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Mehrsprachigkeit bei Kindern und Erwachsenen

2007
978-3-8930-8593-8
Attempto Verlag 
Tanja Anstatt
Mehrsprachigkeit bei Kindern und Erwachsenen Tanja Anstatt (Hrsg.) Mehrsprachigkeit bei Kindern und Erwachsenen Erwerb· Formen· Förderung Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. Die Herausgeberin und der Verlag bedanken sich für die freundliche Unterstützung bei der Vereinigung der Freunde der Universität Tübingen e.V. (Universitätsbund), beim Sonderforschungsbereich 441 der Universität Tübingen und bei der Ruhr-Universität Bochum. © 2007 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.attempto-verlag.de E-Mail: info@attempto-verlag.de Titelbild: © Getty Images Nr. 590009 Printed in Germany ISBN 978-3-89308-393-0 Inhaltsverzeichnis Vorwort 7 Renate Thiersch: Sprachförderung mehrsprachiger Kinder im Kindergarten 9 Ingrid Gogolin / Hans-Joachim Roth: Bilinguale Grundschule: Ein Beitrag zur Förderung der Mehrsprachigkeit 31 Cordula Nitsch: Mehrsprachigkeit: Eine neurowissenschaftliche Perspektive 47 Rosemarie Tracy: Wieviele Sprachen passen in einen Kopf? Mehrsprachigkeit als Herausforderung für Gesellschaft und Forschung 69 Jürgen M. Meisel: Mehrsprachigkeit in der frühen Kindheit: Zur Rolle des Alters bei Erwerbsbeginn 93 Christine Dimroth: Zweitspracherwerb bei Kindern und Jugendlichen: Gemeinsamkeiten und Unterschiede 115 Tanja Anstatt / Elena Dieser: Sprachmischung und Sprachtrennung bei zweisprachigen Kindern (am Beispiel des russisch-deutschen Spracherwerbs) 139 Bernhard Brehmer: Sprechen Sie Qwelja? Formen und Folgen russisch-deutscher Zweisprachigkeit in Deutschland 163 Grit Mehlhorn: Ausspracheerwerb ausländischer Studierender: Vom Nutzen individueller Sprachlernberatung 187 Kurt Kohn: Englisch als globale Lingua Franca: Eine Herausforderung für die Schule 207 Über die Autorinnen und Autoren dieses Bandes 223 Vorwort Die derzeit geführte öffentliche Diskussion um die Mehrsprachigkeit kreist um zwei Pole: Einerseits drängt die Frage der sprachlichen Förderung und Integration von Migranten, vor allem von Kindern aus Familien mit Migrationshintergrund. Andererseits wird der Ruf nach früher Mehrsprachigkeit bei Kindern laut, der zu immer früher einsetzendem Sprachunterricht in der Schule, teilweise sogar schon im Kindergarten führt. Im ersten Fall ist die Erstsprache der betreffenden Personen meist eine weniger prestigeträchtige Sprache, Ziel der Förderung ist die Unterstützung des Deutscherwerbs. Im zweiten Fall geht es hingegen um das Erlernen von Sprachen, von denen sich Eltern und Pädagogen beruflichen Nutzen für die Kinder erhoffen. Diese zwei Aspekte werden in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Zusammenhängen diskutiert - aber dennoch sind es zwei Seiten derselben Medaille. In diesem Buch beleuchten Experten unterschiedlicher Fächer - Erziehungswissenschaftler, Linguisten und eine Neurowissenschaftlerin - jeweils aus ihrer Sicht, wie die Wege aussehen, die in die Mehrsprachigkeit führen. Wie können Kinder, aber auch Erwachsene auf diesen Wegen gefördert werden? Was passiert bei Mehrsprachigkeit im Gehirn? Welche sprachlichen Besonderheiten sind für mehrsprachige Kinder und Erwachsene typisch? Wird eine Sprache im mehrsprachigen Spracherwerb anders erworben als im einsprachigen? Welche Rolle spielt das Alter, in dem mit dem Erwerb einer Sprache begonnen wird? Dies sind die Hauptfragen, die in den Beiträgen dieses Buches behandelt werden. Eröffnet wird der Band von zwei Arbeiten, die sich damit beschäftigen, wie günstige Rahmenbedingungen für mehrsprachigen Spracherwerb aussehen könnten: sie befassen sich mit der Rolle, die erziehende Institutionen im mehrsprachigen Spracherwerb spielen. Renate Thiersch schildert, wie gut die Möglichkeiten des Kindergartens unter günstigen Bedingungen sind, mehrsprachige Kinder zu fördern. Sie demonstriert aber auch die ganze Bandbreite der unterschiedlichen Voraussetzungen, die mehrsprachige Kinder mitbringen; ihr Artikel lässt dabei deutlich erkennen, dass vermeintlich durch Mehrsprachigkeit entstandene Benachteiligung in Wirklichkeit oft mit sozialen Faktoren zu erklären ist. Ingrid Gogolin und Hans- Joachim Roth zeigen in ihrem gemeinsamen Artikel, dass bilinguale Schulmodelle einen vielversprechenden Förderungsansatz darstellen, von dem sowohl Kinder aus Migrantenfamilien als auch einsprachig deutsche Kinder profitieren können. Die Neuroanatomin Cordula Nitsch betrachtet die Mehrsprachigkeit von „innen“: Sie legt dar, dass sich das Gehirn aufgrund seiner Flexibilität an die jeweils individuellen Anforderungen anpasst, und schildert, auf welche Besonderheiten des Gehirns von Mehrsprachigen jüngste Forschungen deuten. Eine wichtige Erkenntnis ist beispielsweise, dass frühe Zweisprachige anders als späte Zweisprachige ihre beiden Sprachen im selben Hirnareal verarbeiten, und dass in diesem Areal später auch Drittsprachen angesiedelt werden können. Die weiteren Artikel des Bandes stammen aus der Feder von Sprachwissenschaftlern, die jedoch ganz unterschiedliche Aspekte der Mehrsprachigkeit betrachten. Zunächst geht es in vier Arbeiten um die Sprache mehrsprachiger Kinder. Den Anfang des linguistischen Teils macht Rosemarie Tracy, die den Erwerb der Wort- Vorwort 8 stellung im Deutschen durch Kinder mit ganz unterschiedlichen Konstellationen des mehrsprachigen Spracherwerbs vergleicht und daraus allgemeine Folgerungen ableitet. Sie unterstreicht dabei besonders, dass Mehrsprachigkeit - besonders die früh einsetzende - für Kinder grundsätzlich kein Problem darstellt. Jürgen M. Meisel befasst sich mit der Rolle, die das Alter zu Beginn des Erwerbs der zweiten Sprache spielt. Er bezieht sich sowohl auf linguistische als auch auf neurobiologische Forschung und kommt zu dem Schluss, dass sich die Fähigkeit zum muttersprachlichen Erwerb von Sprachen aufgrund der Hirnreifung ab etwa 3 bis 4 Jahren deutlich verändert und dann besonders ab etwa 7 Jahren weiter abnimmt. Mit dem Zweitspracherwerb bei älteren Kindern beschäftigt sich Christine Dimroth, die den Erwerb des Deutschen zweier 8 und 14 Jahre alten Schwestern vergleicht. Dabei zeigt sich zwar einerseits deutlich, dass die jüngere Schwester größere Lernerfolge aufweist. Andererseits stehen aber der älteren Schwester Lernstrategien zur Verfügung, die auf andere Weise zum Erfolg führen. Im Artikel von Tanja Anstatt und Elena Dieser geht es um die Frage, ob und ab wann zweisprachige Kinder ihre Sprachen trennen können. Die Autorinnen zeigen, dass schon sehr kleine bilinguale Kinder zu einer grundsätzlichen Unterscheidung der Sprachen in der Lage sind und sie in der Regel angemessen verwenden. Dennoch mischen noch Grundschulkinder die Sprachen unter bestimmten Bedingungen, was vor allem mit dem mangelnden Kontakt mit einsprachigen Sprechern der jeweiligen Sprache zu erklären ist. Bernhard Brehmer eröffnet den Abschnitt über Mehrsprachigkeit bei Erwachsenen. In seinem Artikel, der auch zeigt, wie sehr Mehrsprachigkeit in Deutschland heute ein gesellschaftliches Phänomen ist, werden die sprachkontaktbedingten Veränderungen des Russischen dargestellt, wie es in Deutschland gesprochen wird. Mit den letzten zwei Beiträgen schließt sich der Kreis, denn sie greifen wiederum die pädagogisch-didaktische Perspektive auf, diesmal aber in Bezug auf den Spracherwerb Jugendlicher und Erwachsener. Um die Unterstützung, die Erwachsenen beim Erwerb einer Fremdsprache helfen kann, geht es in dem Artikel von Grit Mehlhorn: Sie beschreibt den Nutzen der individuellen Sprachlernberatung am Beispiel des Ausspracheerwerbs. Abgeschlossen wird der Band mit dem Beitrag von Kurt Kohn, der sich mit der Fremdsprache schlechthin, nämlich dem Englischen, befasst. Beleuchtet wird, wie sich diese Sprache in ihrer Funktion als Lingua Franca auch selber verändert und in welcher Weise dies in der Schule sinnvollerweise berücksichtigt werden sollte. Gemeinsamer Nenner aller Arbeiten ist, dass der Erwerb der Mehrsprachigkeit eine anspruchsvolle, aber lösbare Aufgabe ist. Die Erfolgsaussichten sind umso größer, je früher der Spracherwerb einsetzt und je intensiver der Kontakt mit beiden Sprachen ist. Gemeinsames Fazit ist aber auch, dass realistische Vorstellungen von Mehrsprachigkeit notwendig sind. Dass mehrsprachige Menschen beide Sprachen in gleichem Maße vollständig beherrschen, ist ein unrealistischer Anspruch - eine größere Toleranz in Bezug auf den Grad der Perfektion wäre wünschenswert. Stattdessen sollte in der öffentlichen Wahrnehmung die Erkenntnis in den Vordergrund treten, dass Mehrsprachige über beeindruckende zusätzliche Fähigkeiten verfügen - unabhängig davon, welche Sprachen sie erworben haben. Tanja Anstatt Tübingen / Bochum, März 2007 Renate Thiersch Sprachförderung mehrsprachiger Kinder im Kindergarten 1 1. Einführung Sprachförderung mehrsprachiger Kinder - das bedeutet überwiegend Sprachförderung von Migrantenkindern. Folgt man den politischen Diskussionen der letzten Zeit, so ist dies eine Art Zaubercode für die Lösung vieler gesellschaftlicher Probleme: für das schlechte Abschneiden deutscher Schulen bei PISA, für die Probleme der Integration von Migranten, für die Gewalt an Schulen wie der Rütli-Schule - für all das hört man als Antwort: Sprachförderung in Kindertageseinrichtungen! Sprachförderung (nicht nur in Kindergärten) wird mit hoher politischer Aufladung diskutiert, weit reichende Maßnahmen werden propagiert: Alle Kinder sollen vor dem Schuleintritt einen Sprachtest machen, man solle Kinder im letzten Jahr vor der Schule (evtl. in einem Pflichtkindergartenjahr) in speziellen Sprachkursen für die Schule fit machen (Projekt „Schulreifes Kind“ in Baden-Württemberg), man solle den Gebrauch der nicht-deutschen Muttersprache an Schulen verbieten, Deutschsprechen solle zur Pflicht gemacht werden. Andere fordern dagegen, gerade die Familiensprachen zu akzeptieren und sogar zu fördern. Während viele eine ganzheitliche Sprachförderung fordern, favorisieren andere spezielle Sprachförderprogramme. Wenn man auf die Hauptschüler und auf die PISA-Ergebnisse schaut, scheint das Erlernen des Deutschen für Kinder mit Migrationshintergrund ein schwieriges Unterfangen zu sein; mehrsprachiger Spracherwerb erscheint als grundlegendes Problem, das viele Kinder überfordert. Daneben aber erleben wir viele Menschen, die mehrere Sprachen gut beherrschen: Deutsch und Englisch, Französisch, Spanisch oder Italienisch, aber auch Russisch und Türkisch sind unter „Gebildeten“ in verschiedenen Kombinationen vertreten. Zwar dominierte in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten eine monolinguale Kultur, doch gehörte die Beherrschung verschiedener Sprachen zur Tradition des europäischen Bildungsbürgertums. Im Zeitalter der Globalisierung sehen wir nun erstaunt, dass in vielen Teilen der Welt Mehrsprachigkeit normal ist. In den letzten Jahren hat sich fast so etwas wie eine Mehrsprachigkeitseuphorie entwickelt, deren Folgen für Kindergartenkinder noch gar nicht ganz klar sind. Die Gestaltung der Sprachförderung mehrsprachiger Kinder braucht, so scheint mir, angesichts der gegenwärtigen Fülle an Materialien und Veröffentlichungen, an Projekten und Programmen keinen vorschnellen Aktionismus, sondern sorgsame pädagogische und auch linguistische Reflexionen, auf deren Grundlage die weitere Entwicklung der Sprachförderung im Kindergarten gestaltet wird. Ich werde im Folgenden fragen, wie Spracherziehung im Alltag der Kindergartenarbeit praktiziert wird und was sie leisten kann. Dazu werde ich vor allem auf die 1 Ich verwende für die Vielfalt der Einrichtungsformen in der Kindertagesbetreuung im Folgenden die Begriffe Kindergarten und Kindertageseinrichtung nebeneinander. Für eine differenzierte Beschreibung der verschiedenen Einrichtungstypen vgl. z.B. Thiersch (2005, 970ff.). Renate Thiersch 10 alltäglichen Erfahrungen mit Sprachförderung im Kindergarten und auf die unterschiedlichen Dimensionen der Tätigkeit der Erzieherinnen eingehen. Ich werde mich nicht auf die speziellen Maßnahmen zur Sprachförderung wie Sprachförderprogramme oder spezielle Förderstunden konzentrieren. Mein Vorhaben zielt vielmehr darauf ab, die pädagogische Praxis in ihrer ganzen Breite zu thematisieren. Ich werde phänomenologisch vorgehen und zunächst die Situation mehrsprachiger Kinder beschreiben; von da aus werde ich überlegen, was diese Kinder brauchen, um ihre sprachlichen Kompetenzen weiterzuentwickeln. Dann stelle ich verschiedene Ebenen der Handlungsmöglichkeiten der Erzieherinnen dar. Für die Einschätzung der alltäglichen Sprachförderung im Kindergarten muss schließlich auch die Sprachenpolitik als gesellschaftliche Rahmenbedingung betrachtet werden. 2. Zur sprachlichen Situation von mehrsprachigen Kindern im Kindergarten 2.1. Alltag in einem interkulturellen Kindergarten 2 In einem Kindergarten in einem Wohngebiet mit einem hohen Anteil an Migranten werden 40 Kinder mit 14 verschiedenen Familiensprachen und ganz unterschiedlichen familiären Hintergründen betreut, erzogen und gebildet; unter den Eltern finden sich sowohl Akademiker als auch Facharbeiter und Asylbewerber. Von den 40 Kindern kommen zehn aus deutschsprachigen Familien, zwei sind binational deutsch. Etwa 30% der Kinder sprechen also zuhause deutsch als Familiensprache. Acht Kinder (20%) sprechen zuhause arabisch, sechs Kinder (15%) sprechen türkisch. Elf Kinder (27%) sprechen eine von sechs osteuropäischen Sprachen; drei Kinder sprechen weitere, außereuropäische Sprachen. Vier Kinder leben in binationalen Familien, zwei davon mit deutscher Mutter oder deutschem Vater; die anderen beiden Kinder wachsen mit zwei Familiensprachen und Deutsch als Umgebungssprache auf. Die sprachlichen Kompetenzen der Kinder sind sehr unterschiedlich. Die Kinder - vier davon werden wir genauer kennenlernen - werden morgens von ihren Müttern, einige auch von ihren Vätern, in den Kindergarten gebracht, sie begrüßen die Erzieherinnen und gehen - die einen zielstrebig, die anderen zögernd - in einen der Räume, begrüßen ihre Spielkameraden und -kameradinnen, sie finden sich in ein Spiel - es ist Freispiel. Nihat geht zu Cem und Anton in die Bauecke, Kemal gesellt sich zu Jamie und schaut erst einmal zu, wie der mit den Autos spielt. Laura Maria setzt sich zu ihrer Freundin Sirindya an den Maltisch. Celestina sucht sich ein Buch in der Bücherecke und hört mit einem Ohr dem Rollenspiel von Olga, Sonja und Vasiliki zu; irgendwann schlägt sie vor, die Familie könnte doch zur Bücherei gehen; sie selbst übernimmt die Rolle der Bibliothekarin. Später frühstücken die Kinder an kleinen Tischen und finden sich dann in einer Kinderrunde zusammen. Dort zählen sie gemeinsam die anwesenden Kinder - heute mal auf Griechisch; die Erzieherin erzählt ihnen auf Deutsch eine Geschichte, sie machen ein Fingerspiel und singen ein türkisches Lied. Dann verteilen sich die Kinder auf Interessengruppen oder Projekte: Bilderbuch vorlesen, Kochen, ein Projekt über 2 Ich beziehe mich dabei auf das von mir begleitete Projekt „Interkultureller Kindergarten Eugenstraße“ in Tübingen (Thiersch 2006). Sprachförderung mehrsprachiger Kinder im Kindergarten 11 Wasser. In diesem Kindergarten arbeitet auch eine Lehrerin, die aus der nahen Grundschule delegiert ist und die mit den Kindern einzeln und in Kleingruppen Sprachförderung macht. Die Erzieherinnen und die Kinder sprechen deutsch, die Kinder teilweise noch recht unvollständig. Einige Kinder sprechen untereinander auch in ihrer Muttersprache, zwei Mädchen z.B. zanken sich hingebungsvoll in ihrer Familiensprache, dann wenden sie sich wieder dem Gruppengeschehen zu. Auf Grund ihrer besonderen Qualifikationen können die vier Erzieherinnen des Teams mit den Kindern und mit den Eltern bei Bedarf Arabisch, Türkisch, Russisch oder Englisch sprechen. 3 Ein Willkommensgruß in allen 14 Familiensprachen hängt im Eingang. Die Eltern berichten, dass die deutschen Kinder zuhause gerne ihre Sprachkenntnisse in Türkisch, Arabisch oder Russisch vorführen, und dass die Kinder mit anderer Familiensprache stolz ihre Fortschritte im Deutschen präsentieren. Solche Szenen lassen sich aus vielen Kindergärten in Deutschland berichten. Manche mögen das die heile Welt des interkulturellen Kindergartens nennen, in der friedliche Kommunikation und selbstverständliches Zusammenleben von Kindern mit verschiedenen Familiensprachen, mit verschiedenen kulturellen Hintergründen und aus unterschiedlichen sozialen Situationen realisiert wird, in der gesellschaftliche Brüche noch nicht so deutlich Platz greifen. Ein solch intensives, gegenseitig anregendes Zusammenleben ist allerdings nicht selbstverständlich. Ich möchte rekonstruieren, wie unter den Bedingungen eines interkulturellen Kindergartens Sprachförderung gelingen kann und worauf es dabei ankommt. Dafür werde ich zunächst ganz allgemein die Sprachentwicklung mehrsprachiger Kinder betrachten. Ich werde dazu vier Kinder aus dem oben beschriebenen Kindergarten vorstellen, bevor ich systematischer orientierte Bemerkungen zur mehrsprachigen Sprachentwicklung und ihren Problemen mache. 2.2. Vier Fallvignetten: mehrsprachige Kinder im Kindergarten Maria Laura (4) konnte, als sie in den Kindergarten kam, rumänisch und relativ gut deutsch, allerdings mit hörbarem Akzent. Ihre Eltern sind Aussiedler, die die deutsche Sprache pflegen. Zuhause spricht die Familie mindestens so viel deutsch wie rumänisch. Die Eltern haben beide in Rumänien Abitur und eine Berufsausbildung gemacht, der Vater ist gegenwärtig als Lagerarbeiter tätig, die Mutter ist Hausfrau. Seit den Anfängen der Beobachtung hat Maria Laura gute Fortschritte gemacht, sie ist allerdings etwas schüchtern und bringt deshalb ihre sprachlichen Fähigkeiten oft nicht ein. Celestina (5) kam mit knapp fünf Jahren in den Kindergarten, sie konnte anfangs nur sehr wenig deutsch. Celestinas Vater ist aus Argentinien mit einem Promotionsstipendium nach Deutschland gekommen und hat seine Familie mitgebracht. Zuhause sprechen die Eltern Spanisch; die Mutter, eine Amerikanerin, spricht mit Celestina vorwiegend Englisch, so dass sie als Familiensprachen Spanisch und Englisch spricht. Celestinas Vater spricht sehr gut deutsch und ihre Mutter hat im Deutschkurs nach einem halben Jahr so viel gelernt, dass sie sich mit den Erzieherinnen gut unterhalten kann. Celestina war trotz geringer Deutschkenntnisse gleich 3 Zwei Erzieherinnen verfügen selbst über Migrationserfahrungen und bringen entsprechende Sprachkenntnisse mit, die anderen beiden können auf ihre Fremdsprachenkenntnisse zurückgreifen. Renate Thiersch 12 sehr kommunikationsfreudig. Ihr Deutsch hat sich in diesem halben Jahr sehr gut entwickelt. Sie spricht zwar noch nicht korrekt, aber ihr großer Wortschatz und ihr Gespür für Satzbildung erlauben ihr recht differenzierte Äußerungen. Kemal (4) kam mit drei Jahren ohne deutsche Sprachkenntnisse in den Kindergarten. Seine Eltern stammen aus der Türkei; sein Vater lebt schon lange hier, seine Mutter ist erst später nachgezogen. Kemal ist der Jüngste von fünf Geschwistern. Der Vater hat inzwischen einen kleinen Lebensmittelkiosk, in dem auch die Mutter mitarbeitet. In der Familie wird türkisch gesprochen. Kemal sprach im Kindergarten anfangs lange nichts, weder türkisch noch deutsch, erst nach vier Monaten begann er zu sprechen. Dabei benutzte er kurze Äußerungen mit sehr einfachen Satzstrukturen und insgesamt nur wenigen Wortarten. 4 Sprachprotokoll Kemal (3; 8) nach 5 Monaten Kindergartenbesuch (K sitzt am Tisch neben Ö. Er ist viel später als die anderen Kinder an den Frühstückstisch gekommen.) Frau N: Willst du Marmelade? K: Nein, Fischkäse! Frau N (zeigt auf die Marmelade): K, willst du so was? K (bestimmt): Nein! (zeigt auf den Frischkäse) (Frau N gibt ihm den Käse.) (Am Tischgespräch beteiligt er sich nicht, ist aber aufmerksam mit Blickkontakt dabei. Frau N streckt ihm eine Tasse hin.) Frau N: çay? K: Wassa! Frau T: Kemal, komm, gehen wir raus! Frau N (zu Frau T): Der Kemal ist noch nicht fertig. K: Ich nis fertig. Kemals Verständigungsmöglichkeiten waren anfangs darauf beschränkt, seine Wünsche mitzuteilen bzw. deutlich zu machen, was er nicht wollte. Er konnte deutlich nein sagen, aber er beherrscht auch das Wort nicht in einer für seine Sprachstufe überraschenden Wendung: Ich [bin] nicht fertig. Es könnte sich hier um eine Wiederholung der Äußerung von Frau N handeln. Dann begann eine stürmische Sprachentwicklung; sechs Monate später konnte er sich gut verständigen, ja sogar von Erfahrungen und Überlegungen berichten. 4 Ich verwende für die folgende Darstellung Beispiele aus der Diplomarbeit von Miriam Lotz (2006). Sprachförderung mehrsprachiger Kinder im Kindergarten 13 Sprachprotokoll Kemal (4; 2) nach 11 Monaten Kindergartenbesuch S: (sieht K’s Schuhe, die ein rotes Lämpchen im Absatz haben) Wow! Die sind cool, K! K: Guck, da kommt ein Licht raus! (N kommt dazu.) N: Power-Ranger-Schuhe, gell? K: Nein, das Lampe! Da ist Lampe drin! Da kommt ein Licht raus! Wenn die ... (zögert) wenn die karanlık ist, dann kommt da Licht raus. Miriam: Ach so. Das leuchtet nur, wenn es dunkel ist? K: Ja, wenn die karanlık … dunkel ist, leuchtet des. Ama jetzt nicht. Jetzt Sonne ist. Guck, des sieht kaum. (zeigt auf seinem Schuh ein verwaschenes Bild von einem Motorradfahrer) In diesem Beispiel wird deutlich, dass die Studentin Miriam, seine bevorzugte Interaktionspartnerin, ihm in seiner Sprachentwicklung helfen kann, indem sie auf das „Ausborgen“ des türkischen Wortes karanlık eingeht und ihm vermittelt, wie man das auf Deutsch ausdrücken kann. Nihat (6) kam - ebenso wie Kemal - mit drei Jahren ohne Deutschkenntnisse in den Kindergarten, seine Eltern sind Asylbewerber mit traumatischen Fluchterfahrungen. Nihat war ein sehr unruhiges und schwieriges Kind, die Erzieherinnen konnten allerdings in der Anfangsphase des Kindergartens, als sie mit nur fünf Kindern begannen, intensiv auf ihn eingehen, so dass er sich einigermaßen gut entwickelte. Aber er hat immer noch relativ große Schwierigkeiten sich zu konzentrieren, und seine geringen sprachlichen Kompetenzen sind bedrückend. Nihat war fünf, als die Sprachbeobachtung begann, und in den neun Monaten der Beobachtung ließen sich eigentlich keine Fortschritte erkennen. Das folgende Beispiel repräsentiert seine sprachlichen Möglichkeiten: Sprachprotokoll Nihat (5; 8) (Anton hat gerade eine Geschichte erzählt. Nihat, der mitgehört hat, möchte nun auch eine Geschichte erzählen. Ich soll sie aufschreiben.) Nihat: Bob der Baumeister macht arbeiten. Und dann Kran so (macht Knarr- und Quietschgeräusche) brrschhrrh … macht. (Gestikuliert mit den Armen, wirkt unruhig) So, guck: Illllltschhhhh … war lustig, dann war Kran kaputt. Dann war neue Kran wieder hier. Ta-tah! (reißt die Arme nach oben, grinst) - Hast du aufgeschrieben das? Nihat konnte nur wenig von dem, was er offensichtlich vor seinem inneren Auge sah, ausdrücken; seine Geschichte ist voller Lautmalerei, aber sie vermittelt keine nachvollziehbare Handlung. Es fiel allen schwer, sich Nihat in der Schule vorzustellen. Renate Thiersch 14 Die Erzieherinnen interessierten sich nun dafür, welche Kompetenzen Kemal und Nihat in ihrer Familiensprache hatten. Deshalb wurden mit beiden Kindern muttersprachliche Sprachstandserhebungen 5 durchgeführt, in denen die türkischen Sprachkompetenzen erhoben wurden. Dabei zeigte sich, dass beide Kinder das Türkische nicht gut beherrschen. Nihats Türkisch scheint kaum besser zu sein als sein Deutsch. Aus diesen Geschichten ergeben sich nun Fragen an die Möglichkeiten der Sprachförderung: Was brauchen Kinder, um unter den Bedingungen von Mehrsprachigkeit ihre sprachlichen Fähigkeiten entfalten zu können? Was tut der Kindergarten, um die sprachlichen Fähigkeiten der Kinder zu fördern? Warum können Kinder wie Kemal und Nihat ihre Sprache nicht gut entwickeln? Um diese Fragen zu beantworten, werde ich kurz auf die Sprachentwicklung mehrsprachiger Kinder eingehen. 3. Sprachentwicklung und Sprachförderung mehrsprachiger Kinder 3.1. Faktoren, die den Spracherwerb begünstigen Der Prozess des Spracherwerbs kann hier nur angedeutet werden 6 , ich versage mir entwicklungspsychologische und neurobiologische Ausführungen und hebe nur stichwortartig einige Faktoren hervor, die in unserem Zusammenhang interessieren, wenn wir fragen, was denn Erwachsene - Eltern, Erzieherinnen und andere Fachkräfte - tun können, um die sprachlichen Kompetenzen der Kinder zu unterstützen: • Kinder bringen die Ausstattung für den Erwerb von Sprache mit auf die Welt - alle Sinne und eine Art Matrix, die ihnen die Entschlüsselung von Sprache, die eigene Anwendung von Sprache und mit deren Hilfe die Entfaltung ihres Denkens erlaubt. • Kinder lernen durch Erfahrungen mit allen Sinnen, diese Erfahrungen beeinflussen auch das Erlernen von Sprache. • Kinder eignen sich Sprache durch das Anhören von Sprache und Selbersprechen an und erproben implizite Regeln - etwa Generalisierung und Differenzierung - auf der Grundlage ihrer jeweiligen Erkenntnisse. • Kinder sind aktive Lerner, Strukturierer und Entwickler; niemand kann Kindern das aktive Erarbeiten und Aneignen von Sprache abnehmen. Sprachentwicklung ist vor allem Selbstbildung. • Kinder haben je individuelle Lernstrategien, sie praktizieren etwa ganzheitliche oder detailbezogene Lernstile (Tracy 1996, Jampert 2002). Sie sind unterschiedliche Sprachpersönlichkeiten; es gibt z.B. kommunikative und 5 Für die Sprachstandserhebung entwickelte Miriam Lotz ein eigenes Verfahren, das aus mehreren Elementen (z.B. einer freien Unterhaltung, einer Bildgeschichte und unterschiedlichen Aufträgen) bestand und von Studentinnen und Studenten der Pädagogik, die die Familiensprache der Kinder als Muttersprache sprechen, durchgeführt und ausgewertet wurde. 6 Genauer s. dazu Meisel und Tracy (in diesem Band). Sprachförderung mehrsprachiger Kinder im Kindergarten 15 sprachlich zurückhaltende Kinder. Manchen Kindern fällt es leicht, sich Sprache anzueignen, anderen fällt es schwerer. • Es gibt geschlechtsspezifische Differenzen: Mädchen lernen im Allgemeinen Sprache(n) etwas leichter als Jungen. • Die Kinder sind als aktive „Aneigner von Sprache“ die Hauptpersonen, die sich die Sprache mit Hilfe quasi interner Faktoren aneignen. Dazu brauchen sie zum einen Rahmenbedingungen, die die Erwachsenen gestalten, zum anderen brauchen sie die direkte sprachliche Kommunikation mit Sprachvorbildern, deren Qualität das Sprachniveau der Kinder wesentlich beeinflusst. • Die Reichhaltigkeit und Differenziertheit der Sprache derer, die mit dem Kind umgehen, wirkt sich positiv auf die Struktur der kindlichen Sprache aus. Das gilt sowohl für die Kommunikation mit Erwachsenen als auch mit anderen Kindern. • Die Erwachsenen (und älteren Kinder) können das Niveau ihres Sprechens mehr oder weniger genau auf die jeweiligen Fähigkeiten der Kinder abstimmen; durch die „Input-Sprache“ fördern sie Sprachwahrnehmung und Sprachverstehen. • Es ist für Kinder unverzichtbar, eine vertraute, emotional positiv besetzte Bezugsperson zu haben, die auf die Belange des Kindes eingeht. Die Kinder hören dieser Person dann intensiv zu und sprechen mit ihr über das, was sie wirklich bewegt. • Es ist wichtig, dass durch Sprache etwas Relevantes vermittelt wird, dass bedeutsame Erfahrungen und Gefühle ausgedrückt und Interessantes und Herausforderndes, auch Vergangenes und Entferntes, berichtet werden. Die Bedeutung der Erwachsenensprache zeigt sich in der frühen Interaktion besonders deutlich. In der Entwicklung unterscheidet z.B. Grimm (1999, 39ff.) verschiedene Phasen sinnvoller Unterstützung des kindlichen Spracherwerbs: die „Ammensprache“ während der Säuglingszeit, dann bei den Einjährigen die „stützende Sprache“, deren sprachliche Rituale Bruner (1987) als „Formate“ analysiert, und in der Folgezeit die „lehrende Sprache“, die allmählich komplexer werdende Sprache mit korrektivem Feedback. Es ist also deutlich, dass es nicht darum geht, Kinder mit beliebiger Sprache zu konfrontieren, sondern dass das Sprechen mit dem Kind - vor allem in den ersten Jahren - besondere Kriterien erfüllen muss: Der sprachliche Input muss auf den Entwicklungsstand abgestimmt sein, die Erwachsenen müssen emotional vertraut sein und für das Kind bedeutsame Dinge in einer reichhaltigen und differenzierten Sprache vermitteln. Das Kind erwirbt prosodische, grammatische und pragmatische Kompetenzen auf der Grundlage von Sinneserfahrungen, durch Zuhören und durch Sprechen. Sprache bedarf der einfühlsamen Unterstützung und der intensiven Beziehungen (Kolonko 1996, Jampert 2002). Nur durch die aktive Auseinandersetzung des Kindes mit dem sprachlichen Angebot seiner Umgebung kann der „Input zum Intake“ werden (Grimm 1999). Wir können davon ausgehen, dass die vier Kinder, die ich oben vorgestellt habe, sehr unterschiedliche Bedingungen für ihren frühen Spracherwerb hatten. Maria Renate Thiersch 16 Laura und Celestina hatten Eltern, die sich sehr um die Kinder und auch um ihren Spracherwerb bemüht haben. Bei Kemal und bei Nihat waren die Eltern schon um des Überlebens der Familie willen sehr mit anderen Dingen beschäftigt; sie konnten die Jungen kaum in ihren sprachlichen Fähigkeiten fördern. 3.2. Aspekte des mehrsprachigen Spracherwerbs Alle Beobachtungen und Untersuchungen zeigen, dass Kinder mehrere Sprachen lernen können, sowohl simultan, d.h. von früh an nebeneinander, als auch sukzessiv. Maria Laura hat simultan Rumänisch und Deutsch als zwei Familiensprachen gelernt, Celestina Spanisch und Englisch. Kemal und Nihat haben Türkisch und Deutsch sukzessiv erlernt, das Türkische als Familiensprache war die Erstsprache, dann trat das Deutsche als Umgebungssprache hinzu. Celestina lernt Deutsch als dritte Sprache sukzessiv. Kinder lernen bei sukzessivem Spracherwerb die zweite Sprache im Prinzip nicht anders als sie die erste Sprache gelernt haben, also vermittelt durch Bezugspersonen, die diese Sprachen sprechen, unterstützt durch die aufgeführten Formen des sprachlichen Inputs, aus dem sie dann allmählich die Strukturen der Sprache entnehmen. Sie eignen sich im Lauf der Zeit Phonetik, Lexik, Grammatik, Syntax und Semantik der Sprache(n) an. Wie Felix (1978) zeigte, vollziehen die Kinder dabei allerdings nicht die Sprachentwicklung der Kleinstkinder im Erstspracherwerb nach, sondern entfalten sie nach eigenen, individuell variierten Strukturgesetzen. Anfangs kommen noch häufig Code-Switching, Code-Mixing oder Borrowing vor, besonders um Defizite in einer Sprache durch die andere auszugleichen (vgl. Anstatt / Dieser in diesem Band). Später wird z.T. auch sehr virtuos mit den Sprachen umgegangen: Kindern wechseln von einer Sprache in die andere, z.B. von ihrer Muttersprache in die Umgebungssprache, wenn eine Person dazukommt, die die Muttersprache nicht versteht, oder sie übersetzen zwischen den Beteiligten. Mehrsprachige Kinder haben oft viel Spaß am Jonglieren mit den Sprachen, an Sprachmischungen und Analogiebildungen, an Übernahmen und Zitaten aus der einen Sprache in die andere. Kinder erwerben durch das Erlernen von zwei oder mehreren Sprachen metasprachliche Kompetenzen, die ihnen im Umgang mit Sprachen zugute kommt. Allerdings gelingt es nicht allen Kindern, zwei Sprachen auf hohem Niveau zu entfalten oder sie so getrennt zu halten, dass sie die Grammatik in jeder Sprache angemessen beherrschen. Der Sprachforscher Ronjat (zit. nach Jeuk 2003) leitete aus Beobachtungen seiner eigenen Kinder ab, dass beide Sprachen vor allem dann gut gelernt werden, wenn beim Vermitteln der Grundsatz „une personne, une langue“ befolgt wird, wenn also z.B. Vater und Mutter konsequent je ihre Sprache mit dem Kind sprechen. Jampert (2002) betont gegenwärtig, dass er in dieser strikten Form nicht unbedingt notwendig und auch oft nicht realisierbar sei, dass aber bestimmte Regeln für den Umgang mit beiden Sprachen - z.B. bestimmte Räume, bestimmte Situationen für jeweils eine bestimmte Sprache zu reservieren - wichtig sind. Das bedeutet, dass Kinder und die Erzieherinnen im Kindergarten - auch - ihre Familiensprachen sprechen dürfen. Allerdings muss es klare Absprachen über die Sprachennutzung geben, und es muss ebenso klar sein, dass Verkehrssprache für alle deutsch ist und dass die Kinder die deutsche Sprache auf möglichst hohem Niveau erwerben sollen. Wie wir oben sahen, gibt es Kinder, die ernsthafte Schwierigkeiten haben, im Kindergarten die Zweitsprache Deutsch zu erlernen. Dann ist es sinnvoll, den Stand Sprachförderung mehrsprachiger Kinder im Kindergarten 17 der Erstsprache mit muttersprachlichen Sprachstandserhebungen genauer zu betrachten. Falls das Niveau in der Erstsprache hoch ist, müssen sich die Erzieherinnen fragen, was diese Kinder hindert Deutsch zu lernen: Vielleicht gibt es emotionale Hindernisse, etwa wenn das Kind sich im Kindergarten nicht angenommen fühlt. Vielleicht will die Familie nicht in Deutschland bleiben und signalisiert dem Kind, dass die Eltern gar nicht wollen, dass es Deutsch lernt. Vielleicht sind aber auch die Sprachfördermethoden des Kindergartens ganz allgemein oder speziell für dieses Kind unzureichend. Falls auch in der Familiensprache erhebliche Defizite bestehen, dann werden diese Defizite in der Erstsprache das Erlernen der Zweitsprache beeinträchtigen. Denn Kinder entfalten ihre Sprache in den ersten (drei) Jahren, in dieser Zeit wird das Fundament gelegt, auf dem sich das Spätere aufbaut und sich weiter ausdifferenziert. Wenn also die Erstsprache nicht differenziert erworben wird, fehlt die Basis für einen angemessenen Erwerb der Zweitsprache. Damit wirken sich die Defizite in der Erstsprache kumulierend negativ auf den Erwerb des Deutschen aus. Die Schwierigkeiten von Kemal und Nihat beim Deutschlernen sind eigentlich Ergebnisse des unzureichenden Erstspracherwerbs, so dass sie nicht primär als Probleme der Zweisprachigkeit dieser Kinder aufgefasst werden sollten. Die Gründe für die Schwierigkeiten im Erstspracherwerb sind bei beiden Jungen unterschiedlich: Bei Kemal haben die Eltern einfach sehr wenig Zeit, außerdem haben sie eine leichte Schwerhörigkeit des Kindes ignoriert, die inzwischen medizinisch behandelt werden konnte. Durch diese Behandlung verbesserte sich seine Sprachentwicklung aber nicht so deutlich wie gehofft. 7 Bei Nihat ist die emotionale Anspannung der Eltern durch ihre Fluchterfahrungen und ihren ungeklärten Aufenthaltsstatus in Deutschland sehr groß. Sie sind nicht in der Lage, sich dem Jungen in der notwendigen pädagogischen Sorgfalt zuzuwenden und ihm einen stabilen häuslichen Rahmen zu geben. Die Ansatzpunkte für die Förderung beider Kinder sind aber prinzipiell ähnlich: Es gilt, bei den Eltern das Verständnis für die Situation und die Bedürfnisse der Kinder zu fördern, damit sie ihnen in der Familie mehr Aufmerksamkeit zuteil werden lassen und die Kinder in ihrer allgemeinen und sprachlichen Entwicklung gefördert werden. Dabei ist es wichtig, dass die Eltern besonders zu Anfang mit den Kindern in der Sprache sprechen, die sie selbst am besten beherrschen und in der sie auch all die emotionalen Dinge sagen können, die Eltern zu ihren Kleinkindern sagen. Keinem Kind ist damit gedient, dass die Eltern mit ihm in einer Sprache sprechen, deren Wortschatz und Grammatik sie selbst nicht beherrschen. Deshalb ist die Forderung, dass die Eltern mit ihren Kindern zuhause doch deutsch sprechen sollten, nur dann berechtigt, wenn die Eltern selbst gut Deutsch können. In allen anderen Fällen ist dieser Ratschlag kontraproduktiv. Natürlich hat auch der Kindergarten die Aufgabe, in seiner eigenen Arbeit und in Kooperation mit Fördermaßnahmen durch intensive und fachliche Sprachförderung den Kindern beim grundlegenden Aufbau ihrer sprachlichen Fähigkeiten zu helfen, wenn die Familie das nicht leisten konnte. Angesichts der Überlegungen zur Bedeutung der Erstsprache kann man annehmen, dass sehr junge Kinder im Kindergarten auch in der Muttersprache gefördert werden können, um ein stabiles Fundament in der Erstsprache zu erreichen. Das ist allerdings angesichts der Vielzahl von Sprachen in Kindertageseinrichtungen kaum leistbar. Deshalb ist es von größter Bedeu- 7 Die Sprachentwicklung besserte sich nach dem Einsetzen der Röhrchen zwar etwas, aber nicht so rapide wie bei einem gleichaltrigen Mädchen mit den gleichen medizinischen Problemen. Renate Thiersch 18 tung, die Eltern für die Förderung des Erstspracherwerbs zu gewinnen, damit sie die Kinder besser unterstützen können. Die Kindertageseinrichtung kann den Spracherwerb vornehmlich in der Zweitsprache fördern, hier ist dann - vor allem bei etwas älteren Kindern - eine besonders intensive, strukturierte und fachlich ausgewiesene Arbeit wichtig. Die Förderung in der Muttersprache hat neben dieser Dimension - der Grundlegung einer differenzierten Erstsprache - auch ganz andere Effekte, nämlich die Ermöglichung der Kommunikation mit den Verwandten im Heimatland der Eltern einerseits und die Qualifizierung für eine spätere Verwendung etwa in Studium und Beruf andererseits. Diesen Aspekt betont vor allem Gogolin (1994), die unterstreicht, dass die Kinder in ihrer Familiensprache auch alphabetisiert werden müssen, wenn diese Sprache auf höherem Niveau entwickelt werden soll. Das erfordert eine systematische Sprachförderung und Lesen- und Schreiben-Lernen in der Muttersprache, die bei uns bisher wenig gefördert werden. Angemerkt werden soll schließlich noch, dass Kinder eine Sprache, die sie einmal gelernt haben, nicht für immer zur Verfügung haben, sondern dass nur der Gebrauch sie lebendig erhält. Kinder können die Sprache, die sie in den ersten Jahren gesprochen haben, komplett verlernen, wenn sie keine Gelegenheit haben, sie anzuwenden. In der Regel ist immer diejenige Sprache, die häufiger und elaborierter benutzt wird, die stärkere. Die Sprache, die weniger genutzt wird, wird zur schwächeren Sprache, sie verblasst und kann schließlich kaum noch reaktiviert werden. 3.3. Kontextunabhängige Sprache und Literacy In den 70er und 80er Jahren, also in den Anfängen der Arbeit mit mehrsprachigen Kindern, waren Erzieherinnen häufig durchaus zufrieden, wenn die Kinder sich verständigen konnten, wenn sie einen Grundwortschatz hatten und kurze, einfache Sätze sprechen und verstehen konnten. Die Kinder waren durch eine solche kontextabhängige Sprache auf den Bereich der unmittelbaren Verständigung beschränkt, die sich durch Gestik und Mimik, durch Kenntnis der situativen Bedingungen und alltägliche Routinen erschließt. Inzwischen, und vor allem im Zusammenhang mit der Bildungsdebatte, ist deutlich, dass eine solche sprachliche Kompetenz nicht ausreicht. Wichtig ist auch die kontextunabhängige Sprache, die es den Kindern erlaubt, erzählte Geschichten zu verstehen und selbst zu erzählen. Diese Sprache ermöglicht es Kindern erst, differenzierte Sachverhalte zu verstehen, sich Wissen anzueignen und Interessen weiterzuverfolgen. Diese Sprache ist auch notwendig, um eigene Überlegungen und Erfahrungen darzustellen. Kinder können ihre Schlussfolgerungen nur formulieren, wenn sie etwa „wenn - dann“-Beziehungen ausdrücken können. Eine andere Ebene erschließt sich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass sich Kinder für die Grundelemente der Symbolverwendung und der Schrift interessieren und dass man sie dafür interessieren sollte, weil geschriebene Sprache und Symbolverständnis in unserer Gesellschaft einen sehr hohen Stellenwert in allen Lebensbereichen hat. Wehrte der Kindergarten solche Interessen früher eher ab, so nimmt er sie gegenwärtig ernst und fördert das Interesse der Kinder durch die Verwendung von Zahlen und Buchstaben im Alltag des Kindergartens. Dem Umgang mit Symbolen und geschriebener Sprache wird gegenwärtig unter dem Begriff Literacy- Erziehung ein hoher Stellenwert beigemessen. Damit sind Angebote für alle Kinder gemeint, sich kompetent mit Symbolen, Buchstaben und Zahlen auseinanderzu- Sprachförderung mehrsprachiger Kinder im Kindergarten 19 setzen. Der Kindergarten will - auch im Sinne eines guten Übergangs in die Schule - zur Schrift hinführen. Er sieht sich zuständig für das Interesse der Kinder an Buchstaben und Zahlen, Lesen und Schreiben aber sollten die Kinder nach wie vor in der Schule lernen. Nach allem, was ich bis jetzt über den Spracherwerb gesagt habe, ist nachvollziehbar, dass der Spracherwerb ein sehr zentrales Element der kindlichen Bildung ist. Bei der Förderung der sprachlichen Kompetenzen der Kinder geht es nicht um das Üben einzelner Elemente und Fähigkeiten, sondern es geht um sehr komplexe, für das Kind elementar wichtige Prozesse, an denen es aktiv beteiligt ist. Ich werde deshalb wie Jampert u.a. (2005) den Begriff „sprachliche Bildung“ dem Begriff der Sprachförderung zur Seite stellen. 4. Sprachliche Bildung im Kindergarten Wie mehrsprachige Kinder in Deutschland im Kindergarten in ihrem Spracherwerb gefördert werden, soll im Folgenden genauer betrachtet werden. Mein Anliegen ist vor allem deutlich zu machen, was der Kindergarten als Lebenswelt in seiner Gesamtheit an sprachlicher Bildung leistet und was die Erzieherinnen in diesem Bereich tun. Ich konstruiere auf Grund verschiedener Erfahrungen, u.a. im Projekt „Interkultureller Kindergarten Eugenstraße“, ein Panorama, in das ich auch - eher knapp - die Projekte und Programme 8 zur Sprachförderung im Kindergarten einbeziehe. Ich frage also nicht primär nach einzelnen Aktionen, die mit den Kindern unternommen werden, sondern untersuche die allgemeinen Zugänge zu sprachlicher Bildung im Kindergarten, die Atmosphäre im Alltag und die Verhaltensweisen der Erzieherinnen. Sprachliche Bildung hat eine eigene Tradition im Kindergarten mit Fingerspielen und Spielliedern, mit Rollenspielen, mit Kinderreimen, Bilderbüchern und Geschichten. Diese Sprachförderung war zunächst an den Bedürfnissen monolingual deutschsprachiger Kinder orientiert. Im Zusammenhang des Bildungsthemas hat sie aber einen ganz neuen Stellenwert erhalten und in der interkulturellen Erziehung der letzten Jahre ist die Förderung mehrsprachiger Kinder zur neuen Herausforderung geworden. Oben wurde skizziert, dass kleine Kinder Sprache durch Hören und Sprechen auf der Grundlage von Erfahrungen lernen, gestützt durch emotionale Beziehungen und in Hinblick auf die Bedeutung des Erfahrenen. Das Wirkungsgeflecht dieser Faktoren kann man auch auf den Kindergarten übertragen. Ich bestimme auf Grund der oben beschriebenen Faktoren acht Bereiche der Sprachförderung im Kindergartenalltag. 4.1. Gute Arbeit im Kindergarten als Basis Ganz allgemein lassen sich aus den Überlegungen zum Spracherwerb Basis-Elemente ableiten, die jeder spezifischen sprachlichen Bildung zugrunde liegen sollten und die insgesamt für eine gute Kindergartenarbeit entscheidend sind. Dazu zählt vor allem die individuelle Beziehung zwischen Erzieherin und Kind und das Auf- 8 Vgl. dazu ausführlich Jampert u.a. (2005) Renate Thiersch 20 greifen der Themen der Kinder sowie deren Partizipation bei der Gestaltung des Kindergartenlebens. Im Kontext einer positiven emotionalen Beziehung ist Sprachförderung mit besonderer Intensität möglich, hier kann die Bindungsbeziehung für die Weiterentwicklung der sprachlichen Fähigkeiten genutzt werden. Die Forderung nach einer tragfähigen emotionalen Beziehung zu mindestens einer Fachkraft bedeutet, dass für jedes Kind eine Person als emotionale Basis verfügbar ist, z.B. jemand, der es trösten kann, wenn es traurig oder unglücklich ist. Das ist gegenwärtig leider nicht selbstverständlich, und vor allem kann es nicht für externe Sprachförderkräfte vorausgesetzt werden. Besonders in Baden-Württemberg wird Sprachförderung häufig mit Hilfe solcher externen Kräfte durchgeführt, etwa im Denkendorfer Modell, im Fördermodell der Landesstiftung Baden-Württemberg oder im Projekt „Schulreifes Kind“ (mit Fördermaßnahmen für die „Vorschulkinder“ in der Schule). Solche Form der Sprachförderung ist mit deutlicher Skepsis zu betrachten. I. Gute Arbeit im Kindergarten als Basis • Emotionale Beziehungen zu jedem einzelnen Kind aufbauen Auf jedes einzelne Kind achten, sich ihm emotional zuwenden, seine Bedürfnisse und Interessen wahrnehmen • Ansprechen aller Sinne, vielfältige Tätigkeiten, Bewegung Beispiel: Kochen, Backen, Bauen, Kneten usw.; jeden Tag nach draußen gehen • Die Themen der Kinder aufgreifen z.B. Jungenthemen, auch bedeutsame Erfahrungen • Partizipation der Kinder in klaren Strukturen realisieren Kinderrunden, Mitsprache und Mitgestaltung • Experimentier- und Technik-Bereiche Beispiel: Mechanik-Spielzeug zusammenbauen und zerlegen; Tiere, Pflanzen, Naturereignisse beobachten, messen, vergleichen, dokumentieren Die externen Kräfte brauchen eine gewisse Zeit, bis sie eine Beziehung zu (hoffentlich) jedem Kind der Sprachfördergruppe aufgebaut haben, und nach einer Zeit intensiver sprachlicher Nähe gehen diese Personen dann wieder weg. Unter bindungstheoretischen Gesichtspunkten erscheint dieser Zugang - sowohl für schüchterne, sensible und in der Familie zu kurz gekommene Kinder wie auch für aggressive Kinder - problematisch, zumal die externen Kräfte nicht im Team und im Alltag des Kindergartens integriert sind. Stattdessen empfiehlt sich ein anderes Modell, das in Stuttgart bereits praktiziert wird: Hier werden Erzieherinnen der Gruppe, die besonders für die Sprachförderung qualifiziert worden sind, für die intensive Sprachförderung freigestellt, und zu ihrer Entlastung arbeiten Zusatzkräfte in der Gruppe, die die übrigen Kinder beim Freispiel begleiten oder besondere Angebote machen. Diese Sprachförderung, die in Zusammenhang mit dem Fördermodell von Rosemarie Tracy (2003) in Mannheim entwickelt wird, richtet sich im Gegensatz zu den üblichen Sprachfördermaßnahmen nicht an ältere Kinder, sondern an die Dreijährigen. Die intensive Arbeit mit den Kleinen kann bewirken, dass sie, weil sie bald fast alles verstehen und sich ausdrücken können, in der Folgezeit selbstständig von Sprachförderung mehrsprachiger Kinder im Kindergarten 21 der allgemeinen sprachfördernden Arbeit des Kindergartens profitieren. Ein solcher Zugang bedeutet, dass sich die Bindung, die in der Eingewöhnungszeit zwischen Erzieherin und Kind entsteht, förderlich auf die Sprachentwicklung auswirken kann. Mit einer solchen Form der frühen internen Sprachförderung wäre eine grundsätzliche Änderung der Sprachförderpolitik verbunden! 4.2. Sprachliche Bildung durch die Erzieherin im Alltag Ein großer Teil der sprachlichen Bildung findet in den alltäglichen Gesprächen im Freispiel oder während der Mahlzeiten statt. Vielen Erzieherinnen ist nicht bewusst, wie wichtig ihr Sprachverhalten für die Sprachentwicklung der Kinder ist. Hier sind ein aufmerksamer Umgang mit der eigenen Sprache, die Fähigkeit zur Selbstreflexion und die Bereitschaft zu intensiver Kommunikation mit korrektivem Feedback wichtig. Die Erzieherinnen müssen ihre Input-Sprache sorgsam reflektieren und etwa auch den Dialekt einschränken, um Kindern mit nicht-deutscher Familiensprache einen besseren Zugang zur deutschen Sprache zu ermöglichen. II. Sprachliche Bildung durch die Erzieherin im Alltag • Die eigene Sprache bewusst einsetzen und sich als Sprachvorbild verstehen Wertschätzender sprachlicher Umgang, Reduktion der Befehle Genaues, aber nicht seelenloses Sprechen in ganzen Sätzen beim alltäglichen Umgang Dialekt kontrollieren, auch Hochsprache einsetzen • Entwickelnde Gesprächsführung mit Kindern Gespräche mit Kindern so führen, dass sie Gelegenheit haben, ihre Erfahrungen und Gefühle auszudrücken • Kommunikation mit erweiterter Sprachwiederholung (korrektives Feedback) Kind: Ich das spielt. Erzieherin: Ja, du hast das Memory gespielt. 4.3. Sprachliche Bildung in der Peer-Kommunikation: Gesprächsanlässe schaffen Die bisherigen Überlegungen waren völlig auf die sprachfördernde Einwirkung der Erzieherinnen konzentriert. Jetzt soll die Bedeutung der Kommunikation der Kinder untereinander betrachtet werden: Kinder wollen miteinander spielen und sie wollen sich unterhalten, die Peers sind als Kommunikationspartner sehr bedeutsam. Kinder sind motiviert, die deutsche Sprache zu lernen, damit sie sich mit ihren Freunden und Spielkameraden verständigen können. Damit Spielkameraden zu Freunden werden können, ist ein gewisses Maß an sprachlicher Verständigung nötig. Dieses Argument gilt so allerdings nur für multilinguale Einrichtungen mit Kindern vieler verschiedener Familiensprachen; hier ist der Anreiz, mit den anderen Kindern deutsch zu sprechen, sehr hoch. In bilingualen Einrichtungen, in denen nur zwei Familiensprachen vorhanden sind (Deutsch und Türkisch in Berlin-Kreuzberg, Deutsch und Italienisch in Südtirol), ist die Ausgangslage anders. Hier können die Kinder untereinander in ihrer Familiensprache sprechen, so dass das Deutschlernen Renate Thiersch 22 mit Kindern und Eltern als klare Zielvorgabe vereinbart werden muss. Andererseits können hier bilinguale Projekte entwickelt werden, von denen beide Gruppen profitieren, wenn sich die sprachpolitische Situation dazu anbietet. III. Sprachliche Bildung in der Peer-Kommunikation: Gesprächsanlässe schaffen • Gestaltung eines Rollenspielbereiches und Förderung von Rollenspielen Beispiel: Verkleidungsmöglichkeiten, auch mit Sachen aus dem Berufsleben, aus den Kulturen der Kinder • Pflege einer Kinderdiskussionskultur, etwa in Kinderrunden • Funktionierende Telefone, Kassettenrecorder • Schreibmaschinen, Computer Die Sprache der Kinder darf allerdings nicht überbewertet werden, vor allem nicht für die Entwicklung von kontextunabhängiger Sprache und von Literacy. Die Sprache der Kinder ist überwiegend kontextgebunden, sie ist oft nicht sehr elaboriert und andere Kinder sind als Sprachförderer nicht immer so feinfühlig wie es Erwachsene sein können. Die Peer-Kommunikation und die Erwachsenenkommunikation haben also unterschiedliche Funktionen. Die Förderung der Peer-Kommunikation bedeutet, Spielsituationen unter Kindern zu fördern und Gesprächsanlässe unter den Kindern zu schaffen. Häufig wird argumentiert, dass Einrichtungen mit vielen Migrantenkindern ungünstig für den Erwerb der deutschen Sprache sind, weil die Kinder voneinander nicht gut deutsch lernen können. Von manchen Verwaltungen wird deshalb vorgeschlagen, die nicht deutsch sprechenden Kinder mit Bussen in Einrichtungen mit überwiegend deutschsprachigen Kindern zu bringen. Diese Lösung erscheint mir problematisch, weil die Kinder aus ihren sozialen Zusammenhängen herausgerissen werden; die Integration in einer Einrichtung in einem anderen Stadtteil erfordert besondere Bemühungen. Zur Lösung des Problems könnte ein höherer Personalschlüssel beitragen, denn gerade bei jüngeren Kindern hat die Kommunikation mit den Erwachsenen einen hohen Stellenwert. Wenn zusätzliche Erzieherinnen mit den Kindern deutsch sprechen, können die Deutschkenntnisse der Kinder gut gefördert werden und die Kommunikation der Kinder untereinander gewinnt an Niveau. 4.4. Sprachförderung in den Angeboten des Kindergartens Die Angebote - in Form von Interessengruppen, Projekten oder Arbeitsgemeinschaften, aber auch in der gezielten Einzelförderung - bieten vielfältige Möglichkeiten, die sprachliche Bildung anzuregen. Dafür sind strukturierende Elemente wichtig, die sich sowohl in so genannten ganzheitlichen Sprachförderkonzepten wie in unterschiedlich stark strukturierten Programmen finden. Viele Erzieherinnen lagern ihre Sprachförderung in den Alltag ein und stimmen sie auf die situativen Bedingungen der Kinder und der Einrichtung ab. Andere setzen mehr oder weniger stark vorstrukturierte Elemente aus Sprachförderprogrammen ein wie etwa das Würzburger Trainingsprogramm zur Förderung der Phonologischen Bewusstheit (Küspert / Schneider 2002) oder Programme von Zvi Penner (2003). Ulich (2004) Sprachförderung mehrsprachiger Kinder im Kindergarten 23 vermittelt in ihrem Film „Lust auf Sprache“ hilfreiche Anregungen für die alltägliche Arbeit; Jampert u.a. (2005) geben einen umfassenden Überblick über die gegenwärtige Vielfalt an Programmen. Gerade diese Zusammenstellung macht aber auch deutlich, dass im Bereich der konkreten Sprachförderdidaktik des Kindergartens noch einiges an vergleichender Evaluation zu leisten ist, um die Wirkungsweise der verschiedenen Zugänge abzuklären, die zurzeit oft eher als Meinungsstreit ausgetragen werden. Dabei sollten die unterschiedlichen Lernstile, Vorerfahrungen und evtl. persönliche Belastungen der Kinder berücksichtigt werden. Die Erzieherinnen brauchen für die Sprachförderung eine gründliche Unterstützung in Form von intensiver Fortbildung, die linguistische und entwicklungspsychologische Kenntnisse einschließt und didaktische Bausteine entwickelt, sie brauchen auch vorgefertigte Materialien, die ihnen die Strukturierung der Arbeit erleichtern. Die Hinführung zum Verständnis von Zeichen und Symbolen und zur Schrift wird in vielen Kindergärten praktiziert. Der Kindergarten weiß sich - spätestens seit den Bildungsplänen (z.B. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport 2006) - zuständig für die Interessen der Kinder für Buchstaben und Zahlen. Einen besonderen Stellenwert hat die Arbeit mit Zeichen, Symbolen und Schrift im Infans-Konzept (Laewen 2002), in der sie Teil eines entschiedenen Bildungskonzepts ist, auf das hier allerdings nur hingewiesen werden kann. IV. Sprachförderung in den Angeboten des Kindergartens • Sprachspiele in Klein- und Großgruppe Beispiel: Fingerspiele zur Sprachanreicherung und zur Koordination von Sprache und Bewegung Singen, gemeinsames Sprechen, Silben klatschen Reime, Verse, Gedichte • Vorlesen; dialogisches Lesen Beispiel: Vorlesen eines thematisch interessanten Buches mit einer kleinen Gruppe und mit den Kindern darüber sprechen • Vorlesen von Texten Märchen, Geschichten und Bücher (in Hochsprache! ) • Leseecke Ein Angebot zur selbstständigen Beschäftigung mit Büchern • Geschichten-Diktat Beispiel: die Erzieherin notiert eine Geschichte oder eine Beobachtung, die das Kind erzählt. Sie erarbeitet dabei mit dem Kind einen „Text“ • Verwendung von Symbolen, Zeichen und Buchstaben im Alltag des Kindergartens Beispiel: Treppenstufen mit Ziffern bekleben, Namensschilder und Symbole zur Kennzeichnung verwenden Renate Thiersch 24 4.5. Sprachstandserhebungen Spracherwerb ist ein individueller Prozesss, in dem die Kinder jeweils auf ihre spezifischen Lernprozesse bezogen unterstützt werden müssen. Dazu braucht es Beobachtung, Dokumentation dieser Beobachtung und Auswertung im Hinblick auf Fördermöglichkeiten. Ein wichtiges Element in diesem Prozess ist die Sprachstandserhebung. Sie erlaubt die Feststellung der Fortschritte jedes einzelnen Kindes, erfordert aber Zeit für Beobachtung, Auswertung und Entwurf eines Förderplanes, der auch im Team vermittelt und gemeinsam umgesetzt werden muss. Wichtig ist, dass der Aufwand für die Erhebung in einem vernünftigen Verhältnis zu den Fördermöglichkeiten steht. V. Sprachstandserhebungen • Allgemeine Beobachtungen der Kinder in Bezug auf verschiedene Dimensionen ihres Verhaltens • Standardisierte Sprachstandserhebungen, z.B. der SISMIK (Ulich / Mayr 2003), erlauben vergleichende Aussagen über die Fähigkeiten eines Migrantenkindes in der deutschen Sprache und sein Interesse an ihr • Ergänzend werden bei Bedarf muttersprachliche Sprachstandserhebungen durchgeführt • Sprachstandserhebungen werden auf differenzierte Fördermöglichkeiten hin ausgewertet 4.6. Akzeptanz und Repräsentation der Familiensprachen Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Reflexion des Stellenwertes der Familiensprachen: Der Umgang mit den Familiensprachen ist ein Signal der Akzeptanz von Kulturen und Sprachen der Migranten und damit wichtig zur Stärkung des Selbstwertgefühls der Kinder, aber auch der Eltern. Vielerorts ist es sehr wichtig, diesen Aspekt zu betonen, denn noch wird nicht selten gesagt: „Im Kindergarten sollen die Kinder doch deutsch lernen! “ Familiensprachen, so wird argumentiert, hätten hier keinen Platz, sie stünden dem Deutschlernen entgegen. Erfahrung und Befragungen zeigen dagegen, dass die Eltern die Arbeit im Kindergarten besser unterstützen, wenn sie sich von den Erzieherinnen als Person und in ihrer Familienkultur wertgeschätzt und akzeptiert fühlen. Bei aller Akzeptanz ist es aber immer wieder wichtig aufzuzeigen, wie die Kinder Sprachen lernen und was Eltern tun können, damit ihr Kind erfolgreich seine Familiensprache und das Deutsche lernen kann. Viele Eltern vertrauen der Mehrsprachigkeitseuphorie und stellen sich vor, dass ihr Kind ohne großen Aufwand mehrere Sprachen lernt. In Wirklichkeit nimmt ein Kind die Anstrengung, eine andere Sprache zu lernen, nur auf sich, wenn es sich etwas davon verspricht: Interaktion mit anderen Kindern, interessante Geschichten, Trost und Bestätigung durch die Erzieherin oder die Kommunikation mit den Großeltern oder mit Kindern der Familie. Im Zusammenhang der Peer-Kommunikation wurde bereits darauf hingewiesen, dass es in sprachlich homogenen Siedlungsgebieten von Migranten, etwa der Türken in Kreuzberg, sehr viel schwerer ist, Kinder zum Deutschlernen zu moti- Sprachförderung mehrsprachiger Kinder im Kindergarten 25 vieren als in mehrsprachigen Wohngebieten. Deshalb ist die Zusammenarbeit mit den Eltern, auch mit deren Vereinen und anderen Kulturträgern, zur Unterstützung der Lernprozesse sehr wichtig. Es müssen Zieldiskussionen geführt und die Chancen des Sprachenlernens aufgezeigt werden. VI. Akzeptanz und Repräsentation der Familiensprachen • Akzeptanz und Repräsentation der Familiensprachen Beispiel: Vielsprachiger Willkommensgruß im Kindergarten, Lieder, Reime und Zählen in den verschiedenen Sprachen der Kinder • Sprechen in den Familiensprachen, sowohl der Erzieherinnen mit den Kindern als auch der Kinder untereinander - aber natürlich ist Deutsch Kommunikationssprache Beispiel: Erzieherinnen sprechen mit kleinen Kindern, die noch kaum Deutsch können, in ihrer Familiensprache, um ihnen etwas zu erklären oder sie zu trösten, wenn sie unglücklich sind Es wird akzeptiert, dass Kinder der gleichen Familiensprache untereinander in bestimmten Situationen ihre Familiensprache sprechen 4.7. Zusammenarbeit mit den Eltern Die Einbeziehung der Eltern ist nicht nur für die sprachliche Bildung wichtig, aber in diesem Kontext ist sie besonders bedeutsam: Die Familie ist der erste Ort der Sprachförderung, die Eltern sind entscheidend für die Haltung gegenüber sprachlicher Bildung und auch gegenüber dem Erwerb des Deutschen. Dissonanzen zwischen Elternhaus und Kindergarten und Angst vor Identitätsverlust können das Kind in seiner sprachlichen Entwicklung hemmen, denn kleine Kinder sind emotional noch sehr an ihre Eltern gebunden und nehmen sensibel wahr, ob Eltern und Erzieherinnen einander akzeptieren oder nicht. Deshalb erschließt die erfolgreiche Zusammenarbeit mit den Eltern kostbare Ressourcen, die es zu nutzen gilt. VII. Zusammenarbeit mit den Eltern • Mit den Eltern über die sprachliche Praxis in der Familie und über ihre Vorstellungen von Sprachförderung sprechen, sie anregen zur Benutzung ihrer „starken“ Sprache(n) als Familiensprache(n) • Eltern Vorschläge zur Sprachpflege zuhause machen Beispiel: Vorlesen oder Geschichten erzählen; Eltern können (mehrsprachige) Bücher im Kindergarten und in der Schulbücherei ausleihen • Eltern kommen zum Vorlesen in ihrer Familiensprache oder zu anderen Aktivitäten mit den Kindern in den Kindergarten • Mit Eltern über den Stellenwert von Fernsehen sprechen Die Zusammenarbeit mit den Eltern ist auch deshalb so bedeutsam, weil sie für die zusätzliche Förderung der Kinder in sozialen Diensten wie Frühförderstellen, Erzie- Renate Thiersch 26 hungsberatungsstellen, bei Ergotherapeuten oder Logopäden notwendig ist. Im Kindergarten Eugenstraße wurde - trotz der zusätzlichen Förderung durch den Einsatz der Lehrerin - im Durchschnitt ein Viertel der Kinder durch solche externen Institutionen gefördert. Das fordert von den Erzieherinnen eine intensive Zusammenarbeit mit den Mitarbeiterinnen der entsprechenden Einrichtungen einerseits und mit den Eltern andererseits. 