. 49 Vgl. Jedin, Hubert: Kleine Konziliengeschichte. Freiburg; Basel; Wien 1976 (Herder-Bücherei, Bd. 51). 50 Vgl. Daxelmüller (Fn. 6), S. 82 - 85: Augustinische Dämonologie und Magiologie; ebd., S. 123 - 127: Thomas von Aquin, der Aberglaube, die Divination und der Teufel. - Vgl. DeCourcy, Mary E.: Theory of Evil in the Metaphysics of Saint Thomas and its Contemporary Significance. Washington D.C. 1948; Geerlings, Hermannus Jacob: De antieke daemonologie en Augustinus’ geschrift »De Divinatione daemonum«. Den Haag 1959; Evans, Gillian R.: Augustine on Evil. Cambridge 1982. 502 Günther Mahal - aus ihrer Sicht - klüger, indem sie die zu missionierenden Völker nicht puristisch auf die neue Lehre vom alleinigen Gott einschwor, sondern deren Bildervorrat nachgerade dialektisch aufhob. 51 Anstatt die alten Vorstellungen aus den Köpfen zu vertreiben, beließ man deren Anschaulichkeit, um sie dem bisher abstrakt-spirituellen, lehrsatzartigblassen und exegetisch-gebändigten Teufel zuzuschlagen. - Wurden im altsächsischen Taufgelöbnis Wotan, 52 Donar und Saxnot zu Unholden erklärt, 53 so übernahm man ihre und ihrer Umgebung eingebürgerte Kennzeichen: von Wotan die Jägergestalt und von seinem Schimmel Schapnir den Pferdefuß; von Donar die rote Farbe seines Gewitterbartes und den zugehörigen Schwefelgestank, ebenso von seinem hinkenden Bock den lahmenden Fuß; aus der griechischen Mythologie kamen Pans und der Satyrn Hörner hinzu; 54 vor allem die niederen Teufels-Chargen wurden aus den unterschiedlichsten mythologischen Vorräten ausstaffiert. 55 »Alle diese Geister, die in christlicher Zeit zu teufelartigen Dämonen degradiert wurden, hatten nichts Schreckliches, Bösartiges an sich« 56 gehabt; im Verschmelzen mit dem aus Neuem Testament und Patristik bereitstehenden Spektrum bedrohender und quälender Unheilsfunktionen wurden sie nun mit bösem Vorzeichen versehen. »Aus harmlosen, liebenswerten Faunen werden lüsterne Dämonen«; 57 tolpatschige Riesen 58 und gewitzte Zwerge 59 verlieren ihre Eigenschaften an das merkmalsdurstige und »immer handgreiflicher und mehr phantastisch« 60 mit optischen Zeichen seiner inneren Extremität gekennzeichnete Teufelsheer. »Man tötete Jupiter, Mars, Venus, Pan und Dionysos nicht, sondern degradierte sie zu Dämonen und verbannte sie auf die Planeten.« 61 Die Folgen dieser »Herabdrückungsmethode« 62 hat Jacob Grimm resümiert: der Teufel ist nach seinem »Amalgamirungsprocess« 63 »jüdisch, christlich, heidnisch, abgöttisch, elbisch, riesenhaft, gespenstig, alles zusammen.« 64 Aus höchst heterogenen Merkmalsbündeln entsteht konsequenterweise ein »höllischer Proteus«, 65 bilden sich plastische, personal ausgeformte Vorstellungen, die sich vor allem in Mischwesen zwischen 51 Roskoff (Fn. 1), Bd. II, S. 9: »In dem Erlasse von 601 ermahnt Gregor der Grosse den Augustin: die heidnischen Tempel nicht zu zerstören, sondern in christliche umzuwandeln, den Heiden ihre gewohnten Festmahle zu lassen, sie aber zur Feier von Kirchweihen und Märtyrerfesten zu verwenden.« 52 Vgl. Daxelmüller (Fn. 6), S. 95 - 108: Der Teufel, Wotan und die Missionare. Magie im frühen Mittelalter. 53 Daxelmüller (Fn. 6), S. 100. 54 Vgl. schon Jes. 13,21: »Feldgeister werden da hüpfen«. 55 Vgl. Nola (Fn. 13), S. 179: »Der christliche Teufel hat bemerkenswert zahlreiche hebräische Vorfahren.« - Vgl. Kelley, Henry Ansgar: The Devil, Demonology, and Witchcraft. The Development of Christian Beliefs in Evil Spirits. New York 1974. 56 Maslowski (Fn. 14), S. 15. 57 Dreikandt, Ulrich K.: Nachwort zu: Schwarze Messen. Dichtungen und Dokumente. Hrsg. Ulrich Dreikandt. München; Wien 1970, S. 285 - 309, hier S. 292. - Vgl. Nola (Fn. 13), S. 286. 58 Vgl. Grimm, Jacob: Deutsche Mythologie. II. Band. Graz 1968 (Nachdruck der Auflage Berlin 1875 - 78), S. 852. 59 Vgl. Roskoff (Fn. 1), Bd. I, S. 307. 60 Roskoff (Fn. 1), Bd. I, S. 290. 61 Daxelmüller (Fn. 6), S. 41. 62 Roskoff (Fn. 1), Bd. II, S. 1: ein Verfahren, »wonach die heidnischen Gottheiten und mythologischen Wesen zu teuflischen Wesen herabsinken.« 63 Roskoff (Fn. 1), Bd. II, S. 8 - 18. 64 Grimm (Fn. 58), S. 824. 65 Graf (Fn. 16), S. 55. Der Teufel 503 Mensch und Tier konkretisieren. Die Tiere haben »das metaphysische Lager gewechselt [...]. Aus den Gottesgeschöpfen sind Teufelsbiester geworden.« 66 Der zuvor optisch weitgehend unbesetzte Satan und sein Anhang werden durch das Erbe tierischer und menschlicher Attribute heidnischer Provenienz und vor allem durch deren wuchernde Kombinatorik zu nachgerade überbesetzten Merkmalsträgern, deren Eigenschaftenspektrum nicht erlernt werden muß, sondern abgerufen werden kann. Das in sich bunt-wirre Bild des Teufels »wächst gleich der Lavine, die während der Strecke, über die sie hinrollt, immer mehr Stoff aufnimmt, um eine erschreckliche Grösse zu erreichen.« 67 Ungeklärt muß bleiben, in welchem Maß die Vertreter der Amtskirche die »Lavine« mit angestoßen oder aber ihre Wirkungen nicht verhindert haben. Daß sich bald der abenteuerlichste und dogmatisch unhaltbarste Aberglaube bildete und seriell weiterentwickelte, mit dem Ergebnis einer Diabolisierung oder doch mindestens Teufelsverdächtigung von allem und jedem 68 - das hätte eigentlich klärende Einsprüche nach sich ziehen müssen. Freilich lag eine solche Klärung kaum im Interesse der Geistlichen; und zudem hätte der Entwicklung eines allenthalben wirksamen Pandämonismus ein ernüchternder Zwischenruf schwerlich Einhalt geboten. Der »Fürst« oder »Gott dieser Welt« herrschte somit immer mehr, und dies auf Kosten des himmlischen Herren. Im Heils-Konzern machte, um es in der heutzutage so geliebten lingua oeconomica zu sagen, der Lizenznehmer weit mehr und, aufs Ganze gesehen, ›bessere‹ Umsätze als der Gründer des Unternehmens. Die aus relativer Neutralität und oft aus fauler Behaglichkeit nun auf Bosheitsaktivitäten ›umgeschulten‹ Rekruten der jetzt visuell auffällig gemachten Teufels-Truppen kommen wie alte Bekannte daher, freilich mit dezidiert neuem Auftrag: auch den bislang zahmsten Bukolikern unter ihnen wird die aus Neid auf die erlösungsfähigen Menschen wütende Absicht zugeschrieben, möglichst viele von ihnen dem Himmel abspenstig zu machen. Den nach fertigen Bausätzen aus anthropo- und theriomorphen Bestandteilen montierten Teufeln werden alle Wesenszüge der diabolischen Theorie aus Neuem Testament und Patristik inkorporiert. Den, weil bekannt, leicht imaginierbaren oder auch in Angstprojektionen wahrnehmbaren Kleiderordnungen selbst für monströse Sondergrößen entspricht über die diabolologischen Vorgaben und Klärungen des spirituellen Teufelsbildes hinaus ein Wirkungsspektrum zusätzlicher Dimension: die einst den Göttern und Geistern zugeschriebenen Naturkatastrophen, Erntevernichtungen, Krankheiten und eine ganze Palette weiterer Schädigungen 69 kommt sozusagen huckepack mit der ›Eingemeindung‹ optischer Qualitäten wie selbstverständlich hinzu; daß viele dieser zu teuflischen Strafaktionen für eine Gott ungehorsame Menschheit umgedeuteten Heimsuchungen später dem Konto von Juden und Hexen zugeschrieben werden, beläßt alles kollektiv Erlittene in Spezialagenturen teuflischen Wirkens. Gustav Roskoff, auf dessen materialreiche Untersuchung des »Amalgamirungsprocesses« 70 verwiesen sei, hat ein anschauliches Bild für diesen Vorgang gefunden: »Man 66 Macho, Thomas H.: Böse Tiere. In: Treu-Dieter, Gerburg (Hrsg.): Das Böse ist immer und überall. Berlin 1993, S. 12 - 17, hier S. 15. 67 Roskoff (Fn. 1), Bd. II, S. 9. - Vgl. Gloger/ Zöllner (Fn. 10), S. 7 - 16: Thietmar von Merseburg erzählt vom Teufel. 68 Roskoff (Fn. 1), Bd. I, S. 304: »Alles Aussergewöhnliche wurde dem Teufel zugeschrieben, und der Enge des damaligen Gesichtskreises musste eben sehr viel ausserordentlich erscheinen.« 69 Vgl. Nola (Fn. 13), S. 361 - 368: Der Teufel als Verursacher von Unwettern und als Feind der Bauern. 504 Günther Mahal suchte den heidnischen Aberglauben zu vertreiben und öffnete dem christlichen Teufelsglauben alle Thüren; indem man erstern auszurotten bestrebt war, wucherte letzterer als fette Parasitpflanze im Volke 71 und umstrickte dasselbe in allen Lebenszweigen.« 72 Das Mittelalter konnte ein Teufelsbild übernehmen, das aus der Addition von neutestamentlichen und patristischen Wesens- und Wirkungsbestimmungen einerseits und von behutsam übernommenen Augenfälligkeiten sowie von Bedrohungen für Leib und Feld andererseits bestand. Signifikanz, Unverwechselbarkeit und damit Erkennbarkeit des teuflischen Heeres waren fixiert. Die »Lavine« mußte mit Eigengesetzlichkeit weiterrollen und ihr gefürchtetes Zerstörungswerk mit zeitlichen wie ewigen Desastern verrichten. IV »The primary components of Christian diabology in the medieval period are patristic, scholastic, and mystical theology; art, literature, and drama; popular religion, homiletics, and saints’ lives; and folklore.« 73 Diese Aufzählung nennt zwar wichtige und jeweils sehr breite, im Rahmen eines Aufsatzes nur ganz partiell auszuschöpfende Quellensorten der mittelalterlichen Teufelsvorstellungen; was in Russells Bestand jedoch fehlt, was aber durch die Vergegenwärtigung in Missions- und Bußpredigt sowie in der gottesdienstlichen und seelsorgerischen Verkündigung die genannten Sparten erst grundiert und vor allen Distinktionen der frühen Kirchenlehrer und der späteren Theologen bleibend als Glaubensinhalt bestimmt, 74 sind die Aussagen des Neuen Testaments 75 - ein riesiges Corpus diabolologischer Bestimmungen sowohl in den Evangelien wie vor allem in den Paulus-Briefen und in der Johannes-Apokalypse. 76 In der Kombination oder eher Aufladung mit ehemals heidnischen Vorstellungen ergaben die auch den Analphabeten präsenten Teufel-Stellen das grausig illustrierte Bild einer zur Sündhaftigkeit versuchten oder gezwungenen Welt, in der einem statuarischen und schweigenden Gott gegenüber der Teufel mit einem »materiellen Himmel« 77 lockte, als »Weltalp« 78 und »Weltangst« 79 einschüchterte, zur Lüsternheit und zum Machtstreben aufreizte, 80 kurzum schmeichelnd oder aggressiv ein Leben bestimmte, dem die Hoffnung auf ein besseres nach dem Tode nur kurzfristig als Tröstung erscheinen mochte; die beiden letzten Vaterunser-Bitten (Mt. 6,10 f.) hielten eine Bedrohung wach, die ohne himmlischen Beistand den breiten Weg ins höllische Feuer (Mt. 25,31 ff.; Joh. 5,24 - 29) nicht vermeiden ließ. 70 Vgl. Fn. 63. 71 Vgl. Nola (Fn. 13), S. 379 - 402: Der Teufel im Volksglauben. 72 Roskoff (Fn. 1), Bd. I, S. 299. 73 Russell (Fn. 12), S. 11. 74 Die neben anderen von Roskoff (Fn. 1) detailliert dargestellten Aussagen der Kirchenlehrer und Theologen sowie die Beschlüsse von Konzilen oder Synoden können nur in kleiner Auswahl erwähnt werden; wie weit dogmatische Exaktheiten und glaubenspraktische Festlegungen das religiöse Leben tatsächlich bestimmt oder verändert haben, bleibt ohnedies eine ungeklärte Frage. 75 Vgl. Nola (Fn. 13), S. 198 f. 76 Vgl. Haag (Fn. 15), S. 367 - 376: Satanologie der johanneischen Schriften. 77 Papini (Fn. 2), S. 171. 78 Friedell, Egon: Kulturgeschichte der Neuzeit. Die Krisis der europäischen Seele von der schwarzen Pest bis zum ersten Weltkrieg. München 1965 (Sonderausgabe in einem Band), S. 130. 79 Korff (Fn. 26), S. 20. Der Teufel 505 Die Äußerungen der mittelalterlichen Theologen waren wenig dazu geeignet, die Furcht vor dem Satansreich zu mindern oder gar zu bannen; ganz im Gegenteil zeigten sich kirchliche Stellen kaum je darauf bedacht, den immer hypertropheren Teufelsvorstellungen entgegenzutreten. Daß die Angst vor der Hölle die Schäflein eher im Pferch und auf dem schmalen Himmelspfad hielt als die Vorbilder der Heiligen oder auch die neutestamentarisch längst gemilderte Furcht Gottes, ist oft genug festgestellt worden; 81 der Drang zu den weißen Himmelsgewändern wurde in infantiler Simplizität durch den schwarzen Mann und sein feuriges Reich angstbesetzt erzeugt. 82 Gottesdienst, Seelsorge und vor allem die in die letzten ländlichen Zipfel vordringenden Bußprediger der Mönchsorden 83 hielten Macht, Gefahr und vor allem die postmortalen Konsequenzen der Teufelsverfallenheit wach. Es kann nicht wundern, daß den ›von oben‹ introduzierten Hysterien ›von unten‹ paranoide Skrupulositäten antworteten, daß die Welt als Machtbereich des Satans das Leben des einzelnen Christen über Beeinflussung und Prägung hinaus wie ein panisches Gerücht lähmte: wie sollte er dem Ansturm der »Legion« (Mk. 5,9) 84 standhalten? Für den Christen des Mittelalters war der Teufel sein Leben lang gegenwärtig, bedrängend und gefährlich; die bereits im »Hirten des Hermas« 85 formulierte Auffassung, neben dem Schutzengel sei jedem Menschen ein böser Geist zugeteilt, wird mehrfach bestätigt; 86 das dreigeteilte Weltmodell von Himmel, Erde und Hölle wird bei jedem Einzelnen zum dramatischen Austragungsort eines immerwährenden Streites zwischen Gut und Böse ›installiert‹. Vor allen Versuchungen, Attacken oder Listen der teufli- 80 Vgl. Crispino, Anna Maria u.a.: Das Buch vom Teufel. Geschichte, Kult, Erscheinungsformen. Frankfurt am Main 1987, S. 154: »Volle Jahrtausende lang war der Teufel Auslaßventil für Generationen frustrierter, auf die untersten Stufen der sozialen Leiter verbannter Generationen; die Gestalt des Teufels umfaßt dabei eine weitläufige und recht bunte Realität: er wurde verantwortlich gemacht für die unterschiedlichsten Situationen, für Krankheiten, Naturkatastrophen, Massaker, aber auch für Fälle von Besessenheit, sexuellem Verlangen, Extravaganzen, Anstößigkeiten, für leichtlebige Frauen.« 81 In Christian Dietrich Grabbes Don Juan und Faust (1829) heißt es: »Die Hölle ist der beste Prediger der Christenheit - man fürchtet sie«; zit. nach Mahal (Fn. 8), S. 130; vgl. Friedell (Fn. 78), S. 141: »Höllengeister erwecken mehr Angst und Ehrfurcht als die Heiligen«. 82 Vgl. die Tagebucheintragung Friedrich Hebbels vom 25.12.1851: »Der Teufel ist für die Erwachsenen, was der Schornsteinfeger für die Kinder«; zit. nach Mahal (Fn. 8), S. 130. - Vgl. Huizinga, Johan: Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden. Hrsg. von Kurt Köster. Stuttgart 11 1975 (Kröners Taschenausgabe, Bd. 204), S. 36 - 72: Die Sehnsucht nach schönerem Leben. 83 Vgl. Gloger/ Zöllner (Fn. 10), S. 69 ff., über Berthold von Regensburg; dieser Bußprediger war Franziskaner. Ihr Orden wie auch jener der Dominikaner war als Bettelorden gegründet worden. 84 Exakte, wie auch immer berechnete, Zahlen finden sich bei Roskoff (Fn. 1), Bd. II, S. 380: 2 665 866 746 664 (aus Jodocus Hockers Schrift »Der Teuffel selbs«, 1568); zu einem bescheideneren Ergebnis kamen ein Bischof aus Tusculo mit 133 306 688 und Johann Weyer mit 7 409 127 Teufeln: Crispino (Fn. 80), S. 12; wieder andere Zahlen nennt Messadié (Fn. 14), S. 358: 7 405 920 und 1 758 064 176. 85 Die seit Athanasius endgültig aus dem Kanon ausgeschlossene Schrift wurde in der Mitte des 2. Jahrhunderts in Rom verfaßt; der Form nach eine Apokalypse, hatte sie die Funktion einer Bußpredigt. - Vgl. Roskoff (Fn. 1), Bd. I, S. 219 f. 86 Sein Vorkommen bei Cäsarius von Heisterbach erwähnt Maslowski (Fn. 14), S. 35; Corte (Fn. 19), S. 68, nennt ihn »Engel der Verfolgung«. - Über Cäsarius von Heisterbach vgl. Roskoff (Fn. 1), Bd. I, S. 318 - 326. - Vgl. von Heisterbach, Cäsarius: Wunderbare Geschichten. Ausgewählt und übersetzt von Paul Weiglin. München 1925; Schmidt, Philipp: Der Teufels- und Dämonenglaube in den Erzählungen des Cäsarius von Heisterbach. Basel 1926. 506 Günther Mahal schen Heerscharen von außen ist der in seiner Entscheidung als frei (nur) gedachte Mensch in seiner inneren Disposition bereits ›hälftig‹ vom Gottwidrigen besetzt und desto anfälliger, aus Bequemlichkeit oder Machtstreben vollends dem Satansreich anheimzufallen. Die vor allem von Augustinus ausgebildete Lehre von der Erbsünde 87 läßt jeden Neugeborenen auf der Liste der Hölle stehen. Deshalb muß bei der Taufe ein dem Exorzismus 88 entsprechender Befreiungsakt stattfinden, der in der dreifachen abiuratio oder abrenuntiatio diaboli des Täuflings oder, stellvertretend für ihn, seiner Paten die Gotteskindschaft erst erwerben läßt; ungetauft gestorbene Kinder können, da von der Erbsünde in kaum nachvollziehbarem Automatismus betroffen, nicht in den Himmel kommen, sondern müssen zuerst ebenso in das zeitlich befristete Purgatorium des Fegefeuers 89 wie in läßlichen Sünden verstorbene Erwachsene. Beim zweiten biographischen Eckdatum, dem Tod, muß das lebenslange Gut-Böse- Drama kulminieren. Die Angst vor dem nahen Ende der Welt 90 und die Sorge vor einem gähen Tod 91 begleitet jedermanns Biographie, weil ungebüßte Todsünden sofort in die Hölle führen. Daß das Sterbebett von himmlischen und höllischen Abgesandten umstanden wird, die vor der ewigen Beheimatung nochmals und definitiv um die Seele des Menschen kämpfen, 92 ist längst vor den Holzschnitten der artes moriendi eine Glaubensgewißheit, der oft von langer Hand mit vielfachen Aktivitäten der Jenseitsvorsorge Rech- 87 Haag (Fn. 23), S. 28, macht es sich allzu einfach: »Wir sollten das Wort ›Erbsünde‹ aus unserem religiösen Sprachschatz ausschließen.« - Vgl. Gross, Julius: Geschichte des Erbsündedogmas. Ein Beitrag zur Geschichte des Problems vom Ursprung des Übels. 4 Bde. München 1960 - 1972. 88 Daxelmüller (Fn. 6), S. 75: »Wie andere jüdische Teufelsbanner reiste auch Christus als Exorzist durch die Lande«; vgl. Haag (Fn. 15), S. 308 - 315: Jesu exorzistisches Wirken. - Vgl. Dölger, Franz: Der Exorzismus im altchristlichen Taufritual. Eine religionsgeschichtliche Studie. Paderborn 1969; Böcher, Otto: Dämonenfurcht und Dämonenabwehr. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der christlichen Taufe. Stuttgart 1970; Montgomery, John Warwick: Demon Posession. A Medical, Historical, Anthropological, and Theological Symposium. Minneapolis 1976. 89 Vgl. Maslowski (Fn. 14), S. 62 - 65: Fegefeuer und Ablaß. - Vgl. Illi, Martin: Begräbnis, Verdammung und Erlösung. Das Fegefeuer im Spiegel von Bestattungsreden. In: Himmel, Hölle, Fegefeuer. Das Jenseits im Mittelalter. [Ausstellungs-]Katalog von Peter Jezler. Zürich 1994, S. 59 - 68: die von Clemens im 3. Jahrhundert entwickelte Vorstellung des Fegefeuers kompilierte Gregor der Große aus den Aussagen von Origines, Cyprian, Lactantius, Ambrosius und Gregor von Nyssa; offizielle Kirchenlehre wurde das Fegefeuer seit dem Konzil von Lyon 1274. - Vgl. Schneeweis, Emil: Angels and Demons according to Lactantius. Washington 1944; Le Goffe, Jacques: Die Geburt des Fegefeuers. Vom Wandel des Weltbildes im Mittelalter. München 2 1991 (dtv/ Klett-Cotta, Bd. 4532). 90 Vgl. Gloger/ Zöllner (Fn. 10), S. 69 ff. 91 Vgl. Huizinga (Fn. 82), S. 190 - 208: Das Bild des Todes. - Vgl. Freybe, A.: Das Memento Mori in deutscher Sitte, bildlicher Darstellung und Volksglauben, deutscher Sprache, Dichtung und Seelsorge. Gotha 1909; Holl, Adolf: Tod und Teufel. Stuttgart 1973; Jansen, Hans Helmut (Hrsg.): Der Tod in Dichtung, Philosophie und Kunst. Darmstadt 1989 (Zweite, neu bearbeitete und erweiterte Auflage), S. 51 - 62: Lotz SJ, Johannes B.: Zur Theologie des Todes; S. 145 - 160: Haas, Aloys M.: Die Auffassung des Todes in der deutschen Literatur des Mittelalters; S. 161 - 190: Jansen, Rosemarie und Hans Helmut: Der » Schwarze Tod « in Chronik, Dichtung und Kunst. - Vgl. weiter Seiler, Roger: Mittelalterliche Medizin und Probleme der Jenseitsvorsorge in: Himmel, Hölle, Fegefeuer (Fn. 89), S. 117 - 124. 92 Vgl. Roskoff (Fn. 1), Bd. I, S. 326. - Ariès, Philippe: Bilder zur Geschichte des Todes. München; Wien 1984, S. 155: » Gott, der Himmel und die Hölle mit ihren Dämonen haben ihre kosmischen Wohnstätten verlassen, sie füllen das Zimmer des mit dem Tode Ringenden, sie umstehen sein Bett. « - Heftige Angriffe des Teufels auf den Sterbenden schildert Dionysos der Karthäuser; vgl. Huizinga (Fn. 82), S. 267 u. S. 308 f. Der Teufel 507 nung getragen wird: neben Beten durch Lektüre der Stundenbücher, Schenkungen und gute Werke. 93 Zwischen Geburt und Tod war der mittelalterliche Christ lebenslang nur theoretisch autonomer Akteur und viel eher auf verlorenem Posten belassener Gegenstand des Kampfes zwischen Gut und Böse; daß nach 1. Joh. 3,8 jegliche Sünde vom Teufel komme, 94 schien indes nur entlastend, weil eine Selbstbewertung als fatalistisches Opfer in der Eigenverantwortung ihr Korrektiv erfuhr. - Der Sündenkatalog war von Anfang an so formuliert, daß jegliche auch noch so marginale religiöse Verfehlung als Eingangstor des Teufels erscheinen mußte. Gelang durch die Beichte 95 und deren reconciliatio eine momentane Reinigung, so warteten doch die Nachstellungen und Verführungen des »Feindes von Anbeginn« (1. Joh. 3,8) bereits im nächsten Wirtshaus, beim Kartenspiel, bei der Begegnung mit einer begehrenswerten Frau, 96 beim Neid auf einen reicheren Nachbarn, beim familiären Streit, beim zu flüchtigen Gebet usf. Die Sündenwäsche gab nur für den Augenblick das Gefühl der Erleichterung; dauerhaft blieb die Furcht, ›beladen‹ vor den Richter treten zu müssen. - Das media vita in morte sumus ließ die Gegenwart des Teufels stets bedrohlich spüren; auch der im 12. Jahrhundert gefundene eschatologische Kompromiß, der Wartestand des Fegefeuers, war für den keine Wunschlösung, der gleich im Himmel das bessere Leben auf ewig fristen wollte. Die Möglichkeitspalette der antiteuflischen Maßnahmen wirkt zwar reichhaltig; zu fragen bleibt freilich, ob akute Angst, direkte Bedrängung oder lockende Verführung die Munitionierung aus dem Arsenal der »Waffenrüstung Gottes« (Eph. 6,11) überhaupt erlaubten oder ob nicht angesichts der »alten Schlange« (Apk. 12,9) 97 die Kaninchen-Lähmung eintrat und selbst der Gedanke an Christus, die Heiligen 98 oder Maria keine Gegenwehr gestattete. Neben der immer nur zu erhoffenden Gnade wurden empfohlen: Glaubenskraft, standhafte Tugend, Gebete, Sakramente, Fasten, sexuelle Askese, das Kreuzeszeichen, die Anrufung Gottes und der Heiligen, Kirchenglocken, Reliquien, auch Pflaumen, Salz oder Knoblauch. 99 93 Vgl. Brinkmann, Bodo: Zur Rolle von Stundenbüchern in der Jenseitsvorsorge. In: Himmel, Hölle, Fegefeuer (Fn. 89), S. 91 - 100; ebd., S. 101 - 116: Schmid, Wolfgang: Zwischen Tod und Auferstehung. Zur Selbstdarstellung städtischer Eliten des ausgehenden Mittelalters im Spiegel von Stifterbildern. 94 Vgl. Roskoff (Fn. 1), Bd. I, S. 271. 95 Die seit dem 9. Jahrhundert praktizierte Beichte (vgl. Gloger/ Zöllner [Fn. 10], S. 18) wurde 1215 auf dem vierten Laterankonzil zur jährlichen Pflicht gemacht; Sakraments-Charakter erhielt sie erst seit dem Tridentinum (1545 - 63). - Vgl. Maslowski (Fn. 14), S. 149: die Beichte wird »als Sakrament in der Papstkirche zum besonderen Kontrollorgan und Prüfstein der Rechtgläubigkeit«. 96 Messadié (Fn. 14), S. 344, spricht von einer »Epoche sexueller Obsession«. - Wenn nach Huizinga (Fn. 82), S. 283, bei Alain de la Roche der Teufel mit abscheulichen Geschlechtsteilen auftaucht, dann bilden diese Kennzeichen das Korrelat zur ihm antwortenden »Obsession«. - Vgl. hierauf Wolf, Hans-Jürgen: Hexenwahn und Exorzismus. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte. Kriftl/ Ts. 1980, S. 441 - 452: Rolle der Frau, Sexualität. - Zu den Teufeln von Loudon vgl. Maslowski (Fn. 14), S. 125 f. 97 Zur Schlange im Paradies vgl. 2. Kor. 11,3. - Vgl. Papini (Fn. 2), S. 275 ff.: Der Teufel als Schlange; Haag (Fn. 15), S. 247 - 262: Exkurs I: Die Paradiesesschlange; Frick (Fn. 5), Bd. I, S. 339 - 391: Die Schlange als Symbol des Todes, der Auferstehung und des Bösen. - Vgl. Leisegang, H.: Das Mysterium der Schlange. In: Eranos-Jahrbuch 7, 2 1940, S. 151 - 250. 98 Vgl. Nola (Fn. 13), S. 220 - 229: Der Teufel in der Wüste; vgl. Corte (Fn. 19), S. 71 - 81: Mönche und Dämonen in der Wüste. - Maslowski (Fn. 14), S. 34, stellt fest, daß »gerade bei diesen Einsiedlermönchen sich die ins Sexuelle abirrenden Teufelsvorstellungen am leidenschaftlichsten entwickelt haben.« - Zu Antonius vgl. Roskoff (Fn. 1), Bd. I, S. 277 ff. 508 Günther Mahal War bisher vom einzelnen Christen und seiner durch die Aggressivität und Omnipräsenz des Teufels gefährdeten Existenz die Rede, so wird unten von der Wirksamkeit der »Dauerinstitution« des zu einem »Glaubensartikel« avancierten Höllenherrn 100 im Kollektiven zu sprechen sein, von einem zur kirchlich-reinen Systembewahrung eingesetzten Teufel, gegen dessen Vasallen - Heiden, Juden, Ketzer und Hexen - man mit schärfster Rhetorik und rigorosen Vernichtungsmitteln zu Felde zog. - Was freilich den einzelnen Gläubigen angeht, so fand er in der biblia pauperum von Altargemälden, Initialen, Miniaturen, Fresken, Mosaiken, Wasserspeiern, Säulenknäufen, Schlußsteinen und Tympana und bei den bevorzugten Darstellungen der Versuchung Christi, des Jüngsten Gerichtes und den quälenden Bedrängungen des heiligen Antonius den Teufel immer nur als »brüllenden Löwen« (1. Petr. 5,8) oder in anderer Auffälligkeit vor, als unzweifelhaften Angreifer und Zerstörer, Versucher und Nötiger, demnach als sogleich identifizierten Gegengott irdischer Allgegenwart. 101 Weit gefährlicher waren jedoch des Teufels Truppen, »die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber sind sie reißende Wölfe« (Mt. 7,15). Daß sich der Satan zum »Engel des Lichtes« (2. Kor. 11,14) verstellen könne, daß anstelle des Hörner-Klauen- Flügel-Bocksfuß-Schwanz-Gestank-Teufels den Höllenherren eine Metamorphose in Gestalten der metaphysischen Gegenpartei möglich sei, daß er die Masken von harmlosen Bauern, Mädchen, 102 Königen, Mönchen, Priestern, Heiligen, 103 Engeln 104 oder selbst Christus 105 und auch der Jungfrau Maria 106 überstreifen könnte 107 - das lieferte auch den mit den probatesten Mitteln der Gegenwehr ausgestatteten Christen solchen vertrauenswürdig scheinenden Gestalten ohne Widerstandsmöglichkeit aus. Der Teufel, der mit »lügenhaften Kräften« (Mt. 24,24) und mit »großen Zeichen und Wundern« (2. Thess. 2,9) auftreten kann, der List, Verschlagenheit und Tücke zum Ein- 99 In Hanns Bächtold-Stäublis Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens (Berlin und Leipzig 1927 - 1942) finden sich unter verschiedenen Stichwörtern heute oft kurios scheinende Bemerkungen zum Teufels(aber)glauben. 100 Maslowski (Fn. 14), S. 32. 101 Beispiele für den schwarzen und gleich erkennbaren Teufel finden sich in Salman und Morolf (um 1380) und in Torquato Tassos La Gierusalemme liberata (1580); vgl. Mahal (Fn. 8), S. 91 f. - Papini (Fn. 2), S. 267: »Prediger und Maler haben während des Mittelalters und darüber hinaus die schreckliche Häßlichkeit Satans um die Wette dargestellt.« 102 In der Legende des heiligen Victorinus tritt der Teufel als Mädchen auf: Roskoff (Fn. 1), Bd. I, S. 270. 103 Vgl. Papini (Fn. 2), S. 145 - 148: Der Teufel im heiligen Gewand. 104 Vgl. Otto von Freisings Übersetzung von Barlaam und Josaphat, V. 12612 ff.: »so tuot der tievel alle zît, / der in der vinsternüsse lît, / als er iht übels wil began: / er wirt ein engel wolgetân«; zit. nach Mahal (Fn. 8), S. 76. 105 Als Christus verkleidet sich der Teufel in der Martinus-Legende: Roskoff (Fn. 1), Bd. I, S. 283. 106 Bei Cäsarius von Heisterbach tritt der Teufel einer Klausnerin als Jungfrau Maria entgegen; vgl. Mahal (Fn. 8), S. 100. 107 Neben dem Dialogus miraculorum des Cäsarius von Heisterbach (vor 1180) finden sich auch zahlreiche Beispiele in der Legenda aurea des Jacobus de Voragine (1273). - Vgl. Maslowski (Fn. 14), S. 33 - 37: Die Mönche - Das Teufelsbuch von Heisterbach. - Verkappt, also unerkennbar auftretende Teufel finden sich nachmittelalterlich in Pedro Calderon de la Barcas Der wundertätige Magier (1637), Jean Pauls Beichte des Teufels bei einem großen Staatsbedienten (1815), Fjodor Dostojewskis Die Brüder Karamasow (1880), Ernst Barlachs Der blaue Boll (1926) oder Ernst Jüngers Heliopolis (1949). - Daß, wie in den französischen Diableries des Mittelalters, auch in der neueren Dichtung gleich erkennbare Teufelsgestalten vorkommen, belegen z.B. Adelbert Chamissos Peter Schlemihl (1813) oder Jeremias Gotthelfs Die schwarze Spinne (1842). Der Teufel 509 schleichen und zur allmählichen Vereinnahmung einsetzt, der sich leise, unmerklich und in Freundesgestalt oder selbst als Familienangehöriger nähert, um dann die erlangte Sympathie zum desto leichteren Seelenfang zu nutzen, der ohne seine Extremitätssignale keine Abwehrreflexe hervorrufende tückische Androide also machte es als ›Mensch wie du und ich‹ unmöglich, ihn zu orten und vor ihm auf Distanz zu gehen. 108 Der verkappte, freundliche oder gar attraktive Teufel - ikonographisch kaum zu vermitteln, narrativ oder in der Predigt aber seiner unerkennbaren Dämonie wegen als potenziert furchterregend bewußt zu machen - bildet in den Darstellungen der mittelalterlichen Satanologie eine häufig unbeachtete, weil aus dem sonstigen Monstrositätenkabinett ausscherende Figur. Für den Christen des Mittelalters mußte aber gerade der ins Unverdächtige vermummte »Vater der Lüge« (Joh. 8,44) das Paranoide des augenfälligen Teufelsbildes ins Unerträgliche steigern. - Daß, jenseits von Gut und Böse, alles »Aussergewöhnliche« 109 dem Teufel zugeschrieben wurde, daß selbst Blähungen, Husten, Zahnweh oder Trunkenheit 110 sein Unheilswerk dokumentierten, könnte heute mehr als andere bisher erwähnte Faktoren einer allgemein-hochmütigen Mittelalter-Schelte verhocktesten Aberglaubens zugeschrieben werden; derlei spätere Befunde haben und machen es sich leichter als legitim. V Den »Teufel als Kampfmittel« 111 und »Disziplinierungsmittel« 112 für eine Glaubensentscheidung des einzelnen Christen einzusetzen, hat sich die mittelalterliche Kirche nie gescheut - mit dem Ergebnis eines diabolischen Universalismus, der allzu oft den liebenden Gott der »Frohbotschaft« in abstrakte Ferne rückte. Wurde der Teufel zu einem intern perfektionierten Regulativ, das als offenes Feindbild furchterregend genug war und das als Verkappung des Dunklen in eine Lichtgestalt Mißtrauen selbst gegen die Nächsten erzeugen mußte, so war er gleichzeitig prädestiniert, auch extern den Bestand oder die dazu erklärte Reinheit des höchst irdisch organisierten Machtfaktors Kirche militant zu gewährleisten. Das schroffe Christus-Wort »Wer nicht für mich ist, ist gegen mich« (Mt. 12,30) wurde ›adoptiert‹, um Machtsicherung zu betreiben; wer sich als unbekehrbar oder gar der Kirche feindlich erwies, zählte zur Mannschaft des Teufels. Das simple und überschaubare Einteilungsprinzip in Schafe und Böcke (Mt. 25,32 f.) ergab ein blutige Folgerungen nicht scheuendes Freund-Feind-Schema, das häufig mit »beispielloser Brutalität« 113 die auf die Seite Satans 114 Sortierten vernichtete. Die Gebote von Liebe wie Fein- 108 Zum schönen Teufel in Federigo Frezzis Quadriregio (1416) vgl. Mahal (Fn. 8), S. 61. 109 Vgl. Fn. 68. 110 Roskoff (Fn. 1), Bd. I, S. 337: »Die bösen Geister schädigen die Menschen leiblich und geistig, sie verursachen Traurigkeit, Mismuth und ähnliche Verstimmungen«; Mauthner (Fn. 26), S. 202: »der Teufel steckt hinter jedem Husten, hinter jedem ungehörigen Einschlafen, hinter jedem Flohstich, hinter jedem Jucken, hinter jedem Bauchgrimmen, hinter jedem Versagen der Eßlust.« - Nach Gregor dem Großen verschluckte eine Nonne den Teufel, der sich in ein Salatblatt verwandelt hatte; ein Schüler des heiligen Hilarius erkannte den Teufel in einer verlockenden Weintraube - diese und ähnliche Beispiele bringt Graf (Fn. 16), S. 63. 111 Maslowski (Fn. 14), S. 73. 112 Gloger/ Zöllner (Fn. 10), S. 115. 510 Günther Mahal desliebe und der Missionierungsauftrag wurden außer Kraft gesetzt, sobald eine im Lauf des Mittelalters immer reichere und veräußerlichtere Kirche den Kampf gegen die »Soldaten Satans« 115 nicht mehr durch werbende Argumente und behutsame Amalgamierung führte, sondern als Feldzüge im Zeichen des Kreuzes. Die Diener des Teufels waren nicht länger Verblendete spiritueller Dimension, vielmehr durch Feuer und Schwert auszurottende Elemente. Zu diesen zählten zunächst die Heiden, sofern sie sich einer (nicht immer nur persuasiven) Bekehrung unzugänglich erwiesen hatten; die unter dem Schlachtruf »Gott will es« angetretenen Kreuzzüge 11 6 ins von Ungläubigen besetzte Heilige Land sind um eigene Opfer weithin unbekümmerte Strafexpeditionen gegen Teufelsanbeter, verbunden mit Ablässen und Märtyrerkronen. Schon in urchristlicher Zeit beginnt der Kampf gegen die Häretiker, Ketzer und Schismatiker, 117 die allesamt als satanische Sprengkörper innerhalb einer auf Homogenität bedachten Kirche klassifiziert werden. Wird bei Gnostikern und Manichäern die aus dem Parsismus übernommene dualistische Weltsicht noch vorwiegend mit theologischen Debatten und Beschlüssen bekämpft, um die Vorrangstellung des Gottesreiches und den Heilswert der Erlösungstat Christi keinen Zweifeln eines dunklen Reichs geistwidriger Materie oder eines bloß menschlich vorbildlichen Rabbis auszusetzen, so kommen im Kampf gegen die oft manichäisch grundierten »Irrlehren« 118 der Paulikianer, 119 Karpokratianer, 120 Priscillianer, 121 Bogomilen, 122 Stedinger, 123 Albigenser, 124 Katharer, 125 Templer 126 oder Waldenser 127 sehr bald Stereotype 128 zum Tragen, die den Angriffen auf eine reicher gewordene und auf Einfluß-Expansion bedachte mittelalterliche Kirche 129 mit schierer Diffamierung antworten: daß in deren gottesdienstlichen Ritualen, der 113 Maslowski (Fn. 14), S. 23. 114 Frick (Fn. 5), Bd. II, S. 34, beschreibt den »Satan als Deus ex machina für alle der christlichen Kirche unangenehmen geistigen Entwicklungen«. 115 Tertullian nach Nola (Fn. 13), S. 217. 116 Vgl. Wheatley, Dennis: The Devil and all his works. London 1971, S. 215 f. 117 Vgl. Nola (Fn. 13), S. 89 ff. - Ähnlich dem späteren Judenstern mußten die Ketzer »zwei durch die Farbe bemerkliche Kreuze tragen»: Roskoff (Fn. 1), Bd. II, S. 131. 118 Vgl. ebd., S. 124 - 148: Sekten im Mittelalter; Nola (Fn. 13), S. 89 ff.: Das dämonische Erbe der Manichäer. - Vgl. Nigg, Walter: Das Buch der Ketzer. Zürich 1949; Berkhout, Carl T.; Russell, Jeffrey B.: Medieval Heresies. A Bibliography 1960 - 1979. Toronto 1981; Erbstösser, Martin: Ketzer im Mittelalter. Stuttgart; Berlin; Köln; Mainz 1984. 119 Gloger/ Zöllner (Fn. 10), S. 28: »Sie verwarfen das Alte Testament, alle Heiligenbilder und sogar Nachbildungen des Kreuzes Christi als Werke des Teufels, des Schöpfers der sichtbaren Welt.« - Vgl. Erbstösser (Fn. 118), S. 20 - 24 u. S. 41 - 46. 120 Vgl. Roskoff (Fn. 1), Bd. II, S. 7. 121 Nach Roskoff (Fn. 1), Bd. I, S. 266, waren sie »die ersten Sektirer, die von Bischöfen verfolgt, von der Obrigkeit verurteilt, mit ihrem Stifter Priscillian ( † 185) ihre Häresie mit dem Leben bezahlen mussten«; gegen sie, die behaupteten, der Teufel sei aus dem Chaos und der Finsternis aufgetaucht, also kein Geschöpf Gottes, wendet sich ein Brief Papst Leos I. mit dem Textanfang Quam laudabiliter (447). 122 Roskoff (Fn. 1), Bd. II, S. 125, zufolge hielten sie »den bösen Dämon, den Satan oder Satanael, ursprünglich für einen Sohn Gottes«. - Gloger/ Zöllner (Fn. 10), S. 28: »sie erklärten die sichtbare Welt als vom Teufel erschaffen«; vgl. Erbstösser (Fn. 118), S. 46 - 63. 123 Vgl. Roskoff (Fn. 1), Bd. I, S. 328 - 333; gegen die Stedinger Bauern, die ihren Zehnten nicht zahlen wollten, wird 30 Jahre lang Krieg geführt: Maslowski (Fn. 14), S. 70; vgl. ebd., S. 69 - 73: Das Kampfinstrument der Feudalherren - Die Verteufelung der Stedinger Bauern. 124 Vgl. Mauthner (Fn. 26), S. 268 f.; vgl. Erbstösser (Fn. 118), S. 119 f. u. S. 141 - 144. Der Teufel 511 Schwarzen Messe, 130 eine parodierende Perversion der Heiligen Messe stattfinde, daß Teufel in Tiergestalt durch den Kuß auf den Hintern 131 angebetet würden, daß Kinderopfer und schamlose Promiskuität 132 Platz hätten. Solchen Anschuldigungs-Listen entsprechen neben Appellen auf staatlichen Sukkurs 133 regelrechte Kriege mit dem Ziel gänzlicher Ausrottung; 134 später schafft sich die Amtskirche mit der Einführung der Inquisition 135 ein eigenes und an eifernder Rabiatheit nicht zu übertreffendes Instrument zum Aufspüren, Aburteilen und Exekutieren der Ketzer (und Zauberer). 136 »Ohne den Teufelsglauben wären Inquisitionsverfahren unmöglich gewesen«; 137 durch den Teufels- 125 Vgl. Roskoff (Fn. 1), Bd. II, S. 126 ff.; vgl. Daxelmüller (Fn. 6), S. 142 ff.; Gloger/ Zöllner (Fn. 10), S. 29: »Die katholische Kirche hielt die Katharer für hoffnungslos verdorben, ja für eine Kirche des Teufels, denn im Papst sahen sie den Antichrist der Apokalypse«; ebd., S. 82: gegen die Katharer richtet sich die »krankhafte Phantasie« des Konrad von Marburg (um 1230). - Vgl. Daxelmüller (Fn. 6), S. 142 - 146: Die Häresie der »guten Christen«; vgl. Erbstösser (Fn. 118), S. 92 - 104 u. S. 144 - 152. - Vgl. Hausrath, H.: Der Ketzermeister Konrad von Marburg. Heidelberg 1861. 126 Vgl. Roskoff (Fn. 1), Bd. I, S. 332 u. S. 348; vgl. Zacharias (Fn. 32), S. 95 - 105: Die geheimen Aufnahmeriten der Templer; vgl. Daxelmüller (Fn. 6), S. 146 f.: Der bespuckte Christus oder: Das Ende des Templerordens. 127 Vgl. Roskoff (Fn. 1), Bd. II, S. 128 f.; vgl. Erbstösser (Fn. 118), S. 104 - 113 u. S. 203 - 215. 128 Nach Dreikandt (Fn. 57), S. 285, ist »der Vorwurf, unzüchtige Messen gefeiert zu haben, stereotyper Bestandteil aller Anklagen gegen Ketzer und Andersgläubige«; Gloger/ Zöllner (Fn. 10), S. 31, sprechen von einer »Standardanklage«. - Zur Bulle Papst Gregors IX., Vox in Roma audita (1233), bemerkt Maslowski (Fn. 14), S. 81: »In dieser Papstbulle sind alle Zutaten enthalten, die zur Ausbildung des Hexenwahns mit seinen widerlichen Sexualvorstellungen und seinen Todesdrohungen nötig waren«; ebd., S. 36: »glühendste Sexualphantasien«. 129 Vgl. Erbstösser (Fn. 118), S. 8: »Das Mittelalter war die eigentliche Blütezeit der häretischen Bewegungen innerhalb der christlichen Kirchen.« 130 Vgl. Chaufeynon et Jaf, Les Messes noires. Le culte de Satan-Dieu. Paris 1905; Bricaud, Jean: La Messe noire, ancienne et moderne. Paris 1913; Sylvius, Jean: Messes noires. Satanistes et Lucifériens. Paris 1929; Rhodes, Henri T.F.: La messe noire. Paris 1958; Przybyszewski, Stanislaw: Die Synagoge Satans - Entstehung und Kult des Hexensabbats, des Satanismus und der Schwarzen Messe. Berlin 1979. 131 Zacharias (Fn. 32), S. 51: »Das Gesäß [...] wird in der alten Körpersymbolik als Zone des Teufels und der Hölle betrachtet.« 132 Daxelmüller (Fn. 6), S. 145; vgl. den vor widerlichsten Details nicht zurückschreckenden Text der Bulle Papst Gregors IX. (1233), zit. bei Roskoff (Fn. 1), Bd. I, S. 330. 133 Vgl. Mauthner (Fn. 26), S. 211: Papst Innozenz III., »der eigentliche Begründer des weltlichen Kirchenstaates«, verwandelte »die Kreuzzüge gegen die Ungläubigen zu Ketzerkriegen, zu Ausrottungskriegen gegen die Irrgläubigen [...]. Eine solche Blutarbeit wurde allen Fürsten durch das vierte Laterankonzil (1215) zur Pflicht gemacht«. Fünf Jahre später erließ Friedrich II. »am Krönungstage 1220 in Rom [...] ein Gesetz [...], das alle Staatsorgane in Italien verpflichtete, die Kirche bei der Ketzerverfolgung tatkräftig zu unterstützen«: Gloger/ Zöllner (Fn. 10), S. 62; ebd., S. 63: derselbe Friedrich II. wurde als »Feind der Kirche« und als Ketzer bezeichnet und 1239 von Papst Gregor IX. zum zweiten Mal gebannt; ebd., S. 64: »Doch dem Kaiser fiel es nicht schwer, den Papst als den eigentlichen Ketzer und Ketzerfreund hinzustellen«; ebd., S. 48: in diese Jahre fallen auch die »haßerfüllten Attacken des Strickers gegen die Ketzer«. 134 Maslowski (Fn. 14), S. 74, nennt das kirchliche Vorgehen »als Glaubensprozesse getarnte Lynchjustiz«. 135 Vgl. Wolf (Fn. 96), S. 127 - 143. - Vgl. Hansen, Josef: Zauberwahn, Inquisition und Hexenprozeß im Mittelalter und die Entstehung der großen Hexenverfolgung. München, Leipzig 1900. 136 Vgl. Gloger/ Zöllner (Fn. 10), S. 87; vgl. Nola (Fn. 13), S. 267, zum fünften Buch von Johann Nyders Formicarius - hier wird zum ersten Mal ein Hexensabbat geschildert: Frick (Fn. 5), Bd. II, S. 108 ff.; zu Geiler von Kaisersberg: Gloger/ Zöllner (Fn. 10), S. 97 ff. - Vgl. Schieler, K.: Magister Johann Nider aus dem Orden der Predigerbrüder. Ein Beitrag zur Kirchengeschichte des XV. Jahrhunderts. Kirchheim 1885. 512 Günther Mahal glauben erschien jegliche Hysterie blinden Ausmerzens 138 als Heilstat, zugleich für alle potentiellen Sezessionisten als warnendes Prohibitiv. - Wundern kann es wenig, daß die Häretiker ihrerseits die offizielle Kirche als Zentrale diabolischer Umtriebe anschuldigten; die hin und her geschickten Parolen wechselweiser Verteufelung übten eine Praxis ein, die im 16. Jahrhundert auf böse Muster zurückgreifen konnte. Daß selbst Päpste, 139 nicht allein der angeblich von einem satanischen Hund begleitete Silvester II., neben allzu sehr der curiositas hingegebenen Naturwissenschaftlern wie etwa Albertus Magnus in den Ruf des Teufelsgesellentums gerieten, hatte über personelle Diffamierung hinaus erneut Warncharakter für alle Köpfe, die aus empirischer Forschung oder der Heiligen Schrift widersprechender Spekulation heraus Zweifel am christlichen Weltbild anzumelden gehindert werden sollten. Der Stand der Gelehrten lief ständig Gefahr, als Garde Luzifers angeschuldigt zu werden; wer zuviel wußte 140 und damit nicht hinterm Berge hielt, wurde rasch zum zumindest intellektuellen Abschuß freigegeben. Freie Wissenschaft bedeutete eine Aberration, der umgehend das Teufelsprädikat angehängt wurde. Daß die Juden als »Synagoge Satans« (Apk. 2,9 f.) bezeichnet und mit dem Antichrist identifiziert wurden (Joh. 8,44; Apk. 2,9 u. 3,9), erschien durch die Kreuzigung Jesu beglaubigt; die perfidi Judaei der katholischen Karfreitags-Liturgie wurden erst durch das zweite Vaticanum eskamotiert. Wenn ein Jude dem berühmtesten Teufelsbündler 141 des Mittelalters, dem dann durch Maria geretteten Theophilus, 142 den Weg zum Teufel wies, so ist dies zwar mit der weit folgenreicheren Beschuldigung nicht zu vergleichen, daß die Juden die Große Pest 1348 durch Vergiftung der Brunnen oder Quellen 143 herbeigeführt hätten; die gemeinsame Ebene beider und anderer Daten, die zum »Der Jude wird verbrannt« (Nathan IV,2) mittelalterlicher Pogrome führten, liegt in einem religiös-heilsgeschichtlichen Antisemitismus, der den ethnischen wenn schon nicht direkt vorbereitete, so doch keinesfalls verhinderte. 144 137 Maslowski (Fn. 14), S. 80. 138 Erbstösser (Fn. 118), S. 119: »Ohne die gezielte Vernichtung aller Gegner, ohne ein spezifisches Terrorsystem schien die katholische Kirche nicht auszukommen.« - Das Ausmaß der Ketzer-Hysterie erhellt auch aus einer Bemerkung des Berthold von Regensburg: »ehe ich nur vierzehn Tage in einem Hause wollte sein, darinnen ein Ketzer wäre, eher wollte ich in einem Hause sein, darinnen 500 Teufel wären, ein ganzes Jahr«; zit. nach Gloger/ Zöllner (Fn. 10), S. 77. 139 Vgl. Roskoff (Fn. 1), Bd. I, S. 304 u. S. 349; vgl. Frick (Fn. 5), Bd. II, S. 57 - 62. 140 Vgl. Gloger/ Zöllner (Fn. 10), S. 39: »Bildung war das Vorrecht einer kleinen Schicht, die ständig unter dem Verdacht stand, Zauberei, sogenannte Schwarze Kunst zu betreiben.« 141 Ein förmliches Bündnis mit dem Teufel wird erstmals in den Dialogen von Basilius dem Großen (4. Jahrhundert) erwähnt: Roskoff (Fn. 1), Bd. I, S. 284; ebd., S. 347: die erste Nachricht von einem Blutspakt stammt aus dem Jahr 1276. - Vgl. Papini (Fn. 2), S. 199. 142 Vgl. Roskoff (Fn. 1), Bd. I, S. 285 f. u. S. 377 - 380; erstmals als »Faust des Mittelalters« wurde Theophilus von Ludwig Ettmüller 1849 bezeichnet: ebd., S. 378. - Vgl. Maslowski (Fn. 14), S. 46 - 50: Die Gottesmutter - Marienwunder. 143 Vgl. Hexen und Hexenmeister. Die okkulte Praxis. Talismane. Der Teufel und die Magie. Hexensabbat. Wiesbaden 1975, S. 26. 144 Vgl. Nola (Fn. 13), S. 371 - 375: Die Identifizierung der Juden und der Zigeuner mit dem Teufel: vgl. Haag (Fn. 15), S. 477 - 489: Der Teufel und die Juden. - Vgl. Trachtenberg, Joshua: The Devil and the Jews. The Medieval Conception of the Jew and its Relation to Modern Antisemitism. New Haven 1943; Ginsburg, Carl: Hexensabbat. Entzifferung einer nächtlichen Geschichte. Berlin 1990, S. 67 - 89: Juden, Ketzer, Hexen. Der Teufel 513 Die Feuer der Hexen (ihr männliches Pendant geriet rasch aus dem Blick) 145 brannten längst, 146 bevor Papst Innozenz VIII. 1484 mit seiner Bulle Summis desiderantes affectibus den Malleus maleficarum der beiden Dominikaner-Inquisitoren Jakob Sprenger und Heinrich Institoris als kirchenoffizielles ›Drehbuch‹ einer Jagd auf verteidigungslose Frauen vorbereitet hatte, 147 denen der Flug zum Sabbat, 148 das Homagium auf den Teufelshintern, die sexuelle Vereinigung mit dem großen Bock 149 und ein ganzer Fächer menschlicher und Ernte-Schädigungen zur Last gelegt wurden, welche Untaten durch Folter und gezielte Fragen-Kataloge 150 ihre Bestätigung schon deshalb fanden, 151 weil nach einmal geschehener (und verdienstlicher) Denunziation der Verbrennung zu entkommen nahezu ausgeschlossen war. Blieben am Ende noch Zweifel, sorgte das Instrument der Wasserprobe 152 in jedem Fall für einen letalen Ausgang. Wenn auch die Gründe für eine vieltausendfache Ausrottung der »Hexen« 153 durch misogyne Psychosen 154 oder andere Erklärungsmodelle nie auch nur annähernd beizubringen waren - die den inkriminierten Frauen unterstellte Teufels-Hörigkeit und ihre als orgiastisch ausgemachten Kopulationen etwa auf dem Blocksberg 155 reichten aus, den Hexenjägern freie Hand zu gewähren und ihren scheußlichen Sadismus zu legitimieren. Heiden, Häretiker, die doktrinäre Enge verlassende Gelehrte, Juden und Hexen wurden im Mittelalter seitens einer in der Tat radikal um ihre Machtfülle und Identität bemühten Kirche dem Teufelsreich zugeschlagen und mithin als auszumerzende Kollek- 145 Daxelmüller (Fn. 6), S. 112: »Die Entwicklung aber, die aus dem Zauberer die Hexe [...] machte, setzte um 1230 ein«; ebd., S. 300: die Hexen galten als »Werkzeuge des Teufels«. - Roskoff (Fn. 1), Bd. I, S. 287: »Indem die Kirche die teuflischen Zauberer und Zauberinnen verstiess, wurde der Glaube an den Teufel ihr Pflegekind, welches grosszuziehen sie sich angelegen sein liess.« 146 Vgl. ebd., Bd. II, S. 213 - 225: Vorläufer der Hexenprocesse. - Zacharias (Fn. 32), S. 55: »Bereits im 9. Jahrhundert sind einzelne Elemente des Hexensabbats - so vor allem der Flug - zu finden«. 147 Vgl. Roskoff (Fn. 1), Bd. II, S. 226 - 292; vgl. Wolf (Fn. 96), S. 165 - 185. 148 Vgl. Nola (Fn. 13), S. 288 - 297: Teufel und Hexen beim Sabbat. - Der Canon Episcopi (möglicherweise schon aus dem 4. Jh.) hatte den nächtlichen Ritt noch als Blendwerk des Teufels ausgeschlossen; vgl. Mauthner (Fn. 26), S. 383. - Mit vorzüglichen Kommentaren und einer umfänglichen Bibliographie ausgestattet ist der Ausstellungskatalog der Bibliothèque Nationale: »Les sorcières«. Paris 1973. 149 Zur Vorstellung von Incubus und Succubus vgl. Roskoff (Fn. 1), Bd. I, S. 321; vgl. Frick (Fn. 5), Bd. I, S. 90 u. S.137; vgl. Mahal (Fn. 8), S. 54 f. - vgl. Kiessling, Nicholas: The Incubus in English Literature: Provenance and Progeny. Pullman 1977. 150 Vgl. Nola (Fn. 13), S. 298 - 313: Teufel und Hexen vor Gericht. 151 Hexen und Hexenmeister (Fn. 143), S. 37: Es handelte sich um eine »Halluzination fleischlichen Verkehrs mit dem Teufel«; Zacharias (Fn. 32), S. 10: »Die Grenze zum Imaginierten beziehungsweise wissentlich Gefälschten [kann] streckenweise gar nicht gezogen werden«. 152 Der erste Nachweis stammt aus dem Jahre 1143; vgl. Gloger/ Zöllner (Fn. 10), S. 33. 153 Gloger/ Zöllner (Fn. 10): 1212 fand die erste Massenverbrennung von Hexen in Straßburg statt. - Vgl. Roskoff (Fn. 1), Bd. II, S. 314 - 359: Erklärung der Hexenperiode; vgl. Daxelmüller (Fn. 6), S. 181 ff. - Mauthner (Fn. 26), S. 388: »der Hexenglaube [...] war damals ein Hauptbestandteil des Teufelsglaubens; und der Teufelsglaube war ein Hauptbestandteil der christlichen Religion, der amtlichen, nicht etwa bloß der Volksreligion.« 154 Vgl. Freimark, H.: Okkultismus und Sexualität. Beiträge zur Kulturgeschichte der Vergangenheit und Gegenwart. Leipzig 1909; Deschner, Karlheinz: Das Kreuz mit der Kirche. Eine Sexualgeschichte des Christentums. Düsseldorf 1974; Döbler, Hansferdinand: Hexenwahn. Die Geschichte einer Verfolgung. München 1977, S. 90 - 95: Haß gegen Frauen. 155 Eine Rekonstruktion von Goethes ursprünglichen, für den Druck aber verworfenen Blocksberg-Szenen findet sich in: Schöne, Albrecht: Götterzeichen, Liebeszauber, Satanskult. Neue Einblicke in alte Goethetexte. München 1982, S. 217 - 230. 514 Günther Mahal tive angesehen. Was häufig nur wie ein Kampf nach außen gerechtfertigt und propagiert wurde, diente zugleich zur disziplinierenden Binnenreinigung einer christlichen Gemeinschaft, der von den Rändern her der rechte Glaube eingebrannt werden sollte. Wer Ketzern Schutz gewährte oder eine Hexe nicht anzeigte, fiel gleichfalls dem Strafmechanismus anheim. 156 Der Pferch der Kirchentreuen, im Inneren von des Teufels Heerscharen ohnedies gefährdet, blieb gegen die diabolischen Angriffe von außen am zuverlässigsten umgattert, wenn die dort ausgemachten Satansdiener ostentativ in die ihnen zugedachte Hölle befördert wurden. Der Teufel, als Dienstherr aller Anderen, avancierte für die mittelalterliche Kirche zum ordnungsschaffenden Faktor schlechthin. Ihn in all seinen Vasallen zu verfolgen, verschaffte einen »Schatz im Himmel« (Mt. 19,21). VI Dem bisherigen Wirkungsspektrum eines aggressiv-bedrohlichen und nur durch die Nachfolge Christi sowie die Fürbitten der Heiligen und vor allem der Gottesmutter zu überwindenden Teufels 157 stehen gern als ›typisch mittelalterlich‹ erwähnte Teufelsbilder gegenüber, deren vorrangige Verbreitung den Anschein erwecken könnte, gar so schlimm sei es bei der Auseinandersetzung mit dem Bösen doch nicht zugegangen. Die Geschichten und Schauspiele vom guten, armen oder geprellten Teufel waren bereits vorreformatorisch gewiß tröstlicher und stofflich beliebter als die im Beichtspiegel reflektierten Höllenverfallenheiten. Es kann nicht wundernehmen, daß gerade die hellen und optimistisch stimmenden Ausnahmen später gern zur Regel verklärt wurden, so, als ob bereits im Mittelalter der seleenverschlingend-bedrohliche Satan immer mehr abgeschafft und von Höllenvertretern verdrängt worden sei, denen gegenüber eher Lachen als Grausen am Platz gewesen wäre. - Man muß den vielfach in Märchen 158 weiterlebenden Histörchen von bemitleidenswert-auszunutzenden, leicht zu übertölpelnden und ihrer gefährlichen Intelligenz gänzlich entkleideten Teufeln diese Anmerkungen vorausschikken, um ein momentanes Blinzeln der Erleichterung nicht als dem Schreck-Teufel gleichgewichtig oder ihn gar präponderierend auszuloben. Daß neben dem in Erscheinung wie Wirkung fürchterlichen Teufel auch dessen harmlose und bedauerte Brüderchen in den Blick kamen, »grotesk-lächerliche Figur[en]«, 159 deren befreiendes Auslachen den sonst ständig erforderten Kampf kurzfristig unterbrach, hat man mit einem im späteren Mittelalter stabilisierten Wohlstand erklären wollen; 160 überzeugender als dieser mechanistische Umschlag relativer ökonomi- 156 Vgl. die Bestimmung des »Hexenhammers«, zit. nach Maslowski (Fn. 14), S. 110: »Eine allgemeine Citation soll an den Türen der Pfarrkirchen angeschlagen sein, die jeden auffordert, welcher weiß, gesehen oder gehört hat, daß eine Person der Ketzerei oder Hexerei berüchtigt oder verdächtig sei oder dergleichen übe, das zum Schaden der Menschen, des Viehs, der Feldfrüchte, des gemeinen Wesens gereicht, innerhalb 14 Tagen die Aussage zu machen, und zwar bei Strafe des Kirchenbannes.« 157 Eine Rettung der Sünderin durch Maria zeigt auch das Spiel von Frau Jutten (1480): Roskoff (Fn. 1), Bd. I, S. 383 ff. 158 Vgl. Lüthi, Max: Märchen. Stuttgart, 4., durchgesehene und ergänzte Auflage 1971 (Sammlung Metzler, Bd. 16), S. 19 f. 159 Roskoff (Fn. 1), Bd. I, S. 389 f. 160 Vgl. Obendiek, Harmannus: Satanismus und Dämonie in Geschichte und Gegenwart. Berlin 1928, S. 29. Der Teufel 515 scher Prosperität in vermehrte Heilssicherheit ist wohl der Hinweis auf eine gesteigerte Verehrung der Heiligen 161 und insbesondere Marias, 162 die als Gnade vor Recht ergehen lassende Fürsprecherin selbst der verirrtesten Sünder bei ihrem weit strengeren, am Ende aber doch milde gestimmten Sohn geglaubt wurde. 163 - Hinzu kam das aus vielen defizitären Situationen von langer Dauer bekannte Phänomen, daß man sich in der ständigen teuflischen Bedrohung allmählich einzurichten und sie gar zu familiarisieren wußte, daß man also der unabwendbaren Fatalität gegenüber so etwas wie Galgenhumor entwickelte; auch die diabolischen Fratzen der Wasserspeier oder die an ihren Ketten rasselnden Teufelsgestalten der Tympana konnten beim wiederholten Anblick nicht mehr so schrecken wie beim ersten. - Schließlich zeigte eine Erzählung wie die »Teufelsbeichte«, daß man im alt bösen Feind auch den von allen Geschöpfen Gottes allein von der Erlösung Ausgeschlossenen wahrnahm, ein in seiner Bosheitsprogrammierung gefangenes und somit Mitgefühl weckendes Wesen. - Wichtig wurde auch der erstaunliche Faktor, daß dem »Vater der Lüge« (Joh. 8,44) unbedingte Vertragstreue zugestanden wurde; die verblüffte Frage »Die Hölle selbst hat ihre Rechte? « (Goethes Faust, V. 1413) resümiert einen großen Bestand stets zuverlässiger Vereinbarungen zwischen Mensch und Teufel. - Gleichgültig, welche Faktoren im Einzelfall bestimmend waren: das mittelalterliche Arsenal von Schmunzeln, Heiterkeit, Schadenfreude oder einen christlichen David-Goliath-Effekt auslösenden Teufelsgeschichten ist reich und anschaulich; daß das Teufelsbild des Mittelalters durch solche narrativen oder dramatisierten Erleichterungspointen dauerhaft geprägt worden wäre, sei nochmals in den Bereich einer nicht repräsentativen Selektion verwiesen. Der Sagenkreis vom geprellten Teufel, den August Wünsche 164 untersucht hat, zeigt dessen Macht und Armseligkeit zugleich: zum einen gelingt es dank seiner von den Rie- 161 Vgl. Roskoff (Fn. 1), Bd. I, S. 316; vgl. ebd., Bd. II, S. 159: der Teufel fühlt Haß und Neid gegenüber den Heiligen; vgl. Huizinga (Fn. 82), S. 231 - 245. - Über eine kirchenjuristische Verbindung zwischen den Teufeln und den Heiligen handelt Maslowski (Fn. 14), S. 173 ff.: Der »Advocatus Diaboli« und die lieben Heiligen. 162 Roskoff (Fn. 1), Bd. II, S. 198: » gegen das 12. Jahrhundert war der Mariencultus beinahe zur ausschliesslichen Abgötterei geworden « ; vgl. ebd., S. 148 - 205: Heiligendienst und Mariencultus; Maslowski (Fn. 14), S. 47: »Der aufblühende Marienkult, der mit dem Schutzbedürfnis der Christenmenschen gegen teuflische Anfechtungen zusammenhing, war jedenfalls vom Glauben an einen mächtigen Teufel nicht zu trennen. Je größer der Einfluß des Teufels wurde, desto mehr gewann Maria an Heiligkeit«; Mauthner (Fn. 26), S. 204 f.: »Diese Vergottung der jungfräulichen Mutter hielt mit der Angst vor dem Teufel gleichen Schritt.« - Vgl. Günther, Bonifatius: Maria, die Gegenspielerin Satans. Aschaffenburg 1972. 163 Roskoff (Fn. 1), Bd. I, S. 349 - 359: Der Satansprocess; ebd., S. 353, zu Bartolo da Sassoferratos Satan contra Mariam (um 1350); vgl. dazu auch Maslowski (Fn. 14), S. 39. 164 Wünsche, August: Der Sagenkreis vom geprellten Teufel. Leipzig und Wien 1905. - Mauthner (Fn. 26), S. 191: »Die Dichter und Erzähler, im Mittelalter also besonders die Verfasser von Heiligenlegenden, glaubten vielleicht nicht recht an den Teufel, wenn sie berichteten, wie er in unzähligen Fällen gefoppt, gehänselt, geprügelt und um den Lohn seiner Mühen betrogen wurde.« - Vgl. Dreyer, Max: Der Teufel in der deutschen Dichtung des Mittelalters. Von den Anfängen bis ins XIV. Jahrhunderts. Rostock 1884; Wagner, Werner-Harald: Teufel und Gott in der deutschen Volkssage. Greifswald 1930; Zieren, Helene: Studien zum Teufelsbild in der deutschen Dichtung von 1050 bis 1250. Diss. Bonn 1937. - Daß durch List geprellte Teufel auch noch in der Literatur des Reformationszeitalters vorkommen, belegt Ehrenfeuchter, Martin: Aspekte des zeitgenössischen Zauberglaubens in Dichtungen des 16. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 1996 (Europäische Hochschulschriften, Reihe I, Bd. 1581), S. 59 f. 516 Günther Mahal sen und Titanen geerbten Kraft und Geschicklichkeit, Kirchen oder Brücken selbst über Nacht zu errichten; zum anderen wird er - das erste über die Brücke gehende Lebewesen war ihm als Lohn versprochen - an Menschenstelle durch eine Katze oder einen Hund abgefunden, und beim Besichtigen der Gotteshäuser fehlt ein Stein, so daß die Absprache eines fertiggestellten Bauwerks als unerfüllt gilt. - Eine besondere Variante bildet die Abmachung, der Teufel müsse mit seiner architektonischen Leistung bis zum ersten Hahnenschrei fertig sein; der verfrüht nachgeahmte Schrei des ersten Hahns (über seine Verbindung zum Petrus der Leidensgeschichte wäre nachzudenken) bedeutet eine menschliche pia fraus am Teufel. Der um seinen Lohn geprellte oder von einer couragierten Schmiedefrau an geplanten Unheils-Aktivitäten durch Festnageln seines Schwanzes Gehinderte stand als dummer Teufel da, als von menschlicher List und Unerschrockenheit Blamierter, kraft seiner beim Wort genommenen Abspracheverläßlichkeit als buchstabenklebend hereingelegter Hilfsarbeiter von in der Tat sagenhafter Schaffenswut, den für die Gegenseite zu engagieren allein die aus seinem genuinen Repertoire entlehnte Verschlagenheit verlangte. Blieb in solchen Prell-Sagen die Differenz zur herkömmlichen Diabolologie alptraumhafter Allgegenwart unaufgelöst, so verbürgte in den den geistlichen Schauspielen des Mittelalters - oft mehrtägigen kultischen Vergegenwärtigungen, die aus dem dafür zu eng gewordenen Kirchenraum auf große Plätze verlegt worden waren 165 und deren Teilnahme am ganz und gar undramatischen Ablauf den weniger Zuschauern als Mitfeiernden einen Ablaß gewährte - Christus selbst den Sieg über eine während der Aufführung aus ihrem Höllenrachen heraus als Spielpolizei und Spaßmacher agierenden Teufelsbande. 166 Daß der Gottessohn, den der Teufel zum Tausch gegen alle bisher in der Hölle gefangenen Seelen akzeptieren wollte, im descensus ad inferiorem dessen feuriges Etablissement leerräumte, 167 selbst aber keineswegs von den satanischen Saalordnern gefangenzusetzen war, mußte die Teufel in Wut und die Teilnehmer am unterhaltsamen wie didaktischen Geschehen in heilsgewissen Optimismus versetzen, 168 auch in die aktualisierte Zuversicht, daß in der Nachfolge Christi eine entschlossene ecclesia militans über den Bösen und seine Horden siegreich sein könne. - Wenn am Ende des Redentiner Osterspiels (1464) der an Ketten 169 in einem Faß gebundene Luzifer Christi Sieg anerkennen muß und über seine verlorene Seligkeit zu jammern beginnt, danach seine Teufel auf neuen 165 Roskoff (Fn. 1), Bd. I, S. 359 - 399: Der Teufel auf der Bühne. - Vgl. von Hase, Karl August: Das geistliche Schauspiel. Geschichtliche Übersicht. Leipzig 1858. 166 Vgl. Ayrer, Jakob: Historischer Processus Juris. In welchem sich Lucifer uber Jesum, darumb daß er jhm die Hellen zerstöhrt, eingenommen, die Gefangene darauß erlöst, und hingegen jhnen Lucifern gefangen und gebunden habe, auff das aller hefftigest beklaget [...] (1601). 167 Der in Mt. 12,40, Apg. 2,31 u. Röm. 10,7 erwähnte und im apokryphen Nikodemus-Evangelium (auch: Acta Pilati) ausführlich geschilderte descensus war bereits im 2. Jahrhundert Glaubenssatz: Maslowski (Fn. 14), S. 66; vgl. Papini (Fn. 2), S. 103: »So nahm Gott - laut dem Heiligen Gregor dem Großen - Zuflucht zu einer Täuschung: Er bediente sich des menschlichen Körpers Christi wie eines leckeren Köders«; vgl. Freidanks Bescheidenheit, zit. bei Mahal (Fn. 8), S. 47. - Vgl. Kroll, Josef: Der Mythos vom Descensuskampfe. Leipzig 1932; Owen, Douglas D. R.: The Vision of Hell. Infernal Journeys in Medieval French Literature. Edinburgh 1970. - Zur seit Origines vertretenen pia fraus vgl. Roskoff (Fn. 1), Bd. I, S. 228 f. 168 Vgl. Winklhofer, Alois: Traktat über den Teufel. Frankfurt 1961, S. 231: »christliche Heilsgewißheit« 169 Vgl. das 20. Kapitel der Apokalypse: der Drache des Antichrist wird in die Hölle geworfen und angekettet. Der Teufel 517 Seelenfang schickt, 170 doch den von Satan in die Hölle geschleppten Geistlichen besser wieder laufen läßt, dann enthalten diese Vorgänge neben allerhand Situationskomik auch die autoritative Belehrung, daß es mit der Macht der widermenschlichen und widergöttlichen Herrschaften so weit doch nicht her sein könne; die Didaxe per Spott ist allemal wirkungsvoller als theoretische Exegese. 171 In der bereits erwähnten »Teufelsbeichte« 172 sucht der die Kirche schwarz betretenden und weiß aus ihr kommenden Menschen beobachtende und beneidende Teufel wie sie im Beichtstuhl seiner Sündenschuld ledig zu werden; da ihm aber aufrichtige Reue über den Grund seines Himmelssturzes nicht gelingt, muß er ohne Absolution von dannen ziehen und sich erneut als Unheils-Automat betätigen. Wenn ihm, dem Bruder des aus sechs Augen weinenden Luzifer in Dantes Inferno, 173 wahre Reue und Vergebung auch versagt bleiben, so bescheinigt ihm diese Geschichte doch ein menschliche Sympathie hervorrufendes Innenleben. Der arme Teufel (heute redensartlich auf das folgenlose Notiznehmen sozialen Abstiegs verengt) des Mittelalters wird auf diese Weise zum Adressaten einer Hinwendung, die sich auf die Apokatastasis-Theorie des Origines berufen könnte und die in den traurigen Teufeln Miltons oder Klopstocks ihre dichterischen Nachfahren haben sollte. 174 Ohne Zweifel hat der geprellte, 175 dumme, 176 arme oder gar hilfreich-dienstbare Teufel 177 »inmitten der düsteren, grauenvollen Nacht voll Furcht vor der Gestalt des 170 Vgl. zum Redentiner Osterspiel Roskoff (Fn. 1), Bd. I, S. 389 f.; auch im Innsbrucker Osterspiel muß die von Christus leergeräumte Hölle neu aufgefüllt werden. - Vgl. Wieck, Heinrich: Der Teufel auf der mittelalterlichen Mysterienbühne Frankreichs. Marburg 1887 (Diss.); Köppen, Alfred: Der Teufel und die Hölle in der darstellenden Kunst von den Anfängen bis zum Zeitalter Dante’s und Giotto’s. Berlin 1895; Rudwin, Maximilian: Der Teufel in den deutschen geistlichen Spielen des Mittelalters und der Reformationszeit. Göttingen 1915; Lampe, Hans-Dirk: Die Darstellung des Teufels in den geistlichen Spielen Deutschlands. Von den Anfängen bis zum Ende des 16. Jahrhunderts. München 1963; Schuldes, Luis: Die Teufelsszenen im deutschen geistlichen Drama des Mittelalters. Göppingen 1974. 171 Ernstere Varianten des geistlichen Schauspiels sind das 1321 in Eisenach aufgeführte Zehnjungfrauenspiel, in dem die törichten Jungfrauen dem Teufel übergeben werden (Roskoff [Fn. 1], Bd.I, S. 380), und das aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts stammende Donaueschinger Osterspiel, in dem der Selbstmord des Judas als Hinrichtung durch die Teufel inszeniert wird (ebd., S. 368). - Vgl. Andrus, Toni Wulff: The Devil on the Medieval Stage in France. Diss. Syracuse Univ., USA 1979. 172 Das schon bei Cäsarius von Heisterbach ansatzweise ausgebildete Motiv der Teufelsbeichte wurde in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts zur dramatischen Erzählung vom armen Teufel, dem seine ewigkeitliche Bosheitsprogrammierung bei dem Bemühen im Wege steht, das Erlebnis der Sündenwäsche mit den Menschen zu teilen. - Wenn an dieser und anderen Stellen einige Hinweise auf auch nachmittelalterliche Dichtungen folgen, so nicht allein deswegen, um die spätere kursorische Behandlung des neuzeitlichen Teufelsglaubens schmal zu halten; diese Titel schon hier aufzuzählen, erscheint daneben deswegen legitim, weil sie gegenüber ihren mittelalterlichen Mustern typologisch keine Innovatorik aufweisen. - Bekehrte oder erlöste oder gestorbene Teufel finden sich in: Thomas Moore, Das Paradies und die Peri (1817); Alfred de Vigny, Satan sauvé (Plan, 1824); Théophile Gautier, La larme du diable (1839); Georges Sand, Consuelo (1842/ 43); Giuseppe Montanelli, Die Versuchung (1856); Victor Hugo, La Fin de Satan (Fragment, 1886); Arthur Landsberger, Wie Satan starb (1919); Maxime de Camp, La Mort du Diable (um 1950). 173 Vgl. Papini (Fn. 2), S. 269. - Vgl. Busnelli, Giovanni: I tre colori del Lucifero Dantesco. Roma 1910; Donati, Umberto: Lucifero nella Divina Commedia. Roma 1958; Palgen, Rudolf: Dantes Luzifer. Grundzüge einer Entstehungsgeschichte der Komödie Dantes. München 1969. 174 Vgl. Mahal (Fn. 8), S. 160. 175 Vgl. die Gedichte von Heinrich Seidel (Der betrogene Teufel) und Friedrich Rückert (Der betrogene Teufel), zit. bei Mahal (Fn. 8), S. 107 ff. 518 Günther Mahal Teufels« 178 Lichtblicke ermöglicht, Atempausen, bei den geistlichen Schauspielen vermutlich bald schon wieder ernüchterte Euphorien. Daß der Teufel im Neuen Testament und in der Patristik nie verniedlichend, verharmlosend, gar karikierend dargestellt oder der Lächerlichkeit preisgegeben wurde, relativierte rasch die Erlebnisse prustender Befreiung und die volkstümlich dargebotenen Überwindungsleichtigkeiten eines Teufels, der zwischen seinen erschreckenden Offensichtlichkeiten und seinen ausgeklügelten Verkappungen zu variieren wußte. Die behaglichen Anekdoten wie die durch Christi Erlösungstat beglaubigten Demütigungen Satans blieben die Ausnahmen von einer angstbesetzten Regel. VII Es sollte nicht übersehen werden, daß selbst die von der allgemeinen Norm fürchterlicher Bedrängung abweichenden Teufelsdarstellungen den »Gott dieses Äons« (2. Kor. 4,4) gegenwärtig hielten - weit mehr, als dies die (gelegentlich auch ohne den Teufel auskommenden) Heiligen-Viten vermochten und als dies in der gläubigen Hinwendung zu einem immer schon aus Ehrfurcht fernen Gottvater im Himmel plastisch und phantasieanregend werden konnte. Machiavellis Aperçu, lieber als im langweiligen Elysium wolle er in der Hölle 179 enden, da er dort mit interessanten Geistern im Gespräch bliebe, 180 läßt, die Skizze des mittelalterlichen Teufelsbildes abschließend, einen Generalbefund treffen, der fern und entgegen anderslautenden dogmatischen Fixierungen den Mythos Teufel als lebenslang ängstigenden, in der Glaubensrealität des einzelnen Christen übermächtigen und alle nur mögliche Jenseitsvorsorge verlangenden Weltbeherrscher mit dem Gottesreich vergleicht: dem satanischen Reich kommt im religiösen Alltag über einen bloßen Dualismus hinaus Suprematie zu. 181 176 Vgl. Mahal (Fn. 8), S. 112. - Beispiele für dumme Teufel finden sich in Matteo Maria Boiardos L’Orlando innamarato (1486), Ben Jonsons The Devil is an As (1616) oder Lorenzo Lippis Malmantile riacquistato (1676); die neuere Dichtung bevorzugt freilich intelligente Teufel, z.B. Jules Michelets La Sorcière (1862) oder Gustave Flauberts La tentation de Saint-Antoine; vgl. bereits Voltaires Anrede an seine wissenschaftlichen Freunde: »frères en Beelzébuth« - zit. nach Graf (Fn. 16), S. 443. - Vgl. weitere Hinweise in Fn. 193. 177 Robert Louis Stevenons The bottle imp (1891) und ähnliche Erzählungen von Flaschenteufeln haben ihre Vorbilder im orientalischen Märchen und im spiritus familiaris; vgl. Mahal, Günther (Hrsg.): Carl Christian Kirchner/ Johann Georg Neumann: Vom Scharlatan Faust. Die erste akademische Schrift der Faust- Tradition (1683). Übertragung des lateinischen Textes von Nicola Kaminski. Kommentiert und mit einem Nachwort hrsg. von Günther Mahal. Knittlingen 1996 (Publikationen des Faust-Archivs, Bd. 3), S. 29. - Dienstbarkeit und Absprache-Verläßlichkeit sind unverzichtbare Elemente bei den früher dem weisen Salomon und später dem in der ewigen Magier-Liste an die Spitze avancierten Faust zugeschriebenen Höllenzwänge. - Als dienstwillige literarische Teufelsgestalten seien genannt: Luis Velez de Guevara y Duenas, El diablo cojuelo (1641), Alain-René Lesage, Le diable boiteux (1707), Jacques Cazotte, Le diable amoureux (1772) oder Charles R. Maturin, Melmouth the Wanderer (1820). 178 Roskoff (Fn. 1), Bd. I, S. 394. 179 Vgl. Haas, Alois M.: Tod und Jenseits in der deutschen Literatur des Mittelalters. In: Himmel, Hölle, Fegefeuer (Fn. 89), S. 69 - 78. - Vgl. die Höllen-Erwähnungen im Heliand und im Muspilli. - Vgl. auch die großteils modernen Aussagen in: Borges, Jorge Louis (Hrsg.): Das Buch von Himmel und Hölle. Stuttgart 1983. - Vgl. Fischer-Fabian, S., Der Jüngste Tag. Die Deutschen im späten Mittelalter. München 1985, S. 211 - 241: Der Jüngste Tag. 180 Nach Papini (Fn. 2), S. 209. Der Teufel 519 Daß »überm Himmelszelt [...] ein güt’ger Vater wohnen« müsse, wie es Schillers säkularisierte Emphase ausdrückte, war allenfalls eine fromme Hoffnung auf das ewigkeitliche Morgen; die Alltagserfahrungen, noch jenseits der Großbedrängungen für Gesundheit und Ernte, stellten weit mehr als Gottes Wirken jenes des Teufels vor Augen. Und weder Christi Vorbild noch das der Heiligen waren geeignet, für den schwachen Menschen eine Nachfolge selbstverständlich zu machen: allzu verlockend waren die Aussichten, durch den Teufel Macht und Reichtum zu erlangen; und allzu peinigend waren die Attacken etwa gegen den heiligen Antonius, um sich selbst ein gleiches Widerstehen zutrauen zu können. Bereits Paulus, dem zurecht ein »verinnerlichter Dualismus« 1 82 attestiert wurde, hatte - deutlicher als die Synoptiker - der Satanswelt die »Struktur eines Gegenreiches« 183 bescheinigt. Eine »neutestamentliche Entwicklung des Satans zur Gegenpersönlichkeit Gottes« 184 war unverkennbar; »Satans Reich und Thätigkeit« erschien dem »messianischen oder göttlichen Reiche gegenüber« als »der gerade Gegensatz«. 185 Spätestens seit der Patristik war der »Dualismus Gott-Teufel [...] zur unerschütterlichen Grundlage des christlichen Denkens geworden«. 186 »Die Furcht vor dem Teufel und seiner Macht hatte denselben bereits im 9. und 10. Jahrhundert so hoch erhoben, dass die göttliche Allmacht daneben beschränkt erscheinen musste«. 187 »Achtet man genauer auf die Bedeutung des Teufelwahns, so ist es ein Zufall, daß die Religion, deren Ursprung doch die sonnige Bergpredigt gewesen war, nicht den Namen Diabolismus erhielt.« 188 Solche Befunde breit zu exemplifizieren, fehlt hier der Platz. Aber auch ohne weitere Belege ist klar, daß der Teufel des Mittelalters wegen seiner dem guten Gott gegenüber kontrastiven Erklärungssimplizität der willkommenste Helfer in der praktischen Seelsorge werden mußte. Für die Kirche war der zuzeiten arme, in aller Regel aber fürchterliche Teufel eine Idealfigur, zum einen zur Disziplinierung der Gläubigen, deren keiner der Internalisierung des Himmel-Hölle-Schemas durch Predigt und Seelsorge entgehen konnte. Zum zweiten machte die Bestrafung der hexerischen Sezessionisten als vorgezogenes Endgericht drastisch augenfällig, wie eng der den Christen vorgezeichnete Weg war und wie rasch egoistische Übertretung, gar zum Schaden der Nächsten, in die persönliche Katastrophe führte. Zum dritten lieferte der Teufel Ketzern und Heiden gegenüber eine überdeutliche Rißlinie zwischen himmelssichernder Rechtgläubigkeit und unbelehrbarer oder unterordnungsvergessener Satansgenossenschaft. Zum vierten bedeutete der Teufel eine Garantie für den gütigen, lieben Gott - wenn der Begriff der Theodizee dem Mittelalter auch noch fremd war, so brachte die Zuständigkeit des Teufels für Mißernten, Überschwemmungen, Hunger und Leibesnot jeder Art doch sozusagen eine Generalentlastung für den von Christus gepriesenen Vater im Himmel. Zum fünften bedeutete der 181 Zum Gegensatz zum Alten Testament vgl. Roskoff (Fn. 1), Bd. I, S. 197. 182 Nola (Fn. 13), S. 204. 183 Lüthi, Kurt: Gott und das Böse. Zürich 1961, S. 192. 184 Zacharias (Fn. 32), S. 18; Mauthner (Fn. 26), S. 208: »Das Mittelalter besaß als vermeintliches Wissen nur Theologie, die zur Hälfte Satanologie geworden war.« 185 Roskoff (Fn. 1), Bd. I, S. 211. 186 Maslowski (Fn. 14), S. 32. 187 Roskoff (Fn. 1), Bd. I, S. 304. 188 Mauthner (Fn. 26), S. 192; ebd., S. 200: »man erweist dem Teufel dieser wahrhaft barbarischen Zeit zu wenig Ehre, wenn man ihm nur die Rolle eines Gegenspielers, eines gleichmächtigen Gegengottes zuspricht«. 520 Günther Mahal Teufel individuelle Entlastung für jeden sündigen Menschen, der in theologischer Equilibristik zum einen als freier Täter des sachlich Bösen und zum anderen als Opfer des personal Bösen gesehen wird - dieser Doppelung wegen ist auch die Rückholung der verlorensten Schafe ein himmlisch-pastoraler Akt, der die Verschuldung des Einzelnen zugunsten der großen Zusammenhänge zu ›vergessen‹ vermag. Es kann nicht wundern, daß die Allzuständigkeit 189 des Teufels, grundiert von seiner gegenüber dem ruhigen Himmel rastlosen Aktivität, jenseits aller dogmatischen Bekundungen beim religiösen ›Endverbraucher‹ zumindest den Eindruck eines Dualismus erzeugen mußte oder auch, darüber hinausgehend, den einst manichäisch formulierten Befund, daß die Erde die Domäne des Teufels sei. Erst im Jenseits konnte man Gott nahe kommen; auf der irdischen Welt regierte der Böse mit Angst und Faszination. »Herrscht der Teufel heut auf Erden, / Morgen wird Gott Sieger werden.« 190 - In diesen und vielen ähnlichen Formeln wurde die tagtäglich erfahrene Zweiteilung in eine irdische böse und eine himmlische gute Welt zugunsten der Vertröstungshoffnung eines unvermeidlichen Gangs durch das »Jammertal« (Ps. 84,7) hin zur ›besseren‹ ewigen Heimat verklärt. Zugleich bildeten Gedichte, Lieder, Predigten und andere Unterweisungen ähnlichen Tenors ein gewiß nicht gewolltes Eingeständnis kirchlicher Autoren, daß die irdische Schlacht schon verloren gegeben sei, daß die alleinige Herrschaft des Teufels anerkannt werden müsse, daß der »Fürst dieser Welt« (Joh. 12,31) sein Regiment kaum gefährdet ausübe. - Jeder Theologe hätte solchen Schlüssen widersprechen, von einer durch Christus erlösten Erde und vom standhaften und am Ende siegreichen Kampf über den Teufel reden müssen. Theoretisch oder dekretorisch war freilich der Glaubensrealität diabolischer Suprematie nicht beizukommen; die mittelalterliche Kirche, die den Satan zum Büttel gerufen hatte, kam unter dessen Knute; den Gläubigen des ›dunklen‹ Zeitalters wurde der Blick zum Himmel durch eine übermächtig wuchernde »Parasitpflanze« 191 von nebuloser Konkretion verdunkelt und oft genug versperrt. Der biblisch schmale Weg in die ewige Seligkeit mußte desto schwerer auffindbar werden, als sich die Kirche am Überhandnehmen des satanischen Wildwuchses stets interessiert zeigte und jedenfalls seine Beschneidung vermied. Die frohe Botschaft vom allmächtigen Gott wurde für den Lebensalltag suspendiert; des Teufels von Gott wie insbesondere von seinen irdischen Stellvertretern zugestandene Unheilstätigkeit ging über einen von den Christen des Mittelalters erlebten Dualismus weit hinaus. VIII Der Teufel des Mittelalters ist gefährlich und dumm, konstruktiv und destruktiv, unscheinbar und monströs, schön und häßlich, gerissen und zu übertölpeln, ein Lügner, doch etwa bei seinen architektonischen Absprachen korrekt. - Die ganz und gar inhomogene Bandbreite teuflischer Einschätzungen und Anschauungen bildet die Grundlage dafür, daß spätere Jahrhunderte einzelne diabolische Facetten eines uneindeutig oszillieren- 189 Spezialisierte Teufel nennt Maslowski (Fn. 14), S. 41; von Rudwin übernimmt er 64 Teufelsnamen samt ihren Zuständigkeiten. 190 Zit. nach Mahal (Fn. 8), S. 73. 191 Roskoff (Fn. 1), Bd. I, S. 299. Der Teufel 521 den und sogar widersprüchlichen Bildes selektiv nutzen konnten. Nahezu alle nachmaligen Formen des Teufelglaubens und seiner literarischen wie ikonographischen Darstellung bedeuten einen je neu auswählenden Griff in ein unerschöpfliches Reservoir der variantenreichsten Reprise-Möglichkeiten. Was seit dem 16. Jahrhundert auf den ersten Blick als eigenständige Setzung oder gar als Widerspruch zu mittelalterlichen Positionen erscheinen mag, hat allermeist in dessen Vorstellungswirrwarr und Zuordnungsdschungel seine Vorläufer und Vorbilder. Die auch sonst reichlich naive Annahme, eine helle Neuzeit habe ein dunkles Mittelalter abgelöst und dem historischen Orkus überantwortet, projiziert gerade in diabolicis ein Wunschbild, das sich von den tatsächlichen Kontinuitäten und Rezidiven abkoppelt. Glaubensmäßige und vor allem legendengestützte mythische Bilder sind überlebensfähiger und wucherungstüchtiger, als dies eine schubladenorientierte Geistes- oder Ungeistgeschichte wahrhaben möchte. Das Verhältnis von Mythos und Logos zeigt für den letzteren nur Teilsiege auf kurze Dauer. Und selbst dann, wenn im Falle des Teufelsglaubens die religiöse Komponente der Gefahr ewiger Verdammung in der Neuzeit zurückgedrängt werden mag, erweisen sich die alten Bilder doch für literarische oder bildliche Neuaufnahmen intakt, Fratzen ohne den alten Sinn und die vormalige Verbindlichkeit, aber doch von einer Wirkung, die auch im (relativ) Paganen anhält. Die »Mittelalter-Mythen« versammeln eine Fülle von Figuren, deren unverwechselbare Prägnanz auch in allen späteren Varianten erhalten bleibt und so ihre Erkennbarkeit erst ermöglicht. Der nachmittelalterliche Teufels-Mythos unterscheidet sich von derlei kontinuierter Identität, schon deshalb, weil bereits im Mittelalter zentrifugale Tendenzen und Ausprägungen selbst einen Kernbestand nur schwer benennbar machen: sobald zum spirituellen Corpus der Teufels-Aussagen im Neuen Testament und in der Patristik, einer personalen und tausendköpfigen Macht widermenschlicher und - im Gegensatz zum Alten Testament - auch widergöttlicher Stoßrichtung, das Erbe der bekehrten Heiden hinzutritt, wird der Schrecken zugleich größer und gewöhnungsfähiger; Christi Vorbild, in den geistlichen Schauspielen wie in Predigt und Seelsorge vermittelt, und an der Spitze der fürbittenden Heiligen Maria nehmen der furchtbaren Macht ihre Endgültigkeit, mit der Folge von Teufelsvorstellungen, die aller Panik einige Heiterkeit abgewinnen. Von der mittelalterlichen Spannweite gegensätzlicher und seitens der Kirche nie vereindeutigter, sondern immer neu gegen äußere wie innere Feinde instrumentalisierter Teufelsbilder lebt noch die neuzeitliche Diabolologie. Wenn es in ihr auch allenfalls in den Menetekeln einer Satanswelt innerhalb dediziert christlicher Positionen 192 erneut um 192 Die im folgenden exemplarisch aufgeführten Romane sollten nicht mit den Traktätchen verwechselt werden, die in vielen Kirchen-Windfängen lebenspraktische und heilsfördernde Wirkungen versprechen; den in ein paganes Umfeld hinein publizierenden Autoren erscheint die Welt als Falschprägung, was zugleich den bedrückendsten Gottesbeweis bedeutet: in dieser Welt wirkt der Teufel ungebrochen als widermenschliche und -göttliche Macht. - Genannt seien nur: George Bernanos, Sous le soleil de satan (1926); François Mauriac, Le noeud de vipères (1932); George Bernanos, Monsieur Ouine (1938); Elisabeth Langgässer, Das unauslöschliche Siegel (1946); Hermann Gohde, Der achte Tag (1950) oder Luis José Descalzo, Die Grenze Gottes (um 1955). - Vgl. Baar, Hans-Eckehard: Theologische Untersuchung der Kunst. Poiesis. München; Hamburg 1965 (Siebenstern-Taschenbuch, Bd. 59/ 60), S. 179: »Daß diese Dichtung sich oft schockierend weit in den Wirkungskreis der Sünde hineinwagt, geschieht einzig und allein deshalb, damit die Gegenkraft der Gnade desto mächtiger ins Spiel kommt. Die Schriftsteller, wenn sie Christen sind, sprechen von menschlicher Schuld und Sünde, meinen aber die Gnade«. 522 Günther Mahal ein Reich globalen Zuschnitts und totaler Bedrohung geht und wenn ansonsten mit den überreichen Teufels-Beständen des Mittelalters eklektisch verfahren wird, jeweils neu verquickt mit epochenspezifischen Strömungen oder auch außenseiterisch-rebellischen Intentionen 193 - so bildet doch der alte Teufels-Mythos das Ausgangsfeld, das auch in neuen und neuesten Evokationen eingeübte Assoziationsketten wieder in Gang setzt. Den Teufel des Mittelalters gibt es nicht, weil sein Erscheinungsbild von der harmlosen Unerkennbarkeit bis zur brutal-aggressiven Schreckvision reicht, weil der in seiner Rachsucht unermüdliche Seelenjäger auch überrumpelt und bis zur Lächerlichkeit gedemütigt werden kann, weil der omnipräsenten Macht des »Fürsten dieser Welt« zwar eine Suprematie der Alltagserfahrung zukommt, die über den von der offiziellen Theologie stets bestrittenen Dualismus weit hinausreicht, aber selbst der mit der Hölle in förmlichen Kontrakt getretene Mensch auf Rettung und Begnadigung eines gütigen Himmels hoffen darf, vor allem durch die Fürsprache der Gottesmutter. In seiner theologischen Begründung mehr als fragwürdig, ›erbt‹ der mittelalterliche Teufel einen zumeist bedrohlichen, aber auch bizarren und grotesken Merkmalskatalog, dessen ikonographische ›Summe‹ von Grünewald, Bosch und Breughel an die Neuzeit weitergegeben wird. 194 Noch einmal: die Teufelsgestalten des Nachmittelalters schöpfen nahezu allesamt aus überkommenen Beständen, direkt oder umwegig, partiell oder in ›Originalgröße‹, alte ›Bauteile‹ montierend oder Einzelaspekte isolierend. Die Neuzeit erfindet zum alten Thema nichts ganz und gar Unerhörtes hinzu; sie kombiniert allenfalls bestehende Elemente. Auch wo entdogmatisierte, ihrer eschatologischen Dimension entkleidete, ja selbst jeglicher religiösen Kontextierung verlustig gegangene Teufel ins satanistische, literarische, künstlerische, redensartliche und zuletzt auch werbliche Spiel gebracht wer- 193 Generell gilt das Urteil von Haag (Fn. 15), S. 490: »Für die neueren Formen des Satanismus bildet der Satanskult der mittelalterlichen Hexensabbate immer noch die Grundlage«; vgl. Zacharias (Fn. 47), S. 55, der für das 14./ 15. Jahrhundert die »Ausbildung seines eigentlichen Rituals« feststellt. - Zu Gilles de Rays, dem »Inbegriff des mittelalterlichen Satanisten schlechthin«, vgl. Daxelmüller (Fn. 6), S 147 - 152 (Zitat S. 147). - Zu den Schwarzen Messen am Hof Ludwigs XIV. vgl. ebd., S. 106 - 125; nach Haag (Fn. 15) S. 491, wurden sie als »Mittel zum erotischen Erfolg oder zum standesgemäßen Aufstieg« inszeniert. - Der von Robert Southey 1821 auf Lord Byron und Percey Bysshe Shelley gemünzte Terminus »Satanic School« wurde später auf Autoren wie Giacomo Leopardi (vgl. Zacharias [Fn. 47], S. 130 ff.), Giosué Carducci (vgl. ebd., S. 133 - 138), Charles Baudelaire, Jules Amédée Barbey d’Aurevilly oder Charles Rimbaud ausgedehnt, wobei die Charakterisierung als »Darstellung und Verklärung des Bösen, Grausamen und Kranken« (Haag [Fn. 15], S. 492) zwar insbesondere auch auf Joris-Karl Huysmans zutrifft, dessen berüchtigte Schwarze Messe im Roman Là-bas Zacharias (Fn. 47), S. 139 -150, ausführlich dokumentiert und kommentiert hat; jedoch erscheint in diesem Monodiabolismus häufig eine längst nicht mehr widergöttliche Dimension, die Satan das eine Mal als chaotische Potenz zur Selbststeigerung anruft, das andere Mal als das Kraftzentrum einer fast schon extrareligiösen Moderne, das seine Anhänger mit aggressiver Vernunft für ein schroffes und provokantes Außenseitertum begabt. - Zur Tradition der Schwarzen Messe vgl. die Literaturhinweise in Fn. 130. - Vgl. Bricaud, Jean: Huysmans et le Satanisme. Paris 1913; Galletti, A.: L’opera di Giousè Carducci. Bologna 1929; de Sactis, Francesco: Studi sul Leopardi. Neapel 3 1933; Villeneuve, Roland: Gilles de Rays. Paris 1955; Barney, Francis: Prière à Satan. Messes noires d’hier et d’aujourd’hui. Paris 1957; Millner M.: Le Diable dans la littérature française de Cazotte à Baudelaire. Paris 1960. 194 In der Ikonographie waren alle Lizenzen für Grausamkeiten und Obszönitäten gegeben. - Vgl. Blomberg, Hugo Freiherr von: Der Teufel und seine Gesellen in der bildenden Kunst. Berlin 1867; Erich, Oswald A.: Die Darstellung des Teufels in der christlichen Kunst. Berlin 1931; Castelli, Enrico: Il demoniaco nell’arte. Milano 1952; Villeneuve, Roland: Le Diable dans l’Art. Paris 1957; Grivot, Denis: Le Diable dans la cathédrale. Paris 1960. Der Teufel 523 den, liegen statt neuer Originale immer nur durch Selektion gewonnene Derivate vor. Daß im Laufe einer allgemeinen Säkularisierung die mit Extremitätssignalen auftretenden Teufel zugunsten unauffälligerer, sich selbst problematischer werdender und auch liebenswerter »Metamorphosen« seltener werden, kann nicht wundern. Den immer noch fruchtbaren Schoß, aus dem das kroch (um Brechts berühmtes Diktum amplifizierend abzuwandeln), pauschal als Quelle benennen zu können, soll im weiteren Verlauf mehr exemplarisch und in rigiden Abbreviaturen als mit dem Ehrgeiz nach Vollständigkeit belegt werden. Bemerkt sei, daß die Vorstellung der Korrektur bedarf, seit dem Ende des Mittelalters hätten sich Präsenz und Kontur des Teufels immer mehr verflüchtigt und durch wissenschaftliche Widerlegung längst schon ihr Ende in einem wie immer religionsfern definierten Bösen gefunden. IX Luther, »abergläubisch wie ein Kind«, 195 sah die Welt nach wie vor »voll Teufel«; 196 den gnadenreichen Heiligenhimmel entvölkerte er; das überkommene Höllenheer erschien durch seinen entschiedenen Rückgriff auf den gefährlichen Teufel des Neuen Testaments und der Patristik dem Mittelalter gegenüber entgemütlicht. 197 Sola fide mußte der Christ der Reformation in den Kampf gegen einen Bösen, den Kirchenlied und die Sebastian Brants navis stultifera ins Diabolische transferierenden Teufelsbücher arbeitsteilig präsentierten. 198 Die längst eingeschliffenen Verteufelungen, gegen die Papstkirche und von dieser auf die Glaubensrebellen zurück, feierten in Predigt, Schrifttum und Bildpamphleten polemisch verletzende und wechselweise satanisch formulierte Urständ. 199 195 Harnack, Adolf von: Lehrbuch der Dogmengeschichte. 3 Bde. Tübingen 1931/ 32, Bd. III, S. 868. 196 Vgl. Maslowski (Fn. 14), S. 114: Luther »hielt ausgerechnet am katholischsten Erbteil, dem Teufelsglauben, fest.« 197 Vgl. Roskoff (Fn. 1), Bd. II, S. 365 - 437: Luther’s Glaube an den Teufel; Nola (Fn. 13), S. 245 - 250: Der Teufel und der Antichrist bei Luther und in den vorreformatorischen Strömungen. 198 Vgl. Maslowski (Fn. 14), S. 113 - 118: Das protestantische Theatrum Diabolorum; ebd., S. 117: die einzelnen Teufelsbücher sind »alle über einen Kamm geschoren« und »für Menschen von heute langweilig und ungenießbar«. - Vgl. Freytag, Gustav: Der deutsche Teufel im sechzehnten Jahrhundert. In: Ders.: Bilder aus der deutschen Vergangenheit. [1867] Leipzig 1927. Bd. 3, S. 148 - 172. - Vgl. Schmidt, Erich: Faust und des sechzehnte Jahrhundert. In: Ders.: Charakteristiken. Berlin 1868, S. 1 - 31; Conrad, Rolf: Der Teufel des Hans Sachs. Tübingen 1927 (Masch., Diss.); Grimm, Heinrich: Die deutschen Teufelsbücher des 16. Jahrhunderts. Ihre Rolle im Buchwesen und ihre Bedeutung. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens XVI (1960), S. 513 - 570; Ohse, Bernhard: Der Teufel zwischen Brant und Luther. Ein Beitrag zur näheren Bestimmung der Abkunft und des geistigen Ortes der Teufelsbücher, besonders im Hinblick auf ihre Ansichten über das Böse. Berlin 1961. (Diss.) - Zum Kirchenlied vgl. Roskoff (Fn. 1), Bd. II, S. 473 - 478: Der Teufel im Gesangbuch. 199 Vgl. Scheible, J[ohann]: Die fliegenden Blätter des XVI. und XVII. Jahrhunderts, in sogenannten Einblattdrucken. Stuttgart 1850. Reprint Hildesheim 1972; Grisar, Hartmann und Heege, Franz: Luthers Kampfbilder. 4 Bde. Freiburg i.Br. 1921 - 1923; Wäscher, Hermann: Das deutsche illustrierte Flugblatt. Bd. 1: Von den Anfängen bis zu den Befreiungskriegen. Dresden 1955; Geisberg, Max: The German Single-leaf Woodcut 1500 - 1550. Rev. and ed. by Walter L. Staus. 4 Bde. New York 1974; Illustrierte Flugblätter aus den Jahrhunderten der Reformation und der Glaubenskämpfe. [Ausstellungskatalog] Kunstsammlungen der Veste Coburg 1983. 524 Günther Mahal Die Faust-Tradition mit einem im Gegensatz zum Theophilus-Modell obligatorisch zur Hölle fahrenden Teufelsbündler - Goethes Faust schert aus ihr bezeichnenderweise mit einer mittelalterlich-marianischen Gnadenlösung aus 200 - war erst nachreformatorisch möglich. Kein anderer Stoff hat die Vorstellungen von Teufel und Hölle bis heute so lebendig gehalten; Fausts Paktpartner rekurrieren immer neu auf im Mittelalter bereits vitale Muster, bis hin zu der in den Kontext menschlich-geistiger Luzidität geratenen Bocksfuß-Karikatur bei Valéry; 2 01 Goethes Mephistopheles, der einem aus Neuem Testament und Patristik gewonnenen Idealtypus am nächsten kommt, verliert Pakt und Wette durch eine pia fraus bedenklicher Plausibilität. Lessing, dessen Teufels-Beratung in Dietrich Schernbergs Spiel von Frau Jutten (1480) ein Vorbild hat, wollte im Aufklärungs-Jahrhundert 202 ohne Teufel auskommen, freilich mit der verräterisch traditionellen Zuschauer-Reaktion: »das hat der Satan so gefügt.« 203 Die Puppenspiele vom Doktor Faust mit der lustigen Figur des Hanswurst im Mittelpunkt hielten das Bild vom durch menschliche List zu übertölpelnden Teufel bis heute wach. 204 Des Mephostophilis Äußerung in Marlowes Faust-Tragödie, allein »Solamen miseris socios habuisse doloris« 205 gingen die Teufel auf Seelenfang, präludierte den finster-heroischen Dämonen Miltons und Klopstocks, 206 denen ihr Teufel-sein-Müssen zur Qual werden sollte. In einer Ära, die den etwa von Spee oder Bekker 207 systematisch bekämpften Teufelsglauben nur noch in der ästhetisierten Form des schmucken Kavaliers tolerieren kann, legen die literarischen Teufel - seltener jene der bildenden Kunst - ihre Extre- 200 Vgl. Beutler, Ernst: Der Kampf um die Faustdichtung. In: Ders.: Essays um Goethe. Leipzig 2 1941 (Sammlung Dietrich, Bd. 101), S. 350 - 368. - Die »katholische« Himmelfahrt des Goetheschen Faust war im 19. Jahrhundert bis zum erfolgreichen deutsch-französischen Krieg häufig Gegenstand erzürnter und böser Kritik. Nach werkinternen und nicht stillschweigend voraus- oder nachträglich aufgesetzten Plausibilitätskriterien sollte sie nicht ›gläubig‹ hingenommen, sondern als Skandalon diskutiert werden. - Daß es dem Verfasser vor allem bei diesem Faust-Stenogramm schwer fällt, aus Platzgründen minimalistisch verfahren zu müssen, sei betont; vielleicht kann er in Bälde einen Aufsatz vorlegen, der die unterschiedlichen Formen produktiver Mittelalter-Rezeption im literarischen Faust-Stoff erörtern soll. 201 Neben Mahal (Fn. 8) vgl. Runge, Reinhard: Das Faust-Mephisto-Motiv in deutscher Dichtung. Bonn 1933 (Diss.); Haftmann, Werner: Ohne Gott und Teufel. Kommentar zu einem Faust-Fragment Paul Valérys. In: Die Zeit, 22.4.1948; Holthusen, Hans-Egon: Die Welt ohne Transzendenz. Eine Studie zu Thomas Manns »Dr. Faustus« und seinen Nebenschriften. Hamburg 1949; Pütz, H. Peter: Die teuflische Kunst des »Doktor Faustus« bei Thomas Mann. In: ZfdPh 84 (1965), S. 500 - 515. 202 Friedrich »Maler« Müller gegenüber räsonnierte Lessing 1777 über »heutzutage [...], wo die Teufel schon so viel von ihrem Kredit eingebüßt« haben. In: Lessing, Gotthold Ephraim: D. Faust. Die Matrone von Ephesus. Fragmente. Hrsg. Karl S. Guthke. Stuttgart 1992 (RUB, Bd. 6719), S. 27. 203 Lessing (Fn. 202). 204 Vgl. Creizenach, Wilhelm: Versuch einer Geschichte des Volksschauspiels vom Doctor Faust. Halle 1878; Eversberg, Gerd: Doctor Johann Faust. Die dramatische Gestaltung der Faustsage von Marlowes ›Doktor Faustus‹ bis zum Puppenspiel. Köln 1988 (Diss.); Mahal, Günther: Nachwort zu: Doktor Johannes Faust. Puppenspiel in vier Aufzügen, hergestellt von Karl Simrock. Mit dem Text des Ulmer Puppenspiels. Hrsg. Günther Mahal. Stuttgart 1991 (RUB, Bd. 6378), S. 111 - 131. 205 Marlowe, Christopher: Die tragische Historie vom Doktor Faustus. Deutsche Fassung, Nachwort und Anmerkungen von Adolf Seebass. Stuttgart 1992 (RUB, Bd. 1128), S. 21. 206 Den Teufelsgestalten von Milton und Klopstock, die noch durch jene von Giambattista Marinos La strage degli Innocenti (1632) zu ergänzen wären, psychologisch differenzierten und, da vermenschlicht, wegen ihrer quälenden Himmelsverstoßenheit mitleiderregenden Gestalten, schreibt Papini (Fn. 2), S. 281, »finstere, heroische Schönheit« zu. - Vgl. Maslowski (Fn. 14), S. 207 - 211: Marlowe, Sailer, Milton, Byron, Klopstock - Der Teufel literarisiert. Der Teufel 525 mitätssignale ab. Ihr schreckliches Äußeres überlassen sie partiell dem literarischen Vampirismus, 208 der längst vor Bram Stoker 209 zeitgleich zur Aufklärung ein nicht mehr metaphysisches, aber immer noch alptraumhaft bedrängendes Surrogat darstellt. 210 Das siècle des lumières als satansbereinigte Epoche zu begreifen, 211 isoliert den Standard einer kleinen geistigen Elite: der Volksglaube kannte den alten Bösen immer noch, selbst ohne seine äußerlichen Drohsignale. In der gothic novel und in Teilen der mittelalterbegeisterten Romantik halten vermeintlich längst abgeschaffte Teufelsbilder neuen Eingang. Keineswegs zu Vorstellungen eines deus dormiens, absconditus oder mortuus analog, zeigen sich optische, pathische und atmosphärische Elemente eines vormals ausgebildeten Teufelsglaubens erneut als literaturfähig, ob sie nun satanistisch-provokativ modernistische Attitüden illustrieren oder antizivilisatorisch-atavistische Positionen beziehen. 212 207 Vgl. Maslowski (Fn. 14), S. 186 - 201: Die Befreier von Teufelsfurcht und Hexenwahn. Vgl. Bernes, M.: Gründliche und völlige Widerlegung der Bezauberten Welt Balthasar Bekkers. Hamburg 1708; Reuning, W.: Balthasar Bekker, der Bekämpfer des Teufelsglaubens. In: ZKG Bd. XLV / H. VIII (1927); Schneider, U.F.: Das Werk »De praestigiis Daemonum« von Weyer und seine Auswirkungen auf die Bekämpfung des Hexenwahns. Bonn 1938 (Diss.); Zweetslot, Hugo: Friedrich Spee und die Hexenprozesse. Die Stellung und Bedeutung der Cautio criminalis in der Geschichte der Hexenverfolgung. Trier 1954; Binz, Carl: Doctor Johann Weyer, ein rheinischer Arzt, der erste Bekämpfer des Hexenwahns. Ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärung und der Heilkunde. Wiesbaden 1969 (2., umgearbeitete und vermehrte Auflage. Nachdruck der Ausgabe von 1896). 208 Laut Schöler, Franz: Die Erben des Marquis von Sade. Vampirismus in Literatur und Kunst. In: Film, Aug. 1967, S. 10 - 17, hier S. 17, verbreitet der Vampir »sinistre Sinnlichkeit«; ebd., S. 14: er »tötet nicht aus purer Lust am Morden, sondern aus Zwang«. - Werden hier wie auch in der Beerbung von Eigenschaften der mittelalterlichen Schreck-, Angst- und Quälteufel, in den unerwarteten Attacken der Vampire und im stets düsteren Ambiente ihres Auftretens, Verwandtschaften zu Teufelsgestalten des Mittelalters deutlich, so ist der Vampir doch ein Unheilsbringer ohne metaphysische Konsequenz; bei aller verderblichen Unglaublichkeit fehlen ihm die eschatologischen Komponenten und die Konsequenz des mittelalterlichen Teufels. - Rosner, Heiko: Dracula. Der Meister kommt: die Legende lebt. In: Cinéma 2/ 1993, S. 14 - 22, hier S. 16, weist auf den historischen Ursprung des Dracula-Mythos hin. Der Wallachenfürst Vlad Dracul [= Pfähler: wegen seiner Grausamkeit im Krieg gegen die Türken 1462] findet, heimgekehrt, seine Frau tot; weil sie ihren Mann bei den blutigen Kämpfen umgekommen wähnte, hatte sie sich umgebracht. »In grenzenloser Wut über die göttliche Ungerechtigkeit schwur [sic! ] Dracula vom christlichen Glauben ab und verschrieb sich den Mächten der Finsternis.« - Der unter einem Fluch stehende und Fluch bringende Vampir erscheint somit im historischen Vorfeld seiner Ausbildung zum Mythos durch mittelalterliche Teufelsvorstellungen geprägt. 209 Vgl. Stoker, Bram: Dracula. München 1967, S. 74: »Sie sind Teufel der Hölle«; ebd., S. 327: sie sind »schlauer als die Sterblichen«. 210 Vgl. Rosner, Heiko: Das Blut der Vampire. Graf Dracula im Wandel der Filmgeschichte. In: Cinéma 2/ 93, S. 23 f.; vgl. das Kapitel »Gruselkitsch« in: Richter, Gert: Erbauliches, belehrendes, wie auch vergnügliches Kitsch-Lexikon von A bis Z. Zu Nutz und Frommen eines geschmackvollen Lesers präsentiert und kommentiert. Berlin, München, Wien 1982, S. 105 ff. 211 Vgl. N.N.: Sollte der Teufel wirklich ein Unding seyn? Eine Frage und Bitte an die Theologen unserer Zeit. o.O. 1776; Kindleben, Chr. W.: Ueber die Non-Existenz des Teufels. Als eine Antwort auff die Demüthige Bitte um Belehrung an die großen Männer, welche keinen Teufel glauben. Berlin 1776; Runge, C.H.: Man muß auch dem Teufel nicht zu viel aufbürden. Bey Gelegenheit der Broschüre: Sollte der Teufel wirklich ein Unding seyn? Beherzigt von einem Freunde der Wahrheit. Bremen 1776; Lavater, J.C.: Predigten über die Existenz des Teufels und seine Wirkungen, nach Ableitung der Versuchungsgeschichte Jesu. Von einem schweizerischen Gottesgelehrten. Frankfurt; Leipzig 1778; Holz, Jürgen: Im Halbschatten Mephistos. Literarische Teufelsgestalten von 1750 bis 1850. Frankfurt am Main 1989 (Europäische Hochschulschriften, Reihe I, Bd. 1110), S. 61 - 69: Das Versagen der Aufklärung. 526 Günther Mahal X »Den Bösen sind sie los, die Bösen sind geblieben« - man könnte des Mephistopheles Äußerung in Goethes Faust (V. 2509) auf unser »hoffnungslos aufgeklärt[es]« Jahrhundert 213 und seine psychoanalytischen oder aggressionstheoretischen Versuche anwenden, statt eines personal-metaphysischen Verursachers von »Sünde« und »Schuld« für diese binnenanthropologische Ätiologien und Exkulpationen zu finden. 214 Was den Glauben an den Teufel betrifft, streiten sich die Statistiken 215 wie die (vor allem katholischen) Theologen. 216 Vor dem Hintergrund allgemeinen Glaubensschwunds und einer program- 212 Vgl. Frick (Fn. 5), Bd. II, S. 140 - 231: Literarischer Satanismus; Zacharias (Fn. 47), S. 126 - 150: Die Poetisierung des Satanskultes im neunzehnten Jahrhundert. - Wird in Teilen der Romantik das Stichwort Teufel wieder fett und farbig buchstabiert, so erscheint das in der Aufklärung vermeintlich verabschiedete Paradebeispiel selbstverschuldeter Unmündigkeit nun erneut als Instanz von Ängstigung und Bedrängung, gleichzeitig und oft vorrangig aber von Faszination. - Vgl. Praz, Mario: Liebe, Tod und Teufel. Die schwarze Romantik. München 1963, S. 66 - 95: Die Metamorphosen Satans; Rosenberg, Alfons: Die Praktiken des Satanismus vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Nürnberg 1965; La Vey, Anton Szendo [d.i. Howard Lev(e)y]: The Satanic Bible. New York 1969. - Vgl. weitere Hinweise in Fn. 193. 213 Heinzel, Kathrin: Das Gift der feindlich gesinnten Personen. In: Treu-Dieter (Fn. 66), S. 26 - 31, hier S. 26. - Vgl. Nola (Fn. 13), S. 413 - 435: Der Teufel in der Welt der Gegenwart; ebd., S. 422: »Mit dem Ende des 19. Jahrhunderts scheint sich der Teufel in eine rein mythische Metapher für die Befreiung des Menschen aus den Fesseln des Terrors, der die vorangegangenen Jahrhunderte bestimmt hatte, verwandelt zu haben.« 214 Vgl. Heitmüller, Elke: Dämonologie - Psychologie - Simulatiologie. Die Metamorphosen des Bösen. In: Treu-Dieter (Fn. 66), S. 76 - 83, hier S. 76: »Gut 100 Jahre Psychologie hatten es vermocht, das Böse fast vollständig in den Abgrund der menschlichen Psyche verschwinden zu lassen und damit zu assimilieren.« - Den mittelalterlichen Teufelsglauben als extrinsisch initiierte Massenpsychose hysterischer Extension zu charakterisieren, mag nach der Kriteriologie des 20. Jahrhunderts erhellend sein; das Phänomen selbst wird jedoch mit klinischer Terminologie nur oberflächlich beschrieben; ganz abgesehen davon, daß die elaboriertesten Codes präzisesten Anspruchs zuweilen ihre eigenen Dämonien entwikkeln... - Vgl. Jung, C.G.: Gut und Böse in der analytischen Psychologie. In: Bitter, W. (Hrsg.): Gut und Böse in der Psychotherapie. Stuttgart 2 1966, S. 30 - 44; Czapiewski, W. und Scherer, G.: Der Aggressionstrieb und das Böse. Essen 1967: Plack, A.: Die Gesellschaft und das Böse. Eine Kritik der herrschenden Moral. München 2 1968; Lorenz, Konrad: Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression. Wien 25 1975; Schmidbauer, Wolfgang: Die sogenannte Aggression. Die kulturelle Evolution und das Böse. Hamburg 1972. 215 Gegen die Äußerung von Haag (Fn. 15), S. 20, »der Glaube an einen Teufel als Verursacher des Bösen in der Welt [sei] bei der Mehrzahl der Christen ins Wanken geraten «, stehen die Aussagen von Crispino (Fn. 80), S. 7: »Noch nie war er so allgegenwärtig wie heute« und von Meschnig, Alexander: Zen oder die Kunst böse zu sein. Die Antwort der Psychologen. In: Treu-Dieter (Fn. 66), S. 70 - 75, hier S. 70: »Heute triumphiert das Böse. Überall sein Antlitz, überall seine Fratze. [...] Heute hat das Böse Konjunktur.« - Vgl. Heinzlmeier, Adolf; Schulz, Berndt: Blasphemie, Hexenwahn. In: Tabus im Kino. Ein Filmbuch von Cinéma. Hamburg 1989, S. 126 - 139, hier S. 135: nach einer Umfrage von 1978 glaubten 63 % der Bundesrepublikaner an die »personale Existenz des Teufels«. 216 Zweifelhaft muß bleiben, ob stringent theologische Beweisführung oder höchstamtliche Lehräußerungen beim Teufelsglauben Entscheidendes zu verändern vermögen. - Zu den die Existenz des Teufels bekräftigenden Äußerungen von Papst Paul VI. am 29. Juni und am 15. November 1972 vgl. Haag (Fn. 15), S. 134 - 138 u. S. 506 - 510, sowie Maslowski (Fn. 14), S. 250 - 253; zu diesen und den Äußerungen von Papst Johannes Paul II. am 13.8.1986 vgl. Nola (Fn. 13), S. 424 - 428. - Der Spiegel vom 21.10.1996, S. 242, zitiert als Grundsatz Graham Greens: »Katholisch sein heißt an den Teufel glauben.« - Vgl. di Rocca, Annette: Über den Teufel und sein Wirken. Beweise seiner Existenz mit Anhang »Teuflische Geschichten«. München 1966. Der Teufel 527 matischen Säkularisierung 217 scheint ein - gar noch mittelalterlicher - Satan vielen nur noch ein abergläubischer Anachronismus, ein längst eskamotiertes irrationalissimum innerhalb anderer Okkultismen, die man etwa in Charles Mansons Mord an Sharon Tate widerlich-pervertiert am Werk sehen muß. 218 Daß der Verlust der Mitte 219 nicht nur die Kunstgeschichte betrifft, sondern genauso alltagspraktische Mentalstrukturen, ist freilich nicht allein eine Erkenntnis säuerlicher Kulturkritik; in einer erklärtermaßen ohne Gott und Teufel auskommenden Zeit spenden modern-ernüchterte und modernistisch kopflastige Weltdeutungsmodelle wenig Trost oder gar Beheimatung. Unbestreitbar sind »Teufel«, »Satan«, »Hölle« oder »Dämonen« im allgemeinen Sprachgebrauch breit präsent, in beteuernden, steigernden, superlativischen oder renommistischen Redensarten, 220 in seit dem Mittelalter konservierten geographischen, 221 botanischen 222 oder zoologischen Bezeichnungen, 223 auf dem Jahrmarkt und im Spiel, 224 im Fasching, 225 in der Werbung, 226 im Schlager, 227 in Karikaturen, 228 in Film- und Buch-Titeln, 229 in Politiker-Verteufelungen, 230 in Selbstbenennungen 231 oder in der (etwa war- 217 Kahler, Erich: Die Säkularisierung des Teufels. In: Ders.: Verantwortung des Geistes. Frankfurt am Main 1952, S. 143 - 162. 218 Bei Crowley und vor allem bei Manson ›materialisiert‹ sich das im Mittelalter den Ketzern unterstellte Stereotyp in verbrecherischer Perversion; vgl. Messadié (Fn. 14), S. 430 ff., sowie Frick (Fn. 5), Bd. III, S. 143 f. - Vgl. Victor, Pierre: Aleister Crowley et sa magie. In: La Tour Saint-Jacques 1957, Nr. 11 - 12, S. 105 - 123; Sanders, Ed.: The Family. Die Geschichte von Charles Manson. Reinbek 1996. 219 Diesen Titel führt die berühmte kunsthistorische Studie von Hans Sedlmayr (1948). - Die breite und zum Kulturpessimismus tendierende Literatur über den Wertezerfall argumentiert meist profan, ist aber durch religiös begründete Menetekel wie den erklärungstüchtigen Fortbestand des Teufelsglaubens oder durch seine aktuellen Rezidive leicht zu ergänzen. - Vgl. Friedrich, Heinz: Kulturkatastrophe. Nachrufe auf das Abendland. Hamburg 1979. 220 Aus einem sehr viel größeren Arsenal von Redensarten, die auf den ersten Blick den Teufel nur noch als Worthülsen ohne die einstige Signifikanz transportieren, seien als Beispiele genannt: das weiß der Teufel; das ist des Teufels; ich will des Teufels sein, wenn...; ich kümmere mich den Teufel darum; es müßte mit dem Teufel zugehen; das Geld ist zum Teufel; er/ sie/ es hat den Teufel im Leib; er reitet/ fährt wie der Teufel; mich hat der Teufel geritten; male nicht den Teufel an die Wand; in (drei) Teufels Namen; sich einen Teufel darum scheren. - Zum Vorgang der umgangssprachlich bedingten, gattungs-, epochen-, propaganda- oder reklamebedingten (vgl. Fn. 226) Onomatisierung vgl. Mahal (Fn. 8), S. 183 - 208. - Es kann nicht wundern, daß in drei herausgegriffenen ›Aufmachern‹ aus der Zeitungslektüre im Oktober 1996 Redensartlichkeiten neugierweckend variiert werden: »Ein teuflisch guter Engel. Christopher Walken ist stets der abgründige Bösewicht.« In: Sonntag aktuell, 6.10.1996, S. 19; »Sloothaak und Joly: ein Teufelsritt zum Sieg«. In: Mühlacker Tagblatt, 14.10.1996, unpag.; Koppold, Rupert: Teuflische Spannung. Neu im Kino das Thriller-Debut »Bound«. In: Stuttgarter Zeitung, 31.10.1996. 221 Zahlreiche mit den Vokabeln »Teufel« oder »Hölle« verknüpfte topographische Bezeichnungen finden sich bei Wagner (Fn. 164), S. 33 ff. - Gebietsnamen mit »Teufel« oder »Hölle« haben sich bis heute in Weinlagen erhalten; besonders viele Beispiele dafür finden sich in den Weinbaugebieten Nahe und Rheingau; vgl. Ambrosi, Hans und Becker, Helmut: Der deutsche Wein. München 1978. - Oft existieren zu solchen Teufels- oder Höllen-Orten auch Lokalsagen, wenn diese auch zuweilen erst nachträglich ›passend‹ gemacht wurden. - Vgl. Goethes Faust, V. 10111 - 10121: »Noch starrt das Land von fremden Zentnermassen; / Wer gibt Erklärung solcher Schleudermacht? / Der Philosoph er weiß es nicht zu fassen, / Da liegt der Fels, man muß ihn liegenlassen, / Zu Schanden haben wir uns schon gedacht. - / Das treu-gemeine Volk allein begreift / Und läßt sich im Begriff nicht stören; / ihm ist die Weisheit längst gereift: / Ein Wunder ist's, der Satan kommt zu Ehren. / Mein Wandrer hinkt, an seiner Glaubenskrücke / Zum Teufelsstein, zur Teufelsbrücke.« 222 Jeweils mit den zugehörigen lateinischen Benennungen verzeichnet das Grimmsche Wörterbuch folgende botanische Namen: Teufelsabbiß, -band, -bart, -beere, -bohne, -darm, -dorn, -draht, -ei, -feige, -finger, -flucht, -holz, -kralle, -kraut, -kürbis, -leiter, -milch, -peterling, -schlüssel, -wurz. 528 Günther Mahal nenden) Rhetorik. 232 In den meisten genannten Bereichen scheint es nur im ersten Augenblick leicht, zwischen desemantisiert-gedankenlosem Dahinsagen der einstmals für akute Lebensbedrohung stehenden Vokabeln und einem - paradoxerweise nicht immer intentionierten - Kalkül auf alte ›Originaltext‹-Konnotationen zu unterscheiden. Abseits von feuilletonistischer Aufmerksamkeitsmehrung haben Studien wie Sebastian Haffners Der Teufelspakt 233 oder Tilmann Mosers Dämonische Figuren 234 keinesfalls 223 Grimms Wörterbuch nennt Teufelskrabbe, -laus, -nabel, -natter, -pferd. - Lexikalischer Suche eröffnete sich hier ein weites Feld, auch etwa im medizinischen Bereich über den Pschyrembel: Höllenstein und -stift dienen - entgegen ihren Bezeichnungen keineswegs schädlich - zum Ätzen der Augenbindehaut. 224 Vgl. den »Teufelsscooter« oder andere »Höllenmaschinen«. - Auf Kleinkunstbühnen treten Jongleure mit dem »Diabolo« auf, der auch im privaten Bereich Verwendung findet: mit einer zwischen zwei Stäben hängenden und ruckartig gestrafften Schnur werden Gummi- oder Metallspindeln in die Höhe geschnellt und (möglichst) wieder aufgefangen. 225 Neben saisonal modisch werdenden und bald wieder verschwindenden Kostümen halten sich nicht allein in de r aleman nisch en Fa sn et, sonde rn auc h im städt ischen S alo n-F aschi ng oder -Kar nev al die Ve rmummungen von Teufeln und Hexen. - Vgl. Schenk, Günter: Zu Halloween bestimmen die Bösen das Straßenbild. In: Stuttgarter Zeitung, 30.10.1996. 226 Hier weckt der diffuse Appell auch ohne gottwidrige Potenz die Neugierde auf zuweilen abstruse oder auch gewollt infantile Weise; für Statz-Hosen wird im Spiegel, 30.9.1996, S. 3, mit dem Slogan geworben: »Paßt höllisch gut«; ebd., 22.7.1996, S. 146, wird eine neue Version der Harley-Davidson angepriesen als: »Teuflisch gut und höllisch schnell«. - Zur reklamebedingten Onomatisierung vgl. Mahal (Fn. 8), S. 203 - 206. 227 Zwischen dem Trivial-Ohrwurm »Der Teufel hat den Schnaps gemacht« und dem Rock-Klassiker der Rolling Stones, »Sympathy for the Devil«, bewegt sich eine Fülle nicht nur außerreligiöser Botschaften. 228 Die Skala reicht hier von putzigen Teufelchen bis zur bitteren, oft an mit satanischen Attributen gekennzeichneten Personen festgemachten Zeitkritik. 229 Vgl. Mahal (Fn. 8), S. 208 f.: eine ganze Reihe von Büchern erscheint in deutscher Übersetzung mit »Teufel«, »Satan« oder »Hölle« im Titel, während die Originalfassungen ohne diabolische Termini auskommen. - Ähnliches gilt für italienische Speisekarten, die unter »Pizza Diabolo« durstfördernd Gewürztes präsentieren oder die eine »Coda di Rospo« (wörtlich: Krötenschwanz) mit »Seeteufel« übertragen. - Für das Genre Film seien folgende Titel genannt: Rapsodia Satanica (1915; Regie: Nino Oxilia); Satanas (1920; Friedrich Wilhelm Murnau); Blätter aus dem Buche Satans (1921; Carl Theodor Dreyer); Rosemary’s Baby (1968; Roman Polanski); The Exorcist (1973; William Friedkind); Der Teufelsschrei (1980; Eric Weston). - Noch zahlreicher sind die entsprechenden Buch-Titel, von denen hier lediglich Salman Rushdies Satanische Verse und Philip Roths Sabbaths Theater genannt seien. 230 Vgl. Messadié (Fn. 14), S. 7: Ronald Reagan bezeichnete die UdSSR als »Reich des Bösen«, Ayatollah Chomeini die USA als »Erzteufel«; einer US-amerikanischen Untersuchung von 1985 zufolge handelt Gorbatschow »im Geist des Antichrist« - zit. nach Nola (Fn. 13), S. 429; Saddam Hussein sah in den USA »das Böse« - zit. nach: Treu-Dieter (Fn. 66), S. 8; über die neuen Herrscher im früheren Jugoslawien berichtet FOCUS 23.9.1996, S. 286, als »Trio infernale«. 231 Vgl. etwa »Hells’ Angels«, »Black Sabbath« oder »Böhse Onkelz«; über die »roten Teufel vom Betzenberg« schreibt Hans-Joachim Noack im Spiegel, 12.8.1996, S. 172 f., unter dem Titel: »Willkommen in der Hölle«. - Durch die Motivwahl des Künstlers vorbereitet, erscheinen die Bezeichnungen »Höllenbreughel« oder »Teufelsmüller« (Friedrich Maler Müller). 232 Den Anschlag auf die Olympiade in Atlanta bezeichnete Präsident Clinton als »teuflischen Terrorakt«: Stuttgarter Zeitung, 29.7.1996; über den schottischen Bischof Roderick Wright und andere katholische Aberranten berichtete FOCUS, 30.9.1996, S. 330, unter dem Titel: » Roms gefallene Engel « ; vgl. ebd., 4.11.1996, S. 174, die Filmkritik »Flauschige Vorhölle«. Pubertät in der US-Provinz: die sarkastische Jungmädchen-Komödie Willkommen im Tollhaus; vgl. ebd., S. 144 - 154: »Hölle Hawaii [...] Der Ironman-Triathlon auf Hawaii ist der härteste Ausdauersport der Welt.« 233 Haffner, Sebastian: Der Teufelspakt. Die deutsch-russischen Beziehungen vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg. Zürich 3 1983 (Manesse Bücherei, Bd. 11). Der Teufel 529 nur metaphorische Ambitionen; vielmehr appellieren sie an die auf der Skala menschlichen Verhaltens nicht mehr zu benennenden Monstrositäten eines Teufelsglaubens, den man im 20. Jahrhundert auch in Menschengestalt wahrnehmen zu müssen meinte 235 und den man, fern allen Theodizee-Möglichkeiten, in einer Ära der Weltkriege, Gulags und ›hausgemachter‹ potentieller Apokalypsen gegenwärtig sieht. 236 So voreilig es wäre, im 20. Jahrhundert eine generelle Renaissance des personalen Teufelsglaubens zu diagnostizieren, so falsch wäre es, seine schubweise oder akzidentiell erfolgende Reaktivierung zu verkennen. 237 Mythen haben bisweilen die Eigenschaft, vertrieben zu werden oder zu verschwinden; aber was wie die junge Donau eine Strecke lang unterirdisch weiterfließt, kann, wieder aufgetaucht, neue Breite und Kraft an den Tag legen. Der Mythos des mittelalterlichen Teufels, in seiner Jahrhunderte beherrschenden Macht unausweichlicher Bestandteil jedes Christenlebens, kommt heute allenfalls zeitweise und stets in Konkurrenz zu anderen und neueren Weltdeutungsträgern zum Einsatz; vielleicht ist er damit, seiner einschnürenden Empirie verlustig, eigentlich erst zum Mythos geworden, instrumentalisierbar wie ehedem und in seiner Weltdeutungssimplizität nach wie vor verführerisch. Und möglicherweise hat die »Banalität des Bösen« 238 in unserem perfekt illuminierten Säkulum nicht nur für die Dümmsten ihre Faszination; »Identitätsbewußtsein und Orientierungsmuster« 239 werden wohl auch von Mythenmaterial gestützt, das über gesunkenes Kulturgut hinaus nur noch zerschlissen zu vegetieren scheint. 234 Moser, Tilmann: Dämonische Figuren. Die Wiederkehr des Dritten Reiches in der Psychotherapie. Frankfurt am Main 1996. 235 Papini (Fn. 2), S. 174, nennt als Inkarnationen Satans Nero, Attila, Iwan, Napoleon und Hitler; Graf (Fn. 16), S. 205, nennt Pilatus, Mahomet und Friedrich II. - Als literarischen Menschen-Teufel bezeichnet Lessing im 79. Stück der Hamburgischen Dramaturgie Shakespeares Richard III. 236 Vgl. Papini (Fn. 2), S. 19: im 20. Jahrhundert ist nach den beiden Weltkriegen »Satan [...] als Hauptperson der Geschichte anerkannt«. 237 Vgl. Krüger, Horst: Das Teufelsmotiv im modernen Roman. In: Welt und Wort 8 (1953), S. 384 f.; Schirmbeck, Heinrich: Die Wiederkehr des Teufels. In: Christliche Dichter der Gegenwart. Beiträge zur europäischen Literatur. Hrsg. von Hermann Friedmann und Otto Mann. Heidelberg 1955, S. 445 - 455; Böhm, Anton: Epoche des Teufels. Stuttgart 1955. 238 Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. München 1986, S. 300. 239 Vgl. Fn. 7. Der Antichrist Barbara Könneker (Frankfurt a.M.) Mitte des 10. Jahrhunderts verfaßte Adso, Abt des Klosters Montier-en-Der, im Auftrag der westfränkischen Königin Gerberga eine Schrift De ortu et tempore Antichristi (Über Ursprung und Zeit des Antichrist) mit folgendem Inhalt: Der Antichrist, so genannt, weil er sich als Christus ausgibt, ihm aber in allem entgegengesetzt ist, wird einst erscheinen, um sich die Welt zu unterwerfen. Trotz zahlreicher Vorläufer, die es in der Geschichte gegeben hat, wird seine Ankunft erst am Ende der Zeiten erwartet, nämlich dann, wenn der letzte, fränkische König des Römischen Reiches seine Krone als Zeichen der Erfüllung seines irdischen Auftrags an Gott zurückgegeben hat. Geboren aus dem jüdischen Stamm Dan war er, obwohl von natürlichen Eltern gezeugt, schon im Mutterleib vom Satan besessen und wird später von Schwarzkünstlern großgezogen. Von seiner Heimatstadt Babylon begibt er sich nach Jerusalem, wo er den Tempel wiedererrichtet und sich den Juden als Messias zu erkennen gibt. Durch Drohungen, Geschenke und Wunder, zu denen auch die Erweckung von Toten gehört, unterwirft er die Fürsten und Völker der Erde und tötet die wenigen, die sich seiner Verführung entziehen. Nachdem er sich auf diese Weise zum Herrn der Welt gemacht hat, der von seinen Untertanen göttliche Ehren verlangt, schickt Gott zwei Propheten, Henoch und Elias, die gegen ihn predigen und die Juden zum Glauben an den wahren Christus bekehren. Danach erleiden beide den Märtyrertod, und mit ihnen alle, die sich vom Antichrist lossagten. Damit aber ist, nach 32jähriger Herrschaft, auch sein Ende gekommen. Christus erscheint, vernichtet ihn und gewährt anschließend allen, die zu ihm abgefallen waren, eine 40tägige Zeit der Buße, bevor das Jüngste Gericht beginnt. Es war im wesentli chen Adsos Fassung, i n der die Geschichte v om Antichr ist, eine Symbiose von Antilegende, Geschichtsspekulation und Endzeitvision, im christlichen Abendland rezipiert wurde. Durch zahlreiche Abschriften, Übersetzungen und Bearbeitungen verbreitet, haben ihr spätere Jahrhunderte kaum mehr etwas hinzugefügt, sondern sie nur noch durch Details bereichert und für den jeweiligen Gebrauch aktualisiert. Auch Adso war lediglich ein Kompilator, der dasjenige, was er in der Überlieferung vorfand, in eine biographische Form brachte. Seine Quellen waren neben apokalyptischen Texten die Schriften der Kirchenväter, die ihrerseits, was sie vom Antichrist wußten, aus direkten und indirekten Hinweisen in der Bibel bezogen. Einiges davon entnahmen sie dem Alten Testament, so die angebliche Herkunft des Antichrist aus dem Stamm Dan, von dem es Gen. 49, 17 heißt, er sei »eine Schlange« am Weg, was schon bei Jeremias (8,16 f.) als Unheilsprophetie über ihn ausgelegt wurde. Ebenso identifizierten sie die beiden Prediger gegen den Antichrist, von denen Apok. 11 die Rede ist, mit Henoch und Elias, weil diese nach Gen. 5, 24 und 2. Reg. 2, 11 die einzigen Menschen waren, die Gott nicht sterben ließ, sondern direkt in den Himmel aufnahm. Alle direkten Hinweise auf den Antichrist aber stammen aus dem Neuen Testament, denn obwohl zum Teil in der jüdischen Prophetie und Apokalyptik verwurzelt und in den alttestamentlichen Feinden des Gottesvolks präfiguriert, ist er eine Gestalt genuin christlichen Ursprungs. Das gilt für den Namen (Anti- = Gegenchristus), der sich allerdings 532 Barbara Könneker nur in den Johannesbriefen findet (1. Joh. 2, 18 - 22; 4, 1 - 3; 2. Joh. 7), sowie für die Vorstellung, daß die Endzeit, der auch nach jüdischer Auffassung ein letzter Ansturm der widergöttlichen Mächte vorausging, mit dem Erscheinen eines »eschatologischen Gegenspielers« beginnen würde, der in der Maske und mit dem Anspruch des Gottessohns auftritt. Entstanden ist diese Vorstellung offenbar in einer Zeit, in der die gerade erst sich konsolidierenden Christengemeinden noch in der Erwartung der unmittelbar bevorstehenden Wiederkehr Christi (Parusie) lebten, und war das Produkt einer Mischung von Hoffnung und Angst, mit der sie diesem Ereignis entgegensahen. Hoffnung, weil sie als bedrohte religiöse Minderheit von der Parusie die Vernichtung ihrer Feinde und Erfüllung der Heilsverheißung erwarteten; Angst aber, weil sie durch widersprüchliche Lehrmeinungen in ihren Reihen verunsichert waren und wußten, daß dieser Erfüllung, damit sie sich des Heils auch als würdig erwiesen, eine Zeit der Prüfung ihrer Glaubensfestigkeit vorausgehen würde. So sagt schon Jesus (Matth. 24, Mark. 13 u. Luk. 21) den Jüngern auf ihre Frage nach den Zeichen, die seine Wiederkehr einleiteten, »Greuel der Verwüstung« voraus und warnt sie vor »falschen Christussen«, die sie zum Abfall vom Glauben bewegen könnten. Johannes glaubt am Auftreten zahlreicher »Antichristi«, die für ihn gleichbedeutend mit Irrlehrern sind, zu erkennen, daß die »letzte Stunde« vor der Parusie schon gekommen sei (1. Joh. 2,18), und bei Paulus heißt es dann geradezu, daß vor der Wiederkehr Christi erst der »Mensch des Verderbens« in die Welt kommen müsse. Denn er werde die Menschen im Auftrag Satans, aber unter ausdrücklicher Zulassung Gottes durch »Machterweise« und »Wunderzeichen« zur Annahme der Lüge verführen, damit alle, die »der Wahrheit nicht glaubten«, dem Gericht verfielen (2. Thess. 2, 1 - 12). In der Johannesapokalypse schließlich wird aus dieser letzten Bewährungsprobe der Gläubigen ein gewaltiger, den ganzen Kosmos umspannender Endkampf zwischen den Mächten des Lichts und der Finsternis. In ihn greift der Antichrist in Gestalt des »Tier[es] ... aus dem Meere« ein, dem gestattet wird, »mit den Heiligen Krieg zu führen und sie zu besiegen« (Apok. 13,1 - 10). Aus dem Irrlehrer oder falschen Propheten, wie er als Spiegelung frühchristlicher theologischer Richtungskämpfe in den Evangelien und Apostelbriefen erscheint, ist in der Apokalypse also ein mythisches Ur- oder Endzeitungeheuer geworden. Es weist zurück auf den alttestamentlichen Leviathan und erinnert in seiner Beschreibung an die Tiergestalten, die in den Visionen des Propheten Daniel die vier Weltreiche symbolisieren, deren letztes und schrecklichstes vom »Menschensohn« zerstört werden wird (Dan. 7). Vor allem die Johannesapokalypse legt also den Gedanken eines mythischen Ursprungs der Vorstellung vom Antichrist nahe, und sie bildet auch die Hauptquelle der zahlreichen Beschreibungen, die spätere Jahrhunderte von seiner endzeitlichen Herrschaft gaben. In ihnen fehlten in der Regel auch »Gog und Magog« nicht, jene bei Ezechiel (38 f.) erwähnten Völkerschaften aus dem finsteren Norden, mit deren Hilfe, wie man den Hinweis in Apok. 20,8 interpretierte, der Antichrist sich diese Herrschaft erkämpfen würde. Auch der Glaube, daß er tausend Jahre nach Christi Menschwerdung auf Erden erscheinen werde (Chiliasmus, von griech. chilioi = tausend), konnte sich auf die Apokalypse berufen, da in Kap. 20 von der tausendjährigen Fesselung Satans die Rede ist, bevor er aus seinem Kerker wieder befreit wird, um zum Endkampf zu rüsten. Obwohl schon die Kirchenväter davor warnten, diese Aussage wörtlich zu nehmen, gab und gibt es bis heute christliche Gruppen, die auf der Grundlage dieser Zahl Berechnungen über das Weltende anstellen. Der Antichrist 533 Hinter der absichtsvoll verschlüsselten Bildersprache der Apokalypse, die in einer langen literarischen Tradition steht, verbirgt sich aber auch noch eine andere, konkretere Auffassung vom Antichrist. Denn so wie das ihr in mancher Hinsicht verwandte Buch Daniel (um 165 v. Chr. verfaßt) mit der Vernichtung des vierten Tieres den Sturz des Seleukidenreiches voraussagt, dessen Herrscher Antiochos IV. (175 - 163 v. Chr.) den Tempel in Jerusalem durch Einführung des Jupiterkultes entweiht hatte, ist die Johannesapokalypse Ende des 1. Jahrhunderts zur Zeit der Christenverfolgung durch Domitian entstanden. Den Antichrist als Schrecken verbreitende Bestie konnten die Eingeweihten daher auch als Chiffre für das heidnische Römische Weltreich verstehen, das zwar zur Zeit noch mit großer Macht ausgestattet war, mit Sicherheit aber dereinst durch das Eingreifen Gottes zerstört werden würde. Damit hat die Johannesapokalypse die Inhalte der neutestamentlichen Antichrist-Vorstellung nicht nur um eine mythische, sondern auch um eine politische Komponente erweitert, und es stellt sich, wie auch in anderen Fällen, die Frage, welche von beiden die ursprüngliche ist, ob also eine Historisierung des Mythos oder eine Mythisierung der Historie vorliegt. Auch die Zahl 666, mit der das »Tier« (Apok. 13, 16 ff.) seine Anhänger als sein Eigentum zeichnet, enthält allem Anschein nach einen zeitgeschichtlichen Bezug. Denn sie ist, wie es ausdrücklich heißt, »eines Menschen Zahl« und deutet, ordnet man sie den entsprechenden Buchstaben des hebräischen Alphabets zu, am ehesten auf Kaiser Nero hin. Von ihm, dem berüchtigten Verfolger der frühen Christen, ging schon bald nach seinem Tod die Sage um, er sei nicht gestorben, sondern werde zurückkehren, um erneut eine Schreckensherrschaft in Rom auszuüben. Träfe diese Deutung zu - was freilich früh schon bestritten wurde, da es bei derartigen »Entschlüsselungen« nie ohne Manipulationen von Zahlen und Buchstaben abgeht -, so wäre der Antichrist der Apokalypse gleichzeitig konkrete historische Einzelperson, kollektive politische Macht der Verfolgung und visionär geschaute widergöttliche Endzeitgestalt. Zweifellos war es diese Mehrdimensionalität, die die spätere christliche Welt an der neutestamentlichen Vorstellung vom Antichrist faszinierte, da sie vielfältige Möglichkeiten der Ausdeutung in unterschiedlichsten Verwendungszusammenhängen bot. Dabei wurden etwaige Widersprüche entweder nicht wahrgenommen oder mit Hilfe spezifisch christlicher Erklärungsmuster beseitigt. So hielt man zwar prinzipiell daran fest, daß der Antichrist eine Endzeitgestalt mit einer bestimmten, antithetisch auf das Erdenleben Christi bezogenen Biographie sei. Aber ebenso wie nach mittelalterlichem Verständnis das Alte Testament eine Fülle von Begebenheiten enthielt, in denen sich als Verheißung vorwegnehmend spiegelte, was sich in Christi Leben, Sterben und Auferstehung erfüllte, ließ sich jede historische Herrscherpersönlichkeit, die in irgendeiner Weise von der »Aura des Bösen« umgeben war, als Präfiguration des Antichrist deuten. Außerdem erlaubte es die Verwendung des Plurals »viele Antichristi« schon in der Bibel (1. Joh. 2, 18), vom Antichrist auch in übertragener Bedeutung zu sprechen, als Sammelbezeichnung für alle diejenigen, die man als Feinde Christi und seiner Kirche betrachtete. Schließlich aber existierte analog zur Vorstellung vom »mystischen Leib Christi«, zu dem der einzelne Gläubige ebenso zählt wie die Institution Kirche und die Gemeinschaft der Heiligen, nach Auffassung mittelalterlicher Theologen auch ein »corpus Antichristi mysticum«, und ihm konnte man alles zuordnen, was in Vergangenheit und Gegenwart, als Person oder Kollektiv, für widerchristlich angesehen bzw. erklärt wurde. Daher ließ sich der Antichrist bei Bedarf ebenso als Einzelperson wie als Gruppe 534 Barbara Könneker oder Institution auffassen und konnte sowohl ein äußerer Feind als auch ein Gegner sein, der inmitten der Christenheit selbst das heimliche Werk ihrer Zerstörung betreibt. Als äußerer Feind wurde er im Lauf der Jahrhunderte sowohl mit dem römischen Kaiserreich, dem Islam und später den Türken, als auch mit einzelnen Herrschern, wie Kaiser Heinrich IV. zur Zeit des Investiturstreits oder dem Staufer Friedrich II., gleichgesetzt. Als inneren Gegner aber identifizierte man ihn je nach Position mit den in der Kirchengeschichte immer wieder auftretenden Irrlehrern und Ketzerbewegungen oder umgekehrt mit den Vertretern der Hierarchie, die aus der Sicht ihrer Opponenten für den religiösen und sittlichen Verfall der Kirche verantwortlich waren. Potentiell also konnte, zumindest im übertragenen Sinne, nahezu jeder der Antichrist sein. Am gefährlichsten aber war er, wenn er in der Maske des Frommen oder Rechtgläubigen auftrat, denn welche Möglichkeit gab es, ihn hinter dieser Maskierung aufzuspüren, wenn sein Wesen vor allem in der Kunst der Verstellung bestand? Daß sie so weit reichte, daß der Antichrist in der Endzeit erfolgreich in der Rolle Christi auftreten und seinen Anspruch auf Göttlichkeit mit Hilfe von Wundern bekräftigen konnte, war wohl das Unheimlichste an dem Bild, das man sich von ihm machte. Unter diesem Aspekt erscheint er als Projektion jener selbsterschaffenen Ängste, die das Christentum seit Beginn seiner Geschichte begleiteten, nämlich permanent von Täuschung, Abfall und Spaltung bedroht zu sein, weil seine komplizierte Dogmatik immer wieder zu erbitterten Auseinandersetzungen über Wahrheit und Falschheit der Lehre herausforderte. Entsprechend vielfältig wie das in ihr angelegte Bedeutungspotential waren auch die Möglichkeiten des Gebrauchs, den man von der Antichrist-Vorstellung machte. Eine unverzichtbare Rolle spielte sie natürlich in der Eschatologie, der Lehre von den »letzten Dingen«, die für die mittelalterlichen Christen weit mehr war als nur ein Teilgebiet der systematischen Theologie. Denn unabhängig davon, ob man mit Augustinus nach Weltzeitaltern oder mit Hieronymus nach Weltreichen rechnete, das Bewußtsein, in einer geschichtlichen Endzeit zu leben, war dem christlichen Mittelalter selbstverständlich, da mit der Inkarnation des Gottessohnes das wichtigste Ereignis der Menschheitsgeschichte, auf das sie von Anfang an zusteuerte, bereits Faktum geworden war. Auch wenn der genaue Zeitpunkt des Weltendes verborgen blieb, konnte es daher im Prinzip jederzeit eintreten, und da ihm eine Reihe von Unheilszeichen und eine allgemeine Sittenverderbnis vorangehen würde, konnte jede Naturkatastrophe als Ankündigung des Weltendes aufgefaßt und jede Zunahme an Schlechtigkeit in der Welt als Indiz für das baldige Erscheinen des Antichrist interpretiert werden. Als eschatologische »Schlüsselfigur«, angesiedelt am Schnittpunkt, an dem Welt- und Heilsgeschichte sich am Ende aller Zeiten berühren, besaß die Antichrist-Vorstellung darüber hinaus auch für das Geschichtsdenken des christlichen Mittelalters zentrale Bedeutung. Denn mit ihrer Hilfe ließ sich nicht nur der eigene Standort im Ablauf der Zeiten bestimmen, sondern auch das Böse überall in der Welt aufspüren und durch seinen Bezug auf den Antichrist in einen umfassenden Sinnzusammenhang einordnen. Als Medium tiefgründiger geschichtstheologischer Spekulationen konnte die Antichrist-Vorstellung daher auch ganz konkret als Instrument der Gegenwartskritik und Diskriminierung des jeweiligen Gegners eingesetzt werden. Nicht zuletzt aber war sie ein wirksames Mittel zur Erzeugung oder Manipulierung von Angst, sei es, um die Emotionen von Gleichgesinnten gegen eine bestimmte Person oder Gruppe zu lenken, sei es, um sich der Autorität über die Gläubigen zu versichern und sie auf den Gehorsam gegenüber den Lehren ihrer geistlichen Hirten einzuschwören. Daß Der Antichrist 535 speziell in Krisen- und Umbruchszeiten das Thema Antichrist, Weltende und Weltgericht Konjunktur hatte, ist dafür ein Indiz. Politische Relevanz aber erhielt die Antichrist-Vorstellung vor allem durch ihre Verknüpfung mit der mittelalterlichen Reichsideologie, die ihrerseits das Produkt einer spezifisch christlichen Geschichtskonstruktion war. Für sie war der Gang der Weltgeschichte, unter Berufung auf die Visionen Daniels, durch die Abfolge von vier Weltreichen bestimmt, deren endgültig letztes das Römische Weltreich war. Nach Daniel war es auch das tyrannischste und konnte daher für die frühen Christen als heidnische Macht der Verfolgung zugleich als Inkarnation des Antichrist gelten. Da es aber als letztes der Reiche bis zum Beginn des Weltendes weiterbestehen mußte, hörte es für die christlichen Geschichtsdenker zu existieren nicht auf, als es im 5. Jahrhundert tatsächlich unterging, sondern lebte im christlich gewordenen byzantinischen Reich fort bzw. wurde durch die Kaiserkrönung Karls des Großen im Jahr 800 von den Franken in christlichem Geist erneuert. Letzteres war die sog. »translatio imperii«, der Übergang der Herrschaft von den Römern auf die Franken, in deren Folge sich das deutsche Kaiserreich später »sacrum imperium Romanum« nannte. Als »Heiliges Römisches Reich« aber konnte es nicht länger mit dem Antichrist gleichgesetzt werden, sondern wurde umgekehrt mit jenem vielumrätselten »Hemmnis« (katechon) identifiziert, von dem es bei Paulus (2. Thess. 2, 5 ff.) ohne nähere Erläuterung heißt, es müsse »erst aus dem Wege« sein, bevor dieser erscheinen könne. Solange also das Reich existierte, war die Weltgeschichte noch nicht in ihre Endphase eingetreten, konnte auch der Antichrist sein Werk der Verführung und Unterwerfung der Menschheit nicht beginnen. Sein Ende aber stellte man sich, da es sich ja um ein christliches Reich handelte, nicht als Untergang durch einen Akt der Zerstörung vor, sondern als Vollendung seiner gottgewollten Bestimmung. Sein letzter Herrscher würde alle christlichen Völker vereinen und ein Reich des Friedens errichten, bevor er seine Krone an Gott als eigentlichen Weltenherrscher zurückgab. Auf diese Weise verband sich die Erwartung des Antichrist mit der Hoffnung auf einen ihm vorausgehenden End- oder Friedenskaiser und wurde dieser zugleich, typisch für den pessimistischen Grundzug der mittelalterlichen Geschichtstheologie, zum Wegbereiter des »Sohns des Verderbens«, der die Christen am scheinbaren Ziel ihrer irdischen Hoffnungen ihrem furchtbarsten Feind auslieferte. »Friede und Sicherheit« (pax et securitas, 1. Thess. 5, 2f.) für die Welt konnten deshalb auch als Verheißungen des Antichrist gelten, und es dürfte kein Zufall sein, daß man gelegentlich, je nach Blickwinkel, den gleichen Herrscher mit dem Antichrist oder dem Endkaiser in Verbindung brachte. Der ganze Facettenreichtum der mittelalterlichen Antichrist-Vorstellung, wie er hier kurz skizziert worden ist, hat sich selbstverständlich erst nach und nach entfaltet. Ihre Entwicklung nachzuzeichnen, ist gleichwohl schwierig, weil vieles von dem, was schon in frühen Schriften über den Antichrist ausgesagt wurde, erst sehr viel später unter anderen geschichtlichen Voraussetzungen breitere Resonanz fand, und je nach dem, ob sich ein Theologe, ein Bußprediger, ein Gegner oder Verteidiger der Kirche dazu äußerte, das Bild, das sich eine Epoche von ihm machte, sehr unterschiedlich aussehen konnte. Da die Lehre vom Antichrist im übrigen niemals ex cathedra festgelegt wurde, besaß man im freien Umgang mit der Tradition stets vergleichsweise breiten Spielraum. Nur soviel sei daher dazu gesagt: Der theologische Rahmen, in den die Antichrist- Vorstellung hineingehört, wurde im wesentlichen von den griechischen und lateinischen Kirchenvätern abgesteckt, von denen fast alle sich zum Thema geäußert haben. Und 536 Barbara Könneker zwar, abgesehen von Hippolytus von Rom, der im 2. Jahrhundert die erste selbständige Schrift über ihn schrieb, in Kommentaren zur Apokalypse, zu Daniel oder den einschlägigen Stellen in den Apostelbriefen. Im 4. Jahrhundert entwickelte dann der später zum Ketzer erklärte Nordafrikaner Tyconius die folgenschwere Lehre vom »corpus Antichristi«, das schon vor dem Ende der Zeiten verborgen im Innern der Kirche wirkt, die als irdische Stellvertreterin Christi stets in Gefahr ist, von seinem Gegenspieler mißbraucht zu werden. Als Medium der Selbstkritik hat diese Lehre in den folgenden Jahrhunderten wiederholt eine gewisse Rolle gespielt. Ihre antikirchliche Sprengkraft aber entfaltete sie erst, als seit dem späten Mittelalter die institutionalisierte Papstkirche aufgrund ihrer Verweltlichung und Kommerzialisierung mehr und mehr in Verdacht geriet, bereits eine »ecclesia Antichristi« zu sein. Hieronymus betonte dagegen, nicht als erster, aber als bedeutendster unter den Kirchenvätern, die jüdische Herkunft des Antichrist und sah in ihm vor allem den Messias der Juden, in dem sich deren Haß auf Christus personifizierte. Die antijüdische Komponente, die schon in den Johannesbriefen enthalten ist (in ihnen werden speziell die Leugner der Gottnatur Christi als »Antichristi« bezeichnet), war seitdem im mittelalterlichen Antichrist-Bild stets vorhanden. Sie wurde keineswegs immer ausdrücklich thematisiert, ließ sich aber, da in der »Biographie« des Antichrist verankert, bei Bedarf jederzeit aktivieren und gegen die jeweilige jüdische Minderheit ausspielen. In größerem Umfang geschah dies erst in den Antichrist-Spielen des späten Mittelalters zur Zeit der Judenverfolgungen nach den Pestjahren, bis zum Exzeß gesteigert in Hans Folz’ Fastnachtsspiel Von dem Herzogen von Burgund (ca. 1490). Da der Antichrist in deutschen Texten (bedingt durch den Umlaut des »a« durch folgendes »i«) oft als »Endchrist« bezeichnet wurde, was man gern als Hinweis auf sein Erscheinen am Ende der Zeiten verstand, nannte Folz ihn in diesem Spiel ein »ent der Cristen«, da es sein Ziel sei, sie im Auftrag der Juden zu vernichten. Andererseits aber gehörte auch zum festen Bestandteil der Geschichte vom Antichrist, daß sich die Juden zuletzt unter dem Einfluß von Elias und Henoch zu Christus bekehrten und im Bekenntnis zu ihm den Märtyrertod erlitten. Die Erhebung des Christentums zur Staatsreligion wirkte sich auch auf die Vorstellung vom Antichrist aus, da die Gleichsetzung des Römischen Reiches mit ihm danach nicht mehr möglich war. Es waren zwei apokalyptische Schriften, die aufgrund dieser veränderten Sachlage die Vorstellung vom Antichrist zuerst mit der Endkaisersage und dem letzten christlichen Weltreich, das sein Erscheinen aufhalten würde, verknüpften. Nämlich die Tiburtinische Sibylle, Mitte des 4. Jahrhunderts in lateinischer Sprache verfaßt und, obwohl christlichen Inhalts, der Tradition der heidnisch-römischen Weissagungsliteratur (Sibyllik) verpflichtet, und der Ende des 7. Jahrhunderts in Syrien entstandene sog. Pseudo-Methodius. In beiden Schriften, die aufgrund ihrer phantasievollen Ausmalung der endzeitlichen Vorgänge die spätere eschatologische Literatur erheblich beeinflußt haben, bezogen sich die Prophezeiungen natürlich auf das oströmische Reich, während Adso sie, richtungweisend für die kommenden Jahrhunderte, auf das von Karl dem Großen erneuerte (west)römische Reich übertrug. Das »sacrum imperium Romanum«, das aus der »translatio imperii« seinen weltlichen Führungsanspruch über die Christenheit ableitete, erhielt durch die ihm damit zuerkannte Aufgabe einer die Ankunft des Antichrist hinauszögernden Macht eine zusätzliche Legitimation, und dies war sicher einer der Gründe, warum die Antichrist-Vorstellung, obwohl nach Ausweis der Quellen orientalischen Ursprungs, seitdem vor allem in der »politischen Theologie« des Abendlands eine wichtige Rolle spielte. Daß es im 12. Jahrhundert in erster Linie deutsche Ge- Der Antichrist 537 schichtsdenker waren (u. a. Rupert von Deutz, Anselm von Havelberg und Otto von Freising), die sich im Rahmen weitgespannter geschichtstheologischer Spekulationen mit dem Antichrist und den ihn aufhaltenden geschichtlichen Kräften beschäftigten, war daher, nachdem die Kaiserwürde mit Otto dem Großen auf die Deutschen übergegangen war, sicher kein Zufall, zumal sich speziell die staufischen Kaiser die Reichsideologie programmatisch zu eigen machten. Da der Führungsanspruch des Reiches zum Konflikt mit der Kirche führte, die ihrerseits die höchste Autorität über die Christenheit für sich forderte, konnte es auch nicht ausbleiben, daß die Antichrist-Vorstellung als Waffe in den großen machtpolitischen Kämpfen zwischen »imperium« und »sacerdotium« eingesetzt wurde. Das geschah zuerst Ende des 11. Jahrhunderts im Investiturstreit, in dem sich Papst und Kaiser wechselseitig beschuldigten, der Antichrist oder zumindest dessen Vorläufer zu sein, und setzte sich später in den Kämpfen zwischen Staufern und Päpsten fort. Hatten sich im frühen Mittelalter vor allem die Theologen mit dem Antichrist auseinandergesetzt, bemächtigte sich allmählich auch die lateinische und volkssprachliche Dichtung des Themas, und zwar überall dort, wo in ihr von den »letzten Dingen« gehandelt wurde. Neben selbständigen Traktaten waren das vor allem Bibeldichtung, Predigt und Visionsliteratur, aber auch Laiendoktrinale, Legendensammlungen, Zeitklagen usw. Seit dem 14. Jahrhundert kamen in größerem Umfang geistliche Spiele dazu, und stofflich ergiebig war nicht zuletzt die Geschichtsdichtung, da zumindest in den Weltchroniken die Darstellung das gesamte Weltgeschehen vom Schöpfungsbeginn bis zum Jüngsten Gericht umfaßte. Inhaltlich unterschied sich, was die Autoren dieser Textgruppen über den Antichrist zu berichten hatten, oft nur in der Gewichtung bestimmter Details oder durch die Intensität, mit der sie die von ihm geübte Kunst der Verführung bzw. die Schrecken seiner endzeitlichen Herrschaft beschrieben. Da sie sich primär als Vermittler christlicher Lehrtraditionen verstanden, wagten sie sich nur selten an eine selbständigere Behandlung des Themas oder brachten es in seiner Gestaltung zu einer vom Üblichen abweichenden poetischen Leistung. Zu den wenigen Ausnahmen gehört der Ludus de Antichristo (Tegernseer Antichristspiel), das einzige Geschichtsdrama, das das christliche Mittelalter hervorgebracht hat, und die einzige Antichrist-Dichtung, die in der Verknüpfung von Zeitkritik, Gegenwartsdeutung, politischer Propaganda und religiös-theologischer Aussage im Rahmen eines weitgespannten heils- und weltgeschichtlichen Panoramas alle wichtigen Aspekte des Stoffes thematisiert hat. Datiert wird der Ludus, dessen Autor unbekannt ist, auf 1160/ 65, die frühe Regierungszeit Friedrich Barbarossas, und läßt sich unter eschatologisch heilsgeschichtlicher Perspektive als Dramatisierung staufischer Reichsideologie interpretieren, deren universaler Geltungsanspruch bereits durch Bühnenbild und Personal des Spiels veranschaulicht wird. Schauplatz der Handlung ist der gesamte Erdkreis, vertreten durch die drei Weltreligionen und die ihnen zugeordneten politischen Mächte: die Heidenschaft (zu der man in polemischer Absicht auch den Islam zählte) mit dem König von Babylon; das Judentum, als dessen Sprachrohr die Synagoge fungiert; und die Christenheit, die über den größten Teil des Erdkreises herrscht. Zu ihr gehören die Könige von Byzanz (denen der Autor den Kaisertitel versagt), von Jerusalem (das Spiel entstand im Zeitalter der Kreuzzüge) und von Frankreich (dem mächtigsten politischen Rivalen der Staufer); repräsentiert aber wird sie durch die Ecclesia, die in der Begleitung von Papst und Kaiser, ihrem geistlichen und weltlichen Oberhaupt, die Bühne betritt. Wie sich aus staufischer Sicht die religiös-politische Ordnung der damaligen geschichtlichen Welt darstellte oder dar- 538 Barbara Könneker stellen sollte, wurde im Ludus also programmatisch in Szene gesetzt und erhielt durch den liturgieähnlichen Stil, in dem die Personen agieren und sprechen, eine gleichsam sakrale Weihe. Inhaltlich zerfällt das Spiel in zwei Teile. Im ersten unterwirft der Kaiser, von den anderen als »Augustus Caesar« apostrophiert, nacheinander die christlichen Könige. Byzanz und Jerusalem beugen sich willig, der rex Francorum dagegen, der selbst Anspruch auf die Kaiserkrone erhebt, wird im Kampf bezwungen, und mit Waffengewalt wird auch der König von Babylon, der Jerusalem bedrängt, in seine Schranken gewiesen. Nachdem er sich auf diese Weise auch als Verteidiger des Glaubens bewährt hat, legt der Kaiser Zepter und Krone im Tempel Jerusalems nieder, zum Zeichen, daß die irdische Geschichte ihren Abschluß gefunden hat. Der zweite Teil, die Unterwerfung der Welt durch den Antichrist, ist antithetisch zum ersten konzipiert. Während sich der Kaiser die Wiederherstellung des Römischen Reiches (renovatio imperii) zum Ziel gesetzt hatte, kündigt der Antichrist sich als Neuerer an, ein Verdikt, das im Spiel in erster Linie gegen zeitgenössische Reformversuche der Kirche zielt. Denn anders als bei Adso ist der Antichrist im Ludus nicht jüdischen Ursprungs, sondern aus dem »Schoß der Kirche« hervorgegangen und macht sich daher die christliche Welt mit Hilfe von Heuchelei und Ketzerei untertan. Die Heuchler, denen speziell die Verführung der Laien obliegt, versuchen deren Gunst ausgerechnet mit einer Kritik an der Verweltlichung des Klerus zu gewinnen, wie sie seit etwa der Mitte des Jahrhunderts aus unterschiedlichen Richtungen laut zu werden begann. Kirchlicher Konservatismus und (potentiell gegen die Kirche gerichteter) staufischer Imperialismus sind also im Ludus eine Verbindung eingegangen, der sich schließlich sogar auch nationale Tendenzen noch beimischen. Denn als einziger christlicher Herrscher weigert sich der König der Deutschen (der ehemalige Kaiser, nachdem er den Kaisertitel abgelegt hat), dem Antichrist Gehorsam zu leisten, besiegt ihn statt dessen in einer Schlacht, was Gelegenheit gibt, die Kampfkraft der Deutschen zu preisen, und läßt sich erst durch (falsche) Wunder zur Anerkennung seiner Herrschaft verführen. Dann allerdings ist er sein treuester Untertan, der ihm auch den König von Babylon dienstbar macht. Als letzte von allen aber unterwirft sich die Synagoge dem Antichrist und ist umgekehrt die erste - und einzige! -, die unter dem Eindruck der Predigt der beiden Propheten seinen Betrug durchschaut. Ihr Bekenntnis zum wahren Christus, für das sie gemeinsam mit Elias und Henoch den Märtyrertod stirbt, ist als bewegende Szene gestaltet, für die es in der judenfeindlichen Antichrist-Tradition sonst keine Parallele gibt. Weniger eindeutig ist die Rolle der Ecclesia. Einerseits ist sie die einzige, die der Antichrist nicht verführt, andererseits aber verhält sie sich völlig passiv und erhebt ihre Stimme erst während der Tötung der Synagoge, weil sie in ihr das Zeichen der bevorstehenden Wiederankunft Christi erkennt. Zwar behält die Kirche am Ende das letzte Wort, eine den Gang der Geschichte beeinflussende Bedeutung aber gestand ihr der Autor offenbar nicht zu, und erst recht nicht dem Papst, der als einzige Bühnenfigur während des ganzen Spiels stumm bleibt. Da die Führungsrolle des Heiligen Römischen Reiches mit dem Ende der Staufer ausgespielt war, blieb der Ludus die einzige Dichtung des Mittelalters, die den Antichrist- Stoff so entschieden historisch-politisch interpretiert hat. In späteren Texten sowie den volkssprachlichen Antichrist-Spielen Englands, Frankreichs und Deutschlands verlagerte sich das Schwergewicht auf seine moralkatechetische Ausdeutung oder wurde die Ver- Der Antichrist 539 führbarkeit durch den Antichrist zu satirischen Ausfällen gegen geistliche und weltliche Herren genutzt. Für die Theologen aber gewann in den kommenden Jahrhunderten zunehmend seine Instrumentalisierung als Medium einer Kirchenkritik an Bedeutung, die den Antichrist und seine Diener nicht mehr nur in einer anonymen Schar von Häretikern und Heuchlern vermutete, sondern sie in den hohen und höchsten Rängen der geistlichen Hierarchie selbst aufspürte. Diese Kritik ging zunächst von religiösen Randgruppen aus, griff dann aber auch auf innerkirchliche Kreise über, die gegen die zunehmende Verweltlichung des Klerus und die Pracht- und Machtentfaltung ihres Oberhaupts opponierten. Ihre Wortführer kamen vorwiegend aus den Reihen der Franziskaner, die das Armutsideal, das ihr Ordensgründer ihnen vorgelebt hatte, auf die Gesamtkirche übertrugen und sie in der Nachfolge Christi zur Revision ihrer bisherigen Einstellung dem Besitz gegenüber aufforderten. Da die Päpste diese Forderung als häretisch verwarfen und als Christi Stellvertreter offensichtlich im Widerspruch zur Lehre der Evangelien lebten, konnte es nicht ausbleiben, daß man den einen oder anderen unter ihnen verdächtigte, selbst der Antichrist oder einer seiner Vorläufer zu sein. Später warf man einigen Päpsten geradezu vor, den Abfall vom Geist und Auftrag Christi bewußt vollzogen und die Gläubigen unter dem Schein der Frömmigkeit in die Irre geführt zu haben. In dem Maße, in dem sich seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, nicht zuletzt unter dem Eindruck des großen Schismas (1378 - 1417), derartige Vorwürfe mehrten, entfaltete die Antichrist-Polemik schließlich eine gegen die Papstkirche gerichtete Sprengkraft, die nicht unerheblich zur Beendigung ihrer universalen Herrschaft durch die Reformation beitrug. Richtungweisend in dieser Hinsicht wurde John Wiclifs Schrift De Christo et suo adversario Antichristo (Über Christus und seinen Widersacher, den Antichrist), die die Gleichsetzung von Papst und Antichrist aus dem Vergleich zwischen seiner und Christi Lebensführung herleitete und das Ergebnis auf die Formel einer Reihe griffiger Antithesen brachte. Diese Antithesen - Christus war bedürfnislos, demütig, friedfertig, der Papst ist habgierig, herrschsüchtig, kriegslüstern usw. - wurden zuerst von den Hussiten weiter verbreitet und fanden durch sie Eingang in die lutherische Reformationspublizistik. Ihr bedeutsamstes Zeugnis war ein Werk der bildenden Kunst, nämlich Lukas Cranachs Passional Christi et Antichristi von 1521, das den Gegensatz zwischen Christus und seinem Stellvertreter bzw. Gegenspieler vom Wort ins Bild übertrug und damit auch in der Geschichte der Antichrist-Ikonographie, die sich bis dahin weitgehend auf den Bereich von Bibel- und Buchillustrationen beschränkt hatte, eine Wende herbeiführte. Ebenso wie Cranachs Holzschnittfolge stand auch die frühe Flugschriftenliteratur der Reformationszeit, soweit sie sich die Gleichsetzung von Papst und Antichrist satirisch zunutze machte, weitgehend noch unter dem Einfluß der traditionellen Kritik, die sich lediglich gegen ihre Entartungserscheinungen, nicht aber gegen die Papstkirche selbst gewandt hatte. Es war erst Luther, durch den diese Gleichsetzung eine religiöse Sprengkraft erhielt, welche der Antichrist-Vorstellung, bevor sie unter dem Einfluß zunehmender Säkularisierung allmählich ihre Relevanz einbüßte, noch einmal die Bedeutung eines für die Interpretation des Geschichtsablaufs wichtigen Faktors verlieh. Daß der Papst »der rechte Endechrist oder Wider-Christ sey«, war für Luther eine Erkenntnis, die sich zwingend aus dem Neuansatz seiner Theologie ergab und in die Schmalkaldischen Artikel von 1538 (Art. II,4) Eingang fand. Anders als bei Wiclif bezog sie sich nicht mehr auf die mehr oder weniger skandalöse Lebensführung einzelner Päpste oder den Mißbrauch, den sie mit ihrem Amt getrieben hatten, sondern betraf, unabhängig von der Per- 540 Barbara Könneker son, das Papsttum als Institution, zu der es sich im Verlauf vieler Jahrhunderte entwickelt hatte. Daß die Päpste sich seit dem 14. Jahrhundert als quasi absolute Herrscher der Kirche verstanden, ausgestattet mit der Schlüsselgewalt über die Gläubigen und über einen eigenen weltlich-politischen Machtapparat verfügend, war für Luther gleichbedeutend mit der Usurpation und Verfälschung des Herrscheramts Christi, da Christus allein »das Heupt der gantzen Christenheit« und das Reich, über das er gebietet, nicht von dieser Welt ist. Sich »vber vnd wider Christum« zu setzen, d. h. seine Rolle zu usurpieren und gleichzeitig zu verfälschen, aber war per definitionem das Bestreben des Antichrist, so daß seine Gleichsetzung mit dem Papsttum bei Luther gewissermaßen einer zwingenden theologischen Logik entsprang, herrührend aus einer grundlegend neuen Auffassung von der Funktion der christlichen Kirche. Hatte diese Jahrhunderte lang die Antichrist-Vorstellung u. a. stets auch als Mittel benutzt, um ihre Einheit gegen innere und äußere Feinde zu festigen, so wurde diese Einheit im 16. Jahrhundert mit ihrer Hilfe für immer zerstört. Denn Luthers Einschätzung des Papsttums wurde von den führenden Reformatoren der Zeit nicht nur übernommen, sondern z.T. noch radikalisiert, so daß die Identität von Papsttum und Antichrist geradezu als communis opinio des Protestantismus galt. Konsequenzen ergaben sich daraus auch für die Vorstellung vom Antichrist selbst. Denn als Verkörperung einer historisch gewachsenen Institution hörte er für die Protestanten zwangsläufig auf, eine reale, mit einer individuellen Biographie ausgestattete Person zu sein, deren Erscheinen man erst in Zukunft erwartete, und wurde endgültig, was er vorher nur unter anderem und oft nur in übertragenem Sinne gewesen war. Nämlich zum Kollektivbegriff für die christusfeindlichen Kräfte, die innerhalb der Kirche seit langem schon auf ihren Abfall von Christus hinarbeiteten, oder gar zum Etikett einer historischen Fehlentwicklung, durch welche sie zum Gegenteil dessen geworden war, was sie gemäß der Intention ihres Stifters ursprünglich hatte sein sollen. Es war wiederum ein deutscher Autor, Thomas Naogeorg, der die protestantische Antichrist-Vorstellung zum Thema eines lateinischen Bühnenwerks machte, das jetzt nicht mehr der Tradition des liturgisch-sakralen Spiels, sondern des an Terenz orientierten Humanistendramas verpflichtet war. Seine Tragoedia nova Pammachius von 1538 ist ebenfalls ein Geschichtsdrama, das aber anders als der Ludus nicht von zukünftigen, sondern von vergangenen Ereignissen handelt. Und zwar beginnt es weitausholend mit der Etablierung des Christentums als Staatsreligion im 4. Jahrhundert und endet mit den Vorbereitungen zum Trienter Konzil, also in der Gegenwart von Autor und Zuschauern. Da der Handlung ein »Vorspiel im Himmel« vorausgeht, in dem Christus Satan nach tausendjähriger Fesselung wieder auf die Erde entläßt, spielt sich das gesamte Geschehen gleichwohl in der geschichtlichen Endzeit ab, die in der Gegenwart ihre letzte, dramatischste Phase erreicht hat. Der Titelheld Pammachius (griech. soviel wie »der Feind aller« als Synonym für den Antichrist) steht als einzelner zugleich für sämtliche Päpste der zwölfhundertjährigen Kirchengeschichte, die das Spielgeschehen umfaßt. Seine im Drama dargestellte individuelle Entwicklung - nach dem Ende der Christenverfolgungen erliegt er der Verführung der Macht, schließt einen Pakt mit dem Satan und macht sich daran, die Kirche Christi in eine »ecclesia diaboli« zu verwandeln - ist daher exemplarisch für die Entwicklung der Kirche als Institution, deren aus protestantischer Sicht markanteste Stationen auf dem Weg zur Teufelskirche jeweils auch zentrale Ereignisse im Ablauf der dramatischen Handlung sind: das Bündnis mit der politischen Macht z. Zt. Kaiser Konstantins (1. Akt), ihre Usurpation während des Investiturstreits (2. Akt), der planvolle Der Antichrist 541 Ausbau des kirchlichen Herrschaftssystems im späteren Mittelalter (3. Akt) und schließlich die zynisch zur Schau gestellte Sittenverderbnis des Renaissancepapsttums, in dem sich der Antichrist als Oberhaupt der Kirche erstmals offen zu erkennen gibt (4. Akt). Das Drama endet damit, daß Pammachius während der Siegesfeier die Hiobsbotschaft erhält, ein Prediger (d.i. Luther in der Rolle des Propheten Elias) sei in Sachsen gegen ihn aufgestanden, worauf er die Einberufung eines Teufelskonzils beschließt und ein Epilogsprecher nach einer Zeit der Verfolgung den Sturz des Antichrist durch Christus verheißt. Als zukünftiges Ereignis wird dieser Sturz im Drama selbst nicht mehr dargestellt - ein eindringlicher Appell an die Zuschauer, durch ihr eigenes Verhalten auf der ›Bühne des Lebens‹ mit darüber zu entscheiden, wann und auf welche Weise es eintreten wird. Durch die Eingangsszene, die mit der Entfesselung Satans den heilsgeschichtlichen Rahmen absteckt, und durch den Ausblick auf Parusie und Jüngstes Gericht blieb auch in diesem Antichrist-Drama noch die eschatologische Perspektive gewahrt, ohne die der Name Antichrist letztlich zur bloßen Metapher wird. Andererseits aber hat sich in ihm das Interesse an profangeschichtlichen Ereignisabläufen schon so weit verselbständigt und wurde die Instrumentalisierung der Antichrist-Vorstellung als Waffe im konfessionspolitischen Kampf so konsequent betrieben, daß der Eindruck entsteht, als sei sie für den Autor nicht unbedingt mehr geglaubte religiöse Realität gewesen. Die von den Protestanten vorgenommene Entpersonalisierung des Antichrist und seine Identifizierung mit geschichtlichen Entwicklungsprozessen, auf die man im eigenen Interesse glaubte Einfluß nehmen zu können, dürfte daher dem Bedeutungsverlust, den er als eschatologische »Schlüsselfigur« allmählich erfuhr, Vorschub geleistet haben. Jedenfalls war die zentrale Rolle, die der Antichrist in der christlichen Geschichtstheologie gespielt hatte, mit dem 16. Jahrhundert im wesentlichen ausgespielt, obwohl 1604 noch einmal ein umfangreiches Werk (De antichristo libri XI) erschien, in dem der spanische Dominikaner Tomás Malvenda die personale katholische Auffassung gegen die Protestanten verteidigte und in einer Art Kompendium zusammenfaßte, was die Theologen in der Vergangenheit über den Antichrist zu sagen gehabt hatten. Als von Geheimnis und Grauen umwitterte und eben deshalb die Phantasie an- und aufregende Gestalt lebte er im Bewußtsein vieler Christen selbstverständlich weiterhin fort. Indiz dafür ist, daß die Verdächtigung, der oder jener sei der Antichrist, auch später jederzeit auf Abruf bereitstand. Die alle Lebensbereiche erfassende Säkularisierung, die auch die Theologie nicht verschonende Aufklärung und die moderne Geschichtswissenschaft aber führten dazu, daß der Antichrist als Gegenstand ernstzunehmender geschichtsphilosophischer oder -theologischer Spekulationen allmählich zu existieren aufhörte. Die Beschäftigung mit ihm blieb mehr und mehr religiösen Randgruppen - Sektierern und Ultraorthodoxen - überlassen, und der Glaube an ihn wurde, ähnlich wie der Glaube an Hexen oder den Teufel, mit dem Etikett »Volksaberglaube« versehen, d. h. in einen Bereich abgedrängt, in dem sich weitere Diskussionen über ihn erübrigten. Es entbehrt jedoch nicht einer gewissen Logik, daß der Antichrist noch einmal in den Blickpunkt intellektueller Auseinandersetzung geriet, als sich mit dem Atheismus eine Gegenbewegung gegen das Christentum etablierte und sozialrevolutionäre Gruppen mit ihren Entwürfen einer gerechteren Welt in Konkurrenz zu christlichen Jenseitsverheißungen traten. Sieht man von dem mißglückten Roman Selma Lagerlöfs Die Wunder des Antichrist (Antikristi mirakler 1897) ab, dessen Quintessenz in der Formel »Der Antichrist ist der Sozialismus« besteht, waren es zwei Autoren unterschiedlichster Prägung, 542 Barbara Könneker die sich um die Jahrhundertwende zu diesem Thema zu Wort meldeten. Der christliche Philosoph Wladimir Solowjew mit seiner 1899 verfaßten Kurze[n] Erzählung vom Antichrist (Kratkoi powesti ob antichriste), und Friedrich Nietzsche, dessen 1888 entstandene Schrift Der Antichrist die schonungsloseste Abrechnung mit dem Christentum ist, die es in seiner fast zweitausendjährigen Geschichte erlebt hat. Solowjew gehörte ursprünglich zur Gruppe der Slawophilen, die in der Kirche des Westens den leibhaften Antichrist sahen, weil sie im Lauf ihrer Geschichte, wie Dostojewski es in der Legende vom »Großinquisitor« (Die Brüder Karamasow V,5, 1879/ 80) beschrieb, sämtlichen Versuchungen Satans erlegen war, denen Christus im Neuen Testament widerstanden hatte. Später aber strebte er eine Versöhnung mit der Westkirche an und beschwor in der Erzählung vom Antichrist noch einmal die christliche Tradition, um, ausgehend vom Schicksal Europas im 20. Jahrhundert, ein Zukunftsbild von der Endphase der Menschheitsgeschichte zu entwerfen, das als Warnung vor zeitgenössischen Weltbeglückungsträumen gedacht war. Sein Antichrist betritt die geschichtliche Bühne in dem Augenblick, in dem es nach blutigen Kämpfen endlich gelungen ist, die »Vereinigten Staaten von Europa« zu gründen. Weil er die Lösung aller Menschheitsprobleme verspricht, wird er zu ihrem Präsidenten gewählt und errichtet innerhalb kürzester Zeit eine Weltmonarchie mit dem Sitz in Jerusalem. Tatsächlich gelingt es ihm, die Träume der Menschen von einer besseren Welt zu erfüllen. Den Traum vom Frieden, da in seinem Reich Kriege zwischen den Völkern unmöglich geworden sind, und den Traum vom Wohlstand, da niemand in ihm mehr Mangel und Not leiden muß. Erst als er sich auch die drei christlichen Konfessionen dienstbar machen will, scheitert der Antichrist. Denn ebenso wie die Juden verweigern sie ihm die Gefolgschaft, und es kommt zu grausamen Kämpfen, in denen Tausende sterben. Das Ende der Erzählung folgt dann der Tradition. Auf dem Höhepunkt seiner Macht wird der Antichrist durch ein Erdbeben getötet, während die Überlebenden den Gekreuzigten vom Himmel steigen sehen zum Zeichen, daß das Weltende gekommen ist. Die Botschaft, die Solowjew seinen Zeitgenossen vermitteln wollte, ist klar. Ohne Gott, und das heißt zugleich ohne den Glauben an ein alle Menschen gleicherweise verpflichtendes übergeordnetes Sittengesetz ist die Realisierung einer vollkommenen Welt nicht möglich, weil, wie er sich selbst kommentierte, das Gute, das auf diese Weise in ihr geschieht, nur die »trügerische Maske« ist, hinter der »sich der Abgrund des Bösen verbirgt.