4.8. Kooperation mit der Grundschule Die Kooperation mit der Schule ist wichtig, um die Kontinuität der Förderung zu gewährleisten. Auch wenn die mehrsprachigen Kinder im Kindergarten so gut wie möglich im Deutschen gefördert werden, werden sie nur höchst selten zum Schulanfang die gleichen Kompetenzen wie einsprachig deutsche Kinder haben. Deshalb muss die Grundschule es als ihre Aufgabe ansehen, die sprachliche Bildung der Kinder fortzusetzen. Sprachliche Bildung muss als gemeinsamer Prozess von Eltern, Kindergarten und Schule verstanden werden. Dazu ist es nötig, dass der Übergang gut gestaltet und dass neue Formen der Zusammenarbeit entwickelt werden. Die Didaktik der Sprachförderung in Kindergarten und Schule muss enger aufeinander abgestimmt werden. VIII. Kooperation mit der Grundschule • Die Einschulungskooperation gut gestalten • Mit den Lehrerinnen an einem gemeinsamen, institutionenübergreifenden Sprachentwicklungskonzept arbeiten Sich über Vorstellungen von sprachlichen Kompetenzen und Sprachfördermöglichkeiten austauschen und gemeinsam Vorstellungen über die Förderung von Kindern in beiden Einrichtungen entwickeln • Formen der gegenseitigen Hospitation und Auswertung • Gemeinsam Fortbildungen entwickeln 5. Mehrsprachigkeit, Migration und Sprachenpolitik Maria Laura, Celestina, Kemal und Nihat geben ein Bild davon, wie unterschiedlich sich die Sprachkompetenz entwickeln kann. Der Verlauf ihrer sprachlichen Bildung steht in engem Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Situation der Kinder und ihrer Familien, aber auch der allgemeinen Situation von Migration und Sprachenpolitik in unserem Land. Bei fast allen Familien ist der Wunsch vorhanden, dass ihre Kinder gut deutsch lernen. Die Eltern von Maria Laura sprechen als Spätaussiedler selbst deutsch, sie möchten sich möglichst schnell in die deutsche Gesellschaft integrieren und sie sind deshalb sehr daran interessiert, dass Maria Laura Deutsch lernt. Bei den anderen Familien hat neben dem Deutschen auch die Familiensprache einen hohen Wert. Celestinas Familie wird wieder nach Argentinien zurückgehen und legt deshalb zuhause auch Wert auf Spanisch als spätere Schulsprache. Viele andere Migranten Sprachförderung mehrsprachiger Kinder im Kindergarten 27 leben mit einer nicht sehr realen Rückkehroption, die sie sich ständig offenhalten, obwohl sie tatsächlich ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben und vor allem die Kinder ihre Zukunft eindeutig in Deutschland sehen. Mit der Vorstellung von der baldigen Rückkehr werten sie den Stellenwert des Deutschlernens ab, fördern aber ihre Kinder nicht ernsthaft in der Familiensprache, so dass die Kinder dann weder Deutsch noch ihre Familiensprache sicher beherrschen und deshalb keine Chancen haben, die Schule in Deutschland oder im Heimatland der Eltern erfolgreich zu absolvieren. Nihats Eltern sind Flüchtlinge, ihnen ist der Bezug zur Herkunftskultur wichtig, weil sie immer noch hoffen, dass ihr Aufenthalt in Deutschland nur vorübergehend ist und sie später in ihre Heimat zurückkehren zu können. Allerdings ist es zurzeit für sie vordringlich, definitiv als Asylanten anerkannt zu werden und hier eine sichere Lebensperspektive zu gewinnen. Für Kemals Familie ist der Bezug zur Herkunftskultur durch die vielen Verwandten des Vaters, die hier leben, und durch die der Mutter, die in der Türkei leben, gegeben. Wenn die Kinder nicht mehr mit ihren mütterlichen Großeltern, den Tanten und Cousins in der Türkei sprechen könnten, würde das die Eltern sehr betrüben. Die Religion spielt für diese Familie ebenfalls eine große Rolle. Deshalb hat die Familie den Wunsch, die Familiensprache bei ihren Kindern lebendig zu erhalten. Für sie steht die Familiensprache neben dem Deutschen, auch wenn sie nicht über ein klares Konzept einer mehrsprachigen Erziehung verfügen. Die Fallgeschichten standen hier pars pro toto, sie müssen verallgemeinert werden. In unserem Land wächst etwa ein Drittel der Kinder in Familien auf, die einen mehr oder weniger starken Migrationshintergrund haben. Viele dieser Familien leben erst kurz in unserem Land (Flüchtlinge wie Nihats Eltern, Bildungsmigranten wie Celestinas), andere sind bereits in der zweiten oder dritten Generation hier (wie Kemals Familie). Insgesamt haben Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland sehr unterschiedliche Lebensbedingungen, viele sind von unsicheren Lebensperspektiven und von Unterschichtung betroffen: Die Migranten werden in unserer Gesellschaft beruflich und in Bezug auf den sozialen Status oft weit unterhalb ihrer im Herkunftsland erworbenen Qualifikationen und unterhalb der deutschen Bevölkerung platziert. Wenn über Probleme von Migranten gesprochen wird, werden häufig kulturelle Differenzen diskutiert, obwohl es sich eigentlich um soziale Faktoren handelt. Insbesondere Franz Hamburger (2005) weist immer wieder auf die Bedeutung der sozialen Unterschiede hin: Nicht Migrantenkinder, nicht mehrsprachige Kinder sind benachteiligt, sondern Kinder von Migranten aus unteren sozialen Schichten, mit geringen Ressourcen, mit unsicherer Lebensperspektive, aus bildungsfernem Milieu. Die Diskussion über Sprachförderung in Deutschland verengt die überwiegend sozialen Unterschiede auf fehlende Sprachkompetenzen, eigentlich auf die ungenügende Beherrschung der deutschen Sprache. Mehrsprachigkeit ist für Deutschland eine relativ neue Erscheinung. Deutschland verstand sich - ebenso wie andere europäische Staaten - als Nationalstaat, pflegte seine Landessprache, nannte sie „Muttersprache“ und grenzte das Fremde aus. Die europäische Geschichte ist - auch - eine Geschichte der Auseinandersetzung um Sprachen, um die Einführung von Herrschaftssprachen und um das Recht der Einwohner, ihre Muttersprache zu sprechen. Solche Auseinandersetzungen haben sich z.B. im Elsass um den Gebrauch der französischen und der deutschen Sprache abgespielt, in den ehemaligen deutschen Ost- Renate Thiersch 28 gebieten um den Gebrauch der tschechischen bzw. der polnischen und der deutschen Sprache, in Südtirol um Deutsch und Italienisch und in den baltischen Staaten um Russisch und Estnisch, Lettisch oder Litauisch. Bis in unsere jüngste Vergangenheit hat es in Europa unfriedliche Auseinandersetzungen um Sprachen gegeben: den Streit um Baskisch und Katalán in Spanien oder den Sprachenstreit in Belgien. Wenn wir gegenwärtig über Sprachförderung sprechen, blenden wir weitgehend aus, dass Sprachenlernen mit Sprachenpolitik zu tun hat. Deutschland, das sich bisher nicht als Einwanderungsland verstand, verteidigt gegenwärtig im Sprachenstreit immer auch seinen monolingualen Habitus. In bestimmten gesellschaftlichen Segmenten (in globalisierten Bereichen der Wirtschaft, der Wissenschaft, in der Pop-Musik ebenso wie in den Orchestern in aller Welt) ist Mehrsprachigkeit selbstverständlich. In einer globalisierten Welt sind Sprachkompetenzen notwendig, in allen Bildungskonzepten wird gefordert, dass Kinder mehrere Sprachen erlernen. Die Akzeptanz von Mehrsprachigkeit bezieht sich aber vor allem auf (europäische) Fremdsprachen, allen voran Englisch als Lingua Franca der globalisierten Welt. Die Förderpolitik der EU unterstützt die Tendenz zur Mehrsprachigkeit: Die Sprachenrichtlinie der EU fordert, dass jedes Kind seine Muttersprache und zwei weitere Sprachen lernen soll. Die Richtlinie legt zwar das Hauptgewicht auf den Erwerb von Fremdsprachen, aber sie akzentuiert auch das Recht der Migranten auf ihre Muttersprache. 6. Was kann der Kindergarten für die sprachliche Bildung mehrsprachiger Kinder leisten? Ich habe die sprachliche Bildung im Kindergarten als komplexes Geschehen in den Alltagsvollzügen und im weiteren Rahmen der Kooperationen mit Eltern und Grundschule dargestellt. Implizit gehe ich von der Annahme aus, dass es nicht einzelne isolierte Maßnahmen sind, die den Kindern sprachliche Bildung vermitteln, sondern dass die Gesamtheit der pädagogischen Arbeit wirksam ist, zu der gute Kindergartenarbeit ebenso gehört wie einfühlsame Kommunikation, gut strukturierte Angebote und die Zusammenarbeit mit den Eltern. Ich gehe weiter davon aus, dass Erzieherinnen gegenwärtig für Probleme der sprachlichen Bildung deutlich stärker sensibilisiert sind, als das in den letzten Jahren der Fall war. Allerdings arbeiten die Erzieherinnen oft unter ungünstigen Rahmenbedingungen, wenn jede Fachkraft mindestens 12 bis 14 Kinder bilden, erziehen und betreuen muss, wenn die Aufgabenstellung sehr komplex ist und oft unter schwierigen räumlichen und organisatorischen Bedingungen gearbeitet werden muss. Es wäre zu hoffen, dass durch bessere Arbeitsmöglichkeiten in Kindergärten (Fortbildungen, Verbesserungen der Rahmenbedingungen und der Ausbildung) die Grundlagen dafür gelegt werden, dass mehrsprachige Schüler in Deutschland keine größeren Schwierigkeiten in ihrer schulischen Karriere haben als einsprachig deutsche. Daran muss auch die Grundschule durch spezifische Sprachförderung weiterarbeiten, sie kann nicht generell davon ausgehen, dass mehrsprachige Kinder zu Schulbeginn dieselben Fähigkeiten erworben haben wie monolingual deutschsprachige. Die oben ausgeführten Überlegungen ergeben über die allgemein diskutierten Maßnahmen hinaus Ansatzpunkte zur Veränderung der sprachlichen Bildung mehr- Sprachförderung mehrsprachiger Kinder im Kindergarten 29 sprachiger Kinder: Die Sprachförderung müsste bereits in der Anfangszeit im Kindergarten beginnen und dazu führen, dass sich die Kinder grundlegende sprachliche Fähigkeiten aneignen. So könnten sie in der Folgezeit bereits an den Bildungsangeboten des Kindergartens teilhaben und selbstständig ihre sprachlichen Fähigkeiten, ebenso wie die Fähigkeiten in vielen anderen Bereichen, erweitern. Die Bindungen zur Gruppenerzieherin könnten für die sprachliche Bildung wirksam genutzt werden, wenn diese die intensive Anfangsförderung übernimmt, für die sie natürlich qualifiziert, mit Materialien ausgestattet und von der Gruppenarbeit freigestellt werden muss. Die intensive Beziehung zwischen Erzieherin und Kind kann auch für eine weiterführende, sprachfördernde Zusammenarbeit mit den Eltern genutzt werden. Wir können konstatieren, dass diejenigen mehrsprachigen Kinder, die aus bildungsnahen Schichten kommen und zuhause gut gefördert werden, sich im Kindergarten aus den sprachbezogenen Angeboten einer guten und aspektreichen Kindergartenarbeit herausholen, was sie für eine erfolgreiche sprachliche Bildung brauchen. Auch sie können spezifische Unterstützung, etwa in Bezug auf Wortschatz oder Grammatik, brauchen. Aber diejenigen, die aus bildungsfernen Schichten und prekären Lebensverhältnissen stammen, deren Sprache arm und deren Erziehungssituation unzulänglich ist, brauchen im Kindergarten und in der Grundschule deutlich mehr und spezifischere Förderung, um vergleichbare Fortschritte im Deutschen und später in den Fremdsprachen zu machen. Die Rolle der Familiensprache wurde in den vorigen Abschnitten differenziert reflektiert. Allerdings ist es wichtig, die Förderung mehrsprachiger Kinder nicht auf die Sprachförderung zu reduzieren, sondern ihre gesamte Erziehungssituation und ihre Lebensperspektiven in den Blick zu nehmen. 7. Literaturverzeichnis Bruner, J. (1987): Wie das Kind sprechen lernt, Bern. Felix, S. (1978): Linguistische Untersuchungen zum natürlichen Zweitsprachenerwerb, München. Gogolin, I. (1994): Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule. Münster / New York. Grimm, H. (1999): Störungen der Sprachentwicklung, Göttingen. Hamburger, F. (2005): Migration. In: Otto, H.-U. / Thiersch, H. (eds.): Handbuch Sozialarbeit / Sozialpädagogik, 3. Aufl., München, 1211-1222. Jampert, K. (2002): Schlüsselsituation Sprache, Opladen. Jampert, K. u.a. (eds.) (2005): Schlüsselkompetenz Sprache. Sprachliche Bildung und Förderung im Kindergarten, Berlin / Weimar. Jeuk, S. (2003): Erste Schritte in der Zweitsprache Deutsch. Eine empirische Untersuchung zum Zweitspracherwerb türkischer Migrantenkinder in Kindertageseinrichtungen, Freiburg (Breisgau). Kolonko, B. (1996): Spracherwerb im Kindergarten. Grundlagen für die sprachpädagogische Arbeit von Erzieherinnen, Pfaffenweiler. Küspert, P. / Schneider, W. (2002): Hören - lauschen - lernen. Würzburger Trainingsprogramm, Göttingen. Renate Thiersch 30 Laewen, H.-J. (2002): Bildung und Erziehung in Kindertageseinrichtungen. In: Laewen, H.-J. / Andres, B. (eds.): Bildung und Erziehung in der frühen Kindheit. Bausteine zum Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen, Berlin. Lotz, M. (2006): Erwerb der Zweitsprache Deutsch von Migrantenkindern im Kindergarten. Eine empirische Fallstudie, Diplomarbeit Tübingen. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (eds.) (2006): Orientierungsplan für Bildung und Erziehung für die baden-württembergischen Kindergärten. Pilotphase, Weinheim / Basel Penner, Z. (2003): Neue Wege der sprachlichen Frühförderung von Migrantenkindern, Berg. Thiersch, R. (2005): Kindertagesbetreuung. In: Otto, H.-U. / Thiersch, H. (eds.): Handbuch Sozialarbeit / Sozialpädagogik, 3. Aufl., München, 964-984. Thiersch, R. (2006): Projekt „Interkultureller Kindergarten Eugenstraße“ - Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitung, s. http: / / www.tuebingen.de/ ratsdokumente/ 2006_79.pdf. Tracy, R. (1996): Vom Ganzen in seinen Teilen. Überlegungen zum doppelten L1- Erwerb. In: Sprache & Kognition 15, 70-92. Tracy, R. (2003): Sprachliche Frühförderung. Informationsbroschüre der Forschungs- und Kontaktstelle Mehrsprachigkeit der Universität Mannheim. Ulich, M. (2003): Literacy - sprachliche Bildung im Elementarbereich. In: Kindergarten heute 3, 6-18. Ulich, M. / Mayr, T. (2003): SISMIK. Sprachverhalten und Interesse an Sprache bei Migrantenkindern in Kindertageseinrichtungen. Ein Beobachtungsbogen vom Staatsinstitut für Frühpädagogik, Freiburg (Breisgau). Ulich, M. (2004): Lust auf Sprache. Ein Film des Staatsinstituts für Frühpädagogik München, Freiburg (Breisgau). Ingrid Gogolin / Hans-Joachim Roth Bilinguale Grundschule: Ein Beitrag zur Förderung der Mehrsprachigkeit 1. Vorbemerkung Recht unvermittelt ist Zwei- und Mehrsprachigkeit, also das Generalthema dieses Bandes, in die Schlagzeilen der Publikumspresse geraten - insbesondere die Frage, was bilinguale Schulen leisten oder nicht leisten können. So hat beispielsweise der bekannte Mannheimer Soziologe Hartmut Esser die Förderung der Zweisprachigkeit in einem Zeitungsbericht als ein Placebo bezeichnet - mithin als ein Medikament ohne Wirkstoffe, das zwar Wirkung zeitigt, aber gleichwohl überflüssig sei. Abb. 1: Ausriss aus der Süddeutschen Zeitung vom 6.4.2006 Bei einem Bericht über Evaluationsergebnisse aus einem Schulversuch, der sich die Förderung der Zweisprachigkeit zum Ziel gesetzt hat, kommt man deshalb gar nicht umhin, seine Ausführungen zunächst in diesen aufgeregt geführten öffentlichen Diskurs einzuordnen. Dies ist Gegenstand des zweiten Abschnitts unseres Beitrags. Der Hauptakzent des Beitrags liegt aber darauf, vor diesem Hintergrund einige Forschungsergebnisse aus der Evaluation des Schulversuchs Bilinguale Grundschule in Hamburg vorzustellen, an der wir beteiligt sind. 1 Hiermit möchten wir zur Versachlichung der Diskussion beitragen - mindestens dazu, dass allmählich mehr Klarheit darüber gewonnen wird, was von einer Förderung der Zweisprachigkeit bei Kindern mit Migrationshintergrund zu erwarten ist und was nicht. 1 Die Evaluation obliegt Ingrid Gogolin und Ursula Neumann, Universität Hamburg, und Hans- Joachim Roth, Universität zu Köln. Die in diesem Beitrag wiedergegebenen Ergebnisse entstammen dem Abschlussbericht zur Evaluation (vgl. Roth / Neumann / Gogolin 2007). Ingrid Gogolin / Hans-Joachim Roth 32 2. Zweisprachigkeit - ein Streitfall Dem Thema Zweisprachigkeit im Migrationskontext wird zyklisch öffentliche Beachtung zuteil. In der jüngeren Zeit wurde eine solche Debatte wieder einmal geführt - und wie schon häufig zuvor mit starken Behauptungen in die Öffentlichkeit getragen. Die Verteidigung des Positiven an der Zweisprachigkeit von Migranten sei wissenschaftlich unhaltbar, wurde auf der einen Seite argumentiert (vgl. stellvertretend hierfür Esser 2006). Die Effekte einer schulischen Förderung der Zweisprachigkeit seien allenfalls marginal; und wer dafür eintrete, setze sich für das falsche ein: „Die Wirkung bilingualer Programme des Unterrichts mit einer expliziten muttersprachlichen Förderung ist trotz einer Vielzahl von Studien und (Meta-)Analysen und jahrelangen Debatten bisher nicht geklärt, vor allem weil es an methodisch geeigneten Studien, insbesondere auch für die deutsche Situation, mangelt. Es scheint aber, wenn überhaupt, keine nennenswerten Effekte zu geben, weder negative noch positive. Das entspricht der […] Bedeutungslosigkeit der Bilingualität für die schulischen Leistungen über die Zweitsprachkompetenz hinaus. Durch den muttersprachlichen Unterricht wird - trivialerweise - allenfalls der Erhalt der Muttersprache gefördert und es ist bisher nicht zweifelsfrei klar, ob das auf Kosten des Erwerbs anderer Fertigkeiten, etwa des Erlernens anderer Sprachen, geht oder nicht“ (Esser 2006, 545). So weit, so klar. In der Tat muss konstatiert werden, dass es in Europa generell und in Deutschland speziell sehr wenig Forschung zur Frage nach den Wirkungen bilingualer Schulen gibt. Während in den USA immerhin einige Dutzend zum Teil groß angelegte quantitative Untersuchungen existieren, muss im deutschen Kontext mit der Lupe nach Studien gesucht werden, die sich überhaupt mit bilingualen Schulen befassen. Einer der Gründe dafür liegt darin, dass es hierzulande kaum ein systematisches Forschungsfeld gibt, in dem die Frage nach den Wirkungen entsprechender Schulversuche hätte beantwortet werden können. Wenn die Zahl der bilingualen Schulen in Deutschland zu ermitteln versucht wird, stellt man zunächst fest, dass entsprechende Statistiken in den Bundesländern nicht systematisch geführt werden. Sodann fällt auf, dass unter dem Rubrum „bilinguale Schulen“ höchst unterschiedliche Modelle versammelt sind - vom Schulmodell, das auf Fachunterricht in einer der üblichen Schulfremdsprachen, zumeist Englisch, gerichtet ist, bis zum Modell, in dessen Fokus die Förderung der Bilingualität mit Deutsch und einer der Lebenssprachen von Kindern aus zugewanderten Familien steht. Im Jahr 2006 sind für die Bundesrepublik Deutschland ca. 50 Schulen zu ermitteln, an denen bilinguale Zweige im letzteren Sinne geführt werden; dabei handelt es sich zumeist um jeweils eine Klasse eines Jahrgangs. Ein guter Teil dieser bilingualen Schulen fördert Zweisprachigkeit mit Deutsch und einer Sprache anerkannter autochthoner Minderheiten in Grenzregionen oder anderen umgrenzten Gebieten (z.B. Dänisch in Schleswig-Holstein, Sorbisch in Sachsen). Es ist zwar keine gute Entschuldigung, aber doch immerhin eine Erklärung für die hiesige weitgehende Forschungsabstinenz zum Thema bilinguale Schulen: Das Thema war kein Thema, mangels Masse. Wenn also auf der Basis von large-scale-Untersuchungen Aussagen über die Wirkungen entsprechender Schulmodelle gemacht werden müssen, ist man tatsächlich auf die US-amerikanischen und kanadischen Studien angewiesen, auf deren Ergebnisse sich auch die hiesigen Kritiker der Modelle stützen. Eine Berufung auf diese Untersuchungen sollte allerdings nicht vorbehaltlos, nicht ohne Acht auf die Bilinguale Grundschule: Ein Beitrag zur Förderung der Mehrsprachigkeit 33 Unterschiede der Bildungssysteme geschehen. Zu bedenken ist etwa, dass den amerikanischen Wirksamkeits-Studien eine große Zahl sehr unterschiedlicher Bildungssituationen zugrunde liegt; daher ist Vergleichbarkeit eines der Hauptprobleme dieser Forschungen. Kernpunkt des in den USA geführten Streits ist der Wettbewerb zwischen Konzepten des „Structured (oder: Sheltered) English“ und der „(Transitional) Bilingual Education“. Hintergrund der Frage, welches Modell am besten geeignet sei, ist, dass in den USA jedes zweisprachige Kind, das noch als „English Language Learner“ eingestuft wird, einen vom Obersten Bundesgericht bestätigten Rechtsanspruch auf Unterstützungs- und Fördermaßnahmen hat, die ermöglichen, sich sinnvoll am Unterrichtsprogramm zu beteiligen. Einen solchen Anspruch garantieren die Länder der Bundesrepublik Deutschland nicht. Auf welche Weise diesem Rechtsanspruch Genüge getan wird, unterliegt in den USA keiner weiteren rechtlichen Regelung, sondern ist Sache der Schulen. Eine mögliche Form der Realisierung ist die Erteilung von Unterricht ausschließlich in der Zweitsprache Englisch. Dieser wird jedoch in sprachlich reflektierter Form erteilt, und zwar unter Rückgriff auf eine hochentwickelte Didaktik und Methodik des Englischen als Zweitsprache. Eine andere Form der Ermöglichung sinnvoller Teilnahme am Unterrichtsprogramm ist die Mitverwendung der Herkunftssprache im Fachunterricht, und zwar für eine begrenzte Dauer: bis zum Erreichen der für erforderlich gehaltenen englischen Sprachkompetenz. Dabei hat der Fachunterricht unterschiedliche Zeitanteile an der Stundentafel. Für diese Form der Einbeziehung der Herkunftssprachen in den Bildungsgang gibt es in den deutschen Bundesländern keine Parallele - sieht man von den wenigen erwähnten Modellen der bilingualen Beschulung ab. Die Untersuchungen in den USA fragen nach den Auswirkungen dieser beiden (und ggf. weiterer) Modelle auf das Abschneiden der Schülerinnen und Schüler bei den zentralen staatlichen Tests, die selbstverständlich auf Englisch abgelegt werden müssen. Dass bei zweisprachiger Unterweisung Kenntnisse der Familiensprachen erweitert und vertieft werden, ist den amerikanischen Wissenschaftlern so gegenwärtig, dass sie es wie selbstverständlich konstatieren. Der Streit geht daher nicht darum oder um die Frage der Zweisprachigkeit - er geht um das Englische als Zweitsprache. Die Ergebnisse der verschiedenen Untersuchungen in Bezug auf die in der Zweitsprache erzielten Leistungen aber sind widersprüchlich. Die Versuche, durch Synopsen der Einzeluntersuchungen und Metaanalysen weiterzukommen, wiederholen die Widersprüchlichkeit der Ergebnisse auf einer höheren Ebene. Eine systematische kritische Sichtung der amerikanischen Untersuchungen durch das Wissenschaftszentrum Berlin kommt zu keiner anderen Schlussfolgerung. Es heißt dort: „Auf Basis der US-amerikanischen Studien hat sich gezeigt, dass bilingualer Unterricht und hierbei insbesondere eine gleichzeitige Alphabetisierung in Erst- und Zweitsprache nicht auf Kosten des Zweitspracherwerbs gehen.“ Hinzugefügt wird zu Recht, dass zweisprachige Bildung „kein Allheilmittel für Bildungsbenachteiligung“ darstelle. Aber: „Die eigentliche Leistung von Modellen zweisprachiger Erziehung besteht darin, dass Kinder zusätzlich in ihrer Muttersprache Lesen und Schreiben lernen und dabei offenbar mit monolingual unterrichteten Kindern derselben Herkunftssprache in den (in L2 gemessenen) 2 Schulleistungen zumindest gleich- 2 Als L2 wird die Zweitsprache bezeichnet, als L1 dementsprechend die Erst- oder Familiensprache. Ingrid Gogolin / Hans-Joachim Roth 34 auf liegen, obwohl sie (je nach Modell) weniger Unterrichtsstunden in L2 haben. Dieser Zusatzkompetenz der L1-Alphabetisierung, die Kinder im Regelunterricht nicht erwerben, kann selbstverständlich ein hoher Wert zugesprochen werden. Ob ein spezifisches bilinguales Unterrichtsmodell gegenüber einem monolingualen effektiver in der Vermittlung von L2 und fachlichen Kompetenzen ist, wird nicht zuletzt von der Qualität des Unterrichts abhängen. Unbestritten ist, dass eine durchdachte didaktische Konzeption und pädagogisch hoch qualifiziertes Lehrpersonal den eigentlichen Ausschlag geben können“ (Söhn 2005, 64). Nach der Analyse des Wissenschaftszentrums Berlin lernen die in bilingualen Modellen beschulten Kinder und Jugendlichen in ca. 60 Prozent der Zeit genauso viel Englisch wie in einsprachigen Modellen in 100 Prozent der Zeit; das gilt sogar für sog. early-exit-Modelle, also solche, in denen Zweisprachigkeit nur über eine Dauer von ca. zwei Jahren gefördert wird. Die Gegner von zweisprachigen Ansätzen kommen zu dem Schluss, dass die Förderung der Zweisprachigkeit kein Gewinn sei, da sie nicht zuverlässig zu einem Vorsprung gegenüber einsprachigen Modellen in der Zweitsprache führen. Unsere Interpretation hingegen lautet, dass den bilingualen Modellen zumindest ein Effektivitätsvorsprung zugebilligt werden muss, weil in derselben Lernzeit gleich gute Ergebnisse in der Zweitsprache erzielt werden, aber darüber hinaus auch Lese- und Schreibfähigkeit in der Familienbzw. Erstsprache. Dies weist auf eine tiefere Ursache des Wissenschaftlerstreits: die in ihm verborgene normative Grundentscheidung. Diese lautet im einen Falle: Die Förderung der Zweisprachigkeit wäre nur dann ein Gewinn, wenn sie messbar bessere Ergebnisse in der Zweitsprache zur Folge hätte. Im anderen Falle hingegen lautet sie: die Förderung von Zweisprachigkeit an sich ist ein Gewinn, wenn mindestens gleiche Ergebnisse in der Zweitsprache erzielt werden und die Kinder darüber hinaus zur Kunst des Lesens und Schreibens in ihrer Familiensprache gelangen. 3. Schulversuch Bilinguale Schulen Hamburg Jenseits der normativen Grundentscheidung ist es lohnend und notwendig, über die Leistungen von bilingualen Schulversuchen mehr zu erfahren. In der Tat sind die wenigen deutschen Modelle bislang kaum systematisch evaluiert worden. Der Hamburger Schulversuch, aus dessen Evaluation wir berichten, gehört zu den wenigen, die sowohl einer formativen als auch der begleitenden summativen Evaluation unterzogen wurden; über einen Schulversuch in Köln, der auf die gleiche Weise evaluiert wird, liegt noch keine abschließende Evaluation vor (vgl. Roth 2004ff.). Der Hamburger Schulversuch wurde im Jahr 2000 zunächst an vier, inzwischen an sechs Schulen etabliert, die jeweils eine bilinguale Klasse führen. Die wissenschaftliche Evaluation, aus der wir berichten, hatte nicht das primäre Ziel der Prüfung der schlussendlichen Effektivität der Maßnahme im Sinne der bis jetzt diskutierten Ansätze. Vielmehr war es Ziel der Evaluation, so genau wie möglich nachzuzeichnen, wie sich Bilingualität unter den Bedingungen, unter denen die Hamburger Schulen unterrichten, im Verlaufe von vier Schuljahren entwickelt. Bilinguale Grundschule: Ein Beitrag zur Förderung der Mehrsprachigkeit 35 Im Hamburger Schulversuch haben die Schulen die folgenden Charakteristika: • Es handelt sich um sog. Verlässliche Halbtagsgrundschulen; unterrichtet wird also von acht bis 13 Uhr. • Die Schulen haben kein festgelegtes Einzugsgebiet, sondern können Kinder aus der ganzen Stadt aufnehmen. • Die Schulen bilden Klassen in der für Hamburg normalen Größe (25-30 Kinder). • Die Schulen arbeiten nicht nach besonderen Richtlinien oder Lehrplänen, sondern erfüllen die in Hamburg üblichen Vorgaben. • Für ihre Entwicklungs- und Kooperationsaufgaben erhalten die Schulen eine zusätzliche Lehrerzuweisung von vier Stunden. • Die erforderliche zusätzliche Ausstattung mit Lehrerstunden für die sog. Partnersprachen beträgt zwölf Wochenstunden. Diese werden von den Konsulaten der Länder getragen, deren Landessprachen als Partnersprachen in den Schulen fungieren: Italien, Portugal, Spanien und der Türkei. Die beteiligten Lehrkräfte sind großenteils aus diesen Staaten entsendet (Lehrkräfte im Auslandsschuldienst). • Die Schulen arbeiten also - von den zusätzlichen Lehrkräften für die Partnersprachen abgesehen - unter den in Hamburg üblichen Bedingungen. Der Hamburger Schulversuch wurde nach dem sog. Two-Way-Prinzip gestaltet (vgl. zu den verschiedenen Modellen der bilingualen Erziehung Reich / Roth et al. 2002). Dabei ist vorgesehen, dass ca. 50% der teilnehmenden Kinder einsprachig, also ohne Vorkenntnisse der jeweiligen Partnersprache die Klassen besuchen; die zweite Hälfte der Kinder soll lebensweltliche, also aus der familiären Sprachpraxis mitgebrachte Kenntnisse der Partnersprache besitzen. In den Hamburger Schulversuchsklassen sollte ein didaktisches Konzept verfolgt werden, in dem Schriftspracherwerb in beiden Sprachen von Anfang an vorgesehen ist. Ferner war vorgesehen, dass der Sachunterricht zunächst auf Deutsch erteilt wird, aber allmählich Teile dieses Lernbereichs in der Partnersprache unterrichtet werden; im vierten Schuljahr sollte der Sachunterricht komplett in der Partnersprache erfolgen. Für Mathematik und andere Fächer war das Deutsche die Unterrichtssprache. Etwa zwei Drittel der Unterrichtszeit sind also dem Deutschen, etwa ein Drittel der Partnersprache zugeeignet. Unsere Evaluation dieses Modells betraf die erste Kohorte, also die 2000 eingeschulten Kinder; sie wurden über die vier Schuljahre hinweg untersucht. 3 In der Evaluation wurden folgende Instrumente eingesetzt: • Zu Beginn und am Ende der Laufzeit Elternbefragungen, mit denen die üblichen soziokulturellen und ökonomischen Hintergrundvariablen erhoben wurden und nach Erwartungen an das bzw. nach der Zufriedenheit mit dem Modell gefragt wurde; 3 Aus diesem Grunde betreffen die hier vorgestellten Ergebnisse nur die Schulen mit den Partnersprachen Italienisch, Portugiesisch und Spanisch. Die beiden Schulen mit türkisch-deutschen Klassen haben den Unterricht erst zwei Jahre nach den anderen Schulen aufgenommen. Ingrid Gogolin / Hans-Joachim Roth 36 • Sprachstandserhebungen in beiden Partnersprachen; • Leistungstests im vierten Schuljahr. Am Beginn und am Ende des ersten Schuljahres wurden zwei mündliche Sprachproben genommen. Ferner wurden Vorläuferfähigkeiten zur Schriftlichkeit erhoben („Das leere Blatt“, „Emblemetest“, „Buchstabendiktat“ und „Sofa-Test“). 4 Am Ende des zweiten Schuljahres wurden erneut mündliche Sprachproben erhoben; ferner wurde eine erste freie Schreibprobe durchgeführt, und zwar vermittels eines Impulses, der im ersten Schuljahr für die Erhebung mündlicher Sprachproben eingesetzt worden war (Bildergeschichte „Katze und Vogel“ aus dem Instrument HAVAS 5; vgl. Reich / Roth 2004f.). Ab dem dritten Schuljahr wurden im schriftlichen Bereich Cloze-Tests eingesetzt, deren offen gelassenes Ende zusätzlich von den Kindern frei zu Ende geschrieben wurde. Damit entstand eine kombinierte Form von Leseverständnistest und freier Schreibprobe. Für die Abschlussuntersuchung im vierten Schuljahr wurden acht Bildimpulse aus verschiedenen Gebieten des Sachunterrichts ausgewählt, die den Schülerinnen und Schülern vorgelegt wurden, um eine Sprechprobe in Deutsch und in der Partnersprache zu nehmen („Instrument Sachabbildungen“). Außerdem wurde ein Impuls aus dem ersten Schuljahr noch einmal eingesetzt, um die Sprachentwicklung über die vier Jahre beobachten zu können. Um die allgemeine Leistungsfähigkeit der Kinder in den bilingualen Klassen vergleichend beurteilen zu können, wurden ergänzend im vierten Schuljahr Instrumente der Leistungsmessung für die Bereiche Mathematik und Lesen eingesetzt. Sie wurden aus der „Internationalen Grundschul-Leseuntersuchung“ (IGLU, 2001) bzw. der Hamburger Untersuchung „Kompetenzen und Einstellungen von Schülerinnen und Schülern - Jahrgangsstufe 4“ (KESS 4, 2003) entnommen. Die Mathematikaufgaben wurden auf Deutsch gestellt, das Leseverständnis wurde auf Deutsch und in den Partnersprachen getestet. Hierzu wurden die Instrumente von anderen Teilnehmerländern an der PIRLS-IGLU-Untersuchung genutzt. In allen Schuljahren und in allen Klassen wurden ferner Unterrichtsbeobachtungen durchgeführt, um Einblicke in die Praxis des bilingualen Unterrichts zu gewinnen. Darüber hinaus haben wir Lehrerbefragungen und weitere Erhebungen zur Akzeptanz des Schulversuchs durchgeführt. 4. Ergebnisse der Evaluation des Schulversuchs 4.1. Allgemeine Trends Einige zentrale Ergebnisse unserer Evaluation sollen hier schlaglichtartig vorgestellt werden; ein erstes betrifft die Zusammensetzung der Schülerschaft im Schulversuch. Wie dies - angesichts der in deutschen Großstädten üblichen Bevölkerungszusammensetzung - zu erwarten war, entsprach die Zusammensetzung der Schülerschaft keineswegs den Modellerwartungen von 50% ein- und 50% mit der Partnersprache zweisprachigen Kindern. 4 Sämtliche Sprachstandserhebungen wurden bilingual durchgeführt. Es gehörte zu den wesentlichen Aufgaben unserer Evaluation, bilinguale Versionen für die jeweiligen Tests zu entwickeln, da keine geeigneten Instrumente vorlagen. Bilinguale Grundschule: Ein Beitrag zur Förderung der Mehrsprachigkeit 37 Tabelle 1: Klassenzusammensetzung nach Sprachgruppen 5 Sprachgruppen Schulen A einsprachig Deutsch n=53 B einsprachig Partnersprache n=17 C zweisprachig mit anderer Familiensprache n=9 D zweisprachig Deutsch- Partnersprache n=52 italienischdeutsch 8 0 4 8 portugiesischdeutsch 7 4 2 9 spanischdeutsch 1 14 1 1 5 spanischdeutsch 2 11 2 0 11 türkisch-deutsch 6 13 10 2 19 Es zeigt sich also, dass die Zusammensetzung der Klassen vielfältiger war, als es nach den Modellannahmen hätte der Fall sein sollen: Weder waren die in der Gruppe B vertretenen Kinder „vorgesehen“, die ohne Deutschkenntnisse, also einsprachig in der jeweiligen Partnersprache in das Modell aufgenommen worden waren 7 , noch jene Kinder, die zwar zweisprachig, aber mit einer anderen als der unterrichteten Partnersprache in die Schule gekommen waren. Ein zweites Ergebnis unserer Evaluation ist, dass die unterschiedlichen sprachlichen Eingangsvoraussetzungen sich bei den Kindern auch nach vier Jahren Unterricht nicht ausgleichen ließen. Dies kann anhand der Werte illustriert werden, die die Kinder im verbalen (mündlichen) Wortschatz in Klasse vier erreicht haben. Die Ergebnisse wurden aus Sprachaufzeichnungen gewonnen, die mit Hilfe des „Instruments Sachabbildungen“ erzielt worden waren. Dabei handelt es sich um farbige Bildvorlagen, in denen Themen repräsentiert sind, die im Sachunterricht der vierten Klasse behandelt werden. Den Kindern wurden diese Bildvorlagen individuell vorgelegt; sie mussten sich in beiden Sprachen dazu äußern. Die Kinderäußerungen in beiden Sprachen wurden transkribiert und mit Hilfe des Programms MAX QDA qualitativ und quantitativ ausgewertet. Die hier vorgestellte Auswertung bezieht sich auf die Äußerungen zu einem der Impulse „Sachabbildungen“. Zur Illustration der Ausführungen eignen sich die Ergebnisse zum verbalen Wortschatz, weil dieser über die Sprachhandlungsfähigkeit der Kinder besser Aus- 5 Diese und die folgenden Tabellen und Daten sind dem Abschlussbericht der Evaluation des Schulversuchs entnommen und betreffen die vierten Klassen (vgl. Roth / Neumann / Gogolin 2007). 6 Die beiden türkisch-deutschen Klassen sind hier zusammgefasst; sie werden im Folgenden nicht berücksichtigt, da sie zum Zeitpunkt der Auswertung noch nicht im vierten Schuljahr angekommen waren. 7 Hier handelte es sich um Kinder, die neu zugewandert waren, also nicht solche, die in Hamburg aufgewachsen sind. Ingrid Gogolin / Hans-Joachim Roth 38 kunft gibt als der nominale Wortschatz. Es wurden dabei die in Abb. 2 und 3 dargestellten Ergebnisse erzielt. 8 Zu sehen ist, dass der verbale Wortschatz im Deutschen sich zwischen den deutsch einsprachigen Kindern (Gruppe A) und den mit der Partnersprache (Gruppe D) oder einer anderen Sprache bilingualen (Gruppe C) Kindern nicht nennenswert unterscheidet. Einen deutlichen Unterschied aber gibt es zu Gruppe B: den Kindern, die mit partnersprachlichen Kenntnissen, aber ohne Deutschkenntnisse eingeschult worden sind. Ihre Werte unterscheiden sich im Deutschen signifikant von denen der anderen Sprachgruppen. In den Partnersprachen differenzieren sich die Werte der Gruppen B und D von denen der Gruppen A und C. Abb. 2: Verben im Deutschen D = zweisprachig Deutsch-Partnersprache C = zweisprachig mit anderer Familiensprache B = einsprachig Partnersprache A = einsprachig Deutsch Sprachgruppe 80 60 40 20 8 In diese Auswertung sind nur die Daten von Kindern eingegangen, für die über alle vier Schuljahre Werte vorliegen. Für die Darstellung wurde eine Form gewählt, die sowohl den Mittelwert (Median) als auch die Streuung der Werte anzeigt. Der Mittelwert (Median) wird als schwarzer Balken angezeigt, die Streuung in der Form der Boxen; Punkte signalisieren Ausreißerwerte, Sterne die Extremwerte. Die vier Gruppen A bis D bezeichnen die oben vorgestellten Sprachgruppen. Bei der Interpretation der Werte ist zu berücksichtigen, dass die Gruppen B und C deutlich kleiner sind als die A und D, so dass die Streuung der Ergebnisse ggf. überzeichnet erscheint. Bilinguale Grundschule: Ein Beitrag zur Förderung der Mehrsprachigkeit 39 Abb. 3: Verben in der Partnersprache D = zweisprachig Deutsch-Partnersprache C = zweisprachig mit anderer Familiensprache B = einsprachig Partnersprache A = einsprachig Deutsch Sprachgruppe 100 80 60 40 20 0 Das in Bezug auf den verbalen Wortschatz erzielte Ergebnis steht stellvertretend für ein Gesamtresultat unserer Evaluation. Es kann schlagwortartig wie folgt zusammengefasst werden: Die bilingualen Klassen haben in Bezug auf das Deutsche zu einigermaßen ausgewogenen Kenntnissen bei Kindern geführt, die deutsch-einsprachig in die Schulen kamen, und denen, die mit einer der Partnersprachen zweisprachig eingeschult worden sind. Aber sie haben nicht dazu geführt, dass die jeweils lebensweltlich vorhandenen Sprachkompetenzen der Kinder einander vollkommen angeglichen wurden. Das zeigt sich zum einen in den Kompetenzen im Deutschen, die die Kinder erreicht haben, welche ohne Deutschkenntnisse in die Klassen aufgenommen worden waren: Sie erreichten auch nach vier Schuljahren nicht den Kenntnisstand, den wir bei den Kindern der drei anderen Sprachgruppen ermitteln konnten. Vielmehr wiesen ihre mündlichen Sprachproben in allen geprüften Teilbereichen einen nach wie vor klar erkennbaren Abstand zu den anderen auf. Zum anderen, und komplementär zu diesem Ergebnis, ermittelten wir einen Abstand bei der Beherrschung der Partnersprachen zwischen den Kindern, die mit Kenntnissen dieser Sprache in das Modell aufgenommen wurden, und den anderen Kindern. Die Kinder, die ohne lebensweltlichen Gebrauch der Partnersprachen in den Klassen waren, erreichten in dieser Sprache in keinem der geprüften Bereiche den Kenntnisstand ihrer bilingual eingeschulten Mitschülerinnen und Mitschüler. Interessant ist das Ergebnis der - allerdings nur kleinen - Gruppe C, also der Kinder, die zweisprachig, aber mit einer anderen Familiensprache im Modell waren. Sie erreichten sowohl gute Fähigkeiten in der jeweiligen Partnersprache - hier lagen ihre Werte durchweg über denen der deutsch-einsprachigen Kinder - als auch im Ingrid Gogolin / Hans-Joachim Roth 40 Deutschen, wo sie in vielen geprüften Teilbereichen sogar bessere Ergebnisse erzielten als alle anderen Gruppen. Mit den von uns ermittelten Werten ist ein wichtiges Ergebnis der internationalen Forschung bestätigt worden, das lautet: Ein Zweitspracherwerb dauert lange - und zwar meist länger als der Bildungsabschnitt Grundschule, den unsere Evaluation überblickt. Die vorliegenden überwiegend US-amerikanischen Forschungsergebnisse zur Frage der notwendigen Dauer von gezielter Sprachförderung bei Kindern, die mit einer anderen als der Hauptsprache der Schule eingeschult werden, zeigen an, dass man von etwa vier bis sechs Jahren ausgehen muss, bis ein Sprachstand erreicht ist, der zur schulischen Bildung den gleichen Zugang erlaubt, wie ihn einsprachige Kinder besitzen (vgl. z.B. MacSwan / Pray 2005). Trotz der erhöhten Aufmerksamkeit gegenüber den sprachlichen Leistungen der Kinder haben auch in den Hamburger Schulversuchen diejenigen, die ohne Deutschkenntnisse in das Modell eingeschult worden waren, nicht die gleichen Deutschkenntnisse erreichen können wie ihre einsprachigen oder bilingualen Mitschülerinnen und Mitschüler - und dieses Ergebnis ist durchaus erwartungskonform. Bilingualität an sich aber ist - auch das bestätigt andere Untersuchungsergebnisse - keineswegs eine benachteiligende Voraussetzung, wie sich an den Werten zeigt, die die zweisprachig mit einer anderen als der Partnersprache lebenden Kinder in beiden Sprachen erreicht haben. 4.2. Bildungssprachliche Fähigkeiten Neben der allgemeinen Frage, wie sich sprachliche Leistungen in bilingualen Modellen bei Kindern mit unterschiedlicher sprachlicher Herkunft entwickeln, hat uns in der Evaluation besonders die spezielle Frage interessiert, wie die Kinder zur „Bildungssprache“ der Schule Zugang bekommen. Hinter dieser Frage steht die Erkenntnis, dass schulische Leistungsfähigkeit weniger vom Verfügen über allgemeine kommunikative Mittel abhängt. Vielmehr ist sie abhängig vom Verfügen über spezifische Redemittel, das wir als Bildungssprachliche Kompetenz bezeichnen (vgl. hierzu Gogolin 2007a und b). Anlass für unsere Einführung dieses Konzepts in die deutsche Diskussion war das wiederkehrende Resultat der Schulleistungsforschung, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund in deutschen Schulen schlechtere Leistungen erzielen als einsprachig lebende Kinder ohne Migrationshintergrund. Dass die unzureichende Beherrschung der Schul- und Unterrichtssprache Deutsch zu den Ursachen dafür gehört, ist unstreitig. Vielfach besteht aber die Neigung, die Verantwortung dafür allein außerschulischen Bedingungen zuzusprechen - insbesondere dem Umstand, dass in der Familie oder der Freizeit eine andere Sprache als Deutsch gesprochen wird. Dies aber ist nur in Grenzen plausibel. Hinweise darauf, dass die Leistungsnachteile von Kindern mit Migrationshintergrund nicht allein auf ihre „sprachliche Lebensführung“ zurückzuführen sind, enthalten z.B. die Ergebnisse der Internationalen Schulleistungsvergleichsstudien wie PISA. Als Beispiel sei hier PISA 2003 angeführt. Für die Erweiterungsstudie zum Bundesländervergleich wurde die Stichprobe der Jugendlichen mit Migrationshintergrund vergrößert (vgl. Ramm et al. 2005). In der ergänzten Stichprobe identifizierten sich ca. 50% der Jugendlichen mit Migrationshintergrund als vorwiegend deutschsprachig. Ein knappes Drittel schätzte sich selbst als Verwender sowohl der Herkunftssprache als auch der deutschen Sprache ein; nur ca. 13% sahen sich selbst als überwiegende Verwender der Herkunftssprachen (vgl. ebd., 277f.). Gleichwohl zeigte sich, wie auch schon in PISA Bilinguale Grundschule: Ein Beitrag zur Förderung der Mehrsprachigkeit 41 2000, dass die durchschnittlichen Kompetenzen der Jugendlichen mit Migrationshintergrund in keinem gemessenen Leistungsbereich an die der Jugendlichen ohne Migrationshintergrund heranreichten. Besonders deutlich sind die Abstände in den Leistungen der letzten beiden Gruppen. Aber auch diejenigen, die angeben, in ihrem Alltag überwiegend deutsch zu sprechen, erreichen weder in Mathematik noch in den Lesefähigkeiten das durchschnittliche Kompetenzniveau in den jeweiligen Bundesländern (vgl. ebd., 283ff.). Der überwiegende Teil der Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die in die Studien einbezogen waren, blickt ausschließlich auf eine Bildungsbiographie in der deutschen Schule zurück. In beiden PISA-Studien ergab sich ferner, dass die Jugendlichen, die selbst zugewandert sind, höhere durchschnittliche Kompetenzen erreichen als jene, die ihre gesamte Bildungsbiographie der deutschen Schule verdanken. Es liegt also die Frage nahe, welche Bedeutung dem Unterricht selbst dabei zukommt, dass die für schulische Leistungsfähigkeit relevanten sprachlichen Fähigkeiten (nicht) erworben werden. Um Antworten auf diese Frage auf die Spur zu kommen, muss erneut auf Forschung aus englischsprachigen Ländern zurückgegriffen werden. Diese deutet eben darauf, dass nicht das Verfügen über eine „allgemeine“, für alltägliche Kommunikation taugliche Sprachkompetenz für den schulischen Erfolg entscheidend ist, sondern der Besitz spezifischer sprachlicher Fähigkeiten, die wir als Bildungssprache bezeichnen. 9 Den Ausgangspunkt für diese Untersuchungen bildete die Frage, wie es kommt, dass - ungeachtet aller Chancengleichheitsversprechen - schulische Bildung zur Reproduktion der Abhängigkeit des Erfolgs von der sozialen Herkunft beiträgt. Dabei kamen Merkmale der Sprache in den Blick, die insbesondere auf den Unterschied zwischen gesprochener Alltagssprache und schulischer formaler Sprache verweisen. Charakteristika der Sprache der Schule („language of the classroom“) können demnach für das Englische anhand der Differenzierung von Sprache im Modus der Mündlichkeit und Sprache im schriftförmigen Modus genauer beschrieben werden. Die bildungsrelevante Form der schulischen Kommunikation besitzt tendenziell die konzeptionellen Merkmale der Schriftlichkeit, und zwar auch dann, wenn sie sich mündlich vollzieht. Im schriftförmigen Sprachgebrauch ist eine dichte Folge von Inhaltswörtern zwischen wenigen, aber bedeutungsentscheidenden gliedernden grammatischen Markierungen üblich, sei es beim Sprechen oder beim Schreiben. Demgegenüber organisiert sich Komplexität in der mündlichen Alltagskommunikation über die dichte Folge von gliedernden Redemitteln. Hier werden also viele Strukturwörter verwendet, die Verstehen erleichtern, indem durch sie „kleine“ Sinneinheiten geschaffen werden. Mit Verweis auf die der bildungsrelevanten Sprache der Schule unterliegenden mentalen Leistungen bezeichnete Jim Cummins sie als Cognitive Academic Language Proficiency (vgl. z.B. Cummins 2006). In Anlehnung hieran haben wir für das Deutsche den Terminus Bildungssprache vorgeschlagen; damit ist beabsichtigt, 9 Die Entwicklung dieses Terminus geschah im Kontext von Analysen zur Vorbereitung und Fundierung des BLK-Modellprogramms F ÖR M IG (Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund), zu dessen Programmträgerteam wir gehören (vgl. www.blk-foermig. uni-hamburg.de). Ingrid Gogolin / Hans-Joachim Roth 42 einen Anklang an das auf der Ebene der Erscheinungsformen dieser Redemittel entscheidende Merkmal, nämlich ihre Schriftförmigkeit, zu setzen. Wir haben vor diesem Hintergrund in den uns vorliegenden Sprachproben aus den bilingualen Modellen spezifische Phänomene ausgewertet, die man der Bildungssprache zurechnen kann. Da zum Deutschen bislang keine analogen empirischen fundierten Beschreibungen von Bildungssprache vorliegen wie zum Englischen, wurden in den uns vorliegenden Sprachdaten sprachliche Teilbereiche, die mit hoher Wahrscheinlichkeit für diese spezifische Variante im Deutschen relevant sind, zunächst theoretisch definiert, sodann empirisch ermittelt. 10 Dabei ergab sich, dass die folgenden Redemittel hier eine Rolle spielen: • Passiv, • unpersönliche Ausdrücke, • Konjunktiv, • Konstruktionen mit lassen, • Substantivierungen, • Komposita, • Attribute. Empirisch wurden drei Komponenten ermittelt, in denen sich Phänomene der Bildungssprache und solche der gesprochenen Umgangssprache in den uns vorliegenden Sprachproben unterscheiden: 1. Die erste Komponente bilden Attribute, die hochfrequente Verwendung von „Platzhaltern“ (sprechsprachlichen Floskeln, z.B. oder so) sowie umgangssprachlichen Wendungen. Im Sprechen nach diesem Muster ist eine Tendenz zur Verwendung von Satzgefügen vorzufinden. Wir nennen dieses Muster den umgangssprachlichen Modus. 2. Die zweite Komponente umfasst die nominalen Bestandteile der Substantivierung und den Gebrauch von Komposita. Dieser Sprachgebrauch geht einher mit einem hochfrequenten Einsatz von Verben sowie unpersönlichen Ausdrücken und Konnektoren. Wir haben dieses Muster den akademischen Modus genannt. 3. Die dritte Komponente umfasst ausschließlich die verbalen Anteile des Konjunktivs und des Passivs. Dieses Muster haben wir als elaborierten Modus bezeichnet. Den akademischen und den elaborierten Modus betrachten wir tentativ als Formen bildungssprachlicher Kompetenz im Deutschen. Bei den Kindern aus den bilingualen Klassen wurden die Sprechproben im Deutschen über diese Komponenten hinweg nach den Sprachgruppen untersucht. Festgestellt wurde, dass sich für den umgangssprachlichen und den elaborierten Modus kein Unterschied zwischen den Gruppen feststellen ließ. Für den akademischen Modus hingegen besteht ein signifikanter Befund hinsichtlich der Sprachgruppen. Die Gruppe B der einsprachig partnersprachlich eingeschulten Kinder weist einen signi- 10 Die folgenden Auswertungen wurden von Hans-Joachim Roth vorgenommen. Bilinguale Grundschule: Ein Beitrag zur Förderung der Mehrsprachigkeit 43 fikanten Abstand gegenüber den anderen Gruppen auf. Das schon am Beispiel der Verben angedeutete Ergebnis bestätigt sich also bei den komplexeren sprachlichen Leistungen. Die anderen zweisprachigen Kinder der Gruppen C und D hingegen unterschieden sich von den einsprachig deutschen nicht. Abb. 4: Akademischer Modus im Deutschen D = zweisprachig Deutsch-Partnersprache C = zweisprachig mit anderer Familiensprache B = einsprachig Partnersprache A = einsprachig Deutsch Sprachgruppe 150 125 100 75 50 25 0 Es wurde überprüft, ob der Sprachmodus der Kinder vom Bildungsgrad und einer damit verbundenen Sprachpraxis im Elternhaus abhängt. Hier konnten jedoch keine Zusammenhänge festgestellt werden, weder mit dem Bildungshintergrund noch mit dem sozioökonomischen Status der Familien. Es ist daher zu vermuten, dass die Unterschiede in der Zweisprachigkeit begründet liegen, genauer: im noch nicht abgeschlossenen Zweitspracherwerb der Gruppe B. Auch hier zeigt sich, dass einsprachig deutsche Kinder gegenüber denjenigen, die Deutsch als zweite Sprache erst bei Schuleintritt zu erwerben beginnen, nach vier Jahren bilingualen Unterrichts noch einen deutlichen Vorteil haben. Wenn dabei jedoch die Erkenntnisse zur Dauer des Zweitspracherwerbs berücksichtigt werden, sind die Ergebnisse insgesamt dennoch ermutigend: • Die bereits bei Schuleintritt in den Modellsprachen zweisprachigen Kinder (Gruppe D) schneiden ähnlich gut ab wie die einsprachig deutschen. • Das gleiche gilt für die Kinder, die zweisprachig mit einer anderen Familiensprache sind (Gruppe C). Hier führt das bilinguale Modell offenbar zu Formen von Dreisprachigkeit. Ihre Sprachkompetenz im Deutschen unterscheidet sich nicht signifikant von derjenigen der Gruppen A und D. Ingrid Gogolin / Hans-Joachim Roth 44 • Die Kinder, die ohne oder mit nur ganz geringen Deutschkenntnissen eingeschult wurden, erreichen zwar nicht das Niveau der anderen Kinder, aber ihre mündlichen Sprachfähigkeiten im Deutschen sind schon weit entwickelt. Ob ihr Deutscherwerb schneller verlaufen ist und weiter reicht als bei Kindern, die keine bilingualen Klassen besuchen, müsste aber in weiteren Untersuchungen mit Vergleichsgruppen geprüft werden. 5. Ein vorläufiges Fazit Die Evaluation der bilingualen Schulen Hamburg bildet eine gute Ausgangsbasis für weitere empirische Untersuchungen zum Streitfall Zweisprachigkeit. Unsere Ergebnisse zeigen, dass zweisprachige Modelle einen Beitrag zur Förderung der Zwei- und Mehrsprachigkeit zu leisten imstande sind. Alle Kinder im Hamburger Schulversuch, auch die deutsch einsprachig aufgewachsenen, haben sich Kenntnisse der Partnersprachen angeeignet. Darüber hinaus haben alle Kinder bemerkenswerte Leistungen im Deutschen erbracht - nicht zuletzt in jenem Bereich, den wir als „Bildungssprache“ bezeichnen. Hier nicht berichtet, aber beachtlich sind die Erfolge der lebensweltlich zweisprachigen Kinder bei der Aneignung von Textkompetenz in beiden Sprachen (vgl. hierzu Roth 2003). Es ist zwar - nicht zuletzt aufgrund der relativ kleinen Fallzahlen in unserer Untersuchung - vorerst eine Hypothese, aber immerhin zeigten sich (auf dem 0,01-Niveau) signifikante Zusammenhänge zwischen dem akademischen Modus und den Ergebnissen der standardisierten Leistungstests im Lesen und in Mathematik. Alle Kinder der bilingualen Klassen waren auf Deutsch in der Lage, in freier Rede zu nicht in der Schule geübten, aber dort relevanten Themen und Fragestellungen Äußerungen zu produzieren, die komplett verstehbar, in sprachpragmatischer Hinsicht sinnvoll und funktional sowie in syntaktischer Hinsicht angemessen sind. Eine Differenzlinie verläuft zwischen den Kindern, die erst mit Eintritt in die bilingualen Klassen den Zweitspracherwerb des Deutschen begonnen haben und allen anderen; für die Letzteren gilt, dass ihr Zweitspracherwerb noch nicht abgeschlossen ist, sondern weiterer Ausdifferenzierung und Förderung bedarf. Unsere Untersuchung zeigt aber auch Folgendes an: Selbst unter den vergleichsweise guten Bedingungen eines zweisprachigen Modells ist es kaum möglich, dass Kinder eine ausgewogene Zweisprachigkeit entwickeln. Aber auch das ist erwartungskonform, und zwar nicht nur in einer dominant deutschsprachigen Umgebung (vgl. Tracy / Gawlitzek-Maiwald 2000). Die zweisprachigen Schulen funktionieren, anders gesagt, genau so, wie es für eine Einwanderungsgesellschaft funktional und sinnvoll ist: Sie sorgen für gute Ergebnisse in der dominanten Verkehrssprache - und sie sorgen darüber hinaus dafür, dass in einer zweiten oder dritten Sprache Fähigkeiten erzielt werden, verbunden mit der Achtung vor diesen Sprachen als Partner im Bildungsgang. Bilinguale Grundschule: Ein Beitrag zur Förderung der Mehrsprachigkeit 45 6. Literaturverzeichnis Cummins, J. (2006): Sprachliche Interaktion im Klassenzimmer. Von zwangsweise auferlegten zu kooperativen Formen von Machtbeziehungen. In: Mecheril, P. / Quehl, Th. (eds.): Die Macht der Sprachen. Englische Perspektiven auf die mehrsprachige Schule, Münster / New York, 36-62. Esser, H. (2006): Sprache und Integration. Die sozialen Bedingungen und Folgen des Spracherwerbs von Migranten, Frankfurt / New York. Gogolin, I. (2007a): Was ist durchgängige Sprachförderung? In: Gogolin, I. / Lange, I. 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Auch in geisteswissenschaftlichen Diskursen wird gerne und oft auf die Neurowissenschaften rekurriert. Die disziplinären Hürden und Gräben sind jedoch groß, Missverständnisse vorprogrammiert. So ist die Bewertung neurowissenschaftlicher Daten einerseits durch eine kritiklose Akzeptanz gekennzeichnet, andererseits durch abwertenden Tadel. Dies betrifft auch das Thema der Mehrsprachigkeit und des Spracherwerbs, wo gar nicht so selten „neurowissenschaftlich“ argumentiert wird, um die eigene Position zu stützen. Gerne wird von der einen Seite postuliert, dass das Gehirn eines Kindes durch zu viele Sprachen überlastet wird, während die andere Seite ins Feld führt, dass nur das Gehirn von Kleinkindern noch plastisch genug ist, um leicht Sprachen zu lernen. Sprachenlernprogramme berufen sich auf „gehirngerechte Lerntechniken“, in Seminaren lernen die Teilnehmenden die „Arbeitsweise des Gehirns optimal auszunutzen“, und „erkennen sie mittels Gehirnjogging wie neuer Lehrstoff gehirngerecht aufzubereiten sei“ 1 . Hier möchte ich versuchen, den aktuellen Stand der neurowissenschaftlichen Forschung zur Arbeitsweise des Gehirns darzustellen. Ich möchte zeigen, dass das Gehirn ein Kommunikationssystem ist, das für das Lernen spezialisiert ist, und durch das Lernen, auch das Lernen mehrerer Sprachen, modifiziert wird. Die Hirnentwicklung ist durch Erfahrungen geprägt, und unterliegt damit soziokulturellen Einflüssen 2 , die sich oft nur schwer kontrollieren lassen. Somit ist Lernen, wie beispielsweise der Erwerb von Sprachen, ein höchst individueller Prozess. Die Hirnentwicklung ist jedoch nie abgeschlossen, das Gehirn und seine Fähigkeiten sind nicht umkehrbar, aber lebenslang durch Lernen modifizierbar. 1 Diese Zitate sind einschlägigen Internetauftritten entnommen. 2 Die Gegenstände der Forschung in den Geistes- und den Naturwissenschaften nähern sich einander also im humanen Bereich an, hier lassen sich Kultur und Natur nicht voneinander trennen (Welzer 2007). Die Forschungszugänge und -methoden unterscheiden sich jedoch weiterhin. Cordula Nitsch 48 2. Einige Grundlagen zur Arbeitsweise des Gehirns 3 Aufgabe des Gehirns ist die Kommunikation mit der Umwelt und die Anpassung an wechselnde Umweltbedingungen. Das bedeutet, dass das Gehirn laufend Informationen aus der Umwelt erhalten und verarbeiten muss, um die Lebensäußerungen des Organismus in allen seinen Aspekten steuern zu können. Erst das ermöglicht dem Organismus das Überleben. Über die Sinnesorgane Auge, Ohr, Haut, Nase und Mund werden dem Gehirn Informationen aus der Umwelt zugeführt. Das Gehirn verarbeitet sie und formt eine passende Reaktion. Diese Reaktion kann ein Reflex sein (wie das Wegziehen des Fingers von der heißen Herdplatte), sie kann eine konditionierte Aktion sein (wie die Speichelbildung angesichts einer appetitlich angerichteten Mahlzeit) oder sie kann ein komplizierter, sorgfältig ausgearbeiteter Handlungsablauf sein. Wie ist es möglich, dass das Gehirn zu diesen Leistungen fähig ist? Funktionsträger des Gehirns sind die Nervenzellen. Das Gehirn des Menschen besitzt ca. 100 Milliarden Nervenzellen (Neurone). Nervenzellen verfügen über lange Fortsätze (Dendriten und Axone), über die sie Kontakt zu den Sinnesorganen und dem Bewegungsapparat oder untereinander aufnehmen können. Die Kontaktstellen zwischen Nervenzellen sind die Synapsen. Nervenzellen sind elektrisch erregbar. Sie leiten die elektrischen Impulse gerichtet anderen Nervenzellen oder den Erfolgsorganen, z.B. Muskeln und Drüsen, zu. Nervenzellen sind funktionell spezialisiert. Die gerichtete Erregungsleitung ermöglicht, dass Nervenzellen ausschließlich örtlich und qualitativ definierte Reize weiterleiten (z.B. nur Schmerzimpulse - aber keine Tastimpulse - von der Fingerkuppe des Zeigefingers - aber nicht vom Mittelfinger -, der die heiße Herdplatte berührt hat). Die örtliche und qualitative Spezialisierung wird über die weiteren Verarbeitungsstationen aufrechterhalten und bildet die Grundlage für die Repräsentation der einzelnen Körperabschnitte und seiner Funktionen in der Hirnrinde. Rindenareale, die die optischen Impulse aus dem Auge verarbeiten, werden als primäre Sehrinde bezeichnet, Rindenareale, die Impulse vom Innenohr verarbeiten, werden als primäre Hörrinde bezeichnet, und Areale, die Impulse von der Hautoberfläche verarbeiten, als primärer sensibler Cortex. Das Rindenareal, von dem die Impulse für Willkürbewegungen an das Rückenmark und von dort an die Muskeln geleitet werden, ist die primäre motorische Rinde. Eine Zerstörung der primären Areale (z.B. durch einen Tumor oder durch den Ausfall der Blutversorgung im Rahmen eines Schlaganfalls) resultiert in einem Funktionsverlust (sensible Impulse werden nicht wahrgenommen, Willkürbewegungen können nicht mehr ausgeführt werden). In sekundären Cortexarealen, die den primären Arealen benachbart sind, werden die Impulse interpretiert und erkannt (beispielsweise, dass die Fingerspitze verbrannt ist, dass der Tisch hübsch gedeckt ist), oder es wird ein Bewegungsablauf geplant. Das Gehirn des Menschen besitzt zusätzlich große Rindenfelder, die nicht einer einzigen Funktion zugeordnet sind, sondern Impulse mehrerer Qualitäten verarbeiten und integrieren, die multimodal sind (beispielsweise werden dort der hübsch gedeckte Tisch und der Geruch der Speisen zu einer gemeinsamen Wahrnehmung 3 Ergebnisse der Neurowissenschaften, die Eingang in Lehrbücher gefunden haben, werden nicht im Einzelnen nachgewiesen. Empfohlen werden können Kandel et al. (1996) (eine Übersetzung eines hervorragenden Lehrbuchs aus den USA, nun leider schon 10 Jahre alt) und Trepel (2003). Mehrsprachigkeit: Eine neurowissenschaftliche Perspektive 49 eines angenehmen Abendessens integriert und zu weiteren multimodalen Feldern geleitet, die nun wiederum induzieren, dass die Speisen herumgereicht und die Teller gefüllt werden und dass Messer und Gabel zum Einsatz kommen). Ermöglicht wird die gerichtete Erregungsleitung durch den Aufbau der Synapse. Der sendende (präsynaptische) Teil der Synapse enthält in zahllosen Bläschen (synaptische Vesikeln) einen Cocktail an chemischen Überträgersubstanzen (Neurotransmittern), deren Freisetzung bei Erregung durch ein ankommendes Aktionspotential Kanäle im empfangenden (postsynaptischen) Teil der Synapse öffnet. Dies ist die Voraussetzung für eine Potentialänderung in der nachgeschalteten Nervenzelle und die Weiterleitung des elektrischen Impulses. Nervenzellen können bis zu 10'000 Synapsen erhalten und Tausende von Zellen kontaktieren. Im Gehirn existieren Netzwerke von miteinander durch Synapsen verbundenen Nervenzellen, deren Sprache elektrische Impulse sind. In der Regel reicht die Erregung einer einzigen Synapse nicht aus, um in der nachgeschalteten Zelle wiederum ein Aktionspotential auszulösen, mehrere Synapsen müssen zur gleichen Zeit aktiv sein. Dies ist die Grundlage für lokal und zeitlich definierte synchrone Erregungen in neuronalen Netzwerken, die wiederum als Voraussetzung für kognitive Prozesse angesehen werden (Singer 1999, Fries 2005). Der Aufbau der Netzwerke ist nicht dem Zufall überlassen, sondern durch zwei Mechanismen determiniert: durch die genetische Ausstattung des Individuums und durch die Interaktion des Individuums mit der Umwelt. Die Bildung von Nervenzellen in der Hirnanlage des Embryos und deren Positionierung in den verschiedenen Abschnitten des Gehirns verlaufen nach einem festen Zeitplan und sind überwiegend genetisch determiniert. Bei Geburt sind die Nervenzellen schon im Überfluss vorhanden, neue können aber mit wenigen Ausnahmen 4 nicht mehr gebildet werden. Die Reiz-Reaktionsketten, die für Reflexe zuständig sind, sind ebenfalls angelegt. Die meisten Verbindungen müssen jedoch erst noch aufgebaut werden und dies geschieht in der ständigen Auseinandersetzung des Neugeborenen und des Kleinkindes mit der Umwelt. Zunächst ist es nur wichtig, möglichst viele Verbindungen aufzubauen. Häufig verwendete Nervenbahnen zu weiter entfernt liegenden Hirngebieten werden mit einer isolierenden Schicht aus Myelin umhüllt. Dadurch können sich die elektrischen Impulse bis zu 30-mal schneller entlang des Axons ausbreiten. Weniger benötigte Nervenbahnen werden zurückgebildet. Etwa bis zum Alter von zwei Jahren werden lange Verbindungen im Überfluss aufgebaut, danach setzt der Prozess der Konsolidierung und des Abbaus von nicht benötigten Verbindungen ein, und auch die Nervenzellen, von denen sie entspringen, gehen zu Grunde (Squire et al. 2003, 525). Ca. ab dem 20. Lebensjahr gibt es nur noch wenige Veränderungen im Netzwerk der großen Bahnen. Anders ist die Situation auf lokaler Ebene, dort wo die Verarbeitung der Informationen erfolgt, die von den Tastkörperchen und Schmerzrezeptoren der Haut, von Auge und Ohr, von Mund und Nase über getrennte Kanäle in die dafür spezialisierten Hirnareale gelangt. In diesen einzelnen Kerngebieten des Gehirns und in den regionalen Netzwerken der Großhirnrinde können Synapsen lebenslang modifiziert werden. Ihre funktionellen Eigenschaften können sich durch häufigen und / oder 4 Eine Ausnahme ist der Hippocampus, eine obligate Durchgangsstation für das explizite Lernen, wo nach neuesten Befunden wohl lebenslang neue Neurone aus Vorläuferzellen generiert und in das Netzwerk eingebaut werden (Leuner / Gould / Shors 2006). Cordula Nitsch 50 intensiven Gebrauch ändern (sogenannte long-term potentiation bzw. long-term depression), und auch ihre Zahl ist abhängig von der Häufigkeit und der Intensität, mit der sie Impulse weiterleiten müssen (Squire et al. 2003, 1275). Änderungen in der Synapsenzahl innerhalb eines Netzwerks führen aber notwendigerweise zu Änderungen in den Eigenschaften des Netzwerkes. 