« Daß sein Antichrist ein »Mensch ohne Gott« ist, der aus purer Selbstüberheblichkeit zum Menschheitsbeglücker wird und sich, indem er seine Segnungen gleicherweise an Gute und Böse austeilt, zum Herrn auch über das Sittengesetz macht, sagt er ausdrücklich, und die Erfahrung unseres Jahrhunderts, wie rasch das Bemühen um eine gerechtere Weltordnung in blinden Terror umschlagen und die Liebe zum Menschen zu Menschenverachtung werden kann, ist durchaus dazu angetan, seine Warnungen ernst zu nehmen. Andererseits aber hat Solowjew, indem er die Gottlosigkeit seines Antichrist ganz in dessen Gesinnung verlegte, nicht aber an seinen Taten exemplifizierte, das abgründig Böse, das er verkörpert, mehr behauptet als schlüssig bewiesen, so daß die Botschaft seiner Erzählung de facto auf eine Diskreditierung der positiven Leistungen, die er vollbringt - Frieden und Wohlstand für alle - hinausläuft. Daß es sich bei ihnen auf jeden Fall um erstrebenswerte Ziele der Menschheit handelt, wird jedenfalls in seiner Erzählung nicht deutlich. Trotz der Beachtung, die sie in manchen Kreisen gefunden hat, dokumentiert sie daher, daß man der Gefahr des Bösen in der heutigen Welt mit einer Aktualisierung des Antichrist-Mythos nicht mehr wirksam begegnen kann. Der Antichrist 543 Die Anklagen, die Nietzsche gegen das Christentum erhob - daß es die Religion der Kranken und Entarteten sei, daß es das Diesseits zugunsten des Jenseits negiere und durch seine Moral verteufele, was das Leben lebenswert und den Menschen stark macht -, sind so bekannt, daß sich ihre weitere Aufzählung erübrigt. In vorliegendem Zusammenhang sind sie bemerkenswert, weil er der Bündelung dieser Anklagen in einer seiner letzten Schriften den Titel Antichrist gab und sich selbst zu dessen Inkarnation erklärte. Die Provokation, die er damit erzielte, hätte nicht größer sein können. Denn war der Antichrist - ob Person, Institution oder Gruppe - als Inbegriff des Bösen und Feindlichen bis dahin stets der Andere gewesen, derjenige, den man bekämpfte oder vor dem man sich ängstigte, gegen den man auf jeden Fall aber sich abgrenzte, weil man selbst auf der »richtigen« Seite stand, so leitete Nietzsche seinen Stolz daraus ab, selbst dieser »Andere« zu sein und für gut zu erklären, was bisher stets als böse gegolten hatte. Seine berühmte »Umwertung aller Werte« bestand ja eben darin, daß er das Christentum attackierte, nicht weil es seinen Idealen untreu geworden war, sondern weil es sich zu diesen Idealen bekannte, und daß er an ihrer Stelle Verhaltensnormen propagierte, die von der abendländischen Welt seit jeher als inhuman, widergöttlich oder antichristlich verurteilt worden waren. Als »Übermensch« und leidenschaftlicher Gegner Christi verkörpert Nietzsches Antichrist genau das, was man schon immer in ihm gesehen hatte. Als neues Leitbild des Menschen, das in der Negation seiner religiösen, ethischen und sozialen Verpflichtungen besteht, aber stellt er einen radikalen Bruch mit der Tradition dar, der zugleich das Ende seines Mythos in der abendländischen Geschichte bedeutet. Während Solowjew durch sein Festhalten an der negativen Rolle des Antichrist erstrebenswerte Menschheitsideale als verwerflich diskretitierte, hat sich Nietzsches zum Ideal hochstilisierter Antichrist, indem man ihn im Nationalsozialismus beim Wort nahm, als Verbrecher an der Menschheit und Menschlichkeit decouvriert. Obwohl die Mentalitätsstrukturen, die ihn einst hervorgebracht hatten, weitgehend die gleichen geblieben und die Ängste, die man auf ihn projizierte, nach wie vor virulent sind, verliert daher seine intellektuelle oder moralische Glaubwürdigkeit, wer nach Solowjew und Nietzsche anders als allenfalls metaphorisch noch vom Antichrist spricht, d.h. sich seiner als Instrument der Gegenwartsdeutung und Zukunftsprognose bedient. Joseph Roths kultur- und zeitkritischer Essay Der Antichrist von 1934 hat aufgrund des inflationären Gebrauchs, den er von ihm macht, mit dem, was der Begriff einst beinhaltete, nichts mehr zu tun und könnte daher ebenso gut anders heißen. Bibliographische Hinweise Texte Folz, Hans: Ein Spil von dem Herzogen von Burgund. In: Fastnachtspiele aus dem 15. Jahrhundert. Hrsg. Adelbert von Keller. Bd. 1, Nr. 20. Darmstadt 1965 (Nachdruck der Ausgabe Stuttgart 1853). Der Antichrist. Der staufische Ludus de Antichristo. Lateinisch-deutsch. Kommentiert von Gerhard Günther. Hamburg 1970. Lagerlöf, Selma: Antikrists mirakler. In: Skrifter av Selma Lagerlöf. Bd. 2. Stockholm 1934 (Dt.: Die Wunder des Antichrist. In: Selma Lagerlöf: Gesammelte Werke. Einzige autorisierte deutsche Originalausgabe in 10 Bänden. Übers. Pauline Klaiber. Bd. 3. München 1912. 544 Barbara Könneker Naogeorg, Thomas: Tragoedia nova Pammachius. In: Thomas Naogeorg. Sämtliche Werke (Lateinisch-deutsch). Hrsg. Hans-Gert Roloff. Bd. 1. Berlin; New York 1975. Nietzsche, Friedrich: Der Antichrist. Fluch auf das Christentum. In: Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Hrsg. Giorgio Colli; Mazzino Montinari. Bd. 6. Berlin; New York 2 1988 (Taschenbuchausg.), S. 165 - 254. Roth, Joseph: Der Antichrist. In: Joseph Roth: Werke. Hrsg. und eingeleitet von Hermann Kesten. Bd. 3. Amsterdam 1976, S. 371 - 474. Solowjew, Wladimir: Kurze Erzählung vom Antichrist. Übersetzt u. erläutert von Ludolf Müller. München 3 1977. Sekundärliteratur Aichele, Klaus Erwin: Das Antichristdrama des Mittelalters, der Reformation und der Gegenreformation. Ann Arbor, Michigan 1972. Bousset, Wilhelm: Der Antichrist in der Überlieferung des Judentums, des neuen Testaments und der alten Kirche. Ein Beitrag zur Auslegung der Apokalypse. Göttingen 1895 (Nachdr. Hildesheim, Zürich, New York 1983). Emmerson, R. K.: Antichrist in the Middle Ages. A study of medieval apocalyptician, art, and literature. Seattle 1984. Ernst, Josef: Die eschatologischen Gegenspieler in den Schriften des Neuen Testaments. Regensburg 1967. Jenschke, Georg: Untersuchungen zur Stoffgeschichte, Form und Funktion mittelalterlicher Antichristspiele. Münster 1972 (Diss.). Konrad, Robert: De ortu et tempore Antichristi. Antichristvorstellung und Geschichtsbild des Abtes Adso von Montier-En-Der. Kallmünz Opf. 1964. Kursawa, Hans-Peter: Antichristsage, Weltende und Jüngstes Gericht in mittelalterlicher deutscher Dichtung. Köln 1976. Preuß, Hans: Die Vorstellungen vom Antichrist im späteren Mittelalter. Leipzig 1906 (Diss.). Rauh, Horst Dieter: Das Bild des Antichrist im Mittelalter von Tyconius zum deutschen Symbolismus. Münster 2 1979. Sackur, Ernst: Sibyllinische Texte und Forschungen: Pseudomethodius, Adso und die Tiburtinische Sibylle. Halle 1898 (Nachdr. Turin 1976). Wenzler, Ludwig: Die Freiheit und das Böse nach Vladimir Solov’ev. Freiburg, München 1978. Willers, Ulrich: Friedrich Nietzsches antichristliche Christologie. Eine theologische Rekonstruktion. Innsbruck, Wien 1988. »daz si totfuorgiu tier sint« Sirenen in der mittelalterlichen Literatur Rüdiger Krohn (Chemnitz) Der Prozeß der Aneignung von antiken Denkformen, Stoffen oder Motiven, der nicht nur etwa gleichzeitig, sondern auch in Konkurrenz verlief zu den Anstrengungen der Kirche um eine Grundlegung der abendländischen Kultur auf christlicher Basis - dieser Prozeß war hochkomplex, er schloß Rückschläge und Widersprüche ein, er war angewiesen auf Kompromisse, gewagte Umdeutungen und kühne Anverwandlung des eigentlich Fremden. Im Zusammenfluß von unterschiedlichen, ja sogar konträren Kulturen war (und ist! ) das nur natürlich. Für die frühmittelalterlichen, vor allem karolingisch inspirierten und auf einschlägige angelsächsische Strategien gestützen Bemühungen, in Deutschland dem noch in germanischem Götterglauben befangenen, illiteraten Publikum die neue Heils- und Glaubenslehre nahezubringen und dabei die traditionellen Bilder und Kulte neu zu besetzen, - für dieses geschickte Lavieren zwischen überkommener Volksreligion und den Setzungen der christlichen Theologie hat die Wissenschaft den schlagenden Terminus »elastische Missionstaktik« 1 geprägt. Die Umwandlung von alten Kultstätten in neue Heiligtümer, etwa von Wodansbergen in Michaelsberge oder von Götzentempeln in Kirchenräume, aber auch die absichtsvolle Überführung altgermanischer Zaubersprüche in christliche Segens- und Beschwörungsformeln und schließlich gar ihre Erhebung zu Gebetstexten legen Zeugnis ab von dem Bestreben der Missionare, bestehende Strukturelemente des hergebrachten Glaubens in ihr Konzept zu integrieren und für kirchliche Zwecke zu nutzen. Ein besonders sinnfälliges Beispiel hierfür ist etwa der Grabstein aus Niederdollendorf (bei Bonn), der aus der Merowingerzeit (7. Jahrhundert) stammt und auf dessen Vorderseite der Verstorbene mit den Emblemen germanisch-heidnischer Glaubensvorstellungen abgebildet ist, während die Rückseite eine als Weltenherrscher dargestellte Christusfigur mit Nimbus in der Mandorla zeigt. 2 Diese Strategie der allmählichen Ergänzung und Ablösung alter Bräuche durch neue Denk- und Sinnmuster hatte schon Papst Gregor der Große um 600 einleuchtend begründet: »Den rohen Gemütern auf einmal alles abzuschneiden, ist ohne Zweifel unmöglich, weil auch der, der auf die höchste Stufe steigen will, durch Schritt und Tritt, nicht aber durch Sprünge in die Höhe kommt.« 3 Und so wirken denn zahlreiche Reste heidnischer Kulte, die ihrem ursprünglichen Sinn inzwischen entfremdet sind, als nur noch folkloristische Versatzstücke und irgendwie ar- 1 Vgl. Erb, Ewald: Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis 1160. Erster Halbband. [Ost-]Berlin 1965, S. 314 ff. 2 Dazu vgl. den Ausstellungskatalog: Die Franken. Wegbereiter Europas. Mannheim 1996, Bd. II, S. 741 (Abb. 608 u. 609) u. S. 1024 f. 3 Zit. nach Erb (Fn. 1), S. 316. 546 Rüdiger Krohn chaischer Mummenschanz selbst in kirchlichen Festen und eindeutig christlichen Verwendungszusammenhängen fort. Gerade das österliche Brauchtum, wie es (übrigens nicht nur in ländlichen Gebieten) bis heute lebendig geblieben ist, liefert für solche ambivalenten Traditionen zahlreiche Beispiele, und nicht minder ergiebig ist bekanntlich, was sich im Umfeld der Feierlichkeiten zur Fastnacht an vorchristlichen Riten gehalten und sogar Auswirkungen hat bis in den fortwährenden Streit zwischen Volkskundlern und Philologen um die rechte Schreibung des Begriffes - auch wenn die Diskussion um den Anteil der notorischen »germanischen Männerbünde« zur Ausbildung der Fastnachtbräuche inzwischen zu Recht verstummt ist. Diente bei der »elastischen Mission« der Versuch, die altheidnischen Traditionen mit einem christlichen Firnis zu überziehen und die tief verwurzelten Vorstellungen des paganen Volksglaubens mit neuem, theologischen Inhalt aufzufüllen, allemal dem Ziel, die solchermaßen behutsam umerzogenen Ungläubigen in den Schoß der Kirche zu führen, so liegen die Dinge bei den Bestrebungen, antike Bilder und Ideen für die Möglichkeiten und Bedürfnisse des frühmittelalterlichen Christentums dienstbar zu machen, doch ein wenig anders. Zwar konnte es hier nicht mehr um Bekehrung gehen, aber das Bildungsgut der Antike war doch die Grundlage, auf der die Kirchenväter ihr christliches Denk- und Wertesystem errichteten. Der antike Bildungsstoff wurde über das verbindliche, auf die griechische Antike zurückgehende Konzept der septem artes liberales ins Mittelalter tradiert. Namentlich in den Lehrbüchern des Trivium, das es mit Grammatik, Dialektik und Rhetorik zu tun hatte, wurden schon in der Spätantike in Ermangelung anderer, weniger suspekter Autoritäten immer wieder antike, meist lateinische Werke zitiert, um die zu vermittelnden Lehren und Regeln exemplarisch zu belegen. 4 Das führte zu der heiklen, durchaus widersprüchlichen Situation, daß nun im christlichen Schulunterricht ausgerechnet heidnische Autoren gelesen und gelernt wurden. Auch die frühen Bemühungen von Kirchenlehrern wie Augustinus, Cassiodor oder Otloh von St. Emmeram, durch die Bereitstellung von entschieden christlich orientierten Schulbüchern den verderblichen Einfluß heidnischen Bildungsgutes zu mindern, änderten nichts daran, daß etwa vom 10. Jahrhundert an im wesentlichen antike Autoren wie Ovid, Vergil, Horaz oder Juvenal den beispielhaften Text- Corpus des Grammatikunterrichts beherrschten. 5 Als entscheidendes Mittel bei der Aneignung der antiken Kultur für christliche Zwecke erwies sich das Verfahren der allegorischen Auslegung. 6 So wie das Bildungssystem der artes liberales vorzugsweise dazu dienen sollte, der Theologie als Mutter und Ziel aller Wissenschaft den Boden zu bereiten, so wurden auch die Aussagen der antiken Autoren ausschließlich unter der Perspektive ihrer Bedeutsamkeit für die christliche Lehre gewertet - und bei Untauglichkeit für kirchliche Belange unterdrückt. Der dominikanische Pädagoge Vinzenz von Beauvais brachte noch im 12. Jahrhundert das probate Rezept für die Auslese geeigneter Texte auf eine eingängige Formel: 4 Zu den »Schulautoren« vgl. Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern 2 1954, S. 58 ff. 5 Schnell, Rüdiger: Die Rezeption der Antike. In: Krauss, Henning (Hrsg.): Europäisches Hochmittelalter. Wiesbaden 1981 (Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, Bd. 7), S. 220 ff. 6 Zu Begründung und Verfahren vgl. immer noch Curtius (Fn. 4), S. 210 ff. »daz si totfuorgiu tier sint« 547 »Wenn wir in den Schriften der Heiden etwas Nützliches finden, verwenden wir es im Hinblick auf unsere christliche Lehre. Wenn aber etwa Unnützes über die Götzen, über Liebesaffären, über das Interesse an weltlichen Geschäften darin steht, dann radieren wir das aus.« 7 Besonders wirkmächtige Elemente der antiken Literatur für die Erzähltradition des christlichen Abendlandes waren die Mythen. Sie nämlich kamen der Neigung zu allegorischer Deutung entgegen. Das Verfahren der Allegorese, das einen Text nicht nach seinem buchstäblichen, oberflächlichen Sinn, sondern nach seiner verborgenen, übertragenen Aussage zu verstehen sucht, wurde schon im Zusammenhang mit der Bibel-Auslegung verwendet und ließ sich vorteilhaft auch auf die Mythologie der Antike umsetzen, weil es den vorchristlichen Zeugnissen einer überlegenen Geisteskultur jenes theologisch begründbare »ideologische Gleitfett« 8 beizugeben vermochte, das ihren Transfer in die veränderten Denkweisen einer kirchlich bestimmten Bildung erleichterte. So erklärte etwa um 800 der Theologe Theodulf von Orléans, der zeitweilig auch an der Hofakademie Karls des Großen wirkte und mithin zu den Protagonisten der sogenannten »karolingischen Renaissance« zählte, über die Bücher von Vergil und Ovid, die er gelesen hatte, daß in diesen »Dichtungen zwar vieles abgeschmackt und wertlos, doch unter dieser trügerischen Oberfläche sehr viel Wahres verborgen ist«. 9 Die Antiken-Rezeption des frühen Mittelalters definierte sich also vollständig durch die theologischen Prämissen, wie sie von den Kirchenvätern formuliert waren. Für die Aufnahme der antiken Mythen im Mittelalter bedeutete dies, daß »der Bedeutungsüberschuß der Archetypen auf das reduziert [wurde], was sich im Horizont der christlichen Moral eindeutig erklären und als Beispiel benutzen ließ«. 10 Auch das wechselvolle Schicksal der Sirenen im Übergang von Antike über Spätantike zum Mittelalter ist ein anschaulicher Beleg für den Prozeß der Aneignung durch Anverwandlung. Am Beispiel dieser mythischen Wesen und ihrer symptomatischen Mutationen läßt sich sinnfällig vorführen, wie das (von den Humanisten erstmals so genannte) medium aevum, das mittlere Alter also zwischen Antike und Moderne, vermittelnd gewirkt hat zwischen den Vorstellungswelten des heidnischem Altertums und des christlichen Denkens. Insofern also versteht sich mein Beitrag als Versuch, einen exemplarischen Aspekt der mittelalterlichen Umdeutung antiker Bilder und Ideen abzuhandeln. Aus dem Gesagten geht hervor, daß auch althergebrachte, mythische oder sagenhafte Tiergestalten, die ihre Ursprünge in der griechischen oder lateinischen Literatur hatten und die ebenfalls in mittelalterlichen Texten (oder bildlichen Darstellungen) auftauchen, üblicherweise einen tiefgehenden Wandel nicht nur ihres Wesens, sondern auch ihrer Bedeutung zu durchlaufen hatten. Das hing ganz offenkundig damit zusammen, daß diese Figuren oder Motive, wofern sie schon in der Dichtung der Antike vorkamen, Teil einer vorchristlichen und also heidnischen Mythologie waren, die kein christlicher Dichter des Mittelalters - schon aus Angst, in den bloßen Verdacht der Häresie zu geraten - in seinen Werken aufzugreifen wagte, wenn diese alten Versatzstücke der Erzähl-Überlieferung 7 Zit. nach Schnell (Fn. 5), S. 223. 8 Den Begriff verwendet Peter Rühmkorf in seinem brillanten Essay: Walther von der Vogelweide, Reichssänger und Hausierer. In: Ders., Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich. Reinbek 1975 (das neue buch, Bd. 65), S. 12. 9 Vgl. Schnell (Fn. 5), S. 234. 10 Jauß, Hans Robert: Allegorese, Remythisierung und neuer Mythos (zuerst 1971). In: Ders.: Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. München 1977, S. [287]. 548 Rüdiger Krohn nicht verändert und in einer Weise umgewandelt worden waren, die sie mit den herrschenden religiösen Ansichten und dogmatischen Setzungen der Zeit vereinbar machten. Im Mittelalter war deshalb die Rezeption von antiken Bildern und Vorstellungen ausgeschlossen oder zumindest außerordentlich heikel und selten, wenn diese Relikte des Altertums nicht vom Makel ihrer heidnischen Herkunft gereinigt und dadurch in unauffällige, unanstößige Bauteile jenes kirchlich geprägten Ideengebäudes umgeprägt wurden, das den verpflichtenden Rahmen für alles Denken, Schreiben und sonstige künstlerische Wirken der Epoche lieferte. Im Falle der geheimnisvollen Sirenen, die erstmals bei Homer, und zwar in dessen Odyssee als fabelhafte, tödliche Tiergestalten auftreten und dann eine staunenswerte Lebensfähigkeit im weiteren Verlauf der Motiv-Tradition unter völlig verwandelten Vorzeichen entfalteten, wurde diese unverzichtbare, folgenreiche Prozedur der Umdeutung und Anverwandlung der alten, herkömmlichen Bedeutung sowie deren Konversion zu einem christlichen Symbol bereits von den Kirchenvätern geleistet. In Homers Epos werden diese Wesen in schrecklichen Farben gezeichnet, wenn der Held der Geschichte, Odysseus, auf seiner gefährlichen Heimreise von Troja an der unheilvollen Küste vorbeikommt, an der diese mythischen, zwiespältigen Ungeheuer leben. Der Umstand, daß Homer von ihnen in der alten Form des Dualis spricht, läßt uns annehmen, daß es ursprünglich nur zwei dieser seltsam gestalteten Monster gab. In späteren Bearbeitungen allerdings wächst ihre Zahl; häufig erscheinen sie beispielsweise zu dritt, bisweilen auch in noch größeren Gruppen. Ihre obere Hälfte hat stets das Aussehen einer schönen Frau, während die untere Hälfte (zumindest in der älteren Darstellungskonvention) einem Greifvogel gleicht 11 - und später, in anderen Fassungen des Motivs, auch das Äußere eines Fisches haben kann, was dann jenen wirkmächtigen Strang der Sirenen-Tradition begründet, der zu den weit verbreiteten Meerjungfrauen und märchenhaften Melusinen 12 führt. 13 Manchmal erscheinen die Sirenen sogar in einer Mischung beider Tradition: als Drittel-Mix aus Frau, Fisch und Vogel (vgl. Abb. 1). Aber diese Äußerlichkeiten bei der Darstellung der mythischen Sirenen, von denen sich übrigens die Beschreibung bei Homer völlig freihält, sollen uns hier nicht weiter beschäftigen, sondern allenfalls zur Präzisierung, d.h. zur Begrenzung unserers Untersuchungsgegenstandes dienen: Meerweiber 14 , ihre spezifische Funktion (etwa als Bildtopos im Zusammenhang mit Darstellungen der Christophorus-Legende 15 ) und ihre nicht selten divergierende Entwicklung im 11 Zur antiken Abbildungskonvention vgl. Schrader, Hermann: Die Sirenen nach ihrer Bedeutung und künstlerischen Darstellung im Alterthum. Berlin 1868; sowie Weicker, Georg: Der Seelenvogel in der alten Litteratur und Kunst. Eine mythologisch-archäologische Untersuchung. Leipzig 1902, S. 85 ff. 12 Dazu vgl. die Darstellung bei Bessler, Gabriele: Von Nixen und Wasserfrauen. Köln 1995, S. 48 - 76 f. Zur mittelalterlichen Ausgestaltung des Motivs auch Clier-Colombani, Françoise: La Fée Mélusine au Moyen Age. Images, Mythes et Symboles. Paris 1991; sowie Hülk, Walburga: Melusine - Lusignan: Fiktive Genealogie im Namen der Mutter. Zum altfranzösischen Melusinenstoff. In: Roebling, Irmgard (Hrsg.): Sehnsucht und Sirene. Vierzehn Abhandlungen zu Wasserphantasien. Pfaffenweiler 1992 (Thetis - Literatur im Spiegel der Geschlechter, Bd. 1), S. 35 - 48. 13 Zur Entwicklung der »Mischwesen« und speziell des »monstre marin« vgl. den materialreichen Überblick bei Janssens, Jozef: Cyclopes, licornes et sirènes. In: Van de Perre, Godfried (Hrsg.): Sirènes m’etaient contées. Katalog Brüssel 1992, S. 64 - 95, bes. S. 83 ff. 14 Zu denken ist dabei für die deutsche Literatur des hohen Mittelalters insbesondere an die merkwürdigen Meerfrauen, denen Hagen in der 25. Aventiure des Nibelungenliedes (Hrsg. Helmut Brackert. Frankfurt/ Main 1971, Str. 1533 ff.) begegnet und die ihm die Zukunft weissagen. »daz si totfuorgiu tier sint« 549 Verlaufe der Motiv-Überlieferung sollen in der Folge bei der Betrachtung der theologisch-literarischen Sirenen-Spur im Mittelalter keine wesentliche Rolle mehr spielen, zumal bei diesem Strang der Überlieferung auch Einschüsse anderer Traditionen erkennbar sind: Wassergeister, Nymphen, Nixen etc. 16 Der herrliche Gesang der Mischwesen bezaubert alle Männer, die in ihren Bann geraten. Aus der Ferne locken sie vorüberziehende Seeleute an, die bei dem Versuch, den betörenden Erscheinungen näher zu kommen, ihren sicheren Kurs verlassen und unachtsam an den Felsen zerschellen. In der Folge werden sie von den Sirenen angegriffen und zerfleischt. Spätere Versionen des Mythos, die bedeutsam werden für dessen mittelalterliche Rezeption, variieren die verderbliche Technik der Sirenen und sprechen davon, daß diese mit ihren süßen und berückenden Klängen die Seeleute zunächst in Schlaf singen und sie dann, wenn ihre Opfer in angenehme Träume und trügerische Illusionen verfallen sind, erbarmungslos auffressen. In Homers Odyssee 17 ist es die Zauberin Kirke, die Odysseus vor den Gefahren warnt, welche ihm von den mörderischen Wesen drohen: »Erstlich erreichet dein Schiff die Sirenen; diese bezaubern Alle sterblichen Menschen, wer ihre Wohnung berühret. Welcher mit törichtem Herzen hinanfährt und der Sirenen Stimme lauscht, dem wird zu Hause nimmer die Gattin Und unmündige Kinder mit freudigem Gruße begegnen; Denn es bezaubert ihn der helle Gesang der Sirenen, Die auf der Wiese sitzen, von aufgehäuftem Gebeine Modernder Menschen umringt und ausgetrockneten Häuten.« (S. 171, V. 39 - 46) Solchermaßen drastisch vorgewarnt, folgt Odysseus, als er an das gefährliche Gestade kommt, dem Rat der Zauberin: »... verkleibe die Ohren der Freunde Mit dem geschmolzenen Wachse der Honigscheiben, daß niemand Von den andern sie höre.« (S. 172, V. 47 - 49) So verhindert er, daß seine Gefährten durch den Sang der Sirenen in jene tödliche Sehn- 15 Materialien hierzu bei Salmen, Werner: Musizierende Sirenen. In: Forschungen und Funde (Festschrift Bernhard Neutsch). Innsbruck 1980, S. 395. 16 Hinweise hierzu jetzt bei Bessler (Fn. 12), S. 120 ff. 17 Zitiert nach der Übersetzung durch Johann Heinrich Voß, in: Homer: Odyssee. Stuttgart 1969 (Reclam Universal-Bibliothek, Bd. 280 - 283). Abb.: 1 550 Rüdiger Krohn sucht verfallen, die so viele andere Passanten ins Unheil gestürzt hat. Was ihn selbst und seinen Wunsch angeht, die trügerischen Weisen der tückischen Wesen zu hören, so rät Kirke: »Siehe, dann binde man dich an Händen und Füßen im Schiffe, Aufrecht stehend am Maste, mit festumschlungenen Seilen, Daß du den holden Gesang der zwo Sirenen vernehmest. Flehst du die Freunde nun an und befiehlst die Seile zu lösen: Eilend fessle man dich mit mehreren Banden noch stärker.« (S. 172, V. 50 - 54) Odysseus befolgt auch diese Anweisung und kann nun, fest an den Mast gefesselt, »der zauberischen Sirenen süße Stimmen« (S. 175, V. 158 f.) mit eigenen Ohren hören. Was sie ihm mit ihrem »hellen Gesang« (S. 175, V. 183) mitteilen, ist erstaunlich, denn sie scheinen alles über den Helden und seine ruhmreichen Taten in Troja zu wissen: »Uns ist alles bekannt, was ihr Argeier und Troer Durch der Götter Verhängnis in Trojas Fluren geduldet, Alles, was irgend geschieht auf der lebenschenkenden Erde.« (S. 176, V. 189 - 191) Ja, sie versprechen ihm sogar mehr: »Komm, besungner Odysseus, du großer Ruhm der Achaer! Lenke dein Schiff an Land und horche unserer Stimme, Denn hier steuerte noch keiner im schwarzen Schiffe vorüber, Eh’ er dem süßen Gesang aus unserem Munde gelauschet; Und dann ging er von hinnen, vergnügt und weiser wie vormals.« (S. 175, V. 184 - 188) Diese augenscheinliche und bemerkenswerte Allwissenheit der Sirenen, vor allem aber die Aussicht auf Teilhabe an dieser überlegenen Kenntnis machen Odysseus begierig, mehr zu hören. Seine Freunde jedoch ignorieren, wie zuvor verabredet, den dringenden Befehl, seine Fesseln zu lösen, und so kommen denn alle mit dem Leben davon. Wichtig an diesem Blick auf Homers Epos ist der doppelte Befund, daß die Sirenen zum einen gefährlich sind durch die mörderische Lust, die sie mit ihrem Gesang bereiten, und daß sie zum anderen verderblich sein können durch das tödliche Wissen, das sie ihren Opfern verheißen. 18 Dieser Ambivalenz des Sirenenbildes wird in der Folge noch näher nachzugehen sein. Gelehrten Anstrengungen von Jahrhunderten 19 ist es nicht gelungen, das Geheimnis und die tiefere Bedeutung der Sirenen zu entdecken. Ihre Ursprünge liegen offenbar in vor-hellenistischer, womöglich altägyptischer Mythologie. Dort finden wir vogelähnliche Gestalten, die gewisse Ähnlichkeiten mit Vampiren aufweisen und eng verbunden sind mit dem Tod und der Unterwelt. In Homers Darstellung ist diese hergebrachte Vorstellung noch bewahrt in den menschlichen Knochen und Leichenteilen, die verstreut dort herumliegen, wo die Sirenen sitzen und auf neue Opfer warten. Später tritt 18 »Die Sirenen [...] repräsentieren Sinnlichkeit, Wissen, Lust und Tod. In eines zusammengefaßt stellen sie die vom Weg der Vernunft fortlockende Versuchung des Glückes dar.« (Guzzoni, Ute: Die Ausgrenzung des Anderen. Versuch zu einer Geschichte von Odysseus und den Sirenen. In: Roebling [Fn. 12], S. 5). 19 Eine knappen Abriß der Sirenen-Forschung gibt de Rachewiltz, Siegfried: De sirenibus. An Inquiry into Sirens from Homer to Shakespeare. New York, London 1987 (Diss. Harvard 1983), S. 254 ff. »daz si totfuorgiu tier sint« 551 (und auch das ist bei Homer zumindest angelegt) dieser chthonische Charakter der mythischen Wesen ein wenig zurück und macht einer neuen Eigenschaft Platz: der erotisch wirkenden Zauberkraft ihrer verführerischen, lockenden Sangeskunst und ihrer bezwingenden Schönheit, die höchste Lust verheißt und in Wirklichkeit all jene ins Verderben stürzt, die ihren gleisnerischen Reizen erliegen. 20 Es ist mithin nicht verwunderlich, daß die Sirenen bei Homer lediglich als äußerst attraktive, berückende Frauen beschrieben werden, während ihre Vogelklauen, die ihre wahre Natur und gefährliche Abkunft preisgeben könten, bezeichnenderweise in der gesamten Episode der Odyssee unerwähnt bleiben. Schon in der Frühphase der Rezeption von Homers Epos wurde die Sirenen-Stelle allegorisch verstanden. 21 Falls diese Geschichte insgesamt, über ihren Oberflächenwert als bloßes Abenteuer hinaus, im Hinblick auf ihre wohlbegründete moralische Botschaft interpretiert werden sollte, dann war die Begegnung mit den Fabelwesen als Warnung zu deuten, daß jedem, der sich zu sehr den schalen Freuden des Lebens sowie der eitlen Hoffnung auf weltlichen Ruhm und irdisches Wohlergehen hingibt, am Ende die Vernichtung droht - sowohl in wörtlichem als auch in einem eher übertragenen, ja sogar theologischen Sinne: Verdammnis. Aber die didaktische Auslegung der Episode läßt sich überdies auf jeglichen Genuß ausdehnen, der, wenn er allzu eifrig und unbedacht verfolgt wird, den solchermaßen unvorsichtigen, durch Lust geblendeten Menschen in den Untergang treibt, während der Weise (wie das Beispiel des Odysseus zeigt) von seiner Vernunft Gebrauch macht, seine Ohren »mit dem Wachs der rechtmäßigen Doktrin« 22 gegen die verderblichen Einflüsterungen der trügerischen Monster verschließt - oder doch zumindest sicherstellt, daß seine fleischlichen Begierden und die Schwäche seines Willens nicht die Oberhand gewinnen können über sein besseres Ich und seine guten Vorsätze. Diese moralisierende Interpretation der Odyssee setzte lange vor dem Entstehen christlichen Denkens und Deutens ein. Aber sie wurde aus einsichtigen Gründen außerordentlich fruchtbar für das neue Verständnis der alten Überlieferung bei den Kirchenvätern, die sich diesem Epos mit besonderem Interesse zuwandten, weil Homer schon bei seinen Zeitgenossen und auch noch in der Spätantike ein weithin bekannter Autor war, dessen Werke auf seine eigene und die folgenden Epochen einen ungemein starken Einfluß hatten, der durchaus verglichen werden muß mit der Wirkung der Heiligen Schrift. Der entscheidende Aspekt der Gefahr, die von den Sirenen auf den unvorbereitet vorübersegelnden Seemann ausgeht, ist in dieser Sicht nicht so sehr ihre berückende Schönheit oder der bezwingende Zauber ihres Gesangs, sondern vielmehr die dadurch beförderte Taktik, daß sie ihren Opfern einen übernatürlichen Zuwachs sowohl an Genuß als auch an Wissen in Aussicht stellen. In dieser doppelten Verheißung kommen die beiden, einander ergänzenden Züge der mythologischen Sirenen-Tradition verhängnisvoll zusammen: 20 Belege hierfür schon in altgriechischen Schrift- und Bildzeugnissen bei Hofstetter, Eva: Sirenen im archaischen und klassischen Griechenland. Würzburg 1990 (Beiträge zur Archäologie, Bd. 19), S. 29 - 32. 21 Hierzu vgl. die rezeptionstheoretisch verfahrende Arbeit von Wedner, Sabine: Tradition und Wandel im allegorischen Verständnis des Sirenenmythos. Frankfurt/ Main, Berlin [...] 1994 (Studien zur klassischen Philologie, Bd. 86). 22 King, Helen: Halbmenschliche Wesen. In: Cherry, John (Hrsg.): Fabeltiere. Von Drachen, Einhörnern, und anderen mythischen Wesen. Stuttgart 1997, S. 232. 552 Rüdiger Krohn Einerseits sind sie sündige Dirnen, und vor allem die neuplatonischen Autoren haben die herkömmlichen chthonischen Sirenen mit der Absicht negativer Didaxe zielstrebig in Allegorien weltlicher Lust und sinnlicher Freuden verwandelt. Diese Deutung, die sich, obwohl sie erst später entstand, als die entschieden wirkmächtigste erwies, war offensichtlich außerordentlich gut geeignet für die Ausbildung und Festigung der stark frauenfeindlichen Tendenzen, die in den weiteren Jahrhunderten eine bestimmende Rolle bei der Darstellung und Funktionalisierung der Sirenen und ihres Mythos spielte. Die altchristliche Sirenenallegorie ist von diesem Traditionsstrang deutlich geprägt: So nennt etwa um 500 der Theologe Julian von Halikarnassos den Gesang der Sirenen in pointierter Vereinfachung »Dirnenlieder«, Leander von Sevilla, der Bruder des berühmten Isidor, deutet die Sirenen rund 100 Jahre später in offenkundig abwertender Absicht als weltliche Damen, »deren unnützes Geschwätz von den Nonnen gemieden werden soll«, und noch im frühen 12. Jahrhundert heißt es in einer Abhandlung De modo bene vivendi über die mythischen Wesen: »cantus Sirenarum sunt verba saeculiarum mulierum« 23 - und das meinte nichts Gutes ... Diese Tradition setzt sich auch in Dantes Göttlicher Komödie fort. Dort beschreibt der 19. Gesang des Purgatorio einen Morgentraum, in dem die Sirene als dirnenhaftes Symbol für die sündig lockende Welt erscheint. Erst nach ihrer Enttarnung durch eine strahlende Frauengestalt wird der Dichter vom üblen Gestank des Traumbildes aus seinen Illusionen gerissen. 24 Die »dolce sirena« figuriert hier als Allegorie verderblicher Sinnenlust und als Variante der »Frau Welt«, wie sie in der mittelalterlichen Literatur vielfach verarbeitet und durch die einschlägige Ausgestaltung des Motivs suggeriert wurde. 25 Die misogyne Interpretation der christlichen Sirenen-Deutung zog sich also aus der Spätantike durch das ganze Mittelalter hindurch - übrigens bis in die Neuzeit, wie der heute noch gängige Sprachgebrauch bezeugt. 26 Die einschlägigen modernen Wörterbücher von Duden bis Klappenbach, also aus West und (ehedem) Ost, legen von der anhaltenden Gültigkeit dieser semantischen Besetzung ebenso eindeutiges wie einhelliges Zeugnis ab. Auf der anderen Seite aber behielten die Sirenen ihren mystischen, fast märchenhaften Charakter als unheimliche Todes- und Seelenvögel, und ihre umfassende, göttliche Allwissenheit, die den menschlichen Verstand bei weitem überragt, wird ein herrschender Wesenszug dieser magischen Gestalten. Ihre Eigenschaft als Bewahrerinnen einer überragenden Weisheit veranlaßte Ovid, sie die »doctae Sirenae« 27 zu nennen, und selbst ihr »Erfinder« Homer, der von seinen Bewunderern als Inbegriff einer außerordentlichen Bildung gepriesen wurde, erhielt in der Spätantike sogar den Ehrentitel »Sirene«. 28 Diese vorteilhafte Sicht der Fabelwesen geriet allmählich außer Kurs. Sie wurde jedoch durch 23 Hinweise bei Rahner, Hugo: Odysseus am Mastbaum. In: Symbole der Kirche. Die Ekklesiologie der Väter. Salzburg 1964 (zuerst 1941/ 42), S. 259 f. 24 Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Italienisch und Deutsch. Übersetzt und kommentiert von Hermann Gmelin (1949). München 1988 (dtv klassik), Bd. II: Purgatorio, S. 223 ff.; sowie Bd. V: Kommentar, S. 300 ff. 25 Ausführungen hierzu bei Rachewiltz (Fn. 19), S. 121 ff. 26 Eine große Zahl entsprechender Belege vom Mittelalter bis in die Neuzeit führt auch das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm an: Bd. X,1 (erschienen 1905; im dtv-Nachdruck [1984] Bd. 16), Sp. 1231 ff. 27 Ovid: Metamorphosen. Übers., Hrsg. Michael von Albrecht. Stuttgart 1994 (Reclam Universal-Bibliothek, Bd. 1360), 5. Buch, V. 555, S. 27. 28 Rahner (Fn. 32), S. 303; vgl. auch Weicker (Fn. 11), S. 83. »daz si totfuorgiu tier sint« 553 einen anderen, nicht minder positiven Zug ersetzt, der ebenfalls durch Plato in die einschlägige Deutungstradition eingebracht wurde: In seiner Darstellung des Mythos wurden die Sirenen zu himmlischen Wesen, und als solche waren sie sogar zuständig für die Musik und Harmonie der Sphären. Diese Beschreibung als »Musen des Jenseits« 29 stand in augenfälligem Gegensatz zu der alten Vorstellung von den chthonischen und verderblichen Dämonen. Die Sirenen verlieren »das erschreckend Numinose [...] zugunsten der Seelengeleitfunktion mit bestrickendem Gesang« 30 und erscheinen nicht länger als Widerpart der guten Geister, sondern vielmehr als deren Verbündete; sie werden zu Schwestern der Musen. 31 Aus den zauberischen Verführerinnen wurden auf diese Weise hilfreiche Geister - eine Entwicklung, die, wie noch zu zeigen sein wird, auch in der mittelalterlichen Dichtung nicht ohne Folgen geblieben ist. Die Arbeiten der Kirchenväter interpretierten, wie vor allem die Untersuchungen von Hugo Rahner 32 und Siegfried de Rachewiltz 33 gezeigt haben, die Episode als Allegorie auf die Reise des rechten Christenmenschen durch das Leben. Dabei bezeichnen die Sirenen und ihr Lockzauber die trügerischen Versuchungen durch feindselige Dämonen, die die Glaubensfestigkeit des Menschen prüfen und die Erlösung seiner Seele hintertreiben wollen. Sie sind so etwas wie Symbole des Teufels und seiner bösen Geister. Ihre Lieder sind deshalb tückische Weisen aus der Hölle, und ihre Weisheit ist nichts anderes als die von Heiden und Häretikern. Bezeichnenderweise erwähnt Hieronymus in seiner lateinischen Bibel-Revision bei Jesaja 13, 22 im Zusammenhang mit Gottes Gericht über Babel »sirenae in delubris voluptatis«, d. h. Sirenen in den Tempeln der Lust oder, noch deutlicher: im Freudenhaus. Durch diese eigenwillige, für die spätere Entwicklung folgenreiche Entscheidung verschaffte er den antik-mythischen Wesen erstmals Zugang in die Bildersprache der lateinischen Bibel. In einem ergänzenden Kommentar lieferte er dazu eine zusätzliche Begründung: »mit süßem und doch todbringendem Gesang (»dulci et mortifero carmine«) reißen sie die Seelen in den Abgrund.« 34 Solchermaßen doch wieder an die Homerische Tradition der Sirenen-Darstellung anknüpfend, zogen die dämonischen Monster ins Figuren-Arsenal der Heiligen Schrift ein - als drastische, abschrekkende Symbole der eitlen Weltfreude. Der einzige Schutz gegen diabolische Lockungen dieser Art ist es, sich fest ans Kreuz zu binden, das in diesem Falle durch den Mast von Odysseus’ Schiff und die quer dazu verlaufende Segelrahe versinnbildlicht wird. Mehr noch: das Schiff selbst wurde - ganz im Sinne der frühchristlichen Schiffahrtsmetaphorik - gedeutet als »navis ecclesiae«, als Schiff der Kirche, auf dem der Gläubige während seiner Reise ins Jenseits das gefahrenvolle Meer des Lebens durchfährt. Die Bedrohung, der der Christenmensch sich bei dieser Seefahrt ausgesetzt sieht, ist, wie der Kirchenvater Ambrosius im 4. Jahrhundert in seinem Lukas-Kommentar (im Blick auf Jesu Meerfahrt 29 So der programmatische Titel einer Untersuchung von Ernst Buschor (München 1944), die den Wandlungen der Sirenen in Schriftquellen der griechischen Antike nachgeht. 30 So charakterisiert Salmen (Fn. 15), S. 394, diese Entwicklung, die bereits »im Hellenismus und in der Welt des späten Roms« einsetze. 31 Vgl. Weicker (Fn. 11), S. 56 ff. Dazu auch Kaiser, Erich: Odyssee-Szenen als Topoi. In: Museum Helveticum 21 (1964), S. 109 - 213, bes. S. 114 ff.; sowie Rachewiltz (Fn. 19), bes. S. 145 ff. 32 Vor allem: Rahner (vgl. Anm 23); ders., Heiliger Homer II: Odysseus am Mastbaum. In: Ders.: Griechische Mythen in christlicher Deutung. Basel 1989. 33 Rachewiltz (Fn. 19), bes. S. 64 ff. 34 Rahner (Fn. 32), S. 304 f. 554 Rüdiger Krohn [Lukas 8] und mit Anspielung auf den Odysseus-Mythos) ausführt, »famosum illud voluptatis naufragium« 35 : jener berüchtigte Schiffbruch der Lust, wie ihn die Sirenen ihren Opfern bereiten. Schon im 5. Jahrhundert hatte der Theologe Maximus von Turin erklärt, das Schiff des Odysseus sei ein Vorbild der Kirche und der Mast ein Symbol des Kreuzes, an welchem sich die rechten Christen festha lten. 36 Und noch im frühen 12. Jahrhundert deutete der einflußreiche Kirchenautor Honorius Augustodunensis in seinem Speculum ecclesiae die Odysseus-Sage und die Begegnung mit den Sirenen in ähnlicher Weise als Allegorie: »Mit diesem Meer ist die Zeit gemeint, die von dauernden Stürmen der Heimsuchung bewegt wird [...] die drei Sirenen, die durch ihren lieblichen Gesang die Seefahrer in Schlaf lullen, sind die Genüsse, die die Herzen der Menschen zum Laster führen.« 37 Wie beliebt diese Vorstellung im Mittelalter war, zeigt nicht zuletzt eine Darstellung im kultur- und glaubensgeschichtlich hochinteressanten, auf Honorius gestützten Hortus deliciarum der Herrad von Landsberg - einer Enzyklopädie des mittelalterlichen Glaubens und Wissens aus dem späten 12. Jahrhundert. 38 Die christliche Indienstnahme des Sirenen-Mythos durch die Kirchenväter und die ihnen folgenden Theologen offenbart eine charakteristische Seite der Antiken-Rezeption im Mittelalter, die das Bildungsgut der Alten unter dem Aspekt seiner Verwendbarkeit für kirchliche Zwecke sichtete und einrichtete. Der Held von Troja wird für seine geistlichen Exegeten dabei zum Exempel. Seine Begegnung mit den Sirenen und die Art, auf die er ihren Fallstricken entkommt, gerät zum Nachweis für die Überlegenheit der christlichen Lehre und dient zugleich als didaktische Anleitung für frommes Handeln: Gerüstet mit den Grundsätzen des rechten Glaubens, kann der brave Christenmensch sicherstellen, daß die natürliche Schwäche seines Fleisches ihn nicht dazu verführt, an den Klippen teuflischer Versuchungen zu zerschellen. Was nun aber das Versprechen überlegener Weisheit angeht, mit dem die Sirenen Odysseus zu ködern versuchen, so sei zumindest beiläufig darauf hingewiesen, daß schon der biblische »Baum der Erkenntnis« einst den Grund für die Ursünde lieferte und daß christliche Leser der Odyssee diese Episode deshalb schon aus diesem Grunde nur mit ahnungsvoller Beklommenheit zur Kenntnis genommen haben dürften. Das in diesem Zusammenhang beziehungsreich veränderte, theologisch besetzte und allegorisch ausgemalte Bild der alten Sirenen wurde dem Mittelalter und seinen (auch weltlichen und volkssprachigen) Autoren vor allem durch die frühe, sehr verbreitete Physiologus-Tradition übermittelt. 39 Wesentlichen Anteil an dieser Überlieferung und ihrer Ausprägung hatte allerdings auch ein Kommentar, den der lateinische Grammatiker Servius um 400 zu Vergils Aeneis verfaßte, 40 und weitere Einflüsse kamen überdies aus gelehrten Bestiarien wie etwa dem Liber monstrorum, das um 700 entstand und in dem die 35 Vgl. Rahner (Fn. 23), S. 258. 36 Vgl. Rahner (Fn. 32), S. 325 f. 37 Zitiert nach Otto Gillens Kommentar zu: Herrad von Landsberg, Hortus deliciarum. Neustadt/ Weinstraße 1979, S. 126. - Vgl. auch Rahner (Fn. 32), S. 314 f. 38 Vgl. Gillen (Fn. 37), S. 127; auch Rahner (Fn. 23), S. 268 f. 39 Vgl. dazu Faral, Edmond: La queue de poisson des sirènes. In: Romania 74 (1953), S. 437 ff. Außerdem die Untersuchung von Henkel, Nikolaus: Studien zum Physiologus im Mittelalter. Tübingen 1976 (Hermaea. Germanistische Forschungen. Neue Folge Bd. 38), passim. 40 Vgl. Wedner (Fn. 21), S. 83 - 85. »daz si totfuorgiu tier sint« 555 Sirenen (übrigens erstmals) vorgestellt werden als Mischung von halb Frau und halb Fisch - eine Variante der herkömmlichen Abbildungskonvention, die zwar in bildlichen Darstellungen der Fabelwesen eine bedeutende Rolle spielte, die jedoch die literarische Tradition erst um die Mitte des 12. Jahrhunderts erreichte, als die nicht minder zwiespältige und absonderliche Gestalt der Meerweiber in Verbindung mit Homers mythologischen Hybrid-Figuren gebracht wurde. 41 Der Physiologus, in dem die Sirenen noch als Frau-Vogel-Kombination entworfen sind, bezieht seine Kenntnisse unmittelbar aus der patristischen Deutungsweise des Mythos, vor allem was die Erwähnung der Sirenen in der oben angeführten Hieronymus- Version der Bibel und die typologische Auslegung der Figuren angeht. Der sogenannte Altdeutsche Physiologus, der wohl im 11./ 12. Jahrhundert entstanden sein dürfte, sagt über die Gestalten, »daz si totfuorgiu tier sint«. 42 Der ausführlichere lateinische Text, der überdies älter ist als die deutsche Physiologus-Tradition, fährt fort: »Es sind Tiere, die einen gewissen musisch und äußerst süß melodischen Gesang singen, so daß sie durch die Lieblichkeit ihrer Stimme dem Gehör der Seeleute, welche lange unterwegs sind, schmeicheln und diese zu sich ziehen und dabei durch eine überaus liebliche Modulation ihre Ohren bezaubern und ihre Sinne fesseln und sie in Schlaf wiegen. Wenn jene Tiere sie aber in tiefem Schlaf sehen, greifen sie sie plötzlich an und zerreißen das Fleisch ihrer Opfer. Und so täuschen sie durch die Verführungskraft ihrer Stimme die unwissenden und unvorsichtigen Menschen und bringen ihnen den Tod. So werden nun jene getäuscht, die sich in Lust und Festesfreude und Theaterbesuch und Wollust vergnügen und wie im tiefen Schlaf die ganze Kraft der Vernunft preisgeben; und plötzlich werden sie zur Beute feindlicher Mächte.« 43 Der Physiologus verwandelt also den lockenden Gesang der Sirenen in ein tödliches »schlimmes Wiegenlied«. 44 Auch das Buch der Natur von Konrad von Megenberg, das im 14. Jahrhundert geschrieben wurde, folgt im wesentlichen dieser Darstellung. Die Sirenen erscheinen hier jedoch als Meerweiber mit süßen Stimmen. Aber auch sie versenken die Seeleute durch unwiderstehliche Gesänge in tiefen Schlaf und zerfleischen sie dann. Konrad läßt keinen Zweifel: »Pei dem tier verstên ich diu untugenthaften weip, diu weiplicher zuht verlaugent habent, diu lockent mangen man ze pôshait«. 45 Eine ähnliche Interpretation des Mythos findet sich auch in dem tiersymbolischen Todsündentraktat Etymachia, der im späten Mittelalter entstand und im 15. Jahrhundert auch ins Deutsche übersetzt wurde. 46 Hier erscheinen die Sirenen als Symbole der Un- 41 Dazu auch den Katalog-Beitrag von Leclercq-Marx, Jacqueline: La christianisation des sirènes. Une récuperation inattendue et riche d’ avenir. In: Sirènes m’ etaient contées (Fn. 13), S. 35 - 39. 42 Maurer, Friedrich (Hrsg.): Der altdeutsche Physiologus. Die Millstätter Reimfassung und die Wiener Prosa (nebst dem lateinischen Text und dem althochdeutschen Physiologus). Tübingen 1967 (Altdeutsche Textbibliothek, Bd. 67), S. 17, Str. 42. 43 Lateinischer Text bei Faral (Fn. 39), S. 438 f.; deutsche Übersetzung nach: Okken, Lambertus: Kommentar zum Tristan-Roman Gottfrieds von Strassburg. 2 Bände. Amsterdam 1984/ 85 (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur, Bd. 57/ 58). Band 1, S. 266. 44 So Okken in seiner gründlichen, materialreichen Darstellung der spätantiken Sirenentradition in: Kommentar zum Tristan (Fn. 43), Band 1, S. 261 - 268 (Zitat S. 266). 45 Konrad von Megenberg: Das Buch der Natur. Die erste Naturgeschichte in deutscher Sprache. Hrsg. Franz Pfeiffer. Stuttgart 1861 (Neudr. Hildesheim, New York 1971), S. 249, Z. 26 ff. 46 Vgl. die Angaben zu diesem »Etymachietraktat« bei Dietrich Schmidtke in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Hrsg. Kurt Ruh. Berlin, New York 2 1980, Bd. 2, Sp. 636 ff. 556 Rüdiger Krohn keuschheit, die, sobald Schiff und Mannschaft versenkt sind, Leib und Seele ihrer Opfer im Sumpf der Verdammnis ertränken. 47 Sogar in einer Schwank-Sammlung, die der franziskanische Autor Johannes Pauli 1522 unter dem Titel Schimpf und Ernst veröffentlichte, wird der Sirenen-Mythos kurz erwähnt: »semliche schmeichler und zudütler [...] sein wie die sürenen in dem mer die den menschen singen sie zuo ertrencken«. 48 Auch hier ist das Grundmuster der geistlichen Sirenen-Exegese unverkennbar. Diese lange, weitverbreitete Tradition, den alten Mythos allegorisch in entschieden theologischer Richtung auszulegen, wurde im 16. Jahrhundert durch Hans Sachs nachdrücklich unterbrochen. 49 In seiner Wiedergabe der Geschichte verzichtet zwar auch er nicht auf eine moralisierende Interpretation der überlieferten Sirenen-Episode, aber er setzt sich dabei von der patristischen Sehweise ab. Der Titel seiner Dichtung Ulisses mit den meerwundern der Syrenen, den leibes-wollust andeutent 50 läßt erkennen, daß seine Version gleichwohl eng mit der alten Tradition des Mythos verknüpft ist. Der auf 1557 datierte Text folgt weitgehend der deutschen Übersetzung von Homers Epos durch den Münchner Meistersinger und Stadtschreiber Simon Schaidenreisser, die nun aber nicht vom griechischen Original, sondern von einer lateinischen Version ausgeht und 1537 erschien. 51 Bereits Schaidenreissers Fassung, obgleich »nit vnlustig zulesen« 52 , hatte einen starken pädagogischen Akzent. Für ihn, der ganz in der Tradition der allegorischen Textauslegung steht, ist seine Odyssea, wie er in der »Vorred« betont, »ain lob der tugent und ain klarer rechter spiegel menschliches lebens«. 53 Er hebt hervor, daß Homer und seine Schriften ein Quell der Weisheit und der Kunst für die nachfolgenden antiken Autoren gewesen sei und daß wegen des »enzyklopädischen Charakters der Homerischen Dichtung« 54 alle Episoden der Odyssee in metaphorischem Sinne verstanden werden können und müssen. So wird denn also Homers Epos von Schaidenreisser (und nicht minder von Hans Sachs) auf eher schlichte Weise für die Bedürfnisse eines spätmittelalterlichen Stadtpublikums zubereitet. Die Sirenen-Geschichte liefert ein anschauliches Beispiel für den wackeren Biedersinn, mit dem der alte Mythos der hausgemachten Philosophie der Epoche anverwandelt wird. Obwohl Hans Sachs gewiß die theologisch-allegorische Interpretation der Odyssee und auch die Bedeutung kannte, die den Sirenen in diesem Werk von den geistlichen Exegeten beigelegt worden war, verzichtet er darauf, sie als christliche Symbole zu deuten. Die moralische Botschaft, die er der Geschichte abgewinnt, ist entschieden handfester: Die Seeleute, die in seiner Version dem Gesang der Sirenen lauschen, fallen dadurch nicht 47 Dazu Schmidtke, Dietrich: Geistliche Tierinterpretationen in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters (1100 - 1500). Berlin 1968 (Diss. FU), S. 108 ff. 48 Pauli, Johannes: Schimpf und Ernst. Hrsg. Hermann Österley. Stuttgart 1866 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart, Bd. 65; Neudr. Amsterdam 1967), S. 232. 49 Vgl. zu den folgenden Ausführungen Krohn, Rüdiger: Mythos und Moral. Hans Sachs und der Gesang der Sirenen. In: Hans Sachs. Geburtstagsfeier für einen Fünfhundertjährigen. Hrsg. Elke Mehnert. Zwickau 1995, S. 24 - 30. - Außerdem auch schon Rachewiltz (Fn. 19), S. 222 ff. 50 Hans Sachs: Werke. Hrsg. Adelbert von Keller. Bd. 7. Stuttgart 1873 (Neudr. Hildesheim 1964), S. 410 ff. Im folgenden mit Seitenzahl und Zeilenangabe zitiert. 51 Vgl. Bleicher, Thomas: Homer in der deutschen Literatur (1450 - 1740). Zur Rezeption der Antike und zur Poetologie der Neuzeit. Stuttgart 1972 (Germanistische Abhandlungen, Bd. 39), S. 108. 52 So heißt es im Untertitel des Erstdrucks; vgl. Bleicher (Fn. 51) S. 243 Anm. 5. 53 Bleicher (Fn. 51) S. 108. 54 Bleicher (Fn. 51) S. 108. »daz si totfuorgiu tier sint« 557 etwa in religiöse Sünde, sondern »sie dardurch vergessen sind / All irer freund, weib unde kind,/ Nicht mehr heim zu kommen gedencken«, weil nämlich die Fabelwesen »Erweichten in mit gsanges schertz / Ir vernunfft, sinn, gemüt und hertz« (410, 23 ff.). Solche Entfremdung von der eigenen sozialen Gruppe, die die Funktionstüchtigkeit des gesellschaftlichen Miteinanders bedroht, ist aus der Sicht des Autors mithin ein Symptom für die fahrlässige Beschädigung aller intellektuellen wie emotionalen Kräfte, und dieser Defekt wird von Sachs wie selbstverständlich in das Bild der angegriffenen Gesundheit gekleidet: »So hat der wollust uns gefressen, Uns abzogen in unser jugent Alle gut sitten, zucht und tugent, Gesundheit, sterck, krefft, ehr und gut, Bringt uns schand, schaden und armut, Kranckheit und dergleich böse stück, In summa alles ungelück« (413, 17 ff.). Die durch Unsittlichkeit herbeigeführte Denaturierung des Volkskörpers als Ursache allen Übels - das ist nun freilich bis in die Gegenwart hinein ein überaus populäres, wenngleich nicht unbedenkliches Denkmuster volkspädagogisch getrimmter Tugendwächter. Scheinbar mühelos schlägt Sachs den Bogen vom Mythos zur Moral. Die Fahrten des Odysseus werden ihm unter Berufung auf den »hoch poet Homerus« (412, 29 f.) zu einer pragmatischen Unterweisung in Sachen wohlanständiger Lebensführung: »So wir in dieseme jammer-mehr Umbfaren unsers lebens zeyt Durch mancherley gefehrligkeyt, Yrrig und elend allen enden, Eh wir an sichren port zulenden In unsrem rechten vatterlandt, So sollen wir auch sein vermant Und uns auch trewlich lassen warnen Vor den schmeichlen, betrigling garnen Der süß singenden Syrenes.« (412, 33 ff.) Tatsächlich wird in dem 176 Zeilen langen Text nur etwa die Hälfte auf die Erzählung der Homerischen Sirenen-Episode, der Rest dagegen auf deren didaktische Ausdeutung und absichtsvolle Kommentierung verwandt. Im Mittelpunkt der Nutzanwendung steht nun nicht mehr das gefährdete Seelenheil der Menschen, sondern ihre sittliche Aufrüstung für die Bewährung im Diesseits, denn nach Sachsens Meinung »verderben lant und leut/ An leib und gut, tugend und ehren./ Das thut der wollust als verzeren« (414, 20 ff.). Der Verlust von Tugend und Ehre ist für Sachs nicht bloß die Aufgabe abstrakter Werte, sondern ein verwerflicher Anschlag auf die Leitkategorie des »Gemeinen Nutzens«, die im stadtbürgerlichen Bewußtsein seines Publikums eine dominierende Rolle spielte. Solche Umlesung mythischer Motive zum Zwecke ihrer Aktualisierung für die jeweiligen Rezipienten ist bei Sachs nicht eben selten anzutreffen, und der damit verbundene Prozeß der (von Hegel so genannten) »Vernürnbergerung« machte bisweilen auch vor grotesken Verbiegungen der überlieferten Stoffe und Motive nicht Halt. Vor allem die Art, in der Sachs die Bedeutung des allegorischen Schiffsmastes erklärt, an den Odys- 558 Rüdiger Krohn seus sich fesseln läßt, ist bezeichnend für den neuen, pragmatischen Geist, der die bürgerliche Sicht auf den alten Mythos bestimmt: Nicht etwa ist da, wie in den theologischen Auslegungen, vom Kreuz Christi die Rede, sondern es ist der »segelpaum der messigkeyt« (413, 36), der den Helden davor bewahrt, von der Versuchung durch »schnöde wollust« überwältigt zu werden (414, 30). Ein beispielhafter Held ist Odysseus auch hier; ein Muster bürgerlicher Wohlanständigkeit und Selbstzucht; ein Inbegriff hochmoralischer Affektregelung, der »Sich aller wollust messig prauch Und sich im zaum wol halte auch, Das er alle umbstend thu fliehen, Die in zu wollust wollen ziehen Durch der anreitzung mancherley.« (413, 38 ff.) Ganz in diesem Sinne beschließt der Autor sein Werk mit einem hoffnungsvollen Epimythion: »Das messigkeyt wider auffwachs / Sampt allen tugenden, wünscht Hans Sachs« (414, 31 f.). Mit dieser moralischen Nutzanwendung des Mythos verlassen wir die allegorisch ausgerichtete und im wesentlichen geistlich geprägte Deutungstradition der Sirenen, die ganz auf theologische oder didaktische Absichten zielte. Beliebter und verbreiteter war im Mittelalter die Behandlung der ambivalenten Figuren mit dem exegetisch unbelasteten Blick auf deren gefährliche Schönheit und verhängnisvolle Wirkung auf ahnungslose Männer. In seinem bereits erwähnten Vergil-Kommentar erklärt Servius, daß die Sirenen, die er übrigens meretrices (Dirnen) nennt, Mädchen-Vogel-Mischgestalten waren, und zwar, anders als bei Homer, drei an der Zahl. Die erste von ihnen sang, die zweite spielte Flöte und die dritte die Leier. Mit ihrer Musik lockten sie vorbeifahrende Seeleute vom richtigen Kurs fort, um sie zu vernichten. 55 Diese Lesart des Mythos wurde im 7. Jahrhundert von Isidor von Sevilla in dessen Etymologiae übernommen, wo der gelehrte Verfasser nun ebenfalls die Instrumente der Hybrid-Wesen nennt und überdies auf den Bordell-Hintergrund der drei Dämonen hinweist. 56 Weil Isidors Werk im Mittelalter außerordentlich berühmt und wirkmächtig war, erfuhr diese Vorstellung vom Wesen der Sirenen große Verbreitung. Die Gesta Romanorum etwa, die sich auf Ovid berufen, schildern die Figuren auf dieselbe Weise, auch wenn die Zuweisung der Musikinstrumente ein wenig abweicht. Der unbekannte Kompilator, der diese Sammlung von lateinischen Novellen um 1400 anlegte, fügte der Beschreibung keinerlei Allegorese bei und beschränkte sich auf die Wiedergabe der bloßen Fabel. 57 Im späten 15. Jahrhundert jedoch erschien eine deutsche Übersetzung der außerordentlich beliebten und verbreiteten Gesta, und hier finden wir nun tatsächlich das ganze Repertoire der geläufigen geistlichen Interpretationen über den Mythos: Die Sirenen verkörpern die frevelhaften Freuden, die die Menschheit in den Schlaf der Sünde fallen lassen: Geiz, Hochmut und, versteht sich, Unkeuschheit. Der Mast des Schiffes ist natürlich Christi Kreuz, und nur mit der Hilfe des 55 Vgl. den lateinischen Text bei Faral (Fn. 39), S. 440. 56 Textstelle bei Faral (Fn. 39), S. 440; zu Isidors Sirenen-Darstellung und ihrer Wirkung vgl. Wedner (Fn. 21), S. 116 - 119. 57 Vgl. Dick, Wilhelm (Hrsg.): Die Gesta Romanorum nach der Innsbrucker Handschrift vom Jahre 1342 und vier Münchner Handschriften. Erlangen, Leipzig 1890, S. 79. »daz si totfuorgiu tier sint« 559 Heiligen Geistes kann der gottesfürchtige Gläubige der Versuchung durch die Sirenen widerstehen und das rettende Ufer des ewigen Lebens erreichen. 58 Moralisierende Neigungen werden indessen immer weniger typisch, wenn es um die Darstellung der Sirenen in mittelalterlicher Literatur 59 geht - vor allem in Texten weltlichen Inhalts. Hier liegt das Augenmerk häufig nur auf dem bezaubernd schönen Gesang der mythischen Wesen - so wie etwa im Tristan Gottfrieds von Straßburg. 60 Als der Dichter den hinreißenden Gesang der jungen Isolde und dessen Wirkung auf die Zuhörer schildert, greift er auf der Suche nach einem würdigen Vergleich zum traditionellen, wenngleich nicht ganz unbelasteten Inbegriff musikalischer Vollkommenheit: »Wem mag ich sî gelîchen die schoenen, saelderîchen wan den Syrênen eine, die mit dem agetsteine die kiele ziehent ze sich? als zôh Isôt, sô dunket mich, vil herzen und gedanken în, die doch vil sicher wânden sîn von senedem ungemache.« (I, 8085 - 8093) Kein Zweifel, die Ineinssetzung von Isolde mit den Fabelwesen ist im Sinne äußersten Lobes gemeint. Auch die Verbindung der Sirenen mit dem Magnetberg, die übrigens der Antike noch nicht bekannt war und erst im 12. Jahrhundert (wohl im Zusammenhang mit der Sage vom Herzog Ernst) aufkam, 61 wirft keinen Schatten auf Isoldes hohe Kunstfertigkeit, und Gottfried wiederholt nur wenig später dasselbe Bild, um die außerordentliche Begabung des Mädchens zu unterstreichen: »diu gevüege Isôt, diu wîse diu junge süeze künegîn alsô zôch sî gedanken în ûz maneges herzen arken, als der agetstein die barken mit der Syrênen sange tuot.« (I, 8106 - 8111) Nicht die Sirenen, so sieht es in dieser entlastenden Darstellung durch Gottfried aus, sind es, die die Schiffer vom Kurs abziehen, sondern der Magnetberg tut es - wenngleich mit dem betörenden Gesang der Zauberwesen. Im Tristan, so scheint es, sind die Sirenen vom üblen Ruf mörderischer Monster und teuflischer Symbole befreit. Sie werden als gute 58 Keller, Adelbert (Hrsg.): Gesta Romanorum. Das ist der Roemer Tat. Quedlinburg, Leipzig 1841 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur, Bd. 23), S. 146 f. 59 Eine Zusammenstellung einschlägiger Belege bei Bartsch, Karl: Albrecht von Halberstadt und Ovid im Mittelalter. Quedlinburg, Leipzig 1861 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur, Bd. 38; Neudr. Amsterdam 1965), S. LXXV ff. und CCLIII. 60 Gottfried von Straßburg: Tristan. Nach dem Text von Friedrich Ranke neu hrsg., ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn. 3 Bde. Stuttgart 1980 u.ö. (Reclam Universal-Bibliothek, Bd. 4471 - 73). Im folgenden zitiert mit Band- und Verszahl. 61 Vgl. Tristan und Isolde von Gottfried von Straßburg. Neu bearbeitet von Wilhelm Hertz. Stuttgart; Berlin 1907, S. 523 f.; sowie die ausführlichen Hinweise bei Okken (Fn. 43), Bd. 1, S. 365 ff. 560 Rüdiger Krohn Geister der Musik vorgestellt - nicht unähnlich den Musen. Und tatsächlich werden sie an anderer, früherer Stelle des Werkes, im Literaturexkurs, der sich sehr stark auch antiker Vorstellungen bedient, in unmittelbarem Zusammenhang mit den Musen selbst genannt: Da beschwört Gottfried in einem Musenanruf zur Stärkung seiner poetischen Kraft »Apolle und die Camênen, / der ôren niun Sirênen« (I, 4871 f.). Die Kamönen waren nach mittelalterlicher Vorstellung gleichbedeutend mit den Musen, die von Apoll angeführt wurden, und seit Platon, auf den diese Stelle sich augenscheinlich stützt, galten die Sirenen, wie oben gesagt, sogar als himmlische Wesen, die mit der Harmonie und Musik der Sphären betraut waren. Solchermaßen als makellose Idealgestalten künstlerischer Vollkommenheit eingeführt und von ihrer dämonischen Vergangenheit nachhaltig gereinigt, konnten die Sirenen in Gottfrieds Roman, wenn sie denn als Vergleich herangezogen wurden, das musische Talent der jungen Isolde nur mit den allerhöchsten Weihen ausstatten. Nur diese göttlichen Sirenen taugten auch, in einem umfangreichen »Marienpreis« des späten 13. Jahrhunderts, der (allerdings fälschlich) ebenfalls Gottfried zugeschrieben wurde, den Maßstab zu liefern für die »süeze« der Gottesmutter: »Sirênen sanc nie wart sô rehte süeze. dû gâst dur ôren, ougen in ze herzen und ze sinne.« 62 Andererseits aber wird das Verhältnis zwischen Maria und den Sirenen in einem etwa gleichzeitigen Marienlob, der sogenannten Goldenen Schmiede Konrads von Würzburg, ganz anders definiert. Hier nämlich erscheint die Jungfrau Maria als Retterin der bedrohten Seelen, die auf dem Meer des Lebens höllischen Mächten zum Opfer zu fallen drohen: »du bist ein lieht daz iemer lebet, und im ze saelden ie erschein swenn ez der sünden agetstein an sich mit sinen creften nam. swaz diu syrene trügesam versenken wil der schiffe mit süezer doene griffe, diu leitest, froue, du ze stade.« 63 Aber selbst wenn die berüchtigten, gefährlichen Zauberkräfte, die sich mit dem traditionellen Sirenen-Mythos verbinden, in einem Text erwähnt werden, um etwa die Schönheit einer Frau zu betonen, muß dieser Hinweis dem Lob der Dame nicht notwendigerweise abträglich sein. Auch hier zitiere ich ein Werk Konrads von Würzburg aus dem 13. Jahrhundert. In seinem Engelhart-Roman läßt er den Titelhelden dessen Herzensdame so beschreiben: »si tuot als diu Sirêne der stimme ist alsô schoene 62 Wolff, Ludwig: Der Gottfried von Straßburg zugeschriebene Marienpreis und Lobgesang auf Christus. Untersuchungen und Text. Jena 1924 (Jenaer Germanistische Forschungen, Bd. 4), S. 91, Str. 22, V. 7 - 10. 63 Schröder, Edward (Hrsg.): Die Goldene Schmiede des Konrad von Würzburg. Göttingen 2 1969, V. 144 - 151. »daz si totfuorgiu tier sint« 561 daz si mit ir gedaene an sich die kiele ziuhet und si dan under diuhet mit liute und mit getreide. der wilden meremeide [! ] mîn frouwe sich gelîchet wol. ir rede süezekeite vol und ir schoener worte grif hât under mînes herzen schif gezogen und gesenket. In leides wâge ertrenket hât si gar die sinne mîn.« 64 Hier wird unter Verwendung einer durchaus ähnlichen Begrifflichkeit ein ganz anderes Bild der Sirenen entworfen als in Konrads Goldener Schmiede , und doch dient der Vergleich mit den mythischen Meerweibern hier nicht etwa zur dämonisierenden Abwertung der frouwe, sondern eher zur Verstärkung des erotischen Zaubers, den sie auf ihren Verehrer ausübt. Ganz besonderen Reiz scheint für die mittelalterlichen Autoren die superbe Kunstfertigkeit der Fabelwesen gehabt zu haben. Diese Faszination hat die Dichter, denen nach dem Kunstverständnis ihrer Zeit die formale, handwerkliche Qualität von Kunstwerken allemal näher am Herzen lag als deren Inhalt, wohl auch geneigt gemacht, den abschrekkenden Hintergrund des Mythos und dessen negatives Sinnpotential weitgehend außer acht zu lassen. 65 Häufig jedenfalls werden die Sirenen lediglich als Inbegriff perfekter Sangeskunst zitiert - und auf diese Weise mit den Nachtigallen gleichgesetzt. In einem Schwanktext des 13. Jahrhunderts mit dem Titel Der Schüler zu Paris erscheinen sogar beide sagenhaften Koryphäen exquisiten Singens in unmittelbarer Nachbarschaft, ja Konkurrenz: »Möht’ mir ein teil gelingen, daz ich nû künde singen In der nahtigalen tôn die mit irem gesange schôn Bruetent ûz die jungen, sô würde von mir gesungen, Daz nie Sirên sô suoze sank.« 66 Der Kontext macht deutlich, welchem Zweck diese wundersame Sangeskunst dienen sollte: Sie soll den toten Geliebten zu neuem Leben erwecken. Da nun kommt ein anderer antiker Mythos in den Blick, der zwar ungenannt bleibt, dem mittelalterlichen Publikum indessen wohl vertraut war: Orpheus. 67 Ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen dem mythischen Sänger und den Sirenen wird freilich schon in der Antike greifbar: So beschreibt der griechische Dichter Apollonius von Rhodos bereits im 3. vorchristlichen Jahrhundert in seinem Argonauten-Epos eine (unverkennbar durch Homers Schilderung 64 Reiffenstein, Ingo (Hrsg.): Konrad von Würzburg, Engelhard. Tübingen 3 1982, S. 87 f., V. 2216 - 2227. 65 Vgl. dazu den bis in die Gegenwart reichenden Überblick von Salmen (Fn. 15), S. 393 - 400. 66 von der Hagen, Friedrich Heinrich (Hrsg.): Gesamtabenteuer. Hundert altdeutsche Erzählungen. Stuttgart, Tübingen 1850 (Neudr. Darmstadt 1961)., Bd. I, S. 301, V. 749 - 755. 562 Rüdiger Krohn inspirierte) Begegnung mit den Sirenen 68 und läßt ausgerechnet Orpheus deren zauberischen Lockgesang übertönen: »Teils als Vögel geformt und teils auch wieder als Jungfrauen. Immer spähten sie dort am Landungsplatz von hoher Warte und hatten schon vielen die süße Heimkehr genommen Und sie verzehrt und vernichtet, und schon erklang auch den Helden Frisch aus den Kehlen heraus ihr helles Singen. Die Männer Wollten bereits vom Schiff die Taue werfen ans Ufer, Hätte da nicht der Sohn des Oiagros, der Thrakier Orpheus, mit den Händen gar schnell gespannt die Bistonische Leier Und den munteren Lauf eines fröhlichen Liedes begonnen, Daß ihnen allen die Ohren von brausendem Spiele erdröhnten, Und die Leier dadurch den Sang der Jungfraun besiegte.« 69 Aber auch innerhalb des höfischen Wertesystems, das für die Dichter des Mittelalters verbindlich war, behaupteten die Sirenen einen exemplarischen Rang. Wiederum ist es ein relativ später Märentext, der hierfür den Beleg liefert. In dem Schwank Ehefrau und Buhlerin von Hermann Fressant, den wir ins 14. Jahrhundert datieren, definiert der Autor einen idealen Liebhaber: Der nämlich ist - zumindest nach Ansicht der anspruchsvollen Damen - so verständig wie der höfische Kurvenal, so schön wie Parzival, so tugendhaft wie Gawan, so tapfer wie Gahmuret - und er kann noch besser singen als die Sirenen. 70 Im Kreise arthurischer Musterhelden werden die mythischen Zwitterwesen ihrerseits auch zu paradigmatischen Figuren einer aristokratisch akzentuierten Idealität. Bisweilen aber schlägt bei den Sirenen doch die frauenfeindliche Tendenz der patristischen Auslegungstradition wieder durch, und es zeigen sich Reste jener Darstellung, die den Figuren eine unbekömmliche Nähe zur Prostitution nachsagte. Gerade dieser Wesenszug war immer besonders gut geeignet, um die Gefährdung hervorzuheben, die den Männern und ihrer Tugend von den Sirenen (und damit eigentlich von den Frauen insgesamt) drohte. Und da die männlichen Autoren in aller Regel zu der Ansicht neigten, daß die Charakterstärke eines wahrhaft tugendhaften Mannes allenfalls durch Hexerei und übernatürliche Kräfte überwunden werden könne, wurde insbesondere das Element der erotischen oder gar sexuellen Versuchung mit Vorliebe in allerlei Fabelwesen verkörpert - etwa den Sirenen als ewigen Verführerinnen. Diese Zuschreibungskonvention, die den mythischen Zaubersängerinnen einen fragwürdigen Beigeschmack von Sittenlosigkeit und üblem Wesen beigab, wirkt beispielsweise in einem lateinischen Lied der Carmina burana nach, in dem der vagantische Dichter einen Besuch im »Venustempel« schildert. Schon von außen klingt ihm »dulcis cantilene« entgegen: »estimabant plurimi«, so 67 Über das Orpheus-Motiv im Mittelalter vgl. den allgemeinen Überblick bei Engemann, Josef in: Lexikon des Mittelalters. Bd. VI. München, Zürich 1993, Sp. 1476 ff.; außerdem Heitmann, Klaus: Orpheus im Mittelalter, in: Archiv für Kulturgeschichte 45 (1963), S. 253 - 294. - Unergiebig unter dem Aspekt der mittelalterlichen Orpheus-Rezeption ist die Anthologie von Storch, Wolfgang: (Hrsg.): Mythos Orpheus. Texte von Vergil bis Ingeborg Bachmann. Leipzig 1997 (Reclam Universal-Bibliothek, Bd. 1590). 68 Dazu vgl. auch Hofstetter (Fn. 20), S. 15 f. 69 Apollonios Rhodios: Die Argonauten. Verdeutscht von Thassilo von Scheffer. Wiesbaden 1947 (Sammlung Dieterich, Bd. 90). Vierter Gesang, S. 177 f., V. 899 - 909. 70 Gesamtabenteuer (Fn. 66), Bd. II, S. 234 f., V. 584 - 595. »daz si totfuorgiu tier sint« 563 geht es reimend weiter, »quod hic essent Sirene«. 71 Da der »templum Veneris« in diesen Strophen bewußt doppeldeutig verwendet und durchaus auch im Sinne von »Freudenhaus« zu verstehen ist, erhalten die Sirenen eine absichtsvoll ambivalente Kontur, die übrigens auch in einem anderen, moralisch-satirischen Gedicht der Carmina burana (Nr. 41), dessen Autor Walter von Châtillon ist und das wiederum völlig in der Tradition der geistlichen Interpretation steht, ausdrücklich hervorgehoben wird: Da ist im Blick auf die Sirenen, die die ganze Welt mit Schiffbruch bedrohen, von ihrem gefährlichen Zwitterwesen die Rede: »Äußerlich zeigen sie Menschengestalt, doch im unzugänglichen Innern verborgen lauert der häßliche Dämon.« 72 Ich breche meinen Überblick hier ab. Es ging mir in meinen Ausführungen um die Sichtung des komplexen Aneignungsprozesses, bei dem die Sirenen auf ihrem Weg in und durch die geistliche und weltliche Literatur des Mittelalters 73 einem ständigen Wandel in Bedeutung und Bewertung ausgesetzt waren. Dieser Vorgang, der dem Wechselspiel von antiker Tradition und christlicher Anverwandlung immer neue Aspekte und Facetten abgewann und den Sirenen so viele und so unterschiedliche Wesenszüge attribuierte, beweist nicht nur die bemerkenswerte Vielseitigkeit und Anpassungsfähigkeit der mythischen Fabelwesen, 74 sondern auch die außerordentliche Überlebenskraft des klassisch-antiken Erbes. Obschon die Kirchenväter und Theologen den ursprünglichen Sinn und die spezifische Aussage des altheidnischen Mythos grundlegend geändert haben, konnten sie doch dessen archaische Kraft und tieferen Gehalt nicht auslöschen. Diese Persistenz, so scheint es, ist nicht etwa das Ergebnis einer besonders umsichtigen »Elastizität«, wie wir sie eingangs bei der frühmittelalterlichen Missionsarbeit festgestellt haben, sondern wohl eher die Folge einer über allen kulturellen Wandel triumphierenden Gültigkeit, die dem Mythos der Sirenen selbst in ständig wechselnden Gewandungen den Kern bewahrte. 71 Carmina Burana. Texte und Übersetzungen. Hrsg. Benedikt Konrad Vollmann. Frankfurt/ Main 1987 (Bibliothek des Mittelalters, Bd. 13), S. 256, Nr. 76, Str. 2. 72 Carmina Burana (Fn. 71), S. 103, Str. 6. 73 Eine Aufstellung von ausgewählten Belegen zur mittelalterlichen Sirenen-Tradition gibt Henkel (Fn. 39), S. 173 - 175. Weitere Materialien bei Lecouteux, Claude: Les Monstres dans la Littérature Allemande du Moyen Age. Göppingen 1982 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik, Bd. 330 I-III), Register und vor allem Band II (Dictionnaire), S. 160 - 163. 74 Vgl. die lakonische Feststellung von Wehrli, Max: Literatur im deutschen Mittelalter. Eine poetologische Einführung. Stuttgart 1984, S. 264: »Die antiken und mittelalterlichen Vorstellungen von den Sirenen sind vielfältig.« Dieser Vielfalt wollte der vorliegende Beitrag nachgehen, ohne sie doch vollständig erfassen zu können. Eine Werwolf-Formel Eine kleine Kulturgeschichte des Werwolfs Keith Roberts (St. Louis) Werwolf-Chronik Wohl kaum ein Ungeheuer hat so unausrottbar seit Urzeiten sein Unwesen in den phantastischen Gefilden der Literatur getrieben wie der Werwolf. Wir haben es bei diesem dämonischen Ungeheuer mit einem Mythos zu tun, der durch das Mittelalter in eine Gestalt gebracht wird, die in Früher Neuzeit und Moderne mit unverminderter Lebenskraft durch Literatur und Kunst streift. Vom Gilgamesch-Epos bis zum Film American Werewolf und diversen Comics: der Werwolf zählt seit jeher zum Standardrepertoir des Gruselpersonals sowohl fiktionaler als auch nichtfiktionaler Literatur. In der Erzähltradition verkörpert der Werwolf Blutdurst und Rache, löst Schrecken und Mitgefühl, gelegentlich auch Lachen aus. Sachliteratur debattiert ausführlich die Frage, wann und wie ein Mensch denn ein Werwolf werden könne. Die Antike kannte beide Genres; in Mittelalter und Früher Neuzeite herrschte jeweils das eine oder andere vor. Von ca. 1100 bis 1450 war die Fiktion beliebt, von etwa 1450 bis 1700 stand die sachliche Behandlung des Themas im Vordergrund. Und von 1700 bis heute war es wiederum der fiktive Werwolf, der sich der größeren Beliebtheit erfreute. In diesem Beitrag beabsichtige ich, die abwechslungsreiche Geschichte und die Entwicklung der Werwolf-Mythologie in der Literatur (in ihrem weit gefaßten Sinne) zu betrachten. Antike Historien und Mythologien spiegelten Werwolf-Glauben wider und beinhalteten Werwolf-Geschichten, gewöhnlich mit einem persönlichen Kommentar des Autors versehen. Herodot ist einer der ersten uns bekannten Autoren, die dies taten. Er beschrieb eine osteuropäische Volksgruppe, die Neuri, die sich laut dem Zeugnis ihrer Nachbarn, der Scythianer, einmal jährlich allesamt in Werwölfe verwandelten. Herodot schrieb allerdings: »Ich persönlich glaube diese Geschichte nicht, aber sie versichern es dennoch und schwören, es sei die Wahrheit.« 1 Plinius der Ältere schrieb ebenfalls über Werwölfe in seiner Naturalis Historia (VIII, xxxiv). Er berichtet von den Anthus, ein Volk in Arkadien, das einen unter sich ausloste, der seine Kleider ablegen, sie an einen Baum hängen und dann einen See durchschwimmen mußte, worauf er sich in einen Wolf verwandelte. Wenn dieser Wolf die nächsten neun Jahre im Wald überleben konnte, ohne menschliches Fleisch zu sich zu nehmen, war es ihm erlaubt, zurückzukehren und - um neun Jahre gealtert - wieder menschliche Gestalt anzunehmen. Plinius übernimmt eine ähnliche Geschichte von Apollas, dem Verfasser der Olympischen Sieger: ein Athlet, Daemenetus, kostet von einem für Jupiter bestimmten Menschenopfer und verwandelt sich in einen Wolf. Nachdem er zehn Jahre in Tiergestalt verbracht hatte, wurde er wieder zum Menschen und gewann den Boxwettkampf bei den olympischen Spielen. Doch Plinius selber ist sehr skeptisch in bezug auf den Realitätsgehalt und sagt von diesen Ge- 1 Cf. Herodot, The History : Herodotus, 4. Buch, Übers. David Grene (Chicago, 1987), S. 319. 566 Keith Roberts schichten: »Mit allem Nachdruck verurteilen wir die Geschichten von Menschen, die in Wölfe verwandelt werden und dann zu ihrer ursprünglichen Gestalt zurückkehren, als unwahr.« 2 Von weiteren Autoren, die sich mit dem Thema befaßten, sind die Werke verloren. Plinius’ Quellen waren beispielsweise Evanthes und Apollas, und ein anderer uns bekannter Autor, der diese beiden Geschichten aufnimmt, ist Varro, Augustinus’ Vorlage. 3 Eine der bekanntesten Werwolf-Geschichten der Antike ist wohl die des Lykaon, der häufig als der erste Werwolf bezeichnet wird. Zahlreiche Versionen des Stoffes sind erhalten: beispielsweise von Apollodorus, der die Geschichte im zweiten Jahrhundert vor Christus erzählte, von Ovid (ca. 17 n. Chr.), Pausanius (170 n. Chr.) und von weniger namhaften Autoren wie Hyginus, Nicolaus Damascenus und Lycophron. All diese Fassungen variieren in verschiedenen Details, doch die Grundfabel ist immer dieselbe. Ovid überliefert sie so: Jupiter wollte Lykaon aufsuchen, um festzustellen, ob die Geschichten, die er über die Schlechtigkeit der Sterblichen gehört hatte, der Wahrheit entsprachen. Er ging nach Arkadien und gab sich dessen Herrscher als Gott zu erkennen. Doch Lykaon wollte seinen Gast auf die Probe stellen. Er tötete einen Kriegsgefangenen, kochte ihn und setzte ihn dem Gott zum Essen vor. Im Zorn zerstörte Jupiter Lykaons Haus und verwandelte ihn in einen Wolf. In anderen Fassungen ist es Lykaons Sohn, der den Mord begeht, oder aber Zeus tötet Lykaon statt ihn zu verwandeln. Meistens wird diese Geschichte zu den religiösen Vorstellungen und Bräuchen der Griechen in Bezug gesetzt. Pausanius stellt sie beispielsweise als authentisches Ereignis der arkadischen Geschichte dar 4 . Andere Autoren der Antike vermeiden Anspielungen auf Historizität für ihre fiktionalen Werwolf-Darstellungen. Eine der wohl bekanntesten Geschichten dieses Typus findet sich in Petronius’ Satyricon (1. Jh. n. Chr.). Niceron erzählt sie während Trimalchios’ berühmten Banketts. Eines Nachts, so berichtet Niceros, hatte er Gelegenheit, seine Geliebte zu später Stunde zu besuchen. Er überredete einen der Gäste des Hauses, einen Soldaten, ihn auf dem Weg zu begleiten. Irgendwann hielten sie unterwegs in der Nähe einiger Grabsteine an. Für einen Moment wurde Niceros abgelenkt, und als er den Soldaten wieder ansah, hatte dieser sich all seiner Kleider entledigt und urinierte in einem Kreis um sie herum. Unmittelbar darauf verwandelte er sich in einen Wolf und lief davon. Von Schrecken erfüllt, untersuchte Niceros die zurückgelassene Kleidung und entdeckte, daß sie zu Stein geworden war. Daraufhin zog er sein Schwert und setzte den Weg zum Haus seiner Geliebten fort. Bei seiner Ankunft stellte er fest, daß der Wolf ihm zuvorgekommen war und die Schafherde angegriffen hatte. Glücklicherweise war es einem der Hirten gelungen, ihn zu vertreiben, nachdem er ihn in den Hals gestochen hatte. Gleich am nächsten Morgen machte Niceros sich auf den Rückweg und fand, daß die Kleider des Soldaten nicht mehr am Wegesrand lagen. Statt dessen war dort eine Blutlache. Bei seiner Heimkehr traf er den Soldaten an, der von einem Arzt wegen einer Halswunde behandelt 2 Cf. Plinius, Natural History, VIII: 34, Übers. H. Rackham, Hg. T. E. Page et. al., Bd. 3 (Cambridge, 1956), S. 59 - 61. 3 Cf. Montague Summers, The Werewolf (New Hyde Park, 1966), S. 140. 4 Pausanias, Guide to Greece, VIII.3 - 5, Bd. 2, Übers. Peter Levi (Harmondsworth, Middlesex, 1971), S. 372. Eine Werwolf-Formel 567 wurde. Da sei ihm aufgegangen, daß jener ein »versipellem«, wörtlich ein »Haut-Verkehrer«, ein Werwolf also, sei: »... und ich konnte mich danach nie wieder zum Essen mit ihm an einen Tisch setzen, und wäre es um mein Leben gegangen.« 5 Eine weitere Werwolf-Fiktion dieser Zeit findet sich in Virgils achter Ekloge. Doch anders als bei Ovid oder Petronius, steht der Werwolf hier nicht im Handlungsmittelpunkt: Alphesiboeus wendet einen Zauber an, um ihren Geliebten herbeizurufen. Sie benutzt Kräuter, die sie von einer/ einem gewissen Moeris bekommen hatte, welche(r) »nach ihrem Genuß zum Wolf wurde und den Wald durchstreifte oder Geister aus ihren Gräbern rief oder das Korn aus dem Felde fortzaubern konnte, so daß es das eines Fremden füllte.« 6 Die nächste Werwolf-Geschichte finden wir erst etwa im 12. Jahrhundert, und auch nichtfiktionale Werwolfliteratur ist bis dahin vergleichsweise selten. Doch das wenige Material, das vorliegt, ist der Beginn einer Debatte über die Realität des Werwolfs, die sich bis ins 18. Jahrhundert erstrecken sollte. In der Antike wiederholten die Autoren lediglich, was ihnen über Werwölfe bekannt war, ohne den Wahrscheinlichkeitsgehalt des Berichteten wirklich zu erörtern. Sie teilten bestenfalls mit, ob sie selbst es glaubten oder nicht. Im Christentum allerdings mußte der Werwolf dann unter dem Aspekt seiner schöpfungsgeschichtlichen Realität diskutiert werden. Augustinus eröffnete die Debatte mit dem zwischen 413 und 426 entstandenen Werk De Civitate Dei (XVIII, 17 - 18). Er legt sich nicht fest, ob die ihm bekannten Werwolf-Geschichten wahr sein können, denn schließlich »kann der allmächtige Gott alles tun, was ihm gefällt«, doch widerspricht er kategorisch der Vorstellung, der Teufel oder einer seiner Diener könne eine tatsächliche Verwandlung von Mensch zu Wolf bewirken. Vielmehr sei es so, daß der Mensch, der sich für einen Werwolf halte, in Schlaf gefallen sei und träume, als plündernder Wolf umherzuziehen. Der Werwolf-Traum schaffe jedoch ein Phantom, das für andere Menschen sichtbar sei, und wenn tatsächlich zu beobachten sei, daß dieses Phantom irgendwelche Handlungen ausführe, so sei dies das Werk eines Dämons, der diesen Anschein erwecke, um die Menschen zu täuschen - den Werwolf eingeschlossen. 7 Augustinus’ Argumentation wurde fast umgehend als allgemeingültige Kirchendoktrin akzeptiert und bestimmte die Vorstellungen von Werwölfen in den Kreisen der Gebildeten für rund 1000 Jahre. Doch es gab auch Gegenstimmen. Eine Reihe von Naturphilosophen und Ärzten vertrat die Ansicht, Werwolftum sei eine Krankheit. Einer der ersten, der diese Ansicht formulierte, war um 150 n. Chr. Marcellus Sidetes. Und auf seine Weise sollte Sidetes’ Werk so nachhaltig wirken wie das von Augustinus, denn viele Mediziner, die sich mit Wolfsmenschentum, Lykanthropie (griech. »lykos« Wolf, »anthropos« Mensch), befaßten, benutzten seine Argumente. Zu ihnen zählten um 650 Paulus Aegineta und im 11. Jahrhundert Avicenna. Ihre Analyse basierte auf der Lehre von den vier Körpersäften Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle, und sie glaubten, Lykanthropie werde durch ein Zuviel an schwarzer Galle ausgelöst, weswegen der Zustand auch 5 Cf. Petronius, Satyricon, Petronius. Seneca: Apocolocyntosis , Ü bers. Michael Heseltine, Hg. E. H. Warmington (Cambridge, 1969), S. 134 - 139. 6 Cf. Virgil, The Georgics and Eclogues of Virgil, Übers. Theodore Chickering Williams (Cambridge, 1915), S. 158. 7 Cf. Augustinus, The City of God, Übers. Henry Bettenson (New York, 1972), S. 782 - 783. 568 Keith Roberts häufig als »melancholische Lykanthropie« bezeichnet wurde. Die Symptome seien Blässe, Sehstörungen, ein Austrocknen von Augen und Zunge, permanenter Durst und Abschürfungen an den Beinen, verursacht durch Stürze und die Fortbewegung auf allen Vieren. Menschen, die an Lykanthropie leiden, hätten darüber hinaus eine Vorliebe für nächtliche Ausflüge, während derer sie Wölfe imitieren und sich in der Nähe von Friedhöfen aufhalten. 8 Bemerkenswert ist, daß keine tatsächliche äußerliche Veränderung der Patienten erwähnt wird. Man nahm an, daß solcherlei Veränderungen nur in den durch die Krankheit verursachten Wahnvorstellungen der Lykanthropieopfer existierten. Als Ergebnis dieser Studien wurden die Begriffe Lykanthropie oder Werwolftum neu definiert. Bis auf den heutigen Tag bezeichnet Werwolf einen Menschen, der sich körperlich in einen Wolf verwandelt, während ein an Lykanthropie Leidender dem krankhaften Wahn unterliegt, ein Wolf zu sein. Im allgemeinen bezweifelten die Autoren, die sich während des Mittelalters mit Lykanthropie befaßten, die Existenz von Werwölfen grundsätzlich, während diejenigen, die das Wesen der Werwölfe erforschten, nicht an Lykanthropie glaubten. Nur wenige weitere Werwolf-Belege sind vor dem 12. Jahrhundert noch erwähnenswert. Einer der interessanteren findet sich im Canon Episcopi, der in einer Sammlung kirchlicher Dekrete aus dem Jahre 906 entdeckt wurde, wobei dieses spezielle Dekret unter Umständen weitaus älter ist. Der Canon verurteilt Hexerei im allgemeinen und behandelt an einer Stelle die angebliche Fähigkeit der Hexen, ihre Gestalt zu verwandeln: »Wer glaubt, es sei möglich, daß ein Mensch sich zum Guten oder zum Schlechten verändert oder aber in eine andere Form oder Gestalt verwandelt wird, auf irgendeine Weise als durch den Schöpfer selbst, [...] der ist ohne Zweifel ein Ungläubiger, schlimmer als ein Heide.« 9 Für eine gewisse Zeit scheint dieser Lehrsatz so verstanden worden zu sein, daß schon der Glaube an die Existenz von Werwölfen als häretisch anzusehen sei. Doch spätere Autoren seit dem 15. Jahrhundert interpretierten den Canon anders: obschon ein Mensch sich nicht tatsächlich in einen Wolf verwandeln könne, gebe es dennoch bestimmte Methoden, den Anschein zu erwecken, eine Verwandlung habe stattgefunden. Eine Doktrin von großer Tragweite; denn sie erlaubte es, mutmaßliche Hexen als Werwölfe zu verfolgen, ohne daß die Inquisition in einen Gewissenskonflikt geriet. Obwohl es also als Häresie angesehen wurde, an Werwölfe zu glauben, fand diese Kreatur im 12. Jahrhundert wieder Eingang in die Literatur, wenn auch in anderer Weise als rund 1000 Jahre zuvor. Anhand der uns zur Verfügung stehenden Werke läßt sich ein grundsätzlicher Unterschied zwischen den Werwolf-Darstellungen der Antike und denen des 12. Jahrhunderts feststellen: aus dem Werwolf als Übeltäter wurde der Werwolf als Opfer eines Fluches. In der Vergangenheit waren die Figuren selten als unschuldige Opfer eines Fluches dargestellt worden. Doch jetzt, im 12. Jahrhundert, begegnen wir dem »sympathischen« Werwolf, mit dem wir Mitleid empfinden sollen. Sogar Giraldus Cambrensis, der den »wahren« Bericht eines Freundes niederschrieb, der Werwölfe in Irland entdeckt haben wollte, gibt ihnen eine sympathische Note. Dies ist besonders interessant, weil die Methode der Verwandlung der bei Plinius’ eher abstoßenden Werwölfen sehr ähnelt: 8 Cf. Summers, S. 38 f. 9 Cf. Malleus Maleficarum, Übers. Montague Summers, A Lycanthropy Reader, Hg. Charlotte F. Otten (Syracuse, 1986), S. 106. Eine Werwolf-Formel 569 Der Freund, ein Priester, trifft einen Wolf, der ihn bittet, seiner sterbenden Frau die Kommunion und die Letzte Ölung zu erteilen. Der Priester fürchtet sich natürlich vor dem sprechenden Wolf und zögert, doch er stimmt schließlich zu, als der Wolf ihn zu seiner Gefährtin bringt, ein Stück des Wolfspelzes entfernt, unter dem der Körper einer alten Frau zum Vorschein kommt. Der Wolf erklärt, daß er aus einem Dorf stamme, das einst von einem Abt verflucht worden sei. Alle sieben Jahre müsse ein Ehepaar das Dorf verlassen, in den Wald gehen und dort ein Dasein als Wölfe fristen. Lebten sie nach Ablauf der Zeit noch, dürften sie zurückkehren und ein anderes Paar müsse gehen . 10 Cambrensis’ Werwölfe wirken einnehmend, weil sie die Hilfe eines Priesters benötigen, obgleich sie wie Wölfe leben, und sie müssen um diese Hilfe betteln. Das Flehen des Werwolfs, seine frommen Worte und seine Versicherung, daß kein Grund zur Furcht bestehe, sind sehr bewegend, zumal der Priester sie um ein Haar in all ihrem Elend abgewiesen hätte. So mußte also mit dem Aufkommen des rührenden Werwolfs eine neue Methode gefunden werden, die die Verwandlung herbeiführte. Die früheren Ursachen (der Verzehr eines Menschenopfers, der Zorn der Götter, die Willkür des Schicksals) waren kaum mit einer mitleidserweckenden Darstellung vereinbar. 11 Darum verwenden jetzt die meisten der Geschichten einen Fluch als Auslöser der Verwandlung und erzählen dann vom Bemühen des Opfers, seine menschliche Gestalt wiederzuerlangen. Eine Ausprägung der Werwolf-Geschichte, eine keltische Version, wie G.L. Kittredge festgestellt hat, 12 scheint seit 12. Jahrhunderts besonders beliebt gewesen zu sein, denn es existieren drei Versionen, die drei Jahrhunderte überspannen. Dies sind Maries de France Bisclavret (ca. 1198), das Lai de Melion (ca. 1250) sowie Artus und Gorlagon (14. Jh.). Ein weiteres Werk ist dieser Gruppe gelegentlich zugeordnet worden, nämlich Guillaume de Palerne (um 1194 - 1197). 13 In der Erzählung Bisclavret verschwindet der Titelheld jede Woche für drei Tage von Zuhause, um im Wald als Werwolf zu leben. Seine Frau zweifelt schließlich an seiner Treue und fragt ihn, wo er sich während dieser Zeiten aufhalte. Er zögert, sich ihr anzuvertrauen, doch schließlich entlockt sie ihm das Eingeständnis, daß er zum Werwolf werde und unter einem bestimmten Felsen seine Kleider verstecken müsse. Würde er diese nicht wiederfinden, müsse er für immer ein Wolf bleiben. Seine Frau stiftet ihren Verehrer an, Bisclavrets Kleider zu stehlen, während er im Wald umherstreift. Somit sind sie seiner ledig und heiraten. Einige Zeit später ist der König im Wald auf der Jagd. Der Wolf nähert sich ihm untertänig, und der König, bewegt von seiner Sanftheit, nimmt ihn mit heim. Der Wolf legt die vortrefflichsten Manieren an den Tag, bis schließlich der Verehrer seiner Frau auf der Burg erscheint. Sofort fällt er den Mann an, doch die Höflinge zerren ihn zurück. Alle glauben, daß der Mann irgendetwas getan haben muß, um den Wolf zu diesem Verhalten zu veranlassen, doch die Angelegenheit wird nicht weiter verfolgt. Einige Zeit später reitet der König wieder zur Jagd, dieses Mal 10 Cf. Giraldus Cambrensis, The Historical Works of Giraldus Cambrensis, Übers. Thomas Forester, Hg. Thomas Wright (London, 1913), S. 79 f. 11 Wie gesagt, die Entscheidung durch Los (wie bei Plinius und anderen) ließe eine sympathieerweckende Darstellung des Werwolfes noch am ehesten zu, doch allein schon die Teilnahme an diesem Losverfahren setzt eine gewisse Bereitschaft voraus und ein Akzeptieren des Ausganges. Giraldus ersetzt das Losverfahren durch einen Fluch in seiner Version dieser Werwolf-Geschichte. 12 Cf. »Arthur and Gorlagon.« Studies and Notes in Philology and Literature. Bd. VIII. Boston: Ginn and Company, 1903. S. 149 - 275. 13 Cf. Irene McKeehans Beitrag »Guillaume de Palerne: a Medieval ›Best Seller‹«, PMLA 41 (1926), S. 785 - 809. 570 Keith Roberts in Begleitung seines Wolfes, und sie müssen die Nacht in einem abgelegenen Haus verbringen. Bisclavrets einstige Frau erfährt, wo der König sich aufhält, und beschließt, ihm einen Besuch abzustatten. Doch sogleich springt Bisclavret sie an und beißt ihr die Nase ab. Die Frau wird befragt, und die Wahrheit kommt ans Licht. Bisclavret erhält seine Kleider zurück und nimmt wieder seiner menschliche Gestalt an. 14 Die zweite Geschichte, Melion , ist Bisclavret sehr ähnlich, sie weicht nur am Anfang und in einigen Details ab. Der Titelheld Melion ist mit seiner Frau im Wald auf der Jagd. Als sie einen großen Hirsch entdecken, bittet die Frau Melion, das Wild für ihr Abendessen zu fangen. Melion erwidert, dies könne er nur tun, wenn sie ihn mit seinem Zauberring in einen Wolf verwandele. Sie tut dies, flieht umgehend mit Melions Knappen, den sie heiratet, in ihre Heimat Irland und läßt ihren Gatten im Wald als Wolf zurück. Melion versteckt sich an Bord eines Schiffes und gelangt so nach Irland, wo er sich einem Rudel echter Wölfe anschließt, mit denen er das Land terrorisiert. Der König zieht aus, um die Wölfe zu erlegen. Er tötet alle außer Melion, den er zu sich nimmt. Später kommt König Artus nach Irland. Beeindruckt von der »Menschlichkeit« des Wolfes, nimmt er sich seiner an. Danach entdeckt der Wolf die beiden, die ihn betrogen haben, bei einem Bankett und greift sie an. Artus ist überzeugt, daß es für diesen Angriff eine Erklärung geben muß, und erzwingt ein Geständnis der Frau. So erhält Artus den Ring, und Melion wird zurückverwandelt. 15 In Artus und Gorlagon finden wir dasselbe Handlungsmuster mit einigen Ergänzungen. Die Werwolf-Erzählung ist eine Binnengeschichte. Während des Pfingstfestmahls fordert die Königin König Artus auf, das Herz und die wahre Natur der Frau zu ergründen, falls er dies könne. Er bricht sofort auf und trifft auf zwei Könige, Gargol und Torleil, die ihn zu ihrem Bruder Gorlagon geleiten, welcher Artus die Werwolf-Geschichte als Antwort erzählt. Ein König hatte einen magischen Baum in seinem Garten, mit dem er auf seltsame Weise verbunden war. Würde jemand den Baum ausgraben und ihn damit berühren, so müsse er sich in einen Wolf verwandeln. Die Königin aber rätselte, was ihr Mann Geheimnisvolles in seinem Garten zu hüten habe und entlockte ihm die Antwort. Am nächsten Tag fällte sie den Baum, verwandelte den König in einen Wolf und heiratete auf der Stelle den Mann, für den sie diese Tat beging. Daraufhin wütete der Wolf im ganzen Land und tötete Mensch und Tier, bis der Usurpator ihn aus dem Königreich jagte. Das gleiche Schicksal widerfuhr ihm im nächsten Land, in das er kam, und er wurde in ein drittes getrieben. Hier machte der König Jagd auf ihn. Als er ihn stellte, nahm der Wolf die Haltung eines Mannes ein, der um Gnade fleht. Auch dieser König nahm den Wolf mit nach Hause. An dieser Stelle aber ist ein weitere Episode eingefügt: Der Wolf entdeckte, daß die Königin dem König untreu war, war jedoch nicht in der Lage, dies irgendwem mitzuteilen. Die Königin aber fürchtete um ihr Geheimnis und bezichtigte den Wolf, ihr Kind getötet zu haben. Doch dem Wolf gelang es, den König dorthin zu führen, wo die Königin ihren Sohn eingesperrt hatte. Nach diesem Vorfall ahnte der König, was es in Wahrheit mit dem Wolf auf sich hatte, und er schwor, ihn zu rächen. Daraufhin führte der Wolf den König, gefolgt von seiner Armee, in sein Königreich, und dem Usurpator wurde die Macht entrissen. Die Frau aber zwang man, das magische Bäumchen zurückzugeben, und auf diese Weise erlangte der König seine Gestalt zurück. 14 Cf. Marie de France, Bisclavret, The Lais of Marie de France , Übers. Robert Hanning und Joan Ferrante (Durham NC, 1978), S. 92 - 104. 15 Cf. Mortimer J. Donovan, The Breton Lay: A Guide to Varieties (London, 1969), S. 30 - 32. Eine Werwolf-Formel 571 Gorlagon, so stellt sich heraus, war jener Wolf, und Gargol der König, der ihm geholfen hatte. Die Moral der Geschichte ist, daß Frauen grundsätzlich untreu sind. 16 Die andere märchenhafte Geschichte aus dieser Zeit, die den drei wiedergegebenen verwandt sein könnte, ist die altfranzösisch und mittelenglisch überlieferte Erzählung Guillaume de Palerne . Die Werwolf-Erzählung ist einer Haupthandlung untergeordnet, in der es um die Liebe zwischen einer Prinzessin und dem Findling Guillaume geht. In Wahrheit ist Guillaume ein sizilianischer Prinz, den der Werwolf einst vor Thronräubern rettete. Seither ist er dem jungen Prinzen stets gefolgt und stand ihm diskret zur Seite. Bei dem Werwolf handelt es sich um Alphouns, einen spanischen Prinzen, der von seiner Stiefmutter verwandelt wurde, damit ihr eigenes Kind den Thron besteigen konnte. Nach einer Reihe von Schlachten finden alle Kinder und ihre verbliebenen Eltern wieder zusammen. Die Königin von Spanien, Alphouns’ Stiefmutter, wird herbeigeholt. Der Wolf fällt sie an, wird aber daran gehindert, sie zu töten. Sie gesteht ihre Tat und verwandelt Alphouns zurück, so daß er endlich die wahre Geschichte über Guillaumes Vergangenheit berichten kann, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute ... 17 Obschon Bisclavret u nd Guillaume z u den frühesten Beispielen dieses Geschichtstypus zählen, deutet einiges darauf hin, daß er vorher schon existierte. Marie de France verwendet nämlich Versatzstücke aus den drei anderen Geschichten dieser Gruppe. In diesen Geschichten ist der Werwolf immer das Opfer eines Fluches, den eine treulose Person aus seiner nächsten Umgebung bewirkt hatte; im Gegensatz zu Gestaltw echslern, die freiwillig oder durch göttliche Bestrafung verwandelt wurden. Doch in Bisclavret findet sich keine Erklärung für den Zustand des Helden. Er ist nicht Opfer eines Fluches. Die Geschichte beginnt damit, daß er sich jede Woche für drei Tage in einen Wolf verwandelt. Auch wird nichts darüber gesagt, ob er am Ende von diesem Übel befreit wird. Die andere Erzählung, die ebenfalls keine Gründe für die Wandlung erwähnt, ist Niceros’ Geschichte im Satyricon . Doch hier ist es relativ offensichtlich, daß der Werwolf bösartig ist, ganz im Gegensatz zu Bisclavret, der als Wolf weder Mensch noch Tier je ein Leid zugefügt hat, abgesehen von seinen durch Rache motivierten Angriffen gegen seine Frau und deren Liebhaber. Es scheint durchaus möglich, daß Marie die Vorgeschichte des Werwolfes für wesentlich hielt, um zu entscheiden, ob er denn nun sympathisch ist oder nicht. Es ist auch denkbar, daß sie diese Vorgeschichte absichtlich im Dunkeln läßt, weil sich die Einstellung ihres Publikums dem Werwolf gegenüber im Laufe der Geschichte wandeln soll. So sagt sie eingangs, Werwölfe seien wilde Bestien, die im Wald leben und sich von Menschenfleisch ernähren. 18 Nach seiner ersten Rückkehr ist Bisclavret »froh und glücklich«, was darauf schließen läßt, daß ihm sein Wolfsdasein gefällt. Vermutlich sollen wir also Bisclavret für einen üblen Gesellen halten. Doch kaum hat Marie klargestellt, daß Werwölfe bösartige Kreaturen sind, berichtet sie, daß Bisclavret jede Woche drei Tage im Wald verbringen und zu den Kleidern zurückkehren muß, die er vor der Verwandlung trug, da er anderenfalls für immer und ewig ein Wolf bleibt. Dies klingt mehr nach einem Fluch, einer unfreiwilligen Wolfsnatur. Andererseits erfahren wir, daß Bisclavret nur nackt zum Wolf werden kann, was natürlich zu der Frage führt, was denn wohl passieren 16 Cf. Arthur and Gorlagon, Übers. Frank A. Milne, A Lycanthropy Reader, S. 34 - 250. 17 Cf. William of Palerne: An Alliterative Romance , Hg. G.H.V. Bunt (Groningen, the Netherlands, S. 1985). 18 Cf. Bisclavret , S. 9 - 12. 572 Keith Roberts würde, wenn er die Kleider anbehielte. Würde die Verwandlung ausbleiben? Und wenn das der Fall wäre, müßten wir ihn nicht verabscheuen, weil er ein Wolf sein will? Im Grunde genommen sagt Marie am Beginn ihres Lai, daß Werwölfe, einschließlich Bisclavret, böse und gefährlich sind. Darum sind wir geneigt, seiner Frau in ihrer Angst unser Mitgefühl entgegenzubringen, als sie sein Geheimnis erfährt. Doch als ihre Angst sie dazu verleitet, sich gegen ihren Mann zu stellen statt zu versuchen, ihm zu helfen, stellen wir fest, daß die Frau die eigentlich Böse ist. Marie spielt also mit den verschiedenen Motiven der Werwolf-Erzählung, um eine komplexe und bewegende Geschichte zu entwerfen. Jedes dieser Motive läßt sich in den bislang vorgestellten Erzählungen wiederfinden, beispielsweise das der Verwandlung auf Zeit bei Plinius und Giraldus, das der Kleider bei Plinius und Petronius. Kehren wir zu unserer Werwolf-Chronologie zurück. Während des 15. Jahrhunderts behielt der Werwolf seinen fiktiven Status; etwa in Malorys Verwendung des mittelalterlichen Mythos. Im 19. Buch des Morte D’Arthur erwähnt Malory bei der Beschreibung einer Heerschau der Ritter einen gewissen Sir Marrok, »jener gute Ritter, der von seiner Frau verraten wurde, denn sie machte ihn für sieben Jahre zum Werwolf.« 19 Dies ist offenbar eine Anlehnung an jene keltische Sage, die schon für Bisclavret, Melion und die anderen Bearbeitungen als Quelle diente. Zu Malorys Zeit war eine heftige Hexendebatte, begleitet von vielen Hexenprozessen, im Gange. Diese Hexenverfolgung führte dazu, daß Werwolf-Erzählungen für nahezu 250 Jahre fast vollständig aus der Literatur verschwanden. An ihre Stelle trat eine Fülle von Schriften über Dämonologie und Hexerei, bis sich der Wahn der Hexenjagd zum Ende des 17. Jahrhunderts schließlich ausgetobt hatte. Eines der einflußreichsten Bücher jener Epoche war Malleus Maleficarum, das nach Adam Douglas’ Einschätzung die vorherrschende Lehrmeinung des Canon Episcopi in bezug auf den Gestaltwandel umstürzte und die Grundlage für die Hexenprozesse bildete. 20 Gleichgültig, ob der Hexenhammer unmittelbar verantwortlich ist, seine Argumente wurden jedenfalls auf den Canon übertragen und führten zu einer neuen Interpretation seines Dogmas: Hatte es früher geheißen, schon der Glaube an Werwölfe sei häretisch, galt nun, daß nur der Glaube an die tatsächliche Verwandlung eines Menschen in einen Wolf als häretisch anzusehen sei. 21 Es entwickelte sich eine neue Werwolf-Debatte vor allem darüber, wie der Teufel die Bauern davon überzeuge, daß Menschen wirklich ihre Gestalt ändern konnten? Zwischen dem Erscheinen des Malleus Maleficarum 1486 und dem Ende der Hexenverfolgung um 1700 wurde eine große Anzahl dämonologischer Werke verfaßt. Eine Reihe dieser Schriften wurden zu regelrechten Handbüchern für die Hexenjagd; einige beinhalten auch Abhandlungen über Werwölfe. Zu den einflußreichsten dieser Texte zählt Henry Boguets Discours des Sorciers (1590). Andere wichtige Autoren waren der Richter Nicolas Rémy, der im Jahre 1595 Daemonolatria schrieb, sowie Francesco Guazzo, dessen Compendium Maleficarum 1608 erschien. Nahezu alle Verfasser waren nicht nur Dämonologen, sondern auch kirchliche oder weltliche Richter, die den 19 Cf. Thomas Malory, Le Morte D’Arthur, XIX: 11, Hg. Janet Cowen (Harmondsworth, Middlesex, 1969), S. 451. 20 Cf. Adam Douglas, The Beast Within: A History of the Werewolf (London, 1992), S. 160. 21 Cf. Summers, S. 89. Eine Werwolf-Formel 573 Vorsitz bei Hexenprozessen führten und eine gewisse Vorliebe für diese Aufgabe entwickelt hatten. In der Zeit der Hexenverfolgung in Europa sah man im Werwolf Hexen, die sich in einen Wolf verwandelten, um ihre verbrecherischen Taten zu begehen. Werwolf-Prozesse waren zwar selten, doch die Vorwürfe und die Urteile waren die gleichen wie in anderen Hexenprozessen überall in Europa. Da der Werwolf in jener Zeit als eine Erscheinungsform der Hexerei angesehen wurde, stand im Zentrum der Debatte in der Regel nicht die Frage, ob Werwölfe denn nun existierten oder nicht, sondern wie die Verwandlung von Mensch zu Wolf zu Mensch bewerkstelligt wurde. Augustinus hatte ja bereits erklärt, daß eine tatsächliche Verwandlung nicht möglich sei, es sei denn, Gott habe sie beschlossen. Dieses Argument wurde von der Kirche als Faktum und Wahrheit akzeptiert. Deshalb, so führten die Dämonologen aus, könne es in Wirklichkeit keine Werwölfe geben. Es handele sich vielmehr um eine Illusion, die der Teufel hervorrufe, um sowohl den »Werwolf« als auch das Opfer glauben zu machen, eine Verwandlung habe stattgefunden. Dämonologische Schriften entwickelten zwei unterschiedliche Erklärungsmodelle. Das erste wurde vom Malleus Maleficarum vertreten, dessen Verfasser, Heinrich (Institoris) Kramer und Jakob Sprenger, glaubten, der Teufel erschaffe durch die Hexe ein Trugbild, so daß sie sich selbst und allen anderen in Wolfsgestalt erschien, obgleich sie in Wahrheit unverändert war. Mit diesem trügerischen Aussehen verfügte die Hexe auch weiterhin über ihren menschlichen Verstand, selbst wenn der Teufel ihr das Sprachvermögen nahm. Henry Boguet, der für Hexenprozesse des Bezirks Ryon in Burgund zuständige Richter, indes glaubte an eine andere Verwandlungsmethode. Ähnlich wie Augustinus ging er davon aus, daß der Teufel die Hexe an einem verborgenen Ort in einen tiefen Schlaf versetze und dann selber in Wolfsgestalt umgehe. Der Teufel beging dann die Untaten in der Weise, wie die Hexe es wünschte, und etwaige Wunden, die dem Teufel dabei zugefügt wurden, gingen augenblicklich auf die Hexe über. Unterdessen glaubte die träumende Hexe, sie selbst streife durchs Land auf der Jagd nach Menschen und Tieren. Die meisten anderen dämonologischen Theorien waren Varianten dieser beiden genannten. Freilich, selbst geringfügige Abweichungen wurden heftig diskutiert. So war Francesco Guazzo beispielsweise grundsätzlich der gleichen Ansicht wie Kramer und Sprenger, doch behauptete er, die Erscheinung des Werwolfs sei keine Illusion des Geistes, sondern der Luft, 22 die der Teufel bewirke, indem er eine gewisse Menge Luft zur Wolfsgestalt forme und die Hexe dann damit umhülle. Kramer und Sprenger waren jedoch der Meinung, dies sei unmöglich, da Luft nicht beständig genug sei, um eine Form in der beschriebenen Weise beizubehalten. 23 Andere Dämonologen unterstützten Boguets Theorie, behaupteten allerdings, der Dämon fahre tatsächlich in einen Wolf, während die Hexe am verborgenen Ort schliefe. Es gab einige wenige, die glaubten, eine Hexe könne tatsächlich selber Wolfsgestalt annehmen. Wieder andere vertraten die Ansicht, alle Vorstellungen von Werwölfen seien falsch, jene, die sich für Werwölfe hielten, seien verwirrt. Die Anhänger dieser Lehrmeinung standen in der Tradition, die auf Marcellus Sidetes’ Theorie der lykanthropischen 22 Cf. Summers SW: 121. 23 Cf. A Lycanthropy Reader, S. 106. 574 Keith Roberts Melancholie zurückging. Einer ihrer führenden Vertreter war Dr. Johann Weier, der die Existenz von Werwölfen vehement bestritt. 1563 behauptete er, Lykanthropie sei eine Erkrankung des Geistes und habe nichts mit Dämonen zu tun. Sie sei an ganz bestimmten Symptomen erkennbar und mit bestimmten Methoden behandelbar. Ein weiterer einflußreicher Text, der diesen Standpunkt aufgriff, war Robert Burtons Anatomie der Melancholie (1621), die Paulus Aegineta und Johann Weier zitiert. Diese Werke waren bei weitem nicht so einflußreich und verbreitet wie das von Boguets, das innerhalb von 20 Jahren zwölfmal neu aufgelegt wurde. Wenige dämonologische Schriften aber waren so populär wie die im Jahre 1590 veröffentlichte Abhandlung über das »verdammenswerte Leben und Sterben eines gewissen Stubbe Peeter. [...] der in Gestalt eines Wolfes viele Morde beging.« Stubbe Peeter war 1589 in Bedbur in Deutschland hingerichtet worden, weil er ein Werwolf war. Nach eigener Aussage hatte er vom Teufel einen Zaubergürtel erhalten, der ihn in einen Wolf verwandelte, wann immer er ihn anlegte. In Wolfsgestalt überfiel und tötete er junge Frauen und Kinder sowie Schafe und Rinder. Außerdem vergewaltigte er mehrere seiner Opfer, beging Inzest mit seiner Tochter, tötete und verschlang seinen eigenen Sohn. Endlich gelang es den Bürgern des Städtchens, ihre Hunde auf den Wolf zu hetzen, der sie 25 Jahre lang drangsaliert hatte. Daraufhin verwandelte Stubbe Peeter sich zurück in einen Menschen und versuchte die Jäger zu überzeugen, die Hunde hätten ihn irrtümlich eingekreist. Doch die Jäger ließen sich nicht täuschen. Er wurde den Richtern vorgeführt und gestand seine Untaten, obwohl der Gürtel verschwunden war. Schließlich wurde er gerädert, enthauptet und mitsamt seiner Tochter und seiner Geliebten auf dem Scheiterhaufen verbrannt. 24 Die Geschichte von Stubbe Peeter ist typisch für die Berichte über Werwölfe dieser Zeit. Sie ähnelt einer Vielzahl von Geständnissen, die in Werwolf-Prozessen abgelegt wurden. Die meisten kennen einen wie auch immer gearteten Teufelspakt, eine Tinktur oder einen Gürtel als Verwandlungsmittel, das Töten und Verzehren von Frauen und Kindern, schildern schließlich Gefangennahme und Geständnis. Die fiktionale Literatur zur Zeit der Hexenverfolgung kennt nur wenige Werwolf- Belege, die zeigen, daß das Monster nicht gänzlich verdrängt war. So wurde zum Beispiel Guillaume de Palerne 1552, mitten in der Zeit der Hexenverfolgung, ins Neufranzösische übertragen. Viele der fiktionalen Bearbeitungen des Werwolf-Stoffes waren von den Prozessen und den dämonologischen Schriften beeinflußt. In der zweiten Szene des fünften Aktes der Tragedy of the Dutchesse of Malfi (1614) verwendet John Webster beispielsweise einen Bericht aus einer der Abhandlungen über melancholische Lykanthropie und legt ihn einer Bühnenfigur in den Mund. Der Doktor diagnostiziert, Herzog Ferdinand leide an Lykanthropie, und verordnet eine Behandlung entsprechend der Lehrbücher über Melancholie: In those that are possess’d with’t [lycanthropia] there o’erflows Such melancholy humour, they imagine Themselves to be transformed into wolves, Steal forth to churchyards in the dead of night, And dig dead bodies up: as two nights since One met the duke, ‘bout midnight in a lane Behind Saint Mark’s church, with the leg of a man 24 Cf. A Lycanthropy Reader, S. 69 - 76. Eine Werwolf-Formel 575 Upon his shoulder; and he howl’d fearfully; Said he was a wolf, only the difference Was, a wolf’s skin was hairy on the outside, His on the inside; bade them take their swords, Rip up his flesh, and try: straight I was sent for, And having minister’d to him, found his grace Very well recovered. 25 1710 taucht der Werwolf in der fiktiven Welt der Literatur wieder auf, und zwar in einer Parodie auf jene Einfältigen, die an dämonische Wesen glauben. Laurent Bordelons Monsieur Oufle stellt eine Reaktion auf die Jahrhunderte der Hexenjagd dar und attackierte nicht allein den Werwolf-Glauben. Der Titelheld ist ein leichtgläubiger Dummkopf erster Güte, der einfach alles für bare Münze nimmt, was er über Hexen hört. Gelegentlich gelingt es ihm damit, ein paar unschuldige Mitmenschen in Angst und Schrecken zu versetzen, doch in erster Linie ist er ein Trottel, der von allen ausgenommen wird, vornehmlich von seiner jüngsten Tochter und der Dienerschaft. Am Erscheinungsdatum von Monsieur Oufle läßt sich die Rückkehr des Werwolfs in die Welt der literarischen Fiktion festmachen, wenngleich es auch noch fast ein Jahrhundert dauern sollte, bis der Werwolf herdenweise über die Erzählliteratur hereinbrach. Im Schauerroman tritt der Werwolf gelegentlich in Erscheinung, so beispielsweise in Charles Robert Maturins The Albigenses (1824). Die Werwolf-Handlung dieses Romans ist eher nebensächlich: Einer der Charaktere findet sich zusammen mit einem Lykanthropen in derselben Zelle eingesperrt. Dieser hilft ihm zwar, doch muß er ihn später in Selbstverteidigung bekämpfen. Der Roman verwendet bekannte mittelalterliche Motive wie das nach innen wachsende Haar. Doch diese Motive verschwanden bald, als die Zahl der Werwolf-Geschichten sprunghaft anstieg. Wenngleich der »echte« Schauerroman, die Gothic Novel, die Thematik nur selten aufgriff, so verwendeten die sogenannten Penny Dreadfuls - Ableger des Schauerromans - den Werwolf mit schöner Regelmäßigkeit. Ein Beispiel hierfür ist G. W. Reynolds’ Wagner: The Wehr-Wolf . Dieser Roman erschien ursprünglich in 77 Fortsetzungen und war so beliebt, daß er anschließend als Buch herausgebracht wurde. Darin finden sich der sympathische Held, der durch einen Fluch zum Werwolf wurde, eine Vielzahl grauenvoller Morde und schließlich ein gnadenvoller, wenn auch höchst unwahrscheinlicher Tod für den Helden. So befreite sich der Werwolf im 19. Jahrhundert zum erstenmal von seinen antiken und volkstümlichen Vorläufern; die Werwolf-Literatur erlebte eine Blütezeit mit einer Vielzahl von Varianten. Ein Grund hierfür war sicherlich, daß die Autoren sich nicht mehr auf überlieferte und seit Generationen wieder und wieder erzählte Geschichten stützen zu müssen. Dies ermöglichte es ihnen, Werwolf-Typen nach ihren ganz eigenen Vorstellungen zu entwickeln. Aus dieser Zeit stammt die Spezies Werwolf, der tatsächlich ein Wolf ist, der sich in einen Menschen verwandelt, also nicht mehr das menschliche Wesen, das vorübergehend zum Wolf wird. Ein ganz bestimmter Typus der Werwolf-Geschichte findet sich mehrfach in der viktorianischen Literatur. Mir sind drei Versionen bekannt, aber es mag weitere geben. Bislang war es mir nicht möglich, mit Sicherheit zu entscheiden, ob sie einen unmittelba- 25 Cf. The Duchess of Malfi, Hg. John Russell Brown (Cambridge, 1964). 576 Keith Roberts ren Einfluß aufeinander hatten oder ob diese Variante der Werwolf-Geschichte einfach ein Standardtypus geworden war. Die früheste dieser Geschichten ist eine Episode in einem Roman von Captain Marrayt über den sagenhaften Fliegenden Holländer mit dem Titel The Phantom Ship (1839) von Captain Marryat verfaßt. Die Werwolf-Geschichte selbst trägt in Anthologien gewöhnlich den Titel Der Weiße Wolf aus dem Harz. Die zweite Version wurde 1889 von Sir Gilbert Campbell geschrieben und heißt The White Wolf of Kostopchin. Die dritte heißt schlicht The Were-Wolf und wurde 1896 von Clemence Houseman verfaßt. In dieser Variante verläuft die Geschichte wie folgt: Plötzlich und unerwartet erscheint eine Frau vor einer Gruppe von Menschen, und ihr Erscheinen geht mit dem geheimnisvollen Auftauchen eines Wolfes einher. Der Anführer der Gruppe verliebt sich in die Frau, obwohl seine Begleiter merken, daß etwas mit ihr nicht stimmt. Sie versuchen, ihn vor der Gefahr zu warnen, in die er sich begeben will. Schließlich macht er ihr doch einen Heiratsantrag. Im Verlauf der Geschichte tötet die Frau schließlich ein Kind, das ihm nahesteht. Doch der Mann ist blind für alle Hinweise, die sie mit der Tat in Verbindung bringen. Nach einer Vielzahl von Schrecknissen wird die Frau schließlich von dem Verwandten ihres Geliebten getötet, der anfangs mit größtem Nachdruck vor der Verbindung gewarnt hatte. Bei ihrem Tod verwandelt sie sich zurück in Wolfsgestalt, und alle sind entsetzt bei der Vorstellung, daß ihr Anführer beinah die Ehe mit einem Wolf eingegangen wäre. In der viktorianischen Epoche wurde der Werwolf-Stoff als Geschichte von der bestialischen Natur des Menschen und seiner (Un-)Fähigkeit, sie zu kontrollieren modernisiert. Robert Louis Stevensons Roman Dr. Jekyll and Mr. Hyde (1886) unterschlägt den Wolf in der Werwolf-Geschichte, er konzentriert sich gänzlich auf das Wesen, weniger auf die Gestalt der Bestie. Ein anderer Roman, Stevensons’ Olalla (1887), handelt ebenfalls von einem modernen Werwolf. Es findet keine Verwandlung statt, doch das Bild der wahnsinnigen Mutter, die in die blutende Hand des Helden beißt, und die Dorfbewohner, die ihr das Dach über dem Kopf anzünden wollen, um sie aus dem Haus zu treiben, erinnern durchaus an den Werwolf. Das frühe 20. Jahrhundert bescherten dem Werwolf zwei neue Medien, durch deren Hilfe er sich verbreiten konnte: die triviale Massenliteratur und den Film. Die Öffnung von Zeitschriften für sogenannte Schundliteratur schuf in den 20ern einen großen Markt für »Weird Fiction«, die Gruselliteratur. Das Weird Tales-Magazin war der Prototyp dieser Zeitschriften, und es hatte so namhafte Schriftsteller wie H. Warner Munn, Seabury Quinn, und Robert E. Howard (besser bekannt für seine Conan-Geschichten) als »Werwolf-Autoren«. Kurze Werwolf-Erzählungen kamen jetzt - zusammen mit anderen Horrorgeschichten - regelrecht in Mode. Noch attraktiver aber wurden die Werwölfe auf der Leinwand. Der erste Film dieses Genres war The Werewolf, ein Stummfilm aus dem Jahre 1913. Eine Reihe weiterer folgten ihm, aber keiner war besonders erfolgreich, bis 1941 The Wolf Man mit Lon Chaney Jr. in der Hauptrolle herauskam. Curt Siodmak, der das Drehbuch geschrieben hatte, war zu dem Schluß gekommen, daß das traditionelle Mann-wird-Wolf-Motiv für den Horror auf der Leinwand einfach nicht so viel hergab wie in einem Buch. Die bis dahin im Film aufgetretenen Wölfe waren buchstäblich zu »hunde-artig«, um das Publikum zu gruseln. Also erschuf Siodmak einen Werwolf, der - halb Mensch halb Tier - auf zwei Beinen ging, aber Wolfsspuren hinterließ. Nur mit einer Waffe aus Silber konnte dieser Werwolf getötet werden. Siodmak erfand auch den berühmten Werwolf-Vierzeiler: Eine Werwolf-Formel 577 Even a man who’s pure at heart And says his prayers at night May become a wolf when the wolfbane blooms And the autumn moon is bright. 26 Der Film war ein durchschlagender Erfolg, und er bestimmte fortan nicht nur die filmische Darstellung des Werwolfs. Erst in den letzten 15 Jahren haben einige Filme versucht, zu dem eher »wölfischen« Wolf-Mann zurückzukehren, mit erstaunlichen Verwandlungsszenen, die der Fortschritt im Bereich der Spezialeffekte ermöglicht hat. Besonders die 80er erlebten eine Welle von Werwolf-Filmen dieser Art, beispielsweise The Howling und Wolfen , die beide auf Romanvorlagen basieren. Heute ist die Werwolfliteratur so verbreitet wie eh und je. Erst 1992 eroberte sich der Werwolf mit dem Werwolf-Rollenspiel wiederum ein neues Medium. Sinn dieses Spieles ist es, daß die Spieler gemeinsam eine improvisierte Geschichte entwickeln, in der jeder von ihnen einen Werwolf darstellt. Nachdem wir nun also die Chronologie des literarischen Werwolf-Mythos nachvollzogen haben, wollen wir uns jetzt systematisch mit einigen der spezifischen Motive befassen, die bis heute fest mit dem Mythos verbunden sind, etwa der nächtliche Gestaltwandel bei Vollmond oder das silberne Tötungsinstrument. Daneben gibt es eine Reihe von Motiven, die in früheren Entwicklungsphasen allgegenwärtig waren und heute gänzlich verschwunden scheinen: z.B. das Ablegen und Wiedererlangen der Kleidung als Dingsymbol menschlicher Identität und die Verwandlung durch das Einwirken einer anderen Person. Werwolf-Motive Mond Wann verwandelt der (menschliche) Werwolf sich in einen (tierischen) Wolf? Die Moderne kennt vor allem den Werwolf, der sich nur während der Nacht und bei Vollmond verwandelt und bei Tagesanbruch zu seiner menschlichen Gestalt zurückkehren muß. Doch Werwolf-Geschichten früherer Epochen weisen auf andere Umstände hin. Eine Vielzahl der antiken und der mittelalterlichen Werwolf-Erzählungen bevorzugen den Werwolf, der - freiwillig oder unter Zwang - seine Wolfsgestalt für längere Zeit behält, angefangen von drei Tagen bis zu neun Jahren oder gar länger. Die Werwölfe aus der Zeit der Hexenverfolgung hingegen schienen sich immer dann zu verwandeln, wenn ihnen der Sinn danach stand. Doch hat es schon immer Werwolf-Geschichten gegeben, in denen die Verwandlung an eine bestimmte Zeit des Jahres gebunden war. Schon bei Gervase of Tilbury (ca. 1210) hatte der Mond eine magische Wirkung auf Werwölfe. Gervase schreibt, die Verwandlung finde »während gewisser Mondphasen« 27 statt, und es folgt eine Geschichte, in der sich die Verwandlung bei Neumond vollzieht. 28 Petronius ist als 26 Cf. Douglas, S. 247. 27 Cf. Summers, S. 186. 28 Cf. Kirby F. Smith, »An Historical Study of the Werewolf in Literature«, PMLA 9 (1894), S. 21. 578 Keith Roberts Beweis für die Behauptung angeführt worden, das Vollmond-Motiv gehöre zu den ältesten. Doch Petronius erwähnt lediglich am Rande, daß beim Gestaltwandel der Mond beinahe so hell wie Tageslicht schien. Möglicherweise tat er dies, um sein Publikum zu überzeugen, daß er durchaus erkennen konnte, was vorging. Silber Ebenfalls ein sehr verbreitetes Motiv in modernen Werwolf-Geschichten ist das silberne Tötungsutensil, das benötigt wird, um den Wolf zu erlegen. Der früheste Beleg, den ich hierfür finden konnte, ist eine Kurzgeschichte mit dem Titel Silberkugeln, die 1930 für die Zeitschrift Weird Tales geschrieben wurde. 29 Sicherlich war es jedoch The Wolf Man, wodurch dieses Motiv fest im Genre verankert wurde. Aber die Ursprünge des Glaubens, daß Silber Macht über Werwölfe hat, bleiben numinos. Das einzige, was Summers in seiner umfassenden Studie über Silber sagt, ist, daß es hilfreich im Einsatz gegen Hexen sei, die sich in Hasen verwandelt haben. 30 Eine andere Quelle besagt, dieser Silber-Mythos stamme aus Deutschland, wo der größte Teil des europäischen Silbers gewonnen wurde, ehe es durch Spanien aus der Neuen Welt importiert wurde. 31 Es gibt einen Beleg aus Deutschland, wo es heißt, man müsse ein Gewehr mit geerbtem Silber laden, um einen Werwolf zu erlegen. 32 Doch dieser eine Beleg reicht wohl kaum aus, um eine Herkunft des Mythos daraus abzuleiten. Andere Erklärungsmodelle besagen, Silber werde verwendet, weil es ein Symbol der Reinheit ist. Bevor Silber die bevorzugte Waffe gegen Werwölfe wurde, gab es keine Standardmethode, um diesen beizukommen, wenngleich die Notwendigkeit zur Anwendung ungewöhnlicher Maßnahmen durchaus nichts Ungewöhnliches in der Werwolfliteratur des 19. Jahrhunderts war. In Reynolds Wagner erfolgt die Erlösung vom Fluch, nachdem er die Skelette zweier unschuldiger Opfer am selben Galgen hängen sieht. 33 Clemence Housemans Werwolf kann nur getötet werden, indem man seine Hände und Füße mit Weihwasser oder dem Lebensblut eines reinen Herzens besprengte. Vor dem 19. Jahrhundert kennt die Literatur keine speziellen Methoden zur Abwehr von Werwölfen. Obschon die Märchenforschung ergab, daß solche Motive schon seit geraumer Zeit vorhanden gewesen waren, hatten sie scheinbar bis zu jenem Zeitpunkt keinen Eingang in die Literatur gefunden. Die Kleidung des Werwolfs Einer der größten Motivunterschiede zwischen dem modernen Werwolf und seinen antiken oder mittelalterlichen Ahnen ist die Bedeutung der Kleider für die Verwandlung. In mehreren der frühen Geschichten kann der Werwolf nicht zurückverwandelt werden, wenn er nicht zu den Kleidungsstücken zurückkehrt, die er vorher trug. Ganz deutlich findet sich dieses Motiv bei Marie de France, und sowohl bei Plinius als auch bei Petro- 29 Cf. Brian Frost, »The Werewolf Theme in Weird Fiction«, Book of the Werewolf (London, 1973), S. 39. 30 Cf. Summers, S. 201, 204. 31 Cf. WMS Russell und Claire Russell, »The Social Biology of Werewolves«, Animals in Folklore, Hg. JR Porter und WMS Russell (Totowa NJ, 1978), S. 177. 32 Cf. Smith, S. 34. 33 Cf. Douglas, S. 246. Eine Werwolf-Formel 579 nius wird es angedeutet, auch hier kommt der Kleidung als Attribut menschlicher Erscheinung eine besondere Bedeutung zu. Petronius’ Werwolf verwandelt seine Kleider in Stein, was darauf hinzudeuten scheint, daß sie als Abwehrzauber von besonderer Wichtigkeit sind, da niemand die Kleider in dieser Form wegnehmen würde. Plinius weist ausdrücklich darauf hin, daß die Kleider der Arkadier selbst nach neun Jahren noch im selben Baum hingen und darauf warten, daß ihre Eigentümer sie wieder anlegen. Es fällt auf, daß die Werwölfe sich in allen drei Fällen aus eigenem Antrieb verwandeln, somit wird dieses Kleidungsmotiv nur für »freiwillige« Werwölfe notwendig. In anderer Erzählungen dieser Epochen, wo die Werwölfe durch einen Fluch verwandelt werden, steht die Bedeutung der Kleider im Hintergrund oder das Motiv entfällt ganz. Es tritt beispielsweise in Guillaume de Palerne nur insoweit auf, als Alphouns bei seiner Rückverwandlung nackt ist, was ihn in Verlegenheit bringt. Das Motiv der Bekleidung des Werwolfs erscheint aus ähnlichen Gründen in der Zeit der Hexenverfolgung eher sporadisch. Gervase of Tilbury berichtet von einem Mann, der sich nachts regelmäßig die Kleider auszog, sie unter einem Dornbusch verbarg und sich dann so lange im Sand rollte, bis er zum Wolf wurde. 34 In einem der bekannteren Werwolf-Prozesse gestanden die Angeklagten Pierre Bourgot und Michel Verdun, daß sie sich sämtlicher Kleidungsstücke entledigen und mit einer magischen Salbe einreiben mußten, um sich in Wölfe zu verwandeln. 35 Andere Werwolf-Fälle erwähnen Salben und Kleidung in ähnlicher Funktion, doch es gab ebensoviele Werwolfprozesse, in denen nichts über die Notwendigkeit, die Kleidung abzulegen, gesagt wurde. In der modernen Literatur ist das Ablegen der Kleidung nur höchst selten eine Voraussetzung für die Verwandlung oder sie wird als hinderlich beschrieben. Ein exzellentes Beispiel hierfür findet sich in Anthony Bouchers komischer Novelle The Compleat Werewolf. Bei einer Gelegenheit vergißt der Held, seine Kleider auszuziehen, und wird so »ein hilfloser, gefangener Wolf, hoffnungslos verheddert in einem konservativen Einreiher «. 36 Der moderne »sympathische« Werwolf Eine weitere thematische Spezialität der Moderne ist die Variation eines Themas, das es bereits vor beinah 800 Jahren schon einmal in Marie de Frances Werwolf-Erzählung gab. Während die vielen Werwolf-Geschichten jeden nur denkbaren Typ hervorgebracht haben, angefangen von außerirdischen Wesen über Mutanten und Rückkehrern aus uralten, vergessenen Zivilisationen bis hin zu Geistern, hat scheinbar eine Werwolf-Rasse die Jahrhunderte überdauert - der »sympathische« Werwolf. Doch der moderne sympathische Werwolf unterscheidet sich von seinem mittelalterlichen Vorfahr. Im Mittelalter war der Werwolf sympathisch, weil jemand einen Fluch über ihn gebracht hatte, für den er sich rächen mußte. Der heutige sympathische Werwolf ist für gewöhnlich auch verflucht, aber nicht durch den willentlichen Akt eines anderen, sondern durch eine Art Geburtsfehler, ein Mißgeschick oder durch die unbeabsichtigte Handlung eines anderen Werwolfs. Auf jeden Fall verlieren diese Werwölfe gleich nach ihrer Verwandlung jeglichen Kontakt zu ihrer menschlichen Hälfte. Sie haben sich nicht mehr unter 34 Cf. Smith, S. 20 - 21. 35 Cf. Douglas, 130 - 131; Summers, S. 104. 36 Cf. Russell und Russell, S. 147. 580 Keith Roberts Kontrolle. Die in ihrem Innern verborgene Bestie bricht hervor und zwingt sie, gegen ihren Willen zu töten. In manchen Fällen erinnern sie sich nicht einmal daran, daß sie Werwölfe sind, während sie ihre menschliche Gestalt haben. Und es ist der Moment, da sie sich ihrer Verbrechen bewußt werden, der in den modernen Erzählungen die Sympathie des Publikums hervorruft, und nicht etwa ein Rachebedürfnis wie in mittelalterlicher Literatur. Unser Überblick zeigt, daß der Werwolf eine lange literarische Geschichte hat. Das vorgestellte Material freilich ist nur einen Bruchteil der gesamten Überlieferung. Ich habe meine Darstellung auf die Werwolf-Geschichten der bekanntesten europäischen Traditionen konzentriert, doch gibt es natürlich auch Werwolf-Mythen in anderen Teilen der Welt. Die mittelalterlichen skandinavischen Sagen und Epen sind reich an Werwölfen, und die Völsungsaga hat gar einen Werwolf zum Helden. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte diese Erzähltradition einigen Einfluß auf die Entwicklung unserer modernen Werwolf-Erzählung, und zweifellos gab es andere Sagen, die ihre Spuren hinterlassen haben. Es existieren zum Beispiel einige osteuropäische Erzählungen, die den Werwolf und den Vampir zu einer Kreatur verschmelzen. 37 Auch habe ich jene Werwolf-Mythen vernachlässigt, die vor der römischen Antike belegt sind, wie etwa die Andeutung einer Werwolf- Geschichte im Gilgamesch-Epos. 38 Unsere zugegebenermaßen kurze Untersuchung hat gezeigt, daß die Entwicklung der Werwolf-Geschichte zyklisch verlief. Höchstwahrscheinlich hat es während der gesamten schriftlichen Erzähltradition immer einen kontinuierlichen Strom von sowohl fiktionaler als auch pragmatischer Werwolf-Literatur gegeben, genau wie es vermutlich seit jeher mündlich tradierte Volksmärchen über den Werwolf gibt. Dennoch deuten die Belge, die uns zur Verfügung stehen, darauf hin, daß während des Mittelalters, als der Werwolf zum Gegenstand theologischen und naturkundlichen Interesses wurde, relativ geringes Interesse bestand, Geschichten über ihn zu schreiben. Umgekehrt scheint es sich zu bewahrheiten, daß in Zeiten, da der Glaube an die wirkliche Existenz von Werwölfen nicht verbreitet ist - etwa als der Glaube an sie als häretisch galt oder aber in der Gegenwart - die fiktoniale Literatur überwiegt. Außerdem können wir feststellen, daß jeder Zyklus sich auf die Motivauswahl zur Beschreibung des Werwolfs ausgewirkt hat. Und was mag die Zukunft dem Werwolf bringen? Es bleibt abzuwarten, in welcher Weise der Werwolf mit Hilfe der digitalen Medien eine virtuelle Existenz führen wird, die uns das Gruseln lehren möchte. 37 Diese Volksmärchen besagen in der Regel, daß ein Mensch, der ein Werwolf war, solange er lebte, nach seinem Tode zum Vampir wird. Cf. Sabine Baring-Gould, The Book of Were-Wolves (London, 1865), S. 114 f. 38 Im Gilgamesch-Epos wird erwähnt, daß Ishtar einen ihrer Liebhaber in einen Wolf verwandelte, als er ihr Mißfallen erregte. Eine Werwolf-Formel 581 Bibliographaphische Hinweise Englische Texte Artus and Gorlagon. Übers. 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Flood (London) Ich erinnere mich, wie ich als kleiner Junge - es war in den vierziger Jahren, wir lebten damals in Mittelengland - beim Zubettgehen manchmal trödelte; dann pflegten meine Eltern zu sagen: »Es ist Zeit, ins Bett zu gehen, die 9-Uhr-Pferde werden bald hier sein.« Viel bewirkt hat diese Ermahnung nicht, und ich kann mich weder daran erinnern, die »9- Uhr-Pferde« jemals gehört oder gesehen zu haben, noch, daß mir je einer erklärt hätte, was es mit diesen Pferden auf sich hatte. Heute bin ich davon überzeugt, daß es sich dabei um ein Überbleibsel der Erinnerung an die Wilde Jagd handelte. Das Phantom der Wilden Jagd oder des Wütenden Heers hat viele Namen (im Englischen heißt es »The Wild Hunt«, im Französischen »La Chasse fantastique«, auf dänisch »Odens jaeger«). Es war, und ist zum Teil noch, ein in vielen Kulturen bekanntes Phänomen. Der Mensch ist von Anbeginn ein Jäger gewesen, und die Manifestationen der Jagd in der Mythologie sind uralt. In der Bibel lesen wir von Nimrod, dem später sprichwörtlich gewordenen »tüchtigen Jäger vor dem Herrn«: »Kusch zeugte Nimrod; dieser wurde der erste Held auf der Erde. Er war ein tüchtiger Jäger vor dem Herrn. Deshalb pflegt man zu sagen: Ein tüchtiger Jäger vor dem Herrn wie Nimrod. Kerngebiet seines Reiches war Babel, Erech, Akkad und Kalne im Land Schinar. Von diesem Land zog er nach Assur aus und erbaute Ninive, Rehobot-Ir, Kelach sowie Resen, zwischen Ninive und Kelach, das ist die große Stadt.« (Genesis 10, 8 - 12) Diese Bibelstelle gibt uns Rätsel auf: unmißverständlich ist nur, daß Nimrod Herrscher ist über einen Teil Babylons und über die Stadt Babel; was es mit dem »tüchtigen Jäger vor dem Herrn« auf sich hat, bleibt verschleiert. Aller Wahrscheinlichkeit nach war Nimrod ein altbabylonischer und assyrischer Held, ein riesenhafter Jäger, nach dem Assyrien später mit »Nimrods Land« benannt wurde: »Sie werden das Land Assur mit dem Schwert regieren, Nimrods Land mit gezückter Waffe.« (Micha 5,5) Immer wieder wurde er mit dem babylonischen Helden Izdubar gleichgesetzt, oder mit Gishdubar (Gilgamesch), mit Marduk, dem babylonischen Merkur, und mit dem leuchtenden Gestirn des Orion. 1 In der arabischen Tradition lebt Nimrod als mächtiger Tyrann fort. Was die griechischen und römischen Autoren über ihn erzählen, geht mit Ausnahme einiger später hinzugefügter Elemente fast ausschließlich auf die Genesis zurück. Als Herrscher über Babylon, oder als dessen Gründer, gilt Nimrod auch als Erbauer des 1 Siehe Friedrich, Jeremias: Izdubar-Nimrod. Eine altbabylonische Heldensage. Leipzig 1891; ›Nimrod‹ in: The Jewish Encyclopaedia. Bd. 9. Neuaufl. New York; London 1925, S. 309 - 311; ›Nimrod‹ in: Pauly- Wissowa: Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Neue Bearbeitung. Bd. 33. Stuttgart 1936, Sp. 624 - 627. Skinner, John: A Critical and Exegetical Commentary on Genesis. 2. Aufl. Edinburgh 1930, reprint 1980, S. 207 - 209; van der Toorn, Karel, u.a.: Dictionary of Deities and Demons in the Bible. Leiden 1995. Zum riesenhaften Jäger Orion der Griechen, der noch in der Unterwelt auf der Asfodeloswiese seiner Beute nachjagt (Od. 11, 572), siehe auch Grimm, Jacob: Deutsche Mythologie. Bd. 2. 4. Aufl. Berlin 1876, S. 791 f. 584 John L. Flood Turms von Babel; dieser Bau habe ihn zur Gottlosigkeit verführt, so jedenfalls heißt es beim jüdischen Historiker Josephus und auch bei Augustinus. 2 So wie die Ursprünge der Figur Nimrods im Dunkeln liegen, so sind auch die Anfänge der Wilden Jagd geheimnisumwittert. Wir wissen nicht einmal, ob Nimrod und die Wilde Jagd überhaupt etwas miteinander zu tun haben. Mag sein, daß sich tatsächlich hier wie dort die Furcht vor dem mächtigen Jäger manifestiert; vielleicht aber, und das ist genauso gut möglich, sind die Ähnlichkeiten nur vordergründig. Zu tief in der Vergangenheit liegen die Ursprünge, als daß sich heute noch Antworten finden ließen. Belegt ist nur, daß zumindest in Deutschland die Erscheinung Nimrods und die Wilde Jagd tatsächlich zuweilen als identisch betrachtet wurden. 3 Schon im 9. Jahrhundert spricht Hrabanus Maurus vom »venator diabolus Nembroth«, von Nimrod, dem teuflischen Jäger; und später taucht König Nimrod in einer hessischen Volkssage als mächtiger Jäger auf, der an Weihnachten das Wütende Heer anführt; niemals würde er Ruhe finden, habe er doch einst die Jagd dem Heil seiner Seele vorgezogen. Die Geschichte geht so: »Der König Nimrod war solch ein gewaltiger Jäger, daß er darüber Alles vergaß. Als er nun auf dem Abschiede lag, galt ihm seine Seligkeit auch nicht einen Pfifferling, und da ihm unser Herrgott die Wahl ließ, ob er in den Himmel zu Ihm kommen, oder, wie sonst, seiner Jägerei nachgehen wollte, bedachte er sich nicht lange, sondern griff nach seiner alten Passion. Seitdem ist er mit all seinen Spießgesellen verflucht, und fährt um Weihnachten hin allemal mit dem wütenden Heer, unter grausamem Lärmen und Schreien, mit Rossen und Hunden über Wälder und Felder in der Luft um, und kann nimmer zur Ruhe gelangen. Darum heißt man ihn auch den ›Wilden Jäger‹, und wer’s kann, der geht ihm am Besten aus dem Wege. Sonst möchte es Einem bekommen, wie dem Hunde das Gras, man hat dafür Exempel! « 4 Diese Sage hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der in Westfalen bekannten Geschichte von Hackelberg, einem Jägersmann, der der Jagd so leidenschaftlich verfallen war, daß er auch am Sonntag nicht von ihr lassen konnte. Für dieses Sakrileg wurde er nach dem Tod samt seinem Hund dazu verdammt, auf ewig ruhelos durch die Lüfte zu jagen. 5 Wie wir noch sehen werden, wurde eine Version dieser Geschichte zur Quelle für die berühmte, von Gottfried August Bürger in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts verfaßte Ballade Der wilde Jäger. Jacob und Wilhelm Grimm glaubten, die Wilde Jagd gehe lediglich auf die Germanen zurück; sie hielten den durch die Lüfte reitenden Jäger für den germanischen Kriegsgott Wuotan, dessen Name zwar vergessen war, der aber fortlebte in der Wilden Jagd, oder, wie es in Thüringen, Hessen, Franken und Schwaben hieß, im Wütenden Heer. 6 Johann 2 Flavius Josephus: Jewish Antiquities. I, 4,2; Augustinus: De civitate Dei. 16,4. 3 Siehe ›Nimrod‹ in: Bächtold-Stäubli, Hanns: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Bd. 6. Berlin; Leipzig 1934 - 35, Sp. 1112 - 1113. 4 Bindewald, Theodor: Oberhessisches Sagenbuch. Neue vermehrte Ausgabe. Frankfurt a. M. 1873, S. 32 - 49. Bindewald führt verschiedene Geschichten zur Wilden Jagd an. Eine Vielzahl davon findet sich auch bei Neckel, Gustav (Hrsg.): Vom Altertum zum Mittelalter. Leipzig 1935, S. 47 - 50; Sagen aus dem germanischen Altertum. Leipzig 1935, S. 21 - 56; Vermischte Sagen. Leipzig 1936, S. 64 - 76. Serie Deutsche Literatur in Entwicklungsreihen. Reihe Deutsche Sagen. Alle Reprint Darmstadt 1964; ebenso bei Röhrich, Lutz: Erzählungen des späten Mittelalters. Bd. 2. Bern 1967. 5 Eine damit in Verbindung stehende Geschichte, in der Graf Eberhard von Württemberg dem Geist des ruhelosen Jägers im Walde begegnet, finden wir bei Röhrich, Lutz (Hrsg.): Gebrüder Grimm. Deutsche Sagen. Darmstadt 1965, S. 294, Nr. 309. Zu den Auslegungen der Hackelberg-Geschichte siehe Grimm (Fn. 1), S. 767 - 770. Die Wilde Jagd 585 Geiler von Kaysersberg liefert im frühen 16. Jahrhundert in seiner Emeis (Straßburg 1516), deren Titel »underweisung von den unholden und hexen und von gespenst der geist unnd von dem wütenden heer ...« verspricht, die folgende Beschreibung dessen, was im Elsaß zur damaligen Zeit im Zusammenhang mit dem »Wütischen Heer« Volksglauben war: »Also redt der gemein man daruon. Das die die vor den zeiten sterben den das inen got hat vffgesetzt / als die die in die reiß lauffen vnd erstochen werden / oder gehenckt vnd ertrenckt werden / die müssen also lang nach irem todt lauffen biß das / das zil kumpt / das inen got gesetzt hat / vnd dan so würckt got mit inen was sein götlicher wil ist. Vnd die die also lauffen die lauffen aller meist in den fronfasten / vnnd voruß in der fronfasten vor weihen achten das ist die heiligest zeit. Vnd laufft ietlicher als er ist in seinem cleid. Ein baur als ein baur. Ein ritter als ein ritter / vnd lauffen also an einem seil / vnd tregt einer das krös vor im. Der ander den kopff in der hand / vnd laufft einer vor vß. Der schreiet / flühe ab dem weg das dir gott das leben geb. Also redt der gemein man daruon.« (fol. XXXVII 1 ) Obschon das mit der Wilden Jagd assoziierte unheimliche Getöse durchaus ganz natürlich erklärbar ist - wie etwa durch Blitz und Donner, das Heulen des Windes oder das Peitschen des Regens, durch das Singen und Schreien der vorüberziehenden Schwäne und Wildgänse bei Nacht - sind die Interpretationen oft schauerlich. Es seien die Seelen ruheloser Toter und ungetaufter Kinder, die als Pferde und Hetzhunde durch die Nacht jagten, auf ewig dazu verdammt, zwischen Himmel und Erde umherzuirren. Das Bellen der gespenstischen Hunde (in England als »Gabriel’s hounds« bekannt), das die terrestrischen Hunde zum Jaulen und Heulen bringt, und das Getöse beim Erscheinen des Heers wurde oft als düsteres Vorzeichen für Tod und Verderben Einzelner oder eines ganzen Gemeinwesens gedeutet. Jacob Grimm ging davon aus, daß die Ursprünge des Wütenden Heers auf die Zeit zurückgehen, in der sich in Nordeuropa das Christentum durchzusetzen begann. Die Menschen konnten die einst alles beherrschenden heidnischen Götter nicht einfach über Nacht aufgeben: »sie [die Christen] wiesen den zum theil hartnäckig festgehaltnen nur eine andere stelle, weiter im hintergrund, an. der alte gott verlor sein zutrauliches wesen, seine nahen züge, und ging in den begriff einer finsteren, schreckenden gewalt über, welcher immer noch gewisse einwirkung verblieb. den menschen und ihrem dienste gleichsam abgestorben irrte und schwebte er in den lüften, teuflisch und gespenstig.« 7 Grimm erbringt überzeugende Beweise dafür, daß Wuotan und die Wilde Jagd in Verbindung gebracht worden sind, nicht nur in Mecklenburg, Pommern und Holstein, sondern auch in Schonen in Dänemark, wo man, wie er zu berichten weiß, den in November- und Dezembernächten von Wasservögeln verursachten Lärm »Odens jagt« (Wuotans Jagd) nennt. 8 Laut Grimm sind es die gebildeteren Gesellschaftsschichten gewesen, die in Deutschland in weiteren volkssprachigen und lateinischen Fassungen dieser Geschichte Wuotan durch den Teufel ersetzt haben. 6 Grimm: Deutsche Mythologie. Bd. 1. 4. Aufl. Berlin 1876, Kap. VII, S. 109 - 137, insbesondere S. 110 zu Wuotan. Ebenso Grimm (Fn. 1), Kap. XXXI, insbesondere S. 765 - 793 zum »wütischen Heer«. Bächtold-Stäubli, Hanns (Hrsg.) (Fn.3), Bd. 9. Berlin und Leipzig 1927 - 42, liefert dazu an verschiedenen Stellen aufschlußreiche Belege. Siehe auch Höfler, Otto: Kultische Geheimbünde der Germanen, I: Das germanische Totenheer. Frankfurt a. M. 1934; Ranke, Friedrich: Das Wilde Heer und die Kultbünde der Germanen. In: Niederdeutsche Zeitschrift für Volkskunde 18. 1940. 7 Grimm, (Fn. 1), S. 766. 8 Grimm, (Fn. 1), S. 766. 586 John L. Flood Wäre indessen Grimms These richtig, so hätte sich die Bekanntheit des Wilden Heers auf das Gebiet der Germanen beschränken müssen, denn Wuotan war ausschließlich den germanischen Stämmen bekannt. Wollen wir Tacitus glauben, der im Zusammenhang mit den nächtlichen Raubzügen der Harii, einem nordostgermanischen Stamm, schon in seiner Germania, ca. 43, vom »umbra feralis exercitus«, dem Schatten eines teuflischen Heers 9 , spricht, so tauchte das Phänomen schon im ersten nachchristlichen Jahrhundert auf; dennoch ist es höchst unwahrscheinlich, daß dessen Ursprünge dort zu finden sind, denn wie wir bereits wissen, haben schon die alten Griechen und die Völker des Alten Testaments den Mythos des Jägers gekannt. Als um die Mitte des 19. Jahrhunderts die religiösen Vorstellungen der verschiedenen indo-europäischen Völker genauer erforscht wurden, war Grimms These bald endgültig widerlegt: es steht fest, daß sich die Wilde Jagd weder auf die Vorstellungswelt der Germanen, noch auf diejenige der indoeuropäischen Völker beschränkte: der geisterhafte Jäger, der in stürmischen Nächten durch die Lüfte braust, ist in vielen Kulturen rund um die Welt bekannt. Indessen sind alle Versuche, die Urvorstellung zu rekonstruieren, zum Scheitern verurteilt. Hans Plischke mißt der Arbeit von W. Schwartz große Bedeutung zu; Schwartz schreibt in seinem Essay Der heutige Volksglaube und das alte Heidentum 10 , daß wir es hier nicht mit einem Volksglauben zu tun haben, der Mythen und Götter verfälscht, sondern daß vielmehr die Mythen und Götter dem Volksglauben entsprungen sind. Bei der Wilden Jagd geht es seiner Meinung nach um den Eindruck, den Sturm und Gewitter bei den indo-europäischen Völkern hinterlassen haben. Der eigentliche Wilde Jäger, der hinter einem Eber herjagt, Symbol für Blitz und Wind, oder eine Frau, eine Windsbraut, zum Opfer hat, ist der Sturm. Der Pferdefuß, den er herniederschmettert, steht für den Blitz, und der das Heer begleitende rollende Wagen für den Donner. Laut Schwartz sind es die Naturerscheinungen, aus denen Wuotan, der in der Legende von der Wilden Jagd fortlebt, geboren wurde. Bei Jacob Grimm finden wir einen aufschlußreichen Überblick über die in den verschiedenen Regionen Deutschlands im 19. Jahrhundert gängigen Versionen der Sage. Hier ein typisches Beispiel aus dem Harz: »Am Harz braust die wilde jagd den Eichelberg vorüber mit hoho und hundegeklaf. Als ein kecker zimmermann sein hoho hinterdrein rief, fiel ein schwarzer klumpen durch den schornstein auf den heerd, daß funken und brände den leuten um die köpfe stoben. eine große pferdelende lag auf dem heerd und jener zimmermann war todt. 11 Der wilde jäger reitet auf schwarzem kopflosem pferde, eine hetzpeitsche in der einen, ein hifhorn in der andern hand; das gesicht sitzt ihm im nacken und zwischen dem blasen ruft er hoho! hoho! vor und hinter ihm sind weiber, jäger und hunde in menge. Einigemal soll er aber auch gütig erscheinen und verirrte im wald mit trank und speise laben.