3. Neuronale Plastizität, Lernen und Gedächtnis Die Modulation der Zahl und Eigenschaften der Synapsen und die damit einhergehende Modulation in den Eigenschaften des Netzwerks werden als Neuronale Plastizität bezeichnet. Neuronale Plastizität ist die neurobiologische Grundlage von Lernen und Gedächtnis (Kandel 2001, Trachtenberg et al. 2002). In der neuropsychologischen Literatur werden verschiedene Arten von Lernen und Gedächtnis unterschieden, die unter anderem durch den Grad des bewussten Verarbeitens während des Lernprozesses charakterisiert sind. Der Erwerb von Wissen (das sogenannte deklarative Gedächtnis) kann nur beim wachen Individuum durch bewusst wahrgenommene Lernprozesse erfolgen. Der Erwerb von Fertigkeiten (das sogenannte prozedurale Gedächtnis) und die Konditionierung von Verhaltensweisen und Emotionen kann auch unbewusst ablaufen und wird unter dem Begriff implizites Lernen subsumiert. Alle diese Lernprozesse lassen sich auf den gleichen Mechanismus der Neuronalen Plastizität zurückführen - Langzeit-Potenzierung und Modifikationen in der Synapsenzahl -, sie laufen aber in unterschiedlichen Hirnregionen ab (Squire et al. 2003, 1299). • Prozedurales Lernen, d.h. der Erwerb von Fertigkeiten wie Radfahren, Schwimmen oder die Handbewegungen beim Schreiben, vollzieht sich in den motorischen Rindengebieten und im Kleinhirn; • Assoziatives Lernen und emotionales Gedächtnis, also die Konditionierung von Angewohnheiten und deren affektive Färbung, vollzieht sich insbesondere im Mandelkern (Amygdala) und in den vordersten Teilen des Großhirns, dem orbitofrontalen Cortex; • Explizites Lernen und deklaratives Gedächtnis, welches den Erwerb von episodischem und semantischem Wissen beinhaltet, ist auf den Hippocampus als erste Prozessierungsstation angewiesen und wird dann in den jeweiligen sekundären sensorischen Arealen und in multimodalen Rindenfeldern abgespeichert. Nicht nur Erlerntes wird in Mikronetzwerken gespeichert. Es werden auch Strategien entwickelt und gespeichert, die den Weg zu den Erinnerungsinhalten und die zeitliche Abfolge ihres Abrufs steuern (s. u.a. Baddeley 2003, Fuster 2001). Die Tatsache, dass Wissen in multimodalen Feldern gespeichert ist, legt nahe, dass Wissen leichter erworben werden kann, wenn es über mehrere sensorische Systeme vermittelt wird, also durch Bilder, Töne, Tast- und Geruchseindrücke. Der Zugang zum Gedächtnis, also das Abrufen der gespeicherten Einheiten, wird ebenfalls durch eine multisensorische Ansteuerung erleichtert. Mehrsprachigkeit: Eine neurowissenschaftliche Perspektive 51 Ursprünglich gingen die Forscher davon aus, dass es sich bei der Neuronalen Plastizität um ein relativ seltenes Phänomen handelt, das sich lediglich beim kindlichen, vielleicht auch noch beim jugendlichen Gehirn findet, und das auf Hirnregionen beschränkt ist, die auf Lernen und Gedächtnis spezialisiert sind, also Hippocampus oder Amygdala. Tatsächlich reifen die primären Rindenareale schon in den ersten Lebensjahren, wobei die Reifung parallel mit der Entwicklung der sensorischen oder motorischen Fähigkeiten verläuft. Für bestimmte Fähigkeiten wie das beidäugige Sehen oder komplexe Bewegungsabläufe sind kritische Altersperioden nachgewiesen worden, in denen die Fähigkeit erworben sein muss, um regel ge recht ausgeführt werden zu können (Hensch 2005, Martin 2005). Auch das Wahrnehmen und Differenzieren von sprachlichen Lauten (Phonemen) erfolgt schon im 1. Lebensjahr (Kuhl 2004). Das Konzept der kritischen Zeitfenster hat weit über die einzelnen Befunde hinaus gewirkt und gerade auch die Spracherwerbsforschung stark beeinflusst. Neuere Studien kommen jedoch zu anderen Ergebnissen: Neuronale Plastizität ist als natürliche Reaktion auf Änderungen in der Umwelt lebenslang vorhanden. Sie betrifft alle Hirngebiete, wenngleich sicherlich sekundäre und multimodale Rindenareale eine höhere Plastizitätsrate aufweisen. Neuronale Plastizität im primären sensiblen und motorischen Cortex kann durch Training induziert werden (Feldman / Brecht 2005, Pascual-Leone et al. 2005). Dies zeigt sich in Modifikationen in der Aktivität in den betroffenen Netzwerken. Mittels der neu entwickelten Methode der strukturellen MRT (Magnet-Resonanz-Tomographie) lässt sich der Grauwert kleinster Abschnitte der Hirnrinde mit einer Auflösung von bis zu 1 Millimeter ermitteln. Der Grauwert wird als Korrelat der Synapsendichte angesehen. Die Grauwertbestimmung ermöglicht es, Änderungen in der Struktur der Hirnrinde beim lebenden Menschen zu erfassen. Der Grauwert ist nach Geschicklichkeitstraining (z.B. Klavierspielen) im Handareal der motorischen und sensiblen Rinde erhöht (Gaser / Schlaug 2003) und nimmt bei komplexen visuellen Aufgaben (Lernen mit drei Bällen zu jonglieren) in der sekundären Sehrinde zu (Draganski et al. 2004). Medizinstudenten zeigen während der dreimonatigen Lernphase für das Zwischenexamen (Physikum) eine Zunahme des Grauwerts in den multimodalen Rindenfeldern des Scheitellappens (Draganski et al. 2006). Frühe Zweisprachigkeit und eine hohe Sprachkompetenz sind ebenfalls mit einem erhöhten Grauwert in multimodalen Rindenarealen des Scheitellappens korreliert (Mechelli et al. 2004). Die Zunahme des Grauwertes kann auch reversibel sein: drei Monate nach Abschluss des Jongliertrainings entsprach er wieder dem Wert vor Beginn des Trainings. Die Zunahme des Grauwerts ist nicht notwendigerweise gleichzusetzen mit einer Zunahme der neuronalen Aktivität, wie sie bei der funktionellen Bildgebung durch PET oder fMRI ermittelt wird. Tatsächlich sind abgeschlossene Lernprozesse häufig mit einer reduzierten Aktivierung verbunden (Erickson et al. 2007). Die Neuronale Plastizität kann demnach zu einer Leistungsoptimierung beitragen. Neuronale Plastizität wird also durch Reize, die über die sensorischen Bahnen in das Gehirn gelangen, induziert und in Gang gehalten. Letztendlich sind es die Umweltereignisse, mit denen das Lebewesen konfrontiert wird, welche das Gehirn und seine Fähigkeiten modulieren. Der Neurowissenschaftler betrachtet die erfahrungsabhängige Neuronale Plastizität (experience-driven neuronal plasticity) als die Grundlage der Individualität eines jeden Menschen. Cordula Nitsch 52 4. Die biologische Grundlage der Sprachfähigkeit Schon im Altertum war bekannt, dass die Fähigkeit des Menschen, durch sprachliche Mittel zu kommunizieren, ein intaktes Gehirn voraussetzt. Die sprachlichen Laute, die das Ohr aufnimmt, und die Schriftzeichen, die das Auge sieht, müssen vom Gehirn dekodiert werden. Zum Schreiben müssen feinste Bewegungen von Arm und Hand durch das Gehirn kontrolliert werden und das Sprechen ist ein höchst komplizierter Prozess, der die Feinabstimmung von Kehlkopf, Rachen, Zunge und Lippen beinhaltet. Diese Fähigkeiten der Wahrnehmung und der Bildung von Sprache sind eindeutig dem Gehirn zuzuordnen. Etwas anderes war es allerdings, als vor ca. 150 Jahren Neurologen zeigen konnten, dass - zusätzlich zu den sensorischen und motorischen Hirnarealen für Sprechen und Schreiben - weitere Hirngebiete für die Interpretation und Produktion von Sprache unabdingbar sind. Diese Sprachareale analysieren und produzieren Sprache per se, unabhängig von den sensorischen and motorischen Modalitäten. Kognitive Fähigkeiten, also Fähigkeiten, die weit über die Kontrolle des Körpers und seiner Tätigkeiten hinausgehen, sind im Gehirn lokalisiert und haben somit eine somatische Basis. Der Pariser Neurologe Pierre Paul Broca und der Leipziger Psychiater Claus Wernicke identifizierten durch Untersuchungen von Hirnverletzten Rindenareale, deren Schädigung zu schweren Beeinträchtigungen des Sprachvermögens führen, bei intakten sensorischen und motorischen Fähigkeiten. In der klassischen Auslegung ist das Broca-Zentrum (Broca 1861) im seitlichen Stirnlappen (frontales Operculum) verantwortlich für Sprachproduktion, das Wernicke-Zentrum im hinteren Schläfenlappen (Planum temporale) für das Sprachverständnis (Wernicke 1874). Bald wurde auch erkannt, dass für die Analyse der geschriebenen Sprache der Gyrus angularis benötigt wird. Weitere Studien bei Patienten mit Beeinträchtigung des Sprachvermögens (bei Aphasikern) führten dann zu dem Konzept des miteinander in einem Schaltkreis verbundenen Systems von Spracharealen (Geschwind 1967). Die Sprachareale bilden die zentralen Stationen in einem Schaltkreis, der in seiner Gesamtheit für die Sprachprozessierung zuständig ist 5 . Das System der Sprachareale ist überwiegend in der linken Hirnhälfte lokalisiert, in der dominanten Hemisphäre. Eine Beteiligung der rechten Hirnhälfte für einzelne Komponenten der Sprachprozessierung oder auch eine vollständige Übernahme dieser Fähigkeit durch die rechte Hemisphäre sind für einzelne Individuen beschrieben. Das System der Sprachareale steht allen Sprachen offen; welche Sprache es erwirbt und ob es mehr als eine Sprache erwirbt, ergibt sich aus dem Umfeld, in das das Kind hineingeboren wird (Krafft / Dausendschön-Gay 1994, Sakai 2005), und der Unterstützung, die es beim Spracherwerb durch Familie und Freunde erhält (Vygotsky 1978, 86). Spracherwerb ist demnach stark von soziokulturellen Einflüssen geprägt, es besteht eine komplexe Interaktion zwischen biologischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten. Mit der Entwicklung der neuen bildgebenden Methoden (Positronen-Emissions- Tomographie - PET und funktionelles Magnetresonanz-Imaging - fMRI) in der klinischen Diagnostik und deren baldigem Einsatz in den kognitiven Wissenschaften wurde es möglich, die Aktivität in Hirnregionen und Netzwerken direkt am lebenden 5 Der Begriff Netzwerk sollte hier nicht verwendet werden, weil das Geschwind’sche Konzept von einem kreisförmigen Verlauf der nacheinander geschalteten Regionen ausgeht, während der Begriff Netzwerk ein geflechtartiges Kreuz und Quer der Erregungen impliziert. Mehrsprachigkeit: Eine neurowissenschaftliche Perspektive 53 Gehirn während verschiedener Leistungen zu messen und, mit einer Auflösung von wenigen Millimetern, bestimmten Hirnarealen zuzuordnen. In weniger als einem Jahrzehnt sind eine Fülle von Daten zur funktionellen Neuroanatomie des Sprachverständnisses und der Sprachproduktion erhoben worden. Es hat sich dabei gezeigt, dass neben den klassischen Spracharealen weitere Hirngebiete aktiviert sind (s. Übersichten u.a. bei Pulvermüller 1999, Poldrack et al. 1999). Ort und Intensität der zusätzlichen Aktivierung hängen von der Art der Stimuluspräsentation (z.B. Schrift, Bild, Mikrofon) und der gestellten Aufgaben (Worterkennung, Satzverständnis, Reimproduktion, Objektbenennung, Satzproduktion) ab. Sie hängen aber auch vom Bekanntheitsgrad - häufig benutzte Wörter aktivieren nur kleine Areale, selten benutzte Wörter aktivieren zahlreiche Areale in beiden Hirnhälften - und von der Wortbedeutung ab: Wörter, die einen visuellen Gehalt haben, z.B. Baum, Katze, koaktivieren visuelle Rindenfelder; Wörter die eine Tätigkeit beinhalten, z.B. Hammer, aktivieren Areale im Bereich der sensomotorischen Rindenfelder (Damasio et al. 1996, Hodges / Spatt / Patterson 1999). Auch der emotionale Gehalt von Wörtern kann Hirnareale aktivieren, die sich mit der Analyse des Gefährdungspotentials (Amygdala, vorderer Gyrus cinguli) befassen (Isenberg et al. 1999). Diese Aufzählung zeigt, dass Sprache ein höchst komplexer Prozess ist, bei dem das Gehirn verschiedenste Bereiche aktiviert, um Information zu extrahieren und eine Antwort zu formen. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass je nach getesteter Sprachkomponente die Sprachareale unterschiedlich aktiv sind und dass weitere Areale, zusätzlich zum Broca- und Wernicke-Zentrum, an der Sprachprozessierung beteiligt sind. Dem Broca-Zentrum kommt neben der Kontrolle der Sprachproduktion eine wichtige Rolle bei der Ausführung syntaktischer Operationen und damit auch für das Sprachverständnis zu (Hagoort et al. 2004). Dem Wernicke-Zentrum benachbarte Areale der sekundären Hörrinde sind an der Analyse von Phonemen beteiligt und multimodale temporale und parietale Rindenfelder dienen als Zwischenstationen für die Laut-Bedeutungs-Analyse (s. u.a. Hickock / Poeppel 2004). Die meisten dieser Felder gruppieren sich um die sog. Sylvi’sche Furche und werden deshalb auch als perisylvische Sprachareale bezeichnet. Die Diskussion, ob die einzelnen Rindenfelder autonome Module sind oder voneinander abhängige offene Arbeitseinheiten, ist nicht abgeschlossen. Diejenigen, die davon ausgehen, dass der Mensch entsprechend der universalen Grammatik wie von Chomsky postuliert eine angeborene Fähigkeit zur Sprachbildung hat, verwenden den Begriff Modul für kleine abgeschlossene Einheiten, die jeweils eine spezifische Sprachkomponente (Syntax, Semantik, Lexikon etc.) verarbeiten (Fodor 1983, Pinker 1998). Insbesondere existiert für diese Autoren auch keine Beziehung der Sprachmodule zu anderen, nicht sprachlich konnotierten Modulen (Module, die beispielsweise die Oberfläche eines Steines ertasten, Auge und Handbewegung koordinieren oder für Teilbereiche der allgemeinen Intelligenz zuständig sind). Anders die meisten Neurowissenschaftler: Sie betrachten das Gehirn als ein Kommunikationssystem, das sich im Laufe der Evolution schrittweise weiterentwickelt. Sie gehen davon aus, dass nicht einzelne Hirngebiete, sondern die integrierten Netzwerke, die durch Verbindungen zwischen den einzelnen Modulen entstehen, verantwortlich sind für sensorische, motorische, aber eben auch für geistige Operationen. Module, die in großen Netzwerken zusammengeschaltet sind, formen Systeme, und diese Systeme sind die Grundlage für komplexes Verhalten (Mesulam Cordula Nitsch 54 1990). Von diesem Standpunkt aus ist Sprache ein hochkomplexes, evolutiv entstandenes und sich fortentwickelndes Kommunikationssystem, das aus zahlreichen anatomisch verstreuten, aber durch Bahnen vernetzten Hirngebieten besteht (Lieberman 2002). Die neuen Bildgebungsverfahren sind nicht in der Lage, diese Kontroverse zu lösen. Funktionelles MRI basiert auf der engen Beziehung zwischen regionaler synaptischer Aktivität und Modifikationen im lokalen Sauerstoffgehalt des Blutes (Lauritzen / Gold 2003, Logothetis 2003), d.h. gemessen wird nicht die Aktivität einzelner Nervenzellen, sondern die Aktivität innerhalb von Netzwerken. Die Aktivierungen zeigen nicht, welche Komponente einer Verhaltensaufgabe das einzelne Hirnareal ausführt, sondern lediglich, ob ein Hirnareal als Glied eines Netzwerkes an einer Aufgabe beteiligt ist. Wie oben dargestellt, hat die Art der Aufgabe, die einer Versuchsperson gestellt wird, einen großen Einfluss darauf, welche Module bzw. Teile des Netzwerkes aktiviert werden. In vielen neurolinguistischen Studien wird ein sehr atomistischer Zugang gewählt: einzelne Wörter werden angeboten oder sollen gebildet werden, vorgegebene Wörter sollen in die syntaktisch korrekte Abfolge organisiert werden, es wird mit Pseudowörtern gearbeitet. Vorteile solcher Versuchsaufbauten sind der hohe Grad an Kontrolle (alle Versuchspersonen, deren Daten in die Analyse eingehen, haben dasselbe geleistet) und die Dekontextualisierung (die Sprache ist sinnentleert und hat damit keinen emotionalen Gehalt, der sich bei einzelnen Versuchspersonen unterschiedlich auswirken könnte). Nachteile sind die Schwierigkeit, die Versuchsbedingungen der einzelnen Forschungsgruppen und damit ihre Ergebnisse miteinander abzugleichen, und das oft fehlende Korrelat zur realistischen Sprachfähigkeit. Genauer gesagt ist es noch nicht getestet, ob das Gehirn tatsächlich entsprechend der linguistischen Konzepte arbeitet, entlang derer diese Versuche konzipiert sind (Franceschini / Zappatore / Nitsch 2003). Die Alternative ist ein holistischer Versuchsaufbau. Tatsächlich ist es ja so, dass in kommunikativen Situationen sprachliche Einheiten sequentiell erscheinen, und dass es der pragmatische Kontext der sprachlichen Einheiten ist, der die Aussage beinhaltet. In einem Versuchsaufbau, der diese kommunikative Situation zulässt, werden allgemeinere Eigenschaften getestet, nämlich die narrative Kompetenz und die Fähigkeit Sätze zu verstehen und Geschichten aufzunehmen. Im Zentrum der Untersuchung steht hier das Zusammenspiel verschiedener sprachverarbeitender Subsysteme und nicht die Meisterung einer kleinen reduktionistischen Kategorie. Der Nachteil dieses Versuchsansatzes ist die eingeschränkte Kontrolle der Leistungen des einzelnen Probanden und die Möglichkeit, dass Hirngebiete aktiviert sind, die nicht direkt mit der Sprachverarbeitung assoziiert sind 6 . 5. Mehrere Sprachen in einem Gehirn Die Vorstellung, dass die einzelnen Sprachen eines Mehrsprachigen in unterschiedlichen Regionen des Gehirns repräsentiert sind, geht auf klinische Fallstudien bei Aphasikern zurück. Nicht so selten beeinträchtigt eine Hirnverletzung die Sprach- 6 Letzteres ist aber auch beim reduktionistischen Ansatz möglich: die Frage nach richtig oder falsch beinhaltet Entscheidungen, die über das rein Sprachliche hinausgehen. Mehrsprachigkeit: Eine neurowissenschaftliche Perspektive 55 verarbeitung der zwei Sprachen eines Zweisprachigen unterschiedlich, und gelegentlich ist nur eine der zwei Sprachen betroffen (eine umfassende Übersicht hierzu findet sich bei Paradis 1995). Dagegen sind Hinweise aus der funktionellen Bildgebung auf getrennte Systeme für jede einzelne Sprache rar (siehe auch hierzu Abutalebi / Cappa / Perani 2001, Franceschini / Zappatore / Nitsch 2003). In der überwiegenden Mehrzahl der Studien mit PET oder fMRI waren keine Unterschiede in der regionalen Aktivierung der zwei Sprachen eines Individuums zu sehen: weder bei der Produktion oder Perzeption von Worten (Chee / Tan / Thiel 1999, Illes et al. 1999, Le Clec’H et al. 2000) noch beim Sprachverständnis auf der Satzebene, nicht bei hoher Sprachkompetenz in der Zweitsprache (Chee / Caplan et al. 1999, Dehaene et al. 1997) und auch nicht bei frühen Zweisprachigen während freier Sprachproduktion (Kim et al. 1997). Strukturelle Unterschiede zwischen sehr unterschiedlichen Sprachen beinhalten ebenfalls keine unterschiedliche Aktivierung bei gesprochener Sprache: wenn Chinesen ihre Erstsprache (L1) hören oder sprechen, sind die gleichen Areale aktiviert wie bei einem Engländer, der seiner L1 lauscht oder sie produziert (s.u.a. Chee / Caplan et al. 1999, Hasegawa / Carpenter / Just 2002, Kim et al. 1997). Gleiches trifft für Mehrsprachige zu: Vingerhoets et al. (2003) berichteten, dass sich die Aktivierungen in drei Sprachen weder in der Aufgabe zur Wortflüssigkeit noch bei Bildbenennung noch beim Lesen eines Textes unterschieden. Auch die viersprachigen Versuchspersonen von Briellmann et al. (2004) aktivierten in einer Substantiv-Verb-Produktionsaufgabe identische Sprachareale in allen 4 Sprachen. Unterschiedliche Aktivierungen fanden sich nur in Ausnahmefällen, nämlich bei starken Kompetenzunterschieden zwischen den Sprachen und wenn die Sprachen in sehr unterschiedlichem Alter erworben wurden. Außerdem wirkt sich die Art der Verschriftlichung der einzelnen Sprachen bei Lese-Aufgaben auf die regionale Aktivierung aus. • Bei Versuchspersonen mit niedriger Sprachkompetenz in ihrer L2 sind zusätzliche Hirnareale beim Versuch das Gesprochene zu verstehen aktiviert, während Personen, die ihre L2 flüssig beherrschen, identische Aktivierungen für beide Sprachen aufweisen (Dehaene et al. 1997, Perani et al. 1998, Chee et al. 2001). • Frühe Zweisprachige, die schon vor ihrem 4. Lebensjahr mit der zweiten Sprache konfrontiert waren, aktivieren bei freier Sprachproduktion identische Subareale innerhalb des Broca-Zentrums, während Personen, die erst nach dem 10. Lebensjahr die L2 erworben haben, getrennte Subareale aktivieren (Kim et al. 1997). • Bei Testaufgaben, die mit geschriebener Sprache arbeiten, können unterschiedliche Aktivierungen auftreten. Bei alphabetisierten Schriften bedingt die unterschiedliche Orthographie, wie z.B. dem buchstabengetreu zu lesenden Italienisch und dem eher ganzheitlich zu erfassenden Englisch, Differenzen in der Lesestrategie, die sich in der regionalen Aktivierung widerspiegeln (Paulesu et al. 2000). Noch größere Unterschiede bestehen beim Lesen von chinesischen Schriftzeichen. Insofern erstaunt es, dass Chee / Tan / Thiel (1999) bei frühen Englisch-Mandarin-Bilingualen keine Unterschiede beim Prozessieren dieser differenten Schreibsysteme fanden. Eine nachfolgende Studie zeigte dann allerdings, dass die Sprache, in der zuerst Lesen Cordula Nitsch 56 und Schreiben gelernt wurde (Japanisch oder Englisch), die Art und Weise der Prozessierung in der Zweitsprache beeinflusst (Tan et al. 2003). Die neurolinguistische Forschung bei Zwei- oder Mehrsprachigen beschränkt sich jedoch nicht nur darauf, Unterschiede zwischen Sprachen oder bei der Prozessierung von L1, L2 und weiteren Sprachen zu finden. Es stellt sich beispielsweise die Frage, wie das Gehirn in der Lage ist, zwischen den verschiedenen Sprachen eines mehrsprachigen Repertoires zu unterscheiden. Bei spanisch-katalanischen Bilingualen konnten z.B. Rodriguez-Fornells und Koautoren (2002) zeigen, dass sie einen anderen Verarbeitungsweg benutzen als die „mono“-lingualen Spanier 7 mit starker Aktivierung im lateralen präfrontalen Cortex. Demnach unterscheiden sich die Mechanismen, mit der die Interferenz kontrolliert wird, in Abhängigkeit von dem Alter, in dem eine zweite Sprache erworben wird. Das heißt aber nicht nur, dass sich die Strategie und der Grad der Diskriminierung zwischen Sprachen bei frühen und späten Mehrsprachigen unterscheidet, sondern legt nahe, dass ein früher Mehrsprachiger insgesamt eine andere Sprachverarbeitungsstrategie entwickelt hat als ein einsprachig aufgewachsener Jugendlicher. 6. Cerebrale Sprachverarbeitungsstrategien Wie schon erwähnt, befassten sich die ersten PET- / fMRI-Untersuchungen von Zweisprachigen mit möglichen unterschiedlichen Lokalisationen der zwei Sprachen, die pro Probanden getestet wurden. Unterschiede in der Aktivierung wurden nur bei größeren Differenzen in der Beherrschung der beiden Sprachen (z.B. Perani et al. 1998) und bei relativ spätem Erwerb der L2 gefunden. So aktivieren frühe Bilinguale bei freier Narration identische Subareale im Broca-Zentrum, während Probanden mit Zweitspracherwerb erst nach dem 10. Lebensjahr getrennte Felder für die beiden Sprachen benutzten (Kim et al. 1997). Eine Schwäche der meisten Arbeiten zur Mehrsprachigkeit ist, dass sie nur zwei Sprachen in den Fokus ihrer Untersuchungen nehmen. Dabei spricht heute in den nicht-englischsprachigen Ländern die Mehrheit der schulisch ausgebildeten Menschen drei oder mehr Sprachen, und ist es das erklärte Ziel der Europäischen Kommission, dass mit Abschluss der Schulausbildung mindestens drei europäische Sprachen beherrscht werden sollen (Council of Europe 2001). In unseren eigenen Untersuchungen zur Neurobiologie der Mehrsprachigkeit haben wir deshalb erwachsene Mehrsprachige untersucht, die mindestens drei Sprachen fließend beherrschten. Zusätzlich erlaubte uns dies, den Einfluss des Alters des Zweitspracherwerbs auf die Repräsentation sowohl der Erstsprache als auch der Drittsprache zu bestimmen. Der fMRI-Teil des Projekts lehnte sich an die Versuchsbedingungen von Kim et al. (1997) an: die Probanden erzählten, was sie am Tag zuvor erlebt hatten, in jeder ihrer drei Sprachen in einem separaten Untersuchungsblock (Wattendorf et al. 2001, Kaiser et al. 2007). In einer ersten Einzelanalyse gelang es uns, die Ergebnisse von Kim et al. (1997) zu reproduzieren und zu ergänzen: Frühe Mehrsprachige (L1 und L2 war vor dem 3. 7 Tatsächlich waren alle Probanden mehrsprachig - die Untersuchung wurde an ausländischen Studierenden in Deutschland durchgeführt -, eine L2 war lediglich zu einem früheren oder einem späteren Zeitpunkt im Leben der Probanden erworben worden. Mehrsprachigkeit: Eine neurowissenschaftliche Perspektive 57 Lebensjahr erworben worden) aktivieren überlappende Subareale im Broca-Zentrum, und zwar nicht nur für ihre L1 und L2, sondern auch für die spät (nach dem 9. Lebensjahr) gelernte L3. Dies zeigt zum einem, dass früh gelernte Sprachen das gleiche Netzwerk innerhalb des Broca-Zentrums benutzen, und zum anderen, dass dieses Netzwerk auch spät hinzukommenden Sprachen zur Verfügung steht. In Gegensatz dazu aktivieren späte Mehrsprachige (L2 und L3 wurden erst nach dem 9. Lebensjahr gelernt) kleine getrennte Subareale innerhalb des Broca-Zentrums, die sich nur gering überlappen (Zappatore / Nitsch 2004). Dies kann dahingehend interpretiert werden, dass bei spätem Zweitspracherwerb jede Sprache ein eigenes Netzwerk innerhalb des Broca-Zentrums aufbauen muss, während bei frühem Zweitspracherwerb schon ein Netzwerk vorhanden ist, das von weiteren Sprachen genutzt werden kann. Der Schluss liegt nahe und wird von psycholinguistischen Studien gestützt (s. u.a. Franceschini 1999), dass sich frühe Mehrsprachigkeit positiv auf den Erwerb weiterer Sprachen auswirkt. In der Folge haben wir diese Einzelbefunde einer quantitativen Gruppenanalyse zugeführt, indem wir den prozentualen Anteil der Überlappung der Aktivierung in der L3 mit der durch die L1 vorhandenen berechnet haben, getrennt für frühe und späte Mehrsprachige. Der Grad der Überlappung ist bei frühen Mehrsprachigen erheblich höher (mehr als 50% im Mittel), während er bei späten Mehrsprachigen unter 25% liegt. Wegen der großen interindividuellen Variabilität liegt das Signifikanzniveau jedoch nur bei 10%, d.h. die Wahrscheinlichkeit, dass der Befund sich nicht reproduzieren lässt, liegt bei 10% (Kuenzli / Zappatore / Nitsch, unveröffentlichte Beobachtung). In einer kürzlich erschienenen Arbeit zu Wort- und Satzgeneration postulieren Mahendra et al. (2003), dass nicht so sehr unterschiedliche Gebiete in den klassischen Spracharealen von Broca und Wernicke aktiviert sind, sondern dass frühe Bilinguale in ihren beiden (frühen) Sprachen innerhalb dieser Areale größere Teile aktivieren als es bei der L1 und der L2 von späten Zweisprachigen der Fall ist. Auch unsere frühen Mehrsprachigen zeigen eine höhere Anzahl aktivierter Einheiten (in der Fachsprache Voxel genannt) innerhalb des Broca-Zentrums für ihre drei Sprachen (Wattendorf et al. 2001). Frühe Zweisprachigkeit geht also einher mit einer ausgedehnteren Aktivierung im Broca-Zentrum, in welche die späte dritte Sprache integriert werden kann. Ein früher Zweitsprachenerwerb hat nicht nur Auswirkungen auf das Broca- Zentrum, sondern auf viele weitere Hirngebiete. Frühe Mehrsprachige aktivieren beim Prozessieren ihrer L1 (und der frühen L2) ein ausgedehntes Netzwerk in den vorderen motorischen Bereichen der linken Hemisphäre, insbesondere frontale und laterale präfrontale Cortexareale, während späte Mehrsprachige in ihrer L1 eher hinten gelegene sensorische Rindenfelder benutzen (Wattendorf 2006, Wattendorf et al. eingereicht). Die präfrontale Aktivierung erinnert an die Befunde von Rodriguez- Fornells et al. (2002) bei spanisch-katalanischen Bilingualen, denen es mit Hilfe dieser Hirngebiete gelang, Interferenzen zwischen den beiden Sprachvarietäten zu vermeiden. Frühe Exposition gegenüber einer zweiten Sprache hat demnach bleibende Auswirkungen auf die Sprachprozessierung, indem es präfrontale Rindenfelder in die Sprachverarbeitung einbezieht, die es ermöglichen, zwischen gleichzeitig vorhandenen Alternativen (den beiden früh erworbenen Sprachen) zu selektionieren. Die Prozessierungsstrategie, die sich im Laufe des Erwerbs der L1 mit oder ohne eine gleichzeitig präsente L2 ausbildet, hat Rückwirkungen auf die Prozessierung Cordula Nitsch 58 der spät erworbenen Sprachen: die Aktivierungsbilder in der L3 ähneln denen der jeweiligen L1. Späte Mehrsprachige aktivieren in der L3 (und der L2) mehr sensorische Hirnareale, frühe Mehrsprachige dagegen in ihrer L3 überwiegend motorisch assoziierte frontale Rindenfelder (Wattendorf 2006, Wattendorf et al. eingereicht). Dies allerdings mit einem Unterschied: die präfrontalen Rindenfelder, die für die Vermeidung von Interferenzen zuständig sind, sind in der spät gelernten L3 nicht aktiviert. Es könnte also sein, dass für spät gelernte Sprachen andere Mechanismen eingesetzt werden, um mit Interferenzen umzugehen. Unsere Befunde zeigen, dass es für die Etablierung des Sprachennetzwerks im Gehirn keineswegs trivial ist, ob in der frühen Kindheit eine zweite Sprache erworben wird oder nicht. Daran knüpft sich die Frage an, ob für die frühe Mehrsprachigkeit ein kritisches Zeitfenster besteht und in welchem Alter dies anzusetzen ist. 7. Zum kritischen Alter für den Sprachenerwerb Die Frage bezüglich eines kritischen Alters für die „muttersprachliche“ Art des Spracherwerbs ist noch nicht beantwortet. Viele Sprachwissenschaftler hängen der Auffassung von Chomsky an, dass ein fundamentaler Unterschied zwischen Erst- und Zweitspracherwerb besteht („Like other kinds of growth, language acquisition happens easily at a certain age, but not later. There comes a time when the system doesn’t work anymore. There are individual differences [...] but for most people, after adolescence, it becomes very hard. The system is just not working for some reason, so, you have to teach the language as something strange.“ Chomsky 1997, 128) . Als Altersschwelle wird am häufigsten das 3. Lebensjahr genannt (s. u.a. Meisel 2004 und die Diskussion dort sowie Meisel in diesem Band). De Houwer (1995) unterscheidet den bilingualen Erstspracherwerb zwischen Geburt und zweitem Lebensjahr von dem bilingualen Zweitspracherwerb nach dem 2. Lebensjahr. Zu den Gegnern jeglicher Altersgrenzen gehören Baker / Prys Jones (1998), die proklamieren „that a critical period in the development of first and second languages is now discredited.“ Diese divergenten Auffassungen beruhen auf theoretischen Positionen und damit der Einschätzung der Aussagekraft der verschiedenen Daten, beispielsweise hinsichtlich grammatikalischer Beurteilungen, Sprachproduktionsaufgaben, Entwicklungsstufen (des Kindes und der Sprachentwicklung) und psycholinguistischer Experimente. Abgesehen vom theoretischen Standpunkt kann jedenfalls als gesichert gelten, dass die einzelnen Sprachkomponenten sich in einer zeitlichen Abfolge entwickeln. Die Fähigkeit zur Identifizierung und Diskriminierung von Phonemen (z.B. zur Unterscheidung der Laute [r] und [l]) ist schon bei Geburt vorhanden und verliert sich im Laufe des 2. Lebensjahrs (Bosch / Costa / Sebastian-Galles 2000, Kuhl 2004). Andere Komponenten wie Morphologie und Syntax werden mit zunehmendem Alter mühsamer erworben, während das Lexikon zeitlebens erweitert werden kann (Flege / Yeni-Komshian / Liu 1999). Was können die Neurowissenschaften zu dieser Diskussion beitragen? Gesichert ist, dass der Spracherwerb in der frühen Kindheit mit der Hirnentwicklung korreliert (Kuhl 2004, Sakai 2005). Das kindliche Gehirn besitzt Nervenzellen und Verbindungen im Überfluss, die bei Nichtgebrauch zurückgebaut werden. Es ist ja durchaus sinnvoll, wenn das Gehirn sich auf das konzentrieren kann, was relevant ist, bei- Mehrsprachigkeit: Eine neurowissenschaftliche Perspektive 59 spielsweise auf sprachliche Laute, die von den Bezugspersonen verwendet werden, und es nicht von einer Unzahl von irrelevanten Reizen überflutet wird. Allerdings behalten zahlreiche Rindenfelder eine hohe Plastizität auch jenseits der ersten Lebensjahre bei. Eine erste longitudinale Studie zur Sprachproduktion von 30 Kindern zwischen dem 5. und 11. Lebensjahr fand eine schrittweise Konzentration der Sprachaktivierung in Richtung der linken Hemisphäre und der klassischen Sprachzentren. Bei der jährlichen funktionellen Messung im Magnetresonanztomographen fand sich bei der immer gleichen Sprachaufgabe (Wortbildung auf Aufforderung) eine Reorganisation der Aktivierung, die im Broca-Zentrum besonders ausgeprägt war (Szaflarski et al. 2006 8 ). Das Broca-Zentrum und andere perisylvische Sprachareale behalten also bis weit in das Jugendalter hinein eine hohe Plastizität. Es erscheint durchaus möglich, die plastischen Potentiale des Broca-Zentrums noch zwischen dem 9. und 11. Lebensjahr durch eine altersgerechte Fremdprachenexposition anzuregen. Wir selber haben unsere Untersuchungen an frühen und späten Mehrsprachigen ergänzt durch die Rekrutierung weiterer Mehrsprachiger. Auf der Basis von detaillierten Sprachbiographien (s. dazu Abschnitt 8) wurden folgende Gruppen gebildet: • 16 simultane Bilinguale sind von Geburt an in einer zweisprachigen Umgebung aufgewachsen. • 8 verdeckt simultane Bilinguale stammen aus einsprachigen Familien, lebten aber von Geburt an in einer Umgebung, deren Umgangssprache von der Familiensprache differierte. Sie wurden zwar nicht aktiv in zwei Sprachen unterstützt, aber zusätzliche Analysen zeigten eindeutig, dass ihre Sprachaktivierungsmuster denen der simultan Bilingualen glichen (Bloch 2006). Frühere linguistische Untersuchungen hatten schon gezeigt, dass „passive“ Sprachexposition während der Kindheit zum Spracherwerb führen kann (Franceschini 1996, 1999). Die beiden Gruppen konnten also zu einer Gruppe der simultan Mehrsprachigen zusammengefasst werden. • 8 sukzessive Mehrsprachige haben ihre L2 zwischen dem 1. und 5. Lebensjahr erworben. • 12 späte Mehrsprachige hatten ihre erste Fremdsprachenexposition in der Schule, jenseits des 9. Lebensjahrs. Die fMRI-Daten dieser Probanden zeigten auch innerhalb der einzelnen Gruppen eine hohe Variabilität bezüglich des Grades der Aktivierung (aber nicht der regionalen Verteilung), die weit höher war als die Unterschiede in der Aktivierung zwischen L1, L2 und L3. Die Unterschiede in der Aktivierung innerhalb des Broca- und des Wernicke-Zentrums waren für die simultan Mehrsprachigen am geringsten, bei den sukzessiv Mehrsprachigen höher und bei den späten Mehrsprachigen sehr groß (Bloch 2006, Bloch et al. 2006). Es gibt demnach einen graduellen Wechsel von der gemeinsamen Aktivierung für alle Sprachen bei simultan Mehrsprachigen zu einer verstreuten diversen Aktivierung bei späten Mehrsprachigen. Dieser Befund 8 Diese Studie ist in den USA auf Englisch durchgeführt worden. Leider geht sie nicht darauf ein, ob ausschließlich monolinguale Kinder untersucht wurden oder auch einige darunter waren, die einer Zweitsprache ausgesetzt waren. Cordula Nitsch 60 trifft nur auf die klassischen Sprachareale zu, die anderen perisylvischen Areale zeigten kein klares Ergebnis hinsichtlich dieses Parameters. 8. Zur „idealen“ Methode des Sprachenerwerbs Sprachen werden nicht nur in unterschiedlichen Lebensaltern, sondern auch unter unterschiedlichen Umständen und bis zu einem höchst unterschiedlichen Kompetenzgrad gelernt. Dies wird Auswirkungen auf die Art und Weise haben, in der das mehrsprachige Repertoire strukturiert und im Gehirn repräsentiert wird. Die Historie des Erwerbs eines mehrsprachigen Repertoires kann durch Sprachbiographien dokumentiert werden (Franceschini 2002, Franceschini / Miecznikowski 2004). In Tiefeninterviews erzählt (und rekonstruiert) der Informant seine eigene Spracherwerbsbiographie. Neben dem Alter des Erwerbs der einzelnen Sprachen und Sprachvarietäten werden Informationen zur Art des Erwerbs (informell, in der Familie oder bei Freunden und / oder formal in der Schule, einschließlich Lesen und Schreiben), zu emotionalen und motivationellen Aspekten während der Lernphasen sowie hinsichtlich der Häufigkeit mit der die Sprachen eingesetzt werden und mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten, unter denen dies geschieht. Es ergibt sich - wie zu erwarten - eine Fülle von höchst individuellen Spracherwerbsbiographien, deren Analyse hinsichtlich Inhalt und Form es jedoch erlaubt, typische Eigenschaften zu extrahieren und Präferenz-Profile des Sprachenlernens zu erstellen (Zappatore 2004, 2006). Diese Präferenz-Profile korrelieren mit der regionalen Sprachaktivierung in der L3 (Kuenzli et al. 2004, Nitsch et al. 2005, Kuenzli 2006). Sprachenlerner, die implizite Lernstrategien bevorzugen (Lernen durch Kommunikation, im privaten Umfeld, kein Interesse an metalinguistischem Wissen) zeigen eine insgesamt niedrige Aktivierung mit der Neigung zur Aktivierung beider Hirnhälften, auch des Broca- und Wernicke-Analogs in der rechten Hemisphäre. Sprachenlerner, die explizite Lernstrategien bevorzugen (regelbasiertes, strukturiertes Lernen, Schriftlichkeit, Fokussierung auf Grammatik und gute metalinguistische Kenntnisse) zeigen eine starke linksseitige Aktivierung, insbesondere des Broca- Zentrums. Diese Befunde treffen aber nur für Versuchspersonen zu, die extreme Präferenz- Profile aufweisen. Von den 98 Mehrsprachigen, die in unserem Projekt interviewt wurden (Zappatore unveröffentlicht), konnten lediglich neun den expliziten Sprachenlernern und elf den impliziten Sprachenlernern zugeordnet werden. Die Mehrheit der Informanten zeigten Eigenschaften aus beiden Gruppen und setzten Lernstrategien kontextbezogen ein. Die oben beschriebenen Unterschiede in der L3 zeigten sich tendenziell auch in der L1: das Aktivierungsbild wird beibehalten, wenn auch weniger ausgeprägt (Kuenzli 2006). Obwohl der Erstspracherwerb überwiegend implizite Strategien beinhaltet, zeigt sich bei expliziten Sprachenlernern schon in der L1 die Präferenz für eine strukturierte, grammatikbasierte Sprachprozessierung. Die Entstehung von Präferenzprofilen des Spracherwerbs ist demnach ein Prozess, der in der frühen Kindheit beginnt, dessen Ausprägung jedoch vermutlich während des Erwerbs weiterer Sprachen verstärkt oder abgeschwächt werden kann. Was bedeutet das aus neurowissenschaftlicher Sicht für den Sprachunterricht? Schon das kleine Kind besitzt neuronale Netzwerke, die den Spracherwerb ermög- Mehrsprachigkeit: Eine neurowissenschaftliche Perspektive 61 lichen. Diese Netzwerke können durch altersgerechte Lehr- und Lernprogramme angesprochen werden und den Spracherwerb erleichtern. Andererseits ist bekannt, dass das Lernen selbst die Netzwerke modifiziert. Häufig werden sich im Laufe eines Lebens Lernpräferenzen ändern und neue Lernstrategien hinzukommen. Ein anderer Faktor, von dem immer wieder behauptet wird, dass er die Sprachverarbeitung und den Spracherwerb beeinflusse, ist das Geschlecht. Das biologische Geschlecht (englisch sex) ist ein genetisches Merkmal, welches primär für die Ausbildung der (männlichen) Geschlechtsorgane verantwortlich ist, dem aber gerne auch Einflüsse auf kognitive Prozesse zugesprochen werden. Sprachwissenschaftler fanden, dass Frauen Vorteile bei der Sprachproduktion und in der Flüssigkeit des Ausdrucks haben, während Männer über bessere sprachanalytische Fähigkeiten verfügen (Halpern 1992, Hyde / Linn 1988). Neurowissenschaftler haben sich früh dieses Themas angenommen und über die letzten zehn Jahre ist eine Vielzahl von PET- und fMRI-Arbeiten hierzu erschienen, allerdings mit sehr divergierenden Resultaten. Insbesondere Unterschiede im Grad der Lateralisation beherrschen die Diskussion (s. u.a. Shaywitz et al. 1995, Kansaku / Yamaura / Kitazawa 2000, Phillips et al. 2001, Baxter et al. 2003). Bei einer kritischen Durchsicht dieser Arbeiten fällt auf, dass bei hohen Probandenzahlen meist keine Geschlechtsunterschiede auftreten (Frost et al. 1999, Plante et al. 2005), und auch eine erste Metaanalyse fand keine Unterschiede in der regionalen Aktivierung zwischen Männern und Frauen (Sommer et al. 2004). In unserer eigenen Kohorte haben wir einen Lateralisationseffekt gefunden, aber im Vergleich zu älteren Untersuchungen in der entgegengesetzten Richtung: Männer zeigten eine Tendenz zur bilateralen Aktivierung, vor allen im Broca-Zentrum, während Frauen ein links-lateralisiertes Aktivierungsmuster aufwiesen (Kaiser et al. 2007). Grund für diese Differenz könnte die Art unserer Aufgabe sein (freies Erzählen in unserer Studie gegenüber Wort-Generation, Satz-Verständnis oder metalinguistischen Beurteilungen bei den oben zitierten Arbeiten), oder auch Eigenschaften unserer Probanden (sie waren mehrsprachig, stammten oft aus Migrantenfamilien, studierten oder waren Assistenten an der Universität). In den Genderwissenschaften wird gerne argumentiert, dass die als angeboren interpretierten Differenzen zwischen Männern und Frauen lediglich das Resultat unserer sozial konstruierten Wahrnehmung von Differenzen seien (beispielsweise Butler 1991). Die soziokulturelle Konstruktion wirkt auf das Gehirn zurück (Fausto- Sterling 2000), sie schreibt sich in das Gehirn ein, wie es der erfahrungsgerichteten Neuronalen Plastizität eigen ist (Nitsch 2003, Schmitz 2002). Insofern sind Geschlechtsunterschiede zumindest teilweise sozial konstruierte Unterschiede, die aber nichtsdestoweniger für jedes Individuum von Bedeutung sind. 9. Schlussfolgerung Ich habe hier versucht darzulegen, dass das Gehirn für das Lernen gebaut ist und durch das Lernen weiter ausgebaut wird. Auf der Grundlage der genetischen Ausstattung, die einen groben Bauplan vorgibt, werden durch die Umwelt die Bildung und die Konsolidierung von synaptischen Schaltkreisen und neuronalen Netzwerken vorangetrieben. Angepasst an die Anforderungen der Außenwelt und des eigenen Cordula Nitsch 62 Organismus differenzieren sich die Strukturen, die zum Spracherwerb befähigen und die im Laufe des Spracherwerbs weiter modifiziert und ausgebaut werden. Für den Erwerb der Erstsprache(n) bedeutet dies vor allem anderen, dass vielfältige kommunikative und interaktive Bedingungen vorhanden sein müssen, um die angeborene Fähigkeit zur Sprache beim Neugeborenen zu stimulieren. Die Anwesenheit von nur einer Sprache einerseits oder aber zwei (oder mehrerer) Sprachen andererseits kann die Größe und den Grad der Aktivierung durch die erste(n) Sprache(n) innerhalb des Broca- und des Wernicke-Zentrums beeinflussen, kann zur Rekrutierung weiterer motorischer frontaler und präfrontaler Rindenfelder für die Sprachverarbeitung führen und hat Auswirkungen auf den Grauwert weiterer sprachunterstützender Areale im Scheitellappen. Die Frage, bis zu welchem Alter ein muttersprachlicher Erwerb von Zweit- und Drittsprachen möglich ist, kann nicht eindeutig beantwortet werden. Für verschiedene Sprachkomponenten bestehen wohl verschiedene Zeitfenster. Zwischen dem 3. und 10. Lebensjahr vollzieht sich ein Übergang von den impliziten Lernstrategien des Kleinkindes zu den expliziten Lernstrategien des Schülers. In der Mehrzahl der Fälle sind diese für den Fremdsprachenerwerb erforderlich. Die Beobachtung, dass frühe Mehrsprachige ihre Sprachareale so ausgebildet haben, dass weitere Sprachen sich dort ansiedeln können, und nicht wie bei späten Mehrsprachigen für jede Sprache ein neues Netzwerk aufgebaut werden muss, könnte erklären, wieso Bilinguale leichter weitere Sprachen erwerben. Weitere Faktoren, nicht nur das Alter der Exposition gegenüber zusätzlichen Sprachen, haben einen Einfluss auf die Sprachfähigkeit und den Spracherwerb, beispielsweise die individuellen Sprachlernstrategien und eventuell das Geschlecht. Beide Faktoren werden durch das soziokulturelle Umfeld geprägt, dem das Kind in der Familie, auf dem Spielplatz, im Kindergarten und in der Schule ausgesetzt ist. Diese und weitere hier nicht spezifizierte Einflüsse führen dazu, dass jeder Mensch ein höchst individuelles Netzwerk der Sprachprozessierung ausbildet. Von diesem Kenntnisstand ausgehend kann die Botschaft aus den Neurowissenschaften an die Schule und andere (sprach-)fördernde Insititutionen nur sein, dass es nicht die eine ideale Sprachlehr- und -lernmethode geben kann. Jedes Kind ist ein Individuum mit einem einzigartigen Gehirn. Das Ziel sollte es sein, das individuelle Gehirn und seine Lernstrategien anzusprechen und durch eine Vielzahl unterschiedlicher Unterrichtstechniken zu stimulieren. Danksagung Dieser Artikel und die darin beschriebenen Untersuchungen waren nur möglich durch die Diskussionen und die Arbeiten aller Mitglieder der interdisziplinären Basler Projektgruppe Multilingualbrain (C. Bloch, R. Franceschini, A. Kaiser, E. Künzli, G. Lüdi, E.-W. Radü, E. Wattendorf, B. Westermann, D. Zappatore, B. Zurfluh). Besonderer Dank gebührt Frau Prof. Rita Franceschini, die mit mir zusammen das Projekt initiierte und später die Möglichkeiten zur Verfügung stellte, um die Daten zusammenzufassen und sie zu reflektieren. Mehrsprachigkeit: Eine neurowissenschaftliche Perspektive 63 10. Literaturverzeichnis Abutalebi, J. / Cappa, S.F. / Perani, D. (2001): The bilingual brain as revealed by functional neuroimaging. In: Bilingualism: Language and Cognition 4, 179-190. Baddeley, A.D. (2003): Working memory and language: An overview. In: Journal of Communication Disorders 36 / 3, 189-208. Baker, C. / Prys Jones, S. (1998): Encyclopedia of Bilingualism and Bilingual Education, Clevedon. Baxter, L. / Saykin, A. / Flashman, L. / Johnson, S. / Guerin, S. / Babcock, D. / Wishart, H. (2003): Sex differences in semantic language processing: a functional MRI study. In: Brain and Language 84 / 2, 264-272. Bloch, C. (2006): On the impact of the age of second language acquisition and language relatedness on the regional cerebral activation in multilinguals - a voxelbased fMRI Study. MD thesis, University of Basel. Bloch, C. / Kuenzli, E. / Zappatore, D. / Luedi, G. / Franceschini, R. / Radue, E.-W. / Nitsch, C. 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Der Spracherwerb beruht auf drei Voraussetzungen: (a) einer speziellen Veranlagung, (b) leistungsfähigen Verarbeitungsstrategien, die das Erkennen und Speichern von Ähnlichkeiten und Kontrasten ermöglichen, und (c) einer anregungsreichen sprachlichen Umgebung, dem sogenannten Input. Das genaue Zusammenspiel dieser Komponenten ist ungeklärt und bietet daher nach wie vor Anlass zu intensiven Kontroversen (vgl. Crain 1991, Hirsh-Pasek / Golinkoff 1996). Die Diskussion um angeborene oder erworbene Eigenschaften natürlicher Sprachen wird im Folgenden allerdings nur eine marginale Rolle spielen. Ziel meines Beitrags ist es vielmehr, der Frage nachzugehen, was passiert, wenn der Input, den ein Kind zu verarbeiten hat, in mehr als einer Sprache erfolgt. Erweist sich der Spracherwerb auch unter den Bedingungen der Mehrsprachigkeit noch als robust? Wie früh können Kinder Sprachen trennen? Wie lange bleibt das biologische Fenster geöffnet, das es erlaubt, eine nach Beginn des Erstspracherwerbs hinzutretende Sprache noch ebenso problemlos zu meistern? Die Antworten auf diese Fragen sind nicht nur von wissenschaftlichem Interesse, denn in der aktuellen Diskussion um die Verbesserung der Bildungschancen von Kindern mit Migrationshintergrund gewinnt die Erforschung der Bedingungen und Möglichkeiten früher Mehrsprachigkeit besondere Relevanz. Im Mittelpunkt meines Beitrags steht der Erwerb ausgewählter Aspekte der deutschen Satzstruktur, insbesondere der Erwerb der Verbstellung und der morphologischen Markierung des finiten Verbs. Dabei handelt es sich um Phänomene, die für unterschiedliche Erwerbstypen, inklusive des Zweitspracherwerbs von Erwachsenen (vgl. den Überblick in Hawkins 2001) und des gestörten Erstspracherwerbs (vgl. Clahsen 1988, Grimm 2000b, Lindner 2002, Schulz i.Dr.a) hinreichend gut untersucht wurden, so dass ein Vergleich möglich ist. Im Folgenden wird zunächst anhand eines kurzen Überblicks über die Grammatik des Deutschen dargelegt, worin überhaupt die Erwerbsaufgabe besteht. Die Abschnitte 3-5 fassen aktuelle Forschungsergebnisse zum Erstspracherwerb (L1), zum doppelten Erstspracherwerb (2L1) und zum Erwerb des Deutschen als Zweitsprache (L2) im Alter von drei bis vier Jahren zusammen. Alle drei Erwerbsszenarios, so das zentrale Ergebnis, unterscheiden sich vom natürlichen Erwerb des Deutschen durch Rosemarie Tracy 70 Erwachsene und vom gestörten Spracherwerb. Der letzte Abschnitt unterstreicht, was die sprachwissenschaftliche Forschung beitragen kann, um die frühe Mehrsprachigkeit (und die Mehrsprachigkeit schlechthin) vom Ruf des Außergewöhnlichen oder Unnatürlichen zu befreien und neue Wege für den Umgang mit der Koexistenz multipler sprachlicher Ressourcen im Kopf des Individuums und in unserer Gesellschaft zu eröffnen. 2. Die Architektur deutscher Sätze: Worin besteht die Erwerbsaufgabe? Das Ergebnis des Spracherwerbsprozesses ist ein effizientes Zusammenspiel unterschiedlicher, koexistierender Kenntnissysteme. Auf der Ebene der Phonologie müssen sich Kinder das Lautinventar ihrer Umgebungssprache(n), die zulässige Kombinatorik von Lauten sowie die prosodischen Muster von Wörtern und Sätzen erschließen. Auf anderen Ebenen (Morphosyntax, Semantik) gilt es, die interne Struktur von Wörtern und Sätzen zu entdecken und ihnen Bedeutungen zuzuordnen. Die Ebene der Pragmatik verlangt es Lernern ab, sich auf das Vorwissen ihrer Gesprächspartner einzustellen; ohne pragmatische Kompetenz könnten sie beispielsweise bestimmte und unbestimmte Artikel oder Pronomina nicht angemessen verwenden und hätten Probleme mit der Verteilung thematischer und rhematischer Information im Satz. Schließlich müssen sich Kinder auch kulturspezifische Kommunikationsstandards aneignen und lernen, wer was wann und wie, z.B. wie direkt, sagen oder schreiben darf. Die Grammatik unserer Erstsprachen eignen wir uns beiläufig an. Das zugrunde liegende Regelsystem bleibt implizit und ist dem Bewusstsein nicht zugänglich. Aber obwohl wir die von uns verinnerlichten grammatischen Regeln nicht explizit darlegen können, weil sie Teil unseres prozeduralen, nicht unseres deklarativen Wissens sind, sind wir dazu in der Lage, Verletzungen von Formen oder Verwendungsweisen zu erkennen. Wir können beispielsweise spontan sagen, dass *btip kein mögliches deutsches Wort ist. Wir wissen auch, dass in dem Satz Wer will einen Kuchen backen, der muss haben sieben Sachen des Kinderlieds Backe, backe, Kuchen mehrere syntaktische Regularitäten des Deutschen verletzt werden, denn in einem nichtpoetischen, umgangssprachlichen Genre müsste es heißen Wer einen Kuchen backen will, der muss sieben Sachen haben. An dieser Intuition unsererseits ändert sich auch dann nichts, wenn wir dieses Lied besonders gerne und häufig singen! Aufgrund unseres impliziten sprachlichen Wissens sind wir in der Lage, Ambiguitäten und Paraphrasen zu erkennen. Dass Intuitionen dieser Art kein Luxus sondern natürlicher Bestandteil unseres Umgangs mit Sprache sind, kann man bereits im Kindesalter sehen, wie die folgenden Belege zeigen. Bei siken in (1) handelt es sich um die Ableitung eines Verbs aus dem Nomen (Mu-)Sik (die Großschreibung in den Beispielen zeigt betonte Silben an; die Altersangabe erfolgt nach Jahr; Monat). Wieviele Sprachen passen in einen Kopf? Mehrsprachigkeit als Herausforderung 71 (1) Stefanie (1; 11) Erw.: Wo ist der Papa? (Vater spielt Klavier) Kind: der SIKT Erw.: Der macht was? Kind: der SIKT … der macht SIK (Tracy 1991, 316) (2) Mirko (2; 3) Kind: die SAGT da krankenschwester? Erw.: Wie bitte? Kind: da SAGT die Krankenschwester? (Tracy 1991, 346) In (1) produziert das Kind auf Rückfrage eine Paraphrase und zeigt damit, dass es über alternative Möglichkeiten, einen Sachverhalt auszudrücken, verfügt. In (2) wird nach einem Verständnisproblem der Gesprächspartnerin ein Vertauschungsversprecher korrigiert. Der Bauplan deutscher Sätze, der für einen Vergleich von Erwerbsschritten und Lernern relevant ist, lässt sich vereinfacht folgendermaßen zusammenfassen. (3) (a) Hauptsatz: Vorfeld V2 [+ FINIT ] ...........................Verbend [- FINIT ] (b) Nebensatz: Konj. / Rel ...........................Verbend [+ FINIT ] ⇑___ SATZKLAMMER___⇑ Das Deutsche ist eine Verbzweitsprache. Das finite (tempus- und kongruenzmarkierte) Verb steht im Hauptsatz (3a) in der zweiten Position (V2), der linken Satzklammer, während sich nicht-finite Verbteile (Partizipien, Infinitive, Verbpartikel) am Satzende (Verbend) in der rechten Satzklammer befinden (z.B. Meine Puppe habe ich in den Wagen gelegt. In den Wagen habe ich meine Puppe gelegt.). Im Ja / Nein-Fragesatz, wenn das Vorfeld unbesetzt bleibt, erscheint das finite Verb an erster Stelle (Lieben Sie Brahms? ). Sofern ein Satz wie im Fall des eingebetteten Nebensatzes in Ich weiß, dass du lieber Pizza essen magst von einer Konjunktion oder einem Relativpronomen eingeleitet wird (Ich weiß, was du lieber essen magst), tritt das finite Verb nach allen nicht-finiten Verbteilen am Satzende in der rechten Satzklammer auf. Links vor dem Vorfeld (im obigen Schema nicht berücksichtigt) treten nebenordnende Elemente auf (denn, weil in denn-Lesart, aber, sondern etc.), die im Gegensatz zu Adverbien im Vorfeld (dann, da) die restliche Satzstellung nicht beeinflussen (vgl. Denn / weil der Hund bellt immer noch mit Dann bellt der Hund immer noch, Denn dann bellt der Hund immer noch). Vor diesem Hintergrund können wir nun der Frage nachgehen, wie sich L1-, 2L1- und L2-Kinder diese Strukturen aneignen. Rosemarie Tracy 72 3. Deutsch als Erstsprache Vereinfacht lassen sich für den Erwerb des deutschen Satzbaus im Alter von etwa anderthalb bis dreieinhalb Jahren folgende Entwicklungsschritte identifizieren, wobei die Phase der Einwortäußerungen unberücksichtigt bleibt. Meilenstein I: Erste Wortkombinationen: Tür auf, da Tür, Tür (auf-)mache, große Bus Meilenstein II: Mehrwortäußerungen mit nicht-finiten Verben am Ende: Mama auch Bus fahren Meilenstein III: Zielsprachliche Sätze mit finiten V2-Verben: Jetzt geh ich auch hoch. Wo kann der hingehen? Meilenstein IV: Nebensätze mit dem finiten Verb am Ende: Ich warte, bis der Hund auch weggerannt ist Wie systematisch und treffsicher Kinder sich der zielsprachlichen Grammatik dabei nähern, zeigt sich, wenn man kindliche Äußerungen in ein topologisches Schema (vgl. Duden 1996) überträgt, s. (4). (4) Entwicklung der Satzklammer im L1-Erwerb des Deutschen ⇓ SATZKLAMMER ⇓ Vorfeld V2 Mittelfeld VE Tür auf Mama auch Bus fahren Jetzt geh ich auch hoch Wo kann der hingehen ? ⇓ Konj. / Rel. ⇓ ... bis der Hund auch weggerannt ist Diese Übersicht lässt erkennen, dass Satzstrukturen allmählich von rechts nach links aufgebaut werden. Verbpartikel (z.B. auf, rein) und nicht-finite Verben (fahren, hingehen) treten von Anfang an in der rechten Satzklammer auf (Meilenstein I und II). Für die Treffsicherheit, mit der Kinder die Verbpartikel aufgreifen, gibt es mehr als einen guten Grund: Sie ist platzfest, formal invariant, kodiert ein wichtiges semantisches Teilereignis (vgl. Schulz / Penner / Wymann 2001), und in Kombination mit dem restlichen Verb (vgl. HINgehen, WEGgerannt) ist sie stärker betont. Außerdem befindet sie sich am Satzende ohnehin in einer salienten Position. Kinder entdecken auch früh die formal invarianten und betonbaren Partikel (auch, noch, wieder, nicht) des Mittelfelds, die bereits in ersten Zwei- und Mehrwortkombinationen belegt sind (Penner / Tracy / Wymann 1999). Wieviele Sprachen passen in einen Kopf? Mehrsprachigkeit als Herausforderung 73 Die linke Satzklammer (Meilenstein III) manifestiert sich zunächst durch Vorläuferstrukturen mit spezifischen Verben (u.a. Kopula- und Modalverbformeln). Bemerkenswert ist, dass zugleich mit der produktiven Verwendung von Vollverben in V2 auch eine konsequente Finitheitsmarkierung einhergeht (vgl. Clahsen / Penke 1992, Weissenborn 2000) und dass sehr schnell Nichtsubjekte in der Vorfeldposition auftreten. Schließlich (Meilenstein IV) erscheinen in einem weiteren Schritt am linken Satzrand nebensatzeinleitende Elemente (Konjunktionen, Relativpronomen). In diesem Fall bleibt das finite Verb in der rechten Satzklammer. Auch wenn hinsichtlich paradigmatischer Details (z.B. zielsprachliche Besetzung einzelner syntaktischer Positionen, Kasus- und Genusmarkierung, Differenzierung von Auxiliarverben, Fragepronomina und Konjunktionen) und bezüglich satzübergreifender Kohäsion und Kohärenz noch viel geschehen muss (vgl. Schulz i.Dr.b), sind damit zunächst die wichtigsten strukturaufbauenden Erwerbsschritte vollzogen. Dieses Erwerbsszenario ist in vieler Hinsicht idealisiert. Zunächst einmal müssen sich die einzelnen Meilensteine nicht unbedingt in der Produktion manifestieren; sie können von nicht besonders redefreudigen Kindern auch „still“ erreicht werden. Manche Lerner schreiten so schnell voran, dass sich kein klar abgrenzbares Nacheinander belegen lässt. Außerdem muss bedacht werden, dass sich der skizzierte Erwerbsverlauf an Produktionsdaten orientiert und damit ontogenetisch früher verfügbare Diskriminations- und Verstehensleistungen nicht berücksichtigt (vgl. Hirsh- Pasek / Golinkoff 1996, Weissenborn et al. 1998). Die heuristisch nützliche Metaphorik von differenzierbaren Meilensteinen darf vor allem nicht dazu führen, das mögliche Ausmaß intraindividueller Variation auszublenden, zumal sich laut Hohenberger (2002) und Tracy (1991, 2002) in der zeitweiligen Koexistenz unterschiedlicher und widersprüchlicher Strukturformate ein zentrales Motiv für die fortschreitende Selbstorganisation sprachlicher Wissenssysteme finden lässt. Die Belege in (5) illustrieren, dass mindestens zeitweise unterschiedlich fortschrittliche Lernervarietäten koexistieren. (5) Julia (a) nDAS für farbe? .... DAS is für farbe? (2; 8) (b) [DAza] schava.... da Isi vogelscheuch (2; 4) In (a) wird ndas, ein interrogativer Platzhalter − dazu mehr unten −, durch eine progressivere Kopulaformel [das is(t) __] ersetzt. Ähnliches passiert in (b), wo der holistische deiktische Ausdruck [daza] spontan in der Folgeäußerung reanalysiert wird. Hinzu kommt die Korrektur von Schava durch das zielsprachliche Vogelscheuche. Belege für koexistierende und rivalisierende Analysealternativen haben in der Forschung zu der Hypothese geführt, dass auch vermeintlich monolinguale Kinder in bestimmten Übergangsphasen als bilingual betrachtet werden sollten (Tracy 2002, Gawlitzek-Maiwald / Tracy 2005). Zu den interessantesten Übergangslösungen auf dem Weg zur Satzstruktur, die ebenfalls das idealisierte Bild aus (4) korrigieren, gehört die Verwendung von Platzhaltern. Sie resultieren aus dem Bemühen von Kindern, formale Lücken im Bauplan zu füllen, für die ihnen ihr Lexikon noch keine geeigneten Kandidaten zur Verfügung stellt. Zu den besonders gut belegten Platzhaltern gehören Vorläufer von Artikeln, Hilfsverben und Komplementierern (vgl. Fritzenschaft et al. 1990, Müller / Penner 1996, Rothweiler 1993, Tracy 1991). In (6a) fungiert [ ә n ә n ә ] als „Joker“ Rosemarie Tracy 74 für eine Konjunktion, in (6b) erfüllt [ әәә ] die syntaktische Vorläuferrolle eines Modalverbs. 1 (6) Max (3; 4) (a) [ ә n ә n ә ] des so laut is (auf Warum-Frage) (b) ich [ әәә ] ein Hose maln (= ‚ich will / kann‘) Nicht immer wird diese Jokerfunktion von idiosynkratischen Lautsequenzen übernommen. Beispiel (7a) stammt von einem Kind, das mehrere Monate lang wenn über sämtliche semantische Klassen von Konjunktionen hinweg generalisiert. Das in (7b) zitierte Kind leiht sich für mehr als ein Jahr die Präposition wegen als Lückenfüller für eine Komplementiererposition aus, die später zielsprachlich mit weil besetzt wird. (7a) Julia (2; 8) wenn wir nicht friern (= ‚damit‘) 2 (7b) Adam (4; 7) Erw.: Warum heißt ein Parkplatz Parkplatz? Kind: wegen’s zum PARken is Bilinguale Kinder müssen sich nicht auf beliebige Füllsilben wie in (6) oder auf eine systeminterne Anleihe wie in (7) beschränken. Sie können temporäre Lücken auch durch sprachübergreifende Anleihe füllen und nutzen damit ein Potential, das wir aus der Sprachkontaktforschung gut kennen (vgl. Romaine 1995, Myers-Scotton 2006); ein Beispiel findet sich in (8). (8) Stani 3; 0 (bilingual) das darf man if man will Platzhalterphänomene sind vor allem deshalb so bemerkenswert, weil sie uns viel über das Bemühen von Kindern verraten, abstrakte Strukturschemata auszubuchstabieren. Dabei gewähren sie uns Einblick in frühe metasprachliche Intuitionen über formale und semantische Äquivalenzen, die offensichtlich, wie man an (8) erkennen kann, an Sprachgrenzen keinen Halt machen. 1 Ob eine Lautsequenz wie [ әәә ] - das Symbol [ ә] steht für einen unbetonten, zentralen Vokal wie beispielsweise in der zweiten Silbe von „Katze“oder „rennen“ - als Platzhalter oder eher als eine aus Planungsgründen anfallende gefüllte Pause interpretiert werden kann, lässt sich natürlich nur posthoc entscheiden, wenn die Lücken lexikalisch besetzt sind und die Füllsilben verschwinden, vgl. Fritzenschaft et al. (1990). 