« 12 9 Zu den Schwierigkeiten bei der Auslegung dieser Passage siehe Much, Rudolf: Die Germania des Tacitus. 2., von Richard Kienast überarbeitete Aufl. Heidelberg 1959, S. 383 f. 10 Schwartz, W.: Der heutige Volksglaube und das alte Heidentum. Praehistorisch-anthropologische Studien. Berlin 1884; siehe Plischke, Hans: Die Sage vom wilden Heere im deutschen Volke. Diss., Leipzig 1914, S. 5 - 6. 11 Bei den Gebrüdern Grimm (Fn. 5), S. 196, Nr. 173, finden wir eine in Münster mündlich überlieferte Version, in der ein Schneider bewußtlos geschlagen wird. Weitere Manifestationen siehe S. 269, Nrn. 270 und 271. 12 Grimm, (Fn. 1), S. 774. Die Wilde Jagd 587 Wir sehen, daß die mannigfaltigen Erscheinungsformen der Wilden Jagd zu umfassend und vielschichtig sind, als daß sie sich hier erschöpfend analysieren ließen. Stith Thompson listet das Thema in seinem Motif-Index unter Nr. E 501 auf; die verschiedenen Unterkategorien zeigen, wie umfassend und facettenreich das Material ist. 13 Es sei darauf hingewiesen, daß sich die bei Thompson aufgeführten Einzelheiten wesentlich auf die Arbeit von Hans Plischke und Valentin Schweda stützen. 14 Thompson zerlegt das Material in folgende Kategorien: - Anführer der Wilden Jagd: Könige, Adlige, reiche Leute, Waldbewohner, Heilige, historische und erfundene Helden, Frauen (z. B. Herodias, Artemis, Hecate) (E 501.1.). - Übrige Teilnehmer der Wilden Jagd: Ritter, Edelfrauen, Hexen, Kurtisanen, Kirchenleute, Soldaten, ungetaufte Kinder (E 501.2.). - Ursache der Wilden Jagd: Sünde, Grausamkeit, Selbstmord, Brudermord, Tod ohne vorgängige Beichte, Nicht-Einhaltung des Fastens, übertriebene Jagdlust, Störung des Gottesdienstes, etc. (E 501.3.). - Tiere, die mit der Wilden Jagd assoziiert werden: Hunde, des Jägers Pferd, Eber, Säue, Raben, Eulen (E 501.4.). - Die verfolgten Opfer der Wilden Jagd: Frauen (Jungfrauen, Huren, Hexen); Feen, Waldgeister, ungetaufte Kinder, Hasen, Hirsche (E 501.5.). - Vorankündiger der nahenden Wilden Jagd (E 501.6.). - Äußere Erscheinungsmerkmale des Anführers der Wilden Jagd: ohne Kopf, mit einem Hirschkopf, mit einem nach hinten verdrehten Kopf, mit dem Schädel unter dem Arm, mit herabhängenden Eingeweiden, leuchtend, feuerspeiend, mit Feueraugen, eine Feuerspur hinter sich herziehend, langhaarig (E 501.7.). - Kleidung der Wilden Jäger: schwarz, rot oder weiß, historische Kostüme (E 501.8.). - Der unsichtbare Wilde Jäger (E 501.9.). - Gegenstände im Zusammenhang mit der Wilden Jagd: Schuhe, ausrangierte Besen, Wagen (E 501.10.). - Erscheinungszeiten der Wilden Jagd: nachts, um Mitternacht, vor dem ersten Hahnenschrei, in der Johannisnacht, in stürmischen Nächten, im Winter, zwischen Weihnachten und Dreikönig, an Feiertagen, in regelmäßigen Zeitabständen, alle sieben Jahre, jährlich (E 501.11.). - Erscheinungsort der Wilden Jagd: im Wald, in Kirchhöfen, an Wegkreuzungen, in der Nähe von Gewässern, auf einem Hügel oder Berg, draußen im Feld, auf einem ehemaligen Schlachtfeld, an einem entlegenen Ort, bei einer Burg, über einer Stadt, in der Nähe einer Mühle (E 501.11.). - Begleiterscheinungen der Wilden Jagd: Ankündigung durch Lärm oder eine Detonation, Rasseln von Ketten, das Aufeinanderschlagen von Schwertklingen, Glocken- 13 Thompson, Stith: Motif-Index of Folk-Literature. 2. Aufl. Kopenhagen 1955 - 58. 14 Plischke, (Fn. 10); Schweda, Valentin: Die Sagen vom wilden Jäger und vom schlafenden Heer in der Provinz Posen. Diss., Greifswald Gnesen 1915. Siehe auch Brüstle, Hans (Hrsg.): Das wilde Heer. Die Sagen Baden-Württembergs. Freiburg i. Br. 1977; Endter, Alfred: Die Sage vom wilden Jäger und von der wilden Jagd. Diss., Frankfurt a. M. 1933; Meisen, Karl: Die Sage vom wütenden Heer und Wilden Jäger. Volkskundliche Quellen, 1. Münster 1935; von Bonomi, Eugen: Die Sage vom Wilden Jäger und von der Wilden Jagd in der Umgebung von Ofen. Südostdeutsche Forschungen, 1. München 1936. 588 John L. Flood klang, Musik, das Trampeln oder Wiehern von Pferden, Hundegebell, Rufe von Jägersleuten, Sturm, Feuer (E 501.13.). - Kurs der Wilden Jagd: durch die Lüfte, in eine bestimmte Richtung, um einen Hügel herum, rund um die Erde, durch Häuser hindurch (E 501.14.). - Gebaren des Wilden Jägers: er stößt ins Horn; schlägt sein Pferd; läßt sich von anderen auf deren Rücken tragen und bezahlt sie dafür mit Blättern oder Holzspänen, die sich in Gold verwandeln; läßt seinen Wagen vom Schmied reparieren; fordert Menschen auf, seine Hunde festzuhalten; hetzt seine Hunde auf Menschen; die Hunde des Wilden Jägers bringen andere Hunde in Aufruhr; etc. (E 501.15). - Phänomene beim Verschwinden der Wilden Jagd: großer Lärm, Baumwipfel neigen sich, Windböen, Feuersäulen (E 501.16.). - Besiegen/ entrinnen: gegenüber gewissen Menschen, wie Kirchenleuten oder Hirten, ist die Wilde Jagd machtlos; ebenso an Wegkreuzungen oder aus einer gewissen Entfernung; die von ihr ausgehende Gefahr wird gebannt durch Gebet, Sprüche, Opfer, Schweigen; man kann ihr entrinnen, indem man strikt auf dem eigenen Weg bleibt, ihr ausweicht, im Haus bleibt, sich auf den Boden wirft, einen Kreis um sich zieht, indem man Brot oder eine bestimmte Pflanze in Händen hält, sich einen Finger in die Ohren steckt; der Wilde Jäger wird durch Opfergaben oder die Darbringung von Nahrungsmitteln besänftigt (E 501.17.). - Was geschieht, wenn man sich der Wilden Jagd entgegenstellt: für Spötter, Diebe und Neugierige geht es bös aus; die Jagd wirft mit Menschenfleisch oder einem Pferdefuß nach den Zuschauern; sie nimmt Menschen mit sich fort, wirft sie zu Boden, treibt sie zum Wahnsinn, blendet sie, verursacht ein Anschwellen des Kopfes, treibt sie an, sich mit einer Axt oder einem Messer selbst zu verwunden oder bringt sie eigenhändig zu Tode (E 501.18.). - Heilmittel für die Versehrtheit jener, die die Wilde Jagd mit eigenen Augen gesehen haben: erneutes Gegenwärtigsein beim Erscheinen der Wilden Jagd an derselben Stelle ein Jahr später; Bitte an den Wilden Jäger um Salz oder Petersilie oder um einen Teil der Beute; Verspeisung des vom Wilden Jäger herniedergeschmetterten Fleisches; Gebet (E 501.19.). - Die Wilde Jagd als Omen: für Krieg, Seuche, Überfluß, Wetter (E 501.20.). 15 Da es nicht möglich ist, hier auf alle diese Aspekte einzeln einzugehen, werde ich mich auf einige wenige beschränken, mit Blick vornehmlich auf Deutschland und Beispiele literarischer Quellen aus verschiedenen Epochen. Eine der interessantesten Fragen im Zusammenhang mit der Wilden Jagd ist jene nach deren Anführer. Ich werde mein Augenmerk hier lediglich auf eine oder zwei der zur Debatte stehenden Figuren richten. Gervase of Tilbury (ca. 1211) schreibt die Rolle König Artus zu und berichtet, wie dieser mit seinem Heer bei Mondschein in den Wäldern zu sehen ist. Auch bei Etienne de Bourbon lesen wir, daß eines Nachts im Mondenschein ein Holzfäller in Savoyen auf eine große Jagdpartie gestoßen sei, die von sich behauptet habe, zu Artus’ Hof zu gehören. 16 Die ländliche Bevölkerung von Cadbury Cast- 15 Einen interessanten Fall aus der jüngeren Geschichte, demzufolge im Juli 1914 der Ausbruch des Ersten Weltkriegs vorausgesagt wurde, finden wir erwähnt bei Petzoldt, Leander (Hrsg.): Historische Sagen, II: Ritter, Räuber und geistliche Herren. München 1977, S. 24, Nr. 320 c. Die Wilde Jagd 589 le in Somerset in England will gehört haben, wie der König und seine Hunde in rauhen Winternächten durch die King Arthur’s Lane jagten. 17 Ein solcher Volksglaube ist auch im Schottland des 16. Jahrhunderts belegt, und in Frankreich begegnen wir ihm mancherorts noch bis ins 19. Jahrhundert hinein. Ein Mosaik in Otranto aus dem Jahr 1165 stellt König Artus rittlings auf einer Ziege dar; das sonderbare Bild von einem König aus der Unterwelt, der als Zwerg auf einer Ziege reitet, finden wir auch in einem Volksmärchen aus dem Jahr 1181 bei Walter Map. 18 Vielleicht, daß diese phantastischen Vorstellungen etwas zu tun haben mit dem alten Motiv des durch böse Mächte entführten Helden. Auch dem 526 verstorbenen Ostgoten König Theoderich wird die Rolle des Wilden Jägers zugewiesen. 19 In vielen, vor allem kirchlich inspirierten Legenden und in der Gestalt des Dietrich von Bern, in der wir ihm in der mittelalterlichen deutschen Literatur begegnen, wird Theoderich wiederholt mit der Jagd, insbesondere mit der Wilden Jagd, in Zusammenhang gebracht; Grimm hat unzweifelhaft recht mit seiner Vermutung, daß es sich beim niederländischen Unhold Derk met den beer, der im Gedächtnis der Menschen noch bis ins 20. Jahrhundert weiterlebte, um Dietrich von Bern handelte. 20 Es lohnt sich, die Verbindung von Theoderich-Dietrich mit der Wilden Jagd etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Zur Entstehung des Volksglaubens an Theoderichs Entführung auf dem Rücken eines Pferdes mögen die auch in der germanischen Welt bekannten Reiterstandbilder in Rom, Verona, Ravenna, Pavia beigetragen haben. 21 Es ist auffallend, daß der berühmte Runenstein von Rök in Schweden von Theoderich als Reiter auf dem Rücken eines Pferdes spricht; vielleicht, daß dies eine Anspielung ist auf eines jener Standbilder, von denen sehr wohl Kunde nach Skandinavien gelangen konnte. 22 Es gibt aber, wenn auch scharf umstrittene, Interpretationen, wonach die Inschrift auf die Figur Odins anspielt, der als Wilder Jäger oder als Herr eines Totenheeres jedermann, der seinen Geist beschwört, zur Rache verhilft. 23 Demgegenüber läßt die ca. 1145 verfaßte Chronik des Otto von Freising kaum Zweifel offen: diese erzählt von einem Volksglauben in Deutschland, demzufolge Theoderich zu Pferde sitzend in die Hölle geritten sei. 24 Diese Geschichte taucht auch in der von deutschen Quellen inspirierten, im 13. Jahrhundert verfaßten norwegischen Thidrekssaga wieder auf. Sie erzählt, wie Thidrekr einst, als er im Bade saß, vom Ausruf eines 16 Chambers, E. K.: Arthur of Britain. London 1937, S. 278. »La chasse Artu« war in Frankreich bereits im 12. Jahrhundert bekannt. 17 Snell, F. J.: King Arthur’s Country. London und New York 1926, S. 52 - 53; Thompson, (Fn. 13), Motif- Ind ex E 501.11.1.4. 18 Siehe Funk & Wagnalls Standard Dictionary of Folklore, Mythology, and Legend. Hrsg. von Maria Leach. London 1973, S. 77. 19 Siehe Flood, John L.: Dietrich von Bern. In: Mittelalter-Mythen, Bd. 1: Herrscher, Helden, Heilige. Hrsg. von Ulrich Müller und Werner Wunderlich. St. Gallen 1996, S. 287 - 303. 20 Grimm, (Fn. 1), S. 782. 21 Siehe Stammler, Wolfgang: Wort und Bild. Studien zu den Wechselbeziehungen zwischen Schrifttum und Bildkunst im Mittel alter. Berlin 1962, S. 52. Zu den Standbildern selbst S. 48 f. 22 Stammler, (Fn. 21), S. 48f. 23 Höfler, Otto: Germanisches Sakralkönigtum, I: Der Runenstein von Rök und die germanische Individualweihe. Tübingen, Münster, Köln 1952; Höfler, Otto: Der Rökstein und die Sage. In: Arkiv för nordisk filologi 78. 1963, S. 1 - 121. Siehe Wessén, E.: In: Arkiv för nordisk filologi 79. 1964, 12, Anm. 1; Schwarz, Hans: Wort und Werk. Aufsätze zur deutschen Wortgeschichte, zur Wortfeldtheorie und zur Runenkunde. Münster 1993, S. 207; ebenso die bei Schwarz auf S. 197, Anm. 1 zitierte Literatur. 590 John L. Flood seiner Diener aufgeschreckt wurde: »Herr, ich sehe einen Hirsch, so groß und prächtig, wie ich nie zuvor einen gesehen habe! « Alsogleich befiehlt der König, sein Pferd und seine Hunde zur Jagd bereitzustellen. Als ihm seine Diener zu langsam sind, schwingt er sich auf ein plötzlich erscheinendes, riesenhaftes schwarzes Pferd. Zu spät merkt der König, daß es kein gewöhnliches Pferd ist, auf dem er reitet. Seine Diener rufen ihm nach, wann er wiederkomme, und Thidrekr ruft zurück, er reite wohl auf dem Teufel, aber er werde wiederkommen, falls Gott und die Heilige Jungfrau es wollten. 1466 bringt der Böhme Leo von Rozmital in seinem Reisebericht eine ähnliche Überlieferung aus Verona mit: Unterhalb der Burg zu Verona pflegte Theoderich am Fluß zu baden. Es wird berichtet, daß ihm dabei eines Tages wilde Tiere begegneten, worauf er unverzüglich auf sein Pferd gestiegen und zur Jagd aufgebrochen sei. Hernach habe ihn keiner mehr gesehen, und bis auf den heutigen Tag wisse niemand, wo er hingekommen. 25 Auch der Ulmer Humanist Heinrich Steinhöwel berichtet in seiner Tütsche Cronica von 1473, Dietrich »sye vff dem pferd siczend lebendig in die hell gerant« (Bl. 10 v ) . In einer im frühen 16. Jahrhundert gedruckten Ausgabe des Wunderer heißt es, daß Dietrich von einem teuflischen Pferd in die »wüste rumanyag« entführt wurde, wo er bis zum Jüngsten Tag mit Drachen und Lindwürmern zu kämpfen habe: »Darumb er wart berürte/ mit eynem roß vnreyn/ vnnd ward dohyn gefürte/ jn die wüst hyneyn/ do hyn do müst er reiten in die wüste rumanyag mit würmen müß er streiten/ biß an den jüngsten tag.« 26 Die Schluß-Strophe versichert uns, daß mittlerweile außer Dietrich alle Helden umgekommen sind: »der ist bei leben doch vnd strit so krefftigliche/ mit den würmern noch.« (215, 6 - 8) So also gelangt Theoderich-Dietrich in die Reihe jener Helden, deren mysteriöser Tod nur als vorübergehendes Verschwinden von der Bildfläche, als Entrückung, begriffen wurde - König Artus 27 , Kaiser Barbarossa, Sir Francis Drake, und aus jüngerer Zeit der 24 Otto führt aus, daß der Volksglaube, demzufolge Theoderich lebendigen Leibes hoch zu Roß in die Hölle geritten sei (»Hinc puto fabulam illam traductam quo vulgo dicitur, Theodoricus vivus equo sedens ad inferos descendisse«), seinen Ursprung im Bericht Gregors des Großen habe, wonach Theoderich nach seinem plötzlichen Tod durch Papst Johann I. und Symmachus in den Schlund des Ätna hinabgestoßen worden sei. MGH, Scriptores. Bd. 20. Hannover 1868, S. 215, Z. 45 - 46. 25 Siehe Letts, Malcolm: The Travels of Leo of Rozmital through Germany, Flanders, England, France, Spain, Portugal and Italy 1465 - 1467. Cambridge 1957, S. 150. 26 Zink, Georges (Hrsg.): Le Wunderer. Fac-similé de l’édition de 1503. Bibliothèque de philologie germanique, 14. Paris 1949, Str. 131. 27 In Thomas Malorys Morte d’Arthur heißt es zum Beispiel, daß es in verschiedenen Gegenden Englands Menschen gab, die glaubten, daß Arthur »was had by the will of our Lord Jesus into another place« und daß er wiederkommen würde und »would win the holy cross«. Die Wilde Jagd 591 britische Soldat Lord Kitchener, der 1916 bei der Versenkung des Kriegsschiffs »Hampshire« sein Leben verlor. Eines Tages würde ein jeder wiederkommen, um seinen bedrängten Landsleuten beizustehen. Vor allem in Verona wurde Theoderich im Mittelalter mit geisterhaften Pferden in Verbindung gebracht. Leo von Rozmitals Bericht kennen wir bereits. Beim berühmten Relief aus dem 11. Jahrhundert am Portal von San Zeno lesen wir folgende Inschrift: »O regem stultum petit infernale tributum / moxque paratur equus quem misit demon iniquus / exit aquam nudus: petit infera non rediturus« und »Nisus equus ceruus canis huic datur. hos dat auernus.« 28 Das Relief zeigt einen Reiter, der ins Horn stößt, mit wehendem Mantel und einem Köcher um die Schulter; zu seiner Rechten ein von Hunden verfolgter Hirsch, der in Richtung eines Tores flieht, wo eine Figur steht mit zwei Hörnern am Kopf und einem Dreizack in der Hand. Obwohl der König, von dem hier die Rede ist, nicht beim Namen genannt wird, besteht wenig Zweifel, daß es sich um Theoderich handelt, denn es sind alle Merkmale vorhanden, die wir auch aus den literarischen Quellen kennen: das Bad, die von der Hölle ausgesandten Tiere und Theoderichs Verschwinden ohne Wiederkehr. Stammler ist nicht der einzige, der glaubt, daß auch das große Jagdbild an der nördlichen Außenwand des Schlosses Hocheppan in Südtirol - es entstand zwischen 1150 und 1180 - eine Darstellung von Dietrichs Höllenritt ist. 29 Ein weiteres Zeugnis aus Verona finden wir bei dem von Höfler zitierten Veroneser Diakon Giovanni; in seinen Historiae imperiales des frühen 14. Jahrhunderts heißt es von »theodoricus, quem ueronenses appellant diatricum«, daß er »per siluas adhuc de nocte uenari dicitur et persequi nimphas«. 30 Diese Geschichte widerhallt bei Boccaccio, der in der achten Geschichte des fünften Tages seines Dekameron erzählt, wie eine grausame Schöne dem Jäger zur Beute wird. 31 So wie mit der »wüste rumanyag« im Wunderer vielleicht die Romagna gemeint ist, so spielt sich bezeichnenderweise auch diese Dekameron- Erzählung in Ravenna ab, »einer sehr alten Stadt in der Romagna«, die bekanntlich auch 28 »Der törichte König sucht ein höllisches Tribut, und bald erscheint ein Roß, das der üble Teufel schickt; er entsteigt dem Wasser nackt; er sucht die Hölle und wird nicht wiederkehren« und »Ein eilendes Roß, ein Hirsch, ein Hund werden ihm gegeben - die Hölle schenkt sie.« Zu den Reliefs am Portal von San Zeno siehe Moschetti, A.: Per la Caccia di Teoderico sulla facciata del S. Zeno di Verona. Mélanges offerts à M. Emile Picot. Paris 1913. Bd. 2. S. 547 - 556; und Schröbler, Ingeborg: Ikonographische Bemerkungen zur Komposition der Vorauer Bücher Mosis und zu bildlichen Darstellungen der Rolandssage. In: Zeitschrift für deutsches Altertum 100. 1971, S. 250 - 269, insbesondere S. 266 - 269. Die Reliefs sind dort unter VII und VIII abgebildet. 29 Stammler, (Fn. 21), S. 53. Stammler erwähnt im weiteren Weingartner, J.: Kunstdenkmäler Südtirols. Bd. 3. Wien 1922, S. 276; Garber, J.: Die romanischen Wandgemälde Tirols. Wien 1928, S. 71f.; von Lutteroth, O.: Große Kunstwerke Tirols. Innsbruck 1951, Abb. 9. Zu weiteren bildhauerischen Werken (z.B. in Mödling bei Wien, Kleebronn in Württemberg und Remagen im Rheinland), die vielleicht Dietrich darstellen, siehe Stammler, S. 53f. Eher unwahrscheinlich ist Stammlers Annahme, daß es sich bei einer der Relieffiguren am Taufbecken zu St. Bartholomäus in Lostwithiel in Cornwall um eine Darstellung Dietrichs handelt (S. 54 und Abb. 6); Pevsner, Nikolaus: The Buildings of England: Cornwall. Überarbeitet von Enid Radcliffe. 2. Aufl. Harmondsworth 1970, S. 107, Abb. 28, überschreibt die Szene einfach mit »Jäger und Habicht«, fügt jedoch hinzu, der Stil der Reliefs sei von weltstädtischem Charakter, und man müsse sich wohl vergegenwärtigen, daß Lostwithiel im 13. Jahrhundert Hauptstadt von Cornwall und also Besitz Richards von Cornwall, Anwärter auf den Kaiserthron, gewesen sei. 30 »Theoderich, den die Veroneser Dietrich nennen, soll immer noch nachts durch die Wälder jagen und Waldfräulein verfolgen.« Höfler, Otto: In: Arkiv för nordisk filologi 78. 1963, S. 29. Höfler bespricht die zahlreichen Anspielungen auf Theoderich in Verbindung mit höllischen Pferden ausführlich auf S. 25-46. 592 John L. Flood einer der wichtigsten Stützpunkte Theoderichs war. Die Gechichte erzählt vom wohlhabenden jungen Nastagio degli Onesti, dessen Liebe zu einer Edelfrau aus der Familie der Traversari abgewiesen wird. Von seinen Freunden angehalten, aus Ravenna fortzugehen, zieht er sich zurück auf seine Besitzung Chiassi drei Meilen vor der Stadt. Dort hört er, als er eines Frühlingstages versonnen durch die Wälder geht und an seine Geliebte denkt, die Stimme einer laut um Erbarmen rufenden Frau; von einem Jäger verfolgt und mit dem Tod bedroht, von Jagdhunden gehetzt und zerrissen, stürzt sie nackt aus dem Gestrüpp hervor. Als sich Nastagio dem Jägersmann entgegenstellt, erklärt ihm dieser, wie er sich aus Verzweiflung über eine verschmähte Liebe selbst getötet habe: »wofür ich zu ewiger Verdammnis verurteilt bin. Meine Geliebte hatte mit Wonne auf mein Verderben geschaut, aber bald nach meinem Tod starb auch sie und wurde wegen ihrer Sündhaftigkeit und ihrer boshaften Schadenfreude zu den Qualen der Hölle verdammt. So muß sie ewig vor mir fliehen, und ich muß sie jagen wie einen Todfeind. Sooft ich sie einhole, durchbohre ich sie mit demselben Dolch, mit dem ich mich selbst einst tötete, und reiße ihr das grausame Herz, das weder Liebe noch Mitleid kennt, samt allen Eingeweiden aus dem Leib und werfe es den Hunden zum Fraße vor. Doch schon kurz darauf steht sie nach Gottes Willen wieder auf den Beinen, als sei nichts geschehen, und die entsetzliche Hetzjagd beginnt von vorn. An jedem Freitag zu dieser Stunde hole ich sie hier an dieser Stelle des Waldes ein und töte sie, wie du es nun mit eigenen Augen sehen wirst. ... Tritt also zur Seite und laß mich tun, was ich nach Gottes Willen tun muß. Versuche nicht, dich gegen das Unabänderliche aufzulehnen.« Bald darauf lädt Nastagio Verwandte und seine Angebetete zu einem Bankett ein, und zwar an genau den Ort, wo sich das grausige Schauspiel jeden Freitag wiederholt. Unter dem Eindruck dessen, was sich nun vor den Augen der ganzen geladenen Gesellschaft abspielt, wird die Traversaro gewahr, welch entsetzliches Schicksal ihr droht, und sie willigt ein, Nastagio zum Mann zu nehmen. Boccaccio bemerkt zudem, daß die Ereignisse noch einen weiteren positiven Effekt hatten, daß nämlich die Mädchen von Ravenna von Stund an bereitwilliger auf die Wünsche der Männer eingingen. 32 Hans Sachs (1494 - 1576) hat diese Geschichte gleich zweimal bearbeitet: in einem Spruchgedicht vom 6. September 1540 33 und in einem Meisterlied 34 ; der Verbindung zu Theoderich scheint er sich allerdings nicht bewußt gewesen zu sein, und wie die folgenden Ausschnitte zeigen, ist es ihm kaum gelungen, dem blutigen Grauen der Szene Ausdruck zu verleihen: »Herlauffen sach er inn der wild Ein muter-nackat frawen-bild 31 Siehe Nielson, A.: The Purgatory of Cruel Beauties. In: Romania 29. 1900, S. 85 - 93; and Röhrich, Lutz: Die Frauenjagdsage. In: Laographia 22. 1965. S. 408 - 423. Zur Behandlung des Themas in der deutschen Dichtung des Mittelalters siehe Flood, John L.: Dietrich von Bern and the human hunt. In: Nottingham Mediaeval Studies 17. 1973, S. 17 - 41; ebenso Plassmann, O.: Dietrich von Bern als Wilder Jäger. In: Germanien 12. 1940. 32 Siehe Boccaccio, Giovanni: Das Dekameron. Berlin, Weimar 1978, S. 453 - 459. 33 Siehe von Keller, Adelbert (Hrsg.): Hans Sachs. Werke. Bd. 2. Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart, 103. Tübingen 1870, S. 245 - 50. 34 Siehe Brunner, Horst u. a.: Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts. Bd. 9. Tübingen 1986, Nr. 1559 b. Die Wilde Jagd 593 Mit goldfarbem zerstrewtem har. ir leib aller zerrissen war Von dörnern, uberal verwund. Neben ir loffen zwen jaghund, Die ihr stäts lagen in den seyten. Nach ir sach er ein ritter reyten Auff eynem gantz kolschwartzen pferd Grimigklich mit gezucktem schwerdt, Der ir zu nemen gert den leib. Waynend so schrie das ellend weib Umb hilff und rettung: also fast Der edelman erwischt ein ast Fürloff den weg und redt ihn an: Diß steet nicht zu eym edlen man, Ein nackat weibes-bild zu hetzen An ehren noch an leib zu letzen (246, 16 - 33) [...] Der jüngling wich, erschluchset gar, Gen berg im stunden alle har, Die erschröcklichen that zu schawen Inn dem fielen beyd hund der frawen Inn ihre diech, hieltens mit grim. Sie waynt und begert gnad von ihm. Er aber durchstachs mit dem schwerdt, Das sie sanck nider zu der erd. Darnach auff schnit er dieses weib Und reiß herauß von ihrem leib Ir hertz sampt allem ingewayd. Das warff er für die hund allbayd. Die frassens als die grimmen löwen. Nach dem thet sich das weib aufheben Und loff widerumb ein gehn holtz. Ir henget nach der ritter stoltz Mit sein hunden ...« (247, 38 - 248, 15) Gemäß Punkt E 501.5.1 bei Stith Thompson »Der Wilde Jäger verfolgt eine Frau« gehören zur Ausgangslage drei Personen: der Jäger, die Gejagte und ein Zeuge, wobei in der Volksdichtung dem Zeugen meist eine untergeordnete Rolle zukommt. In der Geschichte der Verfolgung der Heiligen Walpurgis zum Beispiel ist der Zeuge ein Bauer, der sich einfach vor Schreck auf den Boden wirft 35 , und bei Boccaccio hält sich Nastagio, obwohl er das Mädchen anfänglich retten will, aus der Sache heraus, nachdem er sich die Erklärung des Jägers angehört hat. Er steht tatenlos daneben, als dem Mädchen Herz und Eingeweide aus dem Leib gerissen werden. Die mittelalterliche Dietrich-Dichtung hingegen besingt den Helden immer wieder als Befreier einer Frau aus der Gewalt eines monströsen Verfolgers; zum Beispiel im Wunderer , auch in Goldemar und in den verschiedenen Fassungen von Virginal . 36 Es sieht ganz so aus, als käme hier Dietrich die Rolle des Er- 35 Neckel, (Fn. 4), Vermischte Sagen. S. 76. 36 Siehe dazu Flood, (Fn. 19). 594 John L. Flood retters vor der Wilden Jagd zu, ganz entgegen der kirchlichen Absicht und Tradition, die ihn selbst zum Wilden Jäger gemacht hat. Hier spielt also der Zeuge eine viel wichtigere Rolle als in der Volksdichtung: es ist Dietrichs Aufgabe, der Hetzjagd ein Ende zu machen und das Opfer zu retten; das heißt, die ursprüngliche Ausgangslage der Volksdichtung wurde höfisch angepaßt: im Wunderer beispielsweise wird Dietrich zum Fürsprecher der mißhandelten Frau, die sich weigert, ihren Peiniger zu heiraten. Zwar hat das Motiv der Jagd, das wir bei Boccaccio und in der Dietrich-Dichtung finden, seinen Ursprung in der Volkssage, aber in dessen Verwendung besteht ein signifikanter Unterschied: was dort nämlich ausschließlich in der Dämmerung oder nachts vonstatten geht, geschieht hier am hellichten Tag. 37 Nastagio erlebt das Unfaßbare »uno venerdi quasi all’entrata di maggio, essendo un bellissimo tempo« (»an einem Freitag Anfang Mai, bei schönstem Wetter«). Ähnlich in Dietrichs erste Ausfahrt, wo Hildebrand das gepeinigte Opfer bald nach Tagesanbruch findet. Und im Wunderer wird, obwohl keine der Fassungen genaue Angaben zur Tageszeit des Geschehens macht, zumindest der Eindruck vermittelt, die Frau und ihr Verfolger seien bei Tage am Hofe Etzels eingetroffen; es heißt nämlich, man habe Wunderer kommen sehen. Laut Lutz Röhrich begegnet uns der früheste Beleg der Sage vom gejagten Menschen in De cognitione sui des Heliandus von Froidmont (ca. 1156 - 1229). 38 Vom Wilden Jäger verfolgte Frauen finden wir auch in Speculum historiale, XXIX, 120, des 1264 verstorbenen Vincenz von Beauvais. Die erste Bamberger Ausgabe des Ackermann aus Böhmen (ca. 1463) enthält einen Holzschnitt (Bl. 10 r ), der den Tod nicht nur in seiner üblichen Gestalt als Schnitter zeigt, sondern auch als Reiter auf einem Pferd, der hinter einem Menschen her ist. 39 Noch dramatischer ist der Holzschnitt in Le grant Kalendrier (Troyes: Nicolas le Rouge 1496) 40 , auf dem der Tod auf seinem Schlachtroß samt Pfeil und Sarg aus der Hölle stürzt und sein Recht auf die Menschen geltend macht. Solche Bilder dürfen wohl eindeutig in Verbindung gebracht werden mit dem Tod als einem der vier Reiter in der Offenbarung des Johannes: »Da sah ich ein fahles Pferd; und der, der auf ihm saß, heißt der Tod; und die Unterwelt zog hinter ihm her. Und ihnen wurde die Macht gegeben über ein Viertel der Erde, Macht, zu töten durch Schwert, Hunger und Tod und durch die Tiere der Erde.« (Offb 6,8) Das Motiv des Höllenritts ist weit verbreitet. Besonders interessant hierzu das folgende Beispiel aus Cornwall: »Dando, der einst lebensfrohe, überaus nachsichtige Priester aus Cornwall, wurde zum wohlhabenden, leichtlebigen und selbstsüchtigen Mann. Er war ein leidenschaftlicher Jäger. Eines Sonntagmorgens nach einer langen Jagd machte er mit seinen Gefährten Halt und verlangte zu trinken. Aber alle Flaschen waren leer. Das reizte ihn zum Zorn und er rief aus, ein jeder 37 Siehe z. B. die bei Röhrich (Fn. 5) abgedruckten Geschichten aus mündlicher Überlieferung: in Nr. 11 fand das Ereignis »In der Nacht ...« statt; in Nr. 12 »eines Abends«; in Nr. 13 »schon spät abends«; in Nr. 14 »alle Nacht in den Zwölften«; in Nr. 15 »des Nachts«; und in Nr. 16 um »Mitternacht«. Ähnlich die gelehrten schriftlichen Aufzeichnungen: Röhrich Nr. 1 (Heliandus von Froidmont, ca. 1156 - 1229) »nocte quadam«; und Nr. 2 (Caesarius von Heisterbach) »nocte sequenti longe ante lucem, luna splendente«. 38 Migne, J.-P.: Patrologia Latina. Bd. 212, Sp. 734. Siehe Röhrich, (Fn. 31), Die Frauenjagdsage. S. 413. 39 Der Holzschnitt ist reproduziert in Lehner, Ernst und Johanna: Picture Book of Devils, Demons and Witchcraft. Dover Pictorial Archive. New York 1971, S. 118, Nr. 174. 40 Reproduziert nach Lehner, (Fn. 39). S. 121, Nr. 179. Die Wilde Jagd 595 solle zur Hölle fahren, wenn er nicht gleich etwas zu trinken bekäme. Kaum daß er dies gesagt hatte, erschien ein strammer Jäger, reichte Dando einen randvollen Becher zum Trunk und versicherte alsogleich, diese Labsal komme aus jenen Gefilden, die er soeben beschworen habe. Als nun Dando in vollen Zügen trank, merkte er, wie der Jäger gleichzeitig für sich Wild abzählte, eins ums andere. Dando wurde wütend, aber der Jäger bestand höflich darauf, daß ihm gehöre, was er so abzuzählen vermöge. Dando geriet außer sich, aber der Jäger ließ vom Zählen nicht ab. Dando rief: »Die Beute gehört mir, und wenn mich der Teufel holt.« »So soll es sein«, sprach darauf der Jäger, setzte Dando vor sich auf das Pferd und jagte davon, Dandos Hunde mit wildem Lärm hinterher. Als sie zum Fluß kamen, stürzten sich Hunde, Pferd und Reiter mitten hinein in die Flut. Eine Stichflamme schlug gen Himmel, und der Strom begann zu kochen. Aber kaum daß dies geschehen war, lag die Welt wieder ruhig und friedlich wie zuvor. Nur manchmal, früh sonntagmorgens, sieht man in der Umgebung von St. Germans Dando reiten und hört die gespenstischen Hunde bellen.« 41 Der Verstoß gegen die Heiligung des Sonntags ist ein häufig wiederkehrendes Motiv in den Geschichten über die Wilde Jagd. Es spielt zum Beispiel eine wichtige Rolle in der von Gottfried August Bürger zwischen 1773 und 1778 verfaßten Ballade Der Wilde Jäger, die übrigens viele für sein bestes Werk nach Leonore h alten. 42 Bürger stammte aus Molmerswende, einem jener Orte, von denen es hieß, Hackelberg sei dort begraben; manche wollen gar gesehen haben, wie er im Ort zuweilen noch auf und ab ging. Im ersten Teil schildert Bürger, wie ein Graf zur Jagd aufbricht. Es geht dabei vor allem um den Kon- 41 Funk & Wagnalls Standard Dictionary of Folklore, Mythology, and Legend, (Fn. 18). S. 1177. Ohne Quellenangabe. 42 Reinhard, Karl (Hrsg.): Gottfried August Bürger’s Gedichte. 2. Theil. Göttingen 1796, S. 78 - 88. Zum Datum siehe Kiesel, Fritz: Bürger als Balladendichter. Leipzig 1907, S. 41. Le grand kalendrier: Der Tod reitet aus der Hölle. 596 John L. Flood trast zwischen der Lasterhaftigkeit des vergnügungssüchtigen, diesseitig orientierten Grafen und der sonntäglichen Weihe: »Der Wild- und Rheingraf stieß in’s Horn: ›Halloh, Halloh zu Fuß und Roß! ‹ Sein Hengst erhob sich wiehernd vorn; Laut rasselnd stürzt’ ihm nach der Troß; Laut klifft’ und klafft’ es, frei vom Koppel, Durch Korn und Dorn, durch Heid’ und Stoppel. Vom Strahl der Sonntagsfrühe war Des hohen Domes Koppel blank. Zum Hochamt rufte dumpf und klar Der Glocken ernster Feierklang. Fern tönten lieblich die Gesänge Der andachtsvollen Christenmenge.« (S. 78) Bald darauf begegnen dem Grafen zwei Reiter, von denen ihn einer ermahnt: »›Schlecht stimmet deines Hornes Klang‹, Sprach der zur Rechten, sanften Muths, ›Zu Feierglock’ und Chorgesang. Kehr’ um! Erjagst dir heut nichts Guts. Laß dich den guten Engel warnen, Und nicht vom Bösen dich umgarnen! ‹« (S. 79) Der Reitersmann zur Linken hingegen spornt ihn an, die Jagd fortzusetzen: »›Jagt zu, jagt zu, mein edler Herr! ‹ Fiel rasch der linke Ritter drein. ›Was Glockenklang? Was Chorgeplärr? Die Jagdluft mag euch baß erfreun! Laßt mich, was fürstlich ist, euch lehren, Und euch von Jenem nicht bethören! ‹« (S. 79 f.) Diesem Ratschlag folgt der Graf: »›Ha! Wohlgesprochen, linker Mann! Du bist ein Held nach meinem Sinn. Wer nicht des Waidwerks pflegen kann, Der scher’ an’s Paternoster hin! Mag’s, frommer Narr, dich baß verdrießen, So will ich meine Lust doch büßen! ‹« (S. 80) Die Jagd beginnt, indem der Graf einen prächtigen Hirsch ins Visier nimmt, der in ein Kornfeld flüchtet. Der Bauer, dem das Land gehört, beklagt die Zerstörung seiner Ernte und fleht den Jäger an, abzulassen von seinem Tun: »›Erbarmen, lieber Herr, Erbarmen! Verschont den sauern Schweiß des Armen! ‹« (S. 81) Der Jäger weist ihn grob zurück: »›Hinweg, du Hund! ‹ schnaubt fürchterlich Der Graf den armen Pflüger an.« (S. 81) Die Jagd geht weiter. Der Hirsch weicht in eine Kuhherde aus, wird aber zum großen Entsetzen des Hirten auch dorthin von den blutrünstigen Hunden verfolgt: Die Wilde Jagd 597 »›Erbarmen, Herr, Erbarmen! Laßt Mein armes stilles Vieh in Ruh’ Bedenket, lieber Herr, hier grast So mancher armen Witwe Kuh.‹« (S. 82f.) Auch dieses Bitten und Flehen weist der Jäger erbarmungslos zurück, und die Hunde richten große Verwüstung unter dem Vieh an. Nun flieht der Hirsch in den Wald, wo ein Einsiedler lebt. Dieser appelliert an den Grafen, den Heiligen Ort nicht zu stören. Doch schon sind wieder die beiden Jäger von vorhin zur Stelle und erteilen ihre Ratschläge, die guten und die bösen, und wieder schenkt der Graf den bösen sein Gehör: »›Verderben hin, Verderben her! Das‹, ruft er, ›macht mir wenig Graus. Und wenn’s im dritten Himmel wär’, So acht’ ich’s keine Fledermaus.‹« (S. 85) Er knallt mit der Peitsche und stößt ins Horn. Da verschwindet der Einsiedler mit einemmal, und es wird totenstill. Erschrocken stößt der Graf wieder ins Horn, aber alles bleibt still. Er ruft und hört seine eigene Stimme nicht. Dem Pferd gibt er die Sporen, aber es bewegt sich nicht von der Stelle. Es wird finster wie die Gruft, und in Donnerworten verkündet eine Stimme von oben, er werde von nun an bis in alle Ewigkeit der Gejagte des Teufels sein. Furchterregende Gestalten erscheinen und schlagen ihn in die Flucht: »Er rafft sich auf durch Wald und Feld, Und flieht, laut heulend Weh und Ach; Doch durch die ganze weite Welt Rauscht bellend ihm die Hölle nach, Bei Tag tief durch der Erde Klüfte, Um Mitternacht hoch durch die Lüfte. Im Nacken bleibt sein Antlitz stehn, So rasch die Flucht ihn vorwärts reißt. Er muß die Ungeheuer sehn, Laut angehetzt vom bösen Geist, Muß sehn das Knirschen und das Jappen Der Rachen, welche nach ihm schnappen. Das ist des wilden Heeres Jagd, Die bis zum jüngsten Tage währt, Und oft dem Wüstling noch bei Nacht Zu Schreck und Graus vorüber fährt Das könnte, müßt’ er sonst nicht schweigen, Wohl manches Jägers Mund bezeugen.« (S. 88) Der Autor zielt ganz offensichtlich auf die hohen Herrschaften der Adligen ab, denen, wenn es um ihre Vergnügungen geht, nichts heilig ist. (Vergleichbares könnte sich heute etwa im Zusammenhang mit Fragen des Umweltschutzes abspielen.) Das Motiv des Sakrilegs gegen den Sonntag und die Ermahnung durch den Einsiedler hat Bürger wahrscheinlich der volkstümlichen Überlieferung entnommen. Eine besondere Faszination übte das Thema der Wilden Jagd auf viele deutsche Dichter des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts aus. In Goethes Götz von Berlichingen heißt es: »Hauptmann: Hört ihr den wilden Jäger? 1. Zigeunerin: Er zieht grad über uns hin. 598 John L. Flood Hauptmann: Wie die Hunde bellen! Wau! Wau! 2. Zigeuner: Die Peitschen knallen. 3. Zigeuner: Die Jäger jauchzen holla ho! « 43 Insbesondere Bürgers Ballade scheint sich großer Beliebtheit erfreut zu haben. Sie wurde in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts mindestens zweimal ins Englische übersetzt, einmal von keinem geringeren als Sir Walter Scott; seine Übersetzung erschien unter dem Titel The Chase 1796 in Edinburgh. In der deutschen Literatur lebte das Thema fort, nicht nur in F. W. Webers Epos Dreizehnlinden (1874 - 1878), einem wahrlich populären, in über zweihundert Auflagen erschienenen Werk, das sich mit den Anfängen des Christentums in Deutschland befaßt, sondern auch in Wilhelm Raabes Die Innerste (1876) 44 , Heinrich von Reders märchenhaftem Epos Wotans Heer (Dresden 1892) und in Julius Wolffs vorletztem Versepos, seiner »Waidmannsmär« Der wilde Jäger (1877). Wolff (1834 - 1910) stammte aus Quedlinburg und war also vertraut mit dem Sagengut im Harz. Der wilde Jäger b asiert auf der Geschichte von Hackelberg. Der gottlose Ritter heißt hier Hans Hackelberend, und die Geschichte nimmt ihren dramatischen Höhepunkt in der folgenden Beschreibung von dessen Heraussteigen aus dem Grab. »Des Grabes Wölbung ist verschwunden, Langsam im bleichen Mondenglanz Steigt draus hervor, das Haupt umwunden Von einem welken Eichenkranz, Von Grau’n und Geisterhauch umwittert, Doch von lebend’gem Odem leer Und von Beschwörungskraft durchzittert, In Waffenschmuck und Waidmannswehr Ein Rittersmann; er wallt und gleitet, Die Hand an seines Messers Knauf, Zu einem Hengst, den er beschreitet, Und schlägt die todten Augen auf Ein eisig Lächeln spielt beim Schauen Um strengen Mund, er giebt den Sporn, Wild zuckt es um die finstern Brauen, Und gellend, schmetternd stösst er ins Horn Und fährt dahin, und nach ihm geschnoben Kommt stürmend, prasselnd in raschem Flug, Um Wipfel geschwebt, um Felsen gestoben Aus flatternden Wolken ein mächtiger Zug Von Reitergespensten und Todesgesellen, Von Wildrern, meineid’gem, vorworfenem Troß In Panzer und Wamms und in zottigen Fellen Mit Spießen und Peitschen und Stahl und Geschoß, Gerichtet, gerädert, gefoltert, geschunden, Die Glieder verrenkt, verdreht das Genick, Mit grinsenden Schädeln und klaffenden Wunden, 43 Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Hrsg. von Karl Richter u. a. Münchner Ausgabe. München und Wien 1985. Bd. 1,1, S. 642. 44 Hoppe, Karl (Hrsg.): Wilhelm Raabe. Sämtliche Werke. Bd. 12. Freiburg i. Br. und Braunschweig 1955, S. 101 - 195. Die Wilde Jagd 599 Mit fletschenden Zähnen und flackerndem Blick. Sie preschen auf schwarzen, rauhmähnigen Kleppern Mit geifernden Hunden zu tausend daher, Sie schleudern und schießen mit Bogen und Schneppern, Doch die zischenden Pfeile treffen nicht mehr. Sie streifen und jagen und stoßen und zwängen Sich oben und unten hindurch ohne Rast In Strudel und Taumel und Treiben und Drängen, Ein blutig Gesindel in wirbelnder Hast. Es schlängelt und krümmt sich wie schuppige Drachen Und ringelt und reckt sich in endlosem Schweif, Speit Feuer und Flammen aus dampfenden Rachen, Und gräßlich Geschrei ist, Gebrüll und Gekeif, Als wären die Thore der Hölle erbrochen Von ihrer Bewohner haarsträubenden Zahl. Und wie die Lawine von schwindelnden Jochen Zermalmend sich Bahn bricht ins bangende Thal, Sprengt riesengewaltig mit lauten Fanfaren Der Eine, der grabesentstiegene Geist Voran den lüftedurchtosenden Scharen, Von fliehendem, keuchendem Wilde umkreist. Hoch ragt er vor Allen mit Herrschergeberden, Ein Fürst des Gebirges, ein Heros der Nacht, So wie er gelebt und geritten auf Erden Und Engel und Menschen und Teufel verlacht. Ho! ewige Waidlust! er hebt sich in Bügel Und schmettert und jauchzet und schwinget den Speer Und hetzet und jaget mit hängendem Zügel, Der grausige Führer vom wüthenden Heer. Es stürmet daher in der Wolken Geleise Und schwenkt um die Burg in stürzender Flucht, Umsauset die rauchenden Trümmer im Kreise Und brauset dahin in die dämmernde Schlucht. Und wie’s mit unsagbaren Schrecken verschwindet, Ein rollendes Echo vom Felsen erschallt, Jetzt lauter, jetzt leiser, wie’s dreht sich und windet, Bis Alles in schweigender Ferne verhallt. Nun überall Stille, es summet und singet Der Sturm noch allein mit ersterbendem Klang Von Blühen und Welken, es orgelt und klinget Gelinde wie tönender Schwanengesang. Doch horch! es erhebt sich von Neuem das Toben Schon näher und näher, das wüste Gebraus, Sie kommen zurück aus dem Thale gestoben, Der fliegende Schwarm, der entsetzliche Graus. Und wieder, umwittert von Feuergefunkel, Umkreisen die Burg sie, den wankenden Thurm, Und klagend verliert sich in Schatten und Dunkel Die wilde Jagd im verwehenden Sturm.« 45 600 John L. Flood Auch in der süddeutschen Heimatliteratur durfte das Motiv nicht fehlen. Zu erwähnen wäre Ludwig Ganghofers »Waldphantasie« Das wilde Jahr (Berlin 1921). In der Trivialliteratur ist die Wilde Jagd ein vielbemühter Begriff geblieben. Dazu sind mir aus unserem Jahrhundert folgende Titel bekannt: von Paul Scheerbart Rakkóx der Billionär. Ein Protzenroman. Die wilde Jagd. Ein Entwicklungsroman in acht anderen Geschichten. (Berlin und Leipzig 1900); von Jill Tattersall The Wild Hunt. (London 1974). Auch Richard Kühns vielbeachtete Biographie der mit Karl Immermann befreundeten Elise von Lützow (1788 - 1855) Elise von Lützow und Lützows wilde Jagd. Das Freikorps und seine Göttin. (Dresden 1934) darf hier nicht fehlen. 46 Auch die Musik und die Bildende Kunst haben sich des Themas bedient. Es wurde von verschiedenen Komponisten bearbeitet, wobei allerdings abgesehen von César Francks symphonischer Dichtung Le Chasseur maudit und Arnold Schönbergs Gurreliedern alles so gut wie vergessen ist. Ein reines Orchesterwerk ist Joachim Raffs 1869 vollendete dritte Symphonie Im Walde (op. 163). Josef Triebensee (1772 - 1846) schrieb eine Oper Die Wilde Jagd, nach einem Libretto von S.W. Schiessler, die 1824 in Budapest und im März 1825 in Prag aufgeführt wurde. Von H. Payer, Viktor Nessler (1841 - 90) und von A. Schultz gibt es je eine Oper Der Wilde Jäger; Aufführungen davon fanden 1806 in Wien, 1881 in Leipzig und 1887 in Braunschweig statt. M.J. Beer schrieb die 1888 in Olomouc aufgeführte Kantate Der Wilde Jäger. Die Chor-Ballade Hackelberends Begräbnis von Müller-Reuter entstand 1902. Arnold Schönberg (1874 - 1951) vertonte Robert F. Arnolds deutsche Übersetzung der Gurresaenge von Jens Peter Jacobsen (1847 - 1885); die Nummer 8 ist überschrieben mit Die Wilde Jagd und die Nummer 9 mit Des Sommerwindes Wilde Jagd. 47 1900 hatte Schönberg die Gurrelieder als Liedzyklus für Singstimme und Klavier konzipiert; bis 1911 baute er sie zu einem riesigen Werk für Soli, Sprecher, Chöre und großes Orchester aus. Die Uraufführung fand 1913 statt. 48 Eine in der bildenden Kunst besonders interessante Darstellung der Wilden Jagd ist Franz von Stucks Gemälde Der Wilde Jäger (1889) in der Lenbach-Galerie in München. 49 Es zeigt einen voranstürmenden Mann, mit einem Umhang bekleidet, den Dolch schwingend, ein Rudel Wölfe hinter sich her. Sein Blick ist stechend, sein Haar schwarz, er trägt eine Stirnlocke und einen kleinen Schnurrbart an der Oberlippe. Laut Charles de Jaeger ist von diesem Bild nichts Gutes ausgegangen. Wie schon Robert Waite vor ihm 50 , weist er auf die frappante Ähnlichkeit des hier dargestellten Mannes mit Adolf Hitler hin, der, und sei es per Zufall, im Entstehungsjahr des Gemäldes geboren wurde. De Jaeger spekuliert - die These ist stark umstritten -: 45 Wolff, Julius: Der wilde Jäger. Eine Waidmannsmär. 7. Aufl. Berlin 1879, S. 242 - 243. Siehe dazu Ruhemann, Alfred: Julius Wolff und seine Dichtungen. Deutsche Dichter der Gegen wart, 2. Leipzig 1886, S. 151 - 163. 46 Laut Katalog der British Library kann es sein, daß es sich bei Richard Kühn um ein Pseudonym für Lily Braun handelt. 47 Jacobsen hat das Thema der Wilden Jagd, wahrscheinlich im Sommer 1869, ein weiters Mal dichterisch bearbeitet. Siehe Jens Peter Jacobsens sämtliche Werke. Leipzig o.J., S. 817. 48 Siehe Berg, A.: Arnold Schönberg: Gurrelieder Führer. Wien 1913. 49 Unter weiteren Kunstwerken zum Thema wären zu nennen: The phantom hunter des Kanadiers William Blair Bruce (1859 - 1906); Aasgaardsreisen von P. N. Arbo (1872, nach J. S. Welhavens gleichnamigem Gedicht aus dem Jahr 1844); Die Wilde Jagd von W. Truebner (1877); The Storm-Ride von G. Bayes (Relief, um 1900). 50 Waite, Robert G.L.: The Psychopathic God: Adolf Hitler. New York 1977, S. 67 - 69. Die Wilde Jagd 601 »Es scheint, daß bei Hitler auf seinen Streifzügen durch München ein Interesse für von Stuck wach wurde, und zwar ein so ausgeprägtes, daß er sich entschloß, sein Erscheinungsbild, wenn auch etwas gemäßigt, demjenigen der furchterregenden Gestalt auf von Stucks Gemälde anzupassen. Die Ähnlichkeit ist geradezu unheimlich, und Hitler hat der zerstörerischen Suggestivkraft seines Vorbildes zweifellos nachgeeifert. Auch mit den Wölfen im Bild gibt es manches zu assoziieren: Hitler liebte es, wenn ihn seine engsten Freunde »Wolf« nannten, und der Wolfshund [der deutsche Schäferhund] war seine Lieblingsrasse unter den Hunden. Als er die Volkswagen-Fabrik eröffnete, benannte er sie nach dem in der Nähe liegenden Ort Wolfsburg. Hitler wollte seine Schwester dazu bewegen, sich in Frau Wolf umbenennen zu lassen, und seine jahrelange Sekretärin hieß Fräulein Wolf. Einer seiner Biographen, Walter Langer, weiß zu berichten, daß der Führer mit Vergnügen Who’s afraid of the big bad wolf von Walt Disney vor sich hinzupfeifen pflegte. Und in den Namen aller Kommandostellen der Front entlang kommt sein Lieblingstier vor: sein Hauptquartier in Frank reich nannte er Wolfsschlucht, dasjenige in der Ukraine Werwolf, und jenes in Ostpreußen Wolfsschanze. Oft sprach er von seinem »Wolfsrudel« und meinte damit seine SS-Männer. Schließlich war es die Jugendeinheit der Werwölfe, die noch hinter der Linie der in Deutschland einmarschierten Alliierten Tod und Verwüstung brachte. Und als das Ende nahte, hatte der Führer im Berliner Bunker sein Lieblingstier, einen Wolfshund, bei sich. Er ließ ihn einschläfern, bevor er sich selbst erschoß«. 51 Bibliographischer Hinweis An neuerer Literatur wäre hervorzuheben: Walter, Philippe [u.a.]: Le Mythe de la chasse sauvage dans l’Europe médiévale. Paris 1997 (Collections Essais sur le Moyen Age, Bd. 19). Ältere Literatur wurde in den Fußnoten verzeichnet. Abbildung: Der Tod auf seinem Roß mit Pfeil und Sarg reitet aus der Hölle, um seine Rechte über die Sterblichen geltend zu machen. Aus: Lehner, Ernst und Johanna: Picture Book of Devils, Demons and Witchcraft. Dover Pictorial Archive. New York 1971, S. 118, Nr. 174. 51 de Jaeger, Charles: The Linz File. Hitler’s Plunder of Europe’s Art. Exeter 1981, S. 25. Das hier besprochene Gemälde ist auf S. 37 abgebildet. Zum Werk Stucks siehe: Voss, Heinrich: Franz von Stuck: Werkkatalog der Gemälde. München 1973. Varianten des Gemäldes entstanden in den Jahren 1894 und 1899. Wilde Frau Christa Habiger-Tuczay Die Bedeutung der »Wildheit« im Mittelalter Als Attribut besaß der Begriff »wild« im Gotischen, Alt-und Mittelhochdeutschen einen wesentlich größeren Bedeutungsumfang als im Neuhochdeutschen. Im Mittelalter beschrieb das Wort alles außerhalb der sozialen Ordnung, der »costume« und Norm Befindliche, umschloß also auch Phänomene der Devianz und Aberration. Das Dämonische und Heidnische, aber auch Betrug, Täuschung, Falschheit, Sittenlosigkeit und Roheit wurde mit dem Terminus »wild« umschrieben, das Unheimliche und Gespenstische mit Wildheit gleichgesetzt. Der Begriff klassifizierte also sowohl religiöse (wie heidnisch, dämonisch, teuflisch), als auch ethische (wie Sittenlosigkeit, Laster, Unmoral) und anthropologische (halbtierische Waldbewohner) Eigenschaften. Der scharfe Dualismus wilde Welt vs. gezähmte Welt, Wildleute vs. zivilisierte Menschen, Wald vs. Dörfer und Städte bezeichne te untersc hiedl iche Stadien der Evoluti on. Überdies veränder te sich die Applikation des Begriffes je nach Perspektive des Betrachters: Der wilde Mann galt dem Ritter - nebst Drachen und Riesen - als zu bekämpfendes Monster, auf der anderen Seite bezeichnete »wild« auch ein Stadium der Zurückgezogenheit, z.B. das Waldleben des Einsiedlers, oder diente als Umschreibung des Geisteszustandes des wahnsinnigen Ritters Iwein. 1 Den ersten Versuch einer Begriffsdefinition unternahm der spätmittelalterliche Prediger Johann Geiler von Kaisersberg. 2 Zu dieser Zeit war der Begriff bereits voll ausgebildet bzw. nahm schon bizarre Ausformungen an. Geiler nennt fünf Gruppen von wilden Leuten: Die Solitari, Sachanni, Hyspani, Pigineni und die Diaboli. Solitarii beispielsweise meint Eremiten, die im Wald leben, also mit den halbmenschlichen »Wilden Leuten« den Aufenthaltsort teilen. Sie führen ein rauhes Leben und haben sich auch äußerlich den Tieren angeglichen. Bildzeugnisse zeigen behaarte, mit Moos bewachsene Menschen, die manchmal gar auf allen Vieren laufen. Geiler erwähnt in diesem Zusammenhang unter anderen den heiligen Ägidius, aber auch Maria Ägyptica und Maria Magdalena. 3 Als zunächst durchaus zivilisierte und erst später verwilderte Menschen bezeichnet er die Hyspani, die, wie der Name bezeugt, in 1 Max Wehrli hat die aus verschiedenen Einflüssen bestimmten Vorstellungen erörtert (Wehrli, Max: Iweins Erwachen, in: Geschichte, Deutung, Kritik. Festschrift W. Kohlschmidt. Bern 1969, S. 64 - 78; wieder abgedruckt in: Ders.: Formen mittelalterlichen Erzählens. Zürich 1969, S. 173 - 193). Iwein, der arme Heinrich, Gregorius und Parzival ziehen sich von der höfischen Gesellschaft zur Problemlösung zurück (vgl. Wells, D. A.: The Wild Man from the Epic of Gilgamesh to Hartman von Aue’s Iwein. Belfast 1975, S. 10 f.). Vgl. auch: Sachwörterbuch der Medievistik. Hrsg. Peter Dinzelbacher. Stuttgart 1992, S. 889 f. 2 In der Emeis. Vgl. Kraume, Herbert: Geiler von Kaisersberg. In: Verfasserlexikon, Bd. II. Berlin 1980, Sp. 1141 - 1152. Johanns Einteilung beschränkt sich allerdings auf eine bloße Aneinanderreihung von Einzelvorstellungen, die teils Obergattungen, teils Untergattungen bezeichnen, zur Erhellung des Begriffes selbst hat dieser Systematisierungsversuch wenig beigetragen. 3 Vgl. Steiner, Gertraud: Wunderkammer Hohe Tauern. Salzburg 1993, S. 103 ff. 604 Christa Habiger-Tuczay Spanien hausen. Schon Albertus Magnus hatte berichtet, daß man zu seiner Zeit noch ein wildes Paar gefangen habe. 4 Ohne Zweifel lassen sich die spanischen Wildleute in den im Mittelalter beliebten Vorstellungskreis der exotischen Völkerschaften einordnen, wie sie so variantenreich in den Orientromanen und in der Alexanderdichtung geschildert werden. 5 Schon Pseudo-Kallisthenes erwähnte behaarte Menschen, die in Wäldern leben. Der lateinische Bearbeiter seiner Texte, der Archipresbyter Leo, griff die Vorstellung in seiner Historia de preliis 6 (J 1236, 25 ff.; J 2201, 10 ff., J 3148, 20 ff.) auf und erzählte von indischen Tiervölkern. Der an Aristoteles gerichtete fingierte Brief Alexanders 7 lokalisiert die indischen wilden Leute im Wasser und auf dem Land. Er rückt sie damit in die Nähe der Wassermänner bzw. »merwunder«. 8 Auf Vermischungen mit einer anderen Gruppe von devianten Wesen weist Geiler mit seinen Pigineni hin. Er verstand darunter kleinwüchsige behaarte Wildleute, von denen erstmals im Herzog Ernst berichtet wird. 9 Die oben angesprochene Zuweisung der Wildleute zu den Dämonen nimmt Geiler mit seinen Diaboli vor. Ihre Sittenlosigkeit, erklärte Lasterhaftigkeit und vor allem ihre offenbare Religionslosigkeit rückt sie in die Nähe von Heiden, Dämonen und Ketzern, ordnet sie so der »civitas diaboli« zu. In den literarischen Belegen wechselt die Darstellungsweise zwischen zwei unterschiedlichen Bedeutungsebenen: - ländlich, grob, ungezügelt, unkultiviert, ungezähmt, - fremd, barbarisch (bezieht sich auf ein »cultural gap« zur Hochkultur). Die eigentlichen Wildleute Der berühmte fingierte Brief des Priesterkönig Johannes 10 begreift die wilden Leute als Zentauren und Riesen. Thomas von Cantimpré setzt sie in seinem De natura rerum (IV, 90) 11 mit Satyren gleich. Die im Mittelalter als Satyren bezeichneten Gestalten dürfen allerdings nicht mit den bocksfüßigen gehörnten Wesen der Antike und Renaissance identifiziert werden. 4 Albertus Magnus: De animalibus libri XXVI. In: Kritische Ausgabe. Hrsg. H. Stadler. 2 Bde. Münster 1916 - 1920 (Opera VI. Lyon 1651). 5 Zum Stichwort »exotische Völker« vgl. Lecouteux, Claude: Les monstres dans la literature allemande du moyen âge. 2 Bde. Göppingen 1982 (GAG, Bd. 330); vgl. auch: Ulrich von Etzenbach. Alexandereis. Hrsg. W. Toischer. Tübingen 1888 (LVSt, Bd. 183), V. 22071 ff., 22800 ff. 6 Historia de preliis. Der Alexanderroman des Archipresbyters Leo. Hrsg. F. Pofister. Heidelberg 1913 (Sammlung mittellateinischer Texte, Bd. 6). 7 Epistola Alex. ad Aristotelem. Zit. nach: Lecouteux (Fn. 5). 8 Vgl. Lecouteux (Fn. 5), Bd. II, S. 110 ff. 9 Herzog Ernst. Hrsg. B. Sowinski. Stuttgart 1970, V. 4891 ff. Pygmäen werden in der Literatur schon früher erwähnt (z.B. bei Isidor, Etym XIXI, 3, 7; bei Hrabanus Maurus, De universo VII, 7 u.a.); vgl. dazu Lecouteux (Fn. 5), S. 154 f. Schon Jacob Grimm hat ganz richtig bemerkt, daß bei Einzelauftreten der wilden Leute meist die riesenhafte Form überwiegt, während bei gemeinsamen Auftreten von zwergartigen Wesen die Rede ist. 10 Der sog. Presbyterbrief. Hrsg. F. Pfister. Leipzig 1879, S. 297; vgl. Huschenbett, Dieter: Priesterkönig Johannes. In: Verfasserlexikon, Bd. 7. Berlin 1989, Sp. 828 - 842. 11 Thomas von Cantimpré: De natura rerum. Hrsg. H. Boese. Berlin 1973. Wilde Frau 605 Geiler von Kaisersberg nennt sie »Sachanni« und verleiht ihnen eindeutig menschliche Züge, indem er sie von Adam abstammen läßt. Der charakteristische Unterschied besteht in ihrer extremen Körperbehaarung. Die langen Haare werden mit dem Attribut »rauh« belegt, weshalb sie auch die »rauhen Leute» heißen. 12 Sie wohnen »in bruchen und in walden, in wazzeren und in bergen, in holn und in cruten«. Eine ähnliche Beschreibung bietet Vincenz von Beauvais im Speculum naturale 13 (XXXI, 128) und Thomas von Aquin in De universo (III, 5, 29). 14 In der Volkstradition sind die Haarwesen schon seit dem Frühmittelalter bekannt, werden aber erst seit dem 11. Jahrhundert in der Literatur erwähnt und seit der Mitte des 13. Jahrhunderts bildlich dargestellt. Bei der Figur des wilden Mannes handelt es sich offenbar um ein heidnisches Relikt aus der niederen Mythologie, dessen Charakteristika in der höfischen Literatur teilweise noch (wie z.B. der wilde Mann als Herr der Tiere) erhalten geblieben sind. Die Gestalt der wilden Frau hat sich in den Volkszählungen, besonders in den Alpenländern, bis heute behauptet und eine reiche Folklore ausgebildet. Im Unterschied zu ihrem männlichen Gegenstück scheint sie allerdings aus verschiedenen Traditionen zu stammen, was auch ihr unterschiedliches Auftreten in den literarischen Belegen beweist. Während der wilde Mann stets als häßliches, halbtierisches Wesen erscheint, kann sie durchaus ein ansprechendes, ja schönes Äußeres besitzen. Sie trägt zuweilen Züge einer Tierherrin: Im Seifried de Ardemont steht die wilde Frau einem bedrängten Drachen bei, ob sie deshalb über die Drachen herrscht, kann nicht mit Sicherheit behauptet werden: »Der wurbm ward ergellsen mit ainer stymme lawt. Aus aim hol bey dem vellsen so kumpt gelauffen her des tewfels trawt, ain weib von willder artt vil ungehewre; mit ainem kolben, den sie trûeg. Da mit kam si an dy zwen ritter tewre.« 15 Nur in bezug auf den Wohnort unterscheidet sich das schöne wilde Fräulein im Eckenlied 16 und im Wunderer 17 von einer Edeldame. Der andere Ort stellt ein wichtiges Unterscheidungskriterium dar. Wald und Gebirge bedeuteten dem mittelalterlichen Menschen einen Ort der Furcht, 18 Wohnung von Dämonen, wilden Tieren und Leuten, Monstren, Riesen und Zwergen. 12 Vgl. Heinrich von Hesler: Apokalypse. Hrsg. K. Helm. Berlin 1907 (DTM, Bd. 8), V. 20066 - 69. 13 Vincenz von Beauvais: Speculum naturale. Straßburg 1473/ 76, Douai 1624 (Nachdr. 1964). 14 Thomas von Aquin: De universo. In: Fratres Praedocatores. Bde. I-XVI. Hrsg. Leonina. Rom 1918 - 30. 15 Albrecht von Scharfenberg: Merlin und Seifried de Ardemont. Hrsg. Friedrich Panzer. Tübingen 1902 (BLVSt, Bd. 227), V. 207 f. Im Ortnit tragen der Riese Helle und seine wilde Frau Runze die Drachensaat ins Land, die den Kaiser Ortnit vernichten soll (Ortnit und Wolfdietrich. Hrsg. A. Amelung; O. Jänicke. In: Deutsches Heldenbuch. Bd. III, 1. Berlin 1878). 16 Eckenlied. Fassung L. Hrsg. M. Wierschin. Tübingen 1974 (ATB, Bd. 78). 17 Etzels Hofhaltung (=Wunderer). In: Heldenbuch, Bd. II. Leipzig 1855. 18 Vgl. Stauffer, Marianne: Zur Darstellung und Deutung der Natur im Mittelalter. Zürich 1958; vgl. Sachwörterbuch der Medievistik (Fn. 1), S. 891. 606 Christa Habiger-Tuczay Aber auch Beziehungen zum Wasser lassen sich besonders bei der »wilden Meerminne«, 19 einer sirenenartigen Variante der wilden Frau, konstatieren. Das Erscheinungsbild Der Artusritter Kalogreant begegnet im Wald einem Wesen, das er als »Walttor« einordnet und wie folgt beschreibt: »Sîn menneschlîch bilde was anders harte wilde: er was einem môre gelîch michel unde als eilîch daz ez nieman wol geloubet.« 20 Alles an ihm scheint von gewaltiger Größe, so gleicht z. B. sein Haupt dem eines Auerochsen. Besonderes Augenmerk lenkt der Dichter auf die Rauheit und Vergröberung von Haut und Haar, wobei die Farbe »schwarz« dominiert. »Zewâre im was sîn houbet groezer dan eim ûre. Ez hete der gebûre ein ragendez hâr ruozvar: daz was im vast unde gar verwalken zuo der swarte an houbet unde an barte, sîn antlütze was wol ellen breit, mit grozen runzen beleit ouch wâren im diu ôren als einem walttôren vermieset zewâre mit spannenlangem hâre, breit alsam ein wanne.« Das Gesicht weist noch weitere Tierzüge auf, der Vergleich mit einem Rind wird beibehalten und noch weiter ausgebaut: »Dem ungevüegen manne wâren granen und brâ lanc rûch unde grâ; diu nase als einem ohsen grôz, kurz, wît, niender blôz; daz antlütze dürre und vlach ouwî wie eslîch er sach! diu ougen rôt, zornvar. 19 Die wilde Babehilt im Eckenlied hat ebenfalls Verbindung mit dem Meer (Eckenlied [Fn. 16]). Wachhilt führt Witege auf den Grund des Meeres (Rabenschlacht. In: Deutsches Heldenbuch, Bd. II. Berlin 1878, V. 964 f.). Vgl. auch die Erzählung: Abor und das Meerweib. Hrsg. H. Meyer-Benfeyn. Göttingen 1920 (Mittelhochdeutsche Übungstexte), S. 180 - 183, V. 64; Sirena im Apollonius von Tyrland, V. 5318 (Heinrich von Neustadt: Apollonius von Tyrlant. Hrsg. S. Singer. Berlin 1906 [(DTM, Bd. 7]). 20 Hartmann von Aue: Iwein. Hrsg. G. F. Benecke; K. Lachmann, Bearb. L. Wolff. Berlin 1968, V. 2060 f. Vom Ende des 14. Jahrhunderts datiert die Darstellung des wilden Mannes in der Wenzelsbibel mit Riesenohren, Vogelfüßen, Krallenhänden, doch mit goldenen Flügeln und blauem Schweif. Wilde Frau 607 Der munt hâte im gar bêdenthalp diu wangen mit wîte bevangen.« Die Zähne allerdings werden nicht als Rinderzähne beschrieben, sondern es werden die furchteinflößenden, spitzen Hauer des Ebers als Vergleichsmodell gewählt: »Er was starke gezan, als ein eber, niht als ein man: ûzerhalp des mundes tür rageten sî im her vür, lanc scharpf, groz, breit. Im was daz houbet geleit daz im sîn rûhez kinnebein gewahsen zuo den brüsten schein. Sîn rücke was im ûf gezogen, hoveroht und ûz gebogen.« Chrétien von Troyes und Hartmann bezeichnen Kalogreants wilden Mann als »villain« bzw. »walttor«. Das erste Mal wird ein Wesen als »wild« in dem zuvor definierten Sinne im Lanzelet des Ulrich von Zatzikhofen 21 begriffen. Es ist zwar nur von der Stimme einer wilden Frau die Rede, aber deren charakteristische Eigenschaften durfte der Dichter offenbar als bekannt voraussetzen: In der Schlangenkußepisode läuft ein drachenartiges Monster im Wald umher und verlangt mit fürchtlicher Stimme, daß man es küsse. Als der Held seine Ressentiments überwindet, verwandelt sich das scheußliche Wesen in die schöne Elidîa (V.1194). Doch vorher: »er schrî als ein wildez wîp owê«. Auch die Knochen der wilden Leuten scheinen von anderer Beschaffenheit zu sein, wie wir im Wigalois 22 (V. 1210) erfahren. Karrioz’ Mutter, eine wilde Frau, vererbt ihm diese spezielle Eigenschaft 23 : »sîn muoter was ein wildez wîp sîn gebein was âne march nach dem geslehte der muoter sîn.« Wie eine wilde Frau aussah, beschreibt Wirnt von Grafenberg an anderer Stelle. Aus dem ihr zugedachten Lebensbereich, einer Höhle 24 , läßt der Dichter eine wilde Frau von großer Häßlichkeit hervorstürzen. Auch sie besitzt eine schwarze Hautfarbe wie der Waldmensch im Iwe in 25 , doch gleicht sie nicht einem Ochsen, sondern einem Bären: 21 Ulrich von Zatzikhofen: Lanzelet. Hrsg. K.A. Hahn. Frankfurt 1845 (Nachdr. 1965). 22 Wirnt von Grafenberg: Wigalois. Hrsg. J. M. N. Kapteyn. Bonn 1926. 23 Dies ist die einzige literarische Stelle, die dieses Detail erwähnt. Lecouteux vermutet, daß der Dichter die Vorstellung aus der Gelehrtentradition übernommen hat (vgl. Lecouteux [Fn. 5], Bd. I, S. 18); außerdem die einzige Stelle, die über den hohlen Rücken der wilden Leute spricht, wie sie in der nachmittelalterlichen Volkserzählung häufig anzutreffen ist (vgl. dazu Mannhardt, Wilhelm: Wald- und Feldkulte. 2 Bde. Berlin 1904 - 1905. Bd. I, S. 42, 120 f., 123, 127 f., 133, 143 f.) 24 Morolfs Verwandte, eine wilde Meerminne, haust in einer Berghöhle und herrscht über Zwerge. Salman und Morolf, V. 731, 3 f. Die Gebirgshöhlen als Wohnorte der Saligen und Wildfrauen sind so bedeutsam, daß Helmut Fielhauer in seiner Abhandlung »Sagengebundene Höhlennamen in Österreich« eigens darauf eingeht (In: Wiss. Beihefte z. Zs. »Die Höhle« [Hrsg. Landesverein f. Höhlenkunde in Wien und Niederösterreich] 12 [1969], S. 42 ff.) 608 Christa Habiger-Tuczay »ûz dem hole sach er ein wîp gegen im louffen dar; diu was in einer varwe gar, swarz, rûch als ein ber. Wande si was ungehiure; ir har enpflohten unde lanc, zetal in ir buoge swanc ir houbet grôz, ir nase flach. Ir brâ lanc und grâ, grozze zêne, wîten munt si het, ôren als ein hunt, diu hienten nîder spannen breit. Der ruke war ir ûfgebogen, dâ engegen ein hover ûz gezogen ob dem herzen als ein hut.« Ihre Brüste werden als hängende Taschen beschrieben, ihre Beine tragen lange Nägel, vergleichbar jenen des mythischen Vogels Greif. Mit dieser Charakterisierung stellt der Autor das Wesen eindeutig in den überbzw. widernatürlichen Bereich: »Ir bruste nîder hiengen, die sîten sie bevientgen gelîch zwein groezen taschen dâ als ein griffe het sie klâ an den vingern allen [...] daz wîp dûhte unsuezze. Starchiu bein und krumbe fuzze het si.« Besonders auffällig erscheint jedoch das besondere Augenmerk, welches die mittelalterlichen Dichter den großen Brüsten der wilden Frauen widmen, wie die detail- und variantenreichen Beschreibungen bezeugen. 26 Heinrich von Neustadt 27 führt noch weitere Abwandlung an: Die wilde Falta besitzt ein Katzengesicht ( Apollonius von Tyrlant, V. 4379 f.), Drachenfüße (V. 4395) und einen stinkenden Atem (V. 4404). Wilde Frauen wählen oft Riesen als ihre Gefährten, werden selbst als großwüchsig und mit schwarzer Hautfarbe vorgestellt. 28 Die schwarze Haut, die sie eindeutig der heidnischen und teuflischen Welt zuweist, teilen sie mit dem erwähnten Waldmenschen im Iwein. Außerdem schrecken diese Frauen nicht nur durch ihr Äußeres ab, sondern zeigen 25 Iwein (Fn. 20), V. 418 - 470. Auch er besitzt langes verfilztes Haar, graue Augenbrauen, einen krummen Rücken, flache Nase usw. Von der schwarzen Farbe berichtet auch der Pleier in Tandareis und Flordibel. Hrsg. F. Khull. 1885, V. 9986 f. 26 Die Brüste der Ruêl im Wigalois ([Fn. 22], V. 62285 - 6385) hängen an den Seiten wie zwei große Taschen herunter, Rome besitzt ebenfalls enorme Brüste (Wolfdietrich D, VII, 115 - 136 [Wolfdietrich A, B, D. Hrsg. A. Amelung; O. Jänicke. In: Deutsches Heldenbuch. Bd. III. Dublin; Zürich 1963, V. 1424 - 1427]). Ein französisches Gebetbuch des 15. Jahrhunderts (Wr. bibl. cod. 1857) zeigt einen wilden Mann mit herabhängenden Brüsten (vgl. v.d. Leyen, Friedrich; Spamer, Adolf: Die altdeutschen Bildteppiche im Regensburger Rathause. In: Das Rathaus in Regensburg. Regensburg 1910, S. 71 - 105, S. 89. 27 Apollonius von Tyrlant (Fn. 19). 28 »er sach ouh manec wîp grôz, diu swarz und ungehiure was« (Tandareis und Flordibel [Fn. 25], V. 9986 f.); »diu was in einer varwe gar, swarz, rûch als ein ber.« (Wigalois [Fn. 22], V. 6287). Wilde Frau 609 überdies durchaus unweiblich-deviantes Verhalten. Sie greifen den Helden furchtlos an und bringen ihn durch ihre wüste Kraft mit und ohne Waffen in arge Bedrängnis. Die Frau Runze im Wolfdietrich D besitzt eine Stahlstange wie ein Riese, 29 Fidegart im Garel von dem blühenen Tale (V. 5492 - 5791), die Geliebte des Riesen Purdan, greift den Helden sogar in voller Rüstung an. Ritterliche Waffen setzt sie aber im Kampf gegen den Helden nicht ein, sondern kämpft mit der traditionellen bewährten Waffe der Riesen, einem ausgerissenen Baum. Diese Waffe bevorzugen auch Birkhilt und ihre Mutter im Ekkenlied. Im Wolfdietrich B legt Runze ihre Stahlstange beiseite und greift auf die Baumwaffe zurück (V. 806,2 f.). Der Anlaß der Kämpfe ist meist Rache für den Mord an einem Gespielen oder Verwandten, 30 aber auch die erotische Komponente spielt bisweilen mit. Der Ritter Wigamur 31 z. B. gerät als Knabe in Gefangenschaft einer wilden Frau namens Lespia, die ihn großzieht, da sie ihn mit einer ihrer Töchter verheiraten will. Als Hauptcharakteristikum des einen Typus’ der riesenhaften wilden Frau kann Häßlichkeit und Behaarung gelten. Im Mittelalter 32 erscheint das Häßliche in der Regel als Metapher der Ausgrenzung aus der von der christlichen Anschauung geprägten Symbolebene. Der zweite Typus, das schöne wilde Fräulein, weist deutliche Verwandschaft mit Feengestalten auf. Im Eckenlied und im Wunderer identifizieren die Dichter die Schönheit der wilden Fräulein gleichzeitig mit deren christlicher Religion, anscheinend um sie von ungeheuren heidnischen Riesengestalten zu unterscheiden. Der Typus der häßlichen, wilden Frau tritt in den literarischen Belegen häufiger in Erscheinung. Interessanterweise spricht nicht der Dichter selbst das Urteil über Schönheit bzw. Häßlichkeit der betreffenden Frauen, sondern schickt seinen Protagonisten vor, der sein Urteil aus der erotischen Attraktivität ableitet. Aus diesem Blickwinkel erscheint die Figur der wilden Frau als Anti-Bild zum Typus der schönen (d. h. für den Mann begehrenswerten) Frau. Die Häßlichkeit bezeichnet die Distanz zum Christlichen und die Präsenz des Heidnischen, Fremden, Barbarischen, identisch mit dem Bösen und Bedrohlichen. Im um 1240 entstandenen Artusroman Diu Crône 33 reitet Gawein durch eine ihm 29 Die Grenzen zwischen Riesin und wilder Frau verlaufen ziemlich unscharf. Berille, die Schwester des Riesen Tressan besitzt eine Stahlstange. Sie entführt und verschleppt den Helden in eine Höhle. Ihre Beschreibung ähnelt der des Waldtoren (Das deutsche Heldenbuch. Hrsg. A. Keller. 1867 [LVSt, Bd. 87], 270, 23 ff.) 30 Gargana rächt den Tod ihres Sohnes Grisoppoi (Apollonius von Tyrland [Fn. 19], V. 9481 - 86); Runze rächt ihren schwerverletzten Gemahl (Wolfdietrich B. In: Ortnit und die Wolfdietriche. Hrsg. Arthur Amelung; Oskar Jänicke. Deutsches Heldenbuch. Bde. III, IV, S. 504 ff.), Uodelgart den Tod ihres Bruders und ihrer Mutter (Eckenlied L [Fn. 16], 240 ff.) Berille ihre Söhne 237 f. 31 Wigamur. Hrsg. C. v. Kraus. Berlin 1926. 32 Die Häßlichkeit der Kundrie besitzt metaphorische Funktion, während das abstoßende Äußere der Wildfrauen noch zusätzlich ihre Riesenhaftigkeit, Gewaltättigkeit und vor allem Unweiblichkeit betonen soll. - Vgl. Wisbey, Roy: Die Darstellung des Häßlichen im Hoch-und Spätmittelalter. In: Hamburger Colloquium 1973. Hrsg. Wolfgang Harms; L. Peter Johnson. Berlin 1975, S. 9 - 34, hier S. 26 ff. Zum weiblichen Schönheitsideal in der höfischen Literatur vgl. Bumke, Joachim: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. München 1986, S. 451 - 454; Köhn, Anne: Das weibliche Schönheitsideal in der ritterlichen Dichtung. Leipzig 1930. 33 Heinrich von dem Türlin: Der aventiure Crône. Hrsg. G. H. F. Scholl. Stuttgart 1852 (LVSt, Bd. 27). 610 Christa Habiger-Tuczay unbekannte Gegend, als er den Hilferuf einer Frau vernimmt. Er befreit diese aus der Gewalt eines wilden Wassermannes, den er dabei verwundet (V. 9264 - 66). Auf dessen Wehgeschrei erscheinen die schrecklichen Genossen des Mannes, die, mit ausgerissenen Bäumen bewaffnet, unter Kampfgebrüll auf den Helden losstürzen. Als er einen tötet, fliehen die anderen. Zusammen mit der geretteten Frau flüchtet er über einen Wasserlauf, den die Wasserwe sen nicht zu überschre iten vermögen. Erschöpft ruht er sich unter einem Baum aus, als ihn das Gebrüll einer wilden Frau aufschreckt: »Sie hâte ougen sam ein strûz / die brunnen sam ein viure« (V. 9356 f.) Auch sie besitzt einen faltigen Körper und Brüste, die an Blasbälge gemahnen (V. 9387). Die Häßlichkeit dieser namenlosen wilden Frau läßt sich nicht ausschließlich in die Nachfolge des Waldtoren stellen, sondern repräsentiert einen eigenen Typus. Vermutlich war dieses Konzept bereits in der Antike für die Gestalt der Dirne und Kupplerin 34 entwickelt. Auffällig ist der Gestank, der ihr aus der Nase dringt (V. 9360 f.), die runzeligen, übers Kinn reichenden Wangen (V. 9373 - 78), ihre schweren Hängebrüste, der faltige Körper, die Schweinezähne (V. 9368 - 71) und ihre Hundeohren (V. 9378 f.). Außerdem ist sie von ungewöhnlicher Größe, eine Riesin, die den Helden unter der Achsel fortschleppt, um ihn zu töten. Als ihm die Flucht gelingt, setzt die wilde Frau zu einem infernalischen Geheul an. 35 Hier zeigt sich noch ein weiterer Zug in der Komposition des Typus’, die wilde Frau wird zur lebensbedrohlichen Gewalt und erhält somit Züge eines Totendämons. 36 Die Ikonographie der Wildleute Die allererste Erwähnungung und zugleich Darstellung ist aus dem Orendel überliefert: Das Bild eines wilden Mannes schmückt Mentwins Helm (V.1257 ff.). 37 Die häufige Darstellung von Wildleuten auf Teppichen des 15. und 16. Jahrhunderts zeugt von der außerordentlichen Beliebtheit des Motivs. Eine Vielzahl der Teppiche ist zwar verloren gegangen, doch die zwei Dutzend erhaltenen Stücke geben wertvolle Hinweise. Ein Exponat des Germanischen Museums in Nürnberg ist in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse. Eine Szene zeigt ein Meerwunder, welches eine wilde Frau entführt hat und deshalb von wilden Leuten angegriffen wird. Die Mode, sich als wilde Leute zu verkleiden, tritt auch in der bildlichen Darstellung zutage. Auf Kostümfesten war es anscheinend äußerst beliebt, in Wildleute-Vermummung zu erscheinen. 34 Prostituierte hat man im 15. Jahrhundert als »wilde Frauen« bezeichnet (vgl. Leyen/ Spamer [Fn. 26], S. 96 f.). 35 Konrad von Megenberg erwähnt ebenfalls dieses tierische Gebrüll: »Ez sint menschen, dâ selben die sint wild und sint gar grôz, die sind auch sam die swein und schreient sam die tier.« (Konrad von Megenberg: Das Buch der Natur. Hrsg. Franz Pfeiffer. Stuttgart 1861 [Nachdr. Hildesheim 1962], S. 493, 26 f.). 36 Vgl. Barb, A.: Antaura. The Mermaid and the Devil’s Grandmother. In: Journal of the Warburg and Courtault Institutes 29 (1966), S. 1 - 23; Grimm, Jakob: Deutsche Mythologie. Bd. II, S. 872 - 924; Kasten, Ingrid: Häßliche Frauenfiguren. In: Auf der Suche nach der Frau im Mittelalter. Hrsg. Bea Lundt. München 1991, S. 255 - 277. 37 Sankt Oswald, Orendel, Salman und Morolf. Hrsg. W. J. Schröder. In: Spielmannsepen, Bd. II. Darmstadt 1976. Wilde Frau 611 Geiler von Keysersberg meldet, daß die Straßburger Ehefrauen ihre Männer scherzhaft als »wild« bezeichneten, um deren besondere Virilität herauszustreichen. Aus dieser Gegend stammen auch die meisten Tapisserien mit wilden Leuten als Thema. Die älteste Repräsentation ist eine aus dem 14. Jahrhundert erhaltene Platte aus Altenberg im Dürntal (in der Nähe von Köln). Sie zeigt die Heimkehr der wilden Männer von der Jagd und deren herzliche Begrüßung von wilden Frauen mit ihren Kindern. Offensichtlich nahm die wilde Frau in der bildlichen Darstellung die Funktion eines Fruchtbarkeitssymboles ein. 38 Der wilde Jäger 39 und die wilde Schönheit Der Mythos vom wilden Jäger, der mit seinen Hunden und dem wütenden (Toten-)Heer auf der Suche nach jungfräulichen Opfern durch die Nacht hetzt, hat auch in die mittelalterliche Literatur Eingang gefunden. Deutliche Züge des wilden Jägers zeigt der allein auftretende wilde Mann bzw. Riese in den sogenannten Frauenjagdepisoden: Im Wunderer besitzt das verfolgte wilde Fräulein alle Attribute einer adeligen Dame, es wendet sich auch an den Hof um Hilfe und erhält Dietrich als Kämpfer zugeteilt. Der Name des wilden Fräulein ist Frau Sælde, darf aber nicht, wie bereits Röhrich betont hat, mit einer Glücksallegorie verwechselt werden. Vielmehr handelt es sich um einen Hinweis auf die als Salige bekannten Wildfräuleingestalten. Eine Frau Selga ist 1525 für Tirol bezeugt. 40 Aus dem Umkreis des Wunderer stammt das Eckenlied. Der wilde Jäger nennt sich Vasolt und ist der Bruder des Protagonisten Ecke. Er jagt ein wildes Fräulein, welches ebenfalls Dietrich von Bern beschützt. Das wilde Fräulein hat freilich wenig mit dem haarigen Mann aus dem Iwein gemein. Es ist höfisch, 41 christlich und versteht sich auf Heilkunde. 