2 In diesem Fall ist die finale Lesart erschließbar, weil das Kind sich und seine Gesprächspartnerin zeitgleich mit der Äußerung mit einer Decke zudeckt. Wieviele Sprachen passen in einen Kopf? Mehrsprachigkeit als Herausforderung 75 4. Der doppelte Erstspracherwerb 3 Der doppelte oder simultane Erwerb unterschiedlicher Erstsprachen - in der Regel das Ergebnis, wenn Vater und Mutter Kinder in verschiedenen Sprachen ansprechen oder wenn in der Familie eine (oder mehrere), in der Umgebung eine andere Sprache gesprochen wird (vgl. die Übersicht in Romaine 1995) - wurde in den letzten zwanzig Jahren für eine Reihe von Sprachpaaren untersucht. Mittlerweile können wir sagen, dass der gleichzeitige Erwerb zweier Erstsprachen von Geburt an in der Tat dies ist: ein normaler Erstspracherwerb, dessen Verlauf weitestgehend dem entspricht, was wir aus dem monolingualen Erwerb kennen. Dies gilt auch für die hier im Mittelpunkt stehende Erwerbsaufgabe, nämlich die Konstruktion der Satzklammer und die Kongruenzmarkierung des finiten Verbs. Mit der Einschränkung „weitestgehend“ soll allerdings darauf hingewiesen werden, dass es von vielen Faktoren abhängt, wie sich die am 2L1-Erwerb beteiligten Sprachen letztlich entwickeln. Eine Jugendliche, die in Deutschland mit Litauisch und Deutsch aufwächst und keinen Kontakt zu anderen litauischen Jugendlichen hat, wird kaum Gelegenheit haben, sich die jugendkulturellen Varietäten anzueignen, die für ihre litauische Altersgruppe typisch sind. Wenn sie keinen Zugang zur Schriftsprache oder zu literarischen Genres des Litauischen hat, werden ihr auch in dieser Hinsicht Repertoires fehlen. Ebenso wird ein Kind, das in Deutschland in einer Kleinfamilie mit Japanisch und Deutsch aufwächst, bei seinen ersten Besuchen in Japan möglicherweise dadurch auffallen, dass es sich schwer damit tut, die älteren Brüder seines japanischen Vaters pragmatisch angemessen anzusprechen. Es ist daher unsinnig, ein bilinguales Kind an dem zu messen, was es nicht sein kann: ein unter anderen Umständen, mit anderen Erfahrungen und im Kontakt mit anderen Varietäten aufgewachsener Mensch. Dies heißt natürlich nicht, dass sich solche Lücken nicht schnell füllen lassen, wenn sich die Lebensumstände ändern und das Umfeld entsprechend angereichert wird. Abweichungen vom monolingualen Erwerb ergeben sich aber nicht nur in Folge unterschiedlicher Qualität (i.e. fehlendes Variationsspektrum) und Quantität des Inputs. Auch Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den beteiligten Sprachen spielen eine Rolle, da sie es Kindern leichter oder schwerer machen können, lexikalische Einheiten und Strukturen zu differenzieren (vgl. Tracy / Gawlitzek-Maiwald 2000). In spezifischen Teilbereichen kann sich der Sprachkontakt auf die Geschwindigkeit auswirken, mit der sich Kinder Strukturen aneignen (vgl. Bernhardini / Schlyter 2004, Gawlitzek-Maiwald / Tracy 1996, Genesee et al. 1995; Müller et al. 2006; Hulk / Cornips 2006, Lléo et al. 2004, Tracy 1996). Qualitative und quantitative Untersuchungen der kindlichen Sprachwahl gegenüber unterschiedlichen Gesprächspartnern haben mittlerweile gezeigt, dass 2L1- Kinder entgegen früheren Annahmen (u.a. Volterra / Taeschner 1978, Vihman 1985) bereits im Alter von zwei Jahren prinzipiell dazu in der Lage sind, sprachlich differenziert auf unterschiedliche Partner zu reagieren, auch wenn sie dies nicht immer tun, z.B. auch deshalb nicht, weil sie wissen, dass ihre Bezugspersonen beide Sprachen beherrschen (vgl. de Houwer 1990, Lanza 1997, Quay 1995, s. auch Anstatt / Dieser in diesem Band). 3 Die meisten der in diesem Abschnitt angeführten Daten entstammen Projekten, die in den Jahren 1989-1994 unter der Leitung der Verf. im Rahmen des Schwerpunktprogramms „Spracherwerb“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wurden. Rosemarie Tracy 76 In der aktuellen Forschung besteht Konsens dahingehend, dass bilinguale Kinder bereits zum Zeitpunkt erster Wortkombinationen damit begonnen haben, getrennte morphosyntaktische Repräsentationssysteme auszubilden (vgl. Gawlitzek-Maiwald / Tracy 1996, Gut 2003, Lléo et al. 2004, Meisel 1989, 2004, Müller et al. 2006, Tracy / Gawlitzek-Maiwald 2000, 2005). Klare Belege finden wir in Strukturbereichen, in denen sich die beteiligten Sprachen hinreichend unterscheiden. Bei Kindern, die mit Deutsch und Englisch als simultanen Erstsprachen aufwachsen, kann man anhand der konsequenten Platzierung nicht-finiter Verben bereits in ersten Zwei- und Mehrwortäußerungen erkennen, ob Kinder wissen, dass Deutsch und Englisch unterschiedliche Stellungsmuster verlangen. Im Englischen geht der sogenannte verbale Kopf seinem Komplement voraus, im Deutschen folgt er ihm, wie in den folgenden Äußerungen eines bilingualen Kindes. (9) Hannah (2; 2) (a) Mama, put d ә knife in cup (Vokativ) Verb+Objekt (b) ich das lesen Subjekt+Objekt+Verb Interessanterweise zeigt sich das implizite Wissen um diesen Kontrast sogar gerade dann, wenn Kinder momentan unsicher sind, welcher Sprache ein Lexem zuzuordnen ist. Man vergleiche die folgenden Äußerungen, die von dem Kind Hannah in dieser Abfolge an die Mutter gerichtet wurden. Die Aussprache von strap/ t(r)ap ist englisch. (10) Hannah (2; 2) (a) die dolly einstrappen (b) die dolly eintrap (c) das einstrap in ... die puppe (d) die einstrap in ... die dolly (e) die Mama helf mir tap it in (f) Mama tap it in ... die dolly Hannah beginnt in (10a) mit einer deutschen Ausgangsstruktur: Ein als nicht-finit markierter verbaler Kopf tritt am Satzende auf. In (10b) verschwindet zunächst das deutsche Suffix -en; in (c) und (d) erscheint mit der Partikel in eine englische Entsprechung des deutschen Präfixes ein-; in (e) und (f) wird das direkte Objekt (it) in der für ein englisches Komplement geforderten postverbalen Position realisiert. Gleichzeitig werden die deutschen Objekte (das / die) und die ein-Präfixe eliminiert. In (f) ist Hannah, abgesehen von die in der nachgeschickten NP, bei einer englischen Struktur angekommen. Mama ist sprachneutral, aber weil in (f) auch der Artikel die, der in (e) noch vorhanden war, verschwunden ist, erfüllt das letzte Syntagma alle Vorgaben der englischen Grammatik. Die gesamte Folge von selbstinitiierten Reparaturschritten verdeutlicht, dass Hannah (implizit) weiß, wie sich deutsche und englische Verbalphrasen syntaktisch und morphologisch voneinander unterscheiden und wie man ein beliebiges Verb an beide Sprachen anpassen kann. Die einzige Unsicherheit des Kindes besteht im Hinblick auf die lexikalische Verortung von Wieviele Sprachen passen in einen Kopf? Mehrsprachigkeit als Herausforderung 77 strap, was angesichts der vielen kognaten und fast-homophonen Formen von Deutsch und Englisch kaum überraschen dürfte. Die prinzipielle Fähigkeit von Kindern, Systemeigenschaften der beteiligten Sprachen früh zu trennen, erschließt sich uns auch dann, wenn sich die Sprachen nicht in perfektem Gleichschritt entwickeln. Dabei finden sich sowohl Fälle, in denen die Entwicklung in jeder der beteiligten Sprachen der monolingualen Norm entspricht oder diese Norm sogar durch schnelleren Erwerb unterschreitet (vgl. dazu die Bootstrapping-Hypothese von Gawlitzek-Maiwald / Tracy 1996), als auch solche, in denen sich eine der beiden Sprachen im Vergleich mit der monolingualen Entwicklung als „schwächer“ erweist (vgl. Bernhardini / Schlyter 2004, Hulk / Cornips 2006, Müller et al. 2006, Tracy / Gawlitzek-Maiwald 2005). Temporäre Asynchronien an sich müssen nichts mit einer gegenseitigen Beeinflussung der beiden Sprachen zu tun haben; sie lassen sich auch mit der relativen Komplexität der zielsprachlichen Systeme erklären. Kindern, die mit Deutsch und Englisch aufwachsen, fällt es im Englischen deutlich schwerer als im Deutschen, Auxiliar- und Modalverben zu identifizieren und lexikalische Verben finit zu realisieren. In dieser Hinsicht verhalten sie sich aber keineswegs anders als monolinguale englischsprachige Kinder, bei denen sich der Erwerb der Positionen von Auxiliarverben und der zielsprachlichen Markierung der 3. Pers. Sg. des Präsens über einen ausgedehnten Zeitraum erstreckt (vgl. Ingram 1989). Verantwortlich für diese Entwicklung sind mit großer Wahrscheinlichkeit die reduzierte englische Verbalflexion und die geringe Salienz kontrahierter Auxiliarverbformen zwischen dem Subjekt und dem Hauptverb (vgl. I’ve found the book, He’s seen the dog, I’ll read the book). Die Diskrepanz zwischen zügiger Ausbuchstabierung finiter Verben und Hilfsverben im Deutschen und langsamer Emergenz äquivalenter Strukturen im Englischen spiegelt sich in unseren Daten in der unterschiedlichen Komplexität von Kinderäußerungen wider. Obgleich die Kinder im Deutschen bereits (11a-b) produzieren, finden sich in ihren englischen Daten ausschließlich Syntagmen ohne Kopula, Auxiliarverben oder zielsprachlich markierte finite Verben, vgl. (12a-b). (11a) Hannah (2; 2) Wer hat das gemacht? Ich will was spielen. (11b) Adam (3; 7) Ich kann nicht alleine machen. Das hat die Laura gemacht. (12a) Hannah (2; 2) Mama picking flowers in ә garden. No cars on street. (12b) Adam (3; 7) It go like that. That one called d ә Tom E ngine book. Rosemarie Tracy 78 Während sich Hannah das entsprechende englische System innerhalb weniger Monate und damit sogar schneller als monolinguale Englischsprecher aneignet, vollzieht sich der Erwerb bei Adam sehr viel langsamer. Dieser Unterschied zwischen den Kindern lässt sich dadurch erklären, dass Adams englischer Input insgesamt signifikant geringer ist als der von Hannah, d.h. hier kommt zusätzlich zu der unterschiedlichen Komplexität der Sprachen an sich noch ein quantitativer Faktor ins Spiel (vgl. Gawlitzek-Maiwald / Tracy 1996; Gawlitzek-Maiwald 1997, Tracy 1996, Tracy / Gawlitzek-Maiwald 2005). Bemerkenswert ist weiterhin, dass bilinguale Kinder in der Lage sind, mithilfe der jeweils fortschrittlicheren Sprache nicht nur lexikalische sondern auch strukturelle Lücken der sich langsamer entwickelnden Sprache auszugleichen. Dies zeigt sich eindrucksvoll an Mischäußerungen, vgl. (13). (13) Hannah (a) Kannst du move a bit? (2; 4) (b) Soll ich hit it? (2; 6) (c) Sie haben gone away. (2; 7) (d) Mama kannst du do it up? (2; 8) Bei Hannah treten äquivalente englische Strukturen mit Auxiliarverben (inklusive do) oder finiten Hauptverben erst im Alter von 2; 9 auf, vgl. (14). Satzinterne Mischungen gehen von diesem Moment an zurück (vgl. die quantitativen Angaben in Gawlitzek-Maiwald / Tracy 1996). (14) Hannah (2; 9) (a) Soll ich die droppen? I’ve dropped him. (über ein Spielzeugkrokodil) (b) Did you throw it away? Bilinguale Kinder entwickeln aber noch andere Strategien im Umgang mit dem offensichtlich selbst wahrgenommenen Ungleichgewicht zwischen ihren Sprachen. Adam produziert über die gesamte Erhebungszeit von zwei Jahren sehr viel weniger Mischungen als Hannah, obwohl sein Englisch eindeutig die „schwächere“ Sprache ist. Aber dafür greift er oft unmittelbar vorangehende Äußerungsteile seiner Gesprächspartner auf und integriert sie in seine Reaktionen − eine Strategie, die wir als Discourse Borrowing bezeichnet haben (Tracy / Gawlitzek-Maiwald 2005), vgl. (15). (15) Adam (3; 7) (a) Adam und Erw. betrachten einen Mann auf einer Treppe. Erw.: Look, what is he doing? Kind: [dε] doing down d ә stairs (b) Erw. What is the ladder for? Kind: ә foring d ә train Diese Äußerungen sind vor allem deswegen bemerkenswert, weil man ausschließen kann, dass der Input positive Evidenz für Kreationen wie foring liefert. Wieviele Sprachen passen in einen Kopf? Mehrsprachigkeit als Herausforderung 79 Bei 2L1-Kindern finden wir trotz einer frühen, prinzipiellen Sprachentrennung bald auch funktional motivierte Sprachwechsel, wie wir sie auch von Erwachsenen kennen (vgl. de Houwer 1990, Köppe 1997, Lanza 1997, Meisel 1989, Müller et al. 2006, Tracy / Gawlitzek-Maiwald 2000, Tracy i.Dr.). Wir sehen aber auch - ebenfalls wie bei Erwachsenen -, dass Wissen seinen Preis hat, denn es kann aufgrund der Koaktivierung beider Sprachen in konkreten Äußerungssituationen zu Online- Interferenzen kommen, vgl. dazu die folgenden Beispiele. (16a) Adam (5; 2) und Gesprächspartnerin spielen Dinosaurier und probieren Nahrungsmittel aus. Erw.: Hey, dinosaur, have you ever tried this horrible yellow thing? Kind: Mhm, I found that but I I see of it’s ... if...of...ob des schmeckt (16b) Adam (5; 5) beschreibt, was Dinosaurier fressen. That’s because a drometrodon isst eat meat and that eat plants In (16a) verschmelzen deutsches ob und englisches if zu of. 4 Wie man sieht, bemüht sich Adam umgehend, den Versprecher zu reparieren. In diesem konkreten Fall bildet die Rivalität äquivalenter Formen auch eine Brücke für den anschließenden Sprachwechsel ins Deutsche. (16b) kommt ebenfalls durch Konkurrenz semantisch gleicher und noch dazu phonologisch ähnlicher Formen zustande. Auch in diesem Fall wird die Interferenz durch die im Moment nicht angesagte Sprache repariert, interessanterweise unter (zweimaligem) Verzicht auf die Finitheitsmarkierung von eat, die zu diesem späten Zeitpunkt in Adams Englisch noch nicht Einzug gehalten hat. Abschließend sei noch einmal unterstrichen, dass die prinzipielle Machbarkeit des doppelten Erstspracherwerbs eine Sache ist, ein de facto letztendlich mehr oder weniger ausgewogenener Endzustand des Spracherwerbs in mehr als einer Sprache und eine dauerhafte Mehrsprachigkeit eine andere. Das konsequente Durchhalten einer familiären Sprachpolitik, die Motivation des Kindes, beide (oder mehrere) Sprachen auf Dauer zu sprechen, das Prestige und die Alltagsrelevanz der beteiligten Sprachen − alle diese Faktoren spielen dabei eine Rolle. Dies gilt allerdings ebenso für den im Folgenden besprochenen Fall des frühen sukzessiven Zweitspracherwerbs. 5. Der sukzessive Spracherwerb in der frühen Kindheit Im Vergleich mit anderen Typen des Spracherwerbs handelt es sich bei dem Erwerb des Deutschen als frühe Zweitsprache um ein wenig beforschtes Phänomen. Zum Deutscherwerb bei Kindern im Schulalter liegen mit Wegener (1993, 1998) Siebert- Ott (2001), Haberzettel (2001) und Ahrenholz (2006) Untersuchungen vor. Vergleichbare Studien mit jüngeren Kindern wurden erst in den letzten Jahren auf den Weg gebracht (vgl. Kroffke / Rothweiler 2006, Rothweiler 2006, Kaltenbacher / Klages 2006, Thoma / Tracy 2006). 4 Of klingt wie die niederländische Entsprechung von ob/ if. Das (implizite) Wissen um diese Äquivalenz kann bei Adam allerdings ausgeschlossen werden. Rosemarie Tracy 80 Aufgrund des Fehlens von Forschungsergebnissen ist die Frage, wie lange und in welchen sprachlichen Teilbereichen L2-Kinder auf diejenigen Strategien zurückgreifen können, die den L1-Erwerb, auch in seiner bilingualen Variante, so robust machen, weitgehend ungeklärt (vgl. Birdsong 1999, Klein 2000, Genesee 1989, Meisel 2004, s. auch Meisel in diesem Band). Nach aktuellem Forschungsstand ist es jedenfalls nicht plausibel, von einer einzigen, alle sprachlichen Kompetenzbereiche gleichermaßen berührenden, sensiblen oder kritischen Phase auszugehen. Im Mittelpunkt der folgenden Abschnitte steht die Frage, wie sich Kinder mit nicht-deutscher Erstsprache im Alter von drei bis vier Jahren die Satzklammer und die Finitheitsmarkierung des Verbs aneignen. Dabei handelt es sich um Eigenschaften des Deutschen, die sich bei beiden bereits behandelten Varianten des L1-Erwerbs als unproblematisch, bei erwachsenen L2-Lernen und − jedenfalls bezüglich der V2-Stellung finiter Verben − auch bei sprachgestörten Kindern als schwierig erweisen (zu diesem Prozess im L2-Erwerb älterer Kinder s. Dimroth in diesem Band). Für Erwachsene, die Deutsch im nicht-schulischen Kontext erwerben, stellen folgende Aspekte eine besondere Herausforderung dar (vgl. Müller 1998, Müller et al. 2006, Dimroth 2002, Hawkins 2001). (a) Die Konstruktion der rechten Satzklammer, erkennbar an der abweichenden Positionierung von nicht-finitem Verb und direktem Objekt: Ich habe gesehen goße Mann. Die will schreiben eine Brief (b) Die Subjekt-Verb-Kongruenz: Ich müssen putzen hier. So arbeiten Mann viele Jahre (c) Die Konstruktion der linken Satzklammer: Gestern Madga hat Buch gefunden. Dann er schlaft noch (d) Die Verbendplatzierung im eingeleiteten Nebensatz: Aber wenn das Kind kommt nach Hause Wie verhalten sich nun Kinder, die erst mit drei bis vier Jahren mit dem Deutschen in Kontakt kommen? Ähnelt ihr Vorgehen qualitativ und quantitativ eher dem von Erwachsenen, von spracherwerbsgestörten Kindern oder von normal entwickelten L1-Lernern des Deutschen? Wieviel „Belichtungszeit“ (Kontaktzeit mit dem Deutschen) wird benötigt, um den Erwerbsprozess in Gang zu setzen und in Bewegung zu halten? Dieser Frage sind wir in einer Langzeituntersuchung mit acht Kindern unterschiedlicher Erstsprachen (Arabisch, Russisch, Türkisch), die sich vom Deutschen in typologischer Hinsicht unterscheiden, nachgegangen. In allen Familien war die L1 zugleich Familiensprache; die Deutschkenntnisse der Eltern waren minimal, der sozio-ökonomische Hintergrund der Kinder vergleichbar. 5 Alle Kinder besuchten unterschiedliche Kindertagesstätten, in denen sich aufgrund der Sprachenvielfalt das Deutsche auf natürliche Weise in der Kommunikation unter den Kindern durchsetzen konnte. Die Projektkinder wurden kurz nach Beginn des Kontakts mit dem 5 Nähere Angaben zu der Studie finden sich in Thoma / Tracy (2006) sowie Tracy (i.Dr.). Das gemeinsam mit E. Kaltenbacher geleitete Projekt mit dem Titel „Zweitspracherwerb in der Kindheit unter besonderer Berücksichtigung der Migration“ wurde von 2003 bis 2005 vom MWK Baden-Württemberg finanziert. Wieviele Sprachen passen in einen Kopf? Mehrsprachigkeit als Herausforderung 81 Deutschen ein Jahr lang alle zwei Wochen in einem separaten Raum ihrer Kindertagesstätten aufgenommen. Von jedem Kind wurden außerdem mithilfe von Muttersprachlerinnen Aufnahmen in den Erstsprachen gemacht. Im Folgenden wird der Erwerb der Satzklammer anhand der Erwerbsverläufe von drei Mädchen dargestellt. Bei AHA handelt es sich um ein Kind mit tunesischem Arabisch als L1, bei RNV und RAS um Kinder mit Russisch als Erstsprache. Erwerbsverlauf AHA (L1=Arabisch) Zu Beginn der L2-Aufnahmen im Alter von 3; 5, etwa einen Monat nach Beginn des Kitabesuchs, lässt sich bei AHA folgendes Äußerungsspektrum feststellen: (a) Einwortäußerungen und erste Artikel-Nomen-Kombinationen: ein Hund, ein Maus, ein [pus ә n] (= Luftballon) (b) Syntagmen mit nicht-finiten Verben am Ende: hier essen, Nutella essen, ein Vogel fliegen (c) Verblose Kombinationen mit und ohne Partikel des Mittelfelds: ich auch Auto, ich [t I nd ә gak I ] (= Kindergarten) (d) Formelhafte Äußerungen: das is Farbe, das is rot, die allenfalls Vorläufer von V2-Syntagmen darstellen. Diese Syntagmen entsprechen dem, was wir bei monolingualen Kindern vorfinden. Drei Monate später, im Alter von 3; 8, treten längere und qualitativ neue Strukturen auf, vgl. das Schema in (17). (17) Entwicklung der Satzklammer bei AHA Vorfeld V2 ⇓ ........................... VE ⇓ Der Elefant Geh Disko geht Hab keine Angst habe Ich Hab kein Platz mehr Kein Platz mehr Hab ich hier Die Junge Will Prinzessin holen Die Doppelbesetzung der Verben geh-geht / hab-habe belegt, dass AHA zu diesem Zeitpunkt weiß, dass es im Deutschen zwei Verbpositionen gibt. Zu sehen ist, dass AHA auch Nichtsubjekte in die Vorfeldposition platziert. Das letzte Beipiel illustriert die Verteilung von Modal- und Hauptverben auf beide Positionen der Satzklammer. Die Geschwindigkeit und Konsistenz, mit der finite Verben in der V2-Position auftauchen, lässt sich anhand folgender Graphik nachvollziehen. Die oberste Kurve gibt die relative Menge aller Verben an; die anderen Verläufe zeigen die relativen Häufigkeiten von V2-Syntagmen ungeachtet ihres Finitheitsstatus, von V2-Syntagmen mit finitem Verb und von zielsprachlichen Flexionsformen der V2-Verben. Rosemarie Tracy 82 Abb. 1: Entwicklung finiter Verben in V2-Position bei AHA Erwerbsverlauf RNV (L1=Russisch) Das zweite Kind, RNV, produziert im Alter von 3; 1 nach wenigen Wochen im Kindergarten Äußerungen folgender Art: (a) Einwortäußerungen (b) Syntagmen mit nicht-finiten Verben am Ende, d.h. in der rechten Satzklammer: ich nich maln, ich aufräumen (c) Vereinzelte, wahrscheinlich ganzheitlich gespeicherte V2-Formeln: ich räum auf (d) Vereinzelt nicht-finite Verben in V2: ich essen schon (e) Verblose Syntagmen mit auch: da auch des da (f) Formelhafte Äußerungen: [voz ә ] Mama Diese Strukturen, inklusive (d) mit nicht-finitem Verb in V2, weichen weder qualitativ noch quantitativ von den ersten Phasen des L1-Erwerbs ab, da auch dort nichtfinite V2-Verben marginal belegt sind. Vier Monate später, im Alter 3; 5, hat sich das Strukturspektrum wie folgt verändert. Wieviele Sprachen passen in einen Kopf? Mehrsprachigkeit als Herausforderung 83 (18) Entwicklung der Satzklammer bei RNV Vorfeld V2 ⇓ ......................... VE ⇓ Warum hast du des? Wenn gehen wir in der Gruppe? Jetzt geh ich meine Gruppe Dann muss man des anmal Die Stiefel hascht Du geangelt Ein Blume hat ich gemacht In d ә Gruppe hab ich dies gespiel Auch bei RNV sieht man, dass die V2-Verben zu diesem Zeitpunkt zielsprachliche Kongruenzmerkmale aufweisen und dass sogar dialektale Formen (hascht) und Standardformen (hast) koexistieren. Deutlich erkennbar sind auch die Nichtsubjekte im Vorfeld. An der folgenden Graphik lässt sich die schnelle Stabilisierung der V2- Stellung und der dazugehörigen Verbflexion ablesen. Abb. 2: Entwicklung finiter Verben in V2-Position bei RNV Erwerbsverlauf RAS (L1=Russisch) Bei dem dritten Kind, RAS, ist ebenfalls wenige Wochen nach Eintritt in den Kindergarten im Alter von 3; 7 ein Äußerungsspektrum belegt, das dem der anderen Kinder und dem entsprechenden Stadium im L1-Erwerb in qualitativer Hinsicht sehr ähnlich ist. Allerdings produziert sie von Anfang an deutlich weniger Verben (vgl. dazu das entsprechende Diagramm in Abb. 3 unten). Hier zeigen sich quantitative Unterschiede, die sich, wie wir sehen werden, im weiteren Verlauf qualitativ auswirken. (a) Einwortäußerungen, Kombinationen von Artikeln und Nomen: ein Buch, ein Maus Rosemarie Tracy 84 (b) Syntagmen mit nicht-finiten Verben am Ende: da viel Apfel essen (c) Verblose Kombinationen mit Partikeln ein Bärche ... noch ein Bärche, Celine auch heute Geburtstag Mama 6 Fünf Monate später, im Alter von 4; 2, treten V2-Formeln hinzu, die zunächst auf spezifische Lexeme (will) beschränkt sind, vgl. (d). Auffällig ist, dass die immer noch wenigen Hauptverben weder nach V2 bewegt werden noch formal zielsprachlich sind. In (e) geht es darum, dass der Vogel erst noch gemalt werden soll, d.h. die Lesart ‚gemalt‘ kann ausgeschlossen werden. (d) ich will Eier, ich will noch ein Spiel, ich will malt (e) jetzt Mamavogel malt Nochmals vier Monate später, mit 4; 5, realisiert RAS die Satzklammer völlig zielsprachlich, vgl. (19). (19) Entwicklung der Satzklammer bei RAS Vorfeld V2 ⇓ ............................ VE ⇓ ’S (=das) ka- -ma nit maln Die müss- -ma noch bunt anmaln Du sollst die bunt anma Kannst du es bunt anmaln Isch hab gewinn Dann gewinn isch Isch hab disch ganit gesehen Obwohl RNV und RAS die gleiche Erstsprache erwerben, zeigt sich, dass RAS mehr Zeit benötigt, um die Satzklammer zu konstruieren und angemessen zu besetzen. Die folgende Graphik gibt diese ausgedehnte Entwicklung wieder. 6 Aufgrund des Kontexts erschien die Bedeutung ‚Celines Mama hat auch (heute) Geburtstag‘ plausibel. Wieviele Sprachen passen in einen Kopf? Mehrsprachigkeit als Herausforderung 85 Abb. 3: Entwicklung finiter Verben in V2-Position bei RAS Zwei Faktoren bieten sich für eine Erklärung an. Wie bereits erwähnt, produziert RAS zunächst weniger Verben als die anderen Kinder. Wenn dies bedeutet, dass ihr auch im Input Verben entgehen, dann bleibt ihr zugleich Evidenz für die Satzklammer vorenthalten und damit der Anreiz, den Widerspruch zwischen potentiell konfligierenden Inputdaten (V2 vs. Verbend) innerhalb eines konsistenten Systems, d.h. durch die Konstruktion der Satzklammer, aufzulösen (vgl. Tracy 1991, 2002). Außerdem verhält sich RAS insgesamt lange Zeit wesentlich zurückhaltender als AHA und RNV. Sie wirkt schüchtern, interagiert wenig mit anderen Kindern und ergreift von sich aus kaum Initiativen, um mit anderen ins Gespräch zu kommen. Nichtsdestotrotz erreicht sie schließlich innerhalb des ersten Kontaktjahrs mit dem Deutschen das Niveau der anderen Kinder. Bei allen Kindern treten gegen Ende des Dokumentationszeitraums erste Belege für eingeleitete Nebensätze auf. Nicht immer ist die Verbstellung von Anfang an zielsprachlich, vgl. (20a), bzw. es handelt sich um Fälle mit weil, die durch ambigen Input (weil in denn-Lesart vs. weil als Konjunktion) gestützt werden, vgl. (20b). (20a) RNV (3; 9) warte doch mal wenn ich hab fertig gemal (20b) AHA (4; 1) weil die Mensch hat hier brennt In dieser Hinsicht unterscheiden sie sich mindestens aus qualitativer Perspektive weder von monolingualen Kindern noch von 2L1-Kindern (vgl. Fritzenschaft et al. 1990, Gawlitzek-Maiwald et al. 1992, Gawlitzek-Maiwald 1997, Hohenberger 2002, Müller 1993). Ob sie diese Strukturen häufiger und länger produzieren, werden weitere Analysen zeigen. Rosemarie Tracy 86 Alle Kinder, wenngleich RAS langsamer als die anderen, identifizieren als erste relevante Verbposition die rechte Satzklammer. Sie entdecken auch früh weitere wichtige Partikeln, insbesondere auch, nicht, noch. Gerade die langsamere Lernerin, RAS, produziert in ihren Mehrwortäußerungen präferiert Fokuspartikeln des Mittelfelds unter Verzicht auf Verben. Insgesamt beeindruckt der zielstrebige Erwerb der linken Satzklammer (insbesondere bei AHA und RNV) und in Verbindung damit die zielsprachliche Markierung finiter Verben sowie das Auftreten weiterer V2- Effekte, d.h. die Platzierung von Nichtsubjekten im Vorfeld. Interferenzen aus den Erstsprachen, die wir bei älteren Kindern beobachten (Haberzettel 2005) spielen mindestens beim Erwerb der Satzklammer und der Verbflexion keine Rolle. Abweichende Hauptsätze, in denen finite Verben nicht in V2 auftreten (z.B. AHA dann ich muss hier was wegmache) sind mit nicht mehr als zwei Belegen pro Kind und Aufnahme marginal (vgl. auch Thoma / Tracy 2006). Nichtsdestotrotz weisen sie qualitativ in Richtung jener Probleme mit der Stellung von Adverbien und finiten Verben, die bei erwachsenen Deutschlernern besonders prominent sind (vgl. Dimroth 2002). Keines der drei Kinder zeigt Merkmale einer spezifischen Spracherwerbsstörung. Allein aufgrund der Geschwindigkeit, mit der sich die Kinder morphologische und syntaktische Eigenschaften deutscher Sätze aneignen, kann man auch in der Erstsprache eine spezifische Spracherwerbsstörung ausschließen. Unsere Ergebnisse stimmen mit dem überein, was Rothweiler / Kroffke (2005) und Rothweiler (2006) zum Erwerb des Deutschen durch Kinder mit Türkisch als Erstsprache herausgefunden haben, wobei die dort beschriebenen Kinder bezüglich der benötigten Kontaktzeit mit dem Deutschen eher mit RAS als mit AHA und RNV vergleichbar sind. Die anderen im Rahmen unseres Projekts beobachteten Kinder mit Türkisch und Arabisch als L1 sind entweder schnell (oder sogar noch schneller) als AHA und RNV, oder sie verhalten sich wie RAS, mit einer ausgedehnten Phase, in der sie verblose Syntagmen mit den Partikeln des Mittelfelds produzieren (Thoma / Tracy 2006, Tracy i.Dr.). Diese Befunde legen die Schlussfolgerung nahe, dass sich L2-Kinder im Alter von drei bis vier Jahren die deutsche Syntax im Bereich der Verbstellung und der Finitheitsmarkierung noch ebenso treffsicher und zügig aneignen können wie L1- Lerner. Die einleitende Frage, ob sich der L2-Erwerb in spezifischen Bereichen als „robust“ erweist, darf also bejaht werden. Geht man von der absoluten Dauer des Kontakts mit dem deutschen Input aus, der bei monolingualen Kindern (spätestens! ) mit der Geburt einsetzt, so unterschreiten die drei hier besprochenen L2-Kinder sogar die Zeit, die beim L1-Erwerb für die Konstruktion der Satzklammer benötigt wird. All dies spricht für den frühen Einsatz von Fördermaßnahmen, um Kinder mit anderen Erstsprachen ab dem Moment ihres Eintritts in vorschulische Bildungseinrichtungen beim Erwerb des Deutschen zu unterstützen. 6. Herausforderung Mehrsprachigkeit Mehrsprachigkeit ist weder ein kognitiver noch ein gesellschaftlicher Ausnahmezustand (vgl. Romaine 1995, Myers-Scotton 2006). Von sprachwissenschaftlicher Seite würde auch niemand mehr Weisgerber beipflichten, der noch vor 40 Jahren vor der kindlichen Mehrsprachigkeit unter Hinweis auf „[...] Aufwand von Zeit und Wieviele Sprachen passen in einen Kopf? Mehrsprachigkeit als Herausforderung 87 Kraft auf Kosten anderer Arbeit, Schwächung des Sprachgefühls durch gegenseitige Beeinflussung der beiden Sprachen, Unsicherheit des Ausdrucks, Sprachmengerei, Armut des lebendigen Wortschatzes, Lockerung der geistigen Gemeinschaft mit den Einsprachigen“ warnte (1966, 77). Andererseits finden sich auch heute noch vergleichbare, wenngleich meist subtiler formulierte Vorbehalte. Mehrsprachigkeit wird positiv gesehen, wenn prestigeträchtige Sprachen involviert sind und als Hindernis oder irrelevant, wenn es um Sprachen geht, deren Beherrschung sich nicht als Zusatzqualifikation für den Arbeits- und Bildungsmarkt erweist. Was können die Sprachwissenschaft, die Mehrsprachigkeits- und die Spracherwerbsforschung dazu beitragen, gängige Missverständnisse zu beheben und auf einen den aktuellen Erkenntnissen angepassten Umgang mit dem mehrsprachigen Potential des menschlichen Gehirns hinzuwirken? Zunächst einmal kann die Forschung zeigen, dass Kinder weder mit dem doppelten Erstspracherwerb noch mit dem frühen Zweitspracherwerb überfordert sind und dass sich im Bereich der Syntax das „natürliche“ Curriculum von L1-, 2L1- und frühem L2-Erwerb in qualitativer und quantitativer Hinsicht ähnelt. Der 2L1-Erwerb liefert uns außerdem klare Evidenz dafür, dass es nicht nötig ist, erst eine Sprache eine bestimmte Schwelle überschreiten zu lassen (vgl. Cummins 1991), bevor eine weitere hinzutritt. Für die erfolgreiche Mehrsprachigkeit bedarf es keines monolingualen Sprungbretts, sondern eines kontinuierlichen, intensiven und vielfältigen Sprachangebots in den beteiligten Sprachen. Künftige Forschung wird hoffentlich mehr dazu sagen können, wie sich Qualität und Quantität des Inputs unter verschiedenen Erwerbsbedingungen auf den Erwerbsprozess auswirken. Neue Langzeit- und Querschnittuntersuchungen werden auch benötigt, um die ungeachtet aller Gemeinsamkeiten erkennbaren interindividuellen Unterschiede besser zu verstehen. In der Forschungsliteratur klingt immer wieder die Frage an, ob sich die „schwächere“ der Erstsprachen beim 2L1-Erwerb eines Kindes etwa so entwickeln könnte, wie wir es eigentlich von einer Zweitsprache erwarten (vgl. Bernhardini / Schlyter 2004, Hulk / Cornips 2006, Meisel 2004, Müller et al. 2006). Aber zeigt nicht der prinzipiell mögliche zügige frühe Zweitspracherwerb, dass sich die zweite Sprache beim echten sukzessiven L2-Erwerb keineswegs als besonders „schwach“ erweisen muss? Vielleicht ist es an der Zeit, unsere Vorstellungen von diversen Erwerbstypen zu überdenken, zumal einiges dafür spricht, dass auch vermeintlich monolinguale Kinder bereits über mehr als ein grammatisches System verfügen (vgl. Abschnitt 3 oben). Scharfe Grenzen zwischen L1, 2L1 und frühem L2-Erwerb verwischen außerdem allein schon deshalb, weil wir in der Regel von Kindheit an mit unterschiedlichen Varietäten, Stilen und Registern konfrontiert werden, die wir − in Abhängigkeit vom jeweiligen Input, von ihrer Alltagsrelevanz und vom Prestige der Sprecher − aufgreifen und ausbauen können oder mit der Zeit ignorieren. Die Vorstellung vom monolingualen Menschen ist also auch schon für die frühe Kindheit keine besonders nützliche Fiktion. In das Reich der Mythen gehört zugleich die Vorstellung, dass (vermeintlich) monolinguale Menschen eine Sprache „perfekt“ und noch dazu in enger Verknüpfung mit einer invarianten Identität erwerben. Sprecher gleicher Zielsprachen unterscheiden sich − auch bei gleichermaßen stabil erworbenen Satzbauplänen − erheb- Rosemarie Tracy 88 lich im Umfang ihres aktiven oder passiven Wortschatzes und in ihren stilistischen, fachsprachlichen, soziolektalen und dialektalen Repertoires. 7 Vergessen wir schließlich über allen positiven Aspekten eines frühen Zweitspracherwerbs nicht, dass ältere Zweit- oder Fremdsprachenlerner ebenfalls sehr erfolgreich sein können, auch wenn sie für den Erwerb andere Strategien einsetzen müssen. In manchen Bereichen (Lexikon, syntaktische Komplexität, schriftsprachliche Repertoires) können sie Muttersprachler in den Schatten stellen, und zwar auch dann, wenn sich ihre Aussprache nur in seltenen Fällen einem muttersprachlichen Niveau annähert. Unvollkommener oder fossilisierter Erwerb in spezifischen sprachlichen Modulen und überragende Kompetenz in anderen schließen sich also keineswegs aus. Sprachen sind keine klar umrissenen, homogenen Objekte, die man sich als Ganzes einverleiben oder weiteren Generationen unverändert übergeben könnte. Im Übrigen verhindern weder ein unvollständiger Erwerb spezifischer Aspekte, z.B. des deutschen Kasus- oder Genussystems, noch eine abweichende Besetzung der Satzklammer die Integration von L2-Lernern in die deutsche Gesellschaft oder eine Karriere als Chirurg, Physiker oder Spitzensportler. Auch von unsinnigen Erwartungen an das Verhalten bilingualer Menschen (Kinder oder Erwachsene) sollten wir uns verabschieden. So ist es unwahrscheinlich, dass Bilinguale dazu in der Lage sind, sich in allen ihren Sprachen über jedes Thema gleichermaßen flüssig, rhetorisch versiert, lexikalisch differenziert oder auch nur gerne zu unterhalten. Die Arbeitsteilung zwischen den Sprachen kann sich allerdings im Laufe eines Lebens in Abhängigkeit von Gebrauchsgelegenheiten ändern. Wichtig ist es auch, das Mischen von Sprachen (Code-Switching oder -Mixing), das zum normalen, unmarkierten Diskurs bilingualer Sprechergemeinschaften gehört, vom Ruf eines Defizits zu befreien und es als pragmatische und stilistische Ressource anzuerkennen (vgl. Auer 1998, Hinnenkamp / Meng 2005, Myers-Scotton 2006, Tracy 2006). Wieviele Sprachen − oder Varietäten − passen also in einen Kinderkopf? Wie wir gesehen haben, hat der Kopf eigentlich kein Problem mit der Herausforderung durch die Mehrsprachigkeit, wenn ihm ein ausreichendes Sprachangebot zur Verfügung steht. Die entscheidende Frage ist daher vielmehr, unter welchen Bedingungen sich das dem Menschen in die Wiege gelegte Talent zur Mehrsprachigkeit am besten entfalten kann. Unsere Sprachfähigkeit an sich und damit auch die Fähigkeit, mit vielen Sprachen gleichzeitig umzugehen, verdanken wir unserer genetischen Ausstattung. Ob einzelne Sprachen oder Varietäten langfristig eine Ausbau- und Überlebenschance haben, ist jedoch eine Frage der kulturellen Wertigkeit und hängt daher vor allem davon ab, was sich in den Köpfen derjenigen abspielt, die in der Gesellschaft das Sagen haben, in die ein Kind hineinwächst. 7 In Abhängigkeit vom Dialekt unterscheiden sich deutsche Muttersprachler darin, welche Besetzungen der linken Satzklamnmer sie als grammatisch empfinden. Doppelte Satzeinleiter, wie im kurpfälzischen Isch weeß, wen dass gesehe hosch, oder süddt. Wen, glaubst du, dass er gesehen hat? sind in anderen Dialekten ausgeschlossen. Wieviele Sprachen passen in einen Kopf? 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Die zugrunde liegende Idee ist ebenso schlicht wie scheinbar plausibel: Kleinkinder erwerben ihre Muttersprache oder sogar mehrere Sprachen ohne erkennbare Mühe und ohne dass es notwendig wäre, sie zu unterrichten oder in ihrer sprachlichen Entwicklung zu unterstützen oder anzuleiten. Bei Erwachsenen, Jugendlichen und älteren Kindern hingegen ist diese Fähigkeit verschüttet und muss wieder freigelegt werden - sie kann nicht verloren gegangen sein. Oder vielleicht doch? Anders formuliert lautet die Frage, der hier nachgegangen werden soll, ob sich im Verlauf der kindlichen Entwicklung nicht nur neue Möglichkeiten eröffnen, etwa durch die Reifung des kognitiven Leistungsvermögens, sondern ob Anlagen im Verlauf des Prozesses auch wieder unzugänglich werden. Das Ergebnis vorwegnehmend lautet die Antwort im Hinblick auf die Spracherwerbsfähigkeit, dass sie in der Tat nicht vollständig und zeitlich unbegrenzt zugänglich bleibt. Somit sind, wenn diese Antwort richtig ist, alle Versuche zum Scheitern verurteilt, Erfolge beim Lernen von Sprachen dadurch zu erzielen, dass die frühkindliche Anlage zum Spracherwerb wieder aktiviert wird. Natürlich bedeutet das nicht, dass der Erwerb von Sprachen nicht mehr möglich wäre. Vielmehr besagt die Reifungshypothese, von der ich hier ausgehe, dass der Mensch über eine genetisch vermittelte Sprachfähigkeit verfügt, die im Laufe der frühkindlichen Entwicklung als Folge neuronaler Reifung zugänglich wird. Man darf sogar annehmen, dass es sich dabei um eine Anlage zur Mehrsprachigkeit handelt, d.h. es können simultan zwei oder mehr Sprachen erworben werden. Ein Ergebnis neuronaler Reifung ist aber auch, dass diese angeborene Fähigkeit zur Sprache bzw. zum Erwerb von Sprache nicht zeitlich unbegrenzt verfügbar bleibt. An diesem Punkt ist es notwendig zu differenzieren: Teile der sprachlichen Anlagen müssen in bestimmten Entwicklungsphasen aktiviert werden, um nicht unwiederbringlich verloren zu gehen, andere wiederum bleiben langfristig oder sogar permanent erhalten. 1 Diese Arbeit entstand im Rahmen des Forschungsprojekts ‚Simultaner und sukzessiver Erwerb von Mehrsprachigkeit‘. Es ist eines von zur Zeit 14 Teilprojekten im Sonderforschungsbereich 538 ‚Mehrsprachigkeit‘ an der Universität Hamburg, gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Mitarbeiter des Projekts unter der Leitung des Autors dieser Arbeit sind Matthias Bonnesen, Noemí Kintana, Susanne Rieckborn und Claudia Stöber. Jürgen M. Meisel 94 Ohnehin geht es hierbei gar nicht um „Sprache“, sondern um bestimmte Aspekte von Sprache - allerdings um ganz entscheidende, denn es sind diejenigen, durch die sich menschliche Sprache von allen tierischen Kommunikationssystemen unterscheidet, insbesondere durch ihre grammatischen Struktureigenschaften. Das Erlernen von Wortbedeutungen zum Beispiel ist hingegen nicht von den Reifungsprozessen betroffen. Und selbst der Verlust zentraler Komponenten der Spracherwerbsfähigkeit bedeutet nicht, dass der sukzessive Erwerb von Sprachen ab einem gewissen Entwicklungszeitpunkt nicht mehr möglich wäre. Vielmehr folgt daraus, dass andere kognitive Ressourcen ausgeschöpft werden müssen, um deren Funktionen zu übernehmen - allerdings mit erheblichen Konsequenzen für den erreichbaren Erwerbserfolg. Das besagt zumindest die Reifungshypothese. Im Folgenden sollen diese Hypothese, ihre Implikationen und die Folgen für den Spracherwerb etwas weiter ausformuliert werden. So folgt zum Beispiel aus der Annahme einer substanziellen Veränderung der Spracherwerbsfähigkeit, dass sich Erst- und Zweitspracherwerb qualitativ unterscheiden, wobei zu fragen ist, welche sprachlichen Eigenschaften in welcher Weise betroffen sind. Auch die Altersspanne, in der die wesentlichen Veränderungen stattfinden, ist genauer zu bestimmen. Und da diese Veränderungen als Ergebnis neurophysiologischer Reifungsprozesse erklärt werden sollen, genügt es nicht, Umbrüche im Sprachgebrauch zu ermitteln, sondern es muss versucht werden, linguistische und neuropsychologische Einsichten in Einklang zu bringen und sie im Licht der jeweils anderen neu zu interpretieren. So soll ein möglichst stimmiges Bild gezeichnet werden, das die Bedeutung des Alters beim Beginn des Erwerbs deutlich werden lässt, wenn mehrere Sprachen sukzessiv erworben werden. Manche Einzelaspekte des Gesamtbilds sind wohlbekannt und unstrittig, andere sind hingegen umstritten. Ich werde versuchen deutlich zu machen, welche Annahmen und Interpretationen in der einschlägigen Forschung auf breite Zustimmung stoßen und welche kontrovers diskutiert werden. 2. Erst- und Zweitspracherwerb: Gemeinsamkeiten und Unterschiede 2.1. Monolingualer Erstspracherwerb Das Hauptinteresse dieses Beitrags gilt also den möglichen Veränderungen, denen die menschliche Spracherwerbsfähigkeit im Verlauf der kindlichen Entwicklung unterworfen ist. Um diese erfassen und verstehen zu können, ist es notwendig, einen Bezugspunkt und eine Vergleichsgröße zu bestimmen. Es liegt nahe, dafür den monolingualen Erstspracherwerb (L1) heranzuziehen, um im Vergleich mit anderen Erwerbstypen zu ermitteln, wie sich die vermuteten Veränderungen auswirken, d.h. welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede sich im Sprachgebrauch der Lerner zeigen. Selbstverständlich kann ein solcher Vergleich im gegebenen Rahmen nur punktuell gezogen werden. Wenn man bedenkt, dass der L1-Erwerb zwar eine Vielfalt von Merkmalen aufweist, in denen sich unterschiedliche Lernertypen und sogar individuelle Lerner voneinander unterscheiden, aber auch Eigenschaften, in denen sich viele oder alle Lerner gleichen, dann bietet es sich an, zunächst die Gemeinsamkeiten in den Mittelpunkt zu stellen, zumal sich darin am ehesten die Wirkung derjeni- Mehrsprachigkeit in der frühen Kindheit: Zur Rolle des Alters bei Erwerbsbeginn 95 gen Einflussfaktoren zeigt, die allen Lernern gemeinsam sind. Dazu zählt in jedem Fall die humanspezifische Spracherwerbsfähigkeit. In der Tat wird der L1-Erwerb üblicherweise als immer erfolgreich und als im Verlauf uniform charakterisiert. Mit dem Erfolg wird die Tatsache beschrieben, dass alle Kinder - von pathologischen Fällen abgesehen - die grammatische Kompetenz für ihre Umgebungssprache vollständig erwerben, unabhängig von Intelligenz oder Persönlichkeit, dem sozialen Umfeld, und so fort. Entscheidend ist, dass ihnen dies anscheinend mühelos gelingt, d.h. es bedarf dafür keiner speziellen Anleitung oder Belehrung - es genügt die Interaktion mit den Bezugspersonen der jeweiligen Zielsprache. Mit der Uniformität des Erwerbsverlaufs ist gemeint, dass die Sprachentwicklung von Geburt an bestimmte Phasen durchläuft, deren Chronologie unveränderlich ist, für alle Lerner und unabhängig davon, welche Sprache erworben wird. Eine ausführliche Darstellung der frühen L1-Erwerbsphasen gibt Guasti (2002) in ihrer Einführung in den Erstspracherwerb. Die Gleichförmigkeit des Verlaufs gilt folglich sowohl im Hinblick auf verschiedene Lerner als auch bezüglich der Sequenzierung der Phasen beim Erwerb einer bestimmten Sprache und - auf einer abstrakteren Ebene - sprachvergleichend. Entscheidend für die Gegenüberstellung unterschiedlicher Erwerbstypen ist die Tatsache, dass solche Erwerbssequenzen auch den Verlauf des Erwerbs grammatischer Struktureigenschaften charakterisieren. Tatsächlich bezog sich die Beschreibung des L1-Erwerbs als immer erfolgreich und uniform zunächst nur auf die Entwicklung der grammatischen Kompetenz. Im Rahmen der Theorie der Universalgrammatik (UG) (vgl. Chomsky 2000 für eine neuere Darstellung) geht man davon aus, dass die UG nicht nur Aussagen darüber macht, welches implizite Wissen dem Kind zu Beginn des Erwerbsprozesses zur Verfügung steht, also vor jeder empirisch gewonnenen Erfahrung, sondern dass sie auch den Entwicklungsverlauf wesentlich mitbestimmt, da das grammatische Wissen zu jedem Zeitpunkt der Entwicklung mit den Prinzipien der UG in Einklang stehen muss. Diese Sicht muss man nicht unbedingt teilen. Was jedoch für die folgende Argumentation von Bedeutung ist, das ist die Annahme, dass das kognitive System des Menschen für die Verarbeitung von Sprache spezifische Mechanismen bereitstellt. Der Erwerb und die Verarbeitung von Sprache machen also - nicht nur, aber auch - von bereichsspezifischen, d.h. sprachspezifischen kognitiven Prozessen Gebrauch. Analog dazu zeigt die linguistische Analyse, dass die den sprachlichen Äußerungen zugrunde liegenden Organisationsprinzipien nicht nur auf lineare Abfolgen Bezug nehmen (X vor Y, Y nach X, X am Anfang / Ende der Kette, etc.), sondern auch auf hierarchische Strukturen, wie sie in Baumdiagrammen dargestellt werden können. Die so erfasste Strukturabhängigkeit ist eines der zentralen Merkmale, durch die sich menschliche Sprache von tierischen Kommunikationssystemen unterscheidet. Man kann diese Überlegungen durch folgende Beispiele verdeutlichen. 2 (1) Er kommt. (2) Kommt er? Angenommen, Kinder hören Sätze dieses Typs und verstehen, dass (2) eine Frage ist, die dem Aussagesatz (1) entspricht. Eine mögliche Hypothese der Lerner ist dann, dass Interrogationsformen im Deutschen durch die Umkehrung der linearen 2 Die Beispiele sind Haider (1991) entnommen. Jürgen M. Meisel 96 Abfolge gebildet werden, die Elemente des Satzes also in umgekehrter Reihenfolge anzuordnen seien. Komplexere Satzpaare des Typs (3) und (4) scheinen das zu bestätigen. (3) Marias Kommentare dazu folgten. (4) Folgten dazu Kommentare Marias? In Wahrheit aber nutzt keine menschliche Sprache dieses Organisationsprinzip, das doch eine plausible Option zu sein scheint, zumal Umstellungen benachbarter Elemente durchaus vorkommen. Noch wichtiger aber ist die Tatsache, dass kein Kind jemals versucht, eine solche Regel in seine sich entwickelnde Grammatik aufzunehmen, auch nicht vorübergehend. Ganz offensichtlich handelt es sich nicht um eine Möglichkeit, die unsere Sprachfähigkeit zulässt, obgleich sie in anderen kognitiven Bereichen (z.B. in visueller Mustererkennung) unproblematisch ist. (5) Vereinfachte Satzstruktur CP 2 C’ 2 C IP : 2 ! I’ ! 2 ! VP I ! 2 ! DP V’ ! 2 ! DP V z-----------m Die Syntax der Interrogation vieler Sprachen verlangt hingegen, dass die in Fragen häufig verwendete Subjekt-Verb-Inversion durch die Bewegung des Verbs in die zweite Strukturposition 3 gebildet wird, vgl. (5). Mit anderen Worten, die sprachlichen Fakten können durch eine hierarchische Struktur angemessen erfasst werden, nicht durch eine Darstellung als nur lineare Abfolge. Übrigens schließen die Prinzipien der UG auch die dritte denkbare Option aus, nämlich die Umstellung des Subjekts in eine Position nach dem Verb (vgl. Grewendorf 2002 für eine detailliertere Diskussion dieser Prinzipien). Bemerkenswert ist, dass auch diese Möglichkeit von L1-Lernern nicht ausprobiert wird. Es sind Beobachtungen dieser Art, die die Annahme unterstützen, dass die Prinzipien der UG den Erstspracherwerb leiten. 2.2. Bilingualer Erstspracherwerb Wie steht es damit in anderen Erwerbstypen? Wenn von Mehrsprachigkeit die Rede ist, dann kommen zwei unterscheidende Faktoren ins Spiel, nämlich zum einen eben die Tatsache, dass die Lerner mehr als eine Sprache erwerben, verarbeiten und speichern müssen, und zum anderen das jeweilige Alter zu Erwerbsbeginn. Um den 3 Der notwendige Zwischenschritt bei der Bewegung des Verbs nach C, nämlich zunächst nach I, ist in dem vereinfachten Baumdiagramm nicht graphisch dargestellt. Mehrsprachigkeit in der frühen Kindheit: Zur Rolle des Alters bei Erwerbsbeginn 97 möglichen Einfluss der beiden Faktoren besser auseinanderhalten zu können, soll zunächst kurz vom simultanen Erwerb von zwei oder mehr Sprachen (2L1) die Rede sein, dem Erwerbstyp also, der sich bezüglich der Altersfrage nicht vom L1-Erwerb unterscheidet. Der simultane Erwerb von zwei oder mehr Sprachen hat die Spracherwerbsforschung der letzten 30 Jahre zunehmend häufig und intensiv beschäftigt, wie den zusammenfassenden Darstellungen von de Houwer (1995) und Meisel (2004) zu entnehmen ist. Im Ergebnis zeigt sich eine ungewöhnlich breite Übereinstimmung in den wichtigsten der Fragen, die Gegenstand unserer Diskussion sind. 1) Bilingual aufwachsende Kinder sind in der Lage, das internalisierte Wissen von ihren Sprachen von früh an zu trennen. 2) Sie durchlaufen dieselben grammatischen Erwerbssequenzen wie monolinguale Kinder, die die gleiche Sprache erwerben. 3) Sie erreichen eine grammatische Kompetenz, die sich qualitativ nicht von der vergleichbarer Monolingualer unterscheidet. Wie unschwer zu erkennen ist, entsprechen die beiden zuletzt genannten Merkmale den Kriterien der Uniformität und des Erfolgs, die den monolingualen Erwerb charakterisieren. Es ist daher nicht notwendig, hier noch einmal darauf einzugehen. Es bleibt aber festzuhalten, dass diese Fakten sehr deutlich dafür sprechen, dass der simultane Erwerb der Mehrsprachigkeit als eine Form des doppelten „Erstspracherwerbs“ verstanden werden sollte. Diese Schlussfolgerung wird auch durch den zuerst genannten Punkt unterstützt, der noch etwas erläutert werden soll, da er spezifisch für den 2L1-Erwerb ist und zudem das am häufigsten erforschte Phänomen der frühkindlichen Mehrsprachigkeit anspricht. Tatsächlich kann man die Fähigkeit bilingual aufwachsender Kinder zur frühen Differenzierung grammatischer Wissenssysteme als entscheidend für die weitere sprachliche Entwicklung ansehen, möglicherweise sogar als notwendige Bedingung für die Erfüllung der beiden anderen Kriterien. Anders als beim sukzessiven Erwerb der Mehrsprachigkeit, vgl. Abschnitt 2.3., unterscheidet sich dadurch nämlich das grammatische Wissen der bilingualen Kinder in der Eingangsphase des Erwerbs nicht von dem der monolingualen. Wenn hier von früher Differenzierung die Rede ist, dann ist damit gemeint, dass eine funktionale Unterscheidung der Sprachen bereits ab dem Alter von etwa 1; 10 (1 Jahr; 10 Monate) nachweisbar ist. Das zeigt sich zum Beispiel darin, dass Kinder bei der Sprachwahl nach der angesprochenen Person entscheiden und dass sie in der Interaktion mit Monolingualen nicht oder sehr selten in die andere Sprache wechseln. Die Trennung grammatischen Wissens lässt sich für die Syntax schon im Alter von ungefähr 2; 0 eindeutig belegen, einem Zeitpunkt, zu dem der MLU-Wert (Mean Length of Utterance - durchschnittliche Äußerungslänge) bei 2,0 liegt. Ein früherer Zeitpunkt ist im Bereich der Syntax aus offensichtlichen Gründen nicht empirisch nachweisbar, da bei weniger als zwei Wörtern oder Morphemen pro Satz syntaktische Regularitäten nicht erkennbar sind. Der deutlichste Nachweis für die mentale Trennung grammatischer Systeme besteht wohl darin, dass in einer Reihe von Untersuchungen (vgl. Meisel 2001) gezeigt werden konnte, dass bilinguale Kinder bereits zu diesem frühen Zeitpunkt grammatisch unterschiedliche Ausdrucksweisen für funktional äquivalente Konstruktionen in den beiden Sprachen verwenden. Das bedeutet, dass ein Vergleich mit dem monolingualen Erwerb der zwei Sprachen ergibt, dass der Erwerbsverlauf in jeder der Sprachen dem der entsprechenden Monolingualen entspricht. Umgekehrt zeigen sich konsequenterweise beim Kontrast der Erwerbsverläufe der beiden Sprachen eines bilingualen Kindes unterschiedliche Muster. Beide Gegenüberstellungen, die des Er- Jürgen M. Meisel 98 werbs einer der Sprachen der Bilingualen mit dem monolingualen Erwerb und die der Entwicklung der zwei Sprachen desselben bilingualen Individuums, belegen somit die behauptete Trennung der grammatischen Wissenssysteme in frühen Phasen des 2L1-Erwerbs. Als Beispiel kann wieder die Wortstellung dienen, etwa beim Erwerb einer romanischen Sprache simultan mit dem Deutschen. Im Deutschen steht das infinite Verb in der Endposition des Hauptsatzes, während das finite Verb (fett in den Beispielen) in der zweiten Strukturposition erscheint. Im Nebensatz hingegen werden beide - nun aber in umgekehrter Reihenfolge - am Satzende platziert, vgl. (6) - (8). (6) Sie hat den Riesling probiert. (7) Heute probiert sie den Weißburgunder. (8) … dass sie den Wein probieren möchte. Der gängigen syntaktischen Analyse zufolge ist das Deutsche eine OV-Sprache, in der Objekte in der zugrunde liegenden Struktur dem Verb vorangehen, und es ist eine Verb-Zweit-(V2-)Sprache, in der das finite Verb in die zweite Position (C) angehoben wird; siehe (5). In eingeleiteten Nebensätzen ist dies nicht möglich, weil C durch die Konjunktion besetzt ist, sodass das finite Verb nur bis I angehoben werden kann, während das infinite in jedem Fall in V verbleibt. Romanische Sprachen sind hingegen VO-Sprachen und zeigen keinen V2-Effekt. Daher steht, wie die analogen französischen Beispiele (9) - (11) illustrieren, das Objekt immer nach den beiden Verben, und das Subjekt geht auch in (10) dem Verb voran, das dann in dritter Position erscheint, im Gegensatz zum Deutschen, wo es immer in der zweiten steht. (9) Elle a goûté le riesling. (10) Aujourd’hui elle goûte le pinot blanc. (11) … qu’elle aimerait goûter le vin. Für den simultanen Erwerb ergibt sich aus dieser Charakterisierung, dass die Lerner unterschiedliche Grammatiken entwickeln müssen, um die OV- / VO- und ±V2- Eigenschaften des Französischen und des Deutschen jeweils der Zielgrammatik entsprechend zu erfassen. Empirische Studien belegen, dass dies in der Tat mühelos gelingt (vgl. Meisel 1986). Im Deutschen bilingualer Kinder finden sich sehr früh OV-Konstruktionen, die im Französischen niemals auftreten. Vor allem aber erscheinen finite Verben im Deutschen immer vor dem Subjekt, wenn ein anderes Element in satzinitialer Position steht, so wie das in V2-Sprachen erforderlich ist. Im Französischen steht das finite Verb in vergleichbaren Kontexten hingegen ohne Ausnahme in der dritten Position; die Beispiele von Caroline in (12) und (13) illustrieren diese Beobachtungen. (12) da fährt die Caroline (2; 3), ein grüner is das (2; 4) (13) là elle est cassée (2; 2), la chaussure on va jouer (2; 2) In beiden Sprachen verwenden die bilingualen Kinder damit jeweils die gleichen Wortstellungsmuster wie die entsprechenden monolingualen Kinder, und sie durchlaufen die gleichen Erwerbssequenzen. Im Ergebnis bedeuten diese Forschungsergebnisse, dass es sich beim simultanen Erwerb von zwei Sprachen in der Tat um doppelten Erstspracherwerb handelt. Dem- Mehrsprachigkeit in der frühen Kindheit: Zur Rolle des Alters bei Erwerbsbeginn 99 nach spielt die Präsenz einer weiteren Sprache keine entscheidende Rolle bei der Erklärung unterschiedlicher Erwerbstypen, zumindest dann nicht, wenn die Sprachen simultan erworben werden. Schließlich bedeutet das auch, dass wie im monolingualen Erwerb die UG den Erwerbsverlauf steuert. 2.3. Zweitspracherwerb Kontrastiert man diese Beobachtungen mit denen, die beim sukzessiven Erwerb von zwei oder mehr Sprachen gemacht werden können, dann zeigt sich ein ganz anderes Bild, denn dieser Erwerbstyp unterscheidet sich in wesentlichen Aspekten vom bilingualen und vom monolingualen L1-Erwerb (vgl. Meisel 1991 für eine Gegenüberstellung von L1 und L2). Tatsächlich gibt es in der L2-Forschung die Unterschiede betreffend kaum Dissens. Strittig ist allerdings, wie man sie interpretieren soll. Worin also bestehen diese Unterschiede? Zunächst einmal ist das verfügbare Wissen zu Beginn des Erwerbsprozesses ein wesentlich anderes, da zumindest partiell auf zuvor erworbenes sprachliches Wissen zurückgegriffen werden kann und die weiter entwickelten kognitiven Fähigkeiten mehr Möglichkeiten beim Lernen, Speichern und Verarbeiten von Sprache eröffnen. Konkret bedeutet das, dass Lerneräußerungen zu Beginn des L2-Erwerbs häufig länger und komplexer sind als frühe L1-Äußerungen. Von besonderer Bedeutung ist, dass funktionale Elemente (Kongruenzmarkierungen, Artikel etc.), die in der frühen Kindersprache ganz fehlen, hier zwar häufig ausgelassen, aber eben auch schon verwendet werden (vgl. Grondin / White 1996 und Parodi 1998). Der Ausgangspunkt des Erwerbs ist also zweifellos nicht der gleiche wie bei der L1, woraus notwendigerweise folgt, dass sich auch der weitere Verlauf des L2-Erwerbs von demjenigen der L1 unterscheiden wird, weil ein gleiches Ziel von unterschiedlichen Startpunkten aus nicht auf gleichem Weg erreicht werden kann. Die entscheidende Frage ist nun, ob solche Überlegungen als Erklärungen für die L1-L2-Differenzen ausreichen, oder ob man es nicht doch mit fundamentalen Unterschieden zu tun hat, wie das zum Beispiel Bley-Vroman (1989) annimmt. Diese Frage wird in der L2-Forschung seit 20 Jahren kontrovers diskutiert. Die im Abschnitt 1 angesprochene Reifungshypothese folgt der Annahme, dass es sich in der Tat um grundlegende Unterschiede handelt, d.h. dass beim L2-Erwerb nicht die gleichen Erwerbsmechanismen genutzt und nicht das gleiche Wissen erworben wird wie im L1-Erwerb. Eine Reihe von weiteren, ebenfalls unstrittigen L1-L2-Differenzen spricht nach meinem Verständnis für diese Interpretation der Fakten. So kann man einen im Vergleich zum (2)L1-Erwerb deutlich verlangsamten L2-Erwerbsverlauf feststellen. Hinzu kommt eine große Variationsbreite bei Erwerb und Gebrauch der L2, sowohl im Vergleich zwischen verschiedenen Lernern als auch bei ein und demselben Lerner über einen gewissen Zeitraum hinweg. Zwar sind im L2-Erwerb invariante Erwerbssequenzen zu beobachten (vgl. Meisel / Clahsen / Pienemann 1981), aber es sind nicht die gleichen wie bei der L1. Außerdem gibt es auch hier wieder bedeutende lernerspezifische Unterschiede, sowohl in der Art des Gebrauchs, den die Lerner in jeder Erwerbsphase von dem erworbenen Wissen machen, als auch hinsichtlich der letztlich erreichten Erwerbsphase. Diese Feststellungen belegen unzweideutig, dass das Kriterium der Uniformität des Erwerbsverlaufs für den L2-Erwerb nicht zutrifft. Vor allem jedoch sind nicht alle Lerner erfolgreich. Zwar ist strittig, ob eine muttersprachliche Kompetenz für L2-Lerner prinzipiell unerreichbar ist, unstrittig ist Jürgen M. Meisel 100 hingegen, dass - wenn ein solcher Erfolg denn möglich sein sollte - nur ein geringer Prozentsatz der L2-Lerner ihn erreichen kann. Für die gegenwärtige Diskussion ist entscheidend, dass große individuelle Unterschiede den L2-Erwerb charakterisieren, bezüglich des Erwerbsverlaufs ebenso wie hinsichtlich des erreichbaren Erfolgs. Eine Spracherwerbsforschung die dieses Faktum ignorieren wollte oder es unerklärt ließe, könnte nicht als adäquater Erklärungsansatz gelten. Uniformität und Erfolg des (2)L1-Erwerbs wurden damit erklärt, dass die grammatische Entwicklung durch die Prinzipien der UG bestimmt wird. Es ist daher eine plausible Überlegung, anzunehmen, dass die beobachteten L1-L2-Unterschiede darauf zurückzuführen sind, dass die UG beim sukzessiven Erwerb der Mehrsprachigkeit nicht mehr die gleiche Rolle spielt wie beim Erwerb einer Sprache von Geburt an. Das ist in der Tat die Annahme der Reifungshypothese, nämlich dass die Spracherwerbsfähigkeit im Verlauf der kindlichen Entwicklung nur für einen begrenzten Zeitraum vollständig zur Verfügung steht. Um diese These zu spezifizieren, ist es notwendig, theoretisch ableitbare Begründungen dafür anzugeben, welche Aspekte der UG von Reifungsprozessen betroffen sein könnten. Nun unterscheidet die von Chomsky (1981, 1986) und anderen entwickelte grammatische Theorie bekanntlich zwischen invarianten und parametrisierten Prinzipien der UG (vgl. Meisel 1995 für eine Überblicksdarstellung mit Bezug auf den Spracherwerb). Während invariante Prinzipien in den Grammatiken aller Sprachen in gleicher Weise realisiert werden, sind parametrisierte Prinzipien unterspezifiziert, d.h. sie machen ebenfalls universal gültige Aussagen, doch sie lassen eine Option offen, die in den einzelsprachlichen Grammatiken unterschiedlich spezifiziert werden muss. Die in 2.2 erwähnten Unterschiede zwischen germanischen und romanischen Sprachen, OV / VO und ±V2, können auf diese Weise erklärt werden. Für den Erwerb von grammatischem Wissen bedeutet die genannte Unterscheidung, dass die universalen Prinzipien der UG Wissen bereitstellen, das nicht durch Erfahrung erworben werden muss. Zwar gilt das auch für die parametrisierten Optionen, aber in diesem Fall muss zusätzlich der Parameter auf einen der vorgegebenen Werte festgelegt werden, d.h. die empirische Erfahrung mit der Zielsprache muss Informationen darüber liefern, welche der angebotenen Optionen die zielsprachig richtige ist. Mit anderen Worten: die Theorie der grammatischen Parameter erfasst den Bereich, in dem angeborenes Wissen und durch Erfahrung erworbenes Wissen interagieren. Die Reifungshypothese setzt an eben diesem Punkt an und behauptet, dass das Spracherwerbsvermögen diese Möglichkeit der Interaktion in bestimmten Phasen der Entwicklung anbietet, dass es ein Zeitfenster gibt, in dem sich diese Gelegenheit eröffnet, dass sich das aber auch wieder schließt. Aus linguistischer Perspektive bedeutet das, dass die parametrisierten Prinzipien der UG den Reifungsprozessen unterworfen sind (vgl. Smith / Tsimpli 1995). Mit Bezug auf den hier skizzierten theoretischen Bezugsrahmen lassen sich nun die Konsequenzen für den Grammatikerwerb etwas genauer ausbuchstabieren. Invariante Prinzipien der UG sollten demnach im Zweitspracherwerb die gleiche Rolle spielen wie im monolingualen und im bilingualen Erstspracherwerb. Das bedeutet, dass Lernergrammatiken aller Erwerbstypen an jedem Punkt der Entwicklung diesen Prinzipien entsprechen müssen. Bei parametrisierten Prinzipien sieht das hingegen anders aus. Parameter, die im L1-Erwerb aktiviert und auf einen der vorgegebenen Werte festgelegt wurden, können auch in die sich entwickelnde L2-Grammatik implementiert werden. Wurde jedoch ein parametrisiertes Prinzip im Verlauf der L1- Entwicklung nicht aktiviert, dann steht es beim Erwerb der L2 nicht zur Verfügung Mehrsprachigkeit in der frühen Kindheit: Zur Rolle des Alters bei Erwerbsbeginn 101 und kann nicht durch direkten Zugriff auf die UG aufgerufen werden. Aber auch der nicht gewählte Wert eines aktivierten Parameters ist nun nicht mehr zugänglich. Das heißt, dass in den Fällen, in denen die Grammatiken der L1 und der L2 unterschiedliche Parameterwerte verlangen, wie etwa in unseren Beispielen der V2- / nicht-V2- und OV- / VO-Sprachen, derjenige Parameterwert nicht mehr zur Verfügung steht, der in der L1 nicht gewählt wurde. Für das bessere Verständnis dieser These ist es wichtig, sich in Erinnerung zu rufen, dass Parameter als abstrakte Struktureigenschaften definiert sind und dass in der Regel mehrere Oberflächenkonstruktionen einem Parameterwert entsprechen (vgl. Meisel 1995 zur Bündelung struktureller Eigenschaften). So betrifft die Entscheidung zwischen OV und VO nicht nur die lineare Sequenzierung von Verb und Objekt, sondern u.a. auch Partikelkonstruktionen und die Stellung von Adverbialen (vgl. Möhring / Meisel 2003). Für den Spracherwerb bedeutet dies, dass als Folge der Festlegung eines Parameters auf einen bestimmten Wert prinzipiell alle der damit verbundenen grammatischen Eigenschaften erworben sind, dass es also zu einer chronologischen Bündelung innerhalb einer Erwerbsphase kommen sollte. Dadurch können die beiden Erwerbsmechanismen, das Festlegen von Parameterwerten und das induktive Lernen, empirisch unterschieden werden. Um einem möglichen Missverständnis vorzubeugen, soll hier angemerkt werden, dass die These, wonach L2-Lerner keinen Zugriff haben auf in der L1 nicht gewählte Parameteroptionen, nicht bedeutet, dass die diesem Parameterwert entsprechenden strukturellen Eigenschaften der Zielsprache nicht mehr erlernbar wären. Sie müssen nun aber aus den Inputdaten erschlossen, also induktiv erlernt werden. Das hat zur Folge, dass sich der Lernprozess über einen längeren Zeitraum hinzieht und nicht immer zum Erfolg führt. Außerdem kommt es nicht mehr zu der chronologischen Bündelung, sondern die verschiedenen Oberflächenkonstruktionen müssen einzeln gelernt werden. Mit diesem Ziel wird der L2-Lerner gegebenenfalls auch nicht-sprachspezifische kognitive Prinzipien zur Problemlösung einsetzen; siehe die Unterscheidung in 2.1. Letztere können sich auf die lineare Sequenz der Oberflächenstellung (z.B. initiale oder finale Position, Adjazenz bezogen auf ein anderes Element etc.) beziehen anstatt auf strukturelle Positionen wie in (5). Beispiele hierfür lassen sich unter anderem im Bereich der Wortstellung finden. So stellen L2- Lerner häufig das Negationselement unmittelbar vor das zu negierende Element (NEG+X). Die Konstruktion ist also nicht das Ergebnis einer strukturbezogenen Operation, durch die das finite Verb in einen höheren funktionalen Kopf bewegt würde, sondern sie entsteht durch die Platzierung der Negation adjazent (lineare Anordnung) zum negierten Verb. Ein anderes Beispiel zeigt, dass der V2-Effekt dadurch simuliert werden kann, dass das Subjekt in die Endposition des Satzes gestellt wird, wiederum anstelle der Bewegung des finiten Verbs in eine Strukturposition über und damit linear vor dem Subjekt. Bei intransitiven Verben wird so die zielsprachliche Oberflächenordnung erreicht; nur in Konstruktionen mit einem direkten Objekt wird die Ersatzlösung erkennbar, vgl. die Äußerungen eines italienischen L2-Lerners, Franco, 31 Jahre alt, 10 Jahre in Deutschland, in (14) - (15). In beiden Beispielen steht das Subjekt nicht unmittelbar hinter dem Verb sondern nach dem Objekt, wobei in (14) auch noch die Negation nachgestellt wurde. (14) Bestimmt liebe diese Frau ich nix (15) Da hat sieben Kinder diese Frau Jürgen M. Meisel 102 Die Erwerbsmechanismen sind demnach zum Teil sprachspezifischer Natur, zum Beispiel dort, wo Parameteroptionen aus der L1 übernommen werden, zum Teil jedoch auch nicht. Das hat zur Folge, dass das so erworbene sprachliche Wissen ein hybrides System ergibt, das sowohl strukturabhängige als auch nicht-strukturbezogene Ordnungsprinzipien enthält. 3. Sensible Phasen in der sprachlichen Entwicklung Als Fazit des vorangehenden Abschnitts kann man festhalten, dass es zweifelsfrei substanzielle Unterschiede zwischen verschiedenen Erwerbstypen gibt und dass die deutlichsten Differenzen dann erkennbar werden, wenn das Alter zu Erwerbsbeginn variiert. Das unterstützt die eingangs eingeführte Reifungshypothese, auch wenn die Frage, ob es sich dabei um fundamentale Unterschiede handelt, noch kontrovers diskutiert wird. In jedem Fall müssen die beobachteten Unterschiede erklärt werden. Der hier favorisierte Erklärungsansatz beruht auf der Annahme, dass die neuronale Reifung für die Veränderung der Erwerbsfähigkeit verantwortlich ist. Dieser Gedanke wird in diesem Abschnitt etwas weiter ausgeführt, wobei nicht zuletzt auch die Frage angesprochen werden soll, in welchem Alter solche Veränderungen einsetzen. Der angedeutete Zusammenhang zwischen reifungsbedingten biologischen Veränderungen und Änderungen des Sprachvermögens ergibt sich aus der Hypothese der Kritischen Periode (Critical Period Hypothesis), wie sie zuerst von Penfield / Roberts (1959) vorgeschlagen und von Lenneberg (1967) für den sprachlichen Bereich ausgearbeitet wurde. Ursprünglich für den Erstspracherwerb formuliert, hat sie schon Lenneberg auf den L2-Erwerb ausgedehnt, wobei er unterstrich, dass es um den „automatischen“ Erwerb im Kontakt mit der Zielsprache geht, nicht um die Frage, ob eine weitere Sprache durch Unterricht oder eigene Anstrengungen gelernt werden kann. Der kausale Zusammenhang, den Lenneberg zwischen Lateralisierung und Kritischer Periode vermutete, konnte allerdings nicht bestätigt werden. Damit entfällt auch die Begründung für die von ihm angesetzte kritische Altersgrenze im Zeitraum um den Beginn der Pubertät. Inzwischen liegt eine umfangreiche Literatur zum Thema der Kritischen Periode vor, die zeigt, dass weder der Zusammenhang mit der Lateralisierung, die tatsächlich schon pränatal einsetzt, noch die Altersangabe aufrechtzuerhalten sind. Das Konzept selbst hat sich jedoch bewährt, auch wenn es in der linguistischen Literatur zum Spracherwerb nicht ganz unumstritten ist (vgl. die kritische Übersichtsdarstellung von Hyltenstam / Abrahamsson 2003). Zum Teil beruht die Kritik, wie Eubank / Gregg (1999) zu Recht feststellen, darauf, dass das Konzept der Kritischen Periode nicht hinreichend präzise definiert wurde, was nicht zuletzt dazu führte, dass es, wie Birdsong (1999) richtig bemerkt, tatsächlich mehrere unterschiedliche Hypothesen abdeckte. Eine genauere Fassung des Begriffs muss zunächst in Erinnerung rufen, dass nicht „Sprache“, sondern Teilbereiche des Sprachvermögens, genauer der Grammatik, von Reifungsprozessen betroffen sind. Dieses selbstverständliche Faktum, das sich auch aus den Ausführungen des vorangehenden Abschnitts ergibt, wird in der Debatte um diese Thematik gelegentlich nicht beachtet. Von Bedeutung ist in diesem Kontext nicht nur, dass manche Aspekte sprachlichen Wissens gar nicht betroffen sind, wie etwa lexikalisches Lernen, sondern dass andere grammatische Bereiche - Syntax, Phonologie, Morphologie - nicht vollständig und auch nicht alle in der Mehrsprachigkeit in der frühen Kindheit: Zur Rolle des Alters bei Erwerbsbeginn 103 gleichen Entwicklungsphase davon berührt werden (vgl. Eubank / Gregg 1999). In der Tat ist selbst diese Unterteilung zu grob, denn eine Reihe von Arbeiten zeigen (vgl. Hyltenstam / Abrahamsson 2003), dass z.B. phonologische Parameter früher unzugänglich werden als syntaktische, manche phonologische wiederum früher als andere, und so fort. So wird verständlich, warum L2-Lerner, denen es gelingt, eine nahezu muttersprachliche Kompetenz zu erwerben, in der Regel nur in einem oder in einigen Bereichen so erfolgreich sind, nicht aber in allen. Aus solchen Beobachtungen kann man die Schlussfolgerung ziehen, dass die Kritische Periode besser als ein Bündel sensibler Phasen verstanden werden sollte, von denen jede eine für die Entwicklung eines spezifischen grammatischen Phänomens optimale Periode definiert. Ein weiterer Punkt, der zum Verständnis des Konzepts der sensiblen Phasen von Bedeutung ist, betrifft die Tatsache, dass eine optimale Periode nicht abrupt beginnt und endet, sondern dass man davon ausgehen sollte, dass sie zwar innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums einsetzt (onset) und rasch den Höhepunkt (peak) erreicht, dann aber über einen längeren Zeitraum ausklingt (offset), so wie das in der folgenden Graphik illustriert wird. onset peak offset Dieser Entwicklungsverlauf, verbunden mit der erwähnten Differenzierung einzelner grammatischer Phänomene und der Tatsache, dass zudem individuelle Unterschiede zu berücksichtigen sind - all dies macht es schwierig, Altersangaben für sensible Phasen zu machen. Ich will dennoch einen solchen Versuch unternehmen, nicht zuletzt weil in der Spracherwerbsliteratur noch immer das Alter von 10-12 Jahren genannt wird, eine Angabe, die auf die Studie von Lenneberg (1967) zurückgeht und, wie erwähnt, auf jeden Fall zu korrigieren ist. Schon Long (1990) zeigte in seinem Übersichtsartikel, dass wichtige Veränderungen in der Erwerbsfähigkeit erheblich früher stattfinden, wobei er das Alter um 6-7 Jahre besonders hervorhob, ein Ergebnis, das von Hyltenstam / Abrahamsson (2003) bestätigt wird. Sie erinnern außerdem daran, dass reifungsbedingte Veränderungen bereits viel früher und auch später noch in der Sprachentwicklung zu beobachten sind (2003, 570), sodass man diesen Aspekt eigentlich von der Geburt bis zum Alter von 15 Jahren berücksichtigen müsste. Nach meinem Verständnis kann man dennoch gewisse Altersphasen besonders hervorheben, wenn man das so versteht, dass sich in diesem Zeitraum mehrere sensible Phasen bündeln. Bei allen Altersangaben beziehe ich mich hier und im Folgenden auf den Zeitpunkt, zu dem die optimale Phase auszuklingen beginnt, auf den Punkt in der Graphik also, an dem die Linie abzufallen beginnt. Das Bild von der Rolle des Alters zu Erwerbsbeginn, das sich vor diesem Hintergrund abzeichnet, zeigt, dass beim sukzessiven Erwerb von Sprachen wahrscheinlich an jedem Punkt der Entwicklung altersbedingte Unterschiede im Vergleich zum Jürgen M. Meisel 104 monolingualen und zum simultan bilingualen Erwerb auftreten können. Während sie in den ersten Jahren jedoch subtiler Art sind, sind sie später gravierender und auffälliger. Nach heutigem Wissensstand sind bestimmte Altersphasen von besonderer Bedeutung, weil sich in diesem Zeitraum sensible Phasen bündeln. Für den Erwerb morphologischen und syntaktischen Wissens spricht vieles dafür, dass das erwähnte Alter um 7 Jahre von entscheidender Bedeutung ist, aber bereits auch der Altersbereich zwischen 3 und 4 Jahren, wie ich in den beiden folgenden Abschnitten noch zeigen möchte. Meine Schlussfolgerung aus diesen Überlegungen ist, dass die Unterscheidung zwischen monolingualem und bilingualem Erstspracherwerb einerseits und Zweitspracherwerb andererseits die unterschiedlichen Erwerbstypen nicht angemessen erfasst. Als weiterer Typus kommt der kindliche Zweitspracherwerb hinzu, wobei die terminologische Festlegung zum Ausdruck bringt, dass ich davon ausgehe, dass er eher dem erwachsenen L2als dem 2L1-Erwerb gleicht. Ob diese Annahme gerechtfertigt ist, müssen weitere Studien prüfen; bislang ist dieser Altersbereich in der Spracherwerbsforschung stark vernachlässigt worden. In den beiden folgenden Abschnitten werde ich einige Erkenntnisse der linguistischen (4.) und neuropsychologischen (5.) Forschung resümieren, die, wie ich meine, die hier vertretene These rechtfertigen. Für die vorläufige Altersbegrenzung gehe ich davon aus, dass es sich um kindlichen L2-Erwerb handelt, wenn der Erwerb ab dem Alterszeitraum von 3 bis 4 Jahren beginnt. Die empirische Prognose besagt, dass sich dann bereits Eigenschaften in der Lernersprache zeigen, die auch im L2aber nicht im (2)L1-Erwerb auftreten. Liegt der Erwerbsbeginn bei 7-8 Jahren oder später, dann sollte nach dieser These das erworbene Wissen zunehmend dem von erwachsenen L2-Lernern gleichen. 4. Kindlicher L2-Erwerb In den vorangehenden Abschnitten habe ich argumentiert, dass es fundamentale Unterschiede zwischen L1- und L2-Erwerb gibt, die damit erklärt werden können, dass sich die Spracherwerbsfähigkeit reifungsbedingt verändert. Diese Vorstellung steht im Einklang mit der Hypothese, dass Teilbereiche der Grammatik, die sich in der Interaktion von angeborenem und erlerntem Wissen entwickeln, in sensiblen Phasen optimal in das kindliche Sprachsystem integriert werden können. Die sensiblen Phasen liegen jedoch in einem früheren Altersbereich als man aufgrund der gängigen Unterscheidung zwischen L1- und L2-Erwerb (um 12 Jahre) angenommen hatte. Im Folgenden soll daher der Frage nachgegangen werden, ob der kindliche L2-Erwerb tatsächlich, wie hier postuliert, dem erwachsenen L2-Erwerb gleicht, wenn er um das Alter von 4 Jahren beginnt. Ausgehend von der im Abschnitt 3 skizzierten Vorstellung von sensiblen Phasen, steht nicht zu erwarten, dass dies in allen grammatischen Teilbereichen der Fall ist, denn natürlich gibt es auch, wie sogar im L2-Erwerb durch Erwachsene, Gemeinsamkeiten mit dem L1-Erwerb. Vielmehr besagt die Prognose, dass der kindliche L2-Erwerb in einigen zentralen Bereichen Merkmale aufweist, die aus dem erwachsenen L2-Erwerb bekannt sind, für die es aber keine Belege im Erwerb von (2)L1 gibt. Mehrsprachigkeit in der frühen Kindheit: Zur Rolle des Alters bei Erwerbsbeginn 105 4.1. Ein kurzer Literaturbericht Die Zweitspracherwerbsforschung hat sich, wie erwähnt, bisher nur wenig mit Kindern beschäftigt, die im Vorschulalter begannen, eine zweite Sprache zu erwerben. Ein Grund für diese unbefriedigende Forschungslage ist zweifellos der Einfluss der beeindruckenden Arbeit Lennebergs. Erst in den 1990er Jahren setzte sich langsam die Einsicht durch, dass der Alterszeitraum von 6-8 Jahren von Bedeutung sein könnte, und in neuester Zeit sind schließlich eine Reihe von Untersuchungen in Angriff genommen worden, die sich auch mit jüngeren Lernern beschäftigen. Aber selbst diese geringe Zahl von Veröffentlichungen kann hier nicht ausführlich behandelt werden. Stattdessen soll exemplarisch gezeigt werden, welche Erkenntnisse zur Verfügung stehen, die uns helfen können, die Altersfrage zu beantworten. Die Einsicht, dass sich die Erwerbsfähigkeit im Alter um 7 Jahre entscheidend verändert, wurde bereits in den Übersichtsdarstellungen von Long (1990) und Hyltenstam / Abrahamsson (2003) formuliert und muss daher jetzt nicht noch einmal ausführlich begründet werden (zum L2-Erwerb älterer Kinder s. auch Dimroth in diesem Band). Es mag genügen, auf eine frühe Untersuchung zu verweisen, die sich mit dem Deutschen als L2 beschäftigt. In seiner Analyse des Erwerbsverlaufs bei zwei italienischen Mädchen ab dem Alter von 8 Jahren zeigt Pienemann (1981), dass sich ihr morphosyntaktisches Wissen in allen untersuchten Aspekten qualitativ so entwickelt wie bei erwachsenen Italienern, die das Deutsche natürlich erwerben, also ohne Unterricht. Ein wichtiger Befund dieser Studie ist, dass die kindlichen Lerner beim Erwerb der deutschen Syntax exakt die gleiche Erwerbssequenz durchlaufen wie die erwachsenen L2-Lerner mit italienischer und spanischer Muttersprache, die von Meisel / Clahsen / Pienemann (1981) untersucht wurden. Dieser Erwerbsverlauf, der sich von dem im L1-Erwerb klar unterscheidet, ist eines der zentralen Argumente für die Annahme fundamentaler Unterschiede zwischen L1 und L2 (vgl. Abschnitt 2.3.). Er bestätigt, dass der kindliche L2-Erwerb in diesem Fall keine qualitativen Unterschiede zum erwachsenen aufweist. Als quantitative Differenz kann man werten, dass die Kinder die Erwerbssequenz schneller durchlaufen als die meisten Erwachsenen. Schwieriger ist die Frage nach der von mir postulierten Untergrenze des kindlichen L2-Erwerbs um 3-4 Jahre zu beantworten, da bislang nur wenige empirische Studien diese Altersspanne zum Gegenstand haben (in diesem Band dazu Tracy). In diesem Kontext möchte ich auf McLaughlin (1978) verweisen, der bereits das Alter von 3 Jahren als Grenze zwischen simultanem und sukzessivem Erwerb angegeben hat, obwohl er keine belastbaren Belege für diesen Vorschlag vorlegen konnte. Einen Hinweis darauf, dass das Alter von 6 bis 7 Jahren als Untergrenze zu spät angesetzt ist, liefert indirekt die Arbeit von Hyltenstam (1992), in der sehr fortgeschrittene Lerner des Schwedischen als L2 untersucht wurden, die Spanisch und Finnisch als L1 sprachen. Sie wurden in zwei Gruppen unterteilt, wobei das Alter zu Erwerbsbeginn als Kriterium diente: vor 6 Jahren oder nach 7 Jahren. Die Häufigkeit der Fehler (Verletzung der V2-Stellung des Verbs, vgl. Abschnitte 2.2 und 2.3; Genusfehler etc.) in der L2 unterschied beide Gruppen statistisch signifikant von einer schwedischen (L1) Vergleichsgruppe. Während aber die älteren Lerner ausnahmslos zu der Gruppe mit höherer Fehlerhäufigkeit gehörten, verhielten sich die jüngeren Lerner in dieser Hinsicht unterschiedlich, d.h. einige machten relativ viele Fehler, andere nur wenige. Hyltenstam zieht daraus den Schluss, dass das (junge) Alter zu Erwerbsbeginn eine notwendige, aber keine hinreichende Bedin- Jürgen M. Meisel 106 gung für den Erwerbserfolg ist. Man kann dieses Ergebnis aber auch anders interpretieren. Wenn nämlich die Altersgrenze für einen dem L1 vergleichbaren Erwerb tatsächlich zwischen 3 und 4 Jahren liegt, dann ist die Gruppe „jünger als 6“ eine gemischte, mit Lernern, die unter und über der Grenze liegen. Eine empirische Bestätigung für diese Interpretation liefert Möhring (2001), die den Erwerb des französischen Genussystems durch deutsche Kinder analysierte. Deren Alter zu Erwerbsbeginn lag zwischen 2; 10 und 3; 7. Die Analyse ergab für die untersuchte Gruppe von Kindern einen kritischen Punkt um das Alter von circa 3; 4. Die genaue Altersangabe spielt in diesem Fall allerdings eine untergeordnete Rolle; entscheidend ist, dass der Punkt im erwarteten Bereich zwischen 3 und 4 Jahren lag. Für die jüngeren Kinder wurde im Gebrauch der französischen Genusmarkierungen kein Unterschied im Vergleich zum (2)L1-Erwerb festgestellt, während der Sprachgebrauch der älteren Kinder dem von erwachsenen L2-Lernern glich. Einen interessanten Hinweis, der in die gleiche Richtung deutet, kann man der Arbeit von Belletti / Hamann (2004) entnehmen, die zwei Kinder untersuchten, die ebenfalls Französisch erwarben, einen Jungen mit Italienisch als L1 (Alter bei Erwerbsbeginn des Französischen 2; 4) und ein Mädchen mit Deutsch als L1 (Alter 2; 8). Die Autorinnen kommen zu dem Ergebnis, dass der Junge wie ein 2L1-Lerner einzuschätzen ist, das Mädchen dagegen als kindliche L2-Lernerin. Es muss vorläufig offen bleiben, welche Bedeutung in diesem Fall der jeweiligen L1 und den individuellen Lernerunterschieden zukommt. Es ist aber keineswegs auszuschließen, dass der Altersunterschied den entscheidenden Ausschlag gab. Auch Schwartz (2004) bezieht sich auf den Altersbereich von 4 bis 7 Jahren als die Zeit des kindlichen L2-Erwerbs, ohne allerdings eine Begründung für diese Festlegung zu liefern. Sie lässt die Frage offen, ob der Erwerbsbeginn in diesem Alter noch den Erwerb einer muttersprachlichen Kompetenz ermöglicht, legt sich aber darauf fest, dass sich der Erwerbsverlauf in Teilbereichen der Grammatik vom Verlauf der Entwicklung einer L1 unterscheidet und eher dem erwachsenen L2-Erwerb gleicht. Überraschend ist allerdings, dass sie die Differenzen zwischen kindlichem L2- und L1-Erwerb im Bereich der Syntax sieht, während sie für die Flexionsmorphologie Gemeinsamkeiten mit dem L1-Erwerb und Unterschiede zum L2-Erwerb der Erwachsenen erwartet. Letzteres widerspricht den Ergebnissen der hier erwähnten Studien, die gerade bei der Markierung von Genus, Kasus und Tempus Probleme der kindlichen L2-Lerner beobachteten. Auch Rothweiler (2006) fand bei drei türkischen Lernern des Deutschen (Alter 2; 10-4; 5) keine Schwierigkeiten beim Erwerb der Wortstellung, ebenso wenig wie Haznedar (2003), die den Erwerb des Englischen durch einen türkischen Jungen (ab 4; 3) analysierte. 4.2. Eine laufende Untersuchung Aus dem vorangehenden Abschnitt sollte deutlich geworden sein, dass es gute Gründe gibt für die Annahme, dass sich die Spracherwerbsfähigkeit bereits im Alter zwischen 3 und 4 Jahren verändert und sich daher die erworbene Kompetenz in Teilbereichen der Grammatik qualitativ von der muttersprachlicher Lerner unterscheidet, wenn der Erwerbsbeginn nach der optimalen Periode beginnt. Allerdings wissen wir noch zu wenig darüber, welche grammatischen Phänomene betroffen sind. Die Reifungshypothese lässt erwarten, dass primär die parametrisierten Prinzipien der UG anfällig sind (vgl. Abschnitt 2.3). Wenn sich aber L1-L2-Unterschiede nicht nur im sprachlichen Wissen, sondern auch in der Art der Sprachverarbeitung (in Echtzeit) Mehrsprachigkeit in der frühen Kindheit: Zur Rolle des Alters bei Erwerbsbeginn 107 ausdrücken, wie das für die Syntax von Clahsen / Felser (2006 a, b) zumindest für erwachsene L2-Lerner angenommen wird, dann ist auch in anderen Bereichen mit Problemen zu rechnen. Um unsere Diskussion auf eine etwas breitere empirische Basis zu stellen und um die widersprüchlichen Prognosen zum Erwerb der Morphologie zu überprüfen, sollen im Folgenden noch in der gebotenen Kürze die ersten Ergebnisse einer laufenden Untersuchung zusammengefasst werden. Es handelt sich um eine Studie, die den Erwerb des Französischen als Zweitsprache durch deutsche Kinder mit dem simultanen Erwerb des Deutschen und des Französischen vergleicht. 4 Über einen Zeitraum von zwei Jahren werden Kinder am Lycée français de Hambourg im Abstand von etwa fünf Monaten aufgenommen. Hier wird nur auf diejenigen Kinder Bezug genommen, deren Erwerb des Französischen mit dem Eintritt in die Vorschule im Alter von etwa 3 Jahren begann, die also nicht schon im Elternhaus mit dieser Sprache in Kontakt gekommen sind. Die Frage, die in erster Linie interessiert, ist, ob selbst bei diesem frühen Beginn in der grammatischen Entwicklung der Lerner Konstruktionen zu finden sind, die so nicht von L1- Kindern gebraucht werden, sehr wohl aber von Erwachsenen, die Französisch als L2 erwerben. Eine Auswertung der ersten Aufnahmen dieser Untersuchung belegt, dass dies in der Tat der Fall ist und zwar vor allem im Bereich der Flexionsmorphologie (vgl. Meisel eingereicht). Hier wird dies kurz am Beispiel finiter Verben illustriert, obwohl nicht unerwähnt bleiben soll, dass die bereits wiederholt aufgefallene Genusmarkierung ebenfalls betroffen ist. Die Entwicklung finiter Verbformen ist deshalb von Interesse, weil sie im monolingualen und im bilingualen Erstspracherwerb als eines der ersten grammatischen Phänomene produktiv verwendet werden - Subjekt-Verb-Kongruenz vor Tempus - und weil die Personenkongruenz quasi fehlerfrei erworben wird. Eine Besonderheit des gesprochenen Französischen ist, dass Kongruenz fast ausschließlich durch Subjektspronomina, sogenannte klitische Subjekte (SKL), ausgedrückt wird, nur in seltenen Fällen durch Verb-Endungen, vgl. die Beispiele in (16), in denen das Verb jeweils gleich ausgesprochen und die Kongruenz durch die fett gedruckten SKL markiert wird. In der Romanistik gibt es eine lange Kontroverse um die Frage, ob die SKL in der französischen Umgangssprache nicht sogar als Affixe, also als Teil des Verbs zu analysieren sind (vgl. Bonnesen / Meisel 2005). Für unsere Fragestellung ist dies nur von sekundärem Interesse. Entscheidend ist, dass ein SKL nie mit einer nicht-finiten Verbform verbunden werden kann, vgl. (17). Noch wichtiger: solche denkbaren Fehler kommen im Erstspracherwerb tatsächlich nicht vor. (16) je mange, tu manges, il mange ‚ich esse, du isst, er isst‘ (17) *je manger, * tu mangé ‚ich essen, du gegessen‘ (18) ils dormir, il tombé 5 (Ludwig, Alter bei Erwerbsbeginn 3; 6) Die untersuchten kindlichen L2-Lerner des Französischen wurden in drei Gruppen aufgeteilt, entsprechend der Erwerbsdauer, nämlich Gruppe A 5 Monate, Gruppe B 16 Monate und Gruppe C 28 Monate. Ihr Alter zu Erwerbsbeginn variierte von 2; 11 bis 3; 7. Gruppe A kann hier unberücksichtigt bleiben, weil diese Kinder noch keinen 4 Sie ist Teil des Forschungsprojekts ‚Simultaner und sukzessiver Erwerb von Mehrsprachigkeit‘ im SFB ‚Mehrsprachigkeit‘ an der Universität Hamburg; siehe Fußnote 1. 5 Die in der Aussprache auf / e/ endenden Verben werden je nach Kontext als Infinitive oder als Partizipien interpretiert; auf jeden Fall handelt es sich dabei um nicht-finite Formen. Jürgen M. Meisel 108 produktiven Gebrauch von finiten Formen machen. Entscheidend ist, dass von den 10 Kindern in den Gruppen B und C (je 5) jeweils 3 pro Gruppe, also insgesamt 6, gelegentlich SKL mit nicht-finiten Verbformen kombinierten, vgl. (18). Damit unterscheiden sie sich von L1-Lernern, gleichen aber erwachsenen L2-Lernern, bei denen solche Gebrauchsweisen dokumentiert sind (vgl. Granfeldt / Schlyter 2004). Auch wenn dies ein einzelnes Beispiel ist, so ist es doch ein weiterer Beleg dafür, dass im sukzessiven Spracherwerb, selbst wenn der Kontakt mit der zweiten Sprache bereits im Alter zwischen 3 und 4 Jahren erfolgt, zumindest Teilbereiche der Grammatik nicht mehr wie im (2)L1-Erwerb, sondern wie bei erwachsenen L2- Lernern erworben werden. Anders als von Schwartz (2004) vorhergesagt, ist davon gerade die Flexionsmorphologie betroffen. Interpretiert man diese Ergebnisse im Zusammenhang mit den verfügbaren Erkenntnissen der Forschung zum kindlichen L2-Erwerb, dann wird ein zunehmend deutlicheres Bild erkennbar, das zeigt, dass das Alter zum Zeitpunkt des Erwerbsbeginns von entscheidender Bedeutung dafür ist, wie der Erwerb verläuft und welche Art von grammatischem Wissen erreichbar ist. Da dieses Entwicklungsmuster nach der von mir vertretenen Hypothese auf neuronale Reifung zurückzuführen ist, soll nun noch ein kurzer Blick auf einige Ergebnisse der Hirnforschung geworfen werden, um zu sehen, inwieweit sie im Einklang mit den linguistischen Analysen des Spracherwerbs stehen. 5. Neuropsychologische Evidenz Bildgebende Verfahren ermöglichen es, die Areale im Gehirn zu identifizieren, in denen Sprache vorwiegend verarbeitet wird, und sie können auch unterschiedliche Arten der Verarbeitung erkennbar machen. Der Zusammenhang mit der in diesem Aufsatz diskutierten These einer reifungsbedingten Veränderung des Sprachvermögens besteht in der Annahme, dass diese Veränderung eine funktionale Reorganisation des Gehirns bewirken sollte, die als eine andere räumliche Organisation und in Form veränderter Aktivierungsmuster sichtbar gemacht werden kann, wenn der Erwerb nach der optimalen Phase einsetzt. Solche Resultate wurden in den letzten zehn Jahren tatsächlich erzielt, sowohl mittels elektrophysiologischer Methoden (Gehirnstrommessungen) als auch mit Hilfe verschiedener hämodynamischer Verfahren (funktionelle Magnetresonanztomographie - fMRT, Positronenemissionstomographie - PET), d.h. bildgebende Verfahren haben in diesen Fällen unterschiedliche Bilder ergeben, je nach dem Alter des Erwerbsbeginns. Die Areale, die hier von besonderer Bedeutung sind, sind das Broca-Areal (Brodmann-Areal 44 - 45) und das Wernicke-Areal (BA 22), beide in der linken Hemisphäre. Das Broca-Areal ist von speziellem Interesse, da es beim Satzverstehen eine entscheidende Rolle bei der syntaktischen Verarbeitung spielt (vgl. Friederici 2002). (Weitere Ausführungen zu neurowissenschaftlichen Aspekten des Spracherwerbs finden sich bei Nitsch in diesem Band). 5.1. Elektrophysiologische Verfahren Elektrophysiologische Untersuchungen verwenden die Elektroenzephalographie (EEG), ein Verfahren zur Gehirnstrommessung, bei dem Spannungsdifferenzen an der Kopfhaut abgegriffen und Signale herausgefiltert werden, die mit kognitiven Mehrsprachigkeit in der frühen Kindheit: Zur Rolle des Alters bei Erwerbsbeginn 109 Prozessen korrelieren, z.B. wenn Unerwartetes wahrgenommen wird. Aus den ermittelten Differenzen werden ereigniskorrelierte Hirnpotenziale (EKP) abgleitet. Die EEG erlaubt nicht nur, unterschiedliche Hirnaktivitäten zu ermitteln, sondern sie kann diese auch lokalisieren, selbst wenn die räumliche Auflösung weniger genau ist als etwa bei der fMRT. Eine Reihe von EKP-Studien konnte zeigen, dass die räumliche Verteilung der Aktivierungsmuster in der linken Hemisphäre sich mit zunehmendem Alter bei Erwerbsbeginn ändert (vgl. Weber-Fox / Neville 1996, 1999). Ab dem Alter von 4 Jahren nimmt die Spezialisierung der linken Hemisphäre ab und die rechte wird zunehmend an der Sprachverarbeitung beteiligt; um 7 Jahre nimmt dieser Effekt noch einmal zu. Besondere Beachtung verdient die Tatsache, dass sich nicht nur die räumliche Verteilung ändert, sondern dass es auch qualitative Auffälligkeiten gibt. Die Unterschiede zwischen L1 und L2 zeigen sich nämlich nur bei der Verarbeitung syntaktisch abweichender Informationen, d.h. wenn ein ungrammatischer Satz präsentiert wird, während bei semantischen Auffälligkeiten solche Effekte ausbleiben. Die Schlussfolgerung aus diesen Befunden ist, dass bei einem späteren Beginn des Erwerbs andere neuronale Systeme und Verarbeitungsmechanismen eingesetzt werden. Ähnliche Effekte wurden auch in anderen EPK-Studien nachgewiesen (vgl. die kritische Übersichtsdarstellung von Friederici 2002). Hahne / Friederici (2001) berichten zum Beispiel, dass L2-Lerner, die mit syntaktisch abweichenden Sätzen konfrontiert werden, im Gegensatz zu L1-Sprechern kaum Unterschiede zwischen grammatischen und ungrammatischen Stimuli in den Hirnstromreaktionen zeigen. Hingegen bewirkt die Präsentation semantisch inkorrekter Sätze die gleiche Reaktion wie bei L1-Lernern, einen zentral parietalen Effekt nach 300 bis 500 ms (N 400). Diese Beobachtungen dürfen so interpretiert werden, dass die Verarbeitung von Formaspekten der Sprache altersbedingten Veränderungen der Verarbeitungsmechanismen unterworfen ist. 5.2. Hämodynamische Verfahren Untersuchungen, die hämodynamische Verfahren einsetzen, bestätigen weitgehend diesen Befund. Sie messen mit Hilfe von Kernspintomographien hirnlokale Blutflussänderungen und stellen eine Beziehung zwischen kognitiven Prozessen und den zugrunde liegenden Hirnstrukturen her. In den uns interessierenden Studien gehen sie der Frage nach, ob dieselben Hirnareale und dasselbe kortikale Netzwerk für beide Sprachen benutzt werden oder ob es innerhalb der sprachrelevanten Hirnregionen unabhängige Netzwerke für jede Sprache gibt. Tatsächlich wurde sowohl eine solche räumliche Trennung als auch eine unterschiedliche Intensität bei der Sprachverarbeitung festgestellt. Auch diese Feststellung gilt nur für die Verarbeitung syntaktischer Informationen, während bei der Präsentation semantischer und pragmatischer Stimuli keine Unterschiede zwischen L1- und L2-Sprechern nachgewiesen werden konnten. Kim et al. (1997) waren die ersten, die in einer fMRT-Studie die räumliche Dissoziierung der beiden Sprachen bei L2-Lernern nachwiesen (Erwerbsbeginn durchschnittlich 11; 2 Jahre). Bei jüngeren Lernern wurden beide Sprachen in überlappenden Bereichen des Broca-Areals verarbeitet, während bei den älteren die Bereiche nur minimal überlappten. Auch wenn diese Arbeit wegen ihrer Methodik kritisiert worden ist, konnten andere Untersuchungen doch ähnliche Ergebnisse vor- Jürgen M. Meisel 110 legen. So zeigen Dehaene et al. (1997) in ihrer fMRT-Studie, dass die L1 bei allen Probanden weitgehend die gleichen Areale aktiviert. Die beim L2-Gebrauch aktivierten neuronalen Netze sind hingegen größer und diffuser (rechts und links), sowohl im Vergleich zur L1 als auch beim Vergleich zwischen Individuen. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass „first language acquisition relies on a dedicated left-hemispheric cerebral network, while late second language acquisition is not necessarily associated with a reproducible biological substrate.“ (Dehaene et al. 1997, 3815). Wartenburger et al. (2003) präsentierten in ihrer fMRT-Untersuchung ebenfalls syntaktisch und semantisch korrekte und abweichende Sätze und kontrollierten zudem, wie fortgeschritten die verschiedenen L2-Lerner waren. Sie bestätigen nicht nur, dass sich die zerebrale Verarbeitung bei späterem Erwerbsbeginn (sie gehen von 6 Jahren als kritischem Alter aus) verändert, sondern auch, dass dies nur die Verarbeitung von grammatischer Information betrifft. Vor allem aber belegen sie, dass der beobachtete Effekt bei syntaktischer Verarbeitung nicht davon abhängt, ob die Lerner sehr fortgeschritten sind, sehr wohl aber bei semantischer Verarbeitung. Schließlich soll noch die fMRT-Studie von Saur et al. (eingereicht) erwähnt werden, in der sehr fortgeschrittene (erwachsene) L2-Lerner des Deutschen und des Französischen mit bilingualen Personen verglichen wurden, die mit den beiden Sprachen von Geburt an aufwuchsen. Während die 2L1-Probanden keine Unterschiede bei der Verarbeitung der beiden Sprachen zeigten, konnte bei der Verarbeitung der Zweitsprache der L2-Lerner eine verstärkte Aktivierung in den sprachrelevanten und in benachbarten Arealen beobachtet werden. Zusammenfassend kann man somit feststellen, dass mit Hilfe bildgebender Verfahren die These bestätigt werden kann, dass beim sukzessiven Spracherwerb das Alter zu Erwerbsbeginn eine bedeutende Rolle spielt. Es zeigt sich eine funktionale Differenzierung der Art, dass syntaktische Informationen anders verarbeitet werden als semantische und pragmatische und dass nur die Verarbeitung der ersteren von den altersbedingten Veränderungen betroffen ist. Als kritischer Altersbereich wird das Alter um 6-7 Jahre bestätigt, und EKP-Studien unterstützen die These, dass im Alter um 4 Jahre für die Syntax relevante sensible Phasen auszuklingen beginnen. 6. Schlussbemerkung In diesem Beitrag habe ich versucht zu zeigen, dass das Alter zu Erwerbsbeginn für den Erwerb der grammatischen Kompetenz eine bedeutende Rolle spielt. Außerdem sollte deutlich geworden sein, dass nicht erst das Alter um 10-12 Jahre hierfür relevant ist, sondern schon die Alterszeiträume um 4 und um 6-7 Jahre. Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass für bestimmte Aspekte der Morphosyntax schon dann die optimalen Entwicklungsphasen zu Ende gehen. Wenn diese Thesen einer weiteren Überprüfung standhalten, dann sind die referierten Ergebnisse nicht nur für die Spracherwerbstheorie von Relevanz. Zwar kann der Erwerb einer zweiten Sprache auch nach den genannten Alterszeiträumen noch sehr erfolgreich sein, in der Regel ist dafür jedoch ein größerer Aufwand nötig - vor allem aber spielen individuelle Fähigkeiten mit zunehmendem Alter eine immer gewichtigere Rolle. Das spricht nicht nur für eine Vorverlegung des Beginns des schulischen Fremdsprachenunterrichts, wofür es bereits in einigen Bundesländern An- Mehrsprachigkeit in der frühen Kindheit: Zur Rolle des Alters bei Erwerbsbeginn 111 strengungen gibt. Vor allem unterstreicht es die besondere Dringlichkeit dieses Themas für die große Zahl von Kindern, die in Europa in ihren Familien monolingual aufwachsen und mit der Mehrheitssprache des Landes erst nach der Einschulung in engeren Kontakt kommen. Alles spricht dafür, dass durch einen früheren Erwerbsbeginn, etwa im frühen Kindergartenalter, der Erwerb der Mehrsprachigkeit bedeutend erleichtert werden könnte. 7. Literaturverzeichnis Belletti, A. / Hamann, C. (2004): On the L2 / Bilingual Acquisition of French by Two Young Children with Different Source Languages. In: Prévost, P. / Paradis, J. (eds.): The Acquisition of French in Different Contexts, Amsterdam, 147-174. Birdsong, D. (1999): Introduction: Whys and why nots of the Critical Period Hypothesis for Second Language Acquisition. In: Birdsong, D. (ed.): Second Language Acquisition and the Critical Period Hypothesis, Mahwah (NJ), 1-22. Bley-Vroman, R. (1989): What is the Logical Problem of Foreign Language Learning? 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Die Regel „The younger the better in the long run“ (Singleton / Ryan 2004) kann auch als Verallgemeinerung aus einer großen Menge wissenschaftlicher Untersuchungen zum Zweitspracherwerb Gültigkeit beanspruchen - allerdings nur unter bestimmten Bedingungen. So weisen Singleton / Ryan (2004) in ihrem umfassenden Überblick zur Rolle des Alters im Spracherwerb darauf hin, dass „je jünger desto besser“ eben gerade nicht für den gesteuerten Zweitspracherwerb in der Schule, sondern für den ungesteuerten Zweitspracherwerb in Immersionssituationen gilt, in denen die Lerner Zugang zu großen Mengen an natürlichem Input haben. Das würde bedeuten, dass die Verallgemeinerung für die Lernsituation der Migrantenkinder in Deutschland sehr wohl Sinn hat, während sie auf den Englischunterricht im Kindergarten nicht zutrifft. Institutionell geförderter früher Kontakt mit einer neuen Sprache schadet sicher nicht, verschafft den jungen Lernern aller Voraussicht nach aber auch keinen nennenswerten Vorteil vor älteren Einsteigern (Munoz 1999). 1 Der vorliegende Beitrag befasst sich deshalb ausschließlich mit der Rolle des Alters im Zweitspracherwerb außerhalb des Klassenzimmers. Selbst mit dieser Einschränkung ist es aber nicht immer einfach, sich einen Überblick über den Forschungsstand zu verschaffen. Das hat unter anderem mit der Tatsache zu tun, dass zur Bewertung von Vor- oder Nachteilen bei Lernern bestimmter Altersgruppen zum Teil verschiedene beobachtbare Eigenschaften des Spracherwerbs herangezogen werden, nämlich dessen Verlauf, Geschwindigkeit oder Endstand, ohne dass dies immer explizit gemacht würde. So ist mit der oben zitierten Verallgemeinerung „The younger the better in the long run“ (Singleton / Ryan 2004) mit „better“ mindestens zweierlei gemeint: (a) die größere Geschwindigkeit, mit der der Spracherwerb vonstatten geht (wobei hier ein 1 Aus dieser Einschränkung folgt auch nicht, dass zusätzliche gezielte Förderung in Immersionssituationen überflüssig ist. Gerade weil hier die Zweitsprache ja auch Unterrichtssprache ist, wodurch aus Rückständen im Spracherwerb leicht Schulprobleme allgemeiner Art werden können, ist natürlich eine möglichst frühe Förderung wünschenswert (Kaltenbacher / Klages 2006). Christine Dimroth 116 früher Vorsprung älterer Lerner zumindest nicht ausgeschlossen wird), und (b) das Erreichen einer Varietät, die sich weniger stark (oder gar nicht) von der Zielsprache unterscheidet - dieses „better“ gilt eher für die jüngeren Lerner. Dabei liegen solchen Vergleichen oft auch verschiedene Lernergruppen zugrunde. Bei Untersuchungen zur Geschwindigkeit des Spracherwerbsprozesses werden üblicherweise junge und ältere L2-Lerner miteinander verglichen. 2 Bezieht sich „better“ hingegen auf den erreichten Sprachstand am Ende des Prozesses, werden L2-Lerner typischerweise an der muttersprachlichen Norm gemessen. In den folgenden Abschnitten dieses Beitrags soll deshalb versucht werden, altersabhängige Einflussfaktoren und die zur Beurteilung herangezogenen Vergleiche und Messgrößen möglichst explizit zu unterscheiden. Dabei befasst sich Abschnitt 2 mit der Diskussion verschiedener Eigenschaften von Lernern und von Sprache als Lerngegenstand, die für den Zusammenhang von Alter und Spracherwerb eine Rolle spielen. In Abschnitt 3 werden Ergebnisse aus einer longitudinalen Fallstudie zum Erwerb von Wortstellung und Flexionsmorphologie zusammengefasst und in Abschnitt 4 im Hinblick auf die verschiedenen „Altersfaktoren“ diskutiert. 2. Alter und Spracherwerb Die Frage nach dem Einfluss des Lebensalters auf den Spracherwerb ist lange von der Hypothese der Kritischen Periode (Lenneberg 1967) dominiert worden. Demnach gehen die beobachteten Unterschiede im typischerweise erreichten Endstand bei kindlichen und erwachsenen L2-Lernern auf Prozesse der biologischen Reifung (etwa den Verlust neuronaler Plastizität im Gehirn) zurück, die die Spracherwerbsfähigkeit ab einem bestimmten Anfangsalter beeinträchtigen. Befürworter dieser Hypothese gehen davon aus, dass es ein biologisch festgelegtes Zeitfenster gibt, in dem muttersprachliche Kompetenz in einer oder mehreren Sprachen erworben werden kann. Dieses Zeitfenster schließt sich spätestens mit der Pubertät (vgl. Meisel in diesem Band für eine Diskussion früherer Obergrenzen), und in Folge dessen geht die Spracherwerbsfähigkeit um diese Zeit stark zurück. Nach der Pubertät besteht keine Korrelation mehr zwischen Alter und typischem Endstand („ultimate attainment“) - ein Erreichen der muttersprachlichen Norm ist dann allerdings ausgeschlossen. Die Hypothese von der Kritischen Periode wird oft mit der Idee verbunden, dass der Zweitspracherwerb vor der Pubertät - genau wie der kindliche Erstspracherwerb - deshalb generell so erfolgreich ist, weil Lerner in diesem Alter noch Zugang zu dem ihnen angeborenen sprachspezifischen Wissen (Universale Grammatik, UG) haben, und dass dieser Zugang mit der biologischen Reifung verloren geht (vgl. Birdsong 2005a für verschiedene Varianten der Hypothese von der Kritischen Periode). Erwachsene L2-Lerner müssten dementsprechend auf allgemeine Problemlösungsstrategien zurückgreifen, die sich von den im Kindesalter verfügbaren fundamental unterscheiden („fundamental difference hypothesis“, Bley-Vroman 1989) und für den Spracherwerb weniger geeignet und erfolgversprechend sind als die 2 Vgl. aber Dimroth / Haberzettl (eingereicht), die den Zweitspracherwerb bei Kindern hinsichtlich der Geschwindigkeit beim Erwerb der Kongruenzmarkierung am Verb mit dem monolingualen Erstspracherwerb vergleichen. Zweitspracherwerb bei Kindern und Jugendlichen: Gemeinsamkeiten und Unterschiede 117 UG-Prinzipien. Hier werden demnach nicht nur Voraussagen über den Endstand des Spracherwerbs gemacht, sondern auch über Unterschiede in der Struktur der verschiedenen Lernergrammatiken, die Lerner auf ihrem Weg dorthin durchlaufen. Eine Reihe empirischer Befunde lassen Zweifel an der Rolle der biologischen Reifung und der damit verbundenen Annahme fundamental unterschiedlichen Sprachlernens aufkommen. So zeigt Birdsong (2005a), dass die Abnahme des typischerweise erreichten Erwerbserfolgs kontinuierlicher verläuft als bisher angenommen, und auch nach der Pubertät mit zunehmendem Alter anhält - was von der auf biologische Reifung abgestellten Hypothese nicht vorausgesagt wird. Außerdem deuten neuere Untersuchungsergebnisse darauf hin, dass es immer wieder erwachsene Lerner gibt, deren Endstand in den Bereich der muttersprachlichen Norm fällt (Bongaerts 1999, VanBoxtel 2005). Zumindest ist es noch nicht gelungen, eine sprachliche Eigenschaft zu benennen, die von Lernern im Erwachsenenalter nicht mehr erworben werden könnte (Birdsong 2005b). Außerdem wurden bei Lernern verschiedenen Alters interessante Übereinstimmungen im Verlauf des Spracherwerbs gefunden. Solche Übereinstimmungen können entweder bedeuten, dass auch Erwachsene noch Zugang zu angeborenem sprachspezifischem Strukturwissen haben (Schwartz / Sprouse 1996), oder dass Erst- und Zweitspracherwerb im Prinzip dieselben nicht bereichsspezifischen Lernprinzipien zugrunde liegen (Ellis im Druck) und / oder dass Erst- und Zweitspracherwerb zumindest in Teilbereichen einer internen Entwicklungslogik folgen, die durch die Struktur des Erwerbsgegenstands determiniert ist (Watorek 2004, Jordens / Dimroth 2006). Nun kann aber nicht in Abrede gestellt werden, dass sich der Spracherwerb in verschiedenen Lebensaltern in charakteristischer Weise unterscheidet. Die folgenden vier Punkte sollen helfen, Einflussgrößen und ihre Auswirkungen besser zu verstehen. (1) Es muss klar unterschieden werden, ob es um Zweitspracherwerb in unterschiedlichen Lebensaltern oder um den Vergleich von Erst- und Zweitspracherwerb geht. Wenn man dies nicht auseinanderhält, vermischt man die Frage nach dem Einfluss des Alters mit einer Reihe weiterer Unterschiede, die hauptsächlich mit der Rolle des sprachlichen Vorwissens zu tun haben. (2) Die Suche nach den Ursachen für den Altersfaktor im Zweitspracherwerb sollte ihren Ausgang bei Unterschieden zwischen Kindern und Jugendlichen / Erwachsenen nehmen, für die - anders als bei der Annahme einer Kritischen Periode und der Frage nach dem UG-Zugang - Evidenz vorliegt, die vom Ergebnis des Zweitspracherwerbs unabhängig ist. Dazu werden beispielsweise entwicklungspsychologische Einsichten in den Lernantrieb und den Stand der kognitiven Entwicklung herangezogen. (3) Solche Unterschiede sind nicht bereichsspezifisch, sie beeinflussen das Lernen in allen möglichen Bereichen. Allerdings haben sie aufgrund der Struktur des Lerngegenstandes beim ungesteuerten Zweitspracherwerb ganz spezifische Auswirkungen. Es ist Aufgabe von Sprachwissenschaftlern, die Eigenschaften dieses besonderen Lerngegenstandes so zu beschreiben, dass Voraussagen über das Wirken alterstypischer Unterschiede auf bestimmte Teilbereiche gemacht und überprüft werden können. Christine Dimroth 118 (4) Es ist ein Charakteristikum des ungesteuerten Zweitspracherwerbs, dass das Lernen nicht rein additiv vor sich geht, sondern dass neu Erworbenes in ein bestehendes Form-Funktions-Gefüge integriert wird, wodurch sich das Zusammenspiel bestehender Regularitäten fortlaufend verschiebt. Form und Funktion einer solchen Lernersprache bestimmen bis zu einem gewissen Grad, was zu einem gegebenen Zeitpunkt im Input entdeckt und integriert werden kann. Die Funktionstüchtigkeit bestehender Ausdrucksmittel beeinflusst auch den Druck zur Weiterentwicklung von Teilbereichen. Herauszufinden, ob und gegebenenfalls wo sich der Aufbau solcher Lernersprachen bei Kindern und Erwachsenen unterscheidet, ist ebenfalls Aufgabe von Sprachwissenschaftlern. Auf diese vier Punkte werde ich im Folgenden kurz eingehen. 2.1. Erstspracherwerb vs. Zweitspracherwerb In der Tradition der Kritischen Periode wurde der Zweitspracherwerb im Kindesalter oft ohne viel Federlesen mit dem Erstspracherwerb gleichgesetzt, 3 mit der Konsequenz, dass ein muttersprachlicher Endstand praktisch als garantiert galt, und relevante Fragen, wie beispielsweise die nach der minimalen Inputmenge, ohne die ein Erreichen des muttersprachlichen Niveaus nicht gelingen kann, vernachlässigt wurden. Es wird uns nur langsam bewusst, dass der Zweitspracherwerb bei Kindern nicht immer problemlos, schnell und erfolgreich ist (Kaltenbacher / Klages 2006). Die Gleichsetzung ist außerdem problematisch, weil es auch im Kindesalter zwischen Erst- und Zweitspracherwerb gravierende Unterschiede gibt. Neben generellen Zweifeln an der Vergleichbarkeit monolingualer und bilingualer Sprecher (Cook 2002) spielt hier vor allem das sprachliche Vorwissen aus der Erstsprache eine Rolle. Dieses Vorwissen kann im Prinzip sowohl Vorals auch Nachteile haben, zumeist wird aber davon ausgegangen, dass die Erstsprache den Erwerb einer Zweitsprache negativ beeinflusst (Interferenz). Wenn man über die Vorteile nachdenkt, dann oft in Hinsicht auf Bereiche, in denen die Ähnlichkeiten zwischen zwei sprachlichen Teilsystemen den Erwerb erleichtern (positiver Transfer). Neben diesen möglichen Vorteilen im Detail kann das Vorhandensein einer Erstsprache aber auch auf einem allgemeineren Niveau hilfreich sein. Zweitsprachlerner verfügen über Erfahrung mit der Aufgabe des Spracherwerbs, sie haben diese Aufgabe in der Vergangenheit bereits bewältigt. So „wissen“ sie beispielsweise, wie man eine Distributionsanalyse durchführt und haben Erfahrung mit erwartbaren sprachlichen Kategorien, die Kleinkinder beim Erstspracherwerb erst einmal entdecken müssen. Es ist deshalb wahrscheinlich, dass es ihnen gelingt, die Zielkategorien ohne einen Umweg 3 Wenn zwei Sprachen in dichter zeitlicher Abfolge erworben werden, ist die Grenzziehung zwischen bilingualem oder simultanem Erstspracherwerb und frühem Zweitspracherwerb tatsächlich schwierig. Wann der Erstspracherwerb als abgeschlossen gelten kann, kommt darauf an, welche Teilbereiche man untersucht. Bestimmte Teile der Grammatik werden relativ früh beherrscht, andere später, in Bereichen wie Informationsstruktur und Diskursaufbau ist der erwachsensprachliche Stand erst im späten Jugendalter erreicht (Carroll 2002, Hendriks 2000), und das Lexikon entwickelt sich über die gesamte Lebensspanne weiter. Zweitspracherwerb bei Kindern und Jugendlichen: Gemeinsamkeiten und Unterschiede 119 über idiosynkratische Konzepte oder protogrammatische Kategorien (wie etwa die von Bittner 2003 für den Erstspracherwerb vorgeschlagenen) 4 zu meistern. Natürlich hat das Vorhandensein einer Erstsprache zum Teil auch hinderliche Auswirkungen, die beim Vergleich des Zweitspracherwerbs mit dem Erstspracherwerb zutage treten. Welcher Art dieses hinderliche Wissen aus der Erstsprache wirklich ist und in welcher Phase des Zweitspracherwerbs es eine Rolle spielt, ist stark umstritten. Hier nur ein paar Beispiele: Einige Wissenschaftler gehen davon aus, dass bestimmte einzelsprachliche Festlegungen über Prinzipien des Äußerungsaufbaus aus der Erstsprache den Erwerb neuer sprachlicher Bauprinzipien in der Zweitsprache praktisch ausschließen (z.B. Hawkins / Chan 1997). Andere machen bereichsunspezifische Lernmechanismen für Unterschiede zwischen Erst- und Zweitspracherwerb verantwortlich und weisen darauf hin, dass einmal eingegangene Verbindungen zwischen Form und Funktion die Neukodierung und manchmal auch die Wahrnehmung unbekannter Kategorien im Input behindern („proactive inhibition“; Ellis im Druck). Weil die frühen Lernervarietäten bei erwachsenen Lernern mit unterschiedlichen Ausgangssprachen mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede aufweisen („Basic Variety“; Klein / Perdue 1997), nehmen wieder andere an, dass nicht Erstsprachenwissen, sondern eher sprachneutrales Wissen den Ausgangspunkt des neuen Spracherwerbs bildet. „Transfer starts from what the learner finds to be most language-neutral […], and the specifics are acquired much later on. The specifics are absent from the Basic Variety. Now language neutral then represents what is shared by the most languages, and our learners showed a remarkable degree of agreement in this respect.“ (Perdue 2006). Dabei geht es um möglichst allgemeine Prinzipien, die zum Beispiel die Anordnung von Information in Äußerungen im Kontext betreffen (Levelt 1981). Weiteres Lernen wird durch die Anwendung solcher Prinzipien nicht direkt behindert, allerdings vielleicht weniger vorangetrieben, solange der Lerner im Input Bestätigung für ihr Wirken findet und mit dieser Strategie - wenn auch in Grenzen - kommunikativ erfolgreich ist. Aufgrund der Unterschiede zwischen Erst- und Zweitspracherwerb werde ich mich im Folgenden auf die Frage nach dem Einfluss des Alters auf den Zweitspracherwerb beschränken. Eigenständige Untersuchungen zum Zweitspracherwerb im Kindesalter sowie ein Vergleich mit erwachsenen Lernern haben sowohl praktische als auch theoretische Relevanz (Schwartz 1992). Zum Erwerb des Deutschen als Zweitsprache durch Kinder liegen inzwischen eine ganze Reihe von Forschungsarbeiten vor (vgl. u.a. Bast 2003, Dimroth im Druck, Dimroth / Haberzettl eingereicht, Haberzettl 2005, Kaltenbacher / Klages 2006, Kostyuk 2004, Kroffke / Rothweiler 2006, Kuhberg 1987, Pagonis 2007, Pfaff 1992, Wegener 1994, 1995a). 2.2. Entwicklungspsychologische Faktoren: Antrieb und kognitive Voraussetzungen für die Sprachverarbeitung In der Forschung zum Einfluss von Antrieb oder Motivation auf den Zweitspracherwerb wird häufig zwischen instrumentellem und integrativem Lernantrieb unterschieden (z.B. Gardner 1985). Lerner mit instrumentellem Antrieb verstehen die 4 Bittner (2003) zeigt, dass Kleinkinder beim Erwerb der Verbflexion im Deutschen eine Phase idiosynkratischer Form-Funktions-Zuordnung durchlaufen, bevor sie die erwachsenensprachlichen Korrelationen erwerben. S. auch Dimroth / Haberzettl (eingereicht). Christine Dimroth 120 Zweitsprache in erster Linie als Mittel zur Befriedigung kommunikativer Bedürfnisse. Diese müssen nicht unbedingt klein sein, aber es handelt sich schließlich um den Erwerb eines zusätzlichen Kommunikationssystems, das neben einer Erstsprache besteht, die meist weiterhin einen Teil des sprachlichen Austauschs abdeckt. Lerner mit integrativer Motivation verfolgen daneben auch das Ziel der sozialen Integration, d.h. sie streben danach, sich durch ihre Sprache nicht von anderen Mitgliedern einer sozialen Gruppe zu unterscheiden (Guiora et al. 1972, Klein 1996, Schumann 1975). Wie Pagonis (2007) ausführlich diskutiert, hängt dieses sprachliche Integrationsbedürfnis mit dem Prozess der Identitätsbildung zusammen und ist somit praktisch unausweichlich mit dem Lebensalter verbunden. Ist die Ausbildung einer stabilen Identität gegen Ende der Pubertät abgeschlossen, so sinkt die Notwendigkeit und die Bereitschaft zur sozialen Assimilation und Identifikation mit einer neuen Gruppe. Während Kinder mit der sozialen auch die sprachliche Identifikation suchen, ist dies bei erwachsenen Lernern mit abgeschlossener Identitätsbildung nicht mehr der Fall. Es kann sogar sein, dass ältere Lerner gewisse sprachliche Abweichungen zum Schutz ihrer in einer anderen sprachlichen Umgebung gewachsenen Identität aufrechterhalten (Schumann 1975). Wieviel Druck hin zu Weiterentwicklung und Anpassung an die Zielsprache auf einer Lernervarietät lastet, hängt also stark von dem alterstypischen Antrieb ab, und dies beeinflusst besonders den Abstand des erreichbaren Endstandes zur Zielsprache. Nun sind aber nicht nur Kinder einem stärkeren Druck zur sprachlichen Assimilation ausgesetzt als Erwachsene, umgekehrt gilt auch, dass Erwachsene oft einem stärkeren Druck zur Kommunikation ausgesetzt sind, und das zeigt sich besonders in der Anfangsphase des Zweitspracherwerbs. Im frühen Kindesalter entwickeln sich Ausdrucksbedürfnisse und -möglichkeiten weitestgehend parallel, während die Wahrscheinlichkeit, dass sich zumindest zu Beginn des Erwerbsprozesses eine Lücke zwischen beiden auftut, mit zunehmendem Alter größer wird (s. auch Slobin 1993). Ältere Lerner finden sich häufig in Situationen, in denen sie die Ausdrucksmöglichkeiten ihres beschränkten Repertoires so weit wie möglich ausdehnen müssen, um ihre kommunikativen Bedürfnisse zu erfüllen. Diese Notwendigkeit zum übereilten Einsatz aller verfügbaren Mittel im Dienste der Informationsvermittlung wird im Gegensatz zum sozialen Assimilationsdruck nicht als hilfreich für den Zweitspracherwerb angesehen. „Children are usually allowed to go through a ‚silent period‘, during which they build up acquired competence through active listening. Several scholars have suggested that providing such a silent period for all performers in second language acquisition would be beneficial.“ (Krashen 1981, 8). Neben Integrations- und Kommunikationsbedürfnis verändert sich in der Entwicklung vom Kleinkind zum jungen Erwachsenen eine zweite Grundgröße, die Auswirkungen auf den Zweitspracherwerb hat: der Stand der kognitiven Entwicklung. Bei dem Versuch, den Anteil einzuschätzen, den die fortgeschrittene kognitive Entwicklung älterer Lerner an beobachteten Unterschieden beim Zweitspracherwerb haben könnte, begegnet man unweigerlich dem Problem, dass diese nur schwierig von Erfahrung und Vorwissen zu trennen ist. Das gilt selbst dann, wenn man sich auf das Gedächtnis als eine wichtige kognitive Voraussetzung für den Spracherwerb beschränkt: „[…] development of basic memory abilities is a result of the dynamic Zweitspracherwerb bei Kindern und Jugendlichen: Gemeinsamkeiten und Unterschiede 121 interaction between biological and experiential factors that vary over time“ (Schneider 2002, 242). Erfahrung oder biologische Entwicklung - unsere Gedächtnisspanne nimmt jedenfalls während der Kindheit ständig zu und infolgedessen verändert sich auch unsere Aufnahmekapazität für sprachliche Stimuli: „[…] because of age differences in perceptual and memorial abilities, young children and adults exposed to similar linguistic environments may nevertheless have very different internal data bases on which to perform a linguistic analysis. The young child’s representation of the linguistic input will include many pieces of the complex forms to which she has been exposed.“ (Newport 1990, 26). Interessanterweise wird hier eine kürzere Gedächtnisspanne und damit eine aus solchen Stücken bestehende Datenbasis nicht unbedingt als Nachteil für den Spracherwerb gewertet - schließlich könnte man ja davon ausgehen, dass ein weiterentwickeltes Gedächtnis die Aufnahme von mehr Details aus dem Input und somit auch ein schnelleres Generalisieren erlaubt. In ihrer Lessis-More-Hypothese nimmt Newport (1990, 1991) jedoch an, dass genau das Gegenteil der Fall ist: „the cognitive limitations of the young child during the time of language learning may […] provide a computational advantage for the acquisition of language, and […] the less limited cognitive abilities of the older child and the adult may provide a computational disadvantage for the acquisition of language“ (Newport 1991, 125). Wir werden im empirischen Teil dieses Beitrags auf die Less-is- More-Hypothese zurückkommen. Die Funktionsweise des Sprachverarbeiters ist nun allerdings nicht nur vom Entwicklungsstand kognitiver Voraussetzungen (wie etwa der Gedächtnisspanne) abhängig, sondern auch von den Erfahrungen mit der Erstsprache. Wie tief eingegraben oder wie eingeschliffen solche Routinen sind (Stichwort „L1 entrenchment“, s. beispielsweise Ellis 2006), hängt eben davon ab, wie lange sie schon in täglicher Benutzung sind - d.h. letztendlich wieder vom Alter des Lerners. Die Frage, ab wann die auf die Erstsprache zugeschnittenen Verarbeitungsmechanismen ein schwer zu überwindendes Hindernis für den Zweitspracherwerb werden, ist aber ungeklärt. 2.3. Besonderheiten des Lerngegenstandes In der generativen Vorstellung ist unser sprachliches Wissen mit keiner anderen kognitiven Errungenschaft vergleichbar. Grammatik ist ein System bedeutungsloser abstrakter Regeln, die im Input unterdeterminiert und somit aus ihm nicht lernbar sind, woraus folgt, dass erfolgreicher Spracherwerb ohne angeborenes sprachspezifisches Wissen nicht möglich ist. Im Gegensatz dazu legt die gebrauchsorientierte („usage-based“) Theorie des Spracherwerbs (Tomasello 2003) eine Vorstellung von Sprache als Lerngegenstand zugrunde, in der sprachliche Regeln als bedeutungsvolle Konstruktionen aufgefasst werden, die durch Sprachgebrauch entstanden und unterschiedlich stark grammatikalisiert sind. Wird die Struktur des Lerngegenstands so aufgefasst, dann kann muttersprachliche Kompetenz auch mit Hilfe nicht-bereichsspezifischer Lernmechanismen erworben werden: „There is no poverty of the stimulus when a structured inventory of constructions is the adult endpoint.“ (Tomasello 2003, 7). Ellis (im Druck) geht davon aus, dass dieselben assoziativen Lernmechanismen sowohl dem Erstspracherwerb als auch dem Zweitspracherwerb zugrunde liegen; ob und wann etwas gelernt wird, hängt hauptsächlich von einzelsprachspezifischen Verteilungsmustern im Input ab. Dabei spielen sowohl absolute Eigenschaften be- Christine Dimroth 122 stimmter Merkmale eine Rolle (Frequenz, Salienz) als auch relative, die mit der Beziehung von Merkmalen untereinander zu tun haben (vgl. etwa den Begriff „cue validity“ im Competition Model, Bates / MacWhinney 1989). Der Altersfaktor kann dann nur dadurch erklärt werden, dass Lerner mit zunehmendem Alter stärker in Verarbeitungsroutinen verhaftet sind, die auf optimalen Umgang mit den Merkmalsausprägungen der Erstsprache eingestellt sind, oder einfach mit einem Verweis auf die Tatsache, dass Kinder auch in anderen Bereichen die besseren Lerner sind: „[…] children are more flexible learners than adults in many skilled activities. It is usually very easy to identify in a group of skiers or tennis players or piano players those who began learning their skill in early childhood and those who are adult learners - and language is no exception.“ (Tomasello 2003, 287). Ich bin der Ansicht, dass auf diese Art leicht Eigenschaften des Lerngegenstandes übersehen werden können, die für den Zweitspracherwerb eine wichtige Rolle spielen - Sprache ist keine Ausnahme, aber doch ein Lerngegenstand mit einigen Besonderheiten. Die diversen Zielsprachen vom Mythos der Unlernbarkeit zu befreien und für Prinzipien des nicht bereichspezifischen Lernens zugänglich zu machen, ist nicht mit der Annahme gleichzusetzen, dass dieses Lernen ausschließlich von Mustern der statistischen Merkmalsverteilung im Input geleitet wird. Diese Dinge spielen sicher eine Rolle, können aber nicht erklären, warum Lerner oberflächlich ähnlich verteilte Eigenschaften in manchen Fällen recht unterschiedlich schnell und erfolgreich erwerben (s. Abschnitt 3). Unter dem Stichwort „cue cost“ berechnen Bates / MacWhinney (1989) auch den für die Verarbeitung von Signalen benötigten Aufwand. So entsteht beispielsweise eine relativ große Gedächtnisbelastung, wenn Subjekt und Verb in einer Äußerung weit voneinander entfernt sind und die Subjekt-Verb Kongruenz verarbeitet werden muss. Der Lernaufwand sollte allerdings nicht nur in Hinsicht auf die lokalen Anforderungen an effiziente Sprachverarbeitung betrachtet werden, sondern auch im Hinblick auf die Zielsprache als Ganzes, und zwar sowohl auf der Formals auch auf der Funktionsseite. Ich gebe im Folgenden einige Beispiele. Signalisiert eine bestimmte Markierung in erster Linie grammatische Zusammenhänge (z.B. Subjekt-Verb Kongruenz) oder drückt sie semantische Relationen aus (z.B. Tempusflexion)? Ist die Markierung leicht ersetzbar (z.B. Adjazenzstellung statt Kongruenz oder Adverbiale statt Tempus)? Ist die Ersatzmöglichkeit auf der Formseite einfacher oder komplexer? Im Falle der Adverbiale ist sie nicht nur einfacher, sondern auch informativer. Wie leicht kann die Missachtung bestimmter Regeln zu Missverständnissen führen? Die Verbzweitstellung (V2) im Deutschen signalisiert einen deklarativen Hauptsatz. Während V1 eine Frage ausdrückt, existiert die von Lernern oft verwendete V3-Stellung in der Zielsprache nicht und bedeutet somit auch nichts, was der Lerner nicht intendierte, sondern wird von Muttersprachlern einfach als Lernervariante des deklarativen Hauptsatzes verstanden. Bei der Negation oder Fokuspartikeln ist die Wortstellung hingegen oft entscheidend, wenn es um den Ausdruck eines bestimmten Anwendungsbereiches geht. Wie komplex ist ein Bereich auf der Formseite, und wie verlässlich sind die Zuordnungsregeln? Hier wären etwa die Pluralallomorphe des Deutschen mit ihren oft willkürlichen Zuordnungsregeln der Adjektivflexion gegenüberzustellen, die mit starker, schwacher und gemischter Deklination zwar formal komplex ist, zudem ein hohes Maß an Synkretismus aufweist, auf der anderen Seite aber vollkommen regelmäßig ist. Ist der Input inkonsistent, etwa weil ein produktives Schema lexikalische Aus- Zweitspracherwerb bei Kindern und Jugendlichen: Gemeinsamkeiten und Unterschiede 123 nahmen aufweist (wie etwa bei starken und schwachen Verben) oder ist ein Bereich nur sehr unüberschaubar, weil die zielsprachliche Formenwahl von vielen Einflussgrößen und undurchsichtigen Abhängigkeitsverhältnissen bestimmt wird, wie bei den attributiven Adjektiven, die mit Genus, Numerus und Kasus des Bezugsnomens kongruieren und deren Deklination zusätzlich von Präsenz und Typ des Determinierers abhängt? Welchen Einfluss solche Charakteristika des Lerngegenstandes genau haben und welche Angriffsfläche sie altersabhängigen Faktoren wie Antrieb und kognitiver Entwicklung bieten, lässt sich nicht einfach ausrechnen. Aber dass sie einen Einfluss haben ist recht plausibel und wird ja generell auch nicht in Abrede gestellt. 