42 In der Virginal herrscht die wilde Dame als Königin über Zwerge (V. 63, 5). Nach dem Tod des Königs des hohlen Bergs gerät das Reich in die Gewalt des heidnischen Riesen Orkise, 43 der alljährlich ein Christenmädchen als Tribut fordert. Die Tochter des verstorbenen Königs gewinnt Hildebrand als Helfer. Orkise läßt von seinen Hunden ihr Kleid zerreißen, daraufhin tötet Hildebrand die Hunde. Eindrucksvoll schildert der Dichter die Szene, als das Jagdhorn des Orkise ertönt und die verfolgte Jungfrau aus Angst und Verzweiflung ihr langes Haar rauft (V. 127, 5). Mit den serbischen »vilen« und den keltischen Feen haben die wilden Frauen nicht nur die Herrschaft über die Tiere gemein, sondern auch die Fähigkeit zur Verwandlung. Bei den genannten Beispielen aus der Dietrichsepik geht die Geschichte dank Dietrichs Hilfe gut für die Verfolgte aus. In der Exempelliteratur ist das Motiv der Frauenjagd ebenfalls bezeugt, jedoch mit schlechtem Ausgang für die Betroffene. Der Zisterzienser Helinand von Froidmond berichtet das Spukerlebnis eines Köhlers, der eine nächtlich 38 Deshalb auch die häufige Darstellung auf Hochzeitskästchen; vgl. Spieß, Karl von: Marksteine der Volkskunst. In: Jahrbuch für historische Volkskunde, Bde. V und VI. Berlin 1937, Bd. I, S. 203 ff. 39 Vgl. Röhrich, Lutz: Die Frauenjagdsage. In: Laographia 22 (1965), S. 408 - 423. 40 Röhrich (Fn. 39), S. 416. 41 Das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens bezeichnet sie als Fee (HdA, Bd. VI, Sp. 134). 42 Auch das Meerweib in der Erzählung »Abor und das Meerweib« ist kräuterkundig. Abor und das Meerweib, hg. v. Meyer-Berley, Göttingen 1920, S. 180 - 183 (= Mhd. Übersetzungstexte 2). 43 D.i. der Orco der Volkserzählungen (vgl. Mannhardt [Fn. 23], Bd. I, S. 110, 338). 612 Christa Habiger-Tuczay wiederkehrende Frauenjagd beobachtete. Ein Soldat verfolgt eine Frau, holt sie ein, durchbohrt sie mit seinem Schwert und wirft sie ins Feuer. Der Köhler erfährt, daß es sich dabei um die Strafe für einen Ehebruch gehandelt habe. In einem späteren Beleg, mitgeteilt von Cäsarius von Heisterbach, versucht der die Spukszene beobachtende Ritter die verfolgte Frau, die Konkubine eines Priesters, an ihrem Haar festzuhalten und durch einen Zauberkreis zu schützen. Auch dieser Rettungsversuch mißlingt. 44 Bernheimer meint, antike Einflüsse aus der Artemistradition geltend machen zu können: Auch dort wird die jungfräuliche Jägerin von einem Dämon verfolgt und getötet. Die spätmittelalterliche Volkssage hat dieses Motiv - Wilder Jäger verfolgt wildes Fräulein - in den Moosfräuleinjagden bewahrt. Die Moosbzw. Holzfrauen, oft auch mit den armen Seelen, den Saligen identifiziert, müssen vor den den Geistern der wilden Jagd fliehen, die sie erbarmungslos hetzen, weshalb diese oft auch die »Holzhetzer« genannt werden. 45 Hier hat sich der Traditionsstrang der verfolgten wilden Schönheit ungebrochen fortgesetzt. 46 Die Teufelin Drei als Synonyma verwendete Begriffe begegnen in den deutschen und lateinischen Texten des Mittelalters: lateinisch »lamia«, althochdeutsch »holzmuva«, »vvildaz wip«, mittelhochdeutsch »wildes wip«. 47 Die zweite Bedeutung: »fremd«, »barbarisch« enthält auch die Konnotation »heidnisch« bzw. »nicht-christlich«, wie die Stellen belegen, die die wilde Frau als häßlich, schwarz und ungeheuer furchterregend darstellen. Eine übel beleumundete Frau, die Gargana im Apollonius von Tyrlant (V. 9479), nennt der Dichter »tiuvelin«. Im zweiten Teil des Nibelungenliedes erhält Kriemhilt diese Bezeichnung, als sie sich ungezügelt ihrem Zorn hingibt. Ebenso die bereits erwähnte Lespia im Wigamur (V. 111 f.), die Ruêl im Wigalois, die namenlose Wilde in der Crone (V. 9375), eine »Teufelsbraut« ist die häßliche wilde Meerfrau im Wolfdietrich A (V. 470,4) u. a. Als Naturwesen scheinen sie um die geheimen Kräfte der Natur zu wissen, vor allem über die wild wachsenden Kräuter, deren Eigenschaften und Wirkungen sie kennen. 48 44 In der Zimmerschen Chronik aus dem 15. Jahrhundert (Chronik des Grafen von Zimmern, hg. v. K.A. Barack, 4 Bde. Freiburg 2 1882 - 84.) ist ebenfalls von einer spukhaften Frauenjagd die Rede, doch gelingt es dem menschlichen Beobachter, die Verfolgte mit seinem Zauberkreis zu schützen (Caesarius von Heisterbach: Dialogus miraculorum. Hrsg. J. Strange. 2 Bde. Köln 1851, XII, 20; Lecouteux, Claude: Geschichte der Gespenster und Wiedergänger im Mittelalter. Wien 1987, S. 164). 45 Bei Prätorius findet sich eine eindrucksvolle Beschreibung des wilden Jägers, wie dieser die Moosfrauen mit seinen Hunden verfolgt (Prätorius’ Weltbeschreibung. Bd. I, S. 693; Grimm, Jakob und Wilhelm: Deutsche Sagen. Bd. 3 Bde., München. Bd I, S. 60). 46 Vgl. auch Ahrendt, Ernst Herwig: Der Riese in der mittelhochdeutschen Epik. Güstrow 1923, S. 66 f.; Grimm, Deutsche Sagen (Fn. 45), Nr. 48. 47 Esaias-Glosse: »Ulula« ist »holzmova« (Gl. I 589,28) und »lamia holzmuoia vel wildaz vvip« (Gl. I 609,16 - 19). Das Summarium Henrici identifiziert »lamia« mit »holzmoia«. »Holzvrowe ist ein vielschichtiger Sammelbegriff, was die synonymische Wendung »wildaz vvip« auch ausdrückt.« Lecouteux, Claude: Lamia - holzmuowa - holzfrowe - Lamich. In: Euphorion 75 (1981), S. 360 - 365, vgl. bes. S. 361. 48 Vgl. Pehl: Waldgeister. In: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. IX, Sp. 55 - 62, bes. Sp. 59. Wilde Frau 613 Eine wilde Frau lehrt Wate in der Kudrun 49 die Heilkunst, das bereits erwähnte wilde Fräulein im Eckenlied trägt eine magische Wurzel bei sich, die Dietrich das Leben rettet, das Meerweib in der Erzählung Abor und das Meerweib (V. 64) besitzt ebenfalls Heilkräfte. Diese Identifikation der Wildleute mit Heilern scheint in den als »Waldhansel« bezeichneten Quacksalbern und Volksheilern, die bis ins 18. Jahrhundert nachzuweisen sind, fortgelebt zu haben. 50 Magische Fähigkeiten sprach man ihnen ebenfalls zu, wie eine Stelle in Wolfdietrich K 51 beweist: »im walt do want ym peie ein prun tet pey im stan / ein liet von tzaubereie ein holtz weib drein het than«. 52 Der Effekt des magischen Aktes bleibt allerdings unklar. Eine weitere Fähigkeit scheinen sie besessen zu haben, die sie mit der germanischen Riesin, den mittelalterlichen Magiern und den Hexen teilen: die der Wetterprognostik und der Zukunftsschau. Die schwarze Farbe scheint mit Wildheit schlechthin identifiziert worden zu sein. Iwein nimmt sie in seinem Wahn an, auch der von der rauhen Els verzauberte Wolfdietrich. Diese erscheint in ihrer Wildgestalt als Prototyp der Lasterhaftigkeit, Unmoral und Zügellosigkeit, verfolgt sie doch den Ritter mit ihrem schamlosen Liebeswerben drei Jahre lang. 53 Nach ihrer Taufe und ihrer Bekehrung zum Christentum erhält sie ein wunderschönes Aussehen und den Namen Sigeminne. 54 Burkhard von Worms vergleicht die Vorliebe der wilden Frauen für menschliche Liebhaber mit den Succubi, wie diese wären auch sie fähig, sich unsichtbar zu machen: »Hast auch du geglaubt, daß es Frauen im Wald gibt, die man Wildfrauen nennt, die körperlich erscheinen, und wenn sie es wünschen, sich ihren Liebhabern zeigen und mit ihnen ihr Vergnügen haben, und dann, wenn ihnen danach zumute ist, wieder verschwinden? « 55 Im Hintergrund bleibt vielfach der Einfluß der antiken Sage spürbar. Die mittelalterlichen Dichter und Glossatoren bedienten sich oft antiker Termini und applizierten diese auf einheimische Vorstellungen der niederen Mythologie, wodurch gänzlich unterschiedliche Vorstellungskreise miteinander vermengt wurden. »Holzmuwa« oder »holzvrowe« z. B. wird mit lat. »Lamia« wiedergegeben, obwohl die dahinterliegende Vorstellung nicht wirklich deckungsgleich ist. 56 Obzwar die wilden Leuten mit antiken Walddämonen viele Züge gemeinsam haben, läßt sich eine Abhängigkeit im Sinn einer kontinuierlichen Tradition 57 nicht konstatieren. 49 Kudrun. Hg v. B. Symons; 4. Aufl. v. B. Bolsch, Tübingen 1964 (=ATBS). 50 Vgl. Pehl. op. cit. Sp. 59 (HdA). 51 Wolfdietrich K. Hrsg. Friedrich von der Hagen; A. Primisser. In: Der Helden Buch in der Ursprache. Berlin 1920. 52 Wolfdietrich K (Fn. 51), Str. 277, 7 f. 53 Erotisches Verlangen schreibt man auch der alpenländischen Wildfrau, der Fängga, und der skandinavischen skogsnuvfa zu. 1691 und 1701 waren zwei schwedische Burschen des Verkehrs mit Wildfrauen angeklagt (vgl. Peuckert, Will-Erich: Deutscher Volksaberglaube des Spätmittelalters. Stuttgart 1942, S. 75 f.). 54 Ihre Gestalt war anscheinend dermaßen bekannt und beliebt, daß sie im Ortnit ebenfalls aufgenommen wurde. 55 Zit. nach Wasserschleben, Friedrich Wilhelm: Die Bußordnungen der abendländischen Kirche. Halle 1851 (Nachdr. Graz 1958), S. 658. 56 Wie Lecouteux ganz richtig feststellte, gehört der 2. Teil des Kompositum von »holzmuja« zu mhd. »muejen« in der Bedeutung: »leid tun«, »klagen«, »bedauern«, nicht, wie Simrock fälschlicherweise annahm, zu »muen« mit der Bedeutung »muhen« (Lecouteux [Fn. 5], S. 364). 57 Mannhardt hat noch eine direkte Abhängigkeit angenommen (Mannhardt [Fn. 23]). 614 Christa Habiger-Tuczay In der mittelalterlichen Hierarchie nehmen die Wildleute ein Stadium zwischen Mensch und Tier ein. Einen gänzlich anderen Stellenwert in der Menschheitsgeschichte wiesen die Renaissancedichter den Wildgestalten zu. In Hans Sachs Klag der wilden Holtzleut repäsentieren diese den verlorenen paradiesischen Zustand des Menschengeschlechtes. Der beigebene Holzschnitt von Hans Schäuffelein porträtierte Wesen von harmonischem Körperbau in pardiesischer Umgebung, Vorbild für das menschliche Geschlecht. »Also on einfeltigen mut Vertreyben wir hie unser zeyt Biß ein enderung sich begeyt Inn weyter welte um und umb Das yedermann wirdt trew und frumb Das stat hat armut und einfalt Denn wöll wir wider auß dem walt Und wonen bey der menschen schar Wir haben hie gewart vie jar Wenn tugnt und redligkeyt auffwachs.« 58 Die wilde Frau in der nachmittelalterlichen Volkstradition 59 Die Darstellung schwankt zwischen oben aufgezählten Charakteristiken: Riesen bzw. Zwergform, häßliches bzw. schönes Äußeres. Je nach Landstrich haben sich Ökotypen ausgebildet. Zwergartige Holz- und Moosfrauen tummeln sich in den Erzählungen Mitteldeutschlands, Frankens und Bayerns, neben den furchterregenden riesenhaften wilden Frauen in Hessen. Tirol hat eine Sonderform entwickelt: die »Fanggen« 60 , die »Waldfänken« in Graubünden heißen. Die »Fenggen« Vorarlbergs waren allerdings zwergwüchsig. Die wilden Frauen der steirischen Volksage gelten als verzauberte Menschen und werden als Wesen mit hohlem Rücken beschrieben, was an den mittelalterlichen Mythos von der Frau Welt erinnert, aber auch ihre Verwandtschaft m it den Bäumen betonen mag. Auch die Holda der Nachtfahrerinnen erscheint von vorne als schöne Frau, hinten als hohler Baum. 61 Die Tradition der häßlichen Wildfrauen mit Tierbeinen und Hängebrüsten 62 blieb ebenso erhalten wie die Erzählung von der Jagd auf die schöne Wildfrau. Die als Horde auftretenden häßlichen wilden Weiber stehen den Menschen stets feindlich gegenüber. Außerdem lassen sich Verschmelzungen mit dem Stereotyp des Hexenbildes feststellen, da die Frauen oft mit roten Haaren geschildert werden. 63 58 Hans Sachs. Hrsg. Adelbert v. Keller. Bd. III. Tübingen 1870 (BLVSt, Bd. 104), S. 561 - 564, S. 564. 59 Vgl. Schwarz: Die Wilde Frau. In: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Bd. 9, Sp. 968 - 980; und besonders Haiding, Karl: Sagen von den Wildleuten. In: Österreichischer Volkskundeatlas, 6. Lieferung/ 2. Teil (1979), Bl. 115, S. - 81. 60 Vgl. Bäschlin: Fängge. In: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Bd. 2, Sp. 1184 - 1189. 61 Vgl. Mannhardt (Fn. 23), Bd. I, S. 121; Waschnitius, Viktor: Perht, Holda und verwandte Gestalten. Ein Beitrag zu deutschen Religionsgeschichte. In: Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Phil. Hist. Kl., Bd. 171, 2. Abh. Wien 1914; Haiding, Karl: Wildfrauen-Sagen in Österreich. In: Probleme der Sagenforschung. Hrsg. L. Röhrich. Freiburg 1973, S. 196 - 203, S. 197. 62 Die Wildfrauen bieten ihre Brüste zum Trinken an (vgl. Peuckert [Fn. 53], S. 69). Wilde Frau 615 Die einzeln auftretende Wildfrau erscheint häufig als Helferfigur, die sich in den Dienst der Menschen begibt. Allerdings sind dabei allerlei Verbote zu beachten, bei deren Nicht-Einhaltung sie verschwinden. Auch stehen diese Sagen mit dem Erzählmotiv der »Todesbotschaft« (Verkündigung des Todes eines Angehörigen und Verschwinden der Wildfrau) in Zusammenhang. Bibliographische Hinweise Quellen Eckenlied. Fassung L. Hrsg. M. Wierschin. Tübingen 1974 (ATB, Bd. 78). Hartmann von Aue: Iwein. Hrsg. G. F. Benecke; K. Lachmann, Bearb. L. Wolff. Berlin 1968. Heinrich von Neustadt: Apollonius v. Tyrland. Hrsg. S. Singer. Berlin 1906 (DTM, Bd. 7). Pleier: Garel von dem blühenden Tale. Hrsg. W. Herles. Wien 1981. Tandareis und Flordibel. Hrsg. V. F. Khull. Graz 1885. Wolfdietrich A, B, D. Hrsg. A. Amelung; O. Jänicke. Dublin; Zürich 1963 (DHB, Bd. III, 1 - 2). Forschungsliteratur Barb, A.: Antaura. The Mermaid and the Devil’s Grandmother. In: Journal of the Warburg and Coutault Institutes 29 (1966), S. 1 - 23. Bumke, Joachim: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. München 1986. Kasten, Ingrid: Häßliche Frauenfiguren. In: Auf der Suche nach der Frau im Mittelalter. Hrsg. Bea Lundt. München 1991, S. 255 - 277. Köhn, Anne: Das weiblichen Schönheitsideal in der ritterlichen Dichtung. Leipzig 1930. Röhrich, Lutz: Die Frauenjagdsage. In: Lagographia 22 (1965), S. 408 - 423. Stauffer, Marianne: Zur Darstellung und Deutung der Natur im Mittelalter. Zürich 1958. Wisbey, Roy: Die Darstellung des Häßlichen im Hoch- und Spätmittelalter. Hamburger Colloquium 1973. Hrsg. Wolfgang Harms; L. Peter Johnson. Berlin 1975. 63 Schwarz (Fn. 59), Sp. 984 - 986. Der Wilde Mann - ein Mythos vom Andersartigen Ernst Ralf Hintz (Hayes) In seinen Diskursen in De civitate Dei (Gottesstaat) über die Allmacht Gottes, des Schöpfers, der über die Natur herrscht und »die Toten auferstehen läßt und die Verdammten ins ewige Feuer schickt«, erinnert uns Augustinus daran, daß das Wort »Monstrum« sich von dem lateinischen »monstrare« = »zeigen« herleitet. 1 Gemeint ist hier, durch »Wunder« als Zeichen oder Vorzeichen von Gottes Macht zu verdeutlichen, daß er mit der Natur nach seinem Willen verfahren und so die Prophezeiungen der Schrift erfüllen kann. 2 So bekräftigt also das Wunderbare und das Außerordentliche die Macht Gottes, seine Versprechen wie auch die göttlichen Vorsehungen zu verwirklichen, selbst wenn sie den Naturgesetzen zu widersprechen scheinen. Derartige Wunder hatten eine um so einprägsamere Wirkung, als das frühe Christentum Naturerscheinungen und -vorgänge genau beobachtete, setzte es doch den Menschen als Körper und Geist von der Natur ab, ebenso wie es auch die Menschen als eine klar abgegrenzte Kategorie gegenüber den Tieren ansah. 3 Was konnte dann aber der Mythos vom Wilden Mann, dieser mythischen, oft ungeheuerlichen Gestalt, die, wie man glaubte, die Wälder und verlassene Gegenden bewohnte, ein von Haaren bedecktes Geschöpf, das über enorme Kräfte verfügte, aber nicht die Fähigkeit zur Sprache besaß, was konnte ein solches Wesen dem mittelalterlichen Menschen über sich selbst und seine humanitas zeigen? Denn der Wilde Mann und natürlich auch die Wilde Frau stellten aus der Sicht der römischen Kirche gefallenes und degeneriertes Menschentum dar, das irgendwo zwischen Mensch und Tier angesiedelt war. 4 So kann man ihn ungefähr am Anfang eines Kontinuums sehen, das sowohl Dämonen, Tiere, als auch Menschen und die Heiligen einschloß, d.h., seine Natur umfaßte alle Eigenschaften vom Bestialischen bis zum Menschlichen oder, weiter gefaßt, vom Dämonischen bis zum Heiligen. 5 Doch obwohl der mythische Wilde seinen Ursprung im Menschen hat, nämlich sowohl als menschenähnliches Wesen wie auch als Erfindung der menschlichen Vorstellung, 6 ist es ihm nicht gelungen, auch als völlig menschliches Wesen anerkannt zu werden; er wurde vielmehr an die Grenze der menschlichen Existenzsphäre 1 Augustinus: De civitate Dei contra paganos, 21, 7: »Cur itaque facere non possit Deus ut et resurgant corpora mortuorum et igne aeterno crucientur corpora damnatorum, qui fecit mundum in caelo in terra, in aere in aquis innumerabilibus miraculis plenum? « Zu »monstrare«: siehe ebd. 21. 8. 2 S. dazu: White, Hayden: The Forms of Wildness. In: Dudley, Edward; Novak, Maximillian E. (Hrsg.): The Wild Man Within. An Image of Western Thought from the Renaissance to Romanticism. Pittsburgh 1972. White betrachtet Augustinus’ Beschreibung des Jägers Nimrod in De civitate Dei als Definition von »Wildheit«: »The equation is all but complete: in a morally ordered world, to be wild is to be incoherent or mute, deceptive, oppressive, and destructive; sinful and accursed; and, finally, a monster, one whose physical attributes are in themselves evidence of one’s evil nature« (S. 16). Siehe auch: Bartra, Roger: Wild Men in the Looking Glass. Ann Arbor 1994, S. 89. 3 S. dazu: Salisbury, Joyce E.: The Beast Within. Animals in the Middle Ages. New York; London 1994, S. 138. 4 S. dazu White (Fn. 2), S. 22. 618 Ernst Ralf Hintz gedrängt und lebte zumeist am Rand der unheilträchtigen tiefen Wälder. Wie Roger Bartra treffend bemerkt, sagt Augustinus’ Theologie wenig »über den Menschen als Monstrum.« »Der Mythos war stärker als die Theologie. Bis zum 12. Jahrhundert hatte die mittelalterliche Ikonographie die stereotypische Figur des langhaarigen Wilden festgeschrieben, die sich verzweifelt als Bindeglied zwischen dem Menschen auf der einen Seite und Leidenschaft und Sex auf der anderen zu etablieren sucht.« 7 Die Suche nach dem »link«, dem Verbindungsglied, ergibt mit großer Deutlichkeit eine Trennung, wenn nicht eine Inkompatibilität zwischen instinktbestimmter Körperlichkeit und Sexualität, wie sie Tieren eigen sind, und einem bestimmten Verständnis dessen, was Männer und Frauen als Menschen definiert. Man müßte also versuchen, eine Antwort auf die Fragen zu geben, wie es zu einer solchen Definition kam und warum sie einem nominell christlichen Zeitalter wie dem Mittelalter wichtig war, indem man die Ursprünge des Mythos vom Wilden Mann untersucht. Klassische und frühchristliche Quellen Für die Griechen der Antike waren halb menschliche und halb mythische Wesen keine Barbaren, sondern standen innerhalb der griechischen Welt. In ihrer eigenen wilden und tierhaften Existenz am Rand der griechischen Kultur standen sie dem geordneten Leben der Polis als Gleichgewicht gegenüber. 8 Solche Randfiguren wie Zentauren, Zyklopen, Mänaden, Satyre, Silene, Titanen und ähnliche haben wahrscheinlich dazu beigetragen, sowohl »die Grenzen der zivilisierten Welt zu definieren«, 9 als auch dementsprechend die idealen Eigenschaften der Menschen zu bestimmen, insbesondere derjenigen Mitglieder der Gesellschaft, die als Empfänger von »paideia« zur vollen Teilnahme an den bürgerlichen Angelegenheiten des Staates befähigt waren. Allerdings sah man in der Antike und im Mittel alter eine Geme insamk eit zwi schen den Wilde n Leut en und den Barbaren : ihre sklavische Bindung an die Natur hinderte sie daran, an einem geordneten und disziplinierten Leben in der Gesellschaft teilzunehmen. 10 Während die Barbaren eine Bedrohung 5 Leander Petzoldt verweist auf die dämonische Natur des Wilden Mannes unter dem Stichwort: Wilde Leute (Wilder Mann, Wildfrau, -fräulein, Moosleute, Holzleute, -weiblein, Rüttel-, Buschweiblein). Sammelbezeichnung für Naturdämonen männlichen und weiblichen Geschlechtes, die vorzugsweise die Wälder und Berge bevölkern. In: Kleines Lexikon der Dämonen und Elementargeister. München 1990, S. 190 - 92. 6 Bartra hält den Mythos des Wilden Mannes für »eine europäische Erfindung« und »ein ursprüngliches Grundelement der europäischen Kultur« (Bartra [Fn. 2], S. 4 f.) 7 Bartra (Fn. 2), S. 89; s. auch: White (Fn. 2), S. 16 - 18. 8 Vgl. White, der bemerkt, daß wie: »die Hebräer zwischen Juden und Nichtjuden und Wilden unterschieden, so unterschieden auch die Griechen und Römer zwischen zivilisierten Menschen, Barbaren und Wilden« (White [Fn. 2], S. 19). Siehe auch: Bartra, der einen nützlichen Überblick des agrestischen Ursprungs des Mythos vom Wilden Mann in der antiken griechischen und römischen Kultur bietet (Bartra [Fn. 2], S. 9 - 41). 9 Bartra (Fn. 2), S. 18. 10 White (Fn. 2), S. 20; siehe auch: Bartra (Fn. 2), S. 19 - 33; ferner siehe: Bernheimer, Richard: Wild Men in the Middle Ages. Cambridge 1952, S. 3 - 4. Bernheimers Studie bleibt wichtig sowohl als maßgebende Studie wie auch als Quellensammlung für weitere Untersuchungen. Der Wilde Mann - ein Mythos vom Andersartigen 619 der Gesellschaft im allgemeinen von außerhalb des geographischen und kulturellen Bereichs darstellten, war in der Antike und im Mittelalter die größere Nähe des Wilden Mannes innerhalb der Grenzen des allgemeinen Lebensbereichs eine allgegenwärtige Gefahr für diejenigen, die absichtlich oder unabsichtlich aus »der unmittelbaren Begrenzung der Gemeinschaft« ausscherten. 11 Einfach gesagt, zeigte sich diese Bedrohung in der dem Wilden Mann zugeschriebenen ungehemmen Lebensart, die sich möglicherweise als destabilisierender Einfluß auf die Mitglieder der Gemeinschaft auswirkte, die ihm begegneten. In diesem Sinn weist der Mythos vom Wilden Mann und seiner Bedrohung für jeden Menschen auf Northrop Fryes Begriff des »sekundären Mythos« hin, durch den die Gesellschaft »einem besonderen sozialen Anliegen« begegnet. 12 In der Antike und im frühen Mittelalter stellte der Mythos des Wilden Mannes sozusagen ein negatives Verhaltensmodell dar, das nicht nur die sexuellen und sozialen Sitten des einzelnen gefährdete, sowie auch seine Rolle innerhalb der Gesellschaft, sondern auch sein Heil, sei es im religiösen oder auch im weltlichen Sinn, oder beides. 13 In welcher Weise aber hat dieses Modell in diesen frühen Epochen zu einer Definition des Menschlichen beigetragen? Man kann diese Frage angehen, indem man weitere charakteristische Formen der Wildheit dieser mythischen Gestalt untersucht. Die antike Mythologie stellte die verschiedenen Arten von Waldgeistern durch die griechischen Götter Dionysos und Artemis, beziehungsweise ihre römischen Entsprechungen Bachus und Diana vor, die griechischen Satyre und Silene durch die römischen Silvani, die zu den allgemeinen Ahnen des Wilden Mannes gehören. Habitat und Lebensart dieser Wesen am Rand der zivilisierten Gesellschaft bildeten den Bereich des »Anderen«. 14 Es ist besonders bemerkenswert, daß die wilden Menschen ihre eigenen Angelegenheiten nicht durch Sprache »zu Wort bringen« konnten, denn ihnen fehlte die Fähigkeit, sich verbal auszudrücken. Sie verständigten sich in der Art der Tiere. Ihre Sprachlosigkeit stellte sie in die Rolle des »Anderen« zugunsten derjenigen in der Gesellschaft, von denen der Mythos des Wilden Mannes aus dem sicheren und sanktionierten Bereich ihrer eigenen Gemeinschaft verstanden wurde. Dadurch gab die Stummheit der wilden Leute den Exponenten dieses Mythos die Gelegenheit, ihre Ängste vor dem unheimlichen Randgebiet der Gesellschaft laut werden zu lassen und dementsprechend sich davon fernzuhalten. Denn gerade dorthin, in die periphere Existenz der wilden Leute, in das sogenannte »Andere«, konnte man auf Grund eines gesellschaftlichen Fehltritts verwiesen werden. Dieses Andere stellte nämlich gerade die »reale« Verwirklichung der Ängste der 11 White (Fn. 2), S. 20 - 21. Die Erscheinung des Wilden Mannes am Horizont der Gesellschaft führt White zu folgender Schlußfolgerung: »In the Christian Middle Ages, then, the Wild Man is the distillation of the specific anxieties underlying the three securities supposedly provided by the specifically Christian institutions of civilized life: the securities of sex (as organized by the institution of the family), sustenance ( as provided by the political, social, and economic institutions), and salvation ( as provided by the Church).« Man darf hinzufügen, daß sich diese Trias sowohl auf die heutige säkulare Gesellschaft als auf die christlich-mittelalterliche beziehen läßt, die hauptsächlich der Form nach christlich war. 12 In seiner Untersuchung der Bibel spricht Frye von dem »Primär-Mythos« als eine Reihe von Geschichten und von dem »Sekundär-Mythos« als von einem Mythos, der, was unsere Zwecke angeht, auf eine »spezifische soziale Frage« gerichtet ist. Siehe Frye, Northrop: The Great Code. The Bible and Literature. London 1982, S. 33. Obwohl Fryes Definition des Sekundär-Mythos hier anwendbar ist, darf man nicht vergessen, daß der Autor in erster Linie aus der Sicht der Literaturkritik schrieb. 13 Zum Gebrauch von erzieherischen Verhaltensmodellen in der Literatur des frühen Mittelalters siehe: Hintz, Ernst Ralf: Learning and Persuasion in the German Middle Ages. New York, London 1997. 620 Ernst Ralf Hintz Erfinder und Anhänger des Mythos dar. 15 So konnte man sich durch den Mythos des Wilden Mannes ex negativo definieren, und hier wie in so vielen Fällen wird diese Eigendefinition dadurch erleichtert, daß man feststellt, welche Elemente die Identität nicht ausmachen. 16 Insbesondere sind es die negativen Erscheinungen der »Wildheit«, die dem Mythos des Wilden Mannes Gestalt verleihen. Das Bestialische, nämlich das tierische Äußere, der Mangel an Mäßigung und sexueller Zucht werden noch verstärkt durch die angebliche Unstitte des Kannibalismus. Wenn auch nicht alle als Kannibalen dargestellt sind, so bestand doch ein allgemeiner Glaube daran. In der Tat mißinterpretierten die Römer sogar die christliche Eucharistie als eine unmäßige, kannibalistische Feier von wilden Leuten in einem Zustand tierischer Ekstase. 17 Die mythischen behaarten Männer und Frauen der Antike erschienen in verschiedener Gestalt und unterschiedlichem Verhalten, sogar so verschieden voneinander wie die hundsköpfigen Kynocephali von den mundlosen, nach Apfel riechenden Astomi, nackte Wilde, die ihre Nahrung nur mit Hilfe ihres Geruchsinns finden konnten und dabei Gefahr liefen, durch widerliche Gerüche getötet zu werden. Die große Anzahl von Abbildungen und Darstellungen in der Kunst, sowohl in der Antike als auch später, bezeugen die faszinierende Vielfalt und das Anziehende dieses Mythos. 18 Und doch behielt der Mythos seine finstere Seite als unerwünschtes und negatives Verhaltensbild, das zu fürchten und zu meiden war. Aber die Aura der Furcht, die 14 Zu einer Diskussion des agrestischen und silvanischen Ursprungs des Mythos vom Wilden Mann und seiner Verbindung mit dem Konzept des Andersartigen siehe: Bartra (Fn. 2), S. 33 - 41. Insbesondere seine Bemerkung: »He (the civilized man) wants the Other around him, in order to define and identify his own individuality, as well as that of his group. The wild man, in contrast, is unsociable and does not intermingle« (S. 30). Im Gegensatz dazu sieht Bernheimer den Ursprung des Andersartigen in der Psyche jedes Mitglieds der Gesellschaft. Bernheimer spricht von einer »psychischen Kraft«, die als Entsprechung des Freudschen »Es« gesehen wird: »It appears that the notion of the wild man must respond and be due to a persistent psychological urge. We may define this urge to need to give external expression and symbolically valid form to the impulses of reckless physical self-assertion which are hidden in all of us, but are normally kept under control. These impulses, which are strongest in the very young, are restricted slowly, as the child learns to come to terms with a civilized environment which will not tolerate senseless noise, wanton destruction, and uncalled-for interference with its activities. But the repressed desire for such unhampered self-assertion persists and may finally be projected outward as the image of a man who is as free as the beasts, able and ready to try his strength without regard for the consequences to others, and therefore able to call up forces which his civilized brother has repressed in his effort at self-control« (Bernheimer [Fn. 10], S. 3). Obwohl Bernheimers Anwendung der Freudschen Idee eher der Mythos-Auffassung des frühen 20. Jahrhunderts anstatt der des Mittelalters entspricht, trifft er mit seinem Interesse an dem erzieherischen Werk des Mythos das Richtige. Vgl. White (Fn. 2), S. 10. 15 S. dazu: White, der sich auf Augustinus’ Auffassung des stummen Schweigens als Bestrafung für die Sünde der superbia bezieht (White [Fn. 2], S. 16). Indem White »die Barbaren« als Vertreter »einer allgemeinen Bedrohung der Gesellschaft« mit dem Wilden Mann als »Bedrohung« des Individuums« kontrastiert, postierte er den Wilden Mann »als ständig gegenwärtig, als Bewohner des unmittelbar an die Gemeinde grenzenden Bereichs. Er ist nur gerade außer Sichtweite, über dem Horizont, in den benachbarten Wald-, Wüsten-, und Berglandschaften« (ebd., S. 20 - 21). 16 Diese apophantische Perspektive findet sich auch in religiösen Mythen, nach denen die Menschen sich ex negativo definieren im Gegensatz zu den göttlichen Wesen und umgekehrt. In der Geschichte des Christentums z.B., läßt sich erkennen, daß die orthodoxe oder Ostkirche traditionellerweise apophantische Theologie praktiziert, die Gott durch seine Energien zu erkennen sucht und feststellt, was Gott nicht ist. Siehe auch: Salisbury (Fn. 3), S. 11. 17 Siehe: Bartra (Fn. 2), S. 32 ff. Siehe auch: Cohn, Norman: Europe’s Inner Demons. London 1975, S. 10. Der Wilde Mann - ein Mythos vom Andersartigen 621 den Mythos umgab, in sich selbst eine Quelle der Faszination, beherrschte seine Darstellung in der Volkskunst und im Volksglauben während der Zeitepoche, die man später Mittelalter nannte. Entstehung des Mythos vom Wilden Mann im Mittelalter Die mittelalterliche Volkskultur hat die mythische Figur des Wilden Mannes begeistert aufgenommen. Allerdings standen gewisse Befürchtungen dahinter, daß die Anhänger dieses Mythos selbst an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden könnten und deswegen auf ihre Sicherheit und ihren Schutz im Leben verzichten müßten. Der Mythos brachte aber außerdem noch unmittelbarere, von außen in die Gemeinschaft eindringende Bedrohungen mit sich. Unter diesen war zum Beispiel der Horror vor der Wilden Horde, eine Bande von ungeheuerlichen Erscheinungen, deren nächtliche Ausschweifungen im Winter durch Dörfer und ganze Landstriche jeden gefährdete, der ihr in die Quere kam. Die Wilde Horde oder Wilde Jagd wurde häufig von einem Wilden Mann angeführt. Obwohl deren Teilnehmer meistens für (neutrale) Geister gehalten wurden, bezeugte sie doch wohl die Verbindung des Mythos mit dämonischen und teuflischen Elementen. 19 Vor allem war der Wilde Mann jetzt nicht mehr der »homo silvestris«, ein scheues und und zurückgezogenes Waldwesen, das seine Abgeschiedenheit schätzte und dessen Schlagstock und behaartes Aussehen eher dem Schutz als der Aggression dienten. Statt dessen nahm er die Rolle eines gefährlichen und verderblichen Wesens an. Zwar war das vorherrschende Bild von ihm im Mittelalter nicht das eines Dämons oder eines Wesens im Bund mit dem Teufel, wenngleich man ihn mit der Eigenschaft von ungezügelter Sinnlichkeit assoziierte. Denn im Unterschied zu den bösartigen Geistern waren die Wilden Naturwesen. 20 Der Wilde Mann war also keine böse, sondern vielmehr eine Naturkraft, die mit ungeheurer Stärke auftreten und die »natürliche, rohe Sinnlichkeit eines brünstigen Tieres« an den Tag legen konnte. 21 Und weil diese Sexualität durchaus seiner Natur entsprach, hatte er keinen Teil am Tun des bösen Incubus. Der Wilde Mann versuchte seine Opfer nicht aus wissentlich böser Absicht zu fangen. Im Gegenteil, er war ein »Kid- 18 Husband, Timothy: The Wild Man. Medieval Myth and Symbolism. New York 1980, S. 6. Hinsichtlich dieser Rezeption bemerkt Husband (Fn. 18): »In a virtually uninterrupted continuum, the notion of these monstrous races was perpetuated from classical times through the Middle Ages.« 19 Bernheimer (Fn. 10), S. 22 - 24. Zur weiteren Diskussion der Wilden Horde hinsichtlich der »theatralischen Verkörperung« siehe: ebd., S. 77 - 88. Er weist auch auf den Glauben an die zerstörerischen Kräfte des Wilden Mannes als Sturmdämon hin. 20 Bartra kommentiert dazu: »Der Wilde Mann war das heidnische Symbol des Mittelalters, das am offensichtlichsten mit sexuellem Genuß, erotischer Leidenschaft und ›Fleischeslust‹ verbunden war. Das sexuelle Begehren des Wilden Mannes unterschied sich von dem des incubuus- und succubus-Dämons, die mit schlafenden Männern und Frauen kopulierten. Satan und seine Gefolgschaft hatten einen vorgeschriebenen und wohl definierten Diskurs, denn sie erschienen als außernatürliche Manifestationen der Feinde des christlichen Gottes. Dämonen waren bösartige Geister, während die wilden Menschen natürliche Geschöpfe waren. Ein incubus- oder succubus Dämon war die Verkörperung des Bösen. Im Gegensatz dazu war der Wilde Mann eine monströse Urkraft, die die Natur entfesselt hatte, um die zivilisierten Menschen durch bestialisches Menschenverhalten zu geißeln und der auch jeden nach Belieben mit seiner Kolossalkraft umschloß« (Bartra [Fn. 2], S. 100). 21 Bartra (Fn. 2), S 101. 622 Ernst Ralf Hintz napper«, der Frauen in seine Gewalt brachte, um sie in der Abgeschiedenheit der Wildnis zu halten und sich mit ihnen fürs Leben zu vereinen. 22 Die sexuelle Dimension des Wilden Mannes kann also nicht das Hauptthema dieser mythischen Handlungen sein. Man darf nicht vergessen, daß die mittelalterliche Auffassung von Sexualität als eine von vielen irdischen Schwächen der sündigen Menschheit sich auf markante Weise von der Rolle unterscheidet, die die moderne Gesellschaft der Sexualität zuschreibt. 23 Der Wilde Mann bedrohte seine weiblichen Opfer nicht nur durch bestialische Gelüste, sondern er verdammte sie zu einem einsamen Exilleben und mit größter Wahrscheinlichkeit auch zum Tode. Es ist anzunehmen, daß die Bedrohung durch gewaltsame Einbrüche vom Rand der Gesellschaft her und durch die damit verbundene Gefahr der unfreiwilligen Trennung von einer schützenden, lebenserhaltenden Gemeinschaft die Angst vor einem Leben als »Andersartiger« noch potenzierte. Auch die Wilde Frau war durch sinnliche Gelüste sklavisch getrieben und genauso kampfeslustig wie ihr männliches Gegenstück. Im Mythos kann sie viele verschiedene Formen annehmen. Eine zum Beispiel, die gefürchtet war, erscheint im Mythos der Fraengge aus Süddeutschland und im Alpengebiet als eine grausame weibliche Figur, deren große Brüste bis auf den Boden hingen und über die Schulter geschlungen werden konnten. Man kann diese Variante des Mythos in bezug auf ihre pädagogische Anwendungsmöglichkeit betrachten, sozusagen als Kinderschreck, um durch Angst vor Entführung von einem angeblich menschenfressenden Scheusal den Autoritätsgehorsam zu stärken. 24 Es überrascht nicht, daß der Mythos der Wilden Frau ebenso wie der des Wilden Mannes das Thema der sexuellen Kraft und der sinnlich-erotischen Leidenschaft besonders stark betonte. Ihre Fleischeslust enthüllte sich, zum Beispiel, in der Fähigkeit, sich in eine attraktive Jungfrau zu verwandeln, um dann ihre ahnungslosen Opfer in ihren Netzen zu fangen. Insbesondere war es ihre aggressive Sexualität, die das Leben ihrer glücklosen Liebhaber forderte, die die Gestalt der Wilden Frau zur Bedrohung der patriarchalischen Ordnung werden ließ. Während der Wilde Mann, wie es scheint, einer durchgehenden Verbindung mit dämonischen Elementen entgehen konnte, schnitt die Wilde Frau darin nicht so gut ab. Selbst das bayerische Epos Wolfdietrich aus dem 13. 22 Bernheimer beobachtet: »Er handelt nicht als Lüstling, sondern als Entführer. Und das Abenteuer des Mädchens muß daher als Besuch in der anderen Welt beschrieben werden, ähnlich wie die Erfahrungen zahlreicher anderer gefangener Schönen in Märchen und Romanzen des Mittelalters, die von Riesen und Ogern gefangen gehalten werden und befreit werden müssen. Bei der schnellen Entführung der Dame zu seiner Behausung in der anderen Welt jenseits der großen Trennlinie handelte der Wilde Mann als Dämon des Todes« (Bernheimer [Fn. 10], S. 126). Bernheimer bezeichnet sogar die Anwesenheit von »erotischen Anspielungen« als »sekundär«. 23 Camille, Michael: Image on the Edge. The Margins of Medieval Art. Cambridge 1992. Bei der Diskussion der ungeheuren Menge von Marginalien mit erotischen Themen in mittelalterlichen Handschriften, selbst denen mit religiösem Gehalt, bemerkt Camille: »Anstatt eine zentrale Rolle im Menschenleben einzunehmen, war die menschliche Sexualität nur noch eine weitere unauslöschbare Spur der fleischlichen, verfallenen menschlichen Natur, eine der vielen Sünden des Fleisches, die für eine heilsuchende Seele nicht essentiell waren. Gerade weil der Sexus in der mittelalterlichen Erfahrung marginalisiert war, wurde er oft auch ein Randbild« (ebd., S. 40). Siehe auch Foucault, Michael: The History of Sexuality. Bd. I. An Introduction. Übers. R. Hurley. New York 1978. 24 Bernheimer betrachtet den Mythos der Wilden Frau, besonders den der Faengge oder Fankke, als weiter verbreitet und diversifizierter als den des Wilden Mannes (Bernheimer [Fn. 10], S. 33 f.) Der Wilde Mann - ein Mythos vom Andersartigen 623 Jahrhundert mit seinem scheinbaren Happy-End der Verwandlung der lüsternen Rauen Else in die frisch getaufte Prinzessin Sigeminne trug wenig dazu, den schlechten Ruf der Wilden Frau zu verbessern. 25 Man kann daher sagen, daß im Laufe des Mittelalters die dämonischen Züge und schließlich sogar Spuren der Hexerei der mythischen Darstellung der Wilden Frau Kontur verliehen haben. 26 Im Gegensatz zur Wilden Frau erfuhr der Wilde Mann keine solche Verteufelung. Als Naturerscheinung blieb sein Wesen weiterhin schwer faßbar. Da es zwischen dem Menschlichen und dem Tierischen angesiedelt war, ließ es sich nicht sauber einordnen und erwies sich als Streitpunkt in Diskussionen mittelalterlicher christlicher Denker. 27 Im wesentlichen war das Problem eine Frage des Seelenheils. Wenn der Wilde Mann tatsächlich eine Art gefallene menschliche Natur war, konnte er dann noch erlöst werden? Also waren Menschen, die durch Sünde oder Katastrophe in einen heruntergekommenen Zustand geraten waren und wie die Tiere das Licht der Vernunft nicht erblicken konnten, unwiderruflich verloren, oder konnten sie noch gerettet werden? Man findet Antworten zu diesen Überlegungen nicht nur in theologischen Traktaten über die Sünde und die Kraft der göttlichen Gnade, sondern auch in der Hagiographie und in der weltlichen Literatur. In der weitverbreiteten mittelalterlichen Legende des heiligen Johannes Chrysostomos entflieht der junge Priester aus der Welt, um als Einsiedler und Asket ein einfaches Leben zu führen. 28 Als eine hübsche junge Frau, die Tochter des Königs, zufluchtsuchend nackt durch den Wald wandert, befürchtet Johannes, daß sie ein Dämon ist! Beide geben schließlich der Leidenschaft nach. Der verängstigte Einsiedler ist so erschrokken, aus Furcht weiterhin zu sündigen, daß er die junge Frau von einem Fels in die Tiefe stößt. Aus tiefster Reue wegen seiner Sünden unternimmt Johannes eine grausame Buße, indem er als Tier-Mensch in der Wildnis lebt, auf allen Vieren kriechend und nackt, nur von seinem eigenen Haarpelz bedeckt. Nach vielen Jahren fängt ein Jäger ein Wesen, das 25 Bernheimer (Fn. 10), S. 37. Auch Bartra (Fn. 2), S. 101 f. 26 Bartra dazu: »Toward the end of the Middle Ages, wild women were generally assimilated with witches and as a result occupied a specific place in Christian demonology« (Bartra [Fn. 2], S. 102). Bernheimer zitiert frühere literarische Zeugnisse aus dem 10. und 11. Jahrhundert ([Fn. 10], S. 35). Als Überblick zur Wilden Frau in der deutschen Literatur und Kultur des Mittelalters siehe: Bernheimer, S. 33 - 40. Siehe auch Bartras Diskussion zum Wilden Mann in der Epik, S. 127 - 48. Zum Gestaltwandel, »when demons appeared as animals«, siehe: Salisbury (Fn. 3), S. 141. 27 Salisbury bemerkt, daß unter den prominenten Denkern, die sich mit dem Problem der Klassifizierung der Arten beschäftigten, im 12. Jahrhundert die Äbtissin Hildegard von Bingen und im 13. Jahrhundert der Scholastiker Albert der Große waren. Beide griffen das Problem auf, indem sie Affen (simia) als die dem Menschen am ähnlichsten Lebewesen betrachteten. Obwohl beide die Trennung der Arten vertraten, war es Albert, der eine dreiteilige Hierarchie der Schöpfung aufstellte mit menschenähnlichen Wesen (similitudiens hominis) als eine eigenständige Kategorie, die zwischen den Menschen und Tieren steht. Salisbury sieht diese Unterscheidung als Anfang eines neuen Paradigmas, das die frühere strenge christliche Unterscheidung zwischen Menschen und Tieren ablöste (Salisbury [Fn. 3], S. 143 f.). 28 Gentry, Francis G.: »The Development of the Concept of ›Simplicity‹ from Classical Antiquity to the Vernacular Literature of the German Middle Ages. In: From the Greeks to the Greens. Hrsg. Reinhold Grimm; Jost Hermand. Madison 1989, S. 3-17. Hinsichtlich der religiösen Laienbewegung vom späten 11. bis zum beginnenden 13. Jahrhundert bemerkt Gentry zu Recht: »The path to this (evangelical) perfection lay in the leading of a simple life free of overdependence on the goods and attractions of this world« (S. 9). Die Legende vom heiligen Johannes Chrysostomos ist ein Ausdruck der Idee des »einfachen Lebens« und wahrscheinlich zu einem gewissen Grad von den Laienbewegungen beeinflußt. Siehe zum »Zustand des körperlichen Verfalls« und Erlösung: White (Fn. 2), S. 17. Vgl. Husband (Fn. 18), S. 15. 624 Ernst Ralf Hintz er für einen Wilden Mann hält, und führt ihn vor den König (Abb. 1). Dort gesteht der Einsiedler den Mord an der vermißten Prinzessin und kehrt mit dem Jäger zum Tatort zurück, um ihre irdischen Reste zu begraben. Aber seine extrem asketische Buße führte nicht allein zu seinem Seelenheil, sondern auf wunderbare Art und Weise auch zur Rettung seines Opfers: die Königstochter wurde lebend aufgefunden und war noch ebenso schön wie an dem Tag, als sie aus dem Wald trat. 29 Die einfache, asketische Lebensführung des Wilden Mannes mußte also nicht unbedingt eine Relegierung an den Rand der Gesellschaft bedeuten oder einen unwiderruflichen Zustand des »Andersseins« bewirken, sondern konnte auch zu einer Reintegrierung in den sozialen »mainstream«, in diesem Fall in die christliche Gemeinde der potentiell Erlösbaren führen. Der Mythos des Wilden Mannes beginnt hier Züge und Eigenschaften aufzuweisen, die auf das gesellschaftliche Wohl und den individuellen Nutzen gerichtet sind. Die Hoffnung auf Erlösung erfährt ihren weltlichen Ausdruck in Iwein, dem Epos Hartmanns von Aue vom Ausgang des 12. Jahrhunderts. 30 Da Iwein das Ethos des Ritterstandes anfangs verschlossen war - er suchte »âventiure« aus den falschen Gründen - diente er nur den eigenen Interessen statt den Bedürfnissen anderer. Daher besitzt er noch nicht die erforderlichen ritterlichen Qualitäten, um ein weiser und gerechter Landesherr zu werden. Als Iwein das Recht einbüßt, weiterhin Herr des Zauberbrunnens zu 29 Bartra (F. 2), S. 56 f., insbesondere S. 74 ff. In seiner Diskussion der Legende, deren früheste Fassungen aus dem 13. Jahrhundert stammen könnten, nennt Bartra sie sowohl »den berühmten mittelalterlichen Mythos« als auch »die Legende des Heiligen Johannis Chrysostomos«. Bekanntlich sind die Unterscheidungen zwischen Legende und Mythos fließend und eine Sache der Interpretation und des individuellen Glaubens. Abb. 1 : »Der heilige Johannes Chrysostomos als Wilder Mann«, Holschnitt, 1481. Der Wilde Mann - ein Mythos vom Andersartigen 625 sein, verliert er gleichzeitig seinen Verstand und führt das Leben eines Wilden. Und doch ist es gerade dieser Übergangszustand als Tiermensch, in dem es nur um das Überleben geht, der Iwein in den Stand setzt, seine selbstsüchtige Natur zu transzendieren und mit der Zeit durch die erlösende Ausübung eines selbstlosen Rittertums den Aufstieg zur Weisheit und Tugend zu vollziehen. Anschließend gewinnt er einen Löwen zum Freund, den König der Tiere, der ihn von nun an schützend begleitet und bei allen »âventiuren« zur Seite steht. Während er dieses wohltätige Rittertum übt, bleibt noch ein Rest und gleichzeitig eine Anspielung auf seinen ehemaligen tier-menschlichen Zustand: »nû erbarmt es sêre / der riter der des lewen pflac« (V. 4740 - 41). 31 Und jetzt ist es gerade Iwein, der Ritter mit dem Löwen, der Mitleid mit den Hilfsbedürftigen zeigt. 32 Sein Leiden als Wilder Mann förderte daher die schließliche Wiederherstellung seiner Ehre und seiner gesellschaftlichen Stellung, die Versöhnung mit seiner Frau Laudine und schließlich die Wiederherstellung von Gottes Gnade (sælde). Erst nach seiner Qual als Tiermensch beginnt Iwein nach der Lehre, die im Prolog schon vorausgenommen ist, zu leben: »swer an rehte güete wendet sîn gemüete dem volget saelde und êre« (v. 1 - 3). So konnte der Mythos des Wilden Mannes, der es den Menschen lange Zeit ermöglicht hat, ihre eigene »humanitas« zu definieren, Hoffnung für diejenigen erzeugen, die auf irgendeine Weise ihr eigenes Menschentum oder ihren Lebensweg verloren hatten oder zu verlieren befürchteten. Das Spätmittelalter und die Moderne - ein Ausblick Die Kulturhistoriker haben die mythischen Darstellungen des Wilden Mannes in der Antike mit dem Goldenen Zeitalter in Verbindung gebracht. 33 Jedoch hat im 14. und 15. Jahrhundert ein neues und zunehmend positives Verhaltensmuster dieses Mythos, das oft im Gegensatz zu der als dekadent und scheinbar verfallenden spätmittelalterlichen Gesell- 30 Gentry bemerkt: »In the Arthurian epics of Hartmann von Aue, one is faced with a secularization of the Christian concept of the ›simple life‹« (Gentry [Fn. 28], S. 13). Und ebenso wie »das christliche Konzept des einfachen Lebens« mit seinem Dienstethos gegenüber Gott und den Mitmenschen eindeutig die Idee der Erlösung miteinbezieht, so findet man den weltlichen Ausdruck dieses Konzepts (des einfachen Lebens) jetzt in der Gestalt der richtigen Ausübung und Verständnis von Rittertum, insbesondere der »âventiure« als Voraussetzung für das Amt eines gerechten Herrschers. Dieser weltliche Begriff fehlte allerdings nicht eine religiöse Dimension, die sich in Hartmanns doppelter Betonung von »sælde« und »êre« im Prolog zum Iwein zeigt. 31 Iwein. Eine Erzählung von Hartmann von Aue. Hrsg. u. mit Anmerkungen von G. F. Benecke und Karl Lachmann, revidiert von Ludwig Wolff. 5. Aufl. Berlin, New York. In diesen Versen hat Iwein Mitleid mit dem Burgherrn, dessen Söhne unter der grausamen Behandlung des Riesen Harpin litten. 32 Zu der »Tugend des Mitleids (erbermde)« in Hartmanns »Iwein« siehe: Gentry (Fn. 28), S. 13. Hinsichtlich der Reduzierung der Grenzen zwischen Mensch und Tier siehe: Salisbury (Fn. 3), S. 151 - 52. Zudem wurde der Wilde Mann im Mittelalter als »Herr der Tiere« angesehen: Bernheimer (Fn. 10), S. 30, auch S. 44. Daher ist es angebracht, daß Iwein selbst der Herrscher über den König der Tiere wird. 33 Bartra bemerkt: »While on the one hand, the ideas of a golden age were associated with utopian dreams of peasants and slaves, the glorification of the wild man tended to voice aristocratic criticism of the democratic polis in decadence« (Bartra [Fn. 2], S. 29). Siehe auch: Bernheimer (Fn. 10), S. 3, besonders in bezug auf die »graeco-römischen Wilden Leute« und ihr Leben von »großer Einfachheit« (ebd., S. 103 f.). 626 Ernst Ralf Hintz schaft stand, die Sehnsucht nach einem neuen Goldenen Zeitalter gesteigert, nach einer idyllischen Zeit des »einfachen Lebens«, in der der Wilde Mann und die Wilde Frau als bewunderte Vertreter figurieren. 34 So gewinnt der Mythos des Wilden Mannes neuen Impetus in der Gestalt des Edlen Wilden. Der weitverbreitete Gebrauch von Wilden Mann- und Wilde Frau-Motiven auf Familienwappen (Abb. 2) bezeugt die Anziehungskraft dieser positiven Auffassung des Wilden. Nichtsdestoweniger behielt dieser Mythos eine negative Aura für diejenigen, die die Natur als »grauenvolle Welt des Lebenskampfes, als animalisch« im Vergleich zur Gesellschaft und ihrem sozialen Ordo auffaßten. 35 Der Mythos konnte allerdings auch noch in anderer Gestalt erscheinen, in der der Wilde Mann wenn nicht edel, so doch bei weitem nicht als wild auftrat. Die Form entstand durch eine allmähliche Umbildung in eine Fastnachtsfigur in verschiedenen volkstümlichen Wilder Mann-Aufführungen. 36 Außerdem behielt der Mythos sein Potential für eine pejorative Auffassung des Andersartigen, wie es zum Beispiel bei der europäischen Kolonialisierung der Neuen Welt bezeugt ist. Die mythische Gestaltung des Wilden Mannes, die sowohl der Dämonisierung der Eingeborenen als auch deren Verklärung als Edle Wilde dienen konnten, manifestierte sich schließlich in vielerlei Form, die alle den Bestrebungen der Menschen einen Weg wiesen, wie sie sich durch die Figur des Wilden Mannes als des »Anderen« (Andersartigen) definieren konnten. Dadurch konnten sie ihr vorhandenes oder nicht vorhandenes Zugehörigkeitsgefühl zur Gemeinschaft stärken und in beiden Fällen ihre eigene »humanitas« bestätigen oder sie vielleicht wiedergewinnen. 34 Zum wechselnden Bild des Wilden Mannes im 14. und 15. Jh. als »Ideal oder Modellvorstellung einer freien Menschheit« und als »Gegentyp einer gesellschaftlichen Lebensführung« siehe: White (Fn. 2), S. 22. Zum »einfachen Leben« als Gegenüberstellung zu den Schwierigkeiten des Lebens in der Gesellschaft siehe: Gentry, »The Development of the Concept of ›Simplicity‹« (Gentry [Fn. 28], S. 3). In bezug auf die sich ändernde Auffassung vom Wilden Mann am Ausgang des Mittelalters siehe Husband (Fn. 18), S. 13 - 15. Er stellt fest, daß der Mythos vom mittelalterlichen Wilden Mann auf den »Begriff der Ursünde« zurückgeht und bemerkt: »Die Dissoziierung des Wilden Mannes von den verfallenen gesellschaftlichen Einrichtungen, die ihn ausschlossen und ihm keine Vorteile anboten, stellten ihn plötzlich in positives Licht. Da er ohne Kenntnis Gottes war, konnte er sich auch keiner Sünde gegen ihn schuldhaft machen. Er ging frei und ohne Schuldgefühl seinen Impulsen nach. Unbelastet von den stagnierenden Werten der Menschen erfreute er sich einer freien Existenz« (ebd., S. 15). 35 Zu diesem Punkt merkt White ein weiteres Konzept von diesem Mythos an, nämlich »den Wilden Mann als Gegentyp zur ›desirable humanity‹« (White [Fn. 2], S. 28). 36 Bernheimer (Fn. 10), S. 50 - 64. Abb. 2: Familienwappen mit Wildem-Mann-Motiv Der Wunderer Die Rolle des Dämonischen in der Heldenepik Hans-Joachim Behr (Braunschweig) »Was rennt das Volk, was wälzt sich dort Die langen Gassen brausend fort? Stürzt Rhodus unter Feuers Flammen? Es rottet sich im Sturm zusammen, Und einen Ritter, hoch zu Roß, Gewahr’ ich aus dem Menschentroß, Und hinter ihm, welch Abenteuer! Bringt man geschleppt ein Ungeheuer, Ein Drache scheint es von Gestalt, Mit weitem Krokodilesrachen, Und alles blickt verwundert bald Den Ritter an und bald den Drachen.« 1 Riesenaffen, Mörderhaie, feuerspeiende Drachen, Werwölfe, Zombies oder heimtückische Wesen aus feindlichen Galaxien - nicht nur zu Schillers Zeiten, von dem die soeben zitierten Verse stammen, haben Ungeheuer eine merkwürdige Faszination auf Leser, Hörer und Betrachter ausgeübt. Auch hat sie nicht erst die moderne Filmindustrie zum Erzeugen jenes gruselig-angenehmen Nervenkitzels aus der sicheren Entfernung des Kino- oder Fernsehsessels heraus für sich und zur Freude der Produzenten entdeckt - schon das Mittelalter wußte durchaus, was es an Riesen, Zwergen, Drachen und sonstigen Unholden hatte. Der arthurische Roman wimmelt von Lebewesen, die offenbar zu keinem anderen Zweck geschaffen wurden als dem, edle Ritter und unschuldige Jungfrauen zu bedrohen und dafür von dem jeweiligen Titelhelden nach mehr oder weniger hartem Kampf erschlagen zu werden 2 , so daß der unbedarfte Hörer oder Leser sehr wohl den Eindruck gewinnen mochte, zum Erwerb einer schönen Frau und ansehnlicher Geldmittel bedurfte es nichts anderen als einer feuerfesten Rüstung und eines kurzen Ausritts vor die Stadtmauer, wo sich dann Drache, Jungfrau und Schatz alsbald einfinden würden. So muß sich etwa Gauriel von Muntabel den Weg zu seiner feenhaften Geliebten in Fluratrône von Drachen und Riesen regelrecht freikämpfen (V. 2647 - 2686; 2824 - 2952), und auf dem Weg zur Errettung der Grafentochter von Asteriân hinterläßt er im Zauberwald seines Kontrahenten Jorant eine so breite Strecke erschlagener Drachen, Löwen, Leoparden, Bären und Wölfe (V. 4197 - 4215) 3 , daß sich daneben Siegfrieds Jagdbeute im Oden- 1 Schiller, Friedrich: Der Kampf mit dem Drachen. In: Schiller Werke. Nationalausgabe. 2. Bd., Teil 1: Gedichte in der Reihenfolge ihres Erscheinens 1799 - 1805; der geplanten Ausgabe letzter Hand (Prachtausgabe); aus dem Nachlaß (Text). Hrsg. Norbert Oellers. Weimar 1983, S. 288 - 296, hier S. 288. 2 Vgl. dazu auch Haug, Walter: Moral, Dämonie und Spiel: Der Übergang zum nachklassischen Artusroman. In: Ders.: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. Darmstadt 1992 (2., überarbeitete und erweiterte Auflage), S. 259 - 287. 628 Hans-Joachim Behr wald - ein Wildschwein, ein Löwe, ein Wisent, ein Elch, vier Auerochsen, ein Hirsch und ein Eber (NL 935,1 - 939,4) - fast schon bescheiden ausnimmt. Aber die Heldenepik scheint ohnehin Vorbehalte gegen eine allzusehr von Ungeheuern besiedelte Umwelt zu haben, vermutlich als Relikt ihrer einstmals historischen Herkunft. Sicher gehören der Sieg über den Drachen und das sich anschließende Bad im D ra ch en bl u t e benso zu den Konstituenten der Siegfried-Figur wie die Erringung des Nibelungenhortes im Kampf gegen zwölf starke Riesen (NL 94,1 - 3) und gegen den gar nicht so riesenhaften Alberich (NL 96,2 - 97,3), doch werden diese Wundertaten des Helden im Nibelungenlied bekanntlich nicht dargestellt, sondern lediglich von Hagen resümierend berichtet. Zwar präsentiert sich Siegfried bei seiner Ankunft in Worms nun in der Tat als der von Hagen charakterisierte »vreislîche man« (NL 97,4), aber die Aussicht auf die Ehe mit einer schönen Frau läßt ihn alsbald seine einstige anarchische Wildheit vergessen. So dauert es schließlich bis weit ins Spätmittelalter, bis sich die Literatur im Hürnen Seyfrid dieses kraftstrotzenden, drachentötenden Jünglings und seiner vorehelichen Großtaten wieder erinnert. Auch die sogenannte historische Dietrichepik reduziert die Auseinandersetzungen ihres Helden Dietrich von Bern ausschließlich auf den Konflikt mit menschlichen Gegnern, obwohl in der umfangreichen genealogischen Vorgeschichte Drachenkämpfe durchaus vorkommen. So muß Dietrichs Urahn Dietwart bei einer an sich ungefährlichen Brautfahrt noch rasch ein solches Untier auf einer einsamen Insel erschlagen, bevor er seine künftige Frau in die Arme schließen kann (Dietrichs Flucht, V. 1533 - 1664). Dessen Enkel Ortnit bekommt die Drachen sogar von seinem bösartigen Schwiegervater frei Haus ins eigene Land geliefert (DF, V. 2220 - 2231), nur weil er es gewagt hatte, seine Frau Sigelint gegen den Willen ihres Erzeugers zu entführen und zu heiraten (DF, V. 2075 - 2219). Bekanntlich übersteigt diese Mehrfachbelastung die Kräfte des Helden und er wird bei dem Versuch, sich der Drachen wieder zu entledigen, von diesen im Schlaf überrascht und aus der selbst für Drachenkrallen und -zähne unzerstörbaren Rüstung gesaugt (DF, V. 2232 - 2242). Dafür braucht der neue Held, Wolfdietrich, aber auch nur die Drachen zu töten, um neben den Waffen seines Vorgängers auch dessen Land und Ehefrau zu erben (DF, V. 2279 - 2294). Doch dies alles ist Vorgeschichte, denn ein intaktes Reich kann nur durch auswärtige, wenn nicht gar außerirdische Feinde gefährdet werden, während die Herrschaft des eigentlichen Protagonisten Dietrich von Bern höchst machtpolitisch real durch einen expansionsorientierten Nachbarn, seinen eigenen Onkel Ermenrich, bedroht und schließlich sogar okkupiert wird. Im Gegensatz dazu schwelgt die aventiurehafte Dietrichepik geradezu in Kämpfen gegen menschliche und tierische Ungeheuer und erweitert so das Aktionsfeld des Helden um zusätzliche phantastische Dimensionen. Allerdings scheint diese Entwicklung erst spät stattgefunden zu haben, denn in ihrer literarischen Ausgestaltung ist sie erst ab dem 13. Jahrhundert nachweisbar 4 und setzt neben festen heldenepischen Erzählmustern 3 Die Ausgabe von Khull, Ferdinand (Hrsg.): Gauriel von Muntabel. Eine höfische Erzählung aus dem 13. Jahrhundert. Graz 1885 (Nachdr. Osnabrück 1969) ist gänzlich unbrauchbar. Neuausgabe: Der Ritter mit dem Bock. Konrads von Stoffeln Gauriel von Muntabel. Neu hrsg., eingeleitet und kommentiert von Wolfgang Achnitz. Tübingen 1997 (Texte und Textgeschichte, Bd. 46). 4 Vgl. Heinzle, Joachim: Dietrich von Bern. In: Mertens, Volker; Müller, Ulrich (Hrsg.): Epische Stoffe des Mittelalters. Stuttgart 1984 (Kröners Taschenausgabe, Bd. 483), S. 141 - 155, hier: 147. Der Wunderer 629 wohl auch die Kenntnis des arthurischen Romans und dessen Weiterentwicklung voraus. 5 Um die Person Dietrichs als eines wohlbekannten und literarisch ausgewiesenen Helden ranken sich so nach dem Prinzip der wunderbaren Brotvermehrung immer weitere Abenteuer, wobei die Antagonisten fast ausschließlich übernatürlicher Art sind. Seine Biographie wird damit nicht nur quantitativ erweitert, sondern durch die Fülle an Wundertaten auch qualitativ so verändert, daß Dietrich nicht mehr vorrangig als der glücklose Sieger aus den Schlachten gegen Ermenrich, sondern geradezu als Mythos magischer Unbesiegbarkeit erscheint. Entsprechend verschiebt sich dadurch der Erzählschwerpunkt, denn den Kämpfen in Oberitalien sind nun handfeste Bewährungstaten gegen außermenschliche Gegner vorgeschaltet, deren zeitliche Fixierung jedoch bald problematisch wird. Da sich bereits die Virginal als Dietrichs erste Ausfahrt präsentierte, mußte z. B. der Verfasser des Wunderer seine Geschichte direkt an den Etzelhof verlegen, wenn er Widersprüche in der Biographie des Helden und damit Einwände gegen die Glaubwürdigkeit der Gattung insgesamt vermeiden wollte. Dietrichs Ende jedoch, ebenfalls eine spätere Zutat, folgt anderen Stofftraditionen. 6 Während der mystifizierende Rahmen gleichbleibt, ist es nun der Protagonist in eigener Person, der dämonisiert wird, 5 Heinzle (Fn. 4), S. 151; Heinzle, Joachim: Dietrich von Bern (Dietrichsepik). In: Lexikon des Mittelalters, Bd. 3. München, Zürich 1986, Sp. 1016 - 1018, hier: Sp. 1017. 6 Dazu Gillespie, George T.: Probleme um die Dichtungen vom Wunderer oder König Theoderichs Glück und Ende. In: Harms, Wolfgang u. a. (Hrsg.): Deutsche Literatur des späten Mittelalters. Hamburger Colloquium 1973. Berlin 1975, S. 99 - 115, hier: S. 103 - 106. Dietrich von Bern erschlägt »den wilden Wunderer« (aus dem Gedicht »Der Wunderer«, Straßburg 1503), nach dem Facsimile-Druck besorgt von G.Zink, Paris 1949. 630 Hans-Joachim Behr indem er zur Strafe für seine Sünden vom Teufel in Gestalt eines schwarzen Rosses in den Ätna entführt wird oder sich weniger endgültig bis ans Ende aller Tage in der Wüste Rumeney (Rumänien? ) als Drachentöter bewähren muß. Diese freundlichere Version überliefert der eben schon einmal kurz erwähnte Wunderer, ein Text, der trotz älterer Vorstufen wohl erst im 15. Jahrhundert entstanden ist 7 und damit als jüngstes Glied im Kreis der erhaltenen Dietrichepen zu gelten hat. Dennoch scheinen sich Stoff und Lied beim Publikum einiger Beliebtheit erfreut zu haben. Denn neben der strophischen Fassung im Dresdner Heldenbuch des Kaspar von der Rhön (H) um 1472 und den ihr weitgehend entsprechenden Drucken aus Straßburg (B, 1503, Bartholomäus Kistler) und Erfurt (H1, 1518) 8 existieren noch das Bruchstück eines Augsburger Druckes in Reimpaarversen (L), 9 ein ebenfalls unvollständiges Spruchgedicht vom Ende des 14. Jahrhunderts (K) 10 und ein Fastnachtsspiel (F) aus der gleichen Zeit. 11 Die Handlung entspricht weitgehend gängigen Mustern. 12 An den Hof des Königs Etzel, der als Inbegriff des idealen Herrschers gekennzeichnet ist, flüchtet sich während eines Festes eine Jungfrau, die von einem riesenhaften Verehrer, eben dem Wunderer, verfolgt wird. Ihr Vater hatte sie diesem einst als Gemahlin versprochen, doch weil sie sich weigert, jenen Ehekontrakt zu erfüllen, hat der verhinderte Gatte geschworen, sie bei lebendigem Leibe aufzufressen. Von Etzel erbittet sie sich Schutz und Hilfe: zunächst möge er die Burgtore schließen lassen, danach ihr erlauben, sich an seinem Hof einen Ritter auszusuchen, der für sie gegen den Wunderer kämpfe. Den ersten Teil ihrer Bitte lehnt der Hunnenkönig rundweg ab: er habe es nicht nötig, aus Angst vor Feinden seine Burg zu verbarrikadieren, für den zweiten verweist er sie an seine Vasallen, da er als der mächtigste Mann im Lande unmöglich selbst für sie eintreten könne. Unter seinen Kriegern identifiziert sie, die neben anderen übernatürlichen Eigenschaften auch die Gabe besitzt, Menschen durchschauen zu können, allein Rüdiger als für einen solchen Streit bereit und geeignet. Da aber Etzel seinen besten Mann nicht verlieren möchte, lehnt er ihn als Kämpfer ab, erlaubt ihr jedoch, mit Rüdiger darüber zu sprechen. Indes, auch dieser verweigert sich, weil er den Eindruck vermeiden will, sich in unziemlicher Weise vorzudrängen. Inzwischen ist allerdings auch der Wunderer vor der Burg angekommen, und weil seine Gestalt und sein Verhalten derart schreckenserregend sind, läßt 7 So auch Heinzle (Fn. 4), S. 149. 8 Text des Dresdner Heldenbuches (H) unter dem Titel »Etzels Hofhaltung« bei: von der Hagen, Friedrich Heinrich; Primisser, Alois (Hrsg.): Der Helden Buch in der Ursprache. 2. Theil. Berlin 1825, S. 55 - 73. Straßburger Druck (B): Le Wunderer. Fac-Simile de l’édition de 1503 avec introduction, notes et bibliographie. Hrsg. Georges Zink. Paris 1949. Erfurter Druck (H1) (er entspricht den Strophen 188 - 215 des Dresdner Heldenbuches): von der Hagen, Friedrich Heinrich (Hrsg.): Heldenbuch. Altdeutsche Heldenlieder aus dem Sagenkreise Dietrichs von Bern und der Nibelungen. Meist aus der einzigen Handschrift zum ersten Mal gedruckt oder hergestellt. Bd. 2. Leipzig 1855, S. 531 - 534. 9 Schiffmann, K.: Ein Bruchstück des Wunderers. In: Zeitschrift für deutsches Altertum 51 (1909), S. 416 - 420. 10 Ain Spruch von aim Konig mit Namen Etzel. In: Adelbert von Keller (Hrsg.): Erzählungen aus altdeutschen Handschriften. Stuttgart 1855, S. 1 - 9. 11 von Keller, Adelbert (Hrsg.): Fastnachtsspiele aus dem fünfzehnten Jahrhundert. 2. Teil. Stuttgart 1853 (Bibliothek des Litterarischen Vereins, Bd. XXIX), Nachdr. Darmstadt 1965, S. 547 - 552 12 Inhaltsangabe und Interpretation stützen sich auf die Version des Dresdner Heldenbuches. Der Wunderer 631 Etzel nun doch die Burgtore schließen. Das Mädchen sucht unterdessen weiter nach einem Kämpfer und wird in der Kemenate der Damen schließlich fündig: der erst 18jährige Dietrich von Bern verspricht ihr seine Hilfe, wenn es ihm Etzel erlaube. Wieder redet sie mit dem Hunnenkönig, und wieder verweigert er seine Zustimmung. Erneut wird sie daraufhin bei Rüdiger vorstellig, der nun immerhin einwilligt, für sie zu kämpfen, wenn sie keinen anderen Ritter finde oder Dietrich vom Wunderer besiegt werden solle. Für diese Zusage ist es nun allerdings auch höchste Zeit, denn der Wunderer hat inzwischen die Burgtore eingetreten und ist mit seinen Hunden in den Palast gestürmt, wo diese sogleich das Mädchen anfallen. Aber Dietrich steht ihr tatkräftig zur Seite und zerschmettert erst einmal 24 von ihnen an den Wänden des Speisesaales. Drohreden und kleinere Handgreiflichkeiten gehen dem eigentlichen Kampf voraus. Obwohl Dietrich durch den Segen des Mädchens, eine weitere ihrer übernatürlichen Gaben, unbesiegbar geworden ist, gelingt es dem Wunderer, ihn niederzuschlagen, so daß alle glauben, er habe ihn getötet, weshalb sich Rüdiger schon zum nächsten Waffengang warmmacht. Da springt jedoch Dietrich wieder auf, sein Feueratem bringt den Gegner zum Schwitzen, und der Held selbst ihn kurze Zeit später zu Fall. Obwohl der Wunderer um sein Leben bittet und auch Schonung des Mädchens verspricht, schlägt ihm Dietrich den Kopf ab, den er dann unter Aufbietung aller Kräfte vor die versammelte Hofgesellschaft schleppt, was diese aber nicht hindert, ihr Gelage fortzusetzen. Die Jungfrau gibt sich nun als Frau Sælde zu erkennen, segnet Dietrich noch einmal und entschwindet, aber ihr Segen bewirkt, daß er noch immer am Leben ist und seine Sünden in fortwährenden Drachenkämpfen büßen darf. Es bedarf keiner allzu intimen Kenntnis der mittelhochdeutschen epischen Dichtung, um zu sehen, daß der Text weitgehend aus bekannten Motiven und vorgeformten Erzählmustern montiert wurde. 13 Die Parallele zu Artus und damit zu dessen Darstellung im Artusroman wird ausdrücklich gezogen, freilich nur, um den Hunnenkönig dadurch besonders hervorzuheben (V. 3,1 - 3): Konick Artus was auch reiche, wol zu derselben zait, er was Etzel nit gleiche [...] 14 König Artus war auch mächtig zur gleichen Zeit doch er war Etzel nicht ebenbürtig [...] Solchermaßen über Artus gestellt, übernimmt Etzel auch dessen Aufgaben als friedens- und ordnungsstiftende Instanz. Wie jener besitzt er die typischen Attribute des idealen Herrschers (V. 2,7: milt und gerechte) und wird so Zuflucht und Hoffnung derer, die sich bedroht fühlen, eine Rolle, die ihm um so angemessener erscheint, als er schon in der historischen Dietrichepik den aus ihrer Heimat vertriebenen Amelungen am Hunnenhof Schutz und Hilfe gewährte. Somit ist es keineswegs nur verbohrter männlicher Stolz, wenn er sich weigert, die Burgtore vor dem Wunderer verriegeln zu lassen, garantiert doch der freie Zugang zu ihm die Aufrechterhaltung der von ihm repräsentierten Ordnung. Denn ein vor Flüchtlingen verschlossener Palast wäre erneut als Kapitulation vor 13 Nachweise bei Hempel, Heinrich: Untersuchungen zum Wunderer. Halle-Wittenberg 1914 (Diss.), S. 9 - 92; Zink (Fn. 8), S. 55 - 89. 14 Zitiert nach der Fassung des Dresdner Heldenbuches (Fn. 8), S. 55. 632 Hans-Joachim Behr den Kräften des Bösen und der Anarchie anzusehen, nachdem schon alle gegen Ermenrich aufgebotenen hunnischen Heere dessen Unrechtsregime nicht hatten beseitigen können. 15 Auch Etzels Vorschlag, dem Verfolger statt Jungfrauenfleisch Brot und Wein zu kredenzen, ist keineswegs »ein dummer Einfall des ratlosen Königs« 16 , sondern der Versuch, das anarchische Element, personifiziert im menschenfressenden Wunderer, in die höfische Ordnung und deren Lebensformen zu integrieren. Doch wie im höfischen Roman ist die dämonische Gegenwelt nicht domestizierbar: 17 Etzels Angebot, den offenbar von Hunger geplagten Verfolger doch einfach am Gelage im Königspalast teilnehmen zu lassen, ist ebenso unrealistisch wie Dietrichs Frage an das Mädchen, ob sie diesen ihren so hartnäckigen Verehrer, bevor er sie auffresse, nicht doch vielleicht lieber ehelichen wolle (V. 159,1 - 6). Denn zwischen dem Wunderer als der Verkörperung anarchischer Gewalt und ihr als Frau Sælde kann es keine Verbindung geben. Trotz dieser einfachen Erkenntnis hat die Forschung mit diesem Paar große Probleme gehabt, weil sie vor allem das Mädchen als Allegorie nicht wahrhaben wollte. Aber sowohl die Verlegenheitslösung, es handle sich bei ihr um ein ehemals wildes Waldfräulein aus den Tiroler Bergen namens Selga 18 als auch die merkwürdige und durch nichts zu beweisende Kombination der Nixe Bâbehilt des Eckenliedes mit Frau Fortuna 19 führen weit an der Sache vorbei. Sælde und ritterliche Idealität sind ja bekanntlich auch sonst ein festes Bezugspaar. Schon im Prolog zu Hartmanns Iwein ist diese Synthese ausdrücklich thematisiert, wenn auch da schon nicht mehr als konkret erlebbare Erfahrung, sondern nur noch als Gegenstand alter Erzählungen retrospektiv bewundert (Iwein, V. 1 - 20). Ihr literarischer Kristallisationspunkt ist dabei König Artus, an dessen Stelle nun im Wunderer Etzel getreten ist. Doch die Verbindung aus »sælde« und »êre« (Iwein, V. 3) prägt auch dessen Herrschaft, so daß der Wunderer, der in Gestalt des (allegorischen) Mädchens einen ihrer zentralen Werte bedroht, damit die höfische Ordnung insgesamt in Frage stellt. Indem nun Dietrich siegreich für die hilfesuchende Jungfrau eintritt, bestätigt er nicht nur sich selbst als den aus der aventiurehaften Dietrichepik bereits hinlänglich bekannten unüberwindlichen Helden, sondern erscheint gleichrangig neben Etzel als Repräsentant einer Lebensform, die - als politische Utopie formuliert - im Konflikt mit der Gegenwelt der Anarchie allemal die Oberhand behält. Ich komme zum Schluß. Späte Abkömmlinge alter Stofftraditionen haben es im allgemeinen schwer, sind sie diesen doch gleichermaßen verpflichtet wie ausgeliefert. Nicht selten entziehen sie sich daher den vorgeformten Handlungsmustern durch deren allegorische oder moralisierende Umdeutung, wie sich das etwa am späten Artus- und Gralsro- 15 Dazu Haug, Walther: Hyperbolik und Zeremonialität. Zu Struktur und Welt von Dietrichs Flucht und Rabenschlacht. In: Kühebacher, Egon (Hrsg.): Deutsche Heldenepik in Tirol. König Laurin und Dietrich von Bern in der Dichtung des Mittelalters. Beiträge der Neustifter Tagung 1977 des Südtiroler Kulturinstitutes. Bozen 1979, S. 116 - 134. 16 So Gillespie (Fn. 6), S. 101. 17 Vgl. dazu die Materialsammlung bei Giloy-Hirtz, Petra: Begegnung mit dem Ungeheuer. In: Kaiser, Gert (Hrsg.): An den Grenzen höfischer Kultur. Anfechtungen der Lebensordnung in der deutschen Erzähldichtung des hohen Mittelalters. München 1991 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur, Bd. 12), S. 167 - 209. 18 So Hempel (Fn. 13), S. 72 f.; Krogmann, Willy: Der Wunderer. In: Langosch, Karl (Hrsg.): Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Bd. IV. Berlin 1953, Sp. 1094 - 1099, hier: Sp. 1095. 19 So Gillespie (Fn. 6), S. 107 - 110. Der Wunderer 633 man deutlich zeigt. 20 Im Wunderer verhält es sich ähnlich. Im Gewand der alten mæren wird eine Geschichte erzählt, die sich scheinbar nahtlos in gängige Sujets einfügt, sie aber dann doch durch eine nachträgliche Allegorisierung des Konfliktpotentials ins Grundsätzliche wendet. Zweifelsohne wächst damit auch der Anspruch auf Verbindlichkeit, jedoch zu Lasten der jeweils konkreten Abenteuer: ein allegorischer Drache ist eben doch kein echtes Untier mehr. Insofern geht die Allegorisierung des Helden in der Regel auf Kosten seiner dämonischen Widersacher - doch die sind schließlich Kummer gewöhnt. 20 Vgl. Haug (Fn. 2), S. 264 - 267; Haug, Walter: Albrechts Jüngerer Titurel: Ethos und Magie der Brackenseilinschrift. In: Ders.: Literaturtheorie (Fn. 2), S. 364 - 375; Grubmüller, Klaus: Artus- und Gralsromane. In: Liebertz-Grün, Ursula (Hrsg.): Aus der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit: Höfische und andere Literatur. 750 - 1320. Reinbek bei Hamburg 1988 (Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte, hrsg. von Horst-Albert Glaser, Bd. 1, rororo 6250), S. 216 - 235, hier S. 232 - 235. Zwerge und Riesen Christa Habiger-Tuczay (Wien) Zwerge und Riesen haben in Mythologie und Literatur der Völker wahrlich nicht nur als morphologische Gegensätze eine bedeutende Rolle gespielt. Im Zentrum dieser Untersuchung soll die mittelhochdeutsche Literatur stehen, in der Mythen von Zwergen und Riesen häufig zu finden sind. Erstaunlicherweise hat dieses Thema bislang nur vereinzelt zu Untersuchungen angeregt. 1 Die Zwerge in der mittelhochdeutschen Literatur 2 In Zusammenhang mit der Vorstellung von kleinwüchsigen Wesen kommt der Fabel von den Pygmäen einige Bedeutung zu, da sie die Zwergendarstellung der mittelhochdeutschen Dichter beeinflußt hat. Aus ältester Zeit wird in Glossen das Wort »getwerc«, Neutrum, für lat. »pygmaei« bzw. »pumilio« wiedergegeben. Isidor von Sevilla überliefert im Anschluß an die antike Tradition, daß sich das kleinwüchsiges Volk der Pygmäen jedes Jahr zur Erntezeit gegen die räuberischen Kranichvölker zur Wehr setzen müsse. Ein Detail, daß die Pygmäen auf Böcken reiten, erscheint erst relativ spät in den Gesta Romanorum 3 (Kap. 175) und geht auf Plinius 4 (Historia Naturalis, VII, 2) zurück. Der Dichter des Herzog Ernst D hat die Fabel als erster in der mittelhochdeutschen Literatur gestaltet: 1 Jacob Grimm hat in seiner Deutschen Mythologie den Zwergen und Riesen jeweils ein Kapitel gewidmet: Grimm, Jacob: Deutsche Mythologie. 3 Bde. Berlin 1875 - 78. August Lütjens Dissertation (Lütjens, August: Der Zwerg in der deutschen Heldendichtung. Breslau 1911 [Germ. Abhandl., Bd. 38] blieb lange Zeit die einzige umfassende Darstellung. Ungeachtet des Titels hat Lütjens auch die höfische Literatur einbezogen. Friedrich Wohlgemuths Arbeit (Wohlgemuth, Friedrich: Riesen und Zwerge in der altfranzösischen Dichtung. Tübingen 1906 [Diss.]) gab nur sporadisch Anhaltspunkte. Ernst Herwig Ahrendt hat in seiner Dissertation (Ahrendt, Ernst Herwig: Der Riese in der mittelhochdeutschen Epik. Güstrow 1923 [Diss.]) eine ähnlich umfassende Untersuchung wie Lütjens vorgelegt. Müller-Bergström bespricht in den Nachträgen des Handwörterbuchs des deutschen Aberglaubens hauptsächlich Zwerge und Riesen in den Volkserzählungen (Handwörterbuchs des deutschen Aberglaubens. Bd. 9. Berlin 1941, Sp.1008 - 1138). Erst 1958 hat sich Vernon J. Harward wieder den mittelalterlichen Zwergen gewidmet (Harward, Vernon J.: The Dwarfs of Arthurian Romance and Celtic Tradition. Leiden 1958). 20 Jahre später behandelt Claude Lecouteux Zwerge und Riesen im Rahmen seiner umfassenden Untersuchung der Ungeheuer in der mittelhochdeutschen Literatur (Lecouteux, Claude: Les Monstres dans la littérature allemande du Moyen Age. 2 Bde. Göppingen 1982 [Göppinger Arbeiten zur Germanistik, Bd. 330, I. u. II). Zuletzt sei noch erwähnt, daß ich mich bei der vorliegenden Arbeit auf den bereits in einer Dissertation als Maschinenschrift vorliegenden Motiv-Index der deutschsprachigen weltlichen Erzählliteratur bis 1400 von Karin Lichtblau gestützt habe. 2 Quellen werden abgekürzt zitiert, ein ausführliches Verzeichnis der eingesehenen Quellen findet sich in den bibliographischen Hinweisen am Ende dieses Beitrags. 3 Gesta Romanorum, das ist der Roemer tat. Hrsg. A. von Keller. Quedlinburg; Leipzig 1841 (BNL, Bd. 23). 4 Plinius der Ältere: Historia naturalis. Hrsg. L. Janus. 5 Bde. Leipzig 1881 - 1902. 