2.4. Struktur von Lernersprachen Die im vorangehenden Abschnitt gestellten Fragen gelten im Prinzip auch für Lernersprachen. Sprachlichen Merkmalen kommt nicht nur eine ganz bestimmte Rolle in der Zielsprache zu, sie spielen auch eine - unter Umständen andere - Rolle innerhalb eines solchen in der Entwicklung befindlichen Lernersystems. Neu erworbene Eigenschaften werden zu einer solchen Lernersprache nicht einfach hinzugefügt wie Teile eines Puzzles (Klein / Perdue 1997), ihre Integration bedeutet vielmehr oft, dass sich das Zusammenspiel von Formen und Funktionen zumindest in Teilbereichen neu organisiert. Es kann auch nicht jedes Teil zu jeder Zeit hinzukommen. Welche zielsprachlichen Eigenschaften aufgenommen werden können, hängt nämlich nicht nur mit deren Rolle innerhalb der Zielsprache zusammen, sondern auch mit dem Funktionieren des lernersprachlichen Systems zum jeweiligen Entwicklungszeitpunkt. So zeigt beispielsweise Benazzo (2003), dass Partikeln wie etwa auch, wieder, noch, die eine sehr einfache Form haben und in der Zielsprache recht ähnlichen Wortstellungsregeln unterliegen, dennoch nicht gleichzeitig erworben werden. Das hängt damit zusammen, dass diese Wörter typischerweise auf verschiedene semantische Bereiche zugreifen. Die jeweilige Lernersprache muss erst über Mittel verfügen, um diese Bereiche auszudrücken, also etwa Referenz auf Einheiten im Falle von auch, auf Ereignisse in ihrer Gesamtheit im Falle von wieder, und auf Ereignisse mit einer inhärenten zeitlichen Struktur im Falle von noch. Diese Mittel entwickeln sich nur schrittweise, und so determiniert nicht nur die Zielsprache, sondern auch die Struktur der jeweiligen Lernersprache den weiteren Erwerbsverlauf. Ob Kinder und Erwachsene beim Aufbau solcher Lernersprachen dieselben Schritte durchlaufen oder nicht, ist eine offene Frage, deren Beantwortung ebenso zum Verständnis des Altersfaktors beitragen kann, wie der Vergleich des Endstands („ultimate attainment“) mit der muttersprachlichen Norm. Im folgenden Abschnitt wird exemplarisch über Ergebnisse aus einem Forschungsprojekt berichtet, das sich solcher Fragen angenommen hat. Christine Dimroth 124 3. Der ungesteuerte Erwerb des Deutschen durch russische Lerner verschiedenen Alters Die longitudinale Fallstudie DaZ-AF 5 beschäftigt sich mit dem ungesteuerten Erwerb des Deutschen durch eine Lernerin im Kindesalter und ihre jugendliche Schwester. Die Erstsprache beider Lernerinnen ist Russisch. Im Folgenden werden bei einer Auswahl von Eigenschaften aus den Bereichen Syntax und Flexionsmorphologie Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Einstieg, Verlauf und (vorläufigem) Endstand untersucht. Der Zweitspracherwerb beider Lernerinnen wurde über insgesamt eineinhalb Jahre in wöchentlichen Audioaufnahmen dokumentiert, deren erste bereits in der dritten Aufenthaltswoche stattfand. Bei ihrer Ankunft in Deutschland war die jüngere Lernerin Nastja 8; 7 Jahre (8 Jahre, 7 Monate) alt, ihre Schwester Dascha 14; 2 Jahre. Nastja besuchte den regulären Unterricht in der zweiten Grundschulklasse, Dascha in der neunten Klasse eines Gymnasiums. Vor ihrer Ankunft sprach Nastja nur Russisch, während Dascha in Russland bereits einige Jahre Englischunterricht genossen hatte und dies in ihrer neuen Schule in Köln fortsetzte. Die Familiensprache war weiterhin Russisch. Das Korpus besteht größtenteils aus Spontansprachdaten, die in freien Gesprächen mit erwachsenen oder gleichaltrigen deutschen Muttersprachlern erhoben wurden. 6 Die Aufnahmen wurden von deutschen Muttersprachlern im CHAT-Format transkribiert und kodiert und mit Hilfe der CLAN-Software ausgewertet (MacWhinney 2000, s. auch Stephany / Bast / Lehmann 2001). Das DaZ-AF Korpus ist Grundlage einer Reihe von Forschungsarbeiten zum Erwerb von morphosyntaktischen Eigenschaften des Deutschen (Bast 2003, Dimroth im Druck, Dimroth / Haberzettl eingereicht, Pagonis 2007). Die folgende Darstellung beruht auf diesen Arbeiten. 7 3.1. Wortstellung In diesem Abschnitt geht es um die Frage, wie die beiden Lernerinnen die Charakteristika der Verbstellung im deutschen Hauptsatz erwerben (zu dieser Frage in Bezug auf jüngere zweisprachige Kinder s. Tracy in diesem Band). Die Ergebnisse zum Erwerb von Auxiliaren sowie der Stellung der Negation sind im Detail nachzulesen in Dimroth (im Druck); die Ergebnisse zum Erwerb der Verbzweitstellung (Inversion) stammen aus Pagonis (2007). Beide Lernerinnen verwenden zu Beginn des Erwerbs eine Wortstellung, die derjenigen nicht unähnlich ist, die in der „Basisvarietät“ (Klein / Perdue 1997) erwachsener Migranten gefunden wurde. Die flektionslose Basisvarietät weist eine beschränkte Anzahl von Wortstellungsmustern auf, die nicht direkt von Ausgangs- oder Zielsprache geprägt sind, sondern von Prinzipien der Informationsgliederung 5 Es handelt sich dabei um ein zwischen 2000 und 2002 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördertes Forschungsprojekt unter der Leitung von Ursula Stephany (Universität zu Köln) und Christine Dimroth (Max-Planck-Institut für Psycholinguistik, Nijmegen). 6 Das Korpus enthält auch einige kontrolliertere Elizitationsformen (Erzählungen anhand von Bildergeschichten, Wohnungsbeschreibungen, etc.). 7 Für genaue Angaben zur jeweiligen Datengrundlage verweise ich auf die angegebenen Forschungsarbeiten. Zweitspracherwerb bei Kindern und Jugendlichen: Gemeinsamkeiten und Unterschiede 125 im Kontext abhängen. 8 Wie in der Basisvarietät haben die Äußerungen der beiden Lernerinnen meistens eine SVO-Struktur, wobei das Verb an dritter (1) oder vierter (2) Stelle steht, wenn neben dem Subjekt noch temporale oder lokale Bestimmungen zum Äußerungstopik gehören. In analytischen Konstruktionen aus Hilfsverb und lexikalischem Verb findet sich zu Beginn keine Verbklammer, vielmehr werden beide Verbteile an der vorderen Verbposition zusammengestellt (3, 4). (1) morgen wir habt sechs stunde (D-01) 9 (2) in winter mama in russland kaufen äpfel (N-03) (3) meine musiklehrerin kann sprechen russisch (N-02) (4) ich habe gesehen Mona Lisa (D-04) Ein weiteres Charakteristikum der nicht finiten Basisvarietät ist die präverbale Stellung der Negation, vgl. Beispiel (5) von einem erwachsenen Lerner des Deutschen. Die Negation steht hier vor der Verbalphrase als ihrem Anwendungsbereich (Skopus). Einige wenige frühe Belege dieser Art finden sich auch im DaZ-AF Korpus (6). Teilweise überlappend mit diesem System bilden unsere Lernerinnen genau wie die erwachsenen Lerner eine zweites Wortstellungsmuster aus, das sie zunächst nur mit der Kopula verwenden (7). Dieser Verbtyp, genauso wie später andere semantisch leere oder leichte Verben (Modalverben, Auxiliare, Bsp. 8) wird über die Negation angehoben, d.h. diese Verben befinden sich dann wie in der Zielsprache links von der Negation. Die Negation steht in diesen Äußerungsstrukturen weiterhin vor ihrem Anwendungsbereich. (5) ich nicht komm nach polen (6) er nicht kauf steine (N-01) (7) K. ist nicht jetzt meine freundin (N-01) (8) sie kann nicht uns französisch machen (D-04) Konstruktionen mit nicht-modalen Auxiliaren treten zu Beginn des Erwerbs nicht auf. Im Laufe der weiteren Entwicklung entdecken sowohl Nastja als auch Dascha die Verbendposition für nicht finite Verben. Beide Verbteile in analytischen Konstruktionen bilden nun regelmäßig eine sogenannte Verbklammer (9, 10). (9) ich kann er füttern (N-02) (10) er willt mit dieser kuh zu spielen (D-03) Im dritten (Nastja) bzw. vierten (Dascha) Aufenthaltsmonat erwerben beide Lernerinnen das Perfekt mit dem Auxiliar haben (11, 12). (11) ich habe schon gemacht meine hausaufgaben (N-03) (12) in landhaus sie hat mäuse und auch frosch gefresst (D-05) Für erwachsene Lerner wurde gezeigt, dass der Erwerb solcher Auxiliare Voraussetzung für die Neuorganisation der syntaktischen Struktur ist (Becker 2005, Parodi 8 Ob die Wortstellung in den vorliegenden Daten ähnlich stark von der Informationsstruktur beeinflusst ist, müsste im Einzelnen untersucht werden. 9 Die Angaben beziehen sich auf die Sprachkontaktmonate: „D-01“ = „Dascha, 1. Monat“. Christine Dimroth 126 1998, Jordens / Dimroth 2006). Die semantisch leeren Auxiliare fungieren als isolierte Träger der Finitheitsmerkmale und sind so besonders gut geeignet, den Lernern den Weg zur Realisierung von Finitheit auch mit lexikalischen Verben zu ebnen. Erst nach dem Erwerb von Auxiliaren kommt es bei erwachsenen Lernern systematisch zur Anhebung lexikalischer Verben über die Negation. Von nun an ist die Finitheit (und nicht mehr die Tendenz, den lexikalischen Verbgehalt rechts von der Negation zu platzieren) entscheidend für die Position. Dies ist auch bei der jugendlichen Lernerin Dascha der Fall: (13) sie gucken nicht wie russen (D-05) (14) er spricht nicht […] richtig wie deutscher (D-05) Die 8-jährige Nastja zeigt in diesem entscheidenden Punkt allerdings eine abweichende Erwerbsreihenfolge. Knapp zwei Monate vor dem ersten Auftreten von Auxiliaren hebt sie bereits ausnahmslos lexikalische Verben über die Negation an: (15) heute ich geht nicht (N-02) (16) sie kauft nicht torte (N-02) Auf dem Weg zu syntaktisch finiten Äußerungen scheint Nastja logische Zwischenstufen, die erwachsene Lerner und auch ihre ältere Schwester Dascha mit großer Regelmäßigkeit durchlaufen, einfach zu überspringen (vgl. Dimroth im Druck sowie Haberzettl 2005, 125). Dies steht im Widerspruch zu der in der Literatur vertretenen Annahme (Hyltenstam / Abrahamsson 2003, Singleton / Ryan 2004), dass sich Kinder und Erwachsene beim Zweitspracherwerb hinsichtlich der Lernreihenfolgen nicht unterscheiden. Nachdem schließlich beide Lernerinnen Auxiliare und Verbanhebung - wenn auch in unterschiedlicher Reihenfolge - gemeistert haben, kommen in ihren Lernersprachen die ersten Fälle von zielsprachlicher Subjekt-Verb Inversion vor, bei Nastja wieder etwas früher als bei Dascha. (17) jetzt müssen wir ein bisschen platz haben (N-06) (18) alle juli habe wir viel geschwimmen (D-09) Wie Pagonis (2007) zeigt, verwenden beide Lernerinnen diese zielsprachlichen V2- Strukturen allerdings zunächst in freier Variation mit der vorherrschenden V3-Stellung. Während sich die ungrammatischen V3-Konstruktionen bei Nastja im Laufe der weiteren Entwicklung auf Äußerungen mit dem Adverbial dann in initialer Position zurückziehen (19) und schließlich ab dem zehnten Monat ganz verschwinden, bestehen beide Wortstellungsmuster in Daschas Lernersprache weiterhin nebeneinander, wobei sich die Tendenz abzeichnet, in Auxiliarkonstruktionen die zielsprachliche Inversion anzuwenden (20), bei finiten lexikalischen Verben (21) jedoch nicht. (19) dann die frau R. nehmt den bären (N-09) (20) gestern habe ich Merlin gesehen (D-11) (21) in Russland ich habe einen computer mit spiele (D-11) Am Ende des Beobachtungszeitraums, d.h. nach insgesamt eineinhalb Jahren, besteht weder hinsichtlich der Verwendung von Auxiliaren noch bei der Anhebung Zweitspracherwerb bei Kindern und Jugendlichen: Gemeinsamkeiten und Unterschiede 127 finiter Verben ein Unterschied zwischen den Lernerinnen. Trotz verschiedener Erwerbsreihenfolgen sind beide nach 18 Monaten von der zielsprachlichen Norm nicht mehr zu unterscheiden. Ein deutlicher Unterschied findet sich allerdings bei der Konsequenz, mit der sich die V2-Stellung im deklarativen Hauptsatz bei beiden durchgesetzt hat. Während Nastjas Lernersprache im letzten Erhebungsmonat nur noch zielsprachliche V2-Strukturen aufweist, bleibt die im vorhergehenden Abschnitt beschriebene Variation trotz Zunahme der zielsprachlichen Wortstellung bei Dascha bis zum Ende der Aufnahmen bestehen. Dabei gilt es allerdings zu bedenken, dass es sich hier um einen eher zufälligen Endstand handelt, der nicht mit dem Ende der Entwicklung gleichgesetzt werden kann. 10 Es ist durchaus möglich, dass wir es hier zumindest teilweise mit Unterschieden in der Lerngeschwindigkeit zu tun haben, denn wir können ja nicht mit Sicherheit ausschließen, dass Dascha bei einem längeren Aufenthalt nicht doch ein zielsprachliches Niveau erreicht hätte. Dagegen spricht allerdings, dass sich die abweichenden V3-Strukturen bei Dascha nicht wie im Entwicklungsverlauf bei Nastja auf Vorkommen mit bestimmten Adverbialen einengen. Noch im allerletzten Interview zeigt sich freie Variation, zum Teil sogar mit denselben Adverbien (Pagonis 2007). Diese Ergebnisse deuten auf die Tatsache hin, dass sich Altersunterschiede nicht allein im Abstand des letztendlich erreichten Niveaus von der Zielsprache manifestieren, sondern die Entwicklung von Lernersprachen zum Teil bereits früher in charakteristischer Weise beeinflussen, unter Umständen ohne dass dies sich am Endstand noch ablesen ließe. Auch zeigt sich, dass allgemeine Aussagen über den Erwerb „der Verbstellung“ kaum möglich sind. Sowohl die Verbklammer und die Anhebung finiter Verben über die Negation als auch die Inversionswortstellung werden von beiden Lernerinnen erworben, die ältere Lernerin wendet aber nur manche dieser Regeln wirklich konsequent an. Wir werden in der Diskussion auf diese Unterschiede zurückkommen. 3.2. Flexionsmorphologie Während sich die Wortstellung in den Lernersprachen von Nastja und Dascha im Prinzip nicht sehr von der bei erwachsenen Lernern gefundenen Basisvarietät (Klein / Perdue 1997) unterscheidet, ist dies im Bereich der Flexionsmorphologie ganz anders. Das Repertoire der Basisvarietät enthält Wörter aus den lexikalischen Hauptklassen, also u.a. Nomen, Verben und Adjektive, aber „keines dieser Wörter wird regelhaft flektiert“ (Klein 2003, 32). In den Lernersprachen der hier untersuchten jungen Lernerinnen hingegen wird von Anbeginn an der Flexionsmorphologie gearbeitet. Das bedeutet natürlich nicht, dass die entsprechenden Formen immer der zielsprachlichen Verwendung entsprechen, aber eine Phase, in der die Flexion komplett ignoriert würde, kann in den meisten der hier untersuchten Bereiche nicht festgestellt werden. Die im Folgenden zusammengefassten Ergebnisse zum Erwerb der Flexionsmorphologie entstammen den folgenden Arbeiten: Verbalflexion: Dimroth (im Druck) und Pagonis (2007), Plural: Bast (2003), Adjektivflexion: Pagonis (2007). Beginnen wir mit der Subjekt-Verb-Kongruenz. Obwohl die Datenerhebung bereits in der dritten Woche des Sprachkontakts begann, treten bei beiden Lernerin- 10 Operationalisierungen für den Endstand („ultimate attainment“) in Untersuchungen zum Altersfaktor setzen üblicherweise eine längere Aufenthaltsdauer an (Birdsong 2004). Christine Dimroth 128 nen von Anfang an praktisch nur flektierte Formen auf. Dabei werden verschiedene Suffixe verwendet, die alle dem zielsprachlichen Inventar zur Kongruenzmarkierung entstammen, allerdings nicht immer in den entsprechenden Kontexten vorkommen. Vergangenheitstempora sind zunächst nicht vorhanden, Präsensformen werden in allen Kontexten verwendet, auch unterbleiben Stammvokaländerungen bei starken Verben (etwa esse vs. isst). Im Weiteren unterscheiden beide Lernerinnen zuerst systematisch zwischen der ersten und dritten Person Singular (22). Dabei treten produktive Übergeneralisierungen auf (23). Im Anschluss daran wird die Markierung für die zweite Person Singular produktiv gebraucht (24), dann folgen die erste und dritte Person Plural 11 (25, 26). (22) ich male haus und K. malt haus (N-01) (23) Marco willt sitzen mit mir (N-02) (24) has(t) du tamagochi? (N-02) (25) wir kaufen eier (N-02) (26) sie singen das lied wer-wie-was (N-02) Beide Lernerinnen gehen beim Erwerb der Subjekt-Verb-Kongruenz also in derselben Reihenfolge vor, wobei Nastja etwas schneller zum Ziel kommt als Dascha. Wie in Dimroth / Haberzettl (eingereicht) gezeigt, geht der gesamte Prozess bei der achtjährigen Nastja (und weiteren Kindern in ihrem Alter) sogar schneller vonstatten als bei monolingualen Kindern im Erstspracherwerb. Ob hier Erfahrung oder kognitive Reife (oder beides) hilft, muss zunächst offenbleiben - jedenfalls scheint sich Newports (1990,1991) Less-is-More-Hypothese (s. 2.2.) nicht zu bestätigen. Ähnlich wie bei der Kongruenzmarkierung unterscheiden sich beide Lernerinnen auch beim Erwerb der Vergangenheitstempora hauptsächlich in der Geschwindigkeit (Dimroth im Druck, Pagonis 2007). Wie oben beschrieben verwenden beide Mädchen Präsensformen zunächst auch in Vergangenheitskontexten. In einem nächsten Schritt wird, bei Dascha ausgeprägter als bei Nastja, in vielen Vergangenheitskontexten ein -t an den Stamm angefügt, Personen- und Numerusmarkierungen entfallen dann: (27) ich spielt geige (D-02) (28) Z. war laufen und dann er stoppt und ich fahrt in Z. (D-04) (29) und hier eine blume, das macht ich (N-02) Der Ursprung dieses -t-Suffixes ist unklar - die Form kann im Prinzip sowohl in Anlehnung an das Präteritum (mach-t-e) als auch an die regelmäßige Endung des Partizips Perfekt (gemach-t) gebildet sein. Diese Zwischenstufe bleibt bei beiden Lernerinnen auf eine relativ geringe Anzahl von Vorkommen beschränkt. Den nächsten Schritt bilden zielsprachliche Formen von haben, sein und wollen (Letzteres nur bei Nastja) im Präteritum. In den folgenden Kontaktmonaten erwerben beide Lernerinnen das Perfekt. Während Nastja bald auch die Verwendungsbedingungen der beiden Auxiliare (ha- 11 Für die zweite Person Plural sind zu wenige Kontexte vorhanden, um fundierte Aussagen über produktiven Gebrauch in den frühen Erwerbsphasen zu machen. Zweitspracherwerb bei Kindern und Jugendlichen: Gemeinsamkeiten und Unterschiede 129 ben vs. sein) erlernt (31, 32), verwendet Dascha in allen Kontexten ausschließlich das Auxiliar haben (33). Beide Lernerinnen haben zunächst Schwierigkeiten mit der Bildung des Partizips Perfekt bei starken Verben (s. 31, 33). (30) ich habe schon gemacht meine hausaufgaben (N-03) (31) wir haben gedenkt (N-04) (32) ein krokodil ist hochgesprungen (N-05) (33) sie hat alle physikstunde gesitzt (D-06) Anschließend wird das Präteritum erworben; es kommt bei Dascha allerdings im gesamten Erwerbsverlauf deutlich seltener zur Anwendung als bei Nastja. Übergeneralisierungen der schwachen Flexion (schwimmte, kommte etc.) treten auch hier bei beiden Lernerinnen auf. Für die Verbflexion (Subjekt-Verb-Kongruenz und Vergangenheitstempora) gilt, dass beide Lernerinnen alle Suffixe am Ende des eineinhalbjährigen Sprachkontakts in ausnahmslos zielsprachlicher Manier beherrschen. Während Nastja allerdings am Ende auch die unregelmäßigen Formen gemeistert hat, ist dies bei Dascha nicht immer der Fall. Besonders Verben, bei denen im Präsensparadigma ein Stammvokalwechsel ignoriert wird (er schlaft, sie fahrt), aber auch regularisierte Präterita (beginnte, schreibte) und Partizipien, bei denen die -t-Endung übergeneralisiert wird (gesitzt, gelest) kommen bis zum Ende der Dokumentation vor. Auch die Bildung des Perfekts mit dem Auxiliar sein unterbleibt bei Dascha bis zum Ende der Aufnahmen. Zur Kennzeichnung des Plurals wird dem Substantiv eines von fünf Pluralallomorphen angefügt, von denen manche zusätzlich mit einem Umlaut kombiniert werden können (Haus - Häus-er im Gegensatz zu Bild - Bild-er). Die Pluralallomorphe des Deutschen unterscheiden sich in ihrer Frequenz und Produktivität erheblich. Nach ihrer Häufigkeit in der Standardsprache geordnet sind dies -(e)n > -e > -Ø > -s > -er, die mit Ausnahme von -er alle bei Nomen aller Genera vorkommen. Die Zuordnung ist zu einem gewissen Grade willkürlich (Tor - Tore, aber Ohr - Ohren). Verschiedene Autoren haben Zuordnungsregeln vorgeschlagen (z.B. Eisenberg 1986, Wegener 1995b), die die Pluralbildung bei rund 80% der Substantive im Grundwortschatz korrekt voraussagen. Grundlage solcher Regeln für die Zuweisung der Pluralallomorphe ist neben der Silbenstruktur auch das Genus der Substantive, das allerdings bei unseren Lernerinnen selbst Gegenstand des Spracherwerbs ist. Ein anderer Ansatz (Köpcke 1998) geht davon aus, dass sich Sprecher an abstrakten Pluralschemata orientieren, die im mentalen Lexikon gespeichert sind. So entsprechen etwa polysyllabische Formen auf -en am eindeutigsten einer Pluralform. Lerner könnten Wortformen mit Hilfe solcher Schemata als Plural einordnen, anstatt ausgehend von einer Singularform auf der Grundlage verschiedener Regeln ein Pluralallomorph zuzuordnen. Auch bei der Markierung des Plurals am Nomen ähnelt der Einstieg beider Lernerinnen nicht der Basisvarietät: „Dascha und Nastja verwenden ab dem ersten Monat verschiedene Substantive in Pluralkontexten. Diese Lexeme markieren sie mit verschiedenen Pluralallomorphen des Deutschen. Ab dem zweiten Monat bei der jüngeren Lernerin Nastja und ab dem dritten Monat bei ihrer älteren Schwester Dascha sind bei beiden Lernerinnen fast alle Pluralformen belegt.“ (Bast 2003, 67). Wie Bast (2003) hervorhebt, kommen damit schon früh mehr Pluralallomorphe vor Christine Dimroth 130 als in einer Untersuchung zum Zweitspracherwerb durch spanische und italienische Arbeiter nach mehreren Jahren belegt sind (HDP 1977). Die Verteilung der Pluralformen entspricht in etwa ihrer Häufigkeit im Input, allerdings wird nicht in jedem Fall das zielsprachliche Pluralallomorph verwendet. Unterschiede in der Einstiegsstrategie zeigen sich zwischen beiden Lernerinnen nur, wenn ihnen bestimmte Pluralformen nicht bekannt sind. Dascha bildet in solchen Fällen neue Pluralformen, etwa durch Übergeneralisierung des Suffixes -(e)n, Nastja hingegen zieht es bis zum vierten Monat vor, einfach Singularformen zu verwenden. „Sie vermeidet es, eine (im Zweifelsfall inkorrekte) Form zu bilden, um den Numerusunterschied kenntlich zu machen. Daher kommt es bei einigen Äußerungen zu Verständigungsschwierigkeiten. […] Im Vergleich zu ihrer jüngeren Schwester sind Daschas Äußerungen kommunikativ angemessener, da sich in ihrer Sprache eine Singularform von einer Pluralform unterscheidet.“ (Bast 2003, 68). Bei der Herausbildung zielsprachlicher Singular-Plural-Paare gehen beide Lernerinnen ähnlich vor wie die von Wegener (1994) beschriebenen Lerner: Seltene Pluralallomorphe (-er, -Ø) und Bildungen mit Umlaut sind, soweit sie vorkommen, weitestgehend korrekt und scheinen als Ganzes memoriert worden zu sein (Bast 2003). Übergeneralisiert wird bei beiden Lernerinnen die -(e)n-Endung (leuten, stickern, männern). Dieses Pluralallomorph ist in der Zielsprache am häufigsten vertreten und kennzeichnet den Plural entsprechend abstrakter Schemata mit großer Eindeutigkeit (Köpcke 1998). Außerdem kommen die entsprechenden Formen im Input bei Nomen im Dativ Plural vor, die den Plural in anderen Kasus nicht auf -(e)n bilden. Im Unterschied zu Nastja übergeneralisiert Dascha zusätzlich das Suffix -s, hauptsächlich bei Lexemen, die dem Englischen ähneln (Zentimeters, Schuhs, Kanals). 12 Außerdem unterbleibt die Pluralmarkierung in einigen Kontexten ganz, und zwar hauptsächlich nach Quantoren (viele Oktave), wo die Markierung ja völlig redundant ist, sowie besonders nach den Zahlwörtern zwei bis vier (zwei Stuhl); das könnte einem Transfer aus dem Russischen geschuldet sein, wo Substantive nach diesen Zahlwörtern nicht im Plural, sondern im Genitiv Singular stehen (s. Bast 2003 für eine Diskussion). Während diese abweichenden Formen bei Dascha lange anhalten, ist die Pluralmarkierung bei Nastja ab dem 8. Kontaktmonat weitestgehend zielsprachlich. Beide Lernerinnen scheinen also im Prinzip ähnliche Strategien anzuwenden, der Erwerbsverlauf ist bei Dascha allerdings stärker durch Transfer sprachlicher Vorkenntnisse (Russisch und Englisch) geprägt als bei der jüngeren Lernerin. Am Ende der Beobachtungszeit unterscheidet sich die Pluralkennzeichnung am Substantiv in Nastjas Lernersprache nicht mehr von der Zielsprache. Der Numerus wird immer den Kontexten entsprechend markiert und dabei werden alle Pluralallomorphe korrekt verwendet. Im Unterschied dazu übergeneralisiert Dascha die - (e)n Endung bis zum Ende des Untersuchungszeitraums. Attributive Adjektive kongruieren mit Numerus und Kasus des Bezugsnomens und werden hinsichtlich des Genus von ihm regiert. Die Endungen hängen zusätzlich von Präsenz und Form des Determinierers ab (schwache, starke, gemischte Deklination). Bei der starken Deklination (fünf verschiedene Flexionssuffixe: -er, -e, 12 Wie erwähnt hatte Dascha bereits in Russland Englisch gelernt. Zum Einfluss der Zweitauf die Drittsprache siehe Cenoz et al. (2001). Zweitspracherwerb bei Kindern und Jugendlichen: Gemeinsamkeiten und Unterschiede 131 -en, -em, -es) trägt das Adjektiv die Kongruenzmarkierung des fehlenden Determinierers. Nach bestimmtem Artikel oder pronominal flektierenden Wortformen wird die schwache Deklination (mit nur zwei Endungen: -e, -en) verwendet. Von jeweils 24 Markierungen in jeder Deklinationsklasse stimmen dabei nur acht in beiden Klassen überein. Der gemischte Deklinationstyp nach ein, kein, mein etc., die in ihrem Deklinationsparadigma nur zum Teil selbst pronominale Endungen tragen, weist insgesamt vier unterschiedliche Flexionsmorpheme auf (-e, -en, -er, -es), wobei die Form-Funktions-Korrelationen entweder denen der starken oder der schwachen Deklinationsklasse entsprechen. Tabelle 1 veranschaulicht dies exemplarisch. Tabelle 1: Starke, schwache und gemischte Adjektivdeklination (Neutrum) Singular Plural hart-es Brot hart-e Brote das hart-e Brot die hart-en Brote Nominativ mein hart-es Brot meine hart-en Brote hart-en Brotes hart-er Brote des hart-en Brotes der hart-en Brote Genitiv meines hart-en Brotes meiner hart-en Brote hart-em Brot hart-en Broten dem hart-en Brot den hart-en Broten Dativ meinem hart-en Brot meinen hart-en Broten hart-es Brot hart-e Brote das hart-e Brot die hart-en Brote Akkusativ mein hart-es Brot meine hart-en Brote Wenn bisher betont wurde, dass sich der Einstieg, den beide Lernerinnen sowohl bei der Verbalals auch bei der Nominalflexion wählen, stark von der weitestgehend flexionslosen Basisvarietät unterscheidet, so ist das bei der Adjektivdeklination anders. Die Ausgangspunkte beider Lernerinnen unterscheiden sich hier deutlich. Nastja verwendet auch hier bereits in den ersten Aufnahmen flektierte Formen, allerdings in freier Variation (ein großen klavier, eine weißes ring, ein braune ring). Ihr zunächst funktionsloser Formenreichtum umfasst vier der fünf möglichen Suffixe (-es, -en, -er, -e). In Daschas früher Lernersprache hingegen finden sich praktisch nur Stammformen, die ja bei prädikativer Verwendung der Adjektive auch im Input vorkommen. Diese werden ohne Determinierer dem Nomen vorangestellt (schwarz haar, groß pause, klein straße, schön hose, gut foto, gelb zähne); eine Vorgehensweise, die eher der erwachsener Lerner ähnelt. Dieser „Stammformphase“ folgt eine Phase, in der -e zur Defaultmarkierung attributiver Adjektive wird und über 90% aller tokens abdeckt (Pagonis 2007, vgl. 34, 35). Daneben treten nach unbestimmtem Artikel selten auch -er Formen auf (36). (34) er hat heiße wasser (D-06) (35) jetzt bist du nicht in der falsche richtung (D-12) (36) es war ein alter großmutter (D-10) Diese „-e-Phase“ entspricht bei Dascha zugleich dem Endstand. Obwohl diese Phase die vorhergehende „Stammformphase“ bereits nach wenigen Kontaktmonaten ab- Christine Dimroth 132 löst, findet danach praktisch keine Entwicklung mehr statt. Diese Schwierigkeiten sind vor allem der Tatsache geschuldet, dass die Adjektivflexion im Deutschen (unter anderem) auf der Kenntnis des Genussystems beruht, das Bast (2003) zufolge von Dascha nur ansatzweise entwickelt wird. Nastja hingegen erreicht nach ihrem durch funktionslosen Formenreichtum geprägten Einstieg relativ bald eine „systematische Phase“ (Pagonis 2007), in der sich stabile, allerdings mitunter von der Zielsprache abweichende Form-Funktions-Paare herausbilden. In den letzten Aufnahmemonaten kommen in den Daten der jüngeren Lernerin Nastja dann nur noch zielsprachlich flektierte Adjektive vor. Bei der Adjektivflexion zeigen sich also bereits früh relativ gravierende Unterschiede zwischen beiden Lernerinnen. Während die jüngere Lernerin die Mehrzahl der im Input vorhandenen Formen aufgreift und imitiert, wählt die ältere Lernerin einen anderen Einstieg. Die vielen Endungen mit der undurchschaubaren Funktion werden zunächst ganz ausgelassen, dann wird in fast allen Kontexten eine phonologisch angepasste (zweisilbige) Minimalform verwendet. Aufgrund der Probleme mit dem Genuserwerb (Bast 2003) stellt die Analyse der Suffixe am attributiven Adjektiv für Dascha ein praktisch unlösbares Problem dar - hier fehlt also relevantes Vorwissen in der Zielsprache, das der jüngeren Lernerin Nastja einen erfolgreichen Erwerb ermöglicht. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die in diesem Abschnitt behandelten ‚Erwerbsaufgaben‘ aus dem Gebiet der Flexionsmorphologie in zwei Gruppen fallen. Für die Verbflexion (sowohl Tempus als auch Kongruenz) sowie für die Pluralmarkierung am Nomen gilt, dass beide Lernerinnen von Beginn an vorwiegend flektierte Formen produzieren (mit einer kleinen Einschränkung, Nastjas Zurückhaltung bei der Kreation unbekannter Pluralformen betreffend), allerdings nicht immer die zielsprachlich angemessenen, und dass sich die Verwendungen im weiteren Verlauf stark an die Zielsprache annähern, wobei Dascha stärker von ihrem sprachlichen Vorwissen Gebrauch macht. Unterschiede zeigen sich im Endstand, und zwar hauptsächlich in Hinblick auf die unregelmäßigen Formen (starke Verben, infrequente Pluralallomorphe), bei denen Dascha zur Regularisierung neigt. Sowohl für die Verbflexion als auch für den Plural gilt jedenfalls, dass die Gemeinsamkeiten in der Entwicklung beider Lernerinnen deutlich größer sind als die Unterschiede - was etwa bei einem Vergleich mit erwachsenen Lernern deutlich wird: keine der beiden hier untersuchten Lernerinnen entwickelt eine flexionslose Basisvarietät (Klein / Perdue 1997). Ganz anders stellt sich die Situation beim Erwerb der Adjektivflexion dar, die auf der Formseite durch eine Vielzahl von Synkretismen und auf der Funktionsseite durch ein komplexes Abhängigkeitsverhältnis von der Präsenz verschiedener Determinierer geprägt ist. Anders als bei der Verbflexion und dem Plural ist auch der kommunikative Nutzen dieses Merkmals beschränkt. Während Nastja am Ende des Beobachtungszeitraums auch diese Eigenschaften der Zielsprache erworben hat, werden sie von Dascha radikal vereinfacht. Besonders aufschlussreich sind hier auch die frühen Phasen des Erwerbs. Während die ältere Lernerin bald zu dem Schluss zu kommen scheint, dass der Versuch, diese formalen Markierungen zu kopieren, nicht der Mühe wert ist, übernimmt die junge Lernerin Formen aus dem Input, die in ihrer Lernersprache zu diesem Zeitpunkt keinerlei Funktionen haben. Zweitspracherwerb bei Kindern und Jugendlichen: Gemeinsamkeiten und Unterschiede 133 4. Diskussion und Schlussfolgerungen Zusammengenommen lässt sich festhalten, dass die Ergebnisse bei der jüngeren Lernerin deutlich in Richtung einer vollständigen Assimilation an die Zielsprache deuten, während das bei der älteren Lernerin nicht der Fall ist. Die Befunde entsprechen allerdings auch nicht der „Basisvarietät“ erwachsener Lerner und lassen weder im Bereich der Syntax noch im Bereich der Flexionsmorphologie auf eine generelle Reduzierung der zielsprachlichen Grammatik auf das Wesentliche schließen. Das liegt wohl daran, dass sich der Zugang zur Zielsprache bei den untersuchten erwachsenen Arbeitsmigranten doch sehr von der Lernsituation der beiden Schülerinnen unterschied - obwohl es wahrscheinlich auch zwischen den beiden graduelle Unterschiede gibt. Generell scheint aber das, was Klein (im Druck) mit Blick auf erwachsene Lerner feststellt, auch für die jugendliche Lernerin zu gelten: „Adult second language learners maintain the ability to pair sounds or gestures with meanings, and they maintain the ability to form complex expressions - at least for a long time. But their ability - and perhaps their willingness - to do this in exactly the same way as is done in the input diminishes over time. […] Age appears to affect the Copying Faculty much more than the Construction Faculty.“ Angesichts der vielen Faktoren, die den natürlichen Spracherwerb beeinflussen, ist es unmöglich, die in den vorangegangenen Abschnitten beschriebenen Unterschiede in der Kopierfähigkeit in einen direkten kausalen Zusammenhang zu einem der vielen Parameter zu bringen, die sich mit dem Alter typischerweise verändern. 13 Stattdessen werde ich einfach von „den Altersfaktoren“ sprechen - einige Kandidaten sind ja aufgezählt worden - und überlegen, welche der untersuchten Eigenschaften diesen Altersfaktoren die größte Angriffsfläche geboten haben. Die beiden untersuchten Lernerinnen unterscheiden sich in manchen Bereichen mehr oder weniger deutlich voneinander, und in anderen überhaupt nicht. Die eingangs zitierte Regel „the younger - the better“ hat sich zumindest bewahrheitet. Gibt es irgendeine Systematik in dem, was Nastja lernt, aber Dascha nicht, bzw. in dem, was sich bei beiden - manchmal mit und manchmal ohne Konsequenzen für den Endstand - auf ganz unterschiedliche Weise entwickelt? In der Literatur mangelt es nicht an Vorschlägen für solche Grenzziehungen. So kommt beispielsweise Schwartz (2003, 46) zu dem Schluss, dass sich das Alter hauptsächlich auf den Erwerb der Flexionsmorphologie auswirkt, während die Syntax weniger berührt ist: „Despite rate differences, children and adults can both acquire (certain) aspects of L2 syntax, but it is generally the children who have an easier task of acquiring inflectional morphology.“ Mit Blick auf die hier präsentierten Ergebnisse ist das nicht ganz falsch und nicht ganz richtig. Bei den untersuchten syntaktischen Eigenschaften - in erster Linie der Zusammenhang von Finitheit und Informationsstruktur - gibt es neben einigen Gemeinsamkeiten durchaus auch Unterschiede in Verlauf und Endstand. So dominiert bei der älteren Lernerin - wie auch bei erwachsenen Lernern - eine der Kommunikationslogik verhaftete Abfolge lange die Wortstellung: Die Negation steht vor ihrem Anwendungsbereich, und es werden so viele Konstituenten topikalisiert, wie es die Informationsstruktur im Kontext nahelegt. Die Wortstellung wird teilweise in 13 Dies kann man letzendlich wohl nur experimentell auseinanderhalten, allerdings ist es dann schwierig, den anscheinend so wichtigen alterstypischen Antrieb zu simulieren. Christine Dimroth 134 Richtung Zielsprache weiterentwickelt, einige kommunikativ nicht besonders relevante oder gar der Intuition zuwiderlaufende Besonderheiten (etwa V2) werden aber von der älteren Lernerin bis zum Schluss nicht konsequent umgesetzt. Die Flexionsmorphologie wird im Vergleich zu erwachsenen Lernern von beiden Lernerinnen erfolgreich gelernt. Auch die ältere Lernerin erwirbt früh viel mehr Formen (Plural, Verbmorphologie) als dies beim ungesteuerten Zweitspracherwerb erwachsener Lerner beobachtet wurde. Es trifft aber zu, dass die jüngere Lernerin hier insgesamt deutlich überlegen ist. Ihr von Beginn an stark inputorientierter Weg führt offensichtlich besser zum Ziel. Beim Erwerb der Adjektivflexion ignoriert die ältere Lernerin den Formenreichtum im Input, während die jüngere Lernerin die Formen imitiert und in freier Variation verwendet. Für die Pluralkennzeichnung kreiert Dascha neue Varianten, wenn sie sie aus kommunikativen Gründen braucht, Nastja zieht es vor, aus dem Input übernommene Singularformen in Pluralkontexten zu verwenden. Beim Erwerb der Verbflexion gehen beide einen ähnlichen Weg. Während Nastja jedoch die zunächst übergeneralisierten Bildungsmuster schließlich zugunsten der zielsprachlichen Ausnahmen aufgibt, ignoriert Dascha manche Bereiche ganz und regularisiert andere, wobei sie wo möglich auf ihr größeres sprachliches Vorwissen zurückgreift. Diese Ergebnisse scheinen mit Resultaten von Birdsong / Flege (2001, 124) übereinzustimmen, die zeigen, dass bei Grammatikalitätsurteilen im Bereich der Flexionsmorphologie besonders unregelmäßige, als Ausnahmen im Lexikon gespeicherte Formen für den Einfluss des Alters anfällig sind: „the Rule-based or regular items […] are less affected by increasing age of arrival than are the irregular items (Lexicals).“ Aber auch diese Unterscheidung stimmt nicht ganz mit unseren Ergebnissen überein. Bei der Verbflexion trifft die Voraussage genau zu: die ältere Lernerin beherrscht die produktiven Bildungen und regularisiert lexikalische Ausnahmen. Ähnliches gilt für ihre Pluralformen, obwohl es da schon schwierig wird, zwischen regelmäßig und unregelmäßig zu unterscheiden. Die Adjektivflexion jedenfalls ist regelmäßig und wird von der älteren Lernerin trotzdem nicht gelernt - wohl weil der Aufwand zu groß und der Nutzen zu klein ist. Ob und wie sich die Altersfaktoren auf den Zweitspracherwerb auswirken, kann also nicht pauschal vorausgesagt werden, sondern muss immer im Hinblick auf den einzelnen Lerngegenstand - als Teil des zielsprachlichen und des lernersprachlichen Systems - spezifiziert werden. Überspitzt kann man festhalten, dass Eigenschaften der zielsprachlichen Grammatik, die häufig, auffällig und kommunikativ relevant, zugleich aber nicht zu komplex und nicht redundant sind, in allen Lebensaltern erworben werden. Bei Eigenschaften hingegen, die selten vorkommen, schwer wahrzunehmen sind, komplexe Formen aufweisen und zusätzlich redundante oder kommunikativ irrelevante Information ausdrücken, können sich auch kleine Unterschiede in den verschiedenen Altersfaktoren auf den Lernerfolg auswirken. Wie sie sich auswirken, d.h. ob bestimmte Merkmale ausgelassen, regularisiert oder irgendwie uminterpretiert werden, hängt sowohl mit der Struktur der Zielsprache als auch mit der Funktionsweise der Lernervarietät selbst zusammen. Was immer gelernt wird, muss ein - wenn auch mit Einschränkungen - funktionstüchtiges Sprachsystem ergeben. Mit einem Lerner, dessen Auswahl nur durch statistische Merkmale des Sprachsignals im Input bestimmt würde, könnten wir nur schwer kommunizieren. In diesem Sinne trifft Dascha keine schlechte Auswahl - Zweitspracherwerb bei Kindern und Jugendlichen: Gemeinsamkeiten und Unterschiede 135 das Problem ist allerdings, dass ihre muttersprachlichen Interaktionspartner die Intuitionen der Lerner über Weglassbares und Lohnenswertes oft nicht zu teilen scheinen. 5. Literaturverzeichnis Ahrenholz, B. (ed.) (2006): Kinder mit Migrationshintergrund. Spracherwerb und Fördermöglichkeiten, Freiburg. Bast, C. (2003): Der Altersfaktor im Zweitspracherwerb. Die Entwicklung der grammatischen Kategorien Numerus, Genus und Kasus in der Nominalphrase im ungesteuerten Zweitspracherwerb des Deutschen bei russischen Lernerinnen. Online-Veröffentlichung: http: / / kups.ub.uni-koeln.de, Universität Köln. Bates, E. / MacWhinney, B. (1989): Functionalism and the Competition Model. In: Bates, E. / MacWhinney, B. (eds.): The Crosslinguistic Study of Sentence Processing, Cambridge, 3-73. Becker, A. 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In Deutsch zwei, in Mathematik habe ich eins bis zwei, eins bis zwei.‘) (Georg Kirillov, 8; 4 2 , zit. nach Meng 2001, 113) Fett sind im genannten Beispiel, das einen der Struktur nach russischen Satz darstellt, alle Wörter, die in irgendeiner Form einen deutschen Einfluss aufweisen: noty existiert im Russischen nur in der Bedeutung ‚Musiknoten‘, die Verwendung als ‚Schulnote‘ geht auf die Vorbildfunktion des entsprechenden deutschen Wortes zurück. In mehreren anderen Fällen verwendet das zitierte Kind ein auch der Form nach deutsches Wort, sei es mit russischer Kasusendung (po deutsch-u) oder ohne (po mathematik). Ein deutsches Wort wird in der Wiederholung des entsprechenden Satzteiles durch ein russisches ersetzt (odin bis dva, odin do dva), das Ergebnis ist dennoch kein russischer Satz, der meždu edinicej i dvojkoj lauten müsste (s. Meng 2001, 113). Ist dies ein typisches Beispiel? Inwieweit treten Sprachmischungen bei bilingualen Kindern auf? Wieviele sind es, wie sind sie beschaffen und wie können sie erklärt werden? Was sagen sie über das Sprachbewusstsein der Kinder aus? Sind zweisprachige Kinder überhaupt in der Lage, ihre beiden Sprachen zu trennen? Diesen Fragen wollen wir in unserem Artikel am Beispiel von bilingualen russischdeutschen Kindern nachgehen. Vorwegnehmend sei gesagt, dass Misch-Sätze wie der angeführte nur unter ganz bestimmten Bedingungen auftreten. Normalerweise sind bilinguale Kinder problemlos dazu in der Lage, ihre Sprachen zu unterscheiden, nur mischen sie sie beim Sprechen aus verschiedenen Gründen gelegentlich. Wichtige Faktoren dabei sind, so werden wir zeigen, das Alter und der Kontakt mit einsprachigen Sprechern der beiden Sprachen. 1 Der vorliegende Artikel entstand im Rahmen des Forschungsprojektes „Aspekt bei bilingualen russisch-deutschen Kindern“, das ein Teilprojekt des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten SFB 441 an der Universität Tübingen ist. 2 Lies: Das Alter des Kindes betrug 8 Jahre und 4 Monate. Tanja Anstatt / Elena Dieser 140 In Abschnitt 2 klären wir zunächst einige grundlegende Begriffe. In Abschnitt 3 werden dann die frühen Phasen des zweisprachigen Spracherwerbs untersucht. Dies geschieht am Beispiel eines Kindes, das von Geburt an mit beiden Sprachen konfrontiert und über einen längeren Zeitraum beobachtet wurde (Langzeitstudie). Die Frage, der wir hier nachgehen, lautet: Ab wann können bilinguale Kinder zwischen ihren beiden Sprachen unterscheiden? In Abschnitt 4 untersuchen wir die Frage, wie sich Kinder verschiedener Altersstufen in Situationen verhalten, in denen Einsprachigkeit gefordert ist, d.h. wenn sie mit einsprachigen Sprechern des Deutschen und solchen des Russischen kommunizieren. Können sich die Kinder den Erfordernissen der Situation anpassen oder kommt es in diesen Situationen zu Mischungen? Wie unterscheiden sich Kinder verschiedener Altersstufen in dieser Hinsicht? Untersucht werden in Abschnitt 4 insgesamt 11 Kinder im Alter von 3, 5 und 9 Jahren, die je einmal im Gespräch mit einsprachigen Untersuchungsleiterinnen aufgezeichnet wurden (Querschnittstudien). 2. Grundlegendes zum mehrsprachigen Spracherwerb 2.1. Typen von bilingualem Spracherwerb bei Kindern Die Kinder, die wir in den Abschnitten 3 und 4 untersuchen, wachsen unter relativ ähnlichen Bedingungen auf: Sie sind fast alle in Deutschland geboren (zwei kamen als sehr kleine Kinder, eines als 5jähriges Kind), und sie haben fast alle zwei russischsprachige Eltern (zwei haben einen deutschen Vater). Auch bei solchen Ähnlichkeiten ist zweisprachiger Spracherwerb jedoch immer noch eine hochgradig individuelle Entwicklung. Es spielen viele Faktoren eine Rolle, die nur schwer kalkulierbar sind, z.B. das sprachliche Verhalten der Eltern, die Einstellung, die sie dem Kind vermitteln, die Intensität des Kontaktes mit beiden Sprachen oder die individuellen Begabungen des Kindes. Neben diesen schwer bestimmbaren Faktoren gibt es aber auch solche, die sich einfacher erfassen lassen und die daher üblicherweise zur Unterscheidung einiger grundlegenden Typen von zweisprachigem Spracherwerb herangezogen werden (Romaine 1996, Hoffmann 1991). Der erste Faktor ist das Alter, in dem der Kontakt mit der zweiten Sprache beginnt (s. dazu auch Meisel und Dimroth, beide in diesem Band). • Wenn der regelmäßige Input in beiden Sprachen vor dem Alter von 3 Jahren beginnt, sprechen wir von doppeltem Erstspracherwerb (2L1 3 ). • Beginnt der Kontakt mit der zweiten Sprache nach dem 3. Geburtstag, bezeichnen wir dies als sukzessiven kindlichen Zweitspracherwerb (cL2). 4 3 Das L steht dabei für „language“. 4 Es muss ergänzt werden, dass die relevante Altersgrenze umstritten ist. Die genannte Darstellung entspricht der bei McLaughlin (1984, 73); für de Houwer (1990, 3) muss ein täglicher Input in beiden Sprachen spätestens einen Monat nach der Geburt einsetzen, um vom bilingualen Erstspracherwerb sprechen zu können, damit der Unterschied zum monolingualen Erstspracherwerb tatsächlich minimal ist. Sprachmischung und Sprachtrennung bei zweisprachigen Kindern 141 • Ab einem Alter von etwa 10 Jahren beginnt der sogenannte erwachsene Zweitspracherwerb (aL2). 5 Der zweite relativ gut klassifizierbare Faktor ist die Art der Vermittlung der zwei Sprachen (ausführlich hierzu z.B. Romaine 1996, 183-240). Hiernach lassen sich einige Typen unterschieden, die aber oft nicht ganz klar zu trennen sind, sondern sich überlappen: • Als one person - one language wird eine Situation bezeichnet, in der die Eltern unterschiedliche Muttersprachen haben und jedes Elternteil mit dem Kind in seiner Muttersprache spricht. Meist geht es hier um binationale Ehen. • Wird zuhause die eine Sprache, außerhalb die andere gesprochen, so wird die Sprachsituation home language - environment language (Familiensprache - Umgebungssprache) genannt. Die Eltern haben dabei meist dieselbe Muttersprache, in der sie immer mit dem Kind sprechen. Gleichzeitig ist die Umgebungssprache nicht die Muttersprache der Eltern; die Kinder kommen daher mit der Umgebungssprache oft erst ab dem Eintritt in den Kindergarten in Kontakt. • Beim situativen Sprachgebrauch treten die Eltern des Kindes von Anfang an ihrerseits als bilinguale Personen auf und gebrauchen beide Sprachen dem Kind gegenüber abwechselnd je nach Situation, d.h. nach Umgebungsfaktoren, aber ohne die Sprachen innerhalb eines Gesprächs zu mischen. Das Kind erhält dabei gleichzeitig ein Vorbild für die Regeln des Code-Switching. In der Realität lässt sich dieser Typ allerdings oft nicht scharf von den beiden ersten abgrenzen. • Bei der Verwendung von mixed languages (gemischten Sprachen) folgt der Sprachgebrauch der Eltern anders als beim situativen Sprachgebrauch weniger Umgebungsfaktoren, sondern eher spontanen Bedürfnissen. Charakteristisch ist hierbei insbesondere, dass auch innerhalb einer Äußerung gemischt wird. Der Typ one person - one language ist zwar nicht der am häufigsten vorkommende, aber der am besten erforschte (Taeschner 1983, de Houwer 1990, Döpke 1992 u.a.). 6 Situativer Sprachgebrauch und gemischte Sprachen sind dagegen die verbreitetsten und paradoxerweise gleichzeitig die am wenigsten erforschten Typen. In der Forschungsliteratur werden situativer Sprachgebrauch und gemischte Sprachen gewöhnlich nicht unterschieden, sondern beide als mixed languages zusammengefasst und eher negativ bewertet: Es wird angenommen, dass die inkonsequente Trennung der beiden Sprachen im Input zu einer Verzögerung des Spracherwerbs oder sogar zu einem unvollkommenen Erwerb der beiden Sprachen führen kann. Wir möchten 5 Wie bei der Abgrenzung nach unten ist auch die Grenze zum erwachsenen Zweitspracherwerb unklar; das Ende der kritischen Periode ist vermutlich ein langandauernder Prozess (s. Meisel 2004, 103ff.), der bereits mit etwa fünf Jahren beginnt und für den Erwerb verschiedener sprachlicher Bereiche (wie Syntax, Laut- oder Wortschatzerwerb) auch unterschiedlich verlaufen kann. 6 Die Ursache hierfür liegt darin, dass die meisten Arbeiten über zweisprachigen Spracherwerb am Beispiel der eigenen Kinder der Autoren geschrieben wurden, die meist annahmen, dass eine Trennung nach Personen den Kindern den bilingualen Spracherwerb erleichtert. Tanja Anstatt / Elena Dieser 142 aber unterstreichen, dass es zwischen situativem Sprachgebrauch und gemischter Sprache wichtige Unterschiede gibt: Der situative Sprachgebrauch folgt auf Umgebungsfaktoren beruhenden Regeln, die Verwendung von gemischter Sprache dagegen nicht. Genau die Existenz von Regeln ist aber für Kinder entscheidend. 2.2. Sprachmischung In den letzten Jahren ist ein gewisser Bewusstseinswandel in der linguistischen Forschung eingetreten: Sprachmischung wird nicht mehr als etwas per se Schlechtes angesehen. Vielmehr ist dies ein für zwei- oder mehrsprachige Personen vollkommen normales Verhalten (Muysken 2004, Grosjean 2001, speziell zu Kindern s. Tracy 2000); der Wechsel zwischen zwei Sprachen stellt sogar eine ganz besondere Kompetenz von mehrsprachigen Personen dar. Im Zusammenhang damit setzt sich auch zunehmend die Ansicht durch, dass bilinguale Kompetenz etwas anderes ist als einfach nur doppelte Einsprachigkeit - es handelt sich hier um eine ganz spezielle sprachliche Konfiguration. Die beiden Sprachen von Bilingualen sind z.B. nur selten vollkommen ausgewogen; es ist normal, dass eine der beiden Sprachen stärker ist oder aber dass die Sprachen je nach Lebensbereichen unterschiedlich ausgeprägt sind. Und: bilingualen Personen stehen Sprechstrategien zur Verfügung, die Monolinguale nicht haben, nämlich eben der Wechsel zwischen ihren beiden Sprachen, der eine spezifische Fähigkeit darstellt (Hoffmann 1991, Grosjean 2001, Meisel 2004). Auch wenn sich zwei mehrsprachige Personen unterhalten, die z.B. beide russisch und deutsch sprechen, werden sie normalerweise für das jeweilige Gespräch eine ihrer beiden Sprachen als die im Moment grundlegende wählen. Diese Sprache wird Matrix-Sprache genannt. Wenn in Äußerungen in der Matrix-Sprache, z.B. das Russische, Wörter aus der anderen gemeinsamen Sprache eingefügt werden, wird diese (im genannten Fall das Deutsche) als eingebettete Sprache bezeichnet (Myers- Scotton 1993). Welche Arten der Sprachmischung gibt es? In der Forschung werden verschiedene Phänomene unterschieden, deren klare Definition aber problematisch ist und die in jüngerer Zeit stark diskutiert werden. Ein Problem besteht auch darin, dass die terminologischen Festlegungen überwiegend in Bezug auf die Erwachsenensprache getroffen werden. Für Kinder können aber ganz andere Merkmale relevant sein als für Erwachsene. Im vorliegenden Artikel verwenden wir die folgenden Termini: • Sprachmischung wird als Oberbegriff für alle Fälle verwendet, wo Elemente beider Sprachen nebeneinander auftreten (diese Verwendung entspricht dem Terminus Language-Mixing bei Meisel 1994). Sie kann pragmatisch angemessen oder unangemessen sein. • Pragmatisch angemessene Sprachmischung liegt dann vor, wenn sie für den Gesprächspartner akzeptabel ist; Voraussetzung ist also, dass der Gesprächspartner die Sprachmischung verstehen kann. Pragmatisch angemessene Sprachmischung lässt sich in zwei Phänomene untergliedern: - Code-Switching ist ein Wechsel der Matrix-Sprache. Dieser Wechsel kann das ganze weitere Gespräch betreffen oder auch nur für einen kurzen Äußerungsteil erfolgen, der aber ein Mindestmaß an grammatischer Struktur aufweisen und somit mindestens aus zwei Einheiten bestehen muss. Sprachmischung und Sprachtrennung bei zweisprachigen Kindern 143 - Entlehnung ist das Einfügen eines einzigen Elementes in die Matrix-Sprache. • Pragmatisch nicht angemessene Sprachmischung bezeichnen wir als Code- Mixing (s. Köppe 1997). Hier ist entscheidend, dass von Sprache A in Sprache B gewechselt wird, obwohl der Gesprächspartner Sprache B nicht versteht oder bekannt ist, dass er einen Wechsel nicht akzeptiert. Neben den genannten Phänomenen der Sprachmischung gibt es auch Interferenzen. Damit sind Einflüsse von Sprache A auf Sprache B gemeint, die auf der Ebene der Sprachstruktur angesiedelt sind, d.h. sie schlagen sich nicht unbedingt materiell, also in Form von Wörtern oder Wortteilen nieder. Eine typische Interferenz wäre etwa im oben genannten Beispiel (1) odin do dva ‚eins bis zwei‘ - dies ist eine syntaktische Struktur, die im Russischen in dieser Bedeutung nicht existiert, sondern hier mit russischen Wörtern einer deutschen Struktur nachgebildet wurde. Interferenzen werden in diesem Artikel nicht behandelt (zu deutschen Interferenzen im Russischen bilingualer Sprecher s. Brehmer in diesem Band). Bei der Betrachtung der Fähigkeit zur Sprachtrennung müssen zwei verschiedene Aspekte voneinander getrennt werden. Bei einem Kind kann Sprachmischung einerseits auftreten, da es noch kein Wissen darüber hat, dass es zwei verschiedene Sprachen verwendet. In diesem Fall geht es um fehlende Sprachdifferenzierung. Wenn das Kind dieses Bewusstsein schon hat, aber noch nicht in der Lage ist, tatsächlich konsequent nur eine Sprache zu verwenden, fehlt die Fähigkeit zur Sprachseparierung (language differentiation vs. language separation, s. Köppe 1997, 7). Die meisten älteren Studien zum bilingualen Erstspracherwerb sind sich darin einig, dass alle bilingualen Kinder die beiden Sprachen zu Beginn des Spracherwerbs als ein System behandeln, also noch nicht zur Sprachdifferenzierung in der Lage sind; diese Annahme wird mit dem Schlagwort Ein-System-Hypothese charakterisiert. Erst langsam werden laut den Anhängern der Ein-System-Hypothese zwei getrennte sprachliche Systeme entwickelt (vgl. z.B. Volterra / Taeschner 1978), und mit etwa 3 Jahren sind die beiden Sprachen lexikalisch und syntaktisch getrennt. Nach der entgegengesetzten Hypothese, die als Zwei-System-Hypothese bezeichnet wird und in der jüngeren Zeit allgemein als die favorisierte gilt, sind die Kinder bereits ab einer sehr frühen Phase des Spracherwerbs (spätestens mit 2 Jahren) in der Lage, zwischen zwei sprachlichen Systemen zu unterscheiden (vgl. z.B. Meisel 2004, de Houwer 1990, Genesee 1989). Dass zu Beginn des Spracherwerbs bei bilingualen Kindern mehr Mischungen vorkommen als später, bestreiten die Anhänger dieser Hypothese nicht. Vielmehr interpretieren sie diese häufigen Mischung als erste Versuche des Sprachwechsels, dessen pragmatische und grammatische Regeln allerdings noch nicht erworben sind (vgl. Köppe 1997, Hoffmann 1991, 103). Der folgende Abschnitt befasst sich nun mit genau diesen Fragen - nämlich dem Beginn des bilingualen Spracherwerbs und der Frage, ab wann zweisprachige Kinder ihre beiden Sprachen im Sinne von Sprachdifferenzierung trennen können und wie man dies feststellen kann - am Beispiel eines bilingual russisch-deutschen Jungen. Tanja Anstatt / Elena Dieser 144 3. Sprachdifferenzierung und Sprachseparierung zu Beginn des bilingualen Spracherwerbs - Ergebnisse einer Fallstudie 7 3.1. Daten Die hier vorgestellte Untersuchung basiert auf einer Langzeitstudie, die den Spracherwerb des bilingualen Jungen Alex seit seiner Geburt dokumentiert. Zu der Sprachentwicklung des Kindes wurden Daten in Form von monatlichen Videoaufnahmen erhoben, während derer das Kind mit verschiedenen ein- und zweisprachigen Personen interagierte. Daneben stehen umfangreiche Tagebuchnotizen zur Verfügung. Für die vorliegende Untersuchung wurden Transkriptionen von 16 Videoaufnahmen von 2; 3 bis 2; 10 sowie die entsprechenden Tagebuchnotizen ausgewertet - in diesem Altersabschnitt vollzogen sich beim Kind die wichtigsten Veränderungen in Bezug auf den Anteil der Sprachmischungen und die Sprachtrennung. 8 Das Kind lebt seit seiner Geburt in Deutschland. Die Erstsprache der beiden Eltern ist Russisch; Alex ist ein Einzelkind. Wenn die Eltern mit dem Jungen alleine sind, sprechen sie mit ihm (ebenso wie untereinander) russisch; das gleiche gilt, wenn andere russischsprachige Personen anwesend sind. Sind dagegen deutschsprachige Personen anwesend (was häufig der Fall ist), so sprechen die Eltern deutsch mit dem Kind. Insgesamt erhielt der Junge im fraglichen Zeitraum ca. zwei Drittel russischen Input durch Eltern (und Großeltern) und ein Drittel deutschen Input (durch Eltern und Freunde). Mit dem Eintritt in den Kindergarten im Alter von 2; 9 verschob sich das Verhältnis: Die Anteile des Inputs in den beiden Sprachen waren ab dann ungefähr gleich. 9 Der Erwerbstyp von Alex folgt also dem Modell des situativen Sprachgebrauchs, und genau hierin liegt auch die Besonderheit dieser Studie. Wie verläuft bei diesem Jungen die Sprachentrennung und ist sie für ihn schwieriger durchzuführen als für Kinder, die Input nach dem Modell one person - one language erhalten? Welche Hinweise auf Sprachmischung und -trennung finden wir in der Sprache von Alex in den frühen Entwicklungsphasen? 3.2. Frühe Sprachrezeption Bevor es darum geht, wie die Sprachproduktion von Alex aussah, wollen wir zunächst einen Blick auf die rezeptiven Fähigkeiten werfen, d.h. auf sein Sprachverstehen, das der Sprachproduktion vorausging. Das Akzeptieren von Äquivalenten 10 stellt eine wichtige Grundlage für die Sprachdifferenzierung dar. Mit Alex wurden immer wieder kleine Tests durchgeführt, in denen er auf Wörter aus beiden Sprachen entsprechend reagieren musste (durch Zeigen der benannten Dinge usw.). Bereits bei der Durchführung des ersten Tests im Alter von 1; 1 reagierte das Kind angemessen auf die beiden Sprachen und hatte offenkundig keine Probleme damit zu akzeptieren, dass dieselben Dinge zwei verschiedene Bezeichnungen haben. So 7 Die in diesem Abschnitt vorgestellten Ergebnisse stützen sich auf Dieser (im Druck). 8 Insgesamt wurden zu dem Kind von Geburt an bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt (Alter des Kindes ist jetzt 6; 1) 260 Videoaufnahmen von jeweils ca. 60 Minuten angefertigt, es wurde jedoch für die vorliegende Studie nur ein Teil ausgewertet. 9 Ausgenommen sind einige Aufenthalte in russischsprachigen Ländern. 10 Unter Äquivalenten verstehen wir hier und im Weiteren Wörter mit derselben Bedeutung in beiden Sprachen. Sprachmischung und Sprachtrennung bei zweisprachigen Kindern 145 wurde der Junge z.B. im Alter von 1; 2 zuerst von der Mutter auf Deutsch, danach von dem Vater auf Russisch darum gebeten, eine Maus und einen Elefanten in einem Bilderbuch zu zeigen; das Kind bewältigte diese und viele weitere Aufgaben ohne Schwierigkeiten. In der weiteren Entwicklung konnte das Kind zu allen deutschen Wörtern, die es bis zum Alter von ca. 2 Jahren passiv erworben hatte, auch das russische Äquivalent verstehen. Dies galt allerdings nicht umgekehrt, da sein deutscher Wortschatz kleiner war: Die im Alter von 1; 6, 1; 9 und 2; 0 durchgeführten Tests zeigten, dass der passive Wortschatz des Kindes ca. zu zwei Dritteln aus russischen Wörtern und zu einem Drittel aus deutschen Wörtern bestand. Das entsprach ungefähr der Verteilung des sprachlichen Inputs. 3.3. Ein-Wort-Phase (ca. 1; 2 - 2; 2) 11 Von 1; 2 bis 2; 2 in der Ein-Wort-Phase erwarb Alex seine ersten zielsprachlichen Wörter (im Unterschied zu den Proto-Wörtern der Lallphase); dies waren insgesamt 18 verschiedene Wörter. Bemerkenswert dabei ist, dass er in dieser Zeit keine Äquivalente verwendete; in dieser Phase erwarb das Kind also für einen Sachverhalt oder einen Gegenstand aktiv jeweils entweder ein russisches oder ein deutsches Wort. Die jeweiligen Äquivalente, also die russischen bzw. deutschen Entsprechungen zu diesen Wörtern, traten erheblich später auf, mit einem Abstand von zwischen fünf Monaten und anderthalb Jahren. Hiervon waren sogar die Bezeichnungen für ‚ja‘ und ‚nein‘ betroffen: ‚Ja‘ sagte das Kind fünf Monate lang nur auf Russisch, ‚nein‘ fünf Monate lang stets auf Deutsch. Das deutsche Auto trat im Alter von 1; 8 auf, das russische Äquivalent mašina ist erstmals mit 2; 9 belegt, also ein Jahr später. Die Frage der Äquivalente spielte in der Diskussion um die oben erwähnte Ein-System- Hypothese eine wichtige Rolle, da sich diese Hypothese besonders auf die Beobachtung stützte, dass das untersuchte Kind ebenfalls zu Beginn keine Äquivalente verwendete (Volterra / Taeschner 1978). Daraus wurde der Schluss gezogen, dass die Kinder die Wörter als zu einem gemeinsamen System gehörig betrachteten. Spätere Untersuchungen mit anderen Kindern kamen hingegen zu anderen Ergebnissen (vgl. z.B. Quay 1995). Eine Übersicht zum Auftreten der Äquivalente zu den 18 Wörtern der Ein-Wort- Phase gibt Tabelle 1: In der ersten Spalte sind die erworbenen Wörter in der Reihenfolge ihres Erscheinens aufgelistet (deutsche Wörter sind dabei in Kapitälchen dargestellt, russische in Fettschrift, nicht markierte können beiden Sprachen angehören). Die zweite Spalte nennt das Alter des Kindes, in dem das Wort zum ersten Mal auftrat. In der dritten und vierten Spalte ist angegeben, wann zu den erstgenannten Wörtern Äquivalente in der jeweils anderen Sprache auftraten und um welches Äquivalent es sich handelte; in der fünften Spalte schließlich ist der zeitliche Abstand zwischen dem ersten Auftreten des Wortes und dem seines Äquivalentes verzeichnet. 11 Zur zeitlichen Untergliederung verwenden wir hier Etappen der syntaktischen Entwicklung, wie es sich in der Spracherwerbsforschung eingebürgert hat. Mit „Ein-Wort-Phase“ ist dabei die Zeit gemeint, in der das Kind ausschließlich Äußerungen produziert, die nur aus einem Wort bestehen; in der „Zwei-Wort-Phase“ bzw. in der „Drei- und Vier-Wort-Phase“ kann das Kind Proto-Sätze aus zwei bzw. drei oder vier Wörter bilden. Tanja Anstatt / Elena Dieser 146 Tab. 1: Erste Wörter von Alex (von 1; 2 bis 2; 2) und Erscheinen ihrer Äquivalente Erworbenes Wort Alter beim ersten Auftreten Erstbeleg des Äquivalentes Äquivalent Zeitlicher Abstand in Jahren; Monaten mama ca. 1; 2 — (identisch) papa ca. 1; 4 — (identisch) AUA 1; 5 2; 10 bol’no 1; 4 AUTO 1; 8 2; 9 maši(n)ka 1; 0 njam-njam 12 1; 9 — — — baba 1; 10 2; 8 OMA 0; 9 djadja 1; 10 2; 9 MANN 0; 10 WAU-WAU 1; 11 — — — DA 2; 0 2; 8 tam 0; 8 ba-ba(ch) 13 2; 0 — — — (H)ALLO 2; 0 3; 0 privet 0; 11 HEISS 2; 1 2; 9 gorjačij 0; 8 Antocha 14 2; 1 — — — kartocha 15 2; 1 2; 8 KARTOFFEL 0; 6 ucho 2; 2 2; 11 OHR 0; 8 NEI(N) 2; 2 2; 7 NET 0: 5 AUCH 2; 2 2; 10 tože 0; 8 da 2; 2 2; 7 JA 0; 5 tjotja 2; 2 2; 10 FRAU 0; 9 Während des ganzen Einwortstadiums verwendete das Kind also (im Unterschied zu den in der neueren Literatur zitierten Kindern mit Input des Typs one person - one language) keine Äquivalente. Erstaunlich ist dabei zum einen, dass im frühen aktiven Wortschatz von Alex genau so viele deutsche wie russische Wörter vorkommen. Zum anderen ist bemerkenswert, dass auch zu den frühen deutschen Wörtern des Kindes sehr lange keine russischen Äquivalente auftraten, obwohl mit Alex häufiger russisch gesprochen wurde. Die Vermeidung von Äquivalenten kann nun nicht nur mit der Ein-System-Hypothese erklärt werden, sondern auch mit einem anderen Ansatz: Nicht nur bilinguale, sondern auch monolinguale Kinder vermeiden im frühen Spracherwerb Synonyme. Der Grund dafür ist, dass die Kinder mit ihren noch begrenzten Kapazitäten haushalten; die Verwendung von zwei Formen für eine Funktion würde unnötigen Verarbeitungsaufwand bedeuten (Kontrast-Prinzip, Clark 1987; zum Kontrast- Prinzip bei bilingualen Kindern s. Van der Linden 2000, die auch auf große individuelle Unterschiede beim frühen Auftreten von Äquivalenten hinweist). Welches der beiden zur Auswahl stehenden Äquivalente Alex verwendet, wird u.a. von lautlichen Eigenschaften bestimmt: Es ist auffällig, dass viele seiner frühen 12 Kindersprachliche Form für ‚essen‘, russisch oder deutsch. 13 Russische ammensprachliche Form für ‚heruntergefallen‘. 14 Russische umgangssprachliche Variante zum Vornamen Antoshka, sie kam aber im Input nicht vor, sondern wurde in diesem Fall vom Kind aus lautlichen Gründen selbst eingeführt. 15 Umgangssprachliche Variante zur standardsprachlichen Form kartoshka, hier aber vom Kind selbst eingeführt. Sprachmischung und Sprachtrennung bei zweisprachigen Kindern 147 Wörter, und zwar sowohl der deutschen als auch der russischen, bestimmte lautliche Bestandteile enthalten, die von dem Jungen bereits in der Lallphase häufig artikuliert worden waren und die für ihn somit einfacher auszusprechen waren. Zu den bevorzugten Lauten gehören z.B. [au], [ai] und der Rachen-Reibelaut [x]. 3.4. Zwei-Wort-Phase (ca. 2; 2 - 2; 9) Zu Beginn der Zwei-Wort-Phase ist ein sprunghaftes Anwachsen des Wortschatzes zu verzeichnen; in den zwei Monaten von 2; 2 bis 2; 4 erwarb Alex 46 weitere Wörter, davon 20 deutsche, 19 russische und sieben, die beiden Sprachen angehören können (v.a. Vornamen). Äquivalente traten jedoch zunächst weiterhin nicht auf. Wie oben dargestellt, ist Alex aber durchaus dazu in der Lage, Äquivalente zu verstehen. Ein Beispiel dafür wird unter (2) gegeben, das gleichzeitig ein Lieblingsspiel des Kindes in dieser Zeit repräsentiert, nämlich das „Übersetzen“ aus dem passiven Wortschatz in den aktiven. Die Großmutter bittet Alex, bestimmte Wörter auf Russisch zu wiederholen; diese gehören aber zu dem Zeitpunkt nur zu seinem passiven, nicht aber zu seinem aktiven Wortschatz. Alex wiederholt sie also auf Deutsch, oder er nennt Wörter aus seinem aktiven Wortschatz, die er zu den genannten russischen Wörtern assoziiert: (2) Alex (2; 3.24) Erw.: skaži „dym“. ‚Sag „Rauch“.‘ Kind: heiß. Erw.: skaži „golova“. ‚Sag „Kopf“.‘ Kind: Kopf. Die ersten Äquivalente, die russischen Entsprechungen zu den deutschen Substantiven Fuß und Kopf, traten im Alter von 2; 4 auf, etwa zur selben Zeit, als Alex die Grenze von 50 aktiven Wörtern überschritt. Einen deutlichen Hinweis auf die Fähigkeit von Alex zur Sprachtrennung liefert uns jedoch in dieser Phase ein anderer Umstand, nämlich derjenige, dass seine Äußerungen je nach Gesprächspartner einen unterschiedlichen Anteil von Mischungen enthielten. Wenn Alex sich mit fremden deutschsprachigen Personen auf Deutsch unterhielt, betrug der Anteil der deutschen Wörter ca. 80-90%, der Anteil der russischen Wörter lag entsprechend bei unter 20%, gelegentlich war er noch weit niedriger. Dies ist insofern besonders interessant, als das Kind in diesem Alter noch fast keine Äquivalente verwendete, es hatte ja mit ihrem aktiven Gebrauch gerade erst angefangen. In einer per Video dokumentierten Sprachprobe mit einem monolingualen Sprecher des Deutschen, durchgeführt im Alter von 2; 5, gebrauchte Alex insgesamt 67 deutsche Wörter (bzw. Wörter, die beiden Sprachen angehören können) 16 und nur einmal ein russisches Wort; der Anteil des Russischen liegt hier also bei unter 2%. Sachverhalte, für die Alex nur ein russisches Wort aktiv beherrschte, wurden in diesem Fall von ihm einfach nicht benannt. In Gesprächen mit seinen Eltern - sowohl in Gesprächen, in denen die Eltern mit ihm russisch sprachen, als 16 Gemeint sind tokens, es sind also auch mehrfache Auftreten desselben Wortes einzeln gezählt. Tanja Anstatt / Elena Dieser 148 auch in solchen, in denen sie mit dem Kind deutsch redeten - war Alex’ Anteil an deutschen und russischen Wörtern hingegen jeweils ungefähr gleich. Der unterschiedliche Anteil an Sprachmischungen je nach Gesprächspartner zeigt, dass das Kind seine Sprachmischungen kontrollieren konnte und somit die beiden Sprachen eindeutig zu differenzieren vermochte. Von einem hohen Anteil an Sprachmischungen bei kleinen Kindern darf also keine Schlussfolgerung auf eine fehlende Sprachdifferenzierung gezogen werden. Ein rasanter Anstieg an Äquivalenten ist ab 2; 7-2; 8 zu verzeichnen. Zu den meisten Wörtern, die ab dieser Zeit erworben werden, treten die Äquivalente höchstens einen Monat später auf; in vielen Fällen kommen beide Äquivalente mit einem zeitlichen Abstand von nur einigen Tagen vor, einige Äquivalente werden sogar am selben Tag zum ersten Mal verwendet. Alex übersetzt jetzt gerne einzelne Wörter sowohl aus dem Russischen ins Deutsche als auch umgekehrt. Der Anteil der Wörter aus der jeweils anderen Sprache im Gespräch mit bilingualen Gesprächspartnern, v.a. den Eltern, beginnt nun langsam zu sinken, er liegt aber in auf Deutsch geführten Gesprächen immer noch bei ca. 10 bis 15%, in Gesprächen auf Russisch sogar bei ca. 25 bis 40% (Details s. Dieser im Druck). In dieser Phase kommt es oft zu satzinternen Mischungen, vgl. Bsp. (3): (3) Alex (2; 8.16) Kind: auch knižka. ‚auch Buch.‘ Mutter: vot ė to čto? ‚was ist das? ‘ Kind: ein … tort. ‚ein Torte.‘ Mutter: a ė to kto? ‚und wer ist das? ‘ Kind: ein zajčik. ‚ein Häschen.‘ Auffällig ist, dass die meisten der vom Kind verwendeten Funktionswörter aus dem Deutschen stammten (auch, nein, da, ein). Das Kind bevorzugte in dieser Phase ein bestimmtes Schema: An erster Stelle des Satzes finden wir ein deutsches Funktionswort oder einen Eigennamen, an zweiter Stelle ein russisches oder deutsches Inhaltswort, wobei sich bei Letzterem die Sprache überwiegend nach dem Gesprächspartner richtete. Auch diese Mischungen können als Entlastungsstrategie interpretiert werden: Wie Elsen (1999) nachweist, verwenden auch monolinguale Kinder Schemas, d.h. wiederkehrende Satzmuster mit festen Bestandteilen, zur Schonung der Verarbeitungskapazitäten. Dieselbe Strategie verwendet auch Alex. 3.5. Drei- und Vier-Wort-Phase (ab 2; 8 - 2; 9) Mit etwa 2; 8, gleichzeitig mit dem Übergang zur Drei- und Vier-Wort-Phase, lassen sich immer häufiger Fälle von Selbstkorrektur beobachten. Sie traten besonders dann auf, wenn das Kind während der Konversation mit einer monolingual deutschsprachigen Person ein oder mehrere russische Wörter verwendet hatte: Sprachmischung und Sprachtrennung bei zweisprachigen Kindern 149 (4) Alex (2; 8.0) Erw.: und wohin gehst du heute Abend? Kind: k babe s dedom Oma Opa. zu Oma und Opa Oma Opa. Mit 2; 8 verbrachte das Kind mit seinen Eltern drei Wochen in einer monolingual russischsprachigen Umgebung. Während und nach diesem Aufenthalt entwickelte sich sein Russisch rapide: Der Junge erwarb viele neue russische Wörter, darunter auch die russischen Äquivalente zu seinen deutschen „Lieblingswörtern“ (vgl. Tabelle 1) sowie russische Funktionswörter, und er begann im Russischen längere Sätze zu bilden. Ab 2; 10 ging auch der Anteil an Sprachmischungen in Gesprächen mit bilingualen Personen, d.h. wiederum insbesondere mit seinen Eltern, stark zurück. In der mit 2; 10.7 17 erhobenen Sprachprobe mit seiner Mutter als Gesprächspartnerin liegt der Anteil der Mischungen in der deutschen Aufnahme bei 5%, in der russischen bei 4% der tokens. Diagramm 1 gibt einen Überblick über das Verhältnis des Wortschatzwachstums insgesamt zu der Entwicklung von Wörtern mit Äquivalenten zwischen dem Alter von 1; 10 und 2; 9. Es wird zum einen deutlich, dass die zu Beginn etwas verzögerte lexikalische Entwicklung während der zweiten Hälfte des dritten Lebensjahres vom Kind rasant nachgeholt wird. Zum anderen zeigt die Kurve deutlich, dass mit dem starken Anwachsen des Wortschatzes insgesamt auch die Anzahl der Wörter mit Äquivalenten sprunghaft zunimmt. Diagramm 2 stellt das Verhältnis von russischem zu deutschem Wortschatzwachstum dar: Die Entwicklung verlief quantitativ gesehen in beiden Sprachen sehr gleichmäßig. Diagramm 1: Verhältnis des Wortschatzes insgesamt zu Wörtern mit Äquivalenten 0 50 100 150 200 250 300 350 400 450 1; 10 1; 11 2; 0 2; 1 2; 2 2; 3 2; 4 2; 5 2; 6 2; 7 2; 8 2; 9 Alte r Anzahl der Wörter Wortschatz insgesamt Wörter mit Äquivalenten 17 Lies: im Alter von 2 Jahren, 10 Monaten und 7 Tagen. Tanja Anstatt / Elena Dieser 150 Diagramm 2: Wortschatzwachstum im Russischen und im Deutschen 0 50 100 150 200 250 1; 10 1; 11 2; 0 2; 1 2; 2 2; 3 2; 4 2; 5 2; 6 2; 7 2; 8 2; 9 Alter Anzahl der Wörter Wortschatzw achstum im Russischen Wortschatzw achstum im Deutschen 3.6. Weitere Entwicklung und Schlussfolgerungen Ab dem Alter von etwa 3 Jahren versuchte das Kind Sprachmischungen konsequent zu vermeiden. Ein relativ hoher Anteil von Mischungen (ca. 30%) und häufigeres Code-Switching ließ sich jedoch in diesem Alter noch in Selbstgesprächen beobachten, die Alex mit sich führte, während er alleine spielte. In diesem Typ der Sprachproduktion gingen Sprachmischungen bis zum Alter von 3; 6 zurück. Insgesamt lässt sich für den Rückgang von Sprachmischungen bzw. die Zunahme von Sprachseparierung diese Reihenfolge beobachten: 1. in Gesprächen mit monolingualen Personen; 2. in Gesprächen mit bilingualen Personen (v.a. mit den Eltern); 3. in Selbstgesprächen. Diese Reihenfolge ist dadurch zu erklären, dass die Unterdrückung der Nicht-Matrix-Sprache zunächst noch erheblichen kognitiven Aufwand erfordert und nur dann erfolgt, wenn es unbedingt notwendig ist: Die Sprachtrennung erfordert ein hohes Maß an Selbstkontrolle, das das Kind nur aufbringt, wenn sonst der Erfolg der Kommunikation gefährdet ist. Zudem ist zu Beginn von Alex’ Spracherwerb das Durchhalten der Sprachtrennung auch dadurch erschwert, dass in seinem aktiven Wortschatz über längere Zeit keine Äquivalente zur Verfügung stehen, er also nicht alle Sachverhalte, für die ihm Wörter zur Verfügung stehen, auch in beiden Sprachen benennen kann. Mit zunehmender Übung und steigendem Anteil an Äquivalenten wird Sprachtrennung auch dann durchgeführt, wenn der Gesprächspartner beide Sprachen versteht; das Kind beginnt sich nach den für die jeweilige Situation geltenden Absprachen zu richten. In den kindlichen Monologen wurde die Sprach- Sprachmischung und Sprachtrennung bei zweisprachigen Kindern 151 separierung erst dann durchgeführt, als sie zur Routine geworden war und bereits viele Äquivalente erworben waren. Die Daten zur Sprachmischung und Sprachtrennung des untersuchten Kindes zeigen also, dass die Sprachdifferenzierung nachweislich ab spätestens 2; 4 gegeben war. Die Sprachseparierung erfolgte jedoch nicht sofort in allen Situationen, sondern gestuft. Das Kind stand bei seinem Spracherwerb vor zwei Aufgaben: es musste einerseits vom Interaktionspartner abhängige Regeln des Sprachwechsels erwerben, zum anderen waren situationsabhängige Regeln zu erlernen. Die personengebundenen Regeln waren für das Kind leichter zu durchschauen: Die Reduktion von Mischungen erfolgte zuerst bei Unterhaltungen mit monolingualen Gesprächspartnern. Der Umstand, dass sich das Kind regelmäßig in der Situation sah, mit monolingualen deutschsprachigen Personen nur auf Deutsch kommunizieren zu müssen, ist auch die Hauptursache dafür, dass der Erwerb des deutschen Lexikons ebenso schnell voranging wie der Erwerb des russischen Lexikons, zum Teil sogar schneller, obwohl der passive Wortschatz im Russischen größer war. Die Tatsache, dass die personengebundenen Regeln für Kinder leichter zu durchschauen sind, erklärt, warum Sprachseparierung bei bilingualen Kindern, deren Input dem Typ one person - one language folgt, schneller stattfindet als bei bilingualen Kindern mit Input nach dem Typ situativer Sprachgebrauch, dessen Regeln komplizierter sind. Nachdem das hier untersuchte Kind diese Regeln erworben hatte, hielt es sie jedoch strikt ein und pochte schließlich geradezu auf ihre Anwendung. 4. Sprachmischungen bei bilingualen Kindern mit 3, 5 und 9 Jahren: Der Erwerb des monolingualen Modus Im vorausgehenden Abschnitt wurde gezeigt, dass das untersuchte Kind ab einem Alter von etwa zweieinhalb Jahren nachweislich dazu imstande war, seine beiden Sprachen zu trennen und sie auch grundsätzlich adäquat zu verwenden. In diesem Abschnitt wollen wir nun zeigen, wie sich die Sprachtrennung von älteren bilingualen Kindern entwickelt. Wenn wir davon ausgehen, wie dies in der Literatur getan wird, dass alle Kinder so wie Alex spätestens ab etwa 2; 6 beide Sprachen im Sinne der Sprachdifferenzierung auseinanderhalten können, dann bleibt die Frage, ob bzw. ab wann sie dies auch im Gespräch vollständig durchhalten können (Sprachseparierung). Van der Linden (2000) weist darauf hin, dass bei der Suche nach einem passenden Wort bei bilingualen Sprechern verschiedener Altersstufen beide Sprachen aktiviert werden (s. auch Tracy in diesem Band); ob es gelingt, die nichtgeforderte Sprache zu unterdrücken, hängt von verschiedenen Faktoren ab, v.a. von der Frequenz der Verwendung beider Sprachen. In der Forschungsliteratur wird darauf hingewiesen, dass der häufigste Grund für das Code-Mixing in lexikalischen Lücken besteht, vgl. z.B. Deuchar / Quay (2000), allerdings wird dies überwiegend auf sehr kleine Kinder bezogen. Die Entwicklung der Sprachseparierung soll hier mit Hilfe des sog. Language Mode Model von Grosjean (2001) beschrieben werden. Dieses Modell stellt dar, wie die Aktivierung der beiden Sprachen eines Zweisprachigen analysiert werden könnte. Grosjean unterscheidet drei Sprachmodi: Im monolingualen Modus ist nur die gerade verwendete Sprache A eines zweisprachigen Menschen aktiviert, die andere Tanja Anstatt / Elena Dieser 152 (Sprache B) ist deaktiviert. Im bilingualen Modus sind beide Sprachen (A und B) aktiviert, allerdings ist die gerade verwendete Sprache A aktiver. Zwischen diesen beiden Modi gibt es einen Zwischenmodus, in dem neben Sprache A, die gerade verwendet wird, auch B leicht aktiv ist. In welchem Modus sich der bilinguale Sprecher gerade befindet, hat überwiegend mit Situationsfaktoren zu tun, in erster Linie mit dem Gesprächspartner. Nehmen wir an, Sprecher W sei russisch-deutsch bilingual und unterhalte sich gerade auf Deutsch mit der monolingualen Sprecherin X. Sein Russisch ist dann weitgehend deaktiviert, er ist im monolingualen Modus. Unterhält sich W jedoch mit der ebenfalls bilingualen Sprecherin Y, die selbst gerne im Gespräch hin und wieder ins Russische wechselt, dann ist W im bilingualen Modus, beide Sprachen sind aktiviert und leicht zugänglich. Im deutschen Gespräch mit einem anderen bilingualen Sprecher Z, der Sprachwechsel aber ablehnt, ist W im Zwischenmodus: Sein Russisch ist aktiver als im monolingualen Modus, aber weniger aktiv als im bilingualen. Auch für die Frage des Erwerbs der Zweisprachigkeit kann dieses Modell sehr nutzbringend angewendet werden. Die Frage muss dann lauten, wie und in welchem Alter Kinder lernen, sich in den monolingualen Modus zu versetzen, nachdem sie die Sprachdifferenzierung erworben haben. Im Folgenden soll diese Frage am Beispiel von elf bilingualen Kindern untersucht werden. Dafür wurden Transkripte von Videoaufnahmen ausgewertet, die die Kindern bei Gesprächen mit einsprachigen Sprecherinnen ihrer beiden Sprachen zeigten. 18 Das Verfahren bei der Herstellung der Aufnahmen war folgendermaßen: Eine Mitarbeiterin des Projektes, die sich als einsprachig russisch oder aber einsprachig deutsch vorstellte, besuchte das jeweilige Kind zuhause oder im Kindergarten und verbrachte dort ca. 60 Minuten mit ihm. Im Laufe dieser Stunde erzählten die Kinder ein Bilderbuch und einen Zeichentrickfilm nach, sie kommentierten ein Spiel und sie führten ein freies Gespräch über ihren Tagesablauf und besondere Erlebnisse. Am darauffolgenden Tag wurde eine entsprechende Aufnahme mit einer anderen Mitarbeiterin in der zweiten Sprache durchgeführt. Die Ergebnisse sollen nun nach Altersgruppen zusammengefasst dargestellt werden. 4.1. Gruppe 1: Kinder mit 3 Jahren Bei den Dreijährigen handelt es sich um drei Kinder mit sehr unterschiedlichem sprachlichen Hintergrund. David 19 und Natalia wachsen mit russischen Eltern auf, die nur gelegentlich mit den Kindern deutsch sprechen; für beide Kinder ist russisch eindeutig die dominante Sprache. Natalia sprach zum Zeitpunkt der Aufnahme noch sehr wenig deutsch, David besuchte seit sechs Monaten einen deutschen Kindergarten und sprach etwas mehr. Anders als in den anderen Altersgruppen waren bei David und Natalia die Mütter während der Aufnahme anwesend; die russische Aufnahme mit David wurde nur von der Mutter durchgeführt. Die in Tabelle 2 gegebenen Zahlen können also nur vorsichtig mit den für die übrigen neun Kinder gegebenen verglichen werden. Andere Bedingungen gelten für Lena: Hier handelt es sich um ein Kind, das beide Sprachen seit der Geburt erwirbt (2L1). Bei diesem Kind waren die Eltern während der Aufnahme nicht anwesend. 18 Die Aufzeichungen wurden im Rahmen der Untersuchungen des Projektes „Aspekt bei bilingualen Kindern“ des SFB 441 an der Universität Tübingen durchgeführt. 19 Alle in diesem Abschnitt genannten Namen sind Pseudonyme. Sprachmischung und Sprachtrennung bei zweisprachigen Kindern 153 Tab. 2: Gruppe 1: 3jährige Kinder Kind Alter In Deutschland seit Sprache der Eltern mit dem Kind Kontakt mit dem Deutschen David 3; 0 Geburt Russisch Kindergarten seit 6 Monaten Natalia 3; 3 Geburt Russisch, etwas Deutsch Mutter, Spielplatz Lena 3; 7 Geburt Russisch (Mutter) Deutsch (Vater) Vater, Kindergarten Tab. 3: Sprachverhalten der Kinder aus Gruppe 1 Deutsche Aufnahme Russische Aufnahme Kind Alter Zahl der Äußerungen gesamt Anteil der gemischten und russischen Äußerungen 20 Zahl der Äußerungen gesamt Anteil der gemischten und deutschen Äußerungen David 3; 0 376 31% 715 2% Natalia 3; 3 245 38% 636 0,3% Lena 3; 7 626 0% 405 2,7% Die erheblichen Unterschiede zwischen den Kindern spiegeln einerseits den verschiedenen Spracherwerbsverlauf, andererseits auch die unterschiedliche Aufnahmesituation wider. Sie werden hier dennoch miteinander verglichen, weil sie ein interessantes Schlaglicht auf das Sprachbewusstsein der Dreijährigen werfen. Betrachten wir zunächst die russischen Aufnahmen der Kinder. Alle drei Kinder können sich auf Russisch vollkommen altersangemessen ausdrücken, Mischungen treten fast nicht auf. Interessant ist hier insbesondere, dass David und Natalia in einigen wenigen Fällen zu deutschen Wörtern greifen, obwohl dies ihre schwächere Sprache ist, und zwar insbesondere dann, wenn es um Situationen geht, die sie auf Deutsch erlebt haben. Besonders deutlich wird dies am Beispiel von David: Viele seiner in der russischen Aufnahme geäußerten deutschen Wörter beziehen sich auf Situationen des (deutschen) Kindergartens, z.B.: (5) David (3; 0) Inv. 21 : čto vy kušaete na zavtrak? ‚was esst ihr zum Frühstück? ‘ [meint: im Kindergarten] Kind: Nudeln. 22 Bei Natalia, die fast nur Russisch spricht, sind solche Wechsel zum Deutschen erheblich seltener, kommen aber vor. Bei Lena schließlich, die beide Sprachen seit der Geburt erwirbt, ist besonders auffällig, dass es sich bei den in die russische 20 Insgesamt 5 (1,3%) dieser Äußerungen sind Ein-Wort-Sätze, bei denen also keine Zuordnung zu gemischt bzw. rein russisch möglich ist. 21 Abkürzung für die Untersuchungsleiterin (Investigator). Wie erwähnt handelt es sich hier ausnahmsweise um die Mutter des Kindes, die aber mit dem Kind nur russisch spricht und nicht mischt. 22 Das Kind verwechselt dabei offensichtlich Frühstück und Mittagessen. Tanja Anstatt / Elena Dieser 154 Kommunikation eingefügten deutschen Elementen oft um „kleine“ Wörter wie Interjektionen und Partikeln handelt, z.B.: (6) Lena (3; 7) Inv.: a interesnyj byl mul’tik? ‚war der Trickfilm interessant? ‘ Kind: doch. In Bezug auf die deutschen Aufnahmen bestehen naturgemäß deutliche Unterschiede zwischen David und Natalia einerseits sowie Lena andererseits. Lena, die seit der Geburt regelmäßig deutsch spricht, verwendet in der deutschen Aufnahme überhaupt keine russischen Wörter. Über den deutschen Vater hinaus spielt hier der regelmäßige Kontakt mit einsprachigen Sprechern des Deutschen (durch Familie und Freunde) eine wichtige Rolle. Für David und Natalia, deren Eltern beide russischsprachig sind (was damit auch für deren weitere Familienmitglieder gilt), stellt die deutsche Aufnahme eine ganz andere Herausforderung dar. Beide Kinder greifen in dieser für sie sehr anspruchsvollen Situation, in der sie sich mit einer fremden Person in ihrer deutlich schwächeren Sprache unterhalten müssen, sehr oft zur Sprachmischung: 31 bzw. 38% der Äußerungen sind russisch oder gemischt (vgl. Tabelle 3). Ein Faktor, der das Sprachverhalten der Kinder deutlich beeinflusst, ist hier aber die Tatsache, dass ihre russischsprachigen Mütter anwesend sind, die - obwohl sie sich zurückhaltend verhalten bzw. auf Deutsch antworten - für die Kinder ebenfalls Ansprechpartnerinnen darstellen. Ich möchte die Adressaten der Äußerungen und das sprachliche Verhalten am Beispiel von David etwas näher beleuchten. Nach Adressaten aufgegliedert ergibt sich folgendes Bild für seine Äußerungen: Tab. 4: Verteilung der russischen und gemischten Äußerungen von David auf verschiedene Adressaten in der deutschen Aufnahme Deutsche Aufnahme David Adressat Russische Äußerungen Gemischte Äußerungen Mutter 12% 0,5% Monolinguale Untersuchungsleiterin 6% 11% Adressat unklar 1% 0,5% Deutlich wird mit diesen Zahlen, dass die meisten rein russischen Äußerungen an die Mutter gerichtet sind. Der 3jährige David spricht also im Regelfall keineswegs eine monolingual deutsche Person einfach auf Russisch an; vielmehr greift er zum Code-Switching als Hilfsstrategie. Wie gekonnt er diese Strategie anwendet, zeigt das folgende Beispiel, in dem das Kind beschreiben soll, was Figuren in einem Film tun. Hier zeigt sich auch, dass das Kind über ein sog. metasprachliches Bewusstsein verfügt - es weiß, dass man über Wörter reden kann und dass dieselben Dinge verschiedene Bezeichnungen haben. (7) David (3; 0) Inv.: was machen sie dort, die Pinguine? Kind: sie machen dort kašku. Sprachmischung und Sprachtrennung bei zweisprachigen Kindern 155 (Kind wendet sich an die Mutter: ) Kind: a kak kaška po-nemecki? ‚und wie heißt ka š ka auf Deutsch? ‘ Mutter: Brei. (Kind wendet sich zurück zur Untersuchungsleiterin: ) Kind: ein Brei. Auch an die Versuchsleiterin gerichtet verwendet der Junge rein russische Äußerungen. Interessanterweise tut er dies aber nur, wenn die Mutter im Raum ist, vielleicht in der Hoffnung, dass die Mutter eine Dolmetscherrolle einnimmt. In zwei längeren Phasen, in denen die Mutter den Raum verlässt, verwendet der Junge keine ganzen russischen Äußerungen, betreibt also kein Code-Switching. Die zweite Hilfsstrategie, die David verwendet, ist Code-Mixing: Er verwendet in deutschen Sätzen einzelne russische Wörter, die oft morphologisch an das Deutsche angepasst sind. So beschreibt David beim Spielen seine Spielsachen: (8) ein dom. ‚ein Haus‘ (< russ. dom ‚Haus‘) (9) eine ulitte. ‚eine Schnecke‘ (< russ. ulitka ‚Schnecke‘, mit Ersatz des russischen Suffixes -ka durch deutsch -te) (10) eine krote. ‚ein Maulwurf‘ (< russ. krot ‚Maulwurf‘) 23 Die Strategie des Code-Mixing tritt praktisch nur in Äußerungen auf, die an die deutschsprachige Versuchsleiterin gerichtet sind, und zwar sowohl dann, wenn die Mutter anwesend ist als auch dann, wenn sie den Raum verlassen hat (es kann also ausgeschlossen werden, dass das Kind hier auf Übersetzungshilfe hofft). Unter dem Druck starker Wortnot greift David zu einem Wort aus der anderen Sprache und passt dieses in die Matrix-Sprache ein. Hier geht es also nicht um mangelnde Sprachtrennung im Sinne der Sprachdifferenzierung, sondern vielmehr um die Sprachseparierung, die noch nicht vollständig glückt. Natalia verwendet in ihrer deutschen Aufnahme bemerkenswert ähnliche Strategien und in analoger Verteilung wie David. Insgesamt meistern alle drei untersuchten Dreijährigen die Aufgabe, ihre beiden Sprachen adäquat zu verwenden, gemessen an ihren Sprachfähigkeiten sehr gut, und sie zeigen damit ein hohes Sprachbewusstsein. Wie der in Abschnitt 3. untersuchte Alex sind auch die hier vorgestellten Kinder schon früh in der Lage, ihre Sprachen adressatengerecht zu verwenden. Es zeigt sich aber, dass den Kindern noch kein vollständiges Umschalten in den monolingualen Modus möglich ist; am ehesten gelingt ihnen ein Zwischenmodus, bei dem die gerade nicht verwendete Sprache leicht aktiviert bleibt. Eine Ausnahme ist die deutsche Aufnahme von Lena, die bereits ausreichend Gelegenheit hatte, den monolingualen Modus im Deutschen zu trainieren. 23 Interessant ist in diesem Beispiel der Wechsel des Genus von maskulin zu feminin, vielleicht unter Einfluss des deutschen Kröte; vgl. auch eine andere Äußerung desselben Kindes: eine schurupe ‚eine Schraube‘ zu russ. š urup (m.) ‚Schraube‘. Tanja Anstatt / Elena Dieser 156 4.2. Gruppe 2: Kinder mit 4-5 Jahren Die zweite Gruppe bilden drei Mädchen, die alle in Deutschland geboren wurden, und ein Junge, der im Alter von 4 Monaten nach Deutschland kam. In allen Familien wird überwiegend Russisch und gelegentlich etwas Deutsch gesprochen; nur in einem Fall ist der Vater ein deutscher Muttersprachler, auch hier ist Russisch die Familiensprache. Tab. 5: Gruppe 2: 4-5jährige Kinder Kind Alter In Deutschland seit Sprache der Eltern mit dem Kind Kontakt mit dem Deutschen Daria 4; 9 Geburt Russisch, etwas Deutsch Kindergarten Nadja 5; 0 Geburt Russisch, Vater Deutsch Vater, Kindergarten Noemi 5; 2 Geburt Russisch, etwas Deutsch Kindergarten Karl 5; 8 0; 4 Russisch, etwas Deutsch Kindergarten Tab. 6: Sprachverhalten der Kinder aus Gruppe 2 Deutsche Aufnahme Russische Aufnahme Kind Alter Zahl der Äußerungen gesamt Anteil der gemischten Äußerungen Zahl der Äußerungen gesamt Anteil der gemischten Äußerungen Daria 4; 9 717 0,8% 378 2,4% Nadja 5; 0 338 0,3% 480 1,7% Noemi 5; 2 424 0% 324 4,3% Karl 5; 8 331 0,3% 234 12,8% In dieser Gruppe ist kein Fall von Code-Switching belegt (das auch nicht angemessen wäre, da die Kinder mit den jeweiligen monolingualen Versuchsleiterinnen alleine waren) 24 . Code-Mixing kommt hingegen bei allen Kindern in mindestens einer Sprache vor; die quantitative Verteilung ist in Tabelle 6 dargestellt. In den meisten Fällen ist der Anteil der gemischten Äußerungen sehr niedrig; eine Ausnahme stellt nur Karl dar. Bemerkenswert ist, dass in dieser Altersgruppe erheblich mehr Mischungen in den russischen Aufnahmen vorkommen als in den deutschen - der Anteil der Mischungen in den deutschen Aufnahmen ist verschwindend gering. Das Verhältnis bei den Mischungen ist also im Vergleich zu den 3-jährigen (zumindest zu David und Natalia, die aber denselben Spracherwerbstyp wie Daria, Noemi und Karl aufweisen) gerade umgekehrt. Hierfür können zwei Umstände verantwortlich gemacht werden: Zum einen haben die 5jährigen Kinder, die alle seit ca. zwei Jahren einen deutschen Kindergarten besuchen, die Erfahrung gemacht, dass viele Menschen Deutsch, aber nicht Russisch verstehen, und entsprechend haben sie den monolin- 24 Allerdings treten Ein-Wort-Äußerungen in der jeweils Nicht-Matrixsprache auf, die hier aber als Code-Mixing betrachtet werden. Sprachmischung und Sprachtrennung bei zweisprachigen Kindern 157 gualen Modus im Deutschen bereits oft geübt. Die Personen ihres Umfelds, mit denen die Kinder russisch sprechen, verstehen hingegen in der Regel auch Deutsch; nach dem Modell von Grosjean wird hier also nur selten, wenn überhaupt je, der monolinguale Modus aufgerufen. Zum anderen ist eine Ursache auch im Input zu suchen, also in der Art der Sprache, mit der die Kinder konfrontiert werden: Die deutsche Sprache, die die Kinder hören, ist in der Regel nicht mit russischen Elementen gemischt. Das Russisch, dem die Kinder begegnen, ist hingegen eher mit deutschen Wörtern versetzt, denn das Einfügen von deutschen Wörtern ist auch bei bilingualen Erwachsenen ein sehr häufiges Verhalten (s. dazu Brehmer in diesem Band). Die Erklärung gilt insbesondere für Karl, der einen sehr stark gemischten russischen Input erhielt. Bei den Code-Mixings der Kinder handelt es sich in den meisten Fällen um Substantive, z.B.: (11) Daria (4; 9) wenn niemand 25 ein Tier gewürfelt hat dann darf man ein Schag gehen. < russ. šag ‚Schritt‘ Es kommen aber auch andere Wortarten vor: in den russischen Aufnahmen finden sich deutsche Partikeln wie hallo, doch sowie Interjektionen wie zack, ups, und in beiden Sprachen Farbadjektive der jeweils anderen Sprache. Auch bei diesen Kindern werden die übernommenen Wörter oft morphologisch in die Matrix-Sprache eingepasst: (12) Daria (4; 9) kakoj on farby? ‚(von) welcher Farbe ist er? ‘ (farby = Genitiv < dt. Farbe) Mitunter treten die Wörter direkt nacheinander in verschiedenen Formen auf. Zum Beispiel verwendet Karl in seiner russischen Buch-Nacherzählung das deutsche Wort für Bienen. Beim ersten Mal verwendet der Junge die deutsche Pluralform binen, beim zweiten Mal bildet er den der russischen Form entsprechenden Plural biny, und bei der dritten Verwendung lautet die Form bineny, also eine Mischform aus deutschem und russischem Plural. Ähnlich wie für die 3jährigen erwähnt liegt die Hauptursache für das Code-Mixing darin, dass ein Wort in der aktuell geforderten Sprache nicht zur Verfügung steht („Wortnot“). Typisch ist, dass die Kinder das Wort in der „richtigen“ Sprache aufgreifen, wenn die Versuchsleiterin es nennt. Auch hier sind Code-Mixings dann typisch, wenn es um eine Situation geht, die das Kind nur in einer der beiden Sprachen erlebt. Ein typisches Beispiel ist das folgende - beim Beschreiben von Beschäftigungen im Kindergarten erklärt Noemi: (13) Noemi (5; 2) My igraem v Puppenecke i risuem. ‚wir spielen in der Puppenecke und malen.‘ Sehr häufig besteht auch eine phonetische Ähnlichkeit zwischen dem russischen und dem entsprechenden deutschen Wort, so dass kaum zu entscheiden ist, ob hier tat- 25 Daria verwechselt jemand und niemand. Tanja Anstatt / Elena Dieser 158 sächlich ein Mixing vorliegt oder eine phonetische Interferenz. So verwenden Daria und Noemi in der russischen Aufnahme ljove (< dt. Löwe) statt russ. lev für ‚Löwe‘, Nadja in der deutschen Aufnahme frukt (< russ. frukt) statt Frucht und Schiraff (< russ. žiraf) statt Giraffe. 4.3. Gruppe 3: Kinder mit 8-9 Jahren Wir wenden uns nun der Gruppe der ältesten Kinder zu, die vier Mädchen von 8 und 9 Jahren umfasst. Alle vier Kinder besuchen seit mehreren Jahren eine deutsche Grundschule und waren vorher in einem deutschen Kindergarten. Ein wesentlicher Unterschied besteht jedoch in ihren ersten Lebensjahren: Während Varja und Valentina in Deutschland geboren wurden, verbrachte Jana fast die ersten drei Lebensjahre in einer monolingual russischen Umgebung, Veronika sogar die ersten fünfeinhalb Lebensjahre. Tab. 7: Gruppe 3: 8-9jährige Kinder Kind Alter In Deutschland seit Sprache der Eltern mit dem Kind Kontakt mit dem Deutschen Varja 8; 2 Geburt Russisch, etwas Deutsch Kindergarten, Schule (3. Klasse) Veronika 8; 9 5; 5 Russisch Kindergarten, Schule (3. Klasse) Valentina 9; 6 2; 10 Russisch, etwas Deutsch Kindergarten, Schule (4. Klasse) Jana 9; 6 Geburt Russisch, etwas Deutsch Kindergarten, Schule (4. Klasse) Tab. 8: Sprachverhalten der Kinder aus Gruppe 3 Deutsche Aufnahme Russische Aufnahme Kind Alter Zahl der Äußerungen gesamt Anteil der gemischten Äußerungen Zahl der Äußerungen gesamt Anteil der gemischten Äußerungen Varja 8; 2 420 0% 283 2,4% Veronika 8; 9 620 0% 246 0,8% Valentina 9; 6 315 0% 384 1,5% Jana 9; 6 547 0% 314 12,7% Die genannte Lebenssituation spiegelt sich klar im sprachlichen Verhalten der Mädchen wider: Bei keinem von ihnen tritt in der deutschen Aufnahme eine Code-Mixing (und natürlich erst recht kein Code-Switching) auf. Alle vier haben jahrelange Übung im monolingualen Modus in Bezug auf das Deutsche und keinerlei Probleme, diesen Modus während der Aufnahme aufrechtzuerhalten. Anders sieht es jedoch aus, wenn es um das Russisch der Kinder geht - hier lassen sich große Unterschiede beobachten. Mischungen kommen bei allen Kindern vor, aber anders als bei den kleineren Kindern sind sie oft mit entsprechenden Kommentaren verbunden, zum Beispiel: Sprachmischung und Sprachtrennung bei zweisprachigen Kindern 159 (14) Valentina (9; 6) Inv.: A kakie u tebja ljubimye programmy? ‚Und was sind deine Lieblingssendungen? ‘ Kind: tak takoj ė takoj Schwamm, ja teper’ kak … ne znaju kak po-russki nazyvaetsja. ‚So so ein äh so ein Schwamm, ich [weiß] jetzt wie … [ich] weiß nicht, wie das auf Russisch heißt.‘ Besonders Jana, deren Russisch große lexikalische Lücken aufweist, greift jedoch auch ohne Kommentar immer wieder zu deutschen Wörtern. Oft, aber nicht immer, lässt sie dabei Unsicherheit erkennen, ist sich also dessen bewusst, dass ihr sprachliches Verhalten nicht angemessen ist: (15) Jana (9; 6) Inv.: Čto tam takoe? ‚Was ist das? ‘ Kind: Schlüssel (lacht). Bei Veronika, die mehr als die erste Hälfte ihres bisherigen Lebens in einer monolingual russischen Umgebung verbracht hat, ist der Anteil des Code-Mixings in der russischen Aufnahme verschwindend - es handelt sich um insgesamt zwei Vorkommen. Das eine davon, das im folgenden Beleg dargestellt ist, zeigt, dass die häufiger verwendete Sprache Deutsch sich dann nach vorne drängt, wenn das Kind quasi unkontrolliert mit sich selbst spricht. Veronika ist in dieser Situation darauf konzentriert, ein Bild zu verstehen, das sie beschreiben soll: (16) Veronika (8; 9) i potom ė ti vot devočki ... (denkt nach) … ach so: nu tam u ė toj vot princessy dve sestry […]. ‚und dann diese Mädchen… … ach so: also, da hat diese Prinzessin zwei Schwestern […].‘ Es lässt sich festhalten, dass der entscheidende Faktor für das Auftreten von Code- Mixings im Russischen auch noch in höherem Alter der fehlende Kontakt mit monolingualen Sprechern des Russischen ist. Auf diese Weise tritt der monolinguale Modus für das Russische nicht ein, das Deutsche bleibt stets latent aktiviert. Es steht somit jederzeit als Quelle für Wörter zur Verfügung. 5. Fazit Was lässt sich nun zusammenfassend festhalten über Sprachmischung und Sprachtrennung bei bilingualen Kindern? In Abschnitt 3. haben wir eine Langzeitstudie zu einem bilingualen Kind im 3. Lebensjahr vorgestellt, mit der gezeigt wurde, wie sich die Verwendung der beiden Sprachen zu Beginn des bilingualen Spracherwerbs entwickelt. Das untersuchte Kind Alex verwendete in den ersten Etappen seines Spracherwerbs keine Äquivalente, er vermied also die Verwendung von zwei verschiedenen Wörtern für dieselbe Sache. Dies kann als „ökonomisches“ Verhalten Tanja Anstatt / Elena Dieser 160 erklärt werden: Das Kind reduzierte die Arbeitsbelastung, indem es zunächst nur ein Wort für dieselbe Erscheinung verwendete, und dieses suchte es offenbar häufig nach der für ihn leichteren Aussprache aus. Dennoch konnte gezeigt werden, dass Alex schon mindestens ab dem Alter von zweieinhalb zwischen seinen beiden Sprachen unterscheiden konnte (im Sinne der Sprachdifferenzierung), denn er verwendete die Sprachen angemessen, wo es notwendig war. Seine Sprachseparierung verlief in Stufen: Zuerst trennte er die Sprachen bei der Verwendung im Gespräch mit monolingualen Gesprächspartnern; hier war diese Trennung notwendig, um die Verständigung sicherzustellen. Auf der zweiten Stufe führte er eine Sprachtrennung auch mit seinen bilingualen Eltern durch und lernte, die situationsabhängigen Regeln, die seine Eltern anwendeten, zu befolgen. Nachdem er sie durchschaut hatte, bereitete es ihm keine Schwierigkeiten, sie anzuwenden, jedoch dauerte der Erwerb etwas länger als bei Kindern, die zweisprachigen Input nach dem Prinzip one person - one language erhalten. Als letzte Stufe begann Alex auch in Selbstgesprächen die Sprachen zu trennen. In Abschnitt 4 wurden Sprachproben zu elf bilingualen Kindern verschiedener Altersstufen vorgestellt, die in Gesprächssituationen mit monolingualen russischen und deutschen Gesprächspartnern aufgezeichnet wurden. Alle Kinder sind im Sinne der Sprachdifferenzierung in der Lage, ihre beiden Sprachen zu trennen und verhalten sich sprachlich adäquat. Es ist aber bemerkenswert, dass Kinder aller untersuchten Altersstufen im Gespräch mit einsprachigen Gesprächspartnern zum Code-Mixing greifen, also Wörter der jeweils anderen Sprache verwenden - ein Verhalten, das Erwachsene normalerweise nicht an den Tag legen. Das auftretende Code-Mixing kann einerseits durch kommunikativen Druck erklärt werden - das Wort steht in der momentan geforderten Sprache nicht zur Verfügung. Andererseits haben Kinder weniger Routine im sog. monolingualen Modus, in dem die zweite Sprache deaktiviert wird. Wenn die Kinder älter werden und ihre Routine in der Kommunikation mit monolingualen Gesprächspartnern wächst, sinkt der Anteil der gemischten Äußerungen. Frappierend ist der Unterschied zwischen den beiden Sprachen - obwohl für die meisten untersuchten Kindern zumindest in ihrer frühen Kindheit Russisch ihre starke Sprache war, gehen die Code-Mixings im Deutschen in der Kindergartenzeit erheblich stärker zurück. Im Russischen treten sie dagegen bei Grundschulkindern noch auf, wenn auch individuell sehr unterschiedlich. Dieses Phänomen kann dadurch erklärt werden, dass die Kinder in der Regel keinen oder wenig Kontakt mit monolingualen Sprechern des Russischen haben, hingegen viel Kontakt mit monolingualen Deutschsprechern. Auch die Verwendung von Sprachmischung durch die russischsprachigen Gesprächspartner der Kinder spielt hier eine Rolle. Als Fazit kann also zum einen festgehalten werden, dass bilingual aufwachsende Kinder zu Beginn ihres Spracherwerbs klare Regeln für die Verwendung der Sprachen brauchen, dies muss aber nicht unbedingt die Trennung nach Personen sein. Zum anderen ist ein ausreichender Kontakt mit monolingualen Sprechern beider Sprachen, die das Kind erwirbt, notwendig. Äußerungen wie die in Beispiel (1) zitierten kommen dann zustande, wenn das Kind zum einen in einer der beiden Sprachen nur über einen sehr geringen Wortschatz verfügt und zum anderen in dieser Sprache keine Übung im monolingualen Modus hat, sondern stets darauf bauen kann, dass die Gesprächspartner auch gemischte Äußerungen verstehen. Sprachmischung und Sprachtrennung bei zweisprachigen Kindern 161 6. Literaturverzeichnis Anstatt, T. (2006): Leksi č eskie i grammati č eskie osobennosti russkoj re č i detejbilingvov v germanii (na primere rasskazov v kartinkach). In: Cejtlin, S.N. et al. (eds.): Ontolingvistika. 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Waren es bis zum Ende der 1980er Jahre noch vorwiegend Menschen aus südeuropäischen Ländern (Italien, Spanien, Griechenland, Jugoslawien, Türkei), die seit 1955 als „Gastarbeiter“ im Zuge einer politisch gewünschten Arbeitsmigration nach Deutschland kamen und hier mehr oder weniger kompakte Sprachgemeinschaften bildeten, so haben sowohl die zunehmende Internationalisierung des Arbeitsmarktes als auch die politischen Veränderungen in Osteuropa dazu geführt, dass sich mittlerweile neue, kopfstarke Sprachgemeinschaften allochthoner Minderheiten in Deutschland etabliert haben. 1 Insbesondere das Russische ist seit der Liberalisierung der Ausreisebestimmungen der Sowjetunion im Zuge der Perestrojka und der politischen Entscheidung Deutschlands, Vertreter der deutschen Minderheit und ihre Angehörigen aus den ehemaligen Ostblockstaaten als (Spät-) Aussiedler sowie osteuropäische Juden als sogenannte „Kontingentflüchtlinge“ in der Bundesrepublik aufzunehmen, im deutschen Alltag omnipräsent. Dieser Zuwachs an sprachlicher und kultureller Vielfalt macht sich nicht nur darin bemerkbar, dass das Russische von Vertretern der o.g. Gruppen in Deutschland weiterhin zur Kommunikation im eigenen sozialen Netzwerk (Familie, Freunde etc.) verwendet wird, sondern in bestimmten Bereichen auch zur Außenkommunikation eingesetzt wird (z.B. in Läden, die russische Produkte anbieten, in Reisebüros, bestimmten Diskotheken etc.) 2 und in der deutschen Medienlandschaft fest etabliert ist (vgl. die zahlreichen in Deutschland erscheinenden russischsprachigen Zeitungen und Zeitschriften, lokale Radio- und Fernsehsender oder spezielle Internet-Angebote). 3 Auch wenn die russischsprachigen Migranten meist über gut ausgebaute eigene soziale Netzwerke und Infrastrukturen verfügen, die es ihnen erlauben, das Russische in Deutschland weiterhin als Verkehrssprache zu pflegen, so ergibt sich in ihrem Alltag dennoch eine Vielzahl von Situationen, in denen sie gezwungen sind, sich des Deutschen zu bedienen (z.B. für die Kommunikation mit Behörden und Ämtern, in der Schule bzw. am Arbeitsplatz, beim Einkaufen etc.). Alleine vor dem 1 Im Unterschied zu den Sprachen der in Deutschland als autochthon angesehenen Minderheiten der Friesen, Sorben, Dänen und Roma werden die Sprachen der verschiedenen Einwanderergruppen nicht von der Europäischen Charta der Regional- und Minderheitensprachen abgedeckt, d.h. sie verfügen in Deutschland über keinen offiziellen Status als Minderheitensprachen. 2 So werden beispielsweise alle Kunden in einem von Russlanddeutschen in Stuttgart-Bad Cannstatt betriebenen Reisebüro sogleich beim Eintritt ausschließlich auf Russisch begrüßt, d.h. ohne vorherige Rückversicherung, ob der Klient auch tatsächlich Russisch versteht. 3 Zur russischsprachigen Medienlandschaft in Berlin vgl. Goldbach (2005, 24f.), zur Sprache der russischsprachigen Presse in Deutschland vgl. Protasova (2000). Bernhard Brehmer 164 Hintergrund dieser praktischen Anforderungen, die der Alltag in Deutschland an die russischsprachigen Migranten stellt, ist davon auszugehen, dass die meisten Vertreter dieser Gruppe eine - individuell durchaus unterschiedlich ausgeprägte - russischdeutsche Zweisprachigkeit auszeichnet. Im Mittelpunkt dieses Beitrags wird daher die Frage stehen, welche Auswirkungen diese Zweisprachigkeit auf das kommunikative Verhalten der russischsprachigen Minderheit in Deutschland hat. Relativ gut untersucht ist bislang nur die Frage, wie das Russische, das für die meisten Individuen dieser Gruppe die zuerst erworbene und in der Regel am besten beherrschte und am differenziertesten ausgebildete Sprache darstellt, den Erwerb der Zweitsprache Deutsch negativ beeinflusst (vgl. z.B. Anders 1993, Baur et al. 1999, Naumowa 1999, Meng 2001). 4 Die Fokussierung der Forschung auf diesen Aspekt erscheint verständlich, wenn man die Bedürfnisse der aufnehmenden Gesellschaft bedenkt, die an einer möglichst raschen sprachlichen wie kulturellen Integration der Migranten interessiert ist. 5 Aus Sicht des Slavisten ist jedoch die umgekehrte Perspektive, d.h. die Untersuchung des Einflusses der Umgebungssprache Deutsch auf die Erstsprache Russisch, mindestens ebenso interessant. Dieser Aspekt ist erst in jüngster Zeit auf zunehmendes Interesse in der Russistik gestoßen, was sich in einem generell gestiegenen Interesse an der Erforschung der in der Diaspora verwendeten Varietäten des Russischen in den letzten Jahren widerspiegelt (vgl. z.B. Zemskaja 2001). Neben der Analyse, auf welchen sprachlichen Ebenen (Lautsystem, Grammatik, Lexik) sich Einflüsse der Zweitsprache auf die Primärsprache Russisch zeigen, spielt auch die Untersuchung der Faktoren, die den Spracherhalt des Russischen in der anderssprachigen Umgebung und die Tradierung auf die nächsten, bereits in der neuen Heimat geborenen Generationen beeinflussen, sowie der Kommunikationsbereiche, in denen das Russische zum Einsatz kommt, eine wesentliche Rolle. Da sich der vorliegende Beitrag nur mit der zuletzt genannten Sprachkontaktkonstellation (d.h. Einflussrichtung Deutsch > Russisch) beschäftigen wird, muss zunächst der soziolinguistische Rahmen skizziert werden. Da es sich bei den russischsprachigen Migranten in der Bundesrepublik Deutschland zwar um eine quantitativ sehr bedeutende, aber keinesfalls homogene Sprechergemeinschaft handelt, wird zuerst danach zu fragen sein, welche einzelnen Gruppen hier zu unterscheiden sind. Danach sollen die wichtigsten Faktoren, die die Formen der Zweisprachigkeit und den Erhalt des Russischen in der deutschsprachigen Umgebung beeinflussen, kurz vorgestellt werden. Ich werde mich hier im Wesentlichen auf die Ergebnisse der aktuellen Studie Achterbergs (2005) zur Vitalität der slavischen Sprachen in Deutschland stützen. 6 Im zweiten Teil soll dann ein Überblick über die Auswirkun- 4 Eine Parallele dazu bilden auch Arbeiten, die sich mit dem Einfluss des Russischen auf die in der ehemaligen Sowjetunion gesprochenen deutschen Dialekte befassen, vgl. z.B. die Monografien von Berend (1998) und Blankenhorn (2003). 5 Einen Überblick über die umfangreiche Literatur zur sprachlichen und kulturellen Integration von Migranten vermittelt eine im Rahmen eines Projekts zur Integration von Aussiedlern am Institut für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim entstandene, von Ulrich Reitemeier bearbeitete Bibliografie, die unter der Adresse http: / / www.ids-mannheim.de/ prag/ aussiedler/ biblio.html im Internet abgerufen werden kann und die bis zum Jahr 2002 erschienene Literatur enthält (letzter Abruf am 10.01.2007). 6 Ein gewisses Problem dieser sehr informativen Studie besteht darin, dass Achterberg sich auf Sprecher aller slavischen Sprachen in Deutschland bezieht und die Ergebnisse seiner quantitativen Analyse der einzelnen Faktoren, die die Vitalität der slavischen Sprachen in Deutschland steuern, nicht nach Einzelsprachen aufgliedert. Formen und Folgen russisch-deutscher Zweisprachigkeit in Deutschland 165 gen der russisch-deutschen Zweisprachigkeit auf das mitgebrachte Russische gegeben werden. Hier werden einige charakteristische Einflüsse der Umgebungssprache Deutsch auf das Russische vorgestellt werden, gegliedert nach den jeweils betroffenen sprachlichen Ebenen. Der vorliegende Beitrag versteht sich als eine Synopse der bisherigen Untersuchungen auf diesem Gebiet (v.a. Goldbach 2005, Meng 2001, Meng / Protassova 2005, Pfandl 1997, 1998a, Protasova 1996, 2000, Ždanova / Trubčaninov 2001) und als kritische Bewertung der dabei erzielten Ergebnisse. 7 Mehr als in der bisher vorliegenden Forschung soll dabei die Frage erörtert werden, welche Rolle die aus dem Sprachkontakt mit dem Deutschen resultierende neue Varietät des Russischen für das sprachliche und kulturelle Selbstverständnis der Gruppe der Russischsprachigen in Deutschland spielt. Dies soll am Beispiel der Kunst-„sprache“ Qwelja als Produkt der selbstironischen Reflexion über das eigene sprachliche Verhalten in Deutschland geschehen. 2. Soziolinguistische Charakterisierung des Russischen in Deutschland 2.1. Gruppen der russischsprachigen Minderheit in Deutschland Die politische Öffnung der Sowjetunion ab Mitte der 1980er Jahre, die eine Liberalisierung der Ausreisebestimmungen einschloss, hatte für die Bevölkerungsstruktur in Deutschland gravierende Auswirkungen. Millionen von Bürgern der Sowjetunion bzw. ihrer Nachfolgestaaten reisten in die Bundesrepublik Deutschland ein und legten so den Grundstock für eine zahlenmäßig bedeutende russischsprachige Minderheit in Deutschland. Genaue Aussagen darüber, wie viele Menschen in Deutschland leben, deren Erstbzw. Primärsprache 8 das Russische ist, sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht möglich. Dies liegt in erster Linie daran, dass für die Bundesrepublik bislang keine verlässlichen Sprachstatistiken vorliegen. Meistens wird in den Aufstellungen der statistischen Landes- und Bundesämter auch bei den Statistiken zur Migration und zum Ausländeranteil nur die Staatsangehörigkeit oder Nationalität erfasst. Da aber gerade bei der russischsprachigen Diaspora in Deutschland der Anteil derjenigen, die einen deutschen Pass besitzen (Spätaussiedler) bzw. zur jüdischen Bevölkerungsgruppe gehören, sehr hoch ist, lassen sich aus den offiziellen Statistiken keine exakten Angaben zur Größe der russischsprachigen Minderheit in Deutschland ermitteln. Hinzu kommt das Problem, dass gerade bei Immigranten aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion nicht ohne weiteres von der Nationalität auf die Erstbzw. Primärsprache geschlossen werden darf. 9 Dennoch ist es möglich, aus 7 Speziellere Studien zum russisch-deutschen bilingualen Spracherwerb bei Kindern sollen hier nur am Rande berücksichtigt werden, vgl. dazu auch den Beitrag von Anstatt und Dieser in diesem Band. 8 Ich möchte in diesem Artikel den mehrdeutigen Begriff „Muttersprache“ vermeiden (vgl. dazu z.B. Meng 2001, 26f.) und stattdessen folgende Begriffe verwenden: „Erstsprache(n)“ als Bezeichnung für die chronologisch zuerst erworbene Sprache (im monolingualen Spracherwerb) bzw. Sprachen (im mehrsprachigen Erstspracherwerb), „Primärsprache(n)“ als Bezeichnung für die aktuell am besten beherrschte(n) Sprache(n) (so auch bei Pfandl 1997, 23) sowie „Familiensprache(n)“ als Bezeichnung für die in der Familie verwendete(n) Sprache(n). 9 Dies hängt v.a. damit zusammen, dass das Russische als „Sprache der interethnischen Kommunikation“ im Vielvölkerstaat Sowjetunion eine privilegierte Stellung und besonderes Prestige Bernhard Brehmer 166 vorliegenden Statistiken zur Einwanderung nach und zum Ausländeranteil in Deutschland wenigstens eine ungefähre Vorstellung von der (Mindest-)Größe der hiesigen russischsprachigen Diaspora zu vermitteln. Diese teilt sich im Wesentlichen in drei Gruppen auf: Die erste Gruppe bilden die russlanddeutschen (Spät-)Aussiedler. Dabei handelt es sich um Menschen mit deutschen Vorfahren, die in ehemaligen deutschen Siedlungsgebieten in der Sowjetunion aufgewachsen sind und nach Art. 116 Abs. 1 GG einen Anspruch auf Einbürgerung 10 und den Status eines „Vertriebenen“ haben, da sie aufgrund ihrer deutschen Volkszugehörigkeit unter einem sog. Kriegsfolgenschicksal gelitten haben. Wichtigste Herkunftsländer sind die Russische Föderation (hier v.a. Sibirien und das Wolga-Gebiet), Kasachstan, die Ukraine und Kirgisistan. Insgesamt sind zwischen 1990 und 2005 2.079.033 Menschen als Spätaussiedler aus der Sowjetunion bzw. ihren Nachfolgestaaten in die BRD eingewandert (BAMF 2006, 46). Hinzu kommen nochmals 255.301 Spätaussiedler, die aus den gleichen Gebieten bereits zwischen 1950 und 1989 nach Deutschland eingewandert waren 11 , womit sich die Gesamtzahl von 2.334.334 Menschen ergibt. Diese können in voller Höhe der russischsprachigen Diaspora in Deutschland zugeschlagen werden, da aufgrund der repressiven Politik gegenüber der deutschen Minderheit in der Sowjetunion insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg und des hohen Anteils von Familienmitgliedern nicht-deutscher Abstammung für die meisten Familien das Russische die Primärsprache bildet (vgl. Meng 2001). Die zweite Gruppe stellen jüdische Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion dar. Angehörige der jüdischen Nationalität konnten bereits seit 1968 offiziell aus der Sowjetunion nach Israel ausreisen, wobei sich viele nicht in Israel, sondern in den USA und Westeuropa niederließen (Pfandl 1994a, 103). Die Ausreise von sowjetischen Juden nach Deutschland erreichte allerdings erst in den 1990er Jahren größere Dimensionen. Der Beschluss des Rates der Regierungschefs des Bundes und der Länder vom 9. Januar 1991 ermöglichte jüdischen Zuwanderern und ihren Familienangehörigen aus der ehemaligen Sowjetunion im Zuge des sog. „Kontingentflüchtlingsgesetzes“ die Einwanderung in die Bundesrepublik Deutschland. Von 1993 bis 2005 sind auf diesem Weg insgesamt 197.110 Menschen jüdischer Nationalität aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion nach Deutschland immigriert. Hinzu kommen weitere 8.535 Personen, die bis 1992 eingereist sind, womit sich eine Gesamtzahl von 205.645 jüdischen Zuwanderern ergibt (BAMF 2006, 52). Auch dieser Personenkreis kann in voller Höhe der russischsprachigen Diaspora zugeschlagen werden, da der überwiegende Teil der Juden in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion das Russische als Erstbzw. Primärsprache aufweist (vgl. Brehmer i.V.). Die letzte und am schwersten zu quantifizierende Gruppe russischsprachiger Sprecher stellen Ausländer dar, die aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion stammen und jetzt in Deutschland leben, aber nicht die deutsche Staatsan- genoss. Eine Folge davon war, dass sich auch bei vielen Vertretern nicht-russischer Nationalitäten das Russische zur Primärsprache entwickelte. 10 Mit der Neuregelung des Staatsangehörigkeitsrechts zum 01.08.1999 erhalten alle anerkannten Spätaussiedler sowie die in den Aufnahmebescheid einbezogenen Mitglieder der Kernfamilie mit der Einreise automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft (BAMF 2006, 44). 11 Diese Zahl habe ich berechnet mit Hilfe der Angaben in Meng / Protassova (2005, 229), die sich auf die Statistik des Aussiedlerbeauftragten der Bundesregierung berufen, wonach von 1950 bis 2002 insgesamt 2.167.921 Personen aus der Sowjetunion bzw. ihren Nachfolgestaaten in die BRD ausgesiedelt sind. Formen und Folgen russisch-deutscher Zweisprachigkeit in Deutschland 167 gehörigkeit besitzen. Darunter fällt ein sehr heterogener Kreis von Personen (z.B. Au-Pairs, Studierende, Wissenschaftler, Arbeitsmigranten, Ehepartner aus Mischehen etc.). Nach den Daten des Ausländerzentralregisters waren in der Bundesrepublik Deutschland zum 31.12.2004 insgesamt 178.616 Menschen mit russischer Staatsbürgerschaft offiziell registriert (davon 77.429 mit einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis, vgl. BAMF 2006, 119). Erfasst wird dabei aber, wie bereits erwähnt, nur die Staatsangehörigkeit, nicht die Sprachverwendung. Angesichts der dominierenden Rolle, die das Russische als offiziell propagierte „zweite Muttersprache aller Sowjetvölker“ in der Sowjetunion innehatte, erscheint es sinnvoll, auch die Vertreter anderer Völker der ehemaligen Sowjetunion als zumindest potenzielle Mitglieder der russischsprachigen Diaspora in Deutschland in die Statistik miteinzubeziehen. Ende 2004 waren in Deutschland z.B. 128.110 Menschen mit ukrainischer und 58.645 Menschen mit kasachischer Staatsbürgerschaft registriert (BAMF 2006, 119). Weitere in Frage kommende Ethnien (z.B. Weißrussen, Moldavier u.a.) sind in der Ausländerstatistik nicht unter den ersten 34 Nationalitäten (≥ 20.000 Individuen) vertreten. Selbst unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die hier aufgezählten Gruppen eine ethnisch und sozial äußerst heterogene Gemeinschaft bilden, über deren sprachliche Sozialisation aus den Statistiken keine verlässlichen Angaben gewonnen werden können, muss doch konstatiert werden, dass sie durch den gemeinsamen kulturellen Hintergrund, der aus ihrer Herkunft aus dem ehemaligen Vielvölkerstaat Sowjetunion resultiert, zusammengehalten werden. Da das Russische einen wichtigen Bestandteil dieser gemeinsamen kulturellen Erfahrungen bildet und für die meisten Individuen den Rang der dominanten Sprache einnimmt, ist es legitim, diese Gruppen zusammenzufassen. Mit einer Gesamtzahl von mindestens 2,9 Mio. Menschen dürften sie gemeinsam die größte sprachliche Minderheit in Deutschland repräsentieren, wenn man bedenkt, dass sich selbst die Zahl der Türken als kopfstärkster ausländischer Minderheit in Deutschland (allerdings ohne die eingebürgerten bzw. zwei Pässe besitzenden Individuen) Ende 2004 auf rund 1,76 Mio. Menschen belief (BAMF 2006, 119). 2.2. Faktoren, die die Ausprägung der Zweisprachigkeit beeinflussen Die erste Faktorengruppe, die über die Funktionen, den Status und den Erhalt des Russischen in Konkurrenz zur Umgebungssprache Deutsch entscheidet, bilden bei Achterberg (2005) klassische soziologische Variablen: Alter und Aufenthaltsdauer in Deutschland bestimmen die Länge des Sprachkontakts Russisch-Deutsch für die russophonen Immigranten. Prinzipiell gilt: Je älter der Migrant bei der Einreise nach Deutschland war 12 und je kürzer die Aufenthaltsdauer 13 , desto größer ist die Bedeutung und die sprachliche Kompetenz im mit- 12 Zur Bedeutung des Faktors Alter für den Erwerb weiterer Sprachen vgl. die Beiträge von Dimroth und Meisel in diesem Band. 13 Die Literatur zur Entwicklung der russischen Diaspora unterscheidet in der Regel vier Emigrationswellen aus der Sowjetunion bzw. ihren Nachfolgestaaten (ausführlich dazu Pfandl 2002, Zemskaja 2001, 35-49): Die erste Welle (1918-23) umfasste v.a. Angehörige der Aristokratie und der gebildeten Schichten, die nach der Oktoberrevolution 1917 und dem sich anschließenden Bürgerkrieg vor den Bolschewiken flüchten mussten. Die meisten davon flohen nach Westeuropa, wo sie z.B. in Paris, Prag und Berlin (dort in den 1920er Jahren 300.000 russische Emigranten) kopfstarke Zentren der russischen Emigration bildeten. Mit dem Aufkom- Bernhard Brehmer 168 gebrachten Russischen (Achterberg 2005, 123ff.). Bei der Gruppe der Russlanddeutschen entscheidet die Generationszugehörigkeit auch über das Ausmaß bereits vorhandener Deutschkenntnisse und den Status des Russischen (vgl. Baur et al. 1999, 62, Meng 2001, 19). Für die sprachliche Entwicklung der Migranten ist darüber hinaus ihr soziales Netzwerk von grundlegender Bedeutung (vgl. Achterberg 2005, 129ff.). Günstig für den Erhalt der Erstsprache Russisch wirkt sich hier aus, dass insbesondere für die ersten beiden Gruppen (Russlanddeutsche, jüdische Kontingentflüchtlinge) die Möglichkeit gegeben war, mit der ganzen Familie nach Deutschland übersiedeln zu können. Zumindest innerhalb der Familie besteht somit nicht die Notwendigkeit, einen Sprachwechsel zur Umgebungssprache Deutsch vollziehen zu müssen. Hinzu kommt, dass sich durch die hohe Zahl russophoner Immigranten in Deutschland regionale Siedlungsschwerpunkte gebildet haben, die oft eine russischsprachige Infrastruktur (Geschäfte, Restaurants, Diskotheken etc.) bieten, was die Möglichkeiten der Verwendung des Russischen im Alltag erhöht (vgl. Meng 2001, 460f.). Förderlich für den Erhalt der Russischkenntnisse erweisen sich auch die nach der politischen Wende in Osteuropa verbesserten Möglichkeiten des Besuchs von Verwandten und Freunden in der alten Heimat, der Aufrechterhaltung des Kontakts über neue und alte Medien (E-Mail, Brief, Telefon) sowie des Konsums von russischsprachigen Medien (Presse, Videos, CDs) in Deutschland (Achterberg 2005, 133). Neben diesen allgemeinen soziologischen Faktoren sind v.a. sprachsoziologische Variablen für die individuelle Ausprägung der russisch-deutschen Zweisprachigkeit entscheidend. Von besonderer Bedeutung ist die Frage, welche Rolle das Russische und das Deutsche bei der sprachlichen Primärsozialisation der Migranten gespielt haben (vgl. Achterberg 2005, 139ff.). Mehrsprachige Familiensituationen sind v.a. für die Gruppe der Russlanddeutschen charakteristisch. Dies hängt zum einen mit den unterschiedlichen Erstsprachen der einzelnen Generationen zusammen (älteste Generation meistens nur Deutsch, mittlere Generation teilweise mit deutscher oder russischer Erstsprache, teilweise bilingual aufgewachsen, jüngere Generationen nahezu ausschließlich mit Russisch als Erstsprache), zum anderen mit dem hohen Anteil von Mischehen, aber auch damit, dass die Russlanddeutschen oft aus Gebieten stammen, in denen sie mit weiteren Sprachen im Alltag konfrontiert wurden (Kasachisch, Ukrainisch u.a.) (Meng 2001, 82ff.). Vorherrschende Familiensprache war vor der Ausreise für die meisten daher das Russische 14 , Deutsch (zumeist in Form men des Nationalsozialismus verlagerten sich diese Zentren allerdings zunehmend weiter nach Übersee (v.a. in die USA). Die zweite Welle (1941-45) bilden die displaced persons, d.h. Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion, die während des Zweiten Weltkriegs nach Deutschland oder in die von Deutschland okkupierten Gebiete verschleppt wurden und nach dem Ende des Krieges nicht wieder in ihre Heimat zurückkehrten. Die dritte Welle (1968- 85) betraf v.a. die sowjetischen Juden und regimekritische Intellektuelle (später auch die ersten Russlanddeutschen), die unter Brežnev die Sowjetunion verlassen durften bzw. mussten. Mit den politischen Reformen Gorbatschows Ende der 1980er Jahre setzte schließlich die vierte Emigrationswelle ein, die sich aus den drei in 2.1. beschriebenen Gruppen zusammensetzt und zu der die größte Zahl der russophonen Migranten in Deutschland gehört. 