636 Christa Habiger-Tuczay »India hatt viertzig lant, di den gelerten sint pekant. Crisa gar nahend da pey die clainen Pigmey sitzent in den pergen, geleich den twergen zwair daum prait, ellen langk. das selbe volck ist so kranck: si mussen zu allen zeytten mit dem geflugel streytten. das weybel kindelin gepirt, wann es dreyer jar alt wirt. in acht jaren wird es gra: es wirt lutzel eltär da.« (V. 10962) Hier werden die kleingewachsenen Leute mit Zwergen verglichen, der Dichter des Reinfried von Braunschweig hingegen setzt sie wenig später (nach 1291) mit diesen gleich (V. 18372 ff.). Dezidiert ein Zwerg (nanus), nicht Pygmäe, wird erstmals im Ruodlieb (1023 - 1050) erwähnt 5 . Mit dem Ende des 12. Jahrhunderts haben Zwerge und ihre Antagonisten, die Riesen, einen gesicherten Platz in der Heldenepik, aber auch in der höfischen Literatur. Das Erscheinungsbild Im Gegensatz zu den Zwergengestalten der altfranzösischen Dichtung 6 erscheint der Zwerg in der mittelhochdeutschen Dichtung selten mißgebildet, sondern, beispielsweise im Falle von Laurin, von außerordentlich wohlgestaltetem Äußeren, eben nur kleiner als ein Mensch. Auch bei der Übernahme aus der französischen Dichtung, wie z. B. in Hartmanns Erec , fehlt das Attribut der Häßlichkeit: Guivreiz wird nicht als bucklig beschrieben. Eine Ausnahme stellt die mitteldeutsche Version der Brandanlegende dar. Sie erzählt von der Begegnung des in Seenot geratenen Heiligen, dessen Hilferufe ein auf einer Insel wohnender Zwerg vernimmt und zusammen mit dem dort ansässigen frommen Einsiedler den Heiligen mit seinen Gefährten rettet. Der Charakter dieses Zwergs ist unzweifelhaft positiv gezeichnet, doch sein äußeres Erscheinungsbild ist wenig ansprechend: »ein getwerc gruwelich getan daz stunt an dem sture. ez duhte sie wesen ungehure. daz getwerc daz hiez Botewart. vil michel groz was im sin bart und daz har also lanc. erlichen daz getwerc sanc heidenisch schone lit.« (1554 - 1562) Es ist dies einer der wenigen Belege, wo sich anscheinend die keltische Tradition behaupten konnte. 5 August: Der Zwerg in der deutschen Heldendichtung. Breslau 1911 (Germ. Abhand., Bd. 38). 6 Vgl. bes. Wohlgemuth, F.: Riesen und Zwerge in der altfranzösischen erzählenden Dichtung. Tübingen 1906 (Diss.). Zwerge und Riesen 637 Die einzelnen Quellen überliefern kein einheitliches Bild, drei Hauptgruppen sind auszumachen: 1) bärtige Zwerge mit hohem Alter 7 , 2) Zwerge mit kindlichem Aussehen und 3) jene, die durch das äußere Erscheinungsbild eines Ritters geprägt sind, nur verkleinert. Der Bart bestimmt bis heute unsere Vorstellung von einem Zwerg (Typus »Gartenzwerg«). Alberich im Nibelungenlied mag als Beispiel für den ersten Typus dienen. In seiner Erzählung von Siegfrieds Jugendabenteuern erwähnt Hagen Siegfrieds Begegnung mit dem »starken getwerc« Alberich, den der Held trotz dessen Tarnkappe besiegen kann und den er als Hüter des Hortes einsetzt. Inkognito besucht er ihn, um seine Treue zu prüfen. Die Wächterriesen kann er überwinden, aber mit Alberich hat er ziemliche Schwierigkeiten. So bleibt ihm nichts anderes übrig, als ihn am Bart zu nehmen, zumal ihn der Kleine noch dazu mit einer Geißel attackiert: »dô vienc er bî dem barte den altgrîsen man. / er zogte in ungefuoge daz er vil lûte schrê.« (497, 2 f.) Der Griff an den Bart ist grundsätzlich als äußerste Beleidigung anzusehen, was natürlich auch für Zwerge gilt. So geht Hildebrand überaus rücksichtslos vor: »da vant er slafende ein getwerc, / er ergreif ez bi dem barte.« (Sigenot, 193, 2). Zuvor hatte Hildebrand dasselbe Schicksal von einem Riesen erdulden müssen (vgl. Sigenot 158,6 f.). Äußerst selten ist die Darstellung des Zwerges als Kind. 8 Der im Nibelungenlied als alter Mann vorgestellte Alberich 9 hat im Ortnit das Äußere eines vierjährigen Kindes. Ortnit findet ihn schlafend und fragt nach seiner Mutter. Als er das vermeintliche Kind zu seinem Pferd tragen will, entpuppt sich der aufwachende Zwerg als durchaus ebenbürtiger Gegner im Ringkampf. Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, daß der Held Alberich, als er ihn noch für ein Kind hielt, gerne als Sohn gehabt hätte, von diesem erfahren muß, daß er selbst sein Sohn ist. Lütjens 10 bezeichnet diesen kindlichen Typus des Zwerges als ursprünglich und setzt ihn einerseits in Analogie zu Oberon, andererseits zieht er das Auftreten dieses Typus in neueren Volkserzählungen heran. Letzeres erscheint mir eher zweifelhaft, da er als Beweis Grimms Koboldbelege 11 zitiert. Weit häufiger werden Zwerge als Ritter gezeichnet. Als Prototyp des ritterlichen Zwerges kann Laurin gelten: »Sehet, dô kam dort her geriten ein getwerc mit swinden siten, das was Laurîn genant. ein sper fuort er in sîner hant bewunden wol mit golde, als ez ein fürste solde, 7 Das Aussehen eines alten Mannes haben die Zwerge im Wolfdietrich, 221, 8; Bärtige Zwerge finden sich im Sigenot, 33, 2 f. Bildliche Darstellungen zeichnen sogar Zwerge mit Bärten, obwohl im Orignaltext das äußere Erscheinungsbild anders beschrieben wird, z. B. in den späten Holzschnitten zu Orendel. 8 Vgl. Antelan, S. 141; Daniel, V. 653, 1681; Friedrich von Schwaben, V. 6752, 7050; Ortnit, 92, 4 f. Auch Anteloye wird mit einem Kind verglichen: V. 18986; Virginal, V. 5695. 9 Vgl. auch Steinbauer, Bernd: Von Alberich bis Klein Zaches. Kleine Anmerkungen zu kleinen Leuten in der Literatur vom Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert. in: Die Zwerge kommen, hg. v. Volker Hänsel und Diether Kromer, Trauterfels 1993, S. 111 - 120. 10 Steinbauer (Fn. 9), S. 70. 11 Vgl. Grimm, Deutsche Sagen (Fn. 1), Nr. 76, Deutsche Mythologie (Fn. 1), Bd. I, S. 389 f. 638 Christa Habiger-Tuczay vorne an dem spere sîn da swebete ein banier sîdîn, dar ane zwêne winde sam sie liefen swinde in einem wilden walde nâch einem wilde balde. sie stuonden als sie lebeten dâ si an dem banier swebeten. sîn ros was ze den sîten vêch und in der groeze als ein rêch.« (V. 151 f.) Er besitzt reich geschmücktes Sattelzeug und reitet in ritterlicher Haltung und führt ein so kostbares Schwert 12 , daß man ein Land darum erwerben könnte. Sein Helm 13 ist ein mit Hilfe von Zauberei hergestellter Automat 14 , auf dem Vögel singen. Er trägt einen Schild 15 mit einem darauf abgebildeten Leoparden; nie konnte ihn ein Speer 16 durchdringen. Die Kleinheit bei grundsätzlich gewahrten Proportionen ist das charakteristischestes Merkmal der Zwerge. Die genaue Größe der einzelnen Zwergengestalten erfahren wir allerdings nicht. Laurin und seine Genossen z. B. sollen ungefähr eine Spanne gemessen haben (V. 55 f.). Die Zwerge im Reinfried von Braunschweig m essen drei Schuh (V. 18524). Meist wird die Größe im Verhältnis zu den jeweiligen Helden angegeben. Die Zwerge reichen bis zum Gürtel 17 oder lediglich bis zum Knie 18 . Die Dichter gehen selten ins Detail, nur die kurzen Beine werden betont: »Wan Laurin der was kurzer beine.« (V. 370) Bemerkenswert erscheint, daß sich der Autor des Friedrich von Schwaben offenbar über die anatomisch schwierige Verbindung zwischen Zwergin und Helden Gedanken gemacht haben muß, da er die Geburt von Friedrichs Kind als beinahe lebensgefährlich für die Zwergin schildert (V. 2869 f.). Wie es der »costume« entspricht, müssen die Ritterzwerge auch passende Reittiere besitzen. Die Zwergenpferde haben Rehgröße bzw. werden als so groß wie Hirsche geschildert. 19 Lütjens vermutet in den Vergleichen und jenen Belegen, wo Zwerge tatsächlich auf Rehböcken reiten, eine Analogiebildung zu den wilden Leuten und der damit verbundenen Vorstellung vom Herrn der Tiere. 20 Alberich besitzt im Ortnit z war das Aussehen eines vierjährigen Kindes, soll jedoch um die 500 Jahre alt gewesen sein (130, 3). Die Zwerge im Nibelungenlied sind Greise (497, 2), während Bibung in der Virginal nur 30 Jahre zählt (569, 6). Ganz unerwartet ha- 12 Vgl. auch Walberan, V. 881 - 8; Daniel, V. 1284 f.; Friedrich von Schwaben, V. 3178. 13 Vgl. Walberan, V. 825 - 74; Nibelungenlied, 494, 2; Virginal, 142,8; 976,4; Daniel, V. 1653; 1681; Friedrich von Schwaben, V. 6752; 7050. 14 Zu den Automatensagen vgl. Hammerstein, Reinhold: Macht und Klang. Tönende Automaten als Realitäten und Fiktion in der alten und mittelalterlichen Welt. Bern 1986. 15 Vgl. Walberan, V. 875 f.; Friedrich von Schwaben, V. 6749 F. Sentlinger Reimchronik. Hrsg. Zingerle. (Germ. 18), 220, 158; Daniel, V. 1635; Virginal, 142, 8; Demantin, V. 7518. 16 Sentlinger Reimchronik (Fn. 12), 155; Walberan, V. 1093 ff. 17 Demantin, V. 6946 f. 18 Vgl. Virginal, 568, 12 u.ö. 19 Vgl. Laurin, V. 165, 6; Virginal, 142, 11, 2. 20 Vgl. Lichtblau, Karin: Tierherren in mhd. Artusromanen. In: Festschrift Anthonius Touber. Hrsg. Carla Dauven van Knippenberg und Helmut Birkhan. Amsterdam 1995 (Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik, Bde. 43 - 44) , S. 323 - 348. Zwerge und Riesen 639 ben die Zwerge ungeheure Kräfte, die sie zu gefürchteten Gegnern der Helden machen. Diese außerordentliche Kraft haben sie entweder von Natur aus, wie Alberich im Ortnit, der mit mit seiner Kraft zwölf Männern 21 gleichkommt (106, 1), oder sie machen sich diese Kräfte mittels magischer Requisiten zu eigen. 22 Die Tarnkappe 23 war sicherlich ursprünglich ein unsichtbarmachender Mantel, wie auch die alte Bezeichnung nicht Hut meint, sondern eine Art Umhang (Cape! ). Laurin legt Kühnhild dieses Kleidungstück um, und entführt sie aus dem Kreis ihrer Damen: »uf satzte ich ir ein helkeppelin« (749). Bei »Tarnhut« (Nibelungenlied 338, 1) bzw. »Helkappe« weisen die ersten Silben des Kompositums auf die Bedeutung: »Verhüllen«, »verstekken«, »verbergen«. 24 Zwerge werden durchwegs als schön geschildert. 25 Im Friedrich von Schwaben erscheint die Zwergenkönigin Syrodamen dem Helden gar »wie ein engel uss dem Paradys« (V. 7940). Die engelsgleiche Schönheit des Laurin beeindruckt Witege: »daz mac vil wol ein engel sîn, sant Michael der wîse und ritet uz dem paradîse.« (V. 238 f.) Als Walberan seinem Neffen Laurin mit seinem Zwergenheer zu Hilfe kommt, erscheinen die Zwergenkrieger den Bürgern von Bern ebenfalls wie die himmlischen Heerscharen: »Sie jahen daz von himel klar / engel waeren kumen dar« (V. 957 f.). Ebenso wie bei Laurin entsteht diese Assoziation durch ihre edelsteinverzierten Rüstungen, die so hell glänzen. Wohnung Die Kleinen wohnen bevorzugt in Berghöhlen (»der hole berc«) 26 und unterirdischen Palästen (Laurin, V. 31 f.; Virginal 686, 12; Wolfdietrich B, 796; Ecke, 202 f.). Daß sich diese häufigste Zwergenwohnung von dem bequemen Reim »twerc - berc« ableitet, wie Lütjens meint 27 , erscheint mir eher zweifelhaft. Der Eingang zu der Höhle ist meist schwer zu finden 28 , oft muß eine Art Signal verwendet werden, um diese aufschließen zu lassen. Befinden sich die Helden im Inneren, kann der Eingang plötzlich unsichtbar werden, im Wolfdietrich führt der Weg sogar durch eine Quelle in das Bergesinnere. Die Wohnung selbst ist meist auf das kostbarste ausgestattet: Strahlende Juwelen beleuchten die Höhle usw. 21 Zwanzigmännerstärke besitzt der Zwerg im Biterolf, 7842; vgl. auch Daniel, V. 1672; Walberan, V. 581 f. Herzog Ernst, V. 5011 f.; Virginal, 976, 12. 22 Vgl. Laurin, V. 551 f. 23 Vgl. Grimm, Mythologie (Fn. 1), Bd. I, S. 387 f. 24 Vgl. Nibelungenlied, 338 u.ö.; Laurin, V. 749 f.; Wolfdietrich D, 734 f. 25 Vgl. Garel, V. 6777 f.: »Dise frowen wilde / warn die schönsten bilde / diu er mit ougen ie gesach.« 26 Vgl. Ruodlieb, XVIII, 28; Nibelungenlied, 335, 5 f.; Tandareis, V. 9735; Garel, V. 6240; Sigenot, 45, 5 f.; Wolfdietrich B, 461, 1 f. 27 Lütjens (Fn. 1), S. 89. 28 Die Burg der Virginal wird von einem Automaten bewacht (684 f.), was den bösen Heiden aber nicht darin hindert, sich gewaltsam Eingang zu verschaffen. Im Friedrich von Schwaben öffnet ein Edelstein die Tür (V. 3099 f.). 640 Christa Habiger-Tuczay Soziale Strukturen Das älteste mittelhochdeutsche Zeugnis von hierarchisch organisierten Zwergenreichen findet sich im Herzog Ernst. In der Vorrede zum Heldenbuch heißt es über die Herkunft der Zwerge, daß Gott sie adelig, genauso wie die Helden, geschaffen habe. Ein König (Laurin, Walberan, Chamandin, Anteloye, Eugel, Albewin, Sintram, Sinnels u. a.) oder eine Königin (Virginal, Jerome) regiert es. 29 In Friedrich von Schwaben ist von einem Zwergenprinzen die Rede, 30 in der Virginal von Herzog Sigram, 31 ein Graf Sinofel kommt ebenfalls im Friedrich von Schwaben vor, 32 ein Zwergenritter im Demantin, 33 Botschafter bzw. Hofdiener, Kämmerer, Köche werden erwähnt. 34 Erbfolge geschieht in direkter Linie im Wolfdietrich. 35 Bemerkenswert erscheint, daß die Zwergenkönige den Menschenkönigen in nichts nachstehen bzw. deren Prachtentfaltung und Reichtum sogar als überlegen geschildert wird. 36 Virginal regiert über sieben Berge, Walberan über Asien, Laurin darf Tirol und Italien sein eigen nennen, und die Lombardei dient Alberich. Auch die Hoffeste entfalten eine Pracht und Herrlichkeit, wie wir sie nur bei König Artus und Etzel kennen: es finden Turniere statt, und die Unterhaltung der Gäste besteht aus kunstvoll vorgeführten Tänzen, Musik und Rezitationen. Ritter und Zwerge kämpfen, ungleich den Riesen, in durchaus höfisch reglementierter Form miteinander. 37 »Das höfische Element hat sich in derart starkem Maße geltend gemacht, daß der Zwerg, auch da, wo er dem Helden feindlich gegenübertritt, im allgemeinen die Formen ritterlicher Sitte einhält und sich unsere Sympathie nicht verscherzt.« 38 Trotz ihrer Höfischheit und der offenbaren Kenntnis der »costume« 39 betonen die Zwerge immer wieder ihr »wildes« Wesen: »Er sprach ›ich bin von wilder art. mîn wesen nie beschouwet wart wan in hôhen bergen tief‹.« 40 Lecouteux betrachtet diese Aussagen in Anschluß an von der Leyen 41 nicht als Hinweis auf den Charakter der Zwerge, sondern »allein eine Anspielung auf ihr Leben außerhalb 29 Wolfdietrich B, 461,2; Eckenlied, 202; Ortnit, 128, 2; Walberan, V. 14; Goldemar, 6, 12; Laurin, v. 64 u.ö.; Ring des Wittenweiler, 496, 10; Demantin, V. 7147. 30 Friedrich von Schwaben, V. 3148. 31 Virginal, 979, 12. 32 Friedrich von Schwaben, V. 3233. 33 Demantin, V. 7022; Virginal, 137, 2. 34 Friedrich von Schwaben, V. 6671; Virginal, 137, 5; Garel, V. 6242; Tandareis, V. 9728. 35 Wolfdietrich B, 836, 3; Sigenot, 47 f.; Friedrich von Schwaben, V. 8060. 36 Ortnit, 128, 2 f., 129, 1 f. 37 Walberan, V. 1099 f; Daniel, V. 1634 f., 1730 f.; Wolfdietrich B, 821, 4; Nibelungenlied, 97; 498; Biterolf, 7839; Laurin, V. 359. 38 Lütjens (Fn. 1), S. 106. 39 Kämpfe: Nibelungenlied, 96; Biterolf, 7838 f.; Daniel, V. 1621 f.; Laurin, V. 3860 f.; Walberan, V. 1091 f.; Wolfdietrich, 818 f.; Herzog Ernst, V. 49 f.; Ortnit, 101 f.; Orendel, V. 2439 f. 40 Reinfried, V. 18387 f. 41 »Es umschloß alles, was außer menschlicher Kultur, Gemeinschaft, Sitte und Norm stand, alles Dämonische, Roh-Natürliche, alles Untreue und Sittenlose, alles Wüste und Unangebaute, alles in die Irre gehende und Verwirrte, alles Fremdartige, Unheimliche, Wunderbare« (Leyen, Friedrich von der/ Spamer, A.: Die altdeutschen Wandteppiche im Regensburger Rathaus (1910), S. 18. Zwerge und Riesen 641 der menschlichen und höfischen Gesellschaft, was aus der Untersuchung des Wortes ›wild‹ hervorgeht.« 42 In der Auseinandersetzung zwischen Rittern und Zwergen geht es oft um Damen, aber auch um die Verteidigung eines Territoriums. Der der wohl berühmteste Territorialkonflikt wird im Laurin thematisiert: Laurin ahndet den Übergriff auf seinen Rosengarten besonders streng, die rechte Hand und der linke Fuß soll dem Frevler abgeschlagen werden. Obschon Alexander nicht mit Absicht in Anteloyes Gebiet eindringt 43 , muß auch er schwer büßen. Zwerge trachten danach, sich mit den Menschen in Freundschaft, aber auch in Minne zu verbinden. Laurin ist nicht nur König über ein außerordentliches Reich, er ist auch Minneritter. Allerdings lehnt ihn der Bruder Kühnhilts, seiner heidnischen Religion wegen, als Gemahl für seine Schwester ab. Ortnit wird seine zwergische Herkunft eröffnet, was ihn zu einem Wutausbruch reizt, er will sogar seine Mutter für ihren Fehltritt betrafen: »Mit zühten sprach der kleine: ›du bist mîn kindelîn‹. ›des muoz ûf einer hürde brinnen diu muoter mîn, daz bî ir iemen mêre für mînen vater lac. und vinde ich sie ze Garte, sie geniuzt sîn nimmer tac‹. Mit zorne sprach der kleine: ›du bist hie âne sin. du bist dâ von gehôhet, daz ich dîn vater bin. dîn saelde und dîn gelücke ist dir unbekant. du hâst von mîner lêre beidiu bürge unt lant. Dô ich bî dîner muoter alrêste ie gelac, daz was in grüenem meien umb einen mitten tac. sie weinte harte heize dô ichs alrêst betwanc. du solt mit ir nicht zürnen, ez geschah ân iren danc‹.« (166 - 168) Der Zwerg gesteht hier eigentlich die Vergewaltigung der Mutter Ortnits. Ganz anders benimmt sich Laurin, der die Jungfrau Kühnhilt zwar entführt, um sie später zu seiner Gemahlin zu machen, der sie aber in seinem Reich als Dame behandelt und sich ihr nicht nähert. Daß der Zwerg den Menschenfrauen nachstellt bzw. die Zwergin sich Helden als Partner wünscht, kommt in einigen Quellen vor. Manche versuchen es mit Gewalt, die Jungfrauen wehren sich aber erfolgreich 44 , die entführten Jungfrauen befreit der Held. 45 Dem Vater des Ortnit gelingt die Vergewaltigung, im Orendel scheitert der Versuch (V. 2429). In Friedrich von Schwaben lockt die Zergenkönigin Jerome den Helden in ihr Reich und verführt ihn, doch mit einer List gelingt es ihm zu entkommen (V. 2421 ff.) Zwerge können auch in ein Abhängigkeitsverhältnis zu einem Riesen geraten. Aus dieser Herrschaft befreit sie der jeweilige Held, der in diesem Fall stets die Zwerge unterstützt. 46 Aber auch die Zwerge stehen den Helden oft hilfreich zur Seite, unterstützen sie 42 Lecouteux (Fn. 1). 43 Anteloye, V. 18990 f. 44 So im Daniel, V. 1233; Herzog Ernst G, 49 - 52 u.ö. 45 Laurin, V. 720 f. Wolfdietrich B, 795 f. 46 Hüs, 153; Garel, V. 6246; Reinfried, V. 18738 f. Seifrid, V. 47. 642 Christa Habiger-Tuczay im Kampf gegen den Riesen durch Ratschläge, magische Requisiten, Zauberkräuter etc. Sie retten den Helden aus Lebensgefahr, 47 unterstützen ihn in Belagerungen gegen die Feinde. 48 Weilt der Ritter als Gast beim Zwerg, darf er sich wie unter seinesgleichen fühlen, er wird mit Turnieren, Musik, Tanz und Gesang bestens unterhalten. 49 Freundschaften zwischen Helden und Zwergen können so innig sein, daß der Held diesem sogar seine Frau, sein Land und seine Leute anvertraut. 50 Manchmal beherrrschen Zwerge Riesen, die sie sich wie Wachhunde fürs Grobe halten. 51 Riesen, wilde Leute und Drachen gelten als die erklärten Feinde der Zwerge. Die Riesen zwingen die Kleinen in ein ungewolltes Dienstverhältnis 52 und quälen sie - im Widerspruch zum göttlichen Plan - auf mancherlei Art, so die Vorrede zum Straßburger Heldenbuch: »Es ist auch czu wissen warvmb got die cleinen zwerg vnd die grossen rysen, vnd daranchg die held ließ werden. Zu dem ersten ließer die zwerglin werden vmb des swillen, das das lant vnd gebürge gar wiest vnd vngebawen was, vnd vil gutes von silber vnd gold edel stein vnd berlin in den bergen was. Darumb machte got die gezwerg gar listig vnd wyse das sie über vnd gut gar wol erkanten vnd warzu alle ding gut waren.« 53 Weiter unten heißt es, Gott habe die Riesen geschaffen, damit sie zur Sicherheit der arbeitsamen Zwerge die wilden Tiere und Drachen erschlügen. Aber die Riesen wurden ihrer Aufgabe nicht gerecht. Daher schuf Gott die Helden, die diese Aufgaben erfüllten und den Zwergen gegen die Riesen halfen. Religion der Zwerge In der Regel hält man sie für Heiden. 54 Manche konvertieren wie Laurin oder Sinnels. 55 Manche werden von vornherein als Christen gezeichnet, rufen auch ausdrücklich Gott an und beten. 56 Wissen und Fähigkeiten Zwerge werden als vielseitige Künstler bzw. Kunsthandwerker 57 beschrieben. Durch ihre Affinität zur Natur und ihr Leben in den Bergen schreibt man ihnen Wissen der Natur- 47 Wolfdietrich D, 1311. 48 Orendel, V. 738. 49 Vgl. Laurin, V. 941 f. u.ö.; Virginal, 642, 11 u.ö.; J. Sigenot, 159 f.; Anteloye, V. 19067 f.; Demantin, V. 7394 f.; Friedrich von Schwaben, 2601 f.; Ortnit D, 482, 65 f. Wigalois, V. 4823 f. 50 Vgl. Garel, V. 10732 f. Nibelungenlied, 90, 4; Wigamur, V. 5644 f. 51 Wolfdietrich B, 818, 3; Walberan, V. 51 - 54; Laurin, V. 53. 52 Garel, V. 6316 f., 6242 f.; Reinfried, V. 18738 f.; Tandareis, V. 9975; Wigamur, V. 24 f. 53 Das deutsche Heldenbuch. Hrsg. A. v. Keller. Stuttgart 1867 (STLV, Bd. 87), S. 1, 28 - 2, 6. 54 Laurin, V. 1100; Demantin, V. 7187 - 92; Biterolf, 4151 f.; Göttweiger Trojanerkrieg, V. 20070; Albrecht von Halberstadt erkärt in seiner Bearbeitung von Ovids Metamorphosen Pan als Gott der Zwerge (XXIII, 258). 55 Laurin, V. 1857; Wartburgkrieg, S. 169, 13. 56 Ortnit, 270 f.; Wolfdietrich B, 839, 3; Garel, V. 6352, 6908, 7840; Eckenlied, 1534; Jüngerer Sigenot, 31, 9; 58, 12. 57 Göttweiger Trojanerkrieg, V. 20070. Zwerge und Riesen 643 geheimnisse 58 bzw. magische Fähigkeiten zu. Die berühmteste Fähigkeit in diesem Zusammenhang ist wohl, daß sie sich unsichtbar machen können. 59 Die Szene, wo der unsichtbare Anteloye die charakterlosen Höflinge mit Ohrfeigen traktiert, reizt zum Lachen. 60 Verschiedene Requisiten können Unsichtbarkeit bewerkstelligen: Ein Stein, 61 von der Tarnkappe war bereits die Rede. Walberan kommt gar mit einer unsichtbaren Armee (V. 131). Laurin lockt Dietrich in den Berg, bricht sein Wort, und die Helden müssen sich mit unsichtbaren Gegnern herumschlagen, bis sie Ringe erhalten, dessen Kräfte sie die Zwerge sehen läßt. Die Tarnkappe dient auch als Transportmittel. 62 Ein anderes, ebenfalls wichtiges, Requisit der Zwerge ist der magische Gürtel, der Riesenkräfte verleiht 63 und andererseits wieder die Menschen die unsichtbaren Zwerge sehen läßt. 64 Zauberkräftige Kräuter, Wurzeln und Edelsteine befinden sich in ihrem Besitz, die Verschiedenstes bewirken könne: z. B. das Verstehen fremder Sprachen, 65 Abwehren von Drachen (Dietrich im Jüngeren Sigenot 112, 55), Schutz nicht nur gegen Feuer, 66 sondern auch gegen Armut. 67 Anteloye vermag in die Seele der Menschen zu blicken und deren Charakter zu erkennen (214 f.). Der Zwerg Melot im Tristan durchschaut das heimliche Verhältnis der Liebenden (Eilhart, V. 3392 f.; Gottfried, V. 14245 f.) aufgrund seiner astrologischen Kenntnisse. 68 Der Onkel des Zwergs im Garel ist als Nekromant ausgewiesen: »[er] het ouch besunder von nigromanzie gelernet vil mit listen zouberlichiu zil der kun er mer dann genuoc. swaz erde oder wazzer truoc des gewan er, swaz er wolde.« (V. 6660 f.) Aus der Bearbeitung der Erze folgt, daß die Zwerge auch als vortreffliche Schmiede gelten und die von ihnen gefertigten Waffen bei den Helden besonders begehrt sind. 69 Im Wigalois z. B. hat ein Zwerg 30 Jahre lang nur an einem einzigen Harnisch geschmiedet (V. 6079 f.). Diese Rüstungen besitzen zu ihrer vortrefflichen Verarbeitung oft noch magischen Fähigkeiten, sind unerstörbar oder nur unter bestimmten Bedingungen zu durchdringen etc. Eine andere, in den mittelhochdeutschen Quellen nur am Rande erwähnte, Kunst der Zwerge wird in den späteren Volkserzählungen zu ihrer wichtigsten Fähigkeit: Ihre besondere Begabung zum Schneidern, Weben, Spinnen und Wirken wird ein beliebtes Motiv der späteren Volksmärchen und Sagen und nähert die Zwerge den Kobolden bzw. Hausgeistern an. 70 Der unvorstellbare Reichtum der Zwerge wird vielfach betont, da sie doch als Erzgräber Zugang zu den Schätzen der Erde haben. Als Dietrich Laurin mit Gold für den 58 Wolfdietrich D, 52; Seifrid, 25, 6; Das Lied vom hürnen Seyfried, 15171; Wolfdietrich B, 796; 802; 805. 59 Alberich im Ortnit, 97, 4; 141, 2; 159, 1; 240, 2. 60 Anteloye, V. 19177 f. 61 Anteloye, V. 152. 62 Garel, V. 8467 f. 63 Laurin, V. 193; Anteloye, 15, 3; Reimchronik, V. 62613 f. 64 Laurin, V. 1418 f. 65 Ornit, 245. 66 Der Jungherr und der treue Heinrich, V, 543 f. In: Gesamtabenteuer, Bd. II, 211. 67 Crône, V. 4870 f. 68 Tristan, V. 14238 ebenso Das Lied vom Hürnen Seyfried , 160; Garel, V. 6660 f. 69 Eckenlied, 81, 8 ff.; Laurin, V. 186; Walberan, V. 777 f.; Garel, V. 7087 f.; Ortnit, 114. 70 Vgl. Konrad von Würzburg: Trojanerkrieg, V. 20070; Demantin, V. 7005 f.; Tandareis, V. 9732 f. 644 Christa Habiger-Tuczay Frevel am Rosengarten abspeisen will, meint dieser verächtlich: »ich han mer goldes dan iuwer dri« (V. 9). Charakter Heimtücke und List sind die beiden Charakterzüge, die die spätere Volkssage und das Volksmärchen als hervorstechend beschreiben. Aber schon in der mittelhochdeutschen Literatur gibt es einige wenige Belege. 71 Durch die Rezeption der altfranzösischen, höfischen Literatur fanden auch die »nains« Eingang ins Romangeschehen. Die deutschen Dichter übernahmen zwar nicht das abstoßende Erscheinungsbild, wohl aber die bösartig-dämonischen Züge: »die meisten nains des französischen Romans gehören zum Gesinde vornehmer Herren; von diesen werden sie zu kleinen Dienstleistungen und besonders gern zu Begleitung auf Abenteuerfahrten verwendet.« 72 In der altnordischen Literatur sind bösartige Zwerge gut belegt, Anleihen in der mittelhochdeutschen Literatur lassen sich allerdings nicht festmachen. Die von Lecouteux übersichtlich zusammengestelllte Etymologie 73 von »*dhwar« zu mhd. »twerch« = »schief«, »mißgestaltig« deutet gemäß der mittelalterlichen Weltanschauung auf ein mißgebildetes Wesen hin. Dieser Charakterzug kam durch die in der deutschen Literatur veränderte Morphologie des Zwerges nur in der höfischen Literatur und hier eher abgeschwächt zum Tragen. In Gottfrieds Tristan wird immer wieder auf die bösartigen Eigenschaften des Melot angespielt: »daz vertane getwerc, / des valandes antwerc« 74 . Bereits Eilhart hatte diesen dämonisch-teuflischen Charakter des Zwerges herausgestrichen: »der tufil uz im sprach« 75 . Der bösartige Juran im Daniel erinnert bereits an die bösen Zwerge der Volksmärchen. Besonders eigentümlich benimmt sich der Zwerg im Erec, der die Dame mit einer Geißel schlägt. 76 Die Etymologie von des Wortes »Zwerg« deutet in beiden Ableitungen auf heimtükkisches Verhalten hin 77 : einerseits »*dhuer« = »täuschend schädigen« und andererseits »*dheugh« = »trügen«, »listig schädigen«. Laurin, der doch Dietrich und seine Gesellen in eine Falle lockt, hat vorher Kühnhilt versprochen, den Helden nicht zu schaden, was er dann aber doch getreulich einhält (V. 1190 f.). Lecouteux hat in seine Untersuchung nur vier Beispiele für eine diebische Ader des Zwerges gefunden. 78 Zusammenfassend kann man feststellen, daß die deutsche Heldendichtung den Zwergen eher einen gutartigen, sympathischen Charakter zugesteht, während die höfische Literatur, zwar in abgeschwächter Form, die bösartigen Eigenschaften der romanischen Vorbilder übernimmt. 71 Orendel, V. 2467 f. 72 Orendel, S. 2 f. 73 Lecouteux (Fn. 1), S. 372 f.; vgl. auch Jontes, Günter; Zakrpenec, Xhuxhg [u. a.]: Zur Herkunft und Sinngebung des Wortes Zwerg in den europäischen Sprachen. in: Die Zwerge kommen, op. cit., S. 39 -40. 74 Tristan, V. 14511 f. 75 Tristan, V. 3419. 76 Tristan, V. 43 ff. 77 Vgl. Pfeifer, Wolfgang: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. 3 Bde. Berlin 1989; - Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 22. Aufl. neu bearb. v. Elmar Seebold. Berlin; New York 1989. 78 Lecouteux (Fn. 1), S. 372. Zwerge und Riesen 645 Die Realität Hofzwerge als Spaßmacher waren bereits in der Antike beliebt. Ein Reflex des Zwergs als Unterhalter bei Festen ist noch gut sichtbar. Laurin sinkt in seiner Gefangenschaft vor seiner Konvertierung zum »goukelaere« herab. Belege für Hofzwerge bringt Harward. 79 Die mißgebildeten Zwerge scheinen auf keltischen Traditionen zu basieren: Einzelzüge blieben noch in der Gestalt des Bilis im Erec spürbar. Genese der Vorstellung in der Folklore Die Erzähler von Zwergensagen 80 , so hat man festgestellt, waren meist Personen in isolierten Lebensumständen, wie Schäfer oder Wöchnerinnen. Die Sagen selbst haben einen neurotischen Unterton, wie Röhrich bemerkte. »Unter den Sagenerzählern findet man nicht nur Sinnierer, sondern auch wirklich Kranke, hysterische Halluzinanten usw., und vielleicht wird in den Sagen selbst etwas spürbar, wenn des öfteren erzählt wird, daß die Begegnung mit dem dämonischen Bereich zu Verstandesverwirrung, Krankheit und Tod eines Menschen geführt habe.« 81 Riesen Die Riesen aus Kanaa Der mittelalterliche Glaube an die Riesen fußt in nicht geringem Maße auf den Überlieferungen des Alten Testaments. Von besonderer Bedeutung ist der Bericht über die Verbindung der Söhne Gottes mit den Menschentöchtern, aus der die Riesen bzw. Giganten hervorgegangen sein sollen (Gen. 6, 4.). In diesen Abkömmlingen sah man die Verkörperung des Bösen. 82 Mehrere Deutungen waren möglich: Eine leitet die Söhne Gottes von Seht, dem Sohn Adams ab, der Abels Stelle vertritt, die Töchter der Menschen stammen aber von Kain ab. 83 Isidor von Sevilla hat eine andere Erklärung, er betrachtet die Göttessöhne als gefallene Engel. 84 Berichte Caesars und Tacitus’ behaupten, daß die nachsintflutlichen Riesen bei den Germanen bzw. in diesen überlebt hätten: »apud Germanos perduarunt gigantes«. Diese Ansicht deckt sich nicht mit der mittelalterlichen Vorstellung, nach der die Riesen aus unbekannten Ländern stammen (Rother, V. 630), die man unter Umständen mit »utgardh« identifizieren könnte. Dagegen spricht, daß das germanische Pantheon so gut wie keinen Eingang in mittelalterliche Vorstellungen gefunden hat. 85 79 Harward (Fn. 1), S. 21 ff.; vgl. auch Bonfiglioli, Sarah: Narren und Zwerge an fürstlichen Höfen des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit. Innsbruck 1994, S. 98 f. 80 Vgl. Marwede, W.: Die Zwergsagen in Deutschland. Köln 1933 (Diss.); Hässler, H.: Zwerge und Riesen in Märchen und Sage.Tübingen 1957 (Diss.). 81 Röhrich, Lutz: Sage. Stuttgart 1971 (Sammlung Metzler, Bd. 55), S. 5. 82 Der Riesenkämpfer Dietrich trägt selbst riesisch-dämonische Züge. Der Prolog des Heldenbuches (Heldenbuch [Fn. 2], S. 6) leitet seine Herkunft von dem bösen Geist Machmet (= Mohammed) ab. 83 Paracelsus war überzeugt, daß Riesen und Zwerge nicht von Adam abstammen. 84 Isidor von Sevilla: Seu origines, ed. W.M. Lindsay (= SCBO, Lat. 8, 1 - 2) Oxonii 1911. 646 Christa Habiger-Tuczay Die Riesen aus dem nahen Orient stammen aus Babylonien bzw. Babylon. 86 Im europäischen Raum wurde bald Heune und Hunne gleichgesetzt. Im Rosengarten (A, 97) tritt z. B. Schrutan als Riesenherrscher auf, in anderen Bearbeitungen regiert er Preußen. Daraus ist zu schließen, daß die jeweiligen feindlichen Nachbarstämme ins Riesenhafte vergrößert wurden. 87 Im Gegensatz zu den Zwergen treten die Riesen meist in geringer Zahl in Erscheinung, paarweise bzw. zu viert oder zu zwölft, sind oft miteinander verwandt, was das häufig vorkommende Rachemotiv begünstigt. Rudolf von Ems bezieht sich in seiner Weltchronik auf die biblische Darstellung, wenn er schreibt: »Hie wuchsin lange und groze risin, die an lenge, an groze, an kraft zerehter natûre geschaft gestalt, gewahsen waren.« (V. 654 f.) Mit der Sintflut sollten auch die Giganten wie alles Böse radikal von der Welt vertilgt werden. Doch erstanden sie wieder mit dem neuen Geschlecht der Menschen, weshalb es auch heißt, daß Riesen die Urbevölkerung von Palästina gewesen sein sollen. Sie bestanden aus verschiedenen Stämmen, die alle namentlich auf ihre Größe Bezug nahmen. 88 In der mittelalterlichen Tradition verkörperte der Riese den Inbegriff der »superbia«. Ein anonymer christlicher Gelehrter urteilt und verurteilt: »gigantes sunt voluptuosi et ambitiosi [...]. gigantes dicuntur daemones, qui suam mensuram enormiter excesserunt, quando contra Deum superbierunt.« 89 Rudolf berichtet über die Reaktion der Israeliten, als sie Nachrichten von diesen Riesen erfahren: »owe werin wir danne tot in Egypte gelegin sit wir uns muozen nu bewegen das wir ligen tot von disen leidin ungehuren risin! « (V. 13613 f.) Weiter unten erzählt er von der Begegnung der Israeliten mit einem Riesenkönig im Land Edrei, dessen Größe an seinem Bett ersichtlich war: Es war neun Klafter lang und vier Klafter breit. 90 Die Bibel berichtet von Davids Kampf mit Goliath, der fünf Klafter und eine Handbreit groß gewesen sein soll. Außerdem ist er mit Harnisch, Schild, Helm, Eisenhosen, Halsberg gerüstet und trägt eine Stange, sein Riesenschwert nimmt David an sich. Hier findet sich bereits jene Vorstellung vom Riesen, die für die mittelhochdeutsche Literatur als typisch bezeichnet werden kann. Rudolf berichtet noch von vier Riesen aus dem Stamm der Raphaiten, die ebenfalls sehr schwere Waffen tragen. Letzere begegnen in den Chansons de geste als prototypische 85 Versuche der Forscher, Thor und Dietrich, Thor und Siegried und Siegfried und Arminius zu identifizieren, sind des öfteren unternommen worden. Vgl. Höfler, Otto: Siegfried, Arminius und die Symbolik. Mit einem historischen Anhang über die Varusschlacht. Heidelberg 1961. 86 Damit war das biblische Babel, wohl aber auch Kairo gemeint, vgl. Ahrendt (Fn. 1), S. 92. 87 Vgl. dazu Grimm: Deutschen Mythologie (Fn. 1), Bd. I, 436. 88 »Raphaim« (= die Hochgewachsenen), »Enakim« (= die Langgestreckten). 89 In: B. Pitra spicilegium solesmense. Bd. III. Paris 1855, S. 467 (zit. nach Lecouteux [Fn. 1], S. 378, Anm. 53). 90 Grimm, Jacob: Deutsche Sagen (Fn. 1), Nr. 325. Zwerge und Riesen 647 Sarazenen, die ihre christlichen Gegner vor dem Kampf mit Reizreden zum Kampf drängen. Auch Goliath hat sich dieser Strategie bedient. Die Riesen aus dem Osten Die erste mittelhochdeutsche Dichtung, die andere als die kanäischen Riesen erwähnt, ist das Alexanderlied des Pfaffen Lamprecht. In dem Brief an seine Mutter erzählt Alexander von seiner Begegnung mit 600 Giganten, die er mit seinen Männern in einem dichten Wald aufstöbert. Da sie noch nie Menschen gesehen haben, fliehen sie, kommen aber sogleich mit ihren Waffen, Stahlstangen, zurück, um sich zu verteidigen. Das ist auch gleichzeitig der älteste Beleg für die Riesenwaffe. In der Alexandreis des Ulrichs von Etzenbach erfahren wir von »liute grôz glîch den risen«, mit großen Stangen und »rûch« gekleidet. Auch in dem fingierten Brief des Priesters Johannes aus Indien werden sie erwähnt: »Ouch sint in dem lande Lute die heizen gyganden (Man heizet sie risen dutschen so): der minneste ist vierzig elen ho.« (V. 88 f. ) In der Vorstellung der mittelalterlichen Dichter scheinen sich die beiden Vorstellungskomplexe verbunden zu haben: Die Berichte des Alten Testaments über die riesigen Ureinwohner Kanaans und den Erzählungen aus dem fernen Osten, wie sie durch den griechischen Roman vermittelt wurden, verschmolzen zu einem Vorstellungsbild. Die Dichter der Spielmannsepen trugen zur Beliebtheit und Verbreitung der Riesen wesentlich bei. Im Herzog Ernst wird erzählt, daß der Protagonist seinen Gastgebern, den Arimaspen, gegen Übergriffe durch Riesen hilft. Sein Vorschlag, diese im Wald zu überfallen, führt zum Sieg, da die Riesen ihre Waffe, die Stahlstange, im Waldesdickicht nicht zum Einsatz bringen können. Es ist dies eine List, der sich auch Dietrich von Bern, z. B. im Eckenlied u. ö., bedient. Der Dichter des Reinfried von Braunschweig hat offenbar den Herzog Ernst gekannt, denn er läßt den Helden gegen die die kananäischen Riesen ankämpfen. Wie oben bereits erwähnt, erzählt auch er die Pygmäenfabel: Die Riesen rächen den Tod ihres Boten, indem sie Pygmäenkönig und Königin gefangennehmen. Der Freund und Begleiter Reinfrieds, Persan, befreit die Pygmäen aus der Riesenherrschaft. Daß Zwerge über Riesen herrschen können, habe ich bereits ausgeführt. In Walberans Heer befinden sich auch eine Truppe von kananäischen Riesen: »er fuorte von Kananean / der starken leute hundert man, / die warn die pesten recken« (V. 115). Folgerichtig nennt man ihn auch König von Kananäa (V. 326). Ritter oder Wilde Das Riesenbrüderpaar in der Crône des Heinrich von dem Türlin mutet sehr volkstümlich an. Obwohl die beiden ganz im höfischen Ritterideal gezeichnet werden, - sie fordern z. B. Zins von unterworfenen Ländern -, ist ihr Erscheinungsbild weder biblisch noch klassisch antik beeinflußt: 648 Christa Habiger-Tuczay »Assiles was der rise genant Und saz in einem einlant, Das was starke wilde. Man seit ein unbilde Von ime und solhen site, Daz er die berge überschrite, Und anders wunders genuoc; Die berge er ab ir stete truoc An swelhe stat im best geviel; Vil manegen starken schiel Er von grôzen boumen zart, Sô er iht zornic wart; Einen stalboum truoc er ze wer, Sô er in meiste bi dem mer Iender mohte vinden, Oder ein eiche oder ein linden, Swar er hin ze strîte gienc; Vûr ein schilt er vor hienc Ein dic steinîn mûre.« (V. 5520 - 38) Sein Äußeres ist zwar »ungehiure«, doch sein Verhalten richtet sich nach dem höfischen Ritterideal. Sein Bruder Baingranz rächt Assiles, tritt gegen Gawan in den Kampf, verliert und Gawan schenkt ihm das Leben. Eine eigenartige Szene begegnet in der Crône, die u. a. auch die Vertrautheit Heinrichs von dem Türlin mit der antiken Mythologie zu beweisen scheint: Gawan sieht im Gebirge einen mit Ketten gefesselten Riesen, den Vögel mit ihren Schnäbeln zu zerfleischen trachten. Ein nacktes Mädchen versucht vergeblich, die Tiere abzuwehren (V. 14129-48). Diese Fesselung des Riesen kommt in König Rother in ganz anderem Zusammenhang vor. Rother fährt, begleitet von zwölf Recken, auf aventiure. Einer der Begleiter ist Widolt, ein Riese von solcher Kraft und Wildheit, daß seine Ketten nur in Kampfsituationen gelöst werden (V. 1707 ff.). Ahrendt vergleicht ihn mit einem Berserker: »In Widolt aber dürfen wir ein Abbild der langobardischen Berserker sehen, er allein ist als solcher geschildert« 91 . Der Dichter des Rother widmet ihm eine ausführliche Beschreibung, die ihn nahezu als Persönlichkeit hervortreten läßt. Im Daniel e rfahren wir eine eigentümliche Geschichte von einem zauberischen Riesenvater, der selbst normale Größe besitzt, dessen zwei Söhne aber unverwundbare Riesen sind. Diese dienen König Matur. Daniel tötet einen Sohn, während der andere als Bote am Artushof weilt. Als dieser zurückkommt und seinen Bruder tot vorfindet, tobt und wütet er dermaßen unter den Rittern, daß sie ihm sogar die Augen aussstechen, ohne ihm damit Einhalt zu bieten. Dies gelingt erst mit einer List, so daß Daniel ihn mit dem Zauberschwert des Zwergs Juran zu töten imstande ist (V. 3814 f.). Die konstatierte Wildheit läßt die Riesen wilde und unwirtliche Gegenden bevorzugen: das gilt sowohl für jene des Vorderen Orients und des fernen Ostens, als auch für die bei uns heimischen, die in Bergen und unzugänglichen Wäldern leben. Ecke lebt im Tiroler Wald, der Riese Pulaz im Wunderwald Broceliande ( Meleranz, V. 4262 f.). Metonymien für Riese haben oft mit Wald zu tun: »waltaffe« ( Wolfietrich D , V. 57, 4) oder 91 Vgl. Ahrendt (Fn. 1), S. 37. Zwerge und Riesen 649 »veigez waltluoder« (ebd., VII 35,2), »waltgebur« im Laurin D (V. 2550), »walthunt« im Sigenot (14, 8) oder »waltreck« (ibid. D, IV 6,4). Ihre Behausung ist in Waldhöhlen zu suchen, 92 ja sie betrachten die Wälder als ihr Eigentum, weshalb sie auf Übergriffe äußerst erbost reagieren. 93 Besonders eindrucksvoll hat der Dichter der Virginal den Dialog zwischen dem Riesen, einem Herrn der Tiere, und Dietrich gestaltet. Der Held geht im Wald auf die Jagd und stört damit das Gleichgewicht. Vom Riesen zur Rede gestellt, rechtfertigt er sich mit der Ansicht, daß das Wild doch niemandes Besitz sei. Die Antwort des Riesen erfolgt prompt: »her Ditrich sprach: ›das tünkt micht recht: das wilt ist des, und der es fecht in solchen wilden walden.‹« Der Riese ist anderer Meinung: »der ris sprach: ›das ist nit also das wilt das ist mein eigen.‹ den seinen kolben zuckt er do; er sprach: ›nu must du faigen‹«. (465 f.) Manchmal wohnen sie auch in Hütten 94 , die Ritterriesen in Schlössern und Festungen. 95 Dietrich von Bern, der Riesenkämpfer par excellence, begegnet ihnen im Wald. Auf den kostbaren Helm Hildegrim, 96 den Dietrich erwirbt, wird oft angespielt. 97 Nicht in direktem Zusammenhang steht sein oft erzählter Kampf und Sieg über das Riesenpaar Grim und Hilde und der Erwerb des Wunderschwertes Nagelring. Die Quellen differieren sowohl in der Namensgebung als auch bei Bestimmung ihres Verwandtschaftsverhältnisses. Alle Quellen berichten von einem Sieg Dietrichs über beide. Ebenrot beschuldigt den Helden im Eckenlied, daß er die beiden heimtückisch im Schlaf erschlagen habe, was einer absoluten Ehrlosigkeit gleichkäme. Doch sogar Fasolt berichtigt ihn mit der Bemerkung, daß Grim von den Schlägen Hildes, die den Berner angegriffen habe, aufgewacht sei. Besonders schlecht ergeht es Dietrich im Gedicht von der Königin Virginal. Als Dietrich sich auf dem Weg zur Königin verirrt, gelangt er zu Nitger, der zwölf Riesen beschäftigt. Wicram schlägt ihn nieder und sperrt ihn in ein Verlies und will ihn töten. Nitger rettet ihn. Auch der Sohn Wicrams trachtet dem Helden nach dem Leben, diesen kann Dietrich jedoch mit einem Stein erschlagen. Später kämpft er gegen Hülle, einen im Wald lebenden Riesen, der auf einen Hornruf nach Mûter zu Nitger eilt. Dietrich kann ihn nach langem Kampf besiegen, köpft ihn und läßt das Haupt des Getöteten den anderen Riesen vor die Füße rollen (V. 510 ff.). Zu Dietrichs Befreiung hat unterdessen Hildebrand eine tapfere Schar angeworben, mit welcher er nach Mûter zieht. Im Kampf wer- 92 Das Lied vom hürnen Seyfried, 61, 3; Seifrid, 94, 4 f., 33,1; Virginal, 27, 4; 510,7; Eckenlied, 267; Laurin, V. 2, 3; Meleranz, V. 4262 f.; Tandareis, 5560 f.; Crône, V. 5770 f. u.ö. 93 Vgl. Eckenlied, 162, 13; Virginal, 46, 6 f.; Dietrichs Gesellen, 108, 2 f.; Seifrid, V. 34. 94 Meleranz, V. 4278, 1. 95 Seifrid, V. 107 f.; Tandareis, V. 560 f. Im Pleier wohnen vier Riesen im Schloß von Malmantôn; im Garel in einer Festung ([Fn. 2], V. 5422 f.). 96 Vgl. Heinzle, Joachim: Mittelhochdeutsche Dietrichepik. Untersuchungen zur Tradierungsweise, Überlieferungskritik und Gattungsgeschichte später Heldendichtung. München 1978 (MTU, Bd. 62). 97 Im Eckenlied und im Sigenot. 650 Christa Habiger-Tuczay den alle Riesen getötet. Nach dem neunten Kampf sieht sich Nitger gezwungen, Dietrich freizulassen (beim 10. Kampf muß er wieder gegen Wicram antreten). Der Riese als Räuber Jene berühmte Stelle im Erec, als der Held im Wald der klagenden Stimme einer Frau folgt und damit in das Räuberriesenabenteuer gerät, zeichnet die Riesen mit wesentlich archaischeren Zügen. Er begegnet einer Dame, deren Freund von zwei Riesen entführt worden ist. Er verfolgt diese und holt sie ein. Grausam schlagen sie mit Geißeln auf den nackten gefesselten Ritter ein. Sie besitzen keine ritterlichen Waffen, sondern mit Eisen beschlagene Stangen. Erec bittet sie, den Ritter gehen zu lassen und kämpft gegen sie, als sie ablehnen. Den ersten tötet er vom Pferd aus mit seiner Lanze, den zweiten bekämpft er zu Fuß, dabei trennt er ihm ein Bein ab. Als der Riese nicht aufgibt, köpft er ihn. Das Edolanz Bruchstück handelt vom Raub einer Fürstin, die der Protagonist befreit. Er kämpft gegen den Riesen und kann auch mit der Fürstin gleichzeitig Gawein freisetzen. Im Iwein gelangt der Held zu einer teilweise durch Brand verwüsteten Burg. Der Burgherr heißt ihn willkommen und erzählt ihm, daß der Riese Harpin sein Land verwüstet habe, um seine Tochter zu gewinnen. Seine sechs Söhne habe er gefangen und sogar zwei davon aufgehängt (V. 4470 f.) 98 . Morgen werde er kommen und auch die anderen vier aufknüpfen, sollte er das Mädchen nicht bekommen. Am nächsten Tag erscheint Harpin, nur mit einer Stange bewaffnet, und ein namenloser Zwerg treibt die Gefangenen mit Geißelschlägen voran. Iwein besiegt den Riesen und befreit die Gefangenen. Auch im Wigalois findet sich eine ähnliche Episode (V. 2064 f.), wo Riesen als Mädchenräuber und -schänder geschildert werden. Wigalois hört, ähnlich wie Erec, im Wald eine klagende weibliche Stimme. Er reitet hin und sieht zwei Riesen, die eine Jungfrau vergewaltigen wollen. Ebenso wie Erec tötet er den ersten mit dem Speer, der zweite treibt den Helden ins Dickicht, wird dann aber von ihm besiegt. Die Eingangsszene wiederholt sich im Seifrid von Ardemont, wo der Held im Wald zwei Riesen, die gerade einen gefesselten Fürsten verbrennen und dessen Tochter aufhängen wollen, vorfindet. Als die Riesen in Todesnot aufbrüllen, kommt ihre Mutter herbeigeeilt, doch auch ihr wird der Garaus gemacht (335,4 ff.). Der befreite Fürst erklärt, daß ein Verwandter der Riesen seine Tochter zur Frau begehrt habe, und die Riesen nach der Abweisung sich solcherart rächen wollten. Beim Vorstellungskreis vom wilden Jäger, der in den Dietrichepen zweimal 99 begegnet, handelt es sich nicht um Riesen (obschon ihre Gestalt riesenhaft ist), sondern um »wilde Leute«. Ahrendt zählt Fasolt und den Wunderer zu den Riesen und subsumiert sie unter den Motivkomplex des Riesen als Mädchenräuber. Beim mädchenraubenden Heidenriesen Orkîse in der Virginal überwiegen die Riesenzüge. Gegen wilde Riesen muß auch Seifrid kämpfen, nämlich gegen das abstoßende Paar Schrutor und Rubal. Es handelt sich bei diesen um ein ähnlich greuliches Gespann, wie bei den Räuberriesen Purdan und Fidegart im Garel, die in einer Waldklause stationiert 98 Ein unehrenhafter Tod, der Dietrich vom Wunderer angedroht wird, worauf der Zauderer den Kampf nicht mehr aufschiebt. 99 Fasolt im Eckenlied, der Wunderer im gleichnamigen Epos. Zwerge und Riesen 651 sind. Räuberiesen hat der Pleier im Meleranz vorgestellt, doch sind diese zu ihrem Gewerbe gezwungen worden (V. 692 ff.). Das Erscheinungsbild Als Prototyp eines höfischen Riesen darf der lange Esealt in Ulrichs von Zatzikhofen Lanzelet gelten: »und hât diu âventiure reht, er selbe was ein guot kneht, der langeste gîgant, der ie mit wârheit wart bekant ûf allem ertrîche. [...] von im kündet uns daz liet, von daz er êrst geborn wart, so wuohs er für sich alle vart mancelîches eine spange. der hiez Esêalt der lange. der selbe was von kinde des küneges Artûses gesinde, wan er in durch ein wunder zôch. er was gewahsen alsô hôch, daz er verre langer schein danne türne dehein; und was in doch dar zu gereit ze der länge grôz behendigkeit und hübschlîche gebaere. swelch man küener wäere, der müese schaden dran gevân. er mohte rîten niht, wan gân, und was snel unde balt. sibenzehen jâr alt was er dô zer selben stunt, dô im diu reise wart kunt [...]« Als Gegensatz dazu der wilde Riese: »da kam ein riss gar ungefüg gelaufen aus eim perge hol. der riss was gross und zornig gar, sein ougen waren flammenfar gar tief in seinem haubet, dar umb der praen umbefank was rot und swarz, einr spannen lank, sein angesich das raubet was sich zu freüden ie gezoch; er was so grawsamleiche, sein rück was hogret unde hoch, dem teufel gar geleiche, sein pauch was gross, weit was sein giel: er fras ein mal ein jerig schwien, 652 Christa Habiger-Tuczay wen in der hunger angefiel. Sein lenge vir und zwenzig eln, wan ich kan gen im nichts gezeln an gross und auch an weiten, was ich von manchem han vernumen. im kund auch niemant vor zu kumen zu wald mit starken streiten; sie wurden an im sigelos. sein haut was wol bereite mit mancher perenhaut so gross, der was er bekleite.« (Lanzelet 460, 12 - 464, 8) Dazu passend die Riesin Guote: »ir hut was gruenr danne ein gras; das so groz ir haubet daz man mirz niht gelaubet; ir har swarzer dann ein kol. wart ie man mit ir minne wol, daz was ein wunderlich geshiht. ich woelte ir zuo einr vriundin niht. man kos an der frawen da breite stirne, ruhe bra, ir augen in der groeze wol als so ist der mane vol; ir orn als ein maezlich tor, diu zunge lang, dem munde vor, der pflag grozer wite vil. von den bruesten ich iu sagen wil: die war wol als shache [...] (Ulrich von dem Türheim, V. 30833 ff.) Bemerkenswert erscheint, daß Riesinnen den Menschenmännern nicht so nachstellen, wie es von den wilden Frauen erzählt wird. Trotz ihrer plumpen Körper können die Riesen enorme Schnelligkeit und Geschick entwickeln. In weiten Sprüngen eilen sie dahin, so daß ihnen nicht einmal ein Pferd zu folgen vermag. Ihre gewaltigen Schritte lassen alles hinter ihnen einstürzen, das Getier flüchtet. 100 Ihre Schnelligkeit macht Riesen zu vortrefflichen Boten. 101 Sigenot ist so schwer, daß ihn kein Pferd zu tragen vermag, dennoch läuft er mit der schweren Rüstung wie ein Sturmwind. 102 Ähnlich wie bei den Zwergen bleiben auch die Größenangaben für die Riesen eher ungenau, zur Illustration wird oft ein Vergleich herangezogen: Groß wie ein Turm, 103 wie ein Berg, 104 eine Burgmauer, 105 sein Kopf stößt gegen die Baumwipfel. 106 Manchmal bleibt die Bemaßung allgemein, wie »unmazen lanc« etc. Daß der Held Ornit dem Riesen 100 Vgl. Rother, V. 420 ff.; Eckenlied, 232, 5; Laurin, V. D 2f456; Laurin, V. 256, 5; Daniel, V. 770 f.; Seifrid, 103, 1; Ring, 211, 17 f.; Rennewart in Wolframs Willehalm , 35, 23 f. u.ö. 101 Vgl. Daniel, V. 408 f.; Garel, 219 f.; Lanzelot, V. 7685 f. 102 Ecke läuft wie ein Leopard von Tirol nach Ravenna (Eckenlied [Fn. 2], 36, 5). 103 Vgl. Crône, V. 10041; Tandareis, V. 6213; Lanzelet, V. 7548 ff. 104 Crône, V. 5525; Apollonius, V. 9318. 105 Vgl.Orendel, V. 1546 f., 1840 f.; Virginal, 517 f., DA 734, 10 f. Zwerge und Riesen 653 als kleines Kind erscheinen muß, kann aus der oben zitierten Stelle aus dem gleichnamigen Epos leicht ersehen werden. Dietrich muß deshalb auch in die Höhe springen, um Sigenot am Kopf zu treffen. Im Daniel tritt der Riese gar auf Pferd und Ritter (V. 3332 f.). Konkrete Zahlenangaben bewegen sich in Klafter, Schuh, Fuß und Ellen: Der Riese in der Virginal mißt z. B. 80 Schuh (881, 4). 107 Neben ihrer Größe besitzen sie eine außergewöhnliche Stärke: Seifrid hat die Kraft von 24 Männern, Wate in der Kudrun gar von 26 Männern (1469, 1 f.) 1 08 Die meisten sind so stark, daß sie es mit einem ganzen Heer aufzunehmen können. Der wilde Widolt in Rothers Heer (V. 2704 f.) kann Feuer aus Steinen schlagen. 10 9 Ganze Berge können manche schleudern (Crône, V. 5527, 26206 f.; Wolfdietrich B, 750) . Bäume werden wie Grashalme ausgerissen, solche Szenen häufen sich besonders im Eckenlied (Eckenlied, 184, 1 f.; 235, 14 ff. u.ö). Das äußere Zeichen der Kraft, bei Recken und Riesen gleicherweise, sind die extrem auseinanderstehenden Augen. 110 Ihre Stimme ist so entsetzlich, daß alles flüchtet, die Erde erbebt und Jungfrauen in Ohnmacht fallen. 111 Gepaart mit Größe und Stärke ist das außergewöhnliche Gewicht: Wenn Widolt oder Grimme in den Kampf ziehen, schwankt die Erde (Rother, V. 648, 5054 ff.). Der Riese im Daniel kann jedem das Rückgrat brechen, auf den er nur einen Augenblick den Fuß setzt (V. 3336 f.). Im Reinfried bricht die Brücke von Askalon, als die kanaäischen Riesen sie überqueren (V. 25586 f.). Jansen Enikel erzählt von Goliath (v. 9877), daß, wohin er trat, ein Abdruck zurückblieb. Im Unterschied zu den Zwergen begegnen uns in der mittelhochdeutschen Literatur (mit Ausnahme des Riesenvaters im Daniel) meist junge Riesen: Esealt ist 17, Ecke 20, der gefangene kananäische Riese im Herzog Ernst 15 Jahre alt (V. 5314 f.). Charakterzüge Ein hervorstechender Charakterzug ist ihre Faulheit, weshalb sie auch oft vom Helden schlafend angetroffen werden: »dô sprach der ungefüege ›du kleinez wihtelîn, zwiu hâstu mich erwecket? ez muoz dîn ende sîn [...]‹ dô sprach keiser Ortnit, der küene degen balt: ›Du vâlant ungehiure, wer brâht dich in diesen walt? ‹« (Wolfdietrich B, 488 f.) Des weiteren sagt man ihnen ziemliche Einfalt und eine gewisse Beschränktheit nach. Wir würden eher von Vergeßlichkeit und Überheblichkeit sprechen, für den mittelalterlichen Dichter aber hatten die protzigen Reizreden mit dummstolzer Selbstüberhebung (der 106 Herzog Ernst, V. 78; Wolfdietrich D, VII 33, 1, 166; Garel, V. 226 f., 5631 f., 18382; Tandareis, V. 6597; Reinfried, V. 19060 f., Eckenlied, S. 78. 107 Vgl. Alexanderlied U, V. 22800 f.: 5 Ellen; Apollonius, V. 2958: 9 Fuß u.ö.; Karlmeinet, 362, 10 f.: 12 Ellen; Weltchronik des Rudolf von Ems, V. 24024: 5 Klafter und eine Handbreit; Crône, V. 9349: 12 Ellen. 108 Hagen in der Kudrun besitzt 12fache Männerstärke (V. 106, 1); Orkîse im Daniel Zwölfmännerkraft (V. 106, 5). Wolfdietrich erhält pro Jahr eine Manneskraft dazu (Wolfdietrich A, 548, 2). 109 Vgl. das Märchen vom tapferen Schneiderlein! 110 Z. B. im Orendel, V. 2273 f.: bei Ise zwei Spannen, im Reinfried zwei Schuhe (V. 25314 f.) etc. 111 Vgl. Erec, V. 8992 f.; Reinfried, V. 18696 f.; Virginal, 732, 1; DA 462, 13; 736,8; Rosengarten D, 509, 1 f.; Alexander L, V. 5397 f.; Alexander U, V. 13247 f.; Willehalm W, 35, 14 u. a. 654 Christa Habiger-Tuczay Sünde der superbia, der sie als Vertreter des heidnischen bzw. Teufelsreiches frönen), die Vergeßlichkeit Rennewarts mit Einfalt zu tun. Grotesk erscheint in diesem Zusammenhang die Szene, als Alexander Geon mitten in der schönsten Prahlrede die Zunge mit einem Pfeil durchschießt und so abrupt dessen Redefluß beendet. 112 Ein beliebtes Motiv ist der unbändige Zorn des Riesen, das die mittelhochdeutschen Dichter oft gestaltet haben. Ahrendt zählt Widolt, Wate, Wolfhart u. a. zu den Berserkern. Wolfhart z. B. verfällt in eine Art Kampffuror (Virginal, 977, 1): »wolfhart toben sêre began / er tet als ein unsinnic man«. Widolt beißt vor Wut in seine Stange, daß Funken sprühen (Rother, V. 4658 f. u.ö.) Riesen als Freunde des Helden zeichnen sich durch besondere Treue aus. Treulos hingegen handeln z. B. Fasolt und Wicram (Eckenlied, 187, 11 f., Virginal, 3229 f.) Die Riesen werden vielfach als Wächter eingesetzt, vor allem als Pförtner, 113 Brükkenwächter und Grenzwächter. 114 Die automatischen Brückenwächter im Eckenlied scheinen dermaßen Furore gemacht zu haben, daß die späteren Dichter der Virginal, des Wolfdietrich, des Reinfried u. a. dieses Motiv ebenfalls verwendet haben. 115 Riesenkämpfe Allgemein kann man sagen, daß die Riesen fast immer kämpfend dargestellt werden. Wie oben bereits erwähnt, ist die Stahlstange die typische Riesenwaffe. 116 Ahrendt vermutet, daß sie sich aus dem ausgerissenen Baum entwickelt hat. 117 Als Zwischenstufe vermutet er eine mit Eisen beschlagenen Holzstange. Die Waffe war naturgemäß äußerst schwer, nur von ihrem Besitzer zu handhaben, meist viereckig und messerscharf geschliffen (Jüngerer Sigenot, 8, 9). Ein Kolben bzw. die Keule stellt die geringere (primitivere) Waffe im Vergleich zur Stange dar. Die Räuber im Erec verwenden (V. 5386 ff.) und auch die wilden Leute führen sie. Im Gegensatz zu diesen, die nur mit diesem Kolben kämpfen, sind die Riesen oft in voller Rüstung anzutreffen. Diese Rüstung ist oft magisch präpariert bzw. mit Drachenblut gehärtet oder gar mit einer Drachenhaut überzogen. 118 Die Brustpanzer strahlen so hell, daß alle geblendet werden. Von Dietrichs Wunderhelm, dem Hildegrim, war bereits die Rede (Eckenlied, 70 f.). Mentwin besitzt ein besonderes Zimier (Orendel, V. 1222 f.). Neben der Stange führen sie auch ein Schwert, das ihrer Größe entspricht und meist von Zwergen angefertigt wurde (Daniel, V. 1666 f.; Eckenlied, 209, 4). Auch der Schild ist besonders groß und schwer, wird deshalb oft mit einer Mauer oder mit einer Brücke verglichen. 119 112 Alexander U, V. 13282 f. 113 Im Nibelungenlied, 488; Eckenlied, 208, 11; Wolfdietrich D, IV 68, 1; Gauriel, V. 2569 f.; Apollonius, V. 1082. 114 Vgl. Virginal, 467, 11 f.; DA 11; Garel, V. 10999 f.; Daniel, V. 1032 f. u.ö. 115 Eckenlied d, 312 f.; Eckenlied s, 244 f., Virginal, 188 f. u. ö. Dietrichs Gesellen, 63, 12 f.; DA 311 f.; Wolfdietrich B, 808 f.; Reinfried, V. 21226 f.; Apollonius, v. 11727 f. 116 Vgl. Alexander L, V. 5077 f.; Eneit, V. 3018 f.; Herzog Ernst, V. 5168 f.; Niblungenlied, 492; Erec, V. 5058; Gauriel, V. 2777 f. u. a. 117 Vgl. Arendt (Fn. 1), S. 108. 118 Orendel, V. 1990 f. u.ö.; Wolfdietrich D, VII 33, 3; Sigenot d, 61, 2 f. 119 Vgl. Eckenlied L, 33; Crône, V. 5537 f. Zwerge und Riesen 655 Riesen kämpfen meist zu Fuß, aber auch zu Pferd. Die Reichweite der Stange ist in letzterem Fall besonders groß: Wuchtige Schläge, die der Held mit seinem Schwert unterlaufen muß. Der Held trachtet oft danach, sein Schwert ebenfalls wie eine Hauwaffe einzusetzen, um die Stange zu parieren. Gelingt es ihm nicht, dem Riesen Arme und Beine abzuschlagen, muß sich der Held vor der gefährlichen Stange ins Dickicht retten. 120 Orendel siegt über die Riesen Liberan (V. 1542 f.), Mentwîn (V. 1206), und Peliân (V. 1869 f.), die aus der Wüste Schalung (Askalon) kommen. Alle drei sind nicht als stangentragende Wilde charakterisiert, sondern kämpfen in der ritterlichen Tjost. Mentwîn hat als Reittier einen Elefanten und besitzt einen Automatenhelm. Das Nibelungenlied erwähnt zwölf Riesen beim Kampf um den Hort. Riesen können nicht nur wie Ritter zu kämpfen 121 , immer wieder wird von einer militärisch organisierten Riesentruppe berichtet. 122 Im Göttweiger Trojanerkrieg spielen beim Kampf um Troja Riesen- und Zwergentruppen eine tragende Rolle (7. Buch). Religion Bedauernd meint der Autor des Garel über den Ritterriesen Karabîn: »der rîse was höbesch unde wîs, und was ein helt bescheiden, wan daz er was ein heiden.« (V. 324 f.) Im Unterschied zu den Zwergen sind die Riesen allesamt als Heiden charakterisiert. Eine eigentümliche Stelle findet sich im Eckenlied: »harte listeclich er in begunde maere fragen. er wont im da ungerne bî und sprach: ›got, wie mich wundert, ob dis ain túfel sî, Der mich alhie bestanden hat! owe, wie sol mîn werden rat? ‹ also sprach der Bernaere. ›ach, herre got, durch dînen tot du hilf mir hie us mîner not. sit du bist mîn helfaere, so velle den strîtgesellen mîn! das zimt wol dîner guete, wan er versprach die helfe dîn.‹« (115, 9 - 116, 9) Dietrich hatte sich nämlich durch keinerlei Argumente zum Kampf überrreden lassen. Der Minneritter Ecke, den die drei schönen Frauen aus Jochgrimm losgeschickt haben, ist Dietrich mehr als suspekt. Daher greift Ecke zu einer List: »›das mich got húte velle / 120 Kampfschilderungen im Ernst, V. 5211 f.; Daniel, V. 2808 f. u.ö.; Garel, V. 5648 f. u.ö; Gauriel, V. 2640 f.; Eckenlied, 215, 3 f.; Erec, V. 5548 f.; Crône, V. 10039 f.; Wigalois, V. 19512 f. u.ö. 121 König Ekunaver hat vier musterhafte höfische Riesen in seinem Dienst. In der Schlacht gegen Artus verhalten sie sich neutral, treten später in Garels Dienste (Garel [Fn. 2], V. 10999 f.). 122 Strickers Karl und im Karlmeinet ebenso wie im Walberan und Alexander (Alexander S [Fn. 2], V. 5064 f.). Im Reinfreid von Braunschweig wird Ascalon von einem Riesenheer belagert (Reinfreid von Braunschweig [Fn. 2], V. 25014 f.). Auch als Mitstreiter von Königen, z. B. im König Rother bzw. Kämpfer für Königinnen wie Ecke. 656 Christa Habiger-Tuczay vnd kum ze helfe dir.‹« (92, 12 f.) Sigenôt zeigt sich erstaunt über Dietrichs Feueratem und vermutet ebenfalls teuflische Einwirkung: »Ich weiz werz in dich getragen hât. Ich kan nit anders erkenn, wan daz der tiufel in dir sî Mit allen sînen knehten.« (83, 5 f.) Der Kampf gegen Riesen erscheint so zum Dämonenkampf überhöht. Immer wird auch der alte Kampf gegen das Heidentum mitgedacht, daher steht Gott auf der Seite des Helden: »wan daz der mit im was der Dâvide gap die kraft daz er wart sigehaft an dem risen Gôlîâ der half ouch im des sige dâ.« ( Garel, V. 408 - 11) Soziale Strukturen Im Unterschied zu den Zwergen sind sie meist nicht hierarchisch organisiert, wohl aber werden oft Riesenclans vorgeführt. Riesenpaare treten häufig in Erscheinung 123 Im Eckenlied sind fast alle Riesen untereinander verwandt, obwohl in diesem Zusammenhang zu erwähnen ist, daß gerade hier eine Vermischung zwischen Riesen und Wilden Leuten stattgefunden hat. Zwerge und Riesen sind erklärte Antagonisten, letztere stehen noch dazu in einer eigentümlichen Affinität zu den von den Zwergen besonders gefürchteten Drachen. Realität Eine Stelle in der altsächsischen Genesis spricht von Riesen als »kraftaga luidi«, sie seien tapfer, aber störrisch. Immer wieder werden riesenhafte Gestalten geschildert, die ihre Zeitgenossen an Körpergröße weit überragten, z. B. Karl der Große, Theoderich, Roland. Im Spätmittelalter scheinen Riesen- und Reckenvorstellungen ineinander überzugehen. 124 Als Halbriesen erschienen ja bereits Karl 125 und sein Neffe Roland. Der tölpelhafte Rennewart, obzwar immer als Halbriese bezeichnet, erreicht nahezu germanische Riesendimensionen: Er ist überaus gefräßig, trunksüchtig und jähzornig, stolpert tölpelhaft herum, vergißt ständig seine Stange. 126 Volkserzählung Die Volkserzählung zeichnet ein anderes Bild vom Riesen. Ihre favorisierten Motivkomplexe, z. B. das Motiv des Riesenbaumeisters, sind in der mittelhochdeutschen Literatur 123 Helle und Runze im Wolfdietrich B, 475; Purdan und Fidegart im Garel, V. 5487 f.; Schrutor und Rubal im Seifrid, 94 f.; Calabrus und Ruel in Troja G, V. 6660 f. 124 Vgl. Fromm, Hans: Riesen und Recken. In: Deutsche Vierteljahrsschrift 60 (1986), S. 42 - 59. 125 Im Karlmeinet, 539, 13 f. ist Karl 8 Fuß groß, während sein Biograph Einhard nur 7 angibt. 126 Willehalm, 196, 17; 271, 27f.; 317, 10 f. Zwerge und Riesen 657 kaum zu finden. 127 Volkserzählung und Mythos haben immer wieder aetiologische Sagen mit Riesen verknüpft, auch dieser Zug hat die mittelalterlichen Autoren nur in Ansätzen interessiert. Der Mythos vom Riesen hat bis ins 20. Jahrhundert überlebt, ich möchte nur auf den Schneeriesen 128 hinweisen. Bibliographische Hinweise Quellen Die Basler Bearbeitung des Alexanderromans. Hrsg. R. M. Werner. Tübingen 1881 (BLVS, Bd. 154) [Alexander B]. Rudolf von Ems: Alexander. Hrsg. V. Junk. 2 Bde. Stuttgart 1928 - 29 (BLVS, Bde. 272, 274) [Alexander R]. Das Alexanderlied des Pfaffen Lamprecht. Hrsg. I. Ruttmann. Darmstadt 1974 [Alexander L]. Ulrich von Etzenbach: Alexandreis. Hrsg. W. Toischer. Tübingen 1888 (LVST, Bd. 183) [Alexander U]. Antelan. Hrsg. K. Scherer. In: ZfdA 15 (1872), S. 140 - 149. Alexander und Antiloye. Hrsg. M. Haupt. In: Altdeutsche Blätter I (1835), S. 250 - 266 [Antiloye]. Heinrichs von Neustadt: Apollonius von Tyrlant. Hrsg. S. Singer. Berlin 1906 (DTM, Bd. 7) [Apollonius]. Biterolf und Dietleib. Hrsg. O. Jänicke. In: Deutsches Heldenbuch, Bd. I. Berlin 1866 [Biterolf]. Heinrich von dem Türlîn: Diu crône. Hrsg. G. H. F. Scholl. Stuttgart 1852 (BLVS, Bd. 27) [Crône]. Daniel von dem blühenden Tal, ein Artusroman von dem Stricker. Hrsg. G. Rosenhagen. Breslau 1894 (Germ. Abh., Bd. 9) [Daniel]. Demantin von Berthold von Holle. Hrsg. K. Bartsch. Stuttgart 1875 (BLVS, Bd. 123) [Demantin]. Dietrichs Gesellen. Hrsg. F. von der Hagen; J. G. Büsching. In: Der Helden Buch in der Ursprache. Bd. II. Berlin 1820 [Dietrichs Gesellen]. Eckenlied Fassung L. Hrsg. M. Wirschin. Tübingen 1974 (ATB, Bd. 78) [Eckenlied L]. Edolanz. Hrsg. M. Haupt; H. Hoffmann. In: Altdeutsche Blätter 2 (1840), S. 148 ff.. Heinrichs von Veldeke Eneide. Hrsg. O. Behagel. Heilbronn 1882 [Eneit]. Enikel: Weltchronik. Hrsg. Ph. Strauch. Hannover 1891 (MGH, Deutsche Chroniken, Bd. III. 1). Hartmann von Aue: Erec. Hrsg. A. Leitzmann. Tübingen 1967 (ATB, Bd. 39) [ Erec]. Herzog Ernst. Hrsg. K. Bartsch. Wien 1869 [Ernst]. Herzog Ernst. Hrsg. F. von der Hagen; A. Primisser. In: Deutsche Gedichte des Mittelalters. Bd. I. Berlin 1808 [Ernst D]. Friedrich von Schwaben. Hrsg. M.H. Jellinek. Berlin 1904 (DTM 1) [Friedrich von Schwaben]. Gesamtabenteuer. Hundert altdeutsche Erzählungen. Hrsg. F. von der Hagen. 3 Bde. Stuttgart; Tübingen 1850 (Nachdr. Darmstadt 1961) [Gesamtabenteuer]. Garel von dem blühenden Tal, ein höfischer Roman aus dem Artussagenkreis von dem Pleier. Hrsg. M. Walz. Freiburg i. Br. 1892 [Garel]. Konrad von Stoffeln: Gauriel von Muntabel, der ritter mit dem Bock. Hrsg. F. Khull. Graz 1885 [Gauriel]. Goldemar. Hrsg. J. Zupitza. In: Deutsches Heldenbuch. Bd. V. Berlin 1870. 127 Karedoz soll seine Festung erbaut haben: Vgl. Tandareis, V. 5267 f. 128 Nur eine Untersuchung sei erwähnt: Bond, Janet: Beweise der Yeti: Geheimnisse der Schneemenschen. München 1988. 658 Christa Habiger-Tuczay Das Lied vom hürnen Seyfried. Hrsg. W. Golther. Halle 1911 [Das Lied vom hürnen Seyfried]. Iwein, eine Erzählung von Hartmann von Aue. Hrsg. G. F. Benecke; K. Lachmann. Berlin 7 1968 [Iwein]. Der Jüngere Sigenot. Hrsg. A.C. Schoener. Heidelberg 1928 (German.Bibl., 3. Abt.). Karlmeinet. Hrsg. A. von Keller. Stuttgart 1858 (BLVS, Bd. 45) [ Karlmeinet]. König Rother. Hrsg. Th. Frings; J. Kuhn. Halle 1968 (Altdt. Texte f. d. akad. Unterricht, Bd. 2) [Rother]. Kudrun. Hrsg. B. Symons. Tübingen 1964 (ATB, Bd. 5) [Kudrun]. Lanzelet, eine Erzählung von Ulrich von Zatzikhofen. Hrsg. K.A. Hahn. Frankfurt 1845 [Lanzelet]. Laurin. Hrsg. O. Jänicke. In: Deutsches Heldenbuch. Bd. I. Berlin 1878 [Laurin]. Meleranz von dem Pleier. Hrsg. K. Bartsch. Stuttgart 1852 (BLVS, Bd. 27) [Meleranz]. Sankt Oswald, Orendel, Salman und Morolf. Hrsg. W. J. Schröder. In: Spielmannsepen. Bd. II. Darmstadt 1976 [Orendel]. Ortnit und die Woldfdietriche. Hrsg. A. Amelung; O. Jänicke. In: Deutsches Heldenbuch. Bd. III. 1. Berlin 1878 [Ortnit]. Der Priester Johannes. Hrsg. F. Zarncke. Leipzig 1876. Das Nibelungenlied. Hrsg. M. S. Bats. Manuskripte A, B ,C. 1971 [Nibelungenlied]. Reinfried von Braunschweig. Hrsg. K. Bartsch. Stuttgart 1871 (BLVS, Bd. 109) [Reinfried]. Ulrich von Türheim: Rennewart. Hrsg. A. Hübner. Berlin; Zürich 2 1964 (DTM, Bd. 39) [Rennewart]. Rudolf von Ems: Weltchronik. Hrsg. G. Ehrismann. Dublin; Zürich 2 1967 (DTM, Bd. 20). Ruodlieb. Hrsg. K. Langosch. Darmstadt 1967. Merlin und Seifrid von Ardemont von Albrecht von Scharfenberg in der Bearbeitung Ulrich Füeterers. Hrsg. F. Panzer. Stuttgart 1902 (BLVS, Bd. 227) [Seifrid]. Tandareis und Flordibel, ein höfischer Roman von dem Pleier. Hrsg. F. Khull. Graz 1885 [Tandareis]. Eilhart von Oberg: Tristan. Hrsg. Fr. Lichtenstein. Straßburg 1877 (QF, Bd. 19) [Tristan E]. Gottfried von Straßburg: Tristan. Hrsg. F. Ranke. Dublin; Zürich 14 1969 [Tristan G]. Der Göttweiger Trojanerkrieg. Hrsg. A. Koppitz. Berlin 1926 (DTM, Bd. 29) [Troja G]. Konrad von Würzburg: Der trojanische Krieg. Hrsg. A. v. Keller. Stuttgart 1859 (BLVS, Bd. 44) [Troja K]. Virginal. Hrsg. J. Zupitza. In: Deutsches Heldenbuch. Bd. I. Berlin 1870 [Virginal]. Walberan. Hrsg. O. Jänicke. In: Deutsches Heldenbuch. Bd. I. Berlin 1870 [Walberan]. Wirnt von Grafenberg: Wigalois, der Ritter mit dem Rad. Hrsg. J. M. N. Kapteyn. Bonn 1926 [Wigalois]. Wigamur. Hrsg. F. von der Hagen; J. G. Büsching. In: Deutsche Gedichte des Mittelalters. Bd. I. Berlin 1802. Wolfram von Eschenbach: Willehalm. Hrsg D. Kartschoke. Berlin 1968 [Willehalm W]. Woldietrich A, B,D. Hrsg. A. Amelung; O. Jänicke. In: Deutsche Heldenbuch. Bde. III, 1 - 2. Dublin; Zürich 1963. Enzyklopädische Stichworte Dämonen, Geister, monströse und fabelhafte Menschenrassen, Mythengestalten, natürliche Tiere als Fabelwesen, fiktive eingestaltige Tiere, tierische Mischwesen, Mischwesen von menschlich-tierischer Gestalt vornehmlich antiker, keltischer, germanischer, christlich-mittelalterlicher Mythen. Abaddon : Biblischer Fürst der Furien und König der dämonischen Heuschrecken. Abraxas oder Angnidpede: Gnostische Gottheit, ein Mischwesen mit menschlichem Rumpf, Hahnenkopf und Schlangen als Füße. Acephalen oder Epistigen : Behaarte, meist unbekleidete Menschen oft riesenhafter Gestalt, die keinen Kopf haben. Thomas von Cantimprensis deutet sie als Advokaten, die ihre Klienten zu unsinnigen Prozessen verleiten. Adami : Von Adam abstammende Meermenschen. Aello: Tochter des Thaumas, ist eine Harpyie aus Vergils Aeneis , die den Trojanern prophezeit, sie würden erst dann Ruhe finden, wenn sie ihre Tische verzehrt hätten. Die Prophezeiung erfüllt sich, als die Trojaner in Italien ihre Speise auf Brotfladen anrichten. Afagddu: Monströser Sohn der keltischen Hexe Ceridwen, der durch magische Wandlungen zum schönen Barden Taliesin wird. Affe: Verkörpert Teufel und Lasterhaftigkeit. Agathadämon: In der griechischen Mythologie der gute Genius, der als geflügelte Schlange unsichtbar den Menschen umschwebt. Ägir : Meeresriese der germanischen Mythologie, der mit Ran zahlreiche Töchter, die Ägirstöchter oder Wellen zeugte. Der Anblick seines Helms verwandelt Menschen in Stein. Agrippiner : Im He rzog Ernst ein Volk mit Kranichköpfen. Agrus : Griechischer Gigant mit Schlangen als Füße. Ahasver : Seit dem frühen 17. Jahrhundert der Name des »Ewigen Juden«, der nach mittelalterlichen Pilgerberichten Cartaphilus oder Buttadeus hieß und zur Buße für sein unbarmherziges Verhalten ewig wandern müsse: Der Sage nach wollte Jesus auf dem Kreuzweg nach Golgatha vor dem Haus eines Schusters kurz rasten, wurde aber von diesem vertrieben. Akephalos : Kopfloser Dämon, der in vielen Kulturen zu Hause ist und als Spukgeist umgeht. Oft sind es Wiedergänger, d. h. ruhelose Tote, die als Verbrecher enthauptet oder als Mordopfer getötet worden waren. Auch der Wilde Jäger ist gelegentlich ein Akephalos. Alb, Alp oder Ephialtes: Ursprünglich Elfe der angelsächsischen und altnordischen Mythologie und unter vielen landschaftlich unterschiedlichen Bezeichnungen ein heimtückischer Geist, der den nächtlichen Alpdruck oder Alptraum erzeugt. Weibliche Druckgeister verursachen auch erotische Träume. Alberich: Hüter des Nibelungenhorts, dem Siegfried die Tarnkappe raubt und zwingt, ihm den Schatz auszuliefern. Alkyoneus : Drachenfüßiger Riese, der aus dem Blut des entmannten Uranos ersteht. Aloaden: Die Riesenbrüder Otos und Ephialtes, die den Olymp stürmen und Artemis und Hera rauben wollen, durchbohren sich gegenseitig mit ihren Speeren, als Artemis in Gestalt einer Hirschkuh zwischen ihnen hindurch entkommt. In der Odyssee w erden sie von Apollo getötet. Alvís : Allwissender Nachtzwerg der germanischen Mythologie, verlobt mit Thrud, der Tochter Thors. Von ihm erzählt Alvíssmál , ein Gedicht der Edda. 660 Enzyklopädische Stichworte Amaltheia: Nymphe, die den neugeborenen Zeus in einer Höhle auf Kreta versorgt, wo ihn seine Mutter vor Kronos versteckt hatte. Amazonen: Volk kriegerischer Frauen in Skythien. Ambaren oder Sesamber und Impersibaren: In Äthiopien lebende Menschen ohne Ohren. Amemait: Tier aus Teilen des Löwen, des Krokodils und des Flußpferdes, das von den Bestiaren als Symbol der Vergeltung erklärt wird. Amphisbaena oder Enfeminie: Vogelschlange mit zwei Köpfen, von denen einer am Schwanzende sitzt. Sie kann gleichzeitig in zwei Richtungen blicken, und während der eine Kopf schläft, wacht der andere. Sie kann - so ihr sprechender Name - vorwärts und rückwärts kriechen, was als doppelte Bosheit, aber auch Klugheit gedeutet wird. Anchios: Kentaur aus Thessalien, den Herakles mit Feuerbränden erlegt. Androgyne: Mannweiber. Androsphinx: Menschenköpfige Sphinx Ägyptens mit Frauenbrüsten. Andvari: Fischgestaltiger Zwerg, der von Loki mit einem Fischnetz gefangen wird und der sich mit dem Goldring Andravanaut, den er verflucht, freikauft. Andvari: In der nordischen Überlieferung Hüter des Nibelungenhortes, den Sigurd raubt. Angurboda: Riesin und Geliebte Lokis, der mit ihr den Fenriswolf, Hel und die Midgardschlange zeugt. Ankou: Nach bretonischem Volksglauben wird der erste Tote, den man im Jahr beerdigt, zu einem Totendämon, der über den Friedhof wacht. Antaios: Riesenhafter Sohn des Poseidon. Solange er den Boden berührt, wird er mit immer neuen Kräften versorgt. Herakles hebt ihm im Ringkampf hoch und drückt ihm den Brustkorb ein. Anthopolos: Tier mit großen Hörnern in Gestalt einer Säge und mit dem Körper eines Stieres. Antichrist: Dämonische Gestalt, die auf die jüdische Tradition im Buch Daniel zurückgeht, wo Gott gegen einen wunderwirkenden Dämon kämpft, der sich Zugang zum Himmel verschaffen will und die warnenden Propheten Henoch und Elias tötet. In den mittelalterlichen Antichrist- Spielen erscheint der Antichrist in der Endzeit, um die Menschen von Gott abtrünnig zu machen. Antipoden: Indisches Volk, bei dem die Füße nach hinten gekehrt und acht Zehen an jedem Fuß sind. Isidor von Sevilla siedelt das Volk in Libyen an. Thomas von Cantimprensis sieht in ihnen Ehrenmänner, die fest auftreten können. Apokalyptisches Tier: Hat sieben Häupter und zehn Hörner, Bärenfüße und Löwenmaul. Aratron: Mächtiger Planetendämon der okkulten Literatur des 16. Jahrhunderts, der den Saturn beherrscht und der als Helfer bei der Verwandlung von Menschen und Pflanzen beschworden wird. Aries: Widder, Sohn des Poseidon, dessen Zeus geweihtes Vlies von einem Drachen bewacht wurde, den Jason erschlug. Aries wurde zum Sternbild des Widders. Arimaspen: Wundervolk am Kaspischen Meer. Sie haben nur ein Auge mitten auf der Stirn und kämpfen mit den Greifen um das Gold. Artabatiten: Äthiopier, die auf allen vieren laufen. Die Gesta Romanorum sehen in ihnen gottlose Wesen, weil sie wie das Vieh leben. Asmodeus: Dämon der talmudisch-rabbinischen Schriften, der im Mittelalter als dämonischer Fürst der Sünden und Laster gilt. Er wird auch beschworen, um verborgene Schätze aufzuspüren. Aspidochelon: Ein Seemonster mit einem riesigen Fischleib. Es läßt sich an der Wasseroberfläche mit Sand bedecken, damit die Seeleute glauben, eine Insel vor sich zu haben. Wenn ein Schiff angelegt hat, taucht es mit ihm in die Tiefe. Aspis: Antike Artbezeichnung der Giftschlange. Sie ist nach der christologischen Deutung von Psalm 90, 13 die Verkörperung der Sünde, die ein Ohr an die Erde preßt, das andere mit dem Schwanz zustopft, um die Stimme des Beschwörers nicht zu hören. Auch ein kleiner musikalischer, geflügelter Drache, der in der kirchlichen Kunst häufig dargestellt ist. Enzyklopädische Stichworte 661 Astaroth: Dämon aus den Heerscharen des Satans. Athos: Riese mit Schlangen als Füße, der aus dem Blut des Uranos erzeugt wird. Atlas: Bruder des Prometheus und Vater von Kalypso, der Hesperiden, Peiaden und Hyaden, ein Riese, der am Westrand des Erdkreises mit Haupt und Händen von Zeus gezwungen das Himmelsgewölbe tragen muß. Audhumia oder Audumbla: Kuh der germanischen Urzeit, aus dem Eis aufgetaut, nährt sie mit ihren Milchströmen den Riesen Ymir. Sie leckt an salzigen Eisblöcken und löst ein menschliches Wesen, Buri, aus dem Eis, das zum Stammvater der Götter wird. Aufhocker: Tritt als Geist in sehr unterschiedlicher Gestalt von Tieren und dämonischen Gestalten an Spukorten auf und springt einsamen Wanderern auf den Rücken. Erst durch spuklösende Geräusche wie Glockengeläut oder andere Einflüsse wird der Aufhocker vertrieben. Austri: Einer der Zwerge, der mit Westri, Nordri und Sudri als den Verkörperungen der Himmelsrichtungen den Schädel des Ymir trägt, den die Götter zum Himmelsgewölbe gemacht hatten. Avalerion: Ein Vogel, der nur in einem einzigen Paar existiert. Er ist größer als ein Adler, hat scharfe Schwingen, ein rotes Gefieder und herrscht über alle anderen Vögel. Nach 60 Jahren legt das Paar zwei Eier aus denen nach 60 Tagen die Jungen ausschlüpfen. Danach stürzen sich die Eltern ins Meer und ertrinken. Azazel: Biblischer Wüstendämon. Baal: Ursprünglich phönikischer Gott mit Stierkopf, ein menschenverschlingendes Ungeheuer, das zur Verkörperung des Bösen wird. Bachadis oder Carabas: Eine Gans, die auf Bäumen wächst. Bakchen und Bakchantinnen: Verehrer des Dionysos, bekleidet mit Fellen, die in Rausch und Ekstase Tiere und Menschen zerfleischen. Baleine: Riesenfisch mit einem Säbel auf dem Rücken, den Seeleute als Insel benutzten. An seinem Säbel schnitten sie Fleisch klein. Balor: Gewaltiger, einäugiger Riese der nordischen Mythologie, dessen Auge sieben Lider hat. Hebt er das siebente, strahlt eine alles vernichtende Glut heraus. Banshee: Irische Fee und Totenbotin, die mit bellenden Klagelauten den bevorstehenden Tod von Verwandten und Freunden ankündigt. Baphemet oder Baphomet: Teufelsdämon von weiblicher Gestalt mit bärtigem Männerkopf, den nach mittelalterlichem Glauben die Tempelritter verehrt haben sollen. Ihr Großmeister Jacques de Molay wurde deshalb 1314 auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Bär: In der keltischen und germanischen Mythologie Verkörperung des rücksichtslosen Kämpfers. Sein Fell und sein Blut verleihen ungeheure Kräfte. Die Berserker der altnordischen Sage kleiden sich in Bärenfelle. Der Held Beowulf ist ein »Bärensohn«. Bardewitt: Fünfköpfiger wendischer Gott. Basilisk: Bedeutet so viel wie »kleiner König« und bezeichnete nach Plinius die giftige Kroneidechse. Es ist der Name eines nordafrikanischen Fabelwesens, das dem Ei eines schwarzen Hahns, das von einer Kröte oder einer Schlange ausgebrütet wird, entschlüpft. Der Basilisk hat den Leib einer geflügelten Schlange, Kopf und Füße eines Hahns und einen Drachenschwanz. Er trägt eine kleine Krone oder hat einen Fleck in Form einer Krone auf der Stirn. Sein Blick und sein Gifthauch sind tödlich. Das eigene Spiegelbild oder der Geruch eines Wiesels können es töten. In der neueren Zoologie ist eine Leguanart nach diesem F abelwesen benannt. Baugi: Riese, der Odin listenreich zu dem von Gunnlöd gehüteten Met, der Weisheit und Sangeskunst verleiht, verhilft. Baumgeist: Im Volksglauben vieler Kulturen bewohnen Geister und Dämonen Bäume. Beelzebub: Im Neuen Testament (Mt 12, 24) der Herr der Dämonen, der in der Zeit der Hexenverfolgungen als Bocksgestalt vorgestellt wird. Behemoth: Biblisches Riesentier, das dem Nilpferd oder auch einem Wasserbüffel gleicht. Belial: In der Bedeutung von »Heilloser« eine neutestamentliche Bezeichnung des Teufels. Später 662 Enzyklopädische Stichworte ein Dämonenfürst im Buch Belial des Jacobus von Teramo, dargestellt als geschwänzt und spitzohrig mit einem Vogelgesicht am Gesäß, mit Hufen oder Krallenfüßen und Reißzähnen. Bercht oder Percht: Weiblicher Dämon mit eiserner Nase und ehernen Brüsten, Anführerin einer Dämonenschar, meist ungetauft verstorbener Kinder oder anderer Tote. Sie straft faule Spinnerinnen und kontrolliert die Einhaltung von Fast- und Feiertagen. Bergelmir: Riese aus dem Geschlecht des Ymir, der als einziger nicht in dessen Blut ertrinkt, als Ymir von Odin und dessen Brüdern erschlagen wird. Bergelmir wird zum Stammvater des Riesengeschlechts der Jötunen. Berggeister: Als Mönche und Bergteufel erschrecken und schaden sie den Bergleuten, als Knappenmandl oder Grubenmännlein necken und helfen sie ihnen auch. Berstuk: Bocksfüßige slawische Waldgottheit. Bertha, die Spinnerin: Sagengestalt der Schweiz, die Spinnerinnen straft oder belohnt. Bestia: Friedliebende Riesin aus dem Geschlecht des Ymir, die Bör Odin und die ersten Asen gebar. Bilwis: Elbisches Wesen, das die Haare verfilzt und das Pfeile mit lähmender Wirkung verschießt. In einigen Landschaften wie Thüringen ist der Bilwis ein Korngeist, der sein Unwesen in Getreidefeldern treibt. Bisterk Ding: Küstendämon, der Schiffsunglücke ankündigt. Bitiae: Frauen mit doppelten Pupillen und durchdringendem Blick. Blain: Dämonische Gestalt aus der Völuspá. Blemmyer: Äthiopier ohne Kopf, tragen Augen und Mund auf der Brust. Bonnacon: lebt in Asien, hat den Körper eines Pferdes und den Schädel des Bullen. Seine riesigen Krummhörner kann es abknicken, damit niemand verletzt wird. Sein stinkender, giftiger Dung und sein Feueratem hält alle Verfolger ab. Bör: Riese, den Buri aus sich selbst zeugte. Brachystomen: Menschen mit verwachsenem Mund. Briareos: Sohn der Gaia und des Uranos, ist einer der drei Hekatonchcheiren, der schrecklichen Riesen mit fünfzig Köpfen und hundert Armen, die Zeus beim Kampf gegen die Titanen helfen. Brimir: Dämonische Gestalt aus der Völupsá, die im Zusammenhang mit der Entstehung der Zwerge genannt wird. Brock: Bruder des Zwergenschmiedes Sindri, der für kurze Zeit vergißt, den Blasebalg bei der Herstellung von Thors Hammer Mjölnir zu bedienen, weil ihn Loki in Gestalt einer Bremse ins Auge sticht, so daß deswegen der Hammerstil zu kurz gerät. Brontes: Einer der Kyklopen, die für Zeus Donnerkeile schmieden. Bukentauros: Wächter mit menschlichem Kopf und Oberkörper sowie mit dem Unterkörper und den Hörnern eines Stiers. Butz oder Butzenmann: Kobold im Alpenraum, der Mensch und Vieh erschreckt oder auch als Poltergeist spukt. Cacus: Mörderisches Monster, Sohn des Vulcanus, Widerpart des »guten Menschen« Euandros. Caladrius: Ein weißer Vogel mit seherischen und heilkräftigen Eigenschaften. Wenn er einen Kranken sieht, zieht er die Krankheit auf sich und fliegt davon. Bei Sterbenden wendet er den Kopf ab. Callitrice: Äthiopisches Mischwesen, halb Mensch, halb Ziege, mit Bart und breitem Schwanz. Carista: Sagenhafter Vogel, der im Feuer nicht verbrennt. Carna: Spröde Nymphe der römischen Mythologie, die Macht über Türangeln und Vampire hat. Catoblepas oder Cathapleb: Ein ungeheurer Stier vom Nil, der sich von giftigen Kräutern ernährt und mit seinem Blick töten kann. Cephus oder Confusa: Tier aus Äthiopien mit Händen und Beinen wie ein Mensch. Cerastes: Schlange mit vier kleinen Hörnern, die im Sand verborgen auf ihre Opfer lauert. Ceridwen: Bucklige Hexe aus dem Buch von Taliesin. Enzyklopädische Stichworte 663 Cernunnos: Keltischer Gott mit Hirschgeweih. Cetus: Seeungeheuer mit riesigem Fischleib, Löwenkopf und Löwenpranken. Chamaeleopard: lebt in Äthiopien, hat den gefleckten Leib des Leoparden, Hufe und Kopf vom Kamel. Chariklo: Nymphe, Mutter des Teiresias. Charon: Fährmann, der die Seelen der Verstorbenen über den Acheron bringt, ein scheußlicher Todesdämon in Dantes Inferno. Charybis: Schrecklicher Meeresdämon, der täglich dreimal die Fluten einschlürft und wieder ausspeit und dabei ganze Schiffe verschlingt. Mit Skylla ist es zum Sinnbild für ein doppeltes Risiko geworden, das jemand eingeht. Chimäre: Feuerspeiendes Fabelwesen, das von Echidna und Typhon gezeugt wurde. Die Gestalt der Chimäre besteht aus Löwenkopf, Ziegenleib und einer Schlange als Schwanz. Sie kann auch die Köpfe aller drei Tiere tragen. Bellerophon stellt sich ihr auf Pegasus reitend entgegen und tötet sie. Isidor von Sevilla dichtet ihr als Hinterteil einen Drachen an. Im Mittelalter hatte die Chimäre die Bedeutung des Bösen im allgemeinen und der Wollust sowie Unzucht im besonderen. Chiron: Sohn des Kronos, ist ein Kentaur, der für seine Weisheit bekannt war und als Bogenschütze unter die Sternbilder versetzt wird. Er war der Erzieher großer Helden wie Achilleus, Theseus, Akataion und Iason. Asklepios bildete er zum Arzt aus. Er starb, als ihn Herakles unabsichtlich mit einem vergifteten Pfeil tötete. Chlungeri: Weiblicher Spinnstubendämon in der Schweiz, der faule Spinnerinnen bestraft. Choromandaren: Behaarte Waldmenschen, die nicht sprechen, nur brüllen können. Ciclopeden: Monströse Menschen mit nur einem Arm mitten auf der Brust und einem Bein, die in der asiatischen Wüste leben. Concelebrant oder Celebrant: Weltfisch, der die Erde aus dem Meer herausgehoben hat. Cornix: Eine ursprünglich weiße Krähe, die in einen schwarzen Vogel verwandelt wird, als sie Apollon von der Untreue der Koronis berichtet. Crocotas: Dämonischer Bastard von Hund und Wolf oder in Äthiopien aus Hyäne und Löwe. Sie kann die menschliche Stimme nachahmen, mit der sie Menschen nachts herauslockt und mit ihrem einen einzigen Zahn tötet und frißt. Cúldub: Schwarzhariger Dämon irischer Sagen, der von Finn getötet wird, nachdem er drei Tage hintereinander Speisen von der königlichen Tafel geraubt hat. Cynocephalen: Synonym in antiken Quellen für Affen und Bezeichnung für hundsköpfige Gestalten. Das indische Volk der Cynocephalen hat Hundeköpfe, Hundezähne, Hundepfoten mit Krallen, verständigt sich durch Bellen. Sie sind in Felle gekleidet oder völlig behaart. Mittelalterliche Deutungen sehen in ihnen Verleumder und Verräter. Cynodonten: Menschen mit vorstehenden, hauerartigen Eckzähnen. Daktylen: Kunstfertige Zwerge, die im Idagebierge Eisen gewinnen und schmieden. Dämonen: Sammelbezeichnung für Mittelwesen zwischen Göttern und Menschen, die menschenfeindliche Kräfte in zumeist monströser Gestalt oder als Geister verkörpern. Dekan: Die von Sünden freie Seele in Menschengestalt, mit Vogelkopf und Vogelfüßen. Delphin: In antiker und keltischer Mythologie der Wegbegleiter der Seelen ins Jenseits. Delphyne: Schlangenschwänzige und grauenvoll aussehende Schwester des Typhon, die den seiner Sehnen und Muskeln beraubten Zeus während dessen Kampf mit den Titanen bewacht. Dibbuk: In der jüdischen Überlieferung eine ruhelose Totenseele, die als Dämon die Menschen zu Besessenen macht. Dietrich von Bern: Epen- und Sagenfigur , in der der Ostengotenkönig Theoderich (454 - 526) weiterlebt. Als Anhänger des Arianismus, der die Göttlichkeit Jesu in Frage stellte, wurde Theoderich in der kirchlichen Propaganda diabolisiert. Diese Kennzeichnung ging auf die Sagenfigur Dietrich von Bern über, der im Mittelalter als Vorbote von Seuchen, Hungersnöten, Kriegen gilt. 664 Enzyklopädische Stichworte Drache: Kommt in kosmologischen und mythologischen Vorstellungen vieler Kulturen und Völker vor. Der Kampf mit dem Drachen ist sowohl Schöpfungswie Endzeitmythos. Er hat unterschiedliches Aussehen. Zumeist ist er von echsenartiger, mit Schuppen bedeckter Gestalt mit fledermausähnlichen Flügeln und zwei oder vier raubtierartigen Krallenfüßen. In der Antike wurde er für ein reales Wesen angesehen. Es gibt Flugdrachen, Meeres- und Seedrachen sowie Kriechdrachen. Der Drache kann mehrköpfig sein. Er speit Feuer, hat einen giftigen Atem und den bösen Blick. Häufig bewacht er Schätze und schützt vor bösen Geistern. Sein Blut besitzt wunderbare Eigenschaften wie den Effekt der Unverwundbarkeit, wenn es auf den menschlichen Körper aufgetragen wird. In der christlichen Mythologie symbolisiert der Drache den Teufel und das Böse. Der Drache gehört zu den Sternbildern am nördlichen Himmel. Dracontopoden: Riesenhafte Menschen mit Drachenschwänzen oder Schlangen mit einem Mädchengesicht. Gedeutet werden sie als Verköperungen verborgener Bosheit. Dracula: Der walachische Fürst Vladislaw (1431-1477) war Mitglied des von Kaiser Sigismund 1418 gestifteten Drachenorderns, der Ketzer und Ungläubige bekämpfte. So erhielt Vladislaw den Beinahmen »Dracul«. Dracul war in Kämpfe um die ungarische Krone und vor allem in Kriege gegen die Türken verwickelt. Er soll sehr grausam gewesen sein und soll seine Feinde gepfählt haben, woher sein anderer Beiname »Tepez«, der Pfähler, stammt. Die Volksüberlieferung verband die Vorstellung des blutdürstigen Dracul mit dem Volksglauben an blutsaugende Vampire, so daß daraus die Gestalt des transsylvanischen Grafen Dracula entstand, dem Bram Stocker 1897 in seinem Roman ein literarisches Denkmal setzte. Drak: Fliegender Hausgeist in Nord- und Mitteldeutschland in der Gestalt eines kleinen Drachen mit glühendem Schweif. Dreibein: Dreibeinige Geistertiere der Sagenüberlieferung. Dreigesichter: Menschen mit drei menschliche Köpfen, die in tiefen Gewässern wohnen. Drud oder Trud: Unholdin mit Fledermausflügeln, die ihren Opfern wie ein Vampir das Blut aussaugt. Auch ein Druckgeist, der sich als Alp auf die Brust setzt und Atemnot verursacht. Zur Abwehr werden Drudenfüße in Form von Pentagrammen im Haus angebracht. Dryaden: Nymphen, die mit den Bäumen leben. Durinn: Mächtiger Zwerg der germanischen Mythologie. Eale: Hat den Rumpf eines rötlichen Flußpferdes oder eines schwarzen Pferdes, den Schwanz eines Elefanten, die Kinnlade eines Ebers, bewegliche Hörner und lebt im Wasser oder auf dem Lande. Die beiden Hörner gelten als Symbole für die Predigt und das gute Beispiel. Echidna: Zusammen mit den Gorgonen eine der Phorikiden, Töchter der Keto und des Phorkys. Sie ist oben Weib, unten gefleckte Schlange. Sie gebiert Typhon, den Kerberos, die Chimäre, die Lernäische Hydra und viele andere Monster. Echo: Nymphe, die Juno dazu verwünscht hatte, nur noch die letzten Worte anderer wiederholen zu können. Egeria: Nymphe, Frau und Beraterin des römischen Königs Numa Pompilius. Einhorn, Licorne oder Unicornus: Hat die Gestalt eines Pferdes mit Ziegenbart, gespaltenen Hufen und trägt auf der Stirnmitte ein langes, schlankes, gerades, meist spiralig geriffeltes und schräg nach oben gerichtetes Horn, dem eine Vielzahl zauberischer Effekte zugeschrieben wird, vor allem als universelles Gegengift. Im Mittelalter ist es Sinnbild der Keuschheit und Allegorie der unbefleckten Empfängnis Christi. Es kann nur mit Hilfe einer reinen Jungfrau, der es den Kopf in den Schoß legt, gefangen werden. Bildliche Darstellungen kennen auch das Meereseinhorn mit einer Flosse am Hinterleib. Ekerken: Hilfreicher K obold auf norddeutschen Bauernhöfen. Ekke Nekkepenn: Dämonischer Zwerg, der seine Verlobte nur dann freigeben will, wenn sie seinen Namen weiß. Elben: Zwergenähnliche Dämonen der germanischen Mythologie, die durch das Christentum zu unheilbringenden Dämonen gemacht wurden. Enzyklopädische Stichworte 665 Elbentritsch: Phantastischer Vogel unbestimmten Aussehens. Elbst: Schweizerischer Wassergeist, der Menschen in die Tiefe zieht. Elefanten: Das Elefantenpaar verkörpert in christologischer Deutung Adam und Eva vor dem Sündenfall. Elementargeister: Geister, deren Kräfte in Feuer, Wasser, Luft und Erde wirken. Paracelsus war der Ansicht, Elementargeister suchten die Partnerschaft mit Menschen, um so eine Seele und Gottgefälligkeit zu erlangen. Elfen: Abgeleitet von dem Wort »Elben« Naturgeister der irischen, englischen und skandinavischen Mythologie. In Deutschland während des Mittelalters Zwerge und Alben. Den dänischen Elfenkönig, Ellerkonge, übersetzt Herder mit »Erlkönig«, dem Goethe eine Ballade widmete. Empusa: Schreckgespenst im Gefolge der Hekate, das viele Gestalten annehmen kann. Empusen: Dämonische Frauen mit Eselshinterteil und bronzenen Sandalen, die nachts oder während des Mittagsschlafes die Männer aufsuchen, um ihre Lebenskräfte auszusaugen. Endrop: Tier, das halb Pferd, halb Fisch ist. Engel: Flügelwesen, in der christlichen Kunst meist weiblich oder geschlechtslos. Entenwick: Schloßkobold auf Sachsenheim, der als sündiger Engel aus dem Himmel vertrieben worden ist. Ephialtes oder Epiales: Dämon des Alpdrückens. Erdhenne oder Erdglucke: Hausgeist, dessen Stimme dem Glucken einer Henne gleicht. Erichthonios oder Erechtheus: Sohn von Hephaistos und Gaia halb Mensch und halb Schlange. Er erfindet den vierspännigen Wagen und wird als Fuhrmann unter die Sternbilder versetzt. Erinnyen oder Furien: Fürchterlich aussehende Rachedämonen. Eroten oder Amoretten: Die geflügelten Kinder des Amor und der Nymphen. Eule: Kann als böses Omen rückwärts fliegen. Fafnir: In der nordischen Sage Sohn des Hreidmar und Bruder von Regin und Ottur. Da Odin, Hönir und Loki Ottur in Gestalt eines Otters erschlugen, müssen sie mit einem Hort Sühne leisten. Diesen Schatz beansprucht Fafnir für sich alleine und bringt deshalb seinen Vater um. Dann verwandelt er sich in einen Drachen, der den Schatz auf der Gnitaheide hütet. Dort wird er von Sigurd auf Anstiften von Regin getötet. Sterbend warnt er Sigurd vor dem Fluch, der auf dem Goldhort liegt. Fama: Personifikation des Gerüchts, die schnell zur Riesengröße wächst, alles sieht und alles hört. Unter ihrem Gefieder spähen zahllose Augen, in zahllosen Mündern zischeln Zungen. Fanesier: Menschen auf einer Insel im Kaspischen Meer, fünf Meter hoch, marmorweiß und mit so großen Ohren, daß sie sich darin einwickeln können. Fänggen: Riesige Walddämonen mit Fellen wilder Tiere bekleidet. Farbauti: Feuergeist und Vater Lokis. Faun: Römische Waldgottheit mit Geißschwanz, Eselsohren und eingedrückter Nase. Faustus: In der Sagenüberlieferung dämonisierte Gestalt des historischen Faust. Fenixmännlein: Zwergengestaltige Dämonen, die als Erdgeister in Schlesien ihr Unwesen treiben. Fenja: Riesin, die in der Mühle Grotti des dänischen Königs Frodi arbeitet. Während die Mühle unentwegt Reichtum und Frieden mahlt, singt sie mit Menja zusammen Schicksalslieder. Fenrir oder F enriswolf: Riesiger wilder Wolf der nordischen Mythologie, Sohn des Loki und der Riesin Angrboda. Die Asen fesselten ihn, als er zu immer riesigerer Größe heranwuchs. In seinen Rachen spreizten die Götter ein Schwert, das das Maul aufklaffen ließ. Aus dem Maul trieft Geifer, der als Fluß Wan davonströmt. Er verschlingt beim Weltuntergang die Sonne und schnappt nach dem Mond, dann nimmt er mit Loki am letzten Kampf teil, tötet Odin/ Wotan, bevor er selbst erschlagen wird. Feuergeist oder Feuermann bzw. Feuerputz: Feurige Spukerscheinung in Gestalt eines Gerippes, eines Schwarzen Mannes, eines Reiters oder auch einer Kugel, die als büßende Seele auf Erlösung hoffen. 666 Enzyklopädische Stichworte Feuersalamander: Ihm kann Feuer nichts anhaben, weil sein eigener Körper sehr kalt ist. Sein giftiger Atem kann Menschen töten. Fischkönig: Gehört zu den Tierherrengestalten. Riesenhechte mit Kronen, Karpfen oder andere große Fische herrschen als Könige in Seen und Flüssen. Fjallar: Bösartiger Zwerg, der zusammen mit Gjallar Kvasir tötet und mit dessen Blut sowie Honig den Skaldenmet braut, der Weisheit und dichterische Fähigkeiten verleiht. Gunnlöd hütet den Kessel in einem Berg, bis ihn Odin mit Hilfe Baugis stiehlt. Fomore: In der irischen Mythologie ein Heer von Unterweltdämonen. Fossegrimm: Skandinavischer Wasserdämon, der für Opfergaben das Saitenspiel lehrt. Frau Faste: Alemannischer Dämon mit langer Nase, der auf die Einhaltung der Fastenbestimmungen achtet. Frau Hitt oder Hütt: Südtiroler Riesin, die zur Strafe dafür, daß sie ihr verschmutztes Söhnchen mit Brot gereinigt hatte, in einen Felsen oberhalb von Innsbruck verwandelt wurde. Frau Holle: Im Mittelalter die dämonisierte Gestalt der Göttin Diana, die sich in Brunnen oder Seen aufhält. Sie schreckt die Faulen und belohnt die Fleißigen, so wie im gleichnamigen Märchen der Brüder Grimm (KMH 24). Aber sie verbreitet auch als Anführerin der Wilden Jagd und der ungetauft verstorbenen Kinder Angst und Schrecken. Frauen mit Bart: Sie leben am Roten Meer, haben Bärte bis zur Brust und sind kahlköpfig. Sie tragen Felle und gehen mit wilden Tieren auf die Jagd. Fuchs: Verkörperung des Teufels. Er fängt diejenigen, die in fleischlicher Sünde leben. Fylgien: Altnordische Schutzgeister, die den einzelnen ein Leben lang begleiten. Gangerl: Kärtner Berggeist. Garm: Blutbefleckter Höllenhund des Hel, der am Unterweltfluß Gjöll die Toten mit lautem Gebell empfängt. Garm: In der nordischen Mythologie ein Wachhund der Unterwelt. Geirröd: Fürst der Riesen, der mit Thor verfeindet war. Geist: Begriff, der in philosophisch-theologischer Bedeutung das Nichtmaterielle in vielfältigster Bewandtnis und in spiritistischer Bedeutung das Unerklärliche und dessen Manifestationen in den unterschiedlichsten Erscheinungsweisen bezeichnet. Gerd oder Gerda: Schöne Tochter des Riesen Gymir, die Freyr für sich zu gewinnen suchte. Gereon: Riese, gezeugt von Typhon und Echidna, der mit seiner Mutter schläft und mit ihr die Sphinx und den Nemeischen Löwen zeugt. Ein geflügelter Gigant mit drei Oberkörpern. Seine Herde roter Rinder wird von Orthos bewacht. Er wird von Herakles vertrieben. Gespenst: Synonyme Bezeichnung für einen Geist nicht-mythischer oder teuflischer Herkunft, der in menschlicher Gestalt oder unsichtbar an unheimlichen Orten, meist um Mitternacht, spukt. Ursprünglich ein verlockendes Trugbild jedweder Art, durch das man gespannt, d. h. angelockt oder abspenstig gemacht, d. h. weggelockt wird. In vielfältiger Gestalt oder auch unsichtbar bewegen sich Gespenster als Dämonen und Geister zwischen dem Diesseits und dem Jenseits. Giebich: Ein König der Zwerge. Giganten: Söhne der Gaia, entspringen dem Blut des Uranos. Es sind entsetzliche Riesen mit Schlangen statt der Beine. Sie türmen Gebirge aufeinander, um den Olymp zu stürmen. In einem mörderischen Kampf werden sie von den Göttern mit Hilfe des Herakles besiegt. Gilling: Riese, der von den Zwergen Fjallar und Gjallar als Mitwisser des Mordes an Kvasir umgebracht wird. Gjallar: Bösartiger Zwerg, der zusammen mit Fjallar Kvasir tötete und aus dessen Blut den Skaldenmet braute. Gjalp: Tochter des Riesenfürsten Geirröd. Gnome: Zwergenhafte und häßliche Elementargeister unterschiedlicher Gestalt. Goblin: Bösartiger, grotesk aussehender Kobold in England. Enzyklopädische Stichworte 667 Gog: Alttestamentarischer Fürst der Endzeit, vergleichbar dem Antichrist. Goldemar: Zwergenkönig und Herrscher über die Riesen. Golem: Das hebräische Wort bedeutet so viel wie »ungeformte Materie«. In der kabbalistischen Überlieferung des Mittelalters durch einen gelehrten Rabbiner wie dem Rabbi Elesar von Worms, dem Rabbi Elijah von Chelm oder dem Rabbi Löw von Prag mit Hilfe des Schöpferwortes »Schem hamphorasch« aus Lehm geschaffene Dienergestalt. Der monströse Golem hört nur auf das Wort seines Herrn, ist stumm und besitzt übernatürliche Kräfte. Gorgonen: Die geflügelten weiblichen Ungeheuer Stheno, Euryale und Medusa. Von diesen war Medusa alleine sterblich. Die Gorgonen haben maskenartige Gesichter und statt Haare Schlangen auf dem Kopf. Ihr Anblick versteinert. Perseus erschlägt deshalb Medusa mit abgewandtem Gesicht. In der mittelalterlichen Bauplastik hat das Medusenhaupt unheilabwehrende Funktion. Greif: Stammt aus dem Orient. Sein Vorderrumpf hat die Gestalt eines Adlers, sein Hinterteil stammt vom Löwen. Er ist groß und stark, dem Menschen feindlich gesonnen. Er ist ein Schützer und Bewahrer. In der christlichen Mythologie verteidigt er die Tugenden und ist ein Sinnbild Christi, weil der Adler die Zugehörigkeit zum Himmel, der Löwe die zur Erde symbolisiert. Als Verkörperung des Teufels kämpft er mit dem Menschen um den Schatz des Glaubens. Greiß oder Griff: Viehmordendes Ungeheuer unterschiedlicher Gestalt. Grendel: Gieriges und grausames Ungeheuer des altenglischen Epos Beowulf, das zwölf Jahre lang jede Nacht Männer des dänischen Königs aus der Fürstenhalle ins Moor schleppt und sie dort versenkt. Beowulf schließlich tötet das Biest. Ein ähnliches Untier erschlägt Grettir in der gleichnamigen nordischen Saga. Grid: Riesin, die Thor vor Geirröd warnt. Gridr: Riesin die mit Odin Vidar zeugt. Grip: Tochter des Riesen Geirröd, die Thor auf seinem Stuhl an die Decke stemmt, ehe sie von ihm zerschmettert wird. Gullinborsti: Goldener Eber, der Freyr als Reittier dient. Gunnlöd: Tochter des Riesen Suttung, die in einem Berg drei Kessel mit Skaldenmet hütet, ehe Odin diesen für sich gewinnt. Gütel oder Jüdel: Dämonische Hausgeister in Norddeutschland, fleißige und gutmütige Helfer. Habergeiß: Tiergestaltiger Dämon im Alpenraum. Oft eine Ziege mit grauen Federn und nur drei Beinen oder auch Katzenbzw. Pferdegestalt. Die Habergeiß ist eine Todesbotin und Kinderschreck. Hahn: Im Mittelalter ein Schrecktier mit Abwehrzauber gegen alle dämonischen Kräfte. Schwarze und rote Hähne galten selbst als dämonisch. Aus dem Ei des schwarzen Hahns schlüpft der Basilisk. Haltiat: Finnische Schutzgeister. Hamadryaden: Nymphen, die in Bäumen wohnen. Harke oder Hacke: Dämon, dessen Wesen der Bercht oder Frau Holle entspricht. Harpokrates: Mischwesen aus Mensch und Krokodil. Harpyien: Ursprünglich lärmende weibliche Sturmdämonen mit Kopf und Brust einer Frau, einem Vogelkörper und Löwen- oder Geierklauen. Sie rauben Menschen und schleppen die Seelen in den Hades. Im Mittelalter verkörpern sie Habsucht und symbolisieren das Böse. Haselhexe: Magd, die von Hexen gekocht, aufgegessen und wiederbelebt wird. Weil ein Knecht heimlich eine Rippe eingesteckt hat, wird diese durch ein Stück Haselholz ersetzt. Haselwurm: Schlange mit Säuglingskopf , die sich in den Wurzeln des Haselstrauches aufhält und nach dem Volksglauben Adam und Eva im Paradies zu Sünde verführt haben soll. Hati: In der germanischen Mythologie ein Riese, Vater des Meerweibes Hrimgerd, der von Helgi getötet wird. 668 Enzyklopädische Stichworte Hausgeister: Dämonen, die mit Menschen gemeinsam in Haus und Hof leben. Sie sind unsichtbar und zeigen sich ungern. Sie können die Gestalt des Kobolds, der Unke, der Heinzelmännchen oder der Drak annehmen, hilfreich und bösartig sein. Haymon: Riese in Südtirol, der den goldhütenden Drachen am Berg Isel erschlägt. Nach anderer Überlieferung tötet er den Riesen Thyrsus und gründet aus Reue das Kloster Wilten. Haymon wird im 17. Jahrhundert als Verkörperung der im 6. Jahrhundert ins Inntal eindringenden Bajuwaren, Thyrsus als Verkörperung der einheimischen Rätoromanen gedeutet. Heidrun: Ziege, die sich vom Laub der Weltechse Yddrasil ernährt und deren Milch in Walhall serviert wird. Heilling: Zwergenkönig der Elben. Heinzelmännchen: Koboldartige Hausgeister, die unerkannt den Menschen bei der Arbeit helfen. Ihre Bezeichnung ist von einem Vornamen, Heinz, abgeleitet, so wie das auch bei den Walterken oder den Petermännchen der Fall ist. Hekate: Griechische Gebieterin über die Spukgestalten, eine Hündin oder ein Riesenweib mit Schlangenhaar und Schlangenfuß, aber auch mit Pferdekopf und mehrköpfig. Hekatoncheiren: Die drei Giganten, Briareos, Gyes und Kotos, mit fünfzig Köpfen, hundert Armen und Schlangenbeinen, die Zeus beim Kampf gegen die Titanen unterstützen. Hemikynen: Menschen mit Hundeköpfen und Hundestimmen, die am Schwarzen Meer leben. Hercynischer Vogel oder Lucidius bzw. Lumpera: Hat leuchtende Federn und lebt in Germaniens hercynischen Wäldern. Er gilt als Symbol des Ruhms und Sinnbild der Verklärung Christi. Herfijotur: Nordischer Name der Walküre Heerfessel, die als Dämon den lähmenden Schrecken verkörptert. Hermaphroditos: Wunderschöner Sohn des Hermes und der Aphrodite, in den sich die Quellnymphe Salmakis verliebt. Die Götter vereinen beide auf ewig und sie vermelzen zu einem Zwitterwesen. Herne: Englisches Jagdgespenst mit einem Hirschschädel als Kopfbedeckung. Herodias: Unrechtmäßige Frau des Herodes, die von Johannes dem Täufer des Ehebruchs geziehen wurde. In mittelalterlicher Überlieferung wird sie zur Anführerin des Wilden Heeres und muß ruhelos durch die Lüfte fahren. Heuschreckendämon: In der Offenbarung des Johannes ein Mischwesen aus Pferdekörper mit Menschenantlitz und Skorpionschwanz. Hexen: Dämonisierte weibliche Wesen, die ursprünglich in einem Gehege hausten. Ihre Bezeichnung ist aus dem Wort »Hagazussa« abgeleitet, was einen Dämon eines eingezäunten Platzes meint. Sie haben ein ungepflegtes, abstoßendes Äußeres, tragen den Bocksabdruck des Teufels als Höllenzeichen am Kreuz. Im Mittelalter Zauberinnen, die als Teufelsbuhlinnen Gott abgeschworen haben. Hexerei wird nach mittelalterlichem Glauben durch den Teufel übertragen. Die Hexe kann sich in viele Tiergestalten verwandeln, schadet den Menschen durch Schwarze Magie auf vielerlei Weise. Die Angst vor Schadenzauber und auch vor weiblichen Eigenschaften hat seit dem Spätmittelalter zu einer neurotischen Angst vor Hexen geführt, der zahllose Frauen in den Hexenverfolgungen zum Opfer fielen. Als Mischwesen hat die Hexe oft Krallenfüße oder Tierklauen. Himantopoden: Sie leben in Äthiopien, sind schleppbeinig und bewegen sich nur kriechend fort. Hippogryph: Roßgreif mit Adlerkopf und Flügeln. Hippokampos oder Hydrippos: Seepferd mit Pferdekopf und -hals, einen Fischleib und einen Schlangenschwanz. Der Nereide Thetis, der Mutter des A chilleus, dient es als Reittier, und es zieht den Wagen Poseidons. Das Seepferdchen gehört auch heute noch zu den beliebten Fabelwesen in Comics und Zeichentrickfilmen. Hippopoden: Ein pferdefüßiges Volk auf einer skythischen Insel. Hirsch: In der keltischen Mythologie der Totenbegleiter ins Jenseits. Hoa wif: Dämonischer Totengeist in der Uckermark. Enzyklopädische Stichworte 669 Holawaka: Ein mythischer Vogel aus Äthiopien. Hrimfaxi: In der germanischen Mythologie ein schwarzes Roß, das den Wagen der Nacht zieht. Hrimgerd: Schreckliches Meerweib in Pferdegestalt. Hrimthursen: Urzeitliche Frost und Reifriesen, Söhne des Vafthrudnir. Hrungnir: König der Steinriesen, der mit Odin um die Wette reitet und in Asgard damit prahlt, daß er Freya und Sif rauben und sämtliche Asen umbringen wolle. In einem Zweikampf wird er von Thor getötet. Hrungnir: Lärmender riesiger Dämon der nordischen Mythologie. Hugin: Einer der Raben (der Gedanke) auf Odins Schultern. Er flüstert dem Gott ins Ohr, was er über die Welt in Erfahrung gebracht hatte. Huldre: Norwegische Zwerge. Hütchen: Kobold am Hofe des Bischofs Bernhard von Hildesheim. Hyale: Ein schwarzes oder gelbbraunes Tier von der Größe eines Flußpferdes, das seine Hörner in alle Richtungen drehen kann. Hyäne: Imitiert die menschliche Stimme, um Menschen anzulocken und anzufallen. Wenn Hunde auf der Jagd in ihren Schatten geraten, können sie nicht mehr bellen. In ihrem Auge hat die Hyäne einen Stein; legt man ihn sich unter die Zunge, kann man die Zukunft voraussagen. Hydra: Schlange mit sieben, neun, fünfzig oder hundert Köpfen und giftigem Blut, die die lernäischen Sümpfe heimsucht. Schlägt man einen ab, wächst er sofort zweifach nach. Bei Argoswird sie von Herakles getötet. Hydrus: Nicht zu verwechseln mit der von Herakles getöteten Hydra. Sie ist eine Schlange mit zwei Raubtierpranken, die ihrem Feind, dem Krokodil ins geöffnete Maul kriecht und es von innen aufreißt. Sie verkörpert Christus, der zur Hölle hinabsteigt und diese zerstört und den dort Gefangengehaltenen zur Flucht verhilft. Hymir: Riese, der mit Thor auf hoher See die Midgardschlange fangen will, aber von Angst gepackt die Angelschnur zerschneidet, an der Thor das Ungeheuer zappeln hat. Hyrrokkin: Riesin, die Balders Totenschiff ins Meer hinausstößt. Iaculus: Geflügelte Schlange mit Raubtierpranken, die sich aus Bäumen auf ihre Opfer fallen läßt. Iapetos: Einer der Titanen, Vater des Atlas und des Prometheus. Ibex: Antilopenartiges Tier mit zwei außergewöhnlich starken Hörnern, die die Harmonie des Alten und Neuen Testaments symbolisieren. Ichthyokentaur: Meereskentaur mit menschlichem Kopf und Armen, der Brust und den Vorderbeinen eines Pferdes und einem Fischschwanz. Imp: Englisches Teufelchen. Incubus: Teuflischer Dämon, der als Aufliegender mit den Frauen den Beischlaf vollzieht. Io: Nymphe, die von Hera aus Eifersucht in eine Kuh verwandelt wird. Ivaldi: In der germanischen Mythologie berühmter Schmied der Zwerge und Vater von Iduna, der Hüterin der goldenen Äpfel, die den Göttern ewige Jugend bewahrten. Jormungandr: Seeschlange der altnordischen Mythologie, die von Loki und einer Riesin gezeugt wurde. Sie hat sich um die Welt gelegt und beißt sich in den Schwanz. Beim Weltuntergang peitscht sie die Meere auf und bläst Giftwolken über Erde und Himmel, ehe sie vonThor erschlagen wird. Jötun: In der germanischen Mythologie urzeitlicher Riese, der die ungezügelten Naturkräfte verkörpert. Ein Widersacher Thors, dessen Streithammer Mjölnir ihn zerschmettert. Jötunen: Mit den Asen verfeindete Riesen. Juvencus: Zählt zu den äthiopischen Waldrindern. Er hat ein rötliches Fell, blaue Augen, ein klaffendes Maul und bewegliche Hörner. Sein kieselharter Rücken ist unverwundbar. In Gefangenschaft stirbt er vor Wut. Kaineus: Unverwundbarer Lapithe (Steinmann), den die Kentauren mit Baustämmen zu erdrücken versuchen. Ursprünglich ein Mädchen, das sich nach der Vergewaltigung durch Poseidon die Verwandlung in einen starken Mann wünscht. 670 Enzyklopädische Stichworte Kalais: Geflügelt wie sein Bruder Zetes, mit dem er König Phineus von den Harpyien befreit. Kalydonischer Eber und Erymanthischer Eber: Von den Göttern gesandt, um Landstriche zu vernichten. Meleager und Herakles töten diese Tiere. Kalypso: Nymphe, die Odysseus auf der Insel Ogygia festhält. Kanker: Riesiger Krebs, den Hera schickt, um Herakles an der Tötung der Hydra zu hindern. Er wird von Herakles erschlagen und unter die Sternbilder versetzt. Kasermanndl: Kobold auf den Almhütten. Kekrops: Der sagenhafte König Attikas mit einem Schlangenleib unterhalb der Taille, der die Akropolis gründete und erster Herrscher Athens wurde. Kelaino: Harpyie, die dem Aineias Unglück verkündet. Kelpie: Pferdegestaltiger Wasserdämon, der den Menschen dazu verleitet, ihn zu besteigen, damit er sich mit diesem ins Wasser stürzen und ihn ertränken kann. Kentauren: Mischwesen mit einem menschlichen Oberkörper und einem Pferdeleib. Ihre Feinde sind die Steinmänner (Lapithen). Im Mittelalter verkörpern Kentauren ganz allgemein Lüsternheit und Wildheit. Kephalophoren: Spukgeister, die häufig als Schloßgespenster ihren Kopf unter dem Arm tragen. Kerberos: Menschenköpfiger Hund, der die Pforten des Hades hütet, gezeugt von Typhon und Echidna. Zunächst wurden ihm fünfzig Köpfe zugeschrieben, später drei. Seine Mähne besteht aus Schlangenköpfen, und er hat einen Schlangenschwanz. Keren: Geflügelte weibliche Wesen, die mit großen weißen Zähnen und spitzen Krallen Gefallene in Stücke reissen und ihr Blut trinken. Sie wurden später zu Rachegeistern der Toten. Kerynitische Hirschkuh: Heiliges Tier mit goldenem Geweih und ehernen Hufen, von Herakles ein Jahr lang verfolgt, ehe er es zur Strecke bringen konnte. Keto: Tochter des Pontos und der Gaia, geschwängert von ihrem Bruder Phorkys, Mutter von Dämonen und Monstern wie der Gorgonen und der Echidna. Klabautermann: Schiffskobold, zumeist unsichtbar. Solange er als guter Geist auf einem Schiff mitfährt, geht dieses nicht unter. Kludde: Riesiger geflügelter Hund, der als Dämon in Flandern umgeht. Kobold: Meist unsichtbarer Hausgeist von zwergenhafter Gestalt, der auch die Gestalt von Dingen oder von Tieren annehmen kann. Sein Name bedeutet so viel wie Hausverwalter. Er neigt zu Schabernack. Kottos: Hundertarmiger Riese, Bruder des Briareos und des Gyes. Krähe: Heiliger Vogel der Kelten, dessen Gestalt die Göttin Badb während der Schlachten annimmt. Kranich: Hat bei den Kelten ungeklärte mythische Bedeutung. Kretischer oder Marathonischer Stier: Poseidon hatte König Minos einen herrlichen weißen Stier aus dem Meer als Opfertier geschenkt. Minos aber opferte ein anderes Rindvieh, worauf Poseidon seinen Stier die Insel verwüsten ließ. Minos’ Frau Pasiphae verliebte sich in den Stier und gebar von ihm den Minotauros. Herakles brachte den Stier aufs griechische Festland, wo er später von Theseus bei Marathon getötet wurde. Kriosphinx: Widderköpfiger Löwe. Kronos: Einer der Titanen, Sohn des Uranos und der Gaia, der seinen Vater entmannte und die Herrschaft über die Welt errang. Um nicht auch von seinen Kinder entmachtet zu werden, verschlingt Kronos alle Kinder, die ihm seine Schwester Rheia gebar. Bis auf Zeus, den Rheia in einer Höhle auf Kreta versteckte. Kröte: Eine Verwandlungsgestalt für vielerlei Dämonen und verzauberte Menschen. Kvasir: Ein von Asen und V asen geschaffener Zwerg, der die Verständigung zwischen beiden Göttergeschlechtern symbolisiert. Kveldulfr: Nachtwolf, Vater des Skalden Egil. Kyane: Nymphe, die aus Kummer über die Entführung Persephones durch Hades, in Tränen zerfließt. Enzyklopädische Stichworte 671 Kyklopen oder Rundäugige: Riesen mit nur einem Auge mitten auf der Stirn, Söhne des Uranos und der Gaia, die von Hesiod Brontes, Steropes und Arges genannt werden. Sie schmieden Donnerkeile und Blitze für Zeus, der sie aus langer Gefangenschaft befreit hat, und sichern seine Herrschaft. Apollon tötet sie im Zorn und muß dafür als Rinderhirt dienen. In der Odyssee sind es ungeschlachte, wilde Riesen, die auf einsamen Inseln hausen. Der menschenfressende Polyphem wird von Odysseus geblendet. Kyllaros: Ein schöner Kenataur, Geliebter der Hyloneme, der beim Kampf gegen die Laphiten umkommt. Kynokephalos: Hundsköpfiges Wesen mit Pferdehals und menschlicher Gestalt. Fabelvölker von Hundsköpfigen leben in Indien und Äthiopien. Sie speien Feuer, verständigen sich durch Gebell und sind gute Bogenschützen. Im osteuropäischen Volksglauben gelten sie als Menschenfresser. Sie werden als streitsüchtige Verräter, aber auch als bußfertige Prediger gedeutet. Lacterine: Zwei- oder mehrfüßiges aalartiges Mischwesen der mittelalterlichen Buchmalerei. Ladon: Hundertköpfiger Drache, der die goldenen Äpfel der Hesperiden bewacht und von Herakles erschlagen wird. Lailaps: Windschneller Hund des Kephalos. Laistrygonen: Menschenfressende Riesen, in deren Hafen Odysseus seine Flotte bis auf ein Schiff verliert. Lamia oder Mormolicoe: Ursprünglich die Geliebte des Zeus, die, durch Hera ihrer Kinder beraubt, zum wahnsinnigen und schlaflosen Ungeheuer wurde, fremde Kinder raubte und umbrachte. Zeus verlieh ihr die Macht, ihre Augen herauszunehmen und wieder einzusetzen. Im Mittelalter sind Lamien hermaphroditische Dämonen mit schuppigen Tierrumpf, Hufen und Klauen, männlichem Glied, weiblichen Brüsten und einem schönen Frauenantlitz. Sie locken Kinder und junge Männer an, um ihnen das Blut auszusaugen. Lamien: Im Alexanderroman überlebensgroße, sehr schöne Frauen mit langen Haaren und Pferdefüßen. Lamm: Als Opfertier symbolisiert es in der christologischen Deutung den Gekreuzigten. Lapithen: Steinmänner, die gegen die Kentauren kämpfen. Larvae: Römische Totengeister, die man sich als Knochenmänner vorstellte. Laurin: Zwergenkönig aus der Dietrichsepik, der einen Zaubergürtel besitzt, der ihm die Stärke von zwölf Männern verleiht. Dietrich von Bern besiegt Laurin, der sein Gefolgsmann wird. Lemuren: Römische Plagegeister der Verstorbenen. Leongallus: Mischung aus Löwe und Hahn. Er haust in den Wäldern Tartariens. Leopard: Die blutrünstige Verkörperung des Antichrist. Lertix: Tier mit Vogelfüßen, Schafsfell und Eselsohren. Leucrocota oder Zenocrota: Lebt in Indien und ist schnellfüßiger als alle anderen wilden Tiere. Sie hat den Rumpf eines Esels, Hinterkeulen wie ein Hirsch, Hals, Brust und Schwanz vom Löwen, einen Dachs- oder Pferdekopf und gespaltene Hufe. Ihr Maul mit drei Reihen von Zähnen klafft von einem Ohr bis zum anderen. Sie kann die menschliche Stimme nachahmen. Leviathan: Die große und schreckliche Seeschlange aus dem Buch Hiob. Im Mittelalter wurde Leviathan als »König aller Kinder des Hochmuts« angesehen und mit der Hölle, in die man durch seinen gigantischen Rachen fährt, identifiziert. Lilith: Ihr Name bedeutet so viel wie »die Nächtliche«. Nach rabbinischer Überlieferung erste Frau Adams und Mutter des Riesen Ahriman und böser Geister. Jesaia 34, 14 bezeichnet sie als Nachtgespenst. Lindwurm: Linder, d. h. leuchtender, weil feuerspeiender Kriechdrache, der Landstriche heimsucht und Menschenopfer fordert. Lotis: Nymphe, die auf der Flucht vor Priapos in eine Lotoskirsche verwandelt wird. Lotophagen: Sagenhaftes Volk in Nordafrika, das sich von Lotosblüten ernährt. 672 Enzyklopädische Stichworte Löwe: In der christologischen Deutung von Psalm 90, 13 der Antichrist. Luzifer: Der »Lichtbringer«, der Morgenstern (Heosphoros). Für die christlichen Kirchenväter der Name des Teufels als gefallener Engel, weil sie auf ihn Jesajas Prophezeihung des vom Himmel gefallenen Morgensterns bezogen. Lykanthropos, Werwolf oder Böxenwolf: Wechselwesen, ein Mensch, der sich, oft unter einem Fluch stehend, ohne sein Zutun in einen Wolf verwandelt. Lynx: Wird so genannt, weil der dem Wolf (Lupus) ähnelt. Er hat einen gesprenkelten Rücken. Sein Urin erhärtet zu dem kostbaren Edelstein Ligurius. Er symbolisiert den geizigen und hartherzigen Menschen. Lyssa: Tochter der Nacht (Nyx) und des Uranos, Dämonin des Wahnsinns, die Herakles dazu bringt, Frau und Kinder zu töten. Mahr: Hausgeist oder Kobold, der in Gestalt eines Gegenstandes, eines Haares oder eines Strohhalms erscheinen kann und als quälendes Nachtgespenst auftritt. Makris: Nymphe, Pflegerin des Dionysos. Manen: Römische Geister der Verstorbenen. Manticora: Stammt aus Indien. Er hat den glühend roten Leib eines Löwen mit einem Skorpionstachel als Schwanz und trägt einen Männerkopf mit grauen Augen in einem bärtigem Gesicht. Sein Schwanz hat giftige Stacheln, die er wie Pfeile abschießen kann. Er frißt Menschenfleisch. Marsyas: Satyr, tritt gegen Apollon in einem Wettstreit an und wird geschunden, als er verliert. Medusa: Ursprünglich ein geflügeltes Pferd, später eine Frau mit Pferdehinterteil und einem Kopf mit Schlangenhaaren. Ihr Anblick ist tödlich. Aus ihrem Blut entspringt Pegasus. Megaira: Ein schreckeneregendes weibliches Wesen, aus dem die Megäre wird. Meister Epp: Walddämon aus der Zimmerschen Chronik. Melische Nymphen: Aus dem Blut des Uranos entstandene Baumwesen. Melusine: Flußnixe, die der Sage nach den Neffen des Königs von Portiere heiratete. Ihr Nachfahre, Guy de Lusignan, war im 12. Jahrhundert König von Jerusalem und Zypern. Menja: Riesin, die in der Mühle Grotte des dänischen Köngis Frodi mit Fenja zusammen Schicksalslieder singt. Menschen mit Löwenhaupt: Von riesenhafter Gestalt, schwitzen auf der Flucht Blut. Menschen mit riesiger Unterlippe und ohne Oberlippen: Sie leben in Äthiopien. In biblischer Auslegung nach Ps 140, 10 werden sie als jene gedeutet, die vom Unheil ihrer eigenen Lippen bedeckt werden. Menschen mit Schwänzen und Hörnern: Sie sind auf der ganzen Erde verbreitet. Am Roten Meer leben riesige Frauen mit bodenlangem Haar, Eselszähnen, Kamelfüßen und Rinderschwanz. Die Hörner symbolisieren Überheblichkeit, die Schwänze die Sünde. Menschen mit sechs Fingern an jeder Hand: Sie sollen sich die ganze Woche über der Sünde enthalten, um den Sonntag würdig begehen zu können. Menschen mit verwachsenem Mund: Sie leben in Äthiopien und können nur durch einen Halm Nahrung aufnehmen. Thomas von Cantimprensis sieht in ihnen Beispiele der Genügsamkeit. Menschen ohne Nase: Sie leben im äußersten Osten Äthiopiens. Die Gesta Romanorum sehen in ihnen jene, die ohne Unterscheidung von Gut und Böse leben können. Menschen ohne Zunge: Sie leben im äußersten Osten Äthiopiens und müssen sich durch Gebärden verständigen. Mephistopheles: Abgeleitet aus dem Griechischen bedeutet der Name so viel wie »der das Licht nicht liebt« und im Hebräischen so viel wie »Lügenverbreiter«. Ein T eufel, der sich in Drachen, Greif, Mönch, Bär, Pudel oder Kugel verwandeln kann und durch das Faustbuch populär wurde. Midgardschlange oder Jörmundgard: Dämonische Riesenschlange, gezeugt von Loki und der Riesin Angurboda, die im Meer liegend die Erde umgibt und sich in den eigenen Schwanz beißt. Thor ist mit ihr verfeindet und zerschlägt ihr in der Götterdämmerung mit dem Hammer Mjölnir das Haupt, findet dabei aber durch den giftigen Atem des Ungeheuers den Tod. Enzyklopädische Stichworte 673 Milse: Meerweib, das nachst aus der dunklen Flut auftaucht. Minotauros: Ungeheur auf dessen Menschleib ein Stierkopf sitzt. Gezeugt wurde das Mischwesen von Pasiphae, der Gattin des kretischen Königs Minos, und einem Stier. Wegen der Schande seines Hauses von Minos verborgen, lebt der Minotauros im Labyrinth und verschlingt jedes Jahr sieben Jungfrauen und sieben Jünglinge als Tribut von den Athenern. Theseus erschlägt ihn und findet mit Hilfe des Fadens der Ariadne wieder aus dem Labyrinth. Dante macht den Minotaurus in der Divina commedia zum Wächter des siebenten Höllenkreises. Mittagsgespenster: Dämonen, die am hohen Mittag erscheinen und Menschen peinigen. Mixoparthenos: Mischwesen, halb Frau, halb Schlange, das die Pferde des schlafenden Herakles entführte. Modgud oder Mödgudr: Riesin, die die einzige Brücke zum Totenreich Hel bewacht. Mökkurkalfi: Aus Lehm geformter Riese mit Stutenherz, der Hrungnir zum Zweikampf mit Thor begleitet und von Thialfi getötet wird. Molionen: Die riesenhaften Zwillingssöhne von Molione, der Geliebten des Poseidon. Moloch: Stierköpfiges biblisches Ungeheuer mit menschlichem Oberkörper, das als alles verschlingender Dämon in Mittelalter und Neuzeit als allegorisches Symbol für ungeheuere Vernichtungskraft verwendet wird. Monoceros: Ist dem Einhorn verwandt. Es ist größer, wilder und stärker, hat Elefantenfüße und einen Hirschschwanz. Sein langes Horn ist eine spitze und scharfe Waffe. Monstren oder Monster: Menschliche und übernatürliche Wesen mit scheußlichen Fehlbildungen oder Wachstumsanomalien. Monster treten als Ungeheuer auf, deren Aussehen und Verhalten bedrohlich sind. Monstrum nocturnum oder Fama: Personifikation der üblen Nachrede, die in monströser Gestalt als Alptraum Menschen in der Nacht peinigt. Montsognir: Mächtiger Zwerg in der Edda. Morgana: Fee, die König Artus in Avalon pflegt. Mormo: Gespenstisches Wesen, das Kinder verfolgt und verschlingt. Morrigan: In der keltischen Mythologie ein weiblicher Dämon, der Leichen frißt und den Ausgang von Schlachten vorhersagt. Nachtvolk: Geisterschar aus dem Alpenraum, die nächtens in Wäldern und Bergen lärmt. Nachzehrer: Lebender Leichnam, der aus der Ferne Menschen aus seinem früheren Lebenskreis das Blut aussagt und sie ins Grab zieht. N-gas: In der hinduistischen Mythologie halbgöttliche, vielköpfige Wasserschlangen mit menschlichen Gesichtern und einem Schopf. Sie hüten Schätze und esoterisches Wissen und sind mit den orientalischen und asiatischen Drachen verwandt. Najaden: Nymphen der Quellen und Seen. Nemeischer Löwe: Abkömmling von Echidna und Typhon, hat eine harte und undurchdringliche Haut. Herakles tötet ihn als erste Aufgabe seiner zwölf Arbeiten und trägt sein Fell über der Schulter. Nereiden: Meeresnymphen, Töchter des alten Meergottes Nereus und der Doris. Nessos: Kentaur, der beim Raub der Deianeira von Herakles getötet wird. Nibelung oder Niflung: Zwerg, der mit seinem Bruder Schilbung im Niflungenland um einen riesen Go ldschatz streitet, den ihnen ihr Vater hinterlassen hat. Sie bitten Siegfried, den Schatz gerecht zu teilen, sind aber mit dem Ergebnis unzufrieden und beschimpfen Siegfried, der daraufhin beide erschlägt und in Besitz des Schatzes gelangt, dessen Name auf die neuen Besitzer und die Burgunden übertragen wird. Nidhoggr: Drache der altnordischen Mythologie, der ständig an einer der Wurzeln der Weltesche Yggdrasil nagt und als Schlangenungeheuer auch die vulkanischen Kräfte verkörpert. Nisse: Dänischer Weihnachtszwerg und hilfreicher Geist. Nixen: Geflügelte Jungfrauen mit Vogelfüßen und Vogelschwanz, in erster Linie aber sehr schöne 674 Enzyklopädische Stichworte Meerweiber oder Flußfrauen mit einem Fischschwanz als Unterkörper. Ihre vollen Brüste werfen sie über die Schultern, um so die Kinder zu säugen. Nordri: Zwerg, der zusammen mit Austri, Westri und Sudri das Himmelsgewölbe trägt. Nymphen: »Junge Frauen«, halbgöttliche, feenhafte, reizvolle, zumeist nackte Bewohnerinnen der Berge (Oreaden), des Meeres (Nereiden, Okeaniden), der Bäume (Melische Nymphen, Dryaden), der Quellen und anderer Gewässer (Najaden). Oannes: Urwesen in Fischgestalt mit Menschenkopf und -füßen. Oberon: Gemahl der Feenkönigin Titania aus dem französischen Epos Huon de Bordeaux. Als literarische Gestalt spielt er in den frühen Prosaromanen, bei Chaucer, in Shakespears Sommernachtstraum, bei Wieland und in Carl Maria von Webers gleichnamiger Oper eine zentrale Rolle. Odin oder Wotan: Oberster Gott der Asen. Um Weisheit zu erlangen, hatte er ein Auge geopfert. Auf seinen Schultern sitzen die Raben Hugin (Gedanke) und Mugnin (Erinnerung), die ihm ins Ohr raunen, was auf der Welt vorgeht. Er ist der Anführer der Wilden Jagd und des Totenheeres der in der Schlacht gefallenen Krieger. Oinone: Nymphe des Idagebirges bei Troja, in die sich Paris verliebt. Okeaniden: Nymphen, die dreitausend Töchter des Okeanos und der Tethys. Okypete: Eine Harpyie, Schwester der Aello. Okypete: Eine Harpyie. Onokentauren: Eselsgestaltige Kentauren. Opinicus: Greifenartiges Tier mit dem Körper und den Beinen eines Löwen, mit Kopf, Hals und Schwingen eines Adlers und dem Schwanz eines Kamels. Oreaden: Nymphen des Bergwaldes. Ork: Bösartiger Dämon auf Berghöhen und in Tälern, der in elbischer Gestalt als Herr der Tiere auftritt oder als Kobold auf Berghöfen haust. Orthos: Zweiköpfiger, schlangenschwänziger Hund, der Bruder des Kerberos, der die Rinderherde des Gereon bewacht und von Herakles erschlagen wird. Palikoi: Zwei Dämonen geysirähnlicher Quellen auf Sizilien. Pan: Sohn des Hermes, ist der griechische Gott der Hirten und Jäger, Anführer der Satyrn, gehörnt, bärtig, krummnasig, behaart, geschwänzt und geißfüßig. Er ist der Erfinder der Syrinx, der Panflöte. Er versetzt durch sein Erscheinen Tiere und Menschen in plötzliche Furcht, die Panik. Pantoier oder Panuati: Leben in den Bergen Indiens. Sie haben riesige Ohren, die bis zu den Ellenbogen reichen und den Rücken bedecken. Manche haben so große Ohren, daß sie darin schlafen können. Parandus: Stammt aus Äthiopien, hat ein zottiges Fell, die Gestalt eines Ochsens und die Farbe des Braunbären. Wird er erschreckt, verschwindet er, indem er die Farbe seiner Umgebung annimmt. Pegasus: Gehörntes Pferd mit Adlerflügeln, dem Blut der Medusa entsprungen. Bellerophon zähmt ihn mit goldenem Zaumzeug und reitet ihn im Kampf gegen die Chimäre. Später versuchte Bellerophon auf Pegasus bis zum Himmel zu reiten. Doch Zeus schickte eine Bremse, die Pegasus stach, so daß er scheute und Bellerophon abwarf. Pegasus wurde zur Allegorie der dichterischen Kreativität. Pelikan: Erweckt seine Jungen, die er wegen ihrer Bosheit getötet hatte, nach drei Tagen durch das Blut aus seiner Brust wieder zum Leben. Er versinnbildlicht damit Gott, und seine Jungen werden auf Gottes undankbare Geschöpfe bezogen, die durch Christi Kreuzestod erlöst werden. Pe stfrauen: Weiber von kleiner Gestalt, ohne Nasen und Ohren, mit kleinen Schlangenaugen, Katzenpfoten und Bocksfüßen. Pferd: In vielen Kulturen als Reittier, Jenseitsbegleiter, Sonnensymbol oder Abwehrzauber kultisch verehrt. Enzyklopädische Stichworte 675 Phea: Riesige, monströse Sau, die Krommyon verwüstet, ehe sie vonTheseus getötet wird. Pholos: Kentaur, der Herakles mit Wein aus dem gemeinsamen Besitz aller Kentauren bewirtete. Als es deswegen zum Streit unter den Kentauren kam, brachte Herakles dem weisen Chiron unabsichtlich eine unheilbare Wunde bei. Auch Pholos kam durch einen vergifteten Pfeil um. Phönix: Sagenhafter, in Indien oder dem Paradies beheimateter Vogel, der nur in einem einzigen Exemplar vorkommt. Alle 500 Jahre fliegt er einmal aus Indien nach Ägypten oder in die arabische Wüste, verbrennt sich dort auf einem Scheiterhaufen bzw. einem Stoß aromatischer Zweige und Gewürze selbst, um aus der Asche zu neuem Leben zu erstehen. Auf Münzen der spätrömischen Kaiserzeit repräsentiert er die Ewige Stadt Rom. In China gilt der Phönix als Omen, in Japan als Zeichen für Bisexualität. In der christologischen Deutung ist er Symbol für das Ewige Leben und Allegorie für Tod und Auferstehung Jesu. Auf mittelalterlichen Darstellungen ist er oft von einem Feuerkranz umgeben. Podarge: Eine Harpyie, Mutter der unsterblichen Rösser des Achilleus. Poltergeist: Von Luther so genannte okkulte Geräuschphänomene. Poppele: Boshafter Neckgeist vom Hegau. Porphyrion oder Purpurvogel: Vogel mit einer Flosse und einer Kralle, so daß er sowohl im Wasser als auch auf dem Lande leben kann. Er gilt als Bild der Anpassung und der Keuschheit. Priapos: Fruchtbarkeitsgott mit monströsem Penis. Psamathe: Nereide, Mutter des Phokos. Psezpolnica: In wendischen Sagen die dämonische, völlig schwarz behaarte Mittagsfrau mit Pferdefüßen, die Menschen zwischen 12 und 1 Uhr mittags mit der Sichel den Kopf abschlägt, wenn sie ihr nicht in dieser Stunde vom Flachs oder von der Hirse erzählen können. Puck: Hauskobold, der die Bewohner gerne neckt. Pumphut: Niederdeutsche Sagenfigur eines zauberkundigen Müllerburschen mit Riesenkräften, der aus der Verschmelzung zweier Dämonen, eines Mühlenkobolds und des Teufels, entstanden ist. Pygmäen: Däumlinge in Afrika oder Indien, die in einem beständigen Kampf mit den Kranichen leben, seit sich ihre Königin Gerana mit Juno zu messen wagte. Diese verwandelte Gerana in einen Kranich und ließ sie dem eigenen Volk den Krieg erklären. Python: Sproß der Gaia, ist ein drachenartiges Ungeheuer, das Leto, die mit dem Zwillingspaar Apollon und Artemis schwanger geht, angreift. Später wird sie in Delphi von Apollon dafür getötet. Er begründet daraufhin die Pythischen Spiele und erhält den Beinamen Pythius. Ratatöskr: Eichhörnchen auf der Weltesche Yggdrasil, die dem Adler und dem Drachen im Baum zuträgt, was der eine über den anderen gesagt hat. Germanisches Symbol der ständigen Zwietracht. Raue Else: Dämonisches Wasserweib mit schleimiger Fischhaut und langem Kinnbart, die von Wolfdietrich zur Frau genommen werden will. Riesen: Übergroße, oft als Monster vorgestelle mythische Wesen, Widersacher der Götter, häufig dämonische Verkörperungen von Naturgewalten und Gegenspieler verehrter Gottheiten, Feinde und Helfer des Menschen, oft von großer Weisheit. In der Genesis 6, 1 - 4 wird erzählt, daß sich die gefallenen Engel Töchter von Menschen zur Frau nahmen und mit ihnen die Riesen zeugten. In der mittelalterlichen Epik sind Riesen Gegner der Helden, um deren Mut und Stärke noch eindrucksvoller erscheinen zu lassen. Paracelsus unterscheidet dämonische Riesen wie die Thürsen und menschliche Riesen wie Haymon. In der volkstümlichen Erzähltradition werden Riesen zu Schwankgestalten. Rinder mit einem oder drei Hörnern: Haben keine gespaltenen Hufe und gehören zu den wunderbaren Tieren Äthiopiens. Roch, Rock oder Ru kh: Sturmvogel von ungeheurer Größe und Kraft, der einen ausgewachsenen Elefanten forttragen kann. Rothniam: Fee aus dem sagenhaften Feenhügel von Cliu, die dem Helden Fingen Wunderdinge bei der Geburt des irischen Königs Conn prophezeit. 676 Enzyklopädische Stichworte Rübezahl: Ein Berggeist aus dem Riesengebirge, der seit dem 15. Jahrhundert überliefert ist. Er kann seine Gestalt beliebig verändern, ist manchmal hilfreich, manchmal tückisch. Sagaritis: Baumnymphe. Sährimnir: Eber, dessen Fleisch den Einheriern, den nach Walhal gekommenen gefallenen Kriegern, zur Speise dient. Obwohl täglich gebraten und verzehrt, erneuert er sich immer wieder. Auch Odins Wölfe Geri, der Gierige, und Freki, der Gefräßige, werden mit seinem Fleisch gefüttert. Salmakis: Quellnymphe, mit Hermaphroditos zu einem Zwitterwesen verschmolzen. Salvan: In den ladinischen und rätoromanischen Alpengebieten Walddämonen. Samael oder Samiel: Altjüdischer Dämon aus den apokryphen Schriften, der als gefallener Engel zusammen mit Satan gegen Gott revoltierte. Satan: Ursprünglich ein Engel, der gegen Gott aufbegehrte und vom Erzengel Michael in die Hölle gestürzt wurde. Das Christentum sieht in ihm die Verkörperung des Bösen in der Welt. Die christliche Ikonographie stellt ihn als Schlange oder Drache dar. Volksglaube und Sagen lassen ihn viele menschliche und tierische Gestalten annehmen. Satyrn: Ausgelassene, lüsterne Gesellen aus dem Gefolge des Dionysos. Sie haben Menschengestalt, Pferdeohren und Pferdeschwanz, oft auch Pferdehufe. Im Mittelalter gelten sie als bocksgestaltige Dämonen aus Äthiopien, deren bekannteste Vertreter Pan, Faunus und die Mänaden sind. Schab oder Schabbock: Nachtdämon, der als glühender Bund Stroh, als Schaube oder Schab, durch die Lüfte fliegt, als Irrlicht Wanderer erschrickt oder als Brandstifter tätig ist. Schabbriri: Jüdischer Dämon, der Würmer oder Blutegel in Wasserkrüge gibt und damit Bildheit verursacht. Schilbung: Zwerg, Bruder des Nibelung. Schnabelkrägen: Menschen von schöner Gestalt mit Kranichhälsen und -schnäbeln. Die Gesta Romanorum halten sie für gründlich abwägende und kluge Richter. Schratt oder Schrättele: Waldgeist und Quälgeist in Ställen. Schwanenjungfrauen: In der nordischen Mythologie Walküren, die zur Erde herabfliegen, meist um zu baden, dabei ihr Flügelkleid ablegen. Schwein: Verkörpert die Unreinheit und die verbotenen Sünden. Sein Fleisch zählt zu den unkoscheren Speisen. Sciritae: Ein indisches Nomadenvolk. Die Menschen haben statt einer Nase nur Nasenlöcher. Scitulus: Drachenähnliches Wesen mit einem glatten, gemusterten Leib, Vogelflügeln und zwei Raubtierpranken. Seepferd: Hat den Vorderteil mit zwei Beinen eines Pferdes und einen fischartigen Hinterleib mit Schwanzflosse. Seestier oder Meeresstier: Amphibisches Geschöpf. Er lebt auf dem Grund von Gewässern, die er aufwühlen kann. Er kann mehrere Hörner haben. Manchmal steigt er aus dem Wasser, um Menschen zu entführen. Seleuzidische Vögel: Werden von den Bewohnern des Berges Cadmus von Jupiter erfleht, damit sie die Heuschreckenschwärme vertreiben. Seraphim: Sechsflügeliger Engel. Serra: Seeungeheuer mit riesigen Flügeln, Schuppenleib und Schwanzflosse, zwei P ranken und einem menschlichen Antlitz. Sie versucht mit ihrer Schnelligkeit Schiffe einzuholen, muß aber immer nach kurzer Zeit ermattet aufgeben. Die Serra ist eine Allegorie für den Menschen, der nicht lange das Schiff der Rechtschaffenheit auf Kurs halten kann und bald zum Teufel hinabgleitet. Sichelmann: Wendischer Dämon mit feurigen Augen, einem Pferde- und einem Kuhbein und langen Krallen, der um die Mittagszeit Menschen enthauptet. Silenos: Satyr, Erzieher des jungen Dioysos. Sindri: Zwerg und berühmter Schmid, der Gullinborsti, der den goldenen Eber als Reittier der Freyr, Draupnir, Odins Zauberring, und Thors Hammer Mjölnir erschafft. Enzyklopädische Stichworte 677 Sirenen oder Acheloiden: Töchter des Flußgottes Acheloos und der Muse Melpomene oder auch der Terpsichore. Es sind Dämonen mit Vogelleib, Frauenkopf und Brüsten, mit übernatürlichem Wissen und solcher Sangeskunst begabt, daß die Seefahrer, die sie hören, die Heimkehr vergessen, an ihre Klippen heranfahren und dort scheitern und gefressen werden. Odysseus entging ihrer verführerischen Macht, weil er seiner Mannschaft die Ohren mit Wachs verstopfen und sich selbst an den Schiffsmast binden ließ. Als die Sirenen von der Musik des Orpheus, der mit den Argonauten vorübersegelte, übertroffen wurden, stürzten sie sich ins Meer und wurden zu Felsen verwandelt. Die Sirenen symbolisieren im Mittelalter und auch heute noch die dämonische Macht weiblicher Versuchung, der sich kein Mann widersetzen kann. Skadi: Tochter des von Thor und Loki erschlagenen Riesen Thiassi, die zuerst Niörd, den Gott des Meeres, später Ullr, den Gott des Winters heiratet. Skiapoden oder Monoculi bzw. Schattenfüßler: Haben ein Bein mit riesiger Fußsohle, einer Entenflosse ähnelnd. Wenn sie auf dem Rücken liegen, können sie damit die Sonne abschirmen, weswegen sie im Deutschen auch Schattenfüßler genannt werden. Sie leben in Indien, Äthiopien oder Libyen und sind sehr behende. Die Gesta Romanorum deuten das flinke Bein als Bild der Liebe, die den Menschen besonders rasch ins Himmelreich gelangen läßt. Skinfaxi: In der germanischen Mythologie ein weißes Roß, das den vergoldeten Wagen des Tages zieht. Skiron: Riesenhafter Unhold, der auf der Landenge von Korinth haust und dort die Reisenden die Klippen hinunter einer Riesenschildkröte zum Fraß vorwirft, ehe er von Theseus getötet wird. Skrymir: Riese, der Thor, Loki und Thialfi in seinem Handschuh Herberge bietet, als die drei nach Utgard, das Reich der Dämonen und Riesen, unterwegs sind. Später stellt sich heraus, daß es Utgardloki war, dessen listenreicher Täuschung sie erlegen waren. Skylla: Sechsköpfiges Meeresungeheuer, das von der eifersüchtigen Zauberin Kirke aus einer schönen Frau verwandelt worden war. Es hat drei Reihen von Zähnen und zwölf Beine und besteht von der Taille abwärts aus bellenden Hunden. Es lebt an der Straße von Messina in einer Höhle gegenüber dem gefährlichen Strudel Charybdis, der die Schiffe zum Kentern bringt, so daß Skylla mit ihren sechs Mäulern die Seeleute verschlingen kann. Sleipnir: Achtfüßiger Hengst Odins/ Wotans, das schnellste aller Pferde, dem kein Hindernis zu hoch war. Spahlentier: Drachenähnliches Tier der Basler Volkssage. Sparten: Aus der Drachensaat des Kadmos hervorgegangene Wesen. Sphinx: Mischwesen mit Löwenleib und Menschkopf, durch das die Ägypter die physische und geistige Macht des Pharaos darstellten. Sphinxen liegen als Wächter vor Tempeln und Palästen. Im griechischen Mythos ist Sphinx die Tochter des Typhon und der Echidna, eine geflügelte Löwin mit Frauenkopf und Brüsten. Als Oidipus ihre Rätselaufgabe löst, stürzt sie sich in eine Schlucht zu Tode. Spinturnix: Feuervogel, bei dessen Erscheinen Feuer ausbricht. Spiritus familiaris: Ein in die Flasche gebannter Geist oder Teufel, der seinem Besitzer alle Wünsche erfüllen kann. Spuk: Gespenstische und geisterhafte Erscheinungen, die Angst und Schrecken verbreiten. Stallo : Geist der Lappen oder Samen, der den F remdling verkörpert. Starkad: Riese mit acht Armen, der für den dänischen König gegen die Sachsen und gegen den dänischen Helden Angantyr sowie dessen Brüder kämpft. Strauß: Als Fabelwesen ein Vogel mit sehr kurzen Kamelbeinen, der seine Eier im Stich läßt. Stymphalischen Vögel: Sie haben eherne Schwingen, Krallen und Schnäbel, können ihre Federn als Pfeile abschießen und ernähren sich von Menschenfleisch. Sie werden von Herakles als sechste seiner Arbeiten mit einer Schleuder getötet. Succubus: Dämon, der als »Untenliegende« in Gestalt einer Frau mit Männer geschlechtlich verkehrt. 678 Enzyklopädische Stichworte Sudri: In der germanischen Mythologie Zwerg, der mit Austri, Nordri und Westri das Himmelsgewölbe trägt. Surt oder Surtr: Oberster der germanischen Feuerriesen in Muspelheim, dem in Flammen stehenden Teil der Unterwelt. Bei der Götterdämmerung entfacht er den Weltbrand und tötet den waffenlosen Freyr. Surtr: In der germanischen Mythologie der Anführer der Feuerriesen, die in der Götterdämmerung vom Süden her alles Land mit Feuer und Schwert verwüsten, bis ihnen die Götter entgegentreten. Suttung: Riese und Vater der den Skaldenmet bewachenden Gunnlöd. Das kostbare Getränk war einst im Besitz der bösartigen Zwerge Fjallar und Gjallar, die Suttungs Eltern getötet hatten und den Skaldenmet als Sühne an Suttung hatten abtreten müssen. Sylphen: Luftgeister. Syrinx: Nymphe, die von Pan verfolgt, in flüsterndes Schilf verwandelt wird, aus dem Pan seine Flöte, die Syrinx, herstellt. Talos: Eherner Riese, der im Auftrag von Zeus Europa auf Kreta bewacht und Felsen gegen anlandende Schiffe schleudert. Von Medea verzaubert, verletzt er seine einzige blutführende Ader und verblutet. Tarasque: Mächtiger Drachen von Tarascon. Tattermandl: In Südtirol der Feuersalamander, der giftigen Atem aushaucht. Tatzelwurm: Kriechdrachen, der in Bergstollen haust. Teufel: Sammelname, abgeleitet vom griechischen »diabolos« in der Bedeutung von Verwirrer, für den Herrn der Hölle, meist in menschlicher Gestalt mit Hörnern, Schwanz, Bocksfuß und Fledermausflügeln dargestellt. Thanatos: Finster blickender, geflügelter Todesgott mit starren Haaren. Thiassi: Riese, der Odin, Hönir und Loki auf einer Wanderung in Gestalt eines Adlers einen gebratenen Ochsen wegfrißt, von Loki deshalb gestoßen wird, diesen darum wegschleift und erst gegen das Versprechen, ihm Iduna mit den goldenen Äpfeln zu verschaffen, ihn wieder freiläßt. Danach wird er von den Göttern getötet. Thökk: Hexenartige Riesin, die als einzige nicht um den toten Balder weint, weshalb die Bedingung der Hel, den Gott aus dem Totenreich zu entlassen, nicht erfüllt wird. Thrym: Riese, der Thor den Hammer raubt und versteckt und nur gegen Freya wieder herausgeben will. Thor verkleidet sich als Braut und erschlägt Thrym, als er seinen Hammer als Brautgeschenk erhält. Thursen: Urzeitliche Frostriesen der germanischen Mythologie, die von Ymir abstammen und außer ihrer Körperkraft auch über magische Gaben verfügen. Tierherr oder Tierherrin: Dämonisches Wesen in Menschen- oder Tiergestalt, das als Hüter und Schutzgeist des Wildes wirkt. Titanen: Riesenhafte Söhne und Töchter des Uranos und der Gaia, darunter Okeanos, Hyperion, Iapetos, Kronos, Tethys, Themis, Mnemosyne und Rheia, die sich an der Empörung des Kronos gegen seinen Vater und am Kampf gegen Zeus beteiligen. Nach ihrer Niederlage werden sie in den gewaltigen Abgrund des Tartaros verbannt. Titania: Feenkönigin, Gemahlin des Oberon. Tödin: Weibliche Personifizierung des Todes. Toggeli oder Doggi: In der Schweiz die Bezeichnung für einen nächtlichen Druckgeist. Toter Gast oder Steinerner Gast: Seit der Antike der als Steingestalt auftretende Tote, der sich zu einem Mahl einladen läßt. Don Juan, der die Grabfigur des von ihm im Duell getöteten Komturs einlädt, wird von seinem Steinernen Gast in die Hölle geschickt. Tragelaphus: Eine Hirschart, die am Schwarzen Meer lebt. Sie ist zahm und sanft, verkörpert Christus oder den unschuldigen Menschen. Trapoga oder Trogopel: Eisenfarbiger Vogel mit Adlerrumpf, Phönixkopf und Widderhörnern auf der Stirn, gilt als Symbol der Verkündigung und Allgewalt Christi. Enzyklopädische Stichworte 679 Trigant: Kobold, der die Menschen neckt und ihnen Streiche spielt. Triglaw: Slawische Gottheit mit drei Ziegenhäuptern. Triton: Sohn des Poseidon und der Amphitrite mit Menschenleib und dem Unterkörper eines Delphins. Wenn er auf einer Muschel bläst, besänftigt er die See oder rührt sie auf. Trolle: Dämonische Nachtwesen von riesenhafter bis zwergenhafter Gestalt, die in Skandinavien Berge, Wälder und Heide bewohnen. Sie scheuen den Tag, und wenn ein Lichtstrahl sie trifft, erstarren sie zu Stein. Typhon oder Typhoeus: Ungeheurer Riese, gezeugt von Gaia mit Tarataros aus Rache für den Untergang der Giganten. Von den Schenkeln abwärts besteht er aus sich windenden Schlangen. Anstelle der Hände hat er zahlreiche Schlangenköpfe, die in jeder Richtung hundert Meilen lang ausgestreckt werden können. Sein Eselshaupt berührt die Sterne, seine Flügel verfinstern die Sonne. Aus seinen Augen bricht Feuer, aus dem Mund schießt Lava. Mit Echidna zeugt er die Chimäre, Hydra, Kerberos und zahlreiche andere Monster. Nachdem er Zeus herausgefordert hatte, wurde er mit einem Blitzstrahl bezwungen und unterhalb des Ätna angekettet. Undine: Ein Wassergeist, halb Frau, halb Fischleib. Unke oder Ringelnatter: Im Märchen ein guter Hausgeist. Urisk: Ein Mischwesen aus Mensch und Ziege des schottischen Hochlands. Vafthrudnir: Sechsköpfiger Urzeitriese, der entstand als Ymir seine Füße aneinander rieb. Er ist der Stammvater der Hrimthursen, der Frost- und Reifriesen. Vampir: Dämon, der nachts den Lebenden das Blut aussagt. Vederfölnir: Habicht, der als Wettermacher auf Yggdrasil zwischen den Augen des Adlers saß. Vervex: Schafartiges, sehr starkes Tier mit einem Gehörn, das wegen seiner Härte nach dem griechischen Kriegsgott Ares benannt wird. Das Gehörn symbolisiert die Apostel. Vieräugige Äthiopier: Sie sind hervorragende Bogenschützen. Den Gesta Romanorum zufolge haben sie je ein Auge auf Gott, die Welt, den Teufel und das Fleisch gerichtet, um recht zu leben, die Welt zu fliehen, dem Teufel zu widerstehen und um das Fleisch zu kasteien. Vieräugige Hündin: Kündet nach Zigeunerglauben mit ihrem Geheul Regenwetter an. Vila: Slawische Sturmgeister. Vodnik: Froschgestaltiger Dämon bei den Slawen, der am Ufer von Sümpfen lauert und Kinder in sein nasses Reich hinabzieht. Vouivre: Einäugiger Drache in der Romande. Sein Auge ist ein Karfunkel, der Reichtum und Gefahr verheißt. Walberan: Oheim des Zwergenkönigs Laurin. Walen und Venediger: Mit dämonischen Zügen ausgestattete Bergleute aus welschen Landen. Wassergeister: Naturdämonen, die in Gewässern leben und je nach Landschaft verschiedene Bezeichnungen tragen. Sie können als Wassermuhme oder Brunnenmutter weibliche, als Wassermann oder Brückenmann männliche Gestalt haben. Wassermenschen: Leben sowohl auf dem Lande als auch im Wasser, sind am ganzen Körper behaart und unbekleidet. Sie sind von riesigem Wuchs und leben in Flüssen. Wechselbalg: Ein der Mutter von Dämonen unterschobener oder ausgetauschter häßlicher und unersättlicher Säugling, der sich zur Familienplage entwickelt. We iße Frauen: Ahnfrauen von Adelsgeschlechtern, die als Geister erscheinen und künftige Ereignisse voraussagen. Sie sind eng mit den Familienschicksalen verbunden. Werwolf: Gestaltenwechsler von Mensch zu Wolf. Kommt auch als Mischwesen vor, und zwar als Wolfsmensch. Wichte: Kobold- oder zwergenartige Wesen. Wiedehopf: Sein Blut ruft auf der Haut des Menschen Alpträume vom Teufel hervor. Wiedergänger: Verstorbener, der zumeist wegen einer Schuld als Untoter umgehen muß. Wilde Jagd: Ursprünglich die in der Schlacht gefallenen Krieger der Germanen und später im Volks- 680 Enzyklopädische Stichworte glauben das durch die Lüfte jagende Heer von Dämonen oder Toten. Besonders in den zwölf Rauhnächten zwischen Weihnachten und dem Dreikönigstag sind diese Scharen unterwegs und bringen denen Unheil, die ihnen begegnen. Wilde Leute: Männliche und weibliche Naturdämonen von riesenhafter bis zwergenhafter Gestalt, in Felle gekleidet, die Wälder und Berge bevölkern. Sie suchen die Nähe des Menschen, helfen ihm, trachten ihm aber auch nach dem Leben. In der Artusepik spielen sie als Gegner der Helden eine Rolle. Wilde Leute: Riesen, oft mit Eulenaugen, Eberzähnen und Elefantenohren. Wilder Jäger: Zieht mit seinem Gefolge unter furchterregendem Getöse durch die Nacht. Windsbraut: Weiblicher Dämon, der den Sturm verkörpert. Wolf: Dämonologische Verkörperung des Teufels. Xanthos und Balios: Die beiden unsterblichen Rosse von Achilleus. Xanthos ist ein Sproß der Harpyie Podarge und des Westwinds Zephyros. Um Achilleus vor seinem Tod zu warnen, erhält es die Gabe der Rede. Ymir: Germanischer Urzeitriese, dessen Name so viel wie Zwitter bedeutet. Aus dem Eis entstanden, auf das die Funken von Muspelheim fallen. Er ernährt sich von der Milch der Kuh Audhumla und pflanzt sich ungeschlechtlich fort. Odin/ Wotan und seine Brüder als die Nachfahren der Audhumla töten Ymir und gewinnen damit die Herrschaft über die Schöpfung. Ymir: Nordischer Urriese, aus dessen Leib das Himmelsgewölbe, Erde, Meere, Flüsse und Wälder entstanden sind. Zagreus: Blitzeschleudernder Sohn des Zeus, der in Gestalt eines Drachen von den Titanen zerstükkelt wird. Ziegenbock: Ein störrisches und laszives Tier, dessen Blut die härtesten Diamanten zum Schmelzen bringt. Er symbolisiert den Sünder, dessen verströmendes Blut seine Sünden wegschwemmt. Ziz: Im hebräischen Mythos der größte aller Vögel, der das Licht der Sonne verdunkelt. Zweifuß: Halbierter Tierkörper, der von Hieronymus Bosch in vielen Variationen dargestellt wird. Zwerge: Kleinwüchsige Dämonen, die oft unter der Erde wohnen und ihre Welt wie die des Menschen geordnet haben. Sie sind oft sehr geschickte Handwerker, Schmiede vor allem, die auch magische Fähigkeiten besitzen. In den mittelalterlichen Epen stellen die Zwerge Schwerter her, hüten Schätze, tragen Tarnkappen und sind oft die Gegner der Helden. Bibliographische Hinweise Lotte Gaebel (St. Gallen) Inhalt 1. Lexika, Nachschlagewerke, Bibliographien, Referateorgane 1.1 Mythos 1.2 Dämonen, Monster, Fabelwesen 2. Mythos-Rezeption 2.1 Allgemeine Literatur 2.2 Dämonen, Monster, Fabelwesen 3. Zu den einzelnen Symbolfiguren 1. Lexika, Nachschlagewerke, Bibliographien, Referateorgane Fortführung und Ergänzung der »Bibliographischen Hinweise« aus: Herrscher, Helden, Heilige. Mittelalter-Mythen Bd. 1. Hrsg. Werner Wunderlich, Ulrich Müller. St. Gallen 1996. 1.1 Mythos Dictionary of the Middle Ages. Hrsg. Joseph R. Strayer. New York 1985. Dixon-Kennedy, Mike: European myth and legend. An A-Z of people and places. London 1997. Haussig, Hans Wilhelm (Hrsg.): Götter und Mythen im alten Europa. Stuttgart 1973 (Wörterbuch der Mythologie, Bd. 2). Hoops, Johannes (Hrsg.): Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Hrsg. Heinrich Beck [u.a.] Berlin, New York 1994 (Zweite, völlig neu bearbeitete und stark erweiterte Aufl. unter Mitwirkung zahlreicher Fachgelehrter). Nork, F. [Pseudonym für Friedrich Korn]: Etymologisch-symbolisch-mythologisches Real-Wörterbuch zum Handgebrauche für Bibelforscher, Archäologen und bildende Künstler. Stuttgart 1843. Orchard, Andy: Cassell dictionary of Norse myth and legend. London 1997. Recent studies in myths and literature 1970 - 1990. An annotated bibliography. Zusammengestellt von Bernard Accardi. New York [u.a.] 1991 (Bibliographies and indexes in world literature, Bd. 29). Reid, Jane Davidson: The Oxford Guide to Classical Mythology in the Arts, 1300 - 1990. New York, Oxford 1993. Solé, Jacques: Christliche Mythen. Von der Renaissance bis zur Aufklärung. Frankfurt, Berlin, Wien 1982 (Ullstein-Buch 35155). 682 Lotte Gaebel 1.2 Dämonen, Monster, Fabelwesen Barber, Richard W., Riches, Anne: A Dictionary of Fabulous Beasts. London 1971. Biedermann, Hans: Dämonen, Geister, dunkle Götter. Lexikon der furchterregenden mythischen Gestalten. Graz, Stuttgart 1989. 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