14 Allerdings verwenden die meisten Russlanddeutschen zu Hause eine substandardsprachliche Form des Russischen (dokumentiert bei Meng 2001, 153f., 447ff.), die ältere Generation zeigt außerdem auch Einflüsse des Deutschen, die bereits ihr Russisch in den Herkunftsländern geprägt hat (Beispiele bei Meng 2001, 450). Bei der Gruppe der jüdischen Zuwanderer dürften die Verhältnisse - nicht zuletzt aufgrund ihrer überdurchschnittlich hohen Bildung - anders liegen. Formen und Folgen russisch-deutscher Zweisprachigkeit in Deutschland 169 der russlanddeutschen Dialekte) wurde, wenn überhaupt, vorwiegend im Kontakt mit der Generation der (Ur-)Großeltern erworben bzw. verwendet (Meng 2001, 43). Für die meisten Migranten aus der ehemaligen Sowjetunion gilt folglich, dass das Russische die Position der Erstsprache einnimmt. Die Untersuchungen von Achterberg zeigen, dass viele Migranten nach der Einreise nach Deutschland bei sich keinen gravierenden Einbruch in ihren Russisch-Kompetenzen beobachten: 183 der 185 Informanten gaben an, dass das Russische in ihrem Herkunftsland die Sprache gewesen sei, die sie am besten beherrschten. 166 von ihnen sind der Auffassung, dass das Russische auch in Deutschland nach wie vor die Sprache sei, in der sie die größte Kompetenz aufweisen würden (Achterberg 2005, 144f.). Dies lässt auf einen geringen Anteil der Sprecher schließen, die mit der Einreise nach Deutschland einen Sprachwechsel vollzogen haben. Abnehmende Kompetenzen in der slavischen Erstsprache werden von den Migranten selbst nur bei Vertretern der jüngeren, teilweise bereits in Deutschland geborenen Generation lokalisiert (Achterberg 2005, 146ff.). Einer deutlichen Einschränkung unterlagen mit der Einreise jedoch die Funktionsbereiche (Domänen), in denen das Russische zum Einsatz kommt. Während die von Achterberg befragten russophonen Migranten angeben, in ihren Herkunftsländern durchschnittlich zu 84% des Tages das Russische verwendet zu haben, lag der Wert nach der Einreise in Deutschland bei nur noch der Hälfte (43%). Dieser Wert ist allerdings der höchste für alle von Achterberg untersuchten slavischen Sprachen in Deutschland (Achterberg 2005, 160ff.). Den höchsten Prozentsatz erreicht die Verwendung des Russischen innerhalb der eigenen vier Wände (61% des Tages vs. 81% im Herkunftsland), d.h. das Russische stellt auch nach der Ausreise nach Deutschland die dominante Familiensprache dar und wird in dieser Domäne kaum vom Deutschen bedroht (Achterberg 2005, 163). Deutlich niedriger ist der Anteil des Russischen an der Kommunikation am Arbeitsplatz (18%) und selbst in der Freizeit (40%), wobei auch hier das Russische unter allen von Achterberg untersuchten Slavinen die höchsten Werte aufweist, was letztlich mit für den Eindruck der Präsenz des Russischen in den Augen der deutschsprachigen Mehrheit verantwortlich ist (Achterberg 2005, 164f.). Diese Daten belegen den weitgehenden Rückzug des Russischen auf die Kommunikation innerhalb der Familie oder des Freundeskreises. 15 Das Deutsche wird dort höchstens von der jüngsten, z.T. in Deutschland geborenen Generation zur Kommunikation mit Familienmitgliedern eingesetzt (Achterberg 2005, 169). Weitere Faktoren, die für die individuelle Ausprägung der Zweisprachigkeit verantwortlich sind, gehören in den Bereich der Identifikation mit der mitgebrachten Sprache und Kultur bzw. der Einstellungen in Bezug auf das Russische und Deutsche (vgl. Achterberg 2005, 185ff., Pfandl 1998b, Ždanova 2004): Welche Rolle spielt das Russische für die Identität der Migranten? Bedeutet Sprachwechsel für die Individuen auch einen Identitätswechsel? Wie stark identifizieren sich die Migranten 15 Betrachtet man die Gruppe der Russlanddeutschen, so lässt sich hier eine völlige Umkehrung der Zuordnung der Sprachen zu den Funktionsbereichen im Vergleich mit den Verhältnissen im Herkunftsland beobachten: Während in der Sowjetunion das Deutsche im Wesentlichen auf die Kommunikation innerhalb der Familie beschränkt war, so ist jetzt das Russische die dominierende Sprache der Binnenkommunikation unter den Gruppenmitgliedern, während das Deutsche für die Kommunikation nach außen eingesetzt wird (Achterberg 2005, 142, Protasova 2000, 50). Einen besonderen Funktionsverlust erleiden dabei die russlanddeutschen Dialekte, die auch nicht für die Außenkommunikation eingesetzt werden können (vgl. Berend 1998). Bernhard Brehmer 170 mit der aufnehmenden deutschen Gesellschaft? Welches Prestige besitzen die eigene Sprache und Kultur nach Meinung der Migranten in der deutschen Gesellschaft? Wie hoch ist die eigene Assimilationsbereitschaft? Wie stark ist das Bedürfnis, das Russische zumindest im privaten Bereich weiter zu pflegen und an die kommenden Generationen weiterzugeben? Wie ausgeprägt ist die emotionale Beziehung zur deutschen Sprache? Angesichts der sozialen, konfessionellen und sprachlichen Heterogenität der hier behandelten Gruppe scheint es wenig sinnvoll, allgemein gültige Antworten auf diese Frage zu geben, zumal zu erwarten ist, dass es gerade bei einigen der hier angesprochenen Bereiche deutliche Unterschiede zwischen den drei in 2.1. vorgestellten Teilgruppen geben dürfte. Die Ergebnisse von Achterberg weisen jedoch in die Richtung, dass bei den russophonen Migranten eine überdurchschnittlich hohe emotionale Bindung an das Russische als mitgebrachter Sprache und Indikator der eigenen Identität und Kultur zu beobachten ist (Achterberg 2005, 237). Ähnliches ist auch speziell für die Gruppe der Russlanddeutschen konstatiert worden (Meng 2001, 453). Trotzdem dürfte innerhalb der russophonen Migranten in Deutschland ein breites Spektrum an verschiedenen soziokulturellen Einstellungen zum Deutschen und Russischen zu beobachten sein, das nur schwer Verallgemeinerungen zulässt. 3. Folgen der russisch-deutschen Zweisprachigkeit Die russophone Migrantengruppe weist unter allen slavisch-sprachigen Minderheiten in Deutschland die höchste Vitalität auf (vgl. Achterberg 2005, 243), was sich zum einen auf ihre Größe und die ausgebauten sozialen Netzwerke zurückführen lässt, die es ihnen ermöglichen, sich sowohl im Kreise der Familie und Freunde, aber auch in anderen Bereichen der Alltagskommunikation weiterhin des Russischen als primärem Kommunikationsmedium bedienen zu können, zum anderen aber aus einem besonderen Selbstbewusstsein und einer auch subjektiv wahrgenommenen hohen ethnolinguistischen Vitalität resultiert (vgl. die hohen Kompetenzgrade im Russischen, die sich die Informanten Achterbergs selbst nach längerem Aufenthalt in Deutschland selbst zuschreiben). Trotz dieser Tatsache bleibt die Einschränkung der Domänen, in denen das Russische eingesetzt werden kann, und der intensive Kontakt mit der Umgebungssprache Deutsch nicht ohne Folgen für die Primärsprache Russisch. Die Einflüsse der Umgebungssprache Deutsch auf das Russische manifestieren sich dabei auf verschiedenen sprachlichen Ebenen. Welche sprachlichen Ebenen beim einzelnen Individuum betroffen sind, hängt dabei sowohl von der individuellen Ausprägung der Sprachkontaktsituation ab, die sich aus der Summe der in Abschnitt 2 dargestellten Faktoren ergibt, als auch von sprachstrukturellen Faktoren, die mit der genetischen Distanz des Russischen zum Deutschen zusammenhängen. Zwar handelt es sich bei beiden Sprachen um indoeuropäische Sprachen, trotzdem besteht eine deutliche typologische Distanz zwischen der stark flektierenden slavischen Sprache Russisch und der germanischen Sprache Deutsch, die im Vergleich zum Russischen z.B. ein deutlich eingeschränktes Kasussystem aufweist. Der strukturelle Abstand zwischen den beiden Sprachen beeinflusst neben den soziolinguistischen Faktoren die Auswahl der Elemente, die in der Sprachverwendung einzelner Individuen aus der Umgebungssprache Deutsch in das Russische übernommen werden. Im Folgenden sollen nun einige sprachliche Beson- Formen und Folgen russisch-deutscher Zweisprachigkeit in Deutschland 171 derheiten der von der russophonen Minderheit in Deutschland verwendeten Form des Russischen exemplarisch dargestellt werden. Das Spektrum der sprachlichen Veränderungen in der Erstbzw. Primärsprache (L1) Russisch, die von der Zweit- oder Umgebungssprache Deutsch (L2) hervorgerufen werden, ist sehr vielfältig. Im Bereich der Lexik reicht es z.B. vom Einschub ganzer deutscher Teilsätze in eine Äußerung, die in der Matrixsprache Russisch gehalten ist (Bsp. 1), über den Einschub deutscher Fremdwörter in eine russische Äußerung (Bsp. 2) bis hin zu einzelnen, aus dem Deutschen übernommenen Lehnwörtern, die lautlich und morphologisch in das russische Sprachsystem integriert werden (Bsp. 3): 16 (1) Konečno, komp’juter my tože kupim, aber das kann noch warten. (Meng / Protassova 2005, 233) 17 ‚Natürlich, einen Computer werden wir auch kaufen, aber das kann noch warten.‘ (2) I ego šef im betrieb on im dovolen, vzjal ego fescht i dal emu urlaub. (Meng / Protassova 2005, 234) ‚Und sein Chef im Betrieb, der ist mit ihm zufrieden, stellte ihn fest ein und gab ihm Urlaub.‘ (3) Kogda ty anmel’dueš’sja? (Meng / Protassova 2005, 234) ‚Wann meldest du dich an? ‘ Fälle wie (1) oder (2), bei denen die Sprache innerhalb eines Gesprächs oder einer Äußerungseinheit mehrfach (Bsp. 2) bzw. nur einmal, dann aber für eine längere Sequenz gewechselt wird (Bsp. 1), werden in der Literatur als Code-Switching bezeichnet 18 . In Fällen wie (3), bei denen nur ein Element aus einer anderen Sprache übernommen wird, wird dagegen von Entlehnung (meist bei einzelnen Wörtern) bzw. allgemeiner von Transferenz gesprochen (mit lexikalischer Transferenz als speziellem Fall der Übernahme von Wörtern) 19 . Für die vorliegende Arbeit möchte 16 Weitere Typen von Sprachmischungen (sowohl bei Äußerungen, in denen Russisch als Matrixsprache fungiert, als auch bei Äußerungen mit Deutsch als dominierender Matrixsprache) bei Meng / Protassova (2005, 233f.). 17 Die russischen Äußerungen bzw. Äußerungsbestandteile werden in der deutschen wissenschaftlichen Transliteration angegeben und übersetzt. 18 Eine weitere Unterteilung wird zumeist dahingehend getroffen, ob mit dem Sprachwechsel eine besondere Aussagefunktion seitens des Sprechers verbunden wird (z.B. die Markierung eines Zitats oder die Wiedergabe fremder Rede, der Ausdruck einer Wertung, die Abgrenzung von Themen oder Sprechhandlungen, die Selektion eines bestimmten Adressaten etc., vgl. Goldbach 2005, 78ff.) oder nicht. Erfolgt der Sprachwechsel mit einer solchen Funktion, d.h. ist er markiert, dann wird in der Regel von Code-Switching im engeren Sinne gesprochen, erfolgt er dagegen häufig und ohne eine erkennbar vom Sprecher intendierte Funktion, bezeichnet man diesen Wechsel als Code-Mixing (vgl. Auer 1999). Die Operationalisierung dieses Kriteriums in der Praxis erweist sich aber häufig als problematisch. Hinzu kommt, dass von vielen Autoren auch dann von Code-Switching gesprochen wird, wenn der (funktional motivierte) Wechsel nur für ein Lexem erfolgt, was zu Problemen bei der Abgrenzung zur Entlehnung bzw. lexikalischen Transferenz führt (vgl. die Aufbereitung dieser Diskussion bei Goldbach 2005, 18ff.). Ich würde nur in den Fällen von Code-Switching sprechen, wenn die Sprache für mindestens zwei ununterbrochen aufeinander folgende Inhaltswörter (Autosemantika) gewechselt wird. 19 Die ältere Literatur spricht in diesem Falle auch von Interferenz. Ich präferiere aber den neutraleren Terminus Transferenz als Begriff „for the process of bringing over any items, features or rules from one language to another, and for the results of this process. Any instance Bernhard Brehmer 172 ich mich auf die Diskussion verschiedener Transferenz-Erscheinungen beschränken, dabei aber sowohl die materielle Übernahme von Elementen aus dem Deutschen berücksichtigen (d.h. die Übernahme deutscher Laute, Wortbestandteile oder ganzer Wörter) als auch die lediglich strukturell erfolgende Beeinflussung (d.h. die Übernahme von Strukturen und ihre Wiedergabe mit russischsprachigem Material). Die Darstellung wird sich dazu an den klassischen Sprachebenen orientieren. 3.1. Phonetische Transfers Die meisten Studien zur russisch-deutschen Zweisprachigkeit gehen kaum auf Transfers im Bereich des Lautsystems und der Prosodie ein. Lediglich für Angehörige bzw. Nachfahren von Vertretern der ersten Emigrationswelle (Zemskaja 2001) und für Kinder, die nur einen frühkindlichen Spracherwerb im Russischen absolviert haben (Meng 2001), sind einige Phänomene beschrieben worden. Offensichtlich tritt die Übernahme von Phonemen aus dem Deutschen ins Russische bzw. die abweichende Realisierung von russischen Lauten unter Einfluss des Deutschen erst dann auf, wenn die Migranten bereits in Deutschland geboren wurden oder zumindest in einem frühen Stadium ihrer Sprachentwicklung nach Deutschland übergesiedelt sind. Nur die Satzintonation wird von einigen Forschern (z.B. Pfandl 1994a, 107) als ein Bereich erwähnt, in dem sich sehr schnell Einflüsse aus dem Deutschen in der Rede Russischsprachiger nachweisen lassen 20 . Im Konsonantismus sind folgende Einflüsse aus dem Deutschen zu lokalisieren: (a) Behauchung (Aspiration) von stimmlosen Verschlusslauten ([t h ]ë[t h ]en’[k h ]a ‚Tantchen‘); (b) stimmhafte Realisierung des velaren Frikativs [x] vor Vokalen, ähnlich dem Spiranten [h] im Deutschen ([h]oču ‚ich will‘), dafür im Auslaut nach Vokalen der vorderen Reihe palatalisiert gesprochen und damit dem deutschen ich- Laut ähnlich ([ix’] ‚ihr‘); (c) wie im Deutschen nur ein mittlerer Liquid [l] (ce[l]y ‚ganz‘); (d) Liquid / r/ häufig als Zäpfchen-r, nicht als gerolltes Zungenspitzen-r realisiert; (e) Frikativ [š] wie im Deutschen mittelweich ausgesprochen ([š’]apka ‚Mütze); (f) positionsbedingter Verlust der Stimmhaftigkeit bei Geräuschkonsonanten ([s]naju ‚ich weiß‘); (g) einige Konsonanten (v.a. [m] und [n]) mit stärkerer Zungenspannung ausgesprochen (vgl. Meng 2001, 286, Zemskaja 2001, 242ff.). Im Bereich des Vokalismus lassen sich die ausbleibende Unterscheidung von [i] und [y] (v[i]leteli ‚sie flogen heraus‘), die Längung der Vokale in betonter, aber auch unbetonter Position (b[a: ]buška ‚Oma‘, otkryt[y: ]e ‚offene‘), die stabile statt gleitende Artikulation der Vokale (besonders / o/ ) und das Auftreten eines Knacklautes an der Wortgrenze zwischen zwei Vokalen als Einfluss der Umgebungssprache Deutsch interpretieren (ebenda). Die Übernahme von Phonemen aus dem Deutschen ins Russische (z.B. der im Russischen nicht vorhandenen Umlaute) ist dagegen nur vereinzelt belegt und an Lehnwörter gebunden, z.B. übertrajbovat’ ‚übertreiben‘ (Ždanova / Trubčaninov 2001, 282). of transference is a transfer.“ (Clyne 1991, 160). Je nach übertragenem Element kann man dann von phonetischem, morphologischem, syntaktischem, lexikalischem Transfer etc. sprechen. 20 Pfandl erwähnt konkret, dass Aussagesätze, die im Russischen einen charakteristischen Intonationsverlauf aufweisen (IK-1), von Migranten ähnlich wie im Deutschen mit einer leichten Tonerhöhung im Intonationszentrum bei gleichzeitiger Verstärkung des Wortakzents realisiert würden, sodass sich für russische Ohren häufig der Eindruck einer Frageintonation (IK-2) ergeben würde. Formen und Folgen russisch-deutscher Zweisprachigkeit in Deutschland 173 3.2. Morphologische Transfers Transferenzen im Bereich der Morphologie treten nach den bisherigen Erkenntnissen der Sprachkontaktforschung erst bei sehr intensivem Kontakt zwischen zwei Sprachen auf. Obwohl wir es im vorliegenden Falle zweifellos mit einem solch intensiven Sprachkontakt zu tun haben, sind deutsche Einflüsse auf das morphologische System des Russischen, das von Migranten in Deutschland verwendet wird, auffallend selten. Die meisten Phänomene wurden auch hier nur für Individuen mit sehr frühem Ausreisealter oder Geburt in Deutschland beschrieben. Allerdings handelt es sich selbst dabei um Abweichungen von der Norm der russischen Standardsprache, die auch im russischen Substandard (dem sog. prostorečie) oder beim monolingualen Erstspracherwerb von Kindern in kompakter russischsprachiger Umgebung zu beobachten sind. Es liegt somit keine materielle Übernahme von Elementen aus dem Deutschen vor, sondern eine generelle Tendenz zum Abbau des Formensystems, die durch den ungesteuerten Spracherwerb des Russischen in fremdsprachiger Umgebung begünstigt wird (vgl. auch Anstatt 2006). Im Bereich der Nominalflexion macht sich dies z.B. in der Ausdehnung des Nominativs auf Kosten der obliquen Kasus bemerkbar, die in einigen Fällen auch auf eine im Deutschen in entsprechenden Fällen ausbleibende materielle Kasusmarkierung zurückgeführt werden kann: on vzjal odin den’ otpusk (statt Genitiv otpuska) ‚er nahm einen Tag Urlaub-Ø‘ vs. *er nahm einen Tag des Urlaubs (Goldbach 2005, 57) 21 . Daneben findet sich der Gebrauch abweichender Kasusmarkierungen, sowohl mit als auch ohne Präposition: ja vižu raznicy [statt: raznicu] ‚ich sehe einen Unterschied‘ (Pfandl 1997, 21), ona zamužem za Saltykova [statt: Saltykovym] byla ‚sie war mit Saltykov verheiratet‘ (Zemskaja 2001, 245). Vereinzelt sind die Kasusformen falsch gebildet: u menja ot teti Ol’gi massa akvarelev [statt: akvarelej] ‚ich habe von Tante Ol’ga eine Menge von Aquarellen‘ (Zemskaja 2001, 246). Abweichungen von der Norm lassen sich auch bei der Genuszuweisung feststellen, wobei manchmal das Deutsche für die falsche Genuszuweisung Pate gestanden haben könnte, etwa wenn das Maskulinum golos plötzlich als Femininum behandelt wird nach dem Muster seines deutschen Äquivalents ‚Stimme‘ (Meng 2001, 146, vgl. auch Anstatt 2006). Gleiches findet sich beim Numerus, z.B. wenn das russische Singulare tantum mebel’ nach dem Vorbild des deutschen ‚die Möbel‘ im Plural auftritt: oboi nado pokupat’, mebeli smotret’ ‚man muss Tapeten kaufen, sich Möbel anschauen‘ (Protasova 1996, 58). Als weitere Problembereiche in der Nominalflexion werden die Anwendung und Deklination der Sammelzahlwörter genannt (Meng 2001, 146, Pfandl 1997, 20, Zemskaja 2001, 247), die allerdings auch bei Individuen im kompakten russischen Sprachgebiet zu beobachten sind, sowie Schwankungen bei den Possessivpronomina der 3. Person eë (fem.Sg.) und ich (Pl.), da beide im Deutschen mit ihr wiedergegeben werden (Meng 2001, 147). Der Formenbestand des Verbums bleibt in der Diaspora-Situation ebenfalls nicht ohne Veränderungen, auch wenn das Ausmaß und die Häufigkeit der Abweichungen in diesem Bereich geringer zu sein scheinen als in der Nominalflexion: Einerseits treten gewisse Abweichungen im Bereich der Konjugation auf, die auf eine Verringerung der Konjugationsparadigmen zurückzuführen sind, wenn z.B. Verben mit dem Suffix {ova} wie normale Verben der e-Konjugation flektiert 21 Weitere Beispiele für die Verwendung des Nominativs statt obliquen Kasus, z.B. nach Präpositionen oder Zahlwörtern, bei Zemskaja (2001, 245). Bernhard Brehmer 174 werden: cerkov’ tože teper’ remontirovajut [statt: remontirujut] ‚die Kirche repariert man jetzt auch‘ (Zemskaja 2001, 247). Andererseits ist insbesondere das System der Verbalaspekte einem Abbau ausgesetzt, der sich z.B. darin äußert, dass nach Phasenverben gelegentlich der perfektive Aspekt verwendet wird oder bei der Wiedergabe einer Abfolge von Handlungen perfektive und imperfektive Verbformen koordiniert werden: i on načal s ėtoj zunge popit’ [statt: pit’] ‚und er begann mit dieser Zunge zu trinken‘, potom on opjat’ prišel i pel [statt: spel] ‚dann kam er wieder und sang‘ (Meng 2001, 146f., vgl. auch Pfandl 1997, 26f., Zemskaja 2001, 248). Ein direkter Einfluss des Deutschen ist dagegen bei der Verwendung reflexiver Verben anstelle nicht-reflexiver (oder umgekehrt) anzunehmen: nu tak, ponimaemsja [statt: ponimaem drug druga], takie obyčnye vešči ‚na so, wir verstehen uns, solche gewöhnlichen Sachen‘ (Goldbach 2005, 57, vgl. auch Pfandl 1997, 22). Vereinzelt sind solche Einflüsse auch bei der Bildung von Tempusformen und bei der Verwendung von Modi zu beobachten 22 . Pfandl (1997) illustriert ferner mit zahlreichen Belegen den Verlust der Unterscheidung der Gerichtetheit und Nicht- Gerichtetheit bei Verben der Bewegung, da eine vergleichbare Kategorie im Deutschen fehlt. Der Abbau führt dazu, dass die gerichteten (uni-direktionalen) Verben der Bewegung generalisiert werden und die polydirektionalen verdrängen: ja nemnogo echal [statt: ezdil] po Avstrii ‚ich bin ein wenig in Österreich herumgefahren‘ (Pfandl 1997, 21). Außerdem kommt es zu Fehlern bei der Wahl des Verbums, das die Art der Fortbewegung charakterisiert: ja tol’ko včera prišel [statt: priechal] iz Pariža ‚ich bin erst gestern aus Paris (zu Fuß) [statt: (mit dem Auto etc.)] angekommen‘ (Pfandl 1997, 25). Selbst im Bereich der Derivationsmorphologie lassen sich (bislang) offenbar kaum Einflüsse des Deutschen im Russischen der russophonen Migranten Deutschlands beobachten. Es werden keine deutschen Wortbildungsaffixe ins Russische übernommen. Aufälligkeiten ergeben sich lediglich dadurch, dass einige im Russischen produktive Suffixe zur Bildung von Wörtern eingesetzt werden, die es im Russischen nicht gibt, z.B. das Suffix {ost} zur Bildung von Abstrakta: ėto takaja stydnost’ [statt: styd] ‚das ist so eine Schande‘ (Zemskaja 2001, 253), oder suffigierte Wörter in pragmatisch dafür nicht geeigneten Kontexten verwendet werden, z.B. krestik als Diminutivum zu krest ‚Kreuz‘ zur Bezeichnung eines Kruzifix (russ. raspjatie) (Meng 2001, 126, vgl. auch Pfandl 1998a, 378). 3.3. Syntaktische Transfers Die Übernahme syntaktischer Regeln und Einheiten aus dem Deutschen konzentriert sich auf einige Bereiche. Besonders häufig ist die Übernahme des deutschen Rektionsmodells bei einigen Verben zu beobachten, z.B. ja sosredotočus’ na svoju rabotu [statt: na svoej rabote] ‚ich werde mich auf meine Arbeit konzentrieren‘ (Protasova 1996, 58), smotrju iz okna [statt: v okno] ‚ich schaue aus dem Fenster‘ (Pfandl 1997, 23). Bei Vorschulkindern wurde beobachtet, dass im Russischen intransitive Verben nach dem deutschen Muster transitiv gebraucht wurden: on zalezaet derevo [statt: na derevo] ‚er klettert den Baum hinauf‘ (Anstatt 2006, 21). Es findet sich aber auch der Fall, dass die Verbindung mit bloßem Kasus (z.B. dem 22 In Meng (2001, 459) werden Fälle der analytischen Bildung des Präteritums nach Vorbild des deutschen Perfekts erwähnt. Goldbach (2005, 57) bringt Beispiele für die Verwendung des Indikativs anstelle des Konditionals in finalen čtoby-Sätzen, die von chotet’ ‚wollen‘ abhängig sind. Formen und Folgen russisch-deutscher Zweisprachigkeit in Deutschland 175 Instrumental) im Russischen durch eine präpositionale Wendung nach deutschem Muster ersetzt wird: s busom priedete [statt: avtobusom poedete] do ostanovki universitet ‚mit dem Bus fahrt ihr bis zur Haltestelle Universität‘ (Meng 2001, 337). Die Tendenz zum stärkeren Analytismus beim Ausdruck von Kasusbedeutungen findet sich gleichfalls bei Sprechern im kompakten russischen Siedlungsgebiet, sie wird aber in diesem Falle sicherlich durch den analytischen Charakter der Umgebungssprache Deutsch verstärkt (Protasova 2000, 53). Kongruenzprobleme zwischen anaphorisch verwendeten Pronomina und Verbformen im Präteritum (i oni otkryl [statt: otkryli]) sowie dem Genus bzw. Sexus des Substantivs, auf das referiert wird, sind nur für Kinder mit frühem Emigrationsalter beschrieben worden (Meng 2001, 146). Auch bei bereits im Erwachsenenalter emigrierten Russischsprachigen findet sich dagegen die Ausbreitung der zum Deutschen analogen persönlichen haben-Konstruktion mit dem Verb imet’, das in der standardsprachlichen Norm nur für abstrakte Objekte und einige wenige Konkreta zulässig ist, auf Kosten der im Russischen üblichen unpersönlichen Konstruktion u menja X (wörtl. ‚bei mir ist X‘): v četverg ja imeju general’nuju probu [statt: u menja general’naja proba] ‚am Donnerstag habe ich Generalprobe‘ (Pfandl 1998a, 379, vgl. auch Zemskaja 2001, 249). Ebenfalls als direkter Einfluss aus dem Deutschen kann die häufige Verwendung des Zahlworts odin, odna, odno ‚eins‘ bzw. von Demonstrativpronomina wie ėtot, ėta, ėto ‚dieser, diese, dieses‘ oder tot, ta, to ‚jener, jene, jenes‘ zum Ausdruck der Determiniertheit, d.h. als Ersatz für den unbestimmten (Zahlwort) und bestimmten Artikel (Demonstrativpronomina) im Deutschen, interpretiert werden (Protasova 1996, 62, Meng 2001, 125). Einen Reflex der österreichisch-deutschen Umgangssprache im Russischen der Migranten sieht Pfandl (1998a, 392) in der Einfügung des Personalpronomens der 3. Person Plural oni ‚sie‘ in unbestimmt-persönliche Konstruktionen, die eine allgemeine Aussage beinhalten und im Russischen nur mit der Verbform in der 3. Person Plural ohne Personalpronomen konstruiert werden, da sonst der Bezug auf einen im Vortext erwähnten konkreten Referenten impliziert würde: togda oni zapretili razvodit’ korov ‚da verbot man es, Kühe zu halten‘. Von einigen Individuen wird sogar das deutsche Indefinitum man in den russischen Satz übernommen: v Rossii man delaet ėti plomby iz pasty ‚in Russland macht man diese Plomben aus einer Paste‘ (Ždanova / Trubčaninov 2001, 278). Daneben gibt es eine Reihe weiterer spezieller syntaktischer Abweichungen von der Norm, die von den entsprechenden deutschen Konstruktionen beeinflusst sind 23 . Einen zentralen Bereich von deutschen Einflüssen in der Syntax bildet die Wortstellung: Insbesondere bei früh nach Deutschland gekommenen Migranten findet sich z.B. die Nachahmung der deutschen Satzklammer, bei der das Objekt zwischen Hilfsverb und abhängigen Infinitiv zu treten hat: potom oni choteli 23 Dazu gehören: Verwendung von Adverbien anstelle von Präpositionalphrasen als Umstandsbestimmungen: vy legko najdete obščežitie - ėto central’no [statt: v centre] ‚Sie finden das Wohnheim leicht, das (liegt) zentral‘ (Ždanova / Trubčaninov 2001, 278); abweichende Präpositionen bei Zeitangaben: ja tože posle dva-tri mesjaca [statt: čerez dva-tri mesjaca oder posle dvuchtrech mesjacev] načala po-ital’janski tak govorit’ ‚ich habe auch nach ein-zwei Monaten angefangen, so italienisch zu sprechen‘ (Pfandl 1998a, 383); abweichende Verwendung von Konjunktionen, z.B. esli ‚falls‘ in der Funktion von li ‚ob‘ (Zemskaja 2001, 249); häufigere Verwendung des Passivs in gesprochener Sprache (ebenda); speziell bei Kindern mit frühem Einreisealter auch häufigere Verwendung der Kopula byt’ ‚sein‘, Abweichungen von der doppelten Negation (Meng 2001, 459) oder Schwankungen bei der Verwendung der Lang- und Kurzformen der Adjektive (Meng 2001, 147). Bernhard Brehmer 176 ljagušku najti [statt: potom oni choteli najti ljagušku] ‚danach wollten sie den Frosch finden‘ (Anstatt 2006, 21). Eine verstärkte Tendenz zur Verb-Zweitstellung, z.B. bei vorgeschaltetem Nebensatz, ist ebenfalls als deutscher Einfluss zu werten: kogda mama chotela moloko i tvorogu vse brat’, skazala ona im, čto oni aufpassen müssen [statt: kogda mama xotela brat’ moloko i tvorogu vse, ona im skazala, čto...] ‚als die Mama Milch und Quark kaufen wollte, sagte sie ihnen, dass sie aufpassen müssen‘ (Meng 2001, 147). 3.4. Lexikalische Transfers Die Lexik gilt traditionell als der Bereich, in dem sich Sprachkontakt am schnellsten manifestiert. In den meisten Studien zur russisch-deutschen Zweisprachigkeit wird daher lexikalischen Entlehnungen aus dem Deutschen der meiste Raum gewidmet, da diese zum einen besonders auffällig sind, zum anderen aber auch bei allen Migrantengruppen, d.h. unabhängig von Zeitpunkt und Alter bei der Einreise nach Deutschland und ihren weiteren soziologischen Charakteristika, zu beobachten sind 24 . Lexikalische Transfers lassen sich danach klassifizieren, ob das deutsche Lexem in Form und Bedeutung übernommen und gegebenenfalls an das lautliche und morphologische System der Empfängersprache adaptiert wird (Materialentlehnung, vgl. die o.g. Bsp. 1-3), oder ob lediglich seine Bedeutung bzw. Struktur übernommen, aber mit eigensprachlichem Material ausgedrückt wird (Lehnprägung). Unter den Materialentlehnungen aus dem Deutschen sind alle Wortarten vertreten. Besonders häufig und schnell werden Substantive als Inhaltswörter 25 , aber auch Funktionswörter, d.h. verschiedene Partikeln, Höflichkeitsformeln, Präpositionen und Konjunktionen (ach so, doch, na ja, also, sowieso; hallo, tschüss, danke; bis; aber) sowie Interjektionen (a vot ėto geil ‚und das ist geil‘) aus dem Deutschen übernommen (vgl. Goldbach 2005, 58ff., Meng 2001, 118, Pfandl 1994a, 107, Ždanova / Trubčaninov 2001, 283f.). Deutlich seltener werden Verben, wie z.B. pucat’ ‚putzen‘, mitat’ ‚mieten‘ (Ždanova / Trubčaninov 2001, 276), und Adjektive und Adverbien, wie z.B. normalerweise (Meng 2001, 457), übernommen. Für die Intensität des Kontakts spricht, dass selbst Zahlwörter aus dem Deutschen entlehnt werden, die ansonsten einen besonders transferresistenten lexikalischen Bereich bilden (Meng 2001, 454). Die Entlehnungen werden teilweise begleitet von parallelen Umschreibungen ihres Inhalts unter Heranziehung genuin russischer Wörter, insbesondere dann, wenn es sich um spezielle Termini handelt, mit denen die Migranten erst in Deutschland konfrontiert werden und die daher unter Umständen einer Erläuterung bedürfen, um vom Adressaten verstanden zu werden: Včera večerom v stolice Germanii otkrylsja ėkumeniše kirchentag - pervyj vseobščij s”ezd christjan ‚Heute abend wurde in Deutschlands Hauptstadt der ökumenische Kirchentag eröff- 24 Die besondere Stellung der Lexik spiegelt sich auch in der Selbsteinschätzung der Migranten wider. Nach den Untersuchungen Achterbergs bemerken die slavophonen Immigranten die größten Veränderungen in ihrer slavischen Sprachkompetenz gerade in der Lexik: So gaben 87% der Befragten Achterbergs an, dass ihnen bestimmte Wörter zuerst auf Deutsch einfallen. Dieser Wert liegt deutlich höher als die Werte für selbst registrierte Veränderungen in der Grammatik (42%) und in der Phonetik (33%) (Achterberg 2005, 151). 25 Das Korpus der von Goldbach (2005) registrierten lexikalischen Transfers von Inhaltswörtern besteht aus insgesamt 135 Lexemen, von denen 113 (83,7%) auf Substantive entfallen, 11 (8,1%) auf Adjektive und Adverbien, 10 (7,4%) auf Verben sowie eins auf ein Zahlwort (0,7%). Formen und Folgen russisch-deutscher Zweisprachigkeit in Deutschland 177 net - der erste allgemeine Kongress der Christen‘ (Goldbach 2005, 39) 26 . Derartige Doubletten finden sich aber auch bei alltäglicher Lexik, d.h. das Wort wird zuerst auf Russisch oder Deutsch in den Diskurs eingeführt und danach die Entsprechung in der jeweils anderen Sprache nachgeschoben: i prorabotal god - fertrag u nego byl, dogovor ‚und er arbeitete ein Jahr - er hatte einen Vertrag, einen dogovor‘ (Protasova 1996, 58). Die aus dem Deutschen übernommenen Lexeme selbst können unterschiedlich behandelt werden. Teilweise werden sie mit deutscher Aussprache realisiert und nicht in das morphologische System des Russischen integriert, d.h. nicht flektiert: S freund-to včera videlsja? ‚Hast du dich denn gestern mit (deinem) Freund gesehen? ‘ (Meng 2001, 305, vgl. auch Bsp. 2). Häufiger erfolgt jedoch die Eingliederung der Entlehnungen in das lautliche und auch grammatische System der aufnehmenden Sprache Russisch 27 . Im Bereich der lautlichen Adaptation ist besonders die Wiedergabe der im Russischen nicht vorhandenen Laute (z.B. Spirant [h], Umlaute, Diphthonge) problematisch, wobei sich die Tendenz abzeichnet, diese möglichst genau wiederzugeben, was z.B. bei geografischen Namen häufig zu einer Abweichung von den in Russland eingebürgerten Formen führt: Chajdel’berg (statt Gejdel’berg), Bajrojt (statt Bajrejt) (Protasova 2000, 54). Im Bereich der Betonung wird meistens die deutsche Akzentstelle übernommen, selbst bei Wörtern, die eine orthoepisch kodifizierte Form im Standardrussischen aufweisen: mónitor (statt monitór), féstplatte, cháuptštudium (Ždanova / Trubčaninov 2001, 283, Goldbach 2005, 44f.). Allerdings finden sich auch Sprecher, die sich bei der lautlichen Adaptation eher an der russischen Orthoepie orientieren, z.B. semestertíkket (statt zeméstertikket) (Goldbach 2005, 32). Insgesamt ist der (auch individuelle) Schwankungsbereich bei der lautlichen Adaptation also recht hoch (Meng 2001, 127). Bei der Integration in das grammatische System überwiegt dagegen die Orientierung am Modell des Russischen. So wird Entlehnungen, die auf einen Konsonanten auslauten, in der Regel das maskuline Genus zugewiesen, unabhängig vom Genus des Wortes im Deutschen: lučšij študium wörtl. ‚der beste Studium‘ (Goldbach 2005, 41). Die Deklination folgt dann derjenigen der russischen Maskulina. Entlehnungen, die auf -e enden, werden gewöhnlich als Feminina behandelt und dekliniert: my vsej gruppoj idem segodnja večerom v knajpu ‚wir gehen heute mit der ganzen Gruppe in die Kneipe‘ (Ždanova / Trubčaninov 2001, 276). Die Einordnung als Neutrum ist dagegen eher untypisch für Entlehnungen aus dem Deutschen (Goldbach 2005, 42, Ždanova / Trubčaninov 2001, 276). Häufiger ist dagegen, dass zwar eine lautliche und syntaktische Eingliederung erfolgt, aber die Deklination unterbleibt: on na forlezung zasnul ‚er ist in der Vorlesung eingeschlafen‘ (Goldbach 2005, 42). Bei längeren Entlehnungen (v.a. Komposita) ist bisweilen zu beobachten, dass nicht das gesamte Wort ins Russische übernommen wird, sondern nur der erste bedeutungstragende Teil: ona ešče ne polučaet arbajtsloze ‚sie bekommt noch keine 26 Diese parallelen Umschreibungen bzw. Übersetzungen ins Russische finden sich laut Protasova (2000, 52ff.) besonders häufig in der russischsprachigen Presse Deutschlands. Die deutschen Termini werden dabei teilweise in lateinischer Schrift in den kyrillischen Text eingeführt, teilweise aber auch ins Kyrillische transliteriert. Das Verfahren der unmittelbaren Kombination der Entlehnung mit ihrem russischen Äquivalent wird auch als repetitive Setzung bezeichnet, die spezielle Funktionen erfüllen kann oder auch nur aus sprachlicher Unsicherheit resultiert und die Verständigung gewährleisten soll (vgl. Meng 2001, 456f.). 27 Zur grafischen Adaptation der deutschen Lehnwörter in den Texten der russischsprachigen Presse vgl. Protasova (2000, 54f.). Bernhard Brehmer 178 Arbeitslosenunterstützung‘ (Protasova 1996, 57, vgl. auch Ždanova / Trubčaninov 2001, 277f.). Die grammatische Integration der Verben weist größere Schwankungen als diejenige der Substantive auf: Teilweise werden die Formen nur lautlich adaptiert, behalten aber die deutschen Flexionsendungen: kto tam lechel’t? ‚wer lächelt dort? ‘, pjat’desjat’ procentov možete šparen ‚fünfzig Prozent können Sie sparen‘ (Goldbach 2005, 43). Andere Untersuchungen weisen aber, z.T. bei denselben Verben, eine reguläre Integration in die russischen Flexionsparadigmen nach, z.B. šparit’ na stroitel’stvo doma ‚sparen für den Bau eines Hauses‘ (Protasova 2000, 56). Dies schließt auch die Ableitung neuer Formen, z.B. zur Bildung von Aspektpartern mittels Präfigierung, ein: zdes’ zaferbočeno ‚(das) ist hier verboten‘ (Ždanova / Trubčaninov 2001, 276). Eine pleonastische Kombination russischer und deutscher formbildender Affixe liegt im folgenden Beispiel vor: ty uže sgekochala? ‚hast du schon gekocht? ‘ (Meng / Protassova 2005, 234). Die Motivationen für die materielle Übernahme von Wörtern aus dem Deutschen ins Russische sind sehr unterschiedlich. Die Entlehnung resultiert häufig aus der Notwendigkeit, bestimmte Gegenstände, Sachverhalte etc., mit denen die Migranten erstmals in Deutschland konfrontiert werden, zu bezeichnen. Oft gibt es im Russischen keine geeigneten Entsprechungen (vgl. Begriffe wie Lohnsteuerkarte, Kindergeld, Bahncard etc.) oder die Begriffe sind erst in der neuen Heimat zur Lebensrealität der Migranten geworden, sodass ihnen die genuin russischen Begriffe nicht zugänglich sind 28 , wobei die Trennung von der kompakten russischen Sprachgemeinschaft das Auffüllen des lexikalischen Reservoirs mit „echten“ russischen Begriffen erschwert. In diesem Falle erweist es sich dann häufig als ökonomischer, das entsprechende Wort aus dem Deutschen zu übernehmen, als den Begriff umständlich mit russischen Wörtern zu paraphrasieren. Ein spezieller Fall liegt dann vor, wenn den Migranten zwar russische Äquivalente bekannt sind, aber die damit bezeichneten Denotate nicht in jeder Hinsicht zu dem im Deutschen zu bezeichnenden Gegenstand passen, da sie z.B. mit anderen Konnotationen verbunden sind 29 . Werden dagegen Begriffe aus dem Grundwortschatz aus dem Deutschen übernommen, dann können dafür andere Motivationen angesetzt werden, z.B. momentan auftretende Lücken im individuellen Lexikon, d.h. dem Sprecher fällt gerade nur das deutsche Lexem ein, weil er mit ihm z.B. in seinem Alltag (auf der Arbeitsstelle o.Ä.) häufiger konfrontiert wird als mit seinem russischen Pendant. Die Selektion des deutschen Begriffs kann aber auch als Indikator der soziokulturellen Orientierung des Migranten an der aufnehmenden deutschen Gesellschaft, ihrer Sprache und Werte eingesetzt werden. Die Sprachwahl wird somit auch zu einem Mittel, um 28 Goldbach (2005, 33ff.) teilt die Entlehnungen auf verschiedene Sachfelder auf, die jedoch z.T. auch die spezifische Lebensrealität ihrer Informanten (v.a. Hochschulstudenten) widerspiegeln: Universität / Schule, Behörden / Bürokratie / Arbeitsmarkt, Computer / Internet / Unterhaltungstechnik, Lebensmittel / Speisen, Ärzte / Krankheiten / Körperteile, Verwandtschaftsbezeichnungen. Gerade in diesen Bereichen sind nach Goldbach die lexikalischen Transfers stabil, d.h. bei verschiedenen Vertretern der russischen Diaspora in Deutschland anzutreffen. In anderen lexikalischen Bereichen tragen die Übernahmen aus dem Deutschen einen eher individuellen Charakter und werden neben den genuin russischen Entsprechungen parallel verwendet. 29 So gibt es für das deutsche Kneipe durchaus funktionale Entsprechungen im Russischen wie z.B. pivnaja, rjumočnaja, kabak, traktir, zabegalovka etc., die damit bezeichneten Denotate sind aber mit spezifischen Konnotationen verbunden, die nicht auf Kneipe zutreffen (Ždanova / Trubčaninov 2001, 281). Weitere Beispiele auch bei Goldbach (2005, 47) und Meng (2001, 454). Formen und Folgen russisch-deutscher Zweisprachigkeit in Deutschland 179 das eigene soziale Prestige zu heben. Meistens liegt aber keine monokausale Motivation der Sprachwahl vor, sondern das sprachliche Verhalten ergibt sich aus einer Kombination mehrerer Faktoren (Goldbach 2005, 45ff., Meng / Protassova 2005, 246ff., Ždanova 2004 u.a.). Der zweite Typ lexikalischer Transfers sind Lehnprägungen. Sie beruhen darauf, dass lediglich die Bedeutung eines deutschen Lexems auf ein bereits vorhandenes russisches Wort übertragen wird (Lehnbedeutung) oder das deutsche Lexem das formale und semantische Modell bildet für die Entstehung eines neuen Lexems im Russischen (Lehnbildung). Ein Fall von Lehnbedeutung liegt z.B. vor, wenn das russische Verb delat’ ‚machen‘ unter dem Einfluss des Gebrauchs seines deutschen Äquivalents in der Bedeutung von ‚studieren‘ (russ. izučat’) oder ‚sich beschäftigen mit‘ (russ. zanimat’sja) verwendet wird, was in der russischen Norm unzulässig ist: on delaet slavistiku ‚er macht (i.S. studiert) Slavistik‘, on delaet sport ‚er macht Sport‘ etc. (Goldbach 2005, 56f., Pfandl 1998a, 383, Ždanova 2004, 89). Besonders häufig treten derartige Lehnbedeutungen dann auf, wenn in beiden Sprachen zwei ähnlich lautende Wörter (Homophone) vorhanden sind, die sich aber in ihrer Bedeutung unterscheiden. Diese „falschen Freunde“ führen dann zu semantischen Transfers beim Sprachkontakt, z.B. wenn das russische familija ‚Familienname‘ in der Bedeutung ‚Familie‘ (russ. sem’ja) verwendet wird: vsja moja familija praktičeski v Moskve ‚meine ganze Familie (ist) praktisch in Moskau‘ (Pfandl 1998a, 383) 30 . Bei der Lehnbildung entsteht ein neues russisches Lexem bzw. eine Lexemverbindung unter dem Einfluss eines deutschen Vorbilds. Das deutsche Vorbild kann dabei Bestandteil für Bestandteil ins Russische übertragen werden (Lehnübersetzung): perestavit’sja na russkij ‚sich auf das Russische umstellen‘ (statt perestroit’sja / pereključit’sja na russkij ‚sich umbauen / umschalten auf das Russische‘) (Pfandl 1998a, 377). Daneben kann das deutsche Lexem auch nur als grobes Modell dienen, das dann mit sprachlicher Abweichung ins Russische übertragen wird (Lehnübertragung): medicinskaja kassa ‚Medizinkasse‘ in der Bedeutung ‚Krankenkasse‘ (Goldbach 2005, 32). 4. Sprachmischung und sprachliches Selbstverständnis: Qwelja Der intensive Kontakt mit der Umgebungssprache Deutsch führt, wie in Abschnitt 3 gezeigt, zu verschiedenen Veränderungen in dem von den Migranten gesprochenen Russisch. Zu fragen bleibt jetzt noch, wie bewusst diese Transfers aus dem Deutschen den Sprechern selbst sind, d.h. ob die beiden Sprachsysteme von den Migranten als getrennt wahrgenommen werden oder ob die Sprachmischungen mehr oder weniger unbewusst und ungesteuert erfolgen. Die Ergebnisse der Befragung von russlanddeutschen Migranten durch Meng / Protassova (2005) machen deutlich, dass die Sprachmischung von Russisch und Deutsch für einen Großteil der Befragten keinen Gegenstand bewusster Reflexionen bildet, sondern nur dann auffällt, wenn Verwandte und Freunde aus dem Herkunftsland zu Besuch sind, die sie auf 30 Weitere Beispiele bei Goldbach (2005, 54f.), Protasova (2000, 52ff.), Ždanova / Trubčaninov (2001, 276f.) oder Zemskaja (2001, 250). Bisweilen führt der Einfluss des deutschen Lexems dazu, dass auch die Form des russischen Lexems verändert wird, z.B. architekt (statt architektor), musul’man (statt musul’manin) (Protasova 1996, 59) oder kritizirovat’ ‚kritisieren‘ (statt kritikovat’) (Ždanova / Trubčaninov 2001, 277). Bernhard Brehmer 180 diese Abweichungen hinweisen, oder sie selbst in ihre alte Heimat reisen und es dort zu Verständigungsproblemen kommt. Das Spektrum der Einstellung der Sprecher selbst gegenüber der Vermischung von Russisch und Deutsch reicht bei den Informanten von Meng / Protassova von einer klaren Ablehnung über eine neutrale Akzeptanz, solange die Verständlichkeit gewährleistet ist, bis hin zu einem gewissen Stolz über die eigenen sprachschöpferischen Fähigkeiten, die es ermöglichen würden, sich sowohl gegen die deutsche Mehrheitsgesellschaft als auch gegen die russischsprachige Herkunftsgesellschaft abzugrenzen (vgl. Meng / Protassova 2005, 252ff.). Zumindest für einen Teil der bilingualen Migranten bildet die Sprachmischung also einen Teil ihrer sozialen Welt und damit einen wichtigen Ausweis der eigenen polykulturellen Identität. Die Eigenständigkeit als Gruppe der Russlanddeutschen manifestiert sich auch in verschiedenen Selbstbezeichnungen wie rusaki, russkie nemcy ‚russische Deutsche‘, Russe-Deutscher u.a., die sie sowohl gegen die Binnen-Deutschen (korennye nemcy ‚verwurzelte Deutsche‘, mestnye ‚Ortsansässige‘, deutsche Leute u.a.) als auch gegen die Vertreter der Herkunftsgesellschaften aus der ehemaligen Sowjetunion (zemljaki nenemeckoj nacional’nosti ‚Landsleute nichtdeutscher Nationalität‘, naši byvšie sootečestvenniki ‚unsere ehemaligen Landsleute‘) abheben (vgl. Meng / Protassova 2003). Was sich bereits in diesen Selbstbezeichnungen andeutet, nämlich die Überzeugung, beides, d.h. Russe und Deutscher zu sein, spiegelt sich dieser Auffassung nach in natürlicher Weise auch in der Herausbildung einer eigenen Sprachform wider, die eine Synthese aus Russisch und Deutsch darstellt 31 . Die Bedeutung dieser gemischten Sprachform für das Selbstverständnis zeigt sich ebenfalls daran, dass Code-Switching zum Deutschen und die erwähnten Transferphänomene auch dann unter russophonen Migranten zu beobachten sind, wenn kein Sprecher, für den Deutsch die Primärsprache darstellt, am Gespräch beteiligt oder zugegen ist (Goldbach 2005, 92). Dass dies nicht nur für die Teilgruppe der Russlanddeutschen gilt, wird auch an der Kultivierung der eigenen polylingualen russisch-deutschen Identität im Internet deutlich, die sich nicht nur an die russlanddeutsche Gruppe richtet. Neben speziellen Chats für die russophone Diaspora in Deutschland, in denen zahlreiche, z.T. bewusst sprachspielerische und kreative russisch-deutsche hybride Beiträge zu bewundern sind (z.B. bei www.okean.de), findet sich auch das Internet- Projekt Qwelja, das sich in durchaus selbstironischer Weise der Reflexion über die sprachlichen Gewohnheiten der russophonen Minderheit in Deutschland widmet 32 . Qwelja sei der Name der Sprache, die sich die russischsprachigen Migranten (genannt werden explizit sowohl die russlanddeutschen als auch die jüdischen Migranten) in Deutschland, Österreich und der Schweiz zur leichteren Verständigung mit den dort alteingesessenen Bewohnern erschaffen hätten. Der Besucher der Internetseite erhält unter anderem Informationen über die (fiktive) Geschichte dieser Sprache, kann in einem Forum Fragen zu Qwelja stellen, z.B. zur Etymologie des 31 Meng / Protassova (2005) bezeichnen diese russisch-deutsche Sprachform als „Aussiedlerisch“, das für die Russlanddeutschen als dritte Sprachform neben das Deutsche und Russische tritt. 32 Internet-Adresse: http: / / www.strannik.de/ quelia. Als Person, die sich für die „Aufzeichnung“ der „Sprache“ Qwelja verantwortlich zeichnet, figuriert ein aus Sankt Petersburg stammender und nun in Berlin lebender Musiker mit dem vielsagenden Pseudonym Saša Puškin, der auch einige Lieder in Qwelja verfasst hat, deren Texte ebenfalls auf der Homepage abrufbar sind. Formen und Folgen russisch-deutscher Zweisprachigkeit in Deutschland 181 Namens 33 , und hat Zugang zu einem Qwelja-Russischen Wörterverzeichnis („Qwelja-Russkij Vertabuch“), in dem 135, z.T. grotesk russifizierte Entlehnungen aus dem Deutschen geboten werden. Zur Illustration dieser „Sprache“ sei hier der Anfangstext der Homepage in der Originalform (d.h. in kyrillischer Schrift) zitiert: Дорогие Sehr geehrte Damen und Herren, Мы бегрюсаем Вас на нашем новом зайте, посвященном литературной шпрахе Qweля. На шпрахе Qweля шпрехают цырка миллиöн бевонающих в Бундесе, Öстерайхе и Швицерляндии ауслэндеров фон Rußлянд. Qweля как шпраха хабает зерлангую гешихту, о которой можно прочитать ЗДЕСЬ. На Qweле создан великий могучий литератур и фольклöр, который занимает вихтижный платц в шатцкаммере мировой культюр. Для штудирующих Qweлю мы форберайтали учебный Qweля-Rußский Вертабух, который называется „Cловарь Креативной Qweли“. А те кто траум такой имеет дойч цулернен, тому наш УЕБУНГ. 34 ‚Liebe Sehr geehrte Damen und Herren, Wir begrüßen Sie auf unserer neuen Seite, die der Literatursprache Qwelja gewidmet ist. Die Sprache Qwelja sprechen circa eine Million Ausländer von Russland, die die Bundes(republik), Österreich und Schweiz bewohnen. Qwelja hat als Sprache eine sehr lange Geschichte, über die man HIER nachlesen kann. Auf Qwelja ist eine große, mächtige Literatur und Folklore geschaffen, die einen wichtigen Platz in der Schatzkammer der Weltkultur einnimmt. Für die Qwelja-Studierenden haben wir ein Qwelja-Russisches Lehrwörterbuch vorbereitet, das „Wörterbuch der Kreativen Qwelja“ heißt. Und diejenige, die den Traum haben, Deutsch zu lernen, dafür ist unsere UEBUNG.‘ Der Textausschnitt enthält nahezu die ganze Palette der in Abschnitt 3 aufgezählten Kontaktphänomene: eine Unmenge lexikalischer Transfers aus dem Deutschen (Substantive wie špracha ‚Sprache‘, auslėnder ‚Ausländer‘, platc ‚Platz‘; Verben wie begrjusat’ ‚begrüßen‘, šprechat’ ‚sprechen‘; Adjektive wie vichtižnyj ‚wichtig‘; Präpositionen wie fon ‚von‘ usw.), die teilweise ins morphologische System des Russischen eingepasst werden (špracha chabaet zerlanguju gešichtu ‚die Sprache hat eine sehr lange Geschichte‘), teilweise mit den deutschen Flexionsendungen übernommen werden (literatur [hier aber entsprechend den russischen Genusregeln als Maskulinum behandelt! ], culernen ‚zu lernen‘), repetitive Setzungen (dorogie sehr geehrte), syntaktische Transfers (persönliche haben-Konstruktionen mit 33 Als wahrscheinlichste Etymologie wird die Ableitung vom deutschen quälen präsentiert, aber auch Quelle als mögliches Herkunftswort angegeben. 34 Text in wissenschaftlicher Transliteration: Dorogie Sehr geehrte Damen und Herren, My begrjusaem Vas na našem novom zajte, posvjaščennom literaturnoj šprache Qwelja. Na šprache Qwelja šprechajut cyrka milliön bevonajuščich v Bundese, Österajche i Švicerljandii auslėnderov fon Rußljand. Qwelja kak špracha chabaet zerlanguju gešichtu, o kotoroj možno pročitat’ ZDES’. Na Qwele sozdan velikij mogučij literatur i fol’klör, kotoryj zanimaet vichtižnyj platc v šatckammere mirovoj kul’tjur. Dlja študirujuščich Qwelja my forberajtali učebnyj Qwelja- Rußskij Vertabuch, kotoryj nazyvaetsja „Slovar’ Kreativnoj Qweli“. A te kto traum imeet dojč culernen, tomu naš UEBUNG. Bernhard Brehmer 182 chabat’ bzw. dem russischen imet’: kto imeet traum ‚wer den Traum hat‘) und phonetische Transfers (zajt ‚Seite‘ statt russ. sajt, Übernahme von Umlauten: milliön ‚Million‘ statt russ. million, Österajch etc.). Zusätzlich lassen sich Einflüsse auf der grafischen Ebene nachweisen, v.a. mit der Übernahme von Buchstaben und Buchstabenkombinationen aus dem deutschen Alphabet wie <ö>, <Ruß>, <Qw>. Auch wenn klar ist, dass es sich hierbei um eine primär parodistisch-humoristische Charakterisierung der Redeweise russophoner Migranten in Deutschland handelt, so trifft diese Darstellung doch genau die Selbsteinschätzung vieler Sprecher hinsichtlich der Besonderheiten des eigenen Russisch: Gerade die Übernahme deutscher Lexeme in einen Text mit Russisch als klarer Matrixsprache (grob gesagt: deutsche Wortwurzeln, aber russische Grammatik und Phonetik) bildet nach Einschätzung der Sprecher das typische Merkmal der von ihnen verwendeten hybriden Form zwischen Russisch und Deutsch (vgl. Meng / Protassova 2005, 242f.). 5. Fazit Mit mindestens rund 3 Millionen Menschen bildet die Gruppe der russophonen Zuwanderer vermutlich die größte sprachliche Minderheit in Deutschland und legt damit ein deutliches Zeugnis ab, dass Zwei- und Mehrsprachigkeit in der deutschen Gesellschaft kein marginales Phänomen darstellt. Das Problem bei der Minderheit mit Russisch als Erst- oder Primärsprache besteht darin, dass sie in verschiedene kopfstarke Gruppen zerfällt, die sich durch eine ganze Reihe von Merkmalen (Geschichte, Nationalität, Herkunftsgebiete, soziale Struktur, Religion, Auswanderungsmotive etc.) unterscheiden und primär nur durch die Funktion und die Bedeutung des Russischen als dominanter Sprache sowie allgemeine kulturelle Erfahrungen des Lebens in der Sowjetunion bzw. ihren Nachfolgestaaten zusammengehalten werden. Dieser Aspekt der Heterogenität wurde meines Erachtens in den Untersuchungen zum kommunikativen Verhalten und zu den Sprachpräferenzen dieser Migrantengruppe zu wenig berücksichtigt. Es ist anzunehmen, dass sich die einzelnen Teilgruppen gerade in diesem Bereich deutlich voneinander unterscheiden, eine empirische Untermauerung dieser Hypothese steht allerdings noch aus. Ebenso ist eine starke Fokussierung der Forschung auf die Vertreter der letzten (vierten) Emigrationswelle und ihre sprachlichen Besonderheiten zu beobachten, während der Sprachgebrauch bei Vertretern früherer Wellen nur vereinzelt untersucht wurde (z.B. in Zemskaja 2001 oder den Arbeiten Pfandls). Dies lässt sich allerdings mit der besonderen Aktualität dieser Problematik angesichts des starken Anstiegs der Zahl der Migranten aus der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten seit Mitte der 1980er Jahre rechtfertigen. Bei aller Heterogenität ist jedoch zu konstatieren, dass vergleichende Untersuchungen zur sprachlichen Vitalität allochthoner Minderheiten in Deutschland gerade der russischsprachigen Minderheit einen der höchsten Vitalitätsgrade bescheinigen (vgl. Achterberg 2005 und weitere dort zitierte Studien). Die ziemlich hohe Sprecherzahl, deren ausgebaute soziale Netzwerke, die die Weiterverwendung des Russischen wenn auch nicht in allen, so doch in einigen Kommunikationsbereichen garantieren, sowie die hohe Symbolfunktion des Russischen für die Bewahrung einer eigenen Identität scheinen einen längerfristigen Spracherhalt des Russischen in den Migrantenfamilien in Deutschland möglich zu machen. Ob das jedoch ausreichend Formen und Folgen russisch-deutscher Zweisprachigkeit in Deutschland 183 ist, um das Russische zumindest als Familiensprache über mehrere Generationen weiter zu tradieren, bleibt abzuwarten. Das von der russophonen Minderheit in Deutschland verwendete Russisch zeigt bereits charakteristische Züge eines Migrationsidioms, v.a. Einflüsse der Sprache der aufnehmenden Gesellschaft (hier des Deutschen) auf allen sprachlichen Ebenen, mit einem deutlichen Schwerpunkt im Bereich der Lexik. Das Ausmaß der Abweichungen vom System der russischen Standardsprache weist jedoch eine beträchtliche individuelle Schwankungsbreite auf, die aus der jeweils unterschiedlichen Ausprägung der im zweiten Abschnitt vorgestellten soziolinguistischen Faktoren resultiert. Die Ergebnisse einschlägiger Studien zu Einflüssen des Deutschen auf das mitgebrachte Russische (z.B. Goldbach 2005) zeigen deutlich, dass es (bislang) relativ wenige Transfers gibt, die sich bei einer größeren Zahl von Sprechern beobachten lassen. In der Mehrzahl der Fälle handelt es sich dagegen um mehr oder weniger okkasionelle, z.T. auch sprachspielerisch motivierte Hybridbildungen. Dennoch deuten sich hier erste Entwicklungen an, die den Beginn der Herausbildung einer eigenen, spezifischen Varietät des Russischen in Deutschland markieren könnten und somit die These untermauern, dass sich das Russische nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Entstehung kopfstarker Diaspora-Gemeinden in der ganzen Welt zu einer plurizentrischen Sprache entwickelt (vgl. Mečkovskaja 2005). In diese Richtung weist auch die im vierten Abschnitt illustrierte Tendenz, dass die Sprecher ihr russisch-deutsches Idiom selbst als etwas Besonderes ansehen und teilweise als spezifischen Teil ihrer eigenen polykulturellen Identität begreifen. 6. Literaturverzeichnis Achterberg, J. (2005): Zur Vitalität slavischer Idiome in Deutschland. Eine empirische Studie zum Sprachverhalten slavophoner Immigranten, München. Anders, K. (1993): Einflüsse der russischen Sprache bei deutschsprachigen Aussiedlern: Untersuchungen zum Sprachkontakt Deutsch-Russisch, Hamburg. Anstatt, T. 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Grit Mehlhorn Ausspracheerwerb ausländischer Studierender: Vom Nutzen individueller Sprachlernberatung 1. Einleitung Der Erwerb von Fremdsprachen im Erwachsenenalter ist mit vielen Schwierigkeiten verbunden. Im Bereich der Aussprache unterscheiden sich erwachsene Lernende von Kindern durch eine eingeschränkte Imitationsfähigkeit; sie verfügen jedoch über ganz andere kognitive Voraussetzungen, die den Ausspracheerwerb wiederum erleichtern können. Da die Vermittlung von Phonetik eher eine marginale Rolle im Fremdsprachenunterricht einnimmt, die Aussprache eines Menschen jedoch einen wichtigen Faktor in der Wahrnehmung durch die Umwelt darstellt, können Lernende mit Interesse an der Verbesserung ihrer persönlichen Aussprache von einer individuellen Aussprache-Lernberatung profitieren. Der folgende Artikel beschäftigt sich speziell mit dem deutschen Ausspracheerwerb ausländischer Studierender. Ich gehe davon aus, dass die Bewusstmachung von Lernprozessen und Hypothesen über die Fremdsprache wichtige Aspekte sind, die den Spracherwerb unterstützen. Individuelle Sprachlernberatung bietet die Möglichkeit, über einen längeren Zeitraum hinweg Motive, Einstellungen, Sprachbewusstheit und Lernfortschritte von Lernenden zu untersuchen. Die Beratungsgespräche und Tagebuchaufzeichnungen der Lernenden geben Auskunft über die Hypothesen der Studierenden in Bezug auf phonetische Regeln des Deutschen, angestellte Sprachvergleiche, die Entwicklung von Sprachaufmerksamkeit, die Veränderung von Einstellungen während des Beratungszeitraums und die Selbsteinschätzung, ihre eigene Aussprache und ihr Sprachenlernen betreffend. 2. Gründe für eine individuelle Aussprache-Lernberatung Ausländische Studierende an deutschen Hochschulen, die ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben, benötigen im Gegensatz zu Lernenden des Deutschen als Fremdsprache (DaF) im Ausland die deutsche Sprache ständig in ihrem Alltag. Sie erleben häufiger Missverständnisse in der Kommunikation, die auf Schwierigkeiten ihrer deutschen Aussprache zurückzuführen sind. Einige Studierende fühlen sich sogar durch ihren fremdsprachigen Akzent stigmatisiert. Eine ukrainische Studentin drückte das in einer Beratung folgendermaßen aus: (1) Wenn ich jemanden kennenlerne ... die Leute merken sofort, dass ich aus Osteuropa komme. Das ist negativ. Das will ich nicht. Häufig hat Phonetik im Fremdsprachenunterricht der Deutschlernenden in ihrem Heimatland kaum eine Rolle gespielt. Aber auch in den kommunikativ orientierten Grit Mehlhorn 188 Sprachkursen in Deutschland, die auf Prüfungen wie die DSH oder den TestDaF 1 vorbereiten, geht es kaum um Aussprache, da dieser Bereich nicht separat getestet wird. Das führt dazu, dass die Deutschlernenden häufig nicht wissen, was an ihrer Aussprache abweichend ist und wie sie ihre Aussprache verbessern können. Die Aussprache vieler Fremdsprachensprecher weist eher Fossilisierungen auf als ihre Grammatik und ihr Wortschatz. Tatsächlich reicht es bei den meisten erwachsenen Lernenden nicht, der Fremdsprache nur ausgesetzt zu sein. Ohne eine gewisse Erfahrung im systematischen Hören von Sprachlauten (vgl. Dieling 1989) und ohne Bewusstheit, worauf man beim Hören achten sollte, wird vieles vom Input aus der zielsprachigen Umgebung nicht wahrgenommen und hat somit kaum Einfluss darauf, was die Lernenden selbst in der Fremdsprache produzieren. Fehleranalysen mündlicher Äußerungen ausländischer Deutschlernender zeigen, dass viele der in sprachkontrastiven Untersuchungen von Ausgangs- und Zielsprache prognostizierten Aussprachefehler (vgl. Hirschfeld/ Kelz/ Müller 2003ff.) tatsächlich auftreten. Andererseits unterscheiden sich auch Fremdsprachenlernende mit derselben Muttersprache und einer ähnlichen Lernbiografie stark im Ausmaß der tatsächlich auftretenden Ausspracheschwierigkeiten, ihrem lautlichen und intonatorischen Differenzierungsvermögen und ihrer (artikulations)motorischen Geschicklichkeit. Darüber hinaus verfügen sie über unterschiedliches phonetisches Vorwissen, verschiedene kognitive Lernstile und verwenden unterschiedliche Lernstrategien. Ihre Ausspracheabweichungen sind ihnen mehr oder weniger bewusst, und sie unterscheiden sich in ihren Ansprüchen an sich selbst und ihrer Motivation an ihrer Aussprache zu arbeiten (vgl. Mehlhorn 2006b). Erfahrungen aus studienbegleitenden Lernberatungen (vgl. Mehlhorn et al. 2005) zeigen, dass manche Studierende ihre wahrgenommenen Aussprachedefizite als Grund dafür angeben, dass sie keine Kontakte zu deutschen Kommilitonen knüpfen, Hemmungen haben, sich an Lehrveranstaltungen zu beteiligen, ganz zu schweigen von der Angst vor mündlichen Referaten und Prüfungen. Einige Ergebnisse der Emotionswirkungsforschung sowie Untersuchungen zum fremdsprachigen Akzent bestätigen diese Alltagstheorien der Studierenden: Muttersprachler scheinen bestimmte Assoziationen mit dem Klang einer bestimmten Sprache bzw. einem bestimmten fremdsprachigen Akzent zu verbinden (vgl. Cunningham-Andersson 1997, Jilka 2000). Diese Assoziationen werden unbewusst auf die Person des jeweiligen Sprechers übertragen, was eine Stigmatisierung desselben zur Folge haben kann (vgl. Grotjahn 1998). Auch wenn Phonetik in den letzten zehn Jahren verstärkt in DaF-Lehrwerken berücksichtigt wird, spielt sie im Fremdsprachenunterricht nach wie vor eine untergeordnete Rolle. In heterogenen Lernergruppen mit verschiedenen Herkunftssprachen der Lernenden scheint es fast nicht möglich, auf die Ausspracheschwierigkeiten aller Lernenden individuell einzugehen. Das wird vor allem mit mangelnder Zeit begründet, hat aber auch Ursachen im fehlenden Wissen der Lehrenden über die phonetischen Besonderheiten der Ausgangssprachen der Lernenden und Unsicherheiten bei der Phonetikvermittlung. So beschränken sich viele Lehrende darauf, auffällige Aussprachefehler direkt zu korrigieren. Eine bewusste Auseinandersetzung mit Fehlerursachen findet jedoch selten statt. 1 DSH - Deutsche Sprachprüfung für den Hochschulzugang ausländischer Studienbewerber. TestDaF - Test Deutsch als Fremdsprache. Ausspracheerwerb ausländischer Studierender: Individuelle Sprachlernberatung 189 Da für die angesprochenen Probleme zusätzliche Kompetenzen und Spezialwissen im Bereich der kontrastiven Phonetik erforderlich sind, entstand die Idee einer Sprachlernberatung mit dem Schwerpunkt auf der Ausspracheschulung für ausländische Studierende. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die von mir zwischen 2003 und 2006 an der Universität Stuttgart durchgeführten individuellen Aussprache-Lernberatungen. 3. Konzept der individuellen Aussprache-Lernberatung 3.1. Ziele Ziel der individuellen Aussprache-Lernberatung ist es, den Lerner 2 dabei zu unterstützen, • seine persönlichen Ausspracheschwierigkeiten herauszufinden, • sich realisierbare Lernziele zu setzen, • mehr über seine individuellen Lernstile und Lernstrategien zu erfahren, • neue Wege des Aussprachelernens auszuprobieren und ihre Wirksamkeit für sich persönlich zu beurteilen, • seine Sprachbewusstheit in Bezug auf Aussprache zu erhöhen, • seine Lernfortschritte selbst einschätzen zu können. All diese Ziele sollen dazu dienen, die Lernerautonomie des Lerners zu erhöhen (vgl. Mehlhorn 2005). Ich gehe davon aus, dass ein Lerner umso besser in der Lage ist, selbstgesteuert an seiner Aussprache zu arbeiten, je mehr er sich seiner Kompetenzen und Defizite in der Fremdsprache bewusst ist, je besser er über sein eigenes Lernen reflektieren kann und je mehr er in der Lage ist einzuschätzen, welche Strategien und Vorgehensweisen ihm beim Lernen helfen und welche nicht. Wie Brammerts (2006) nehme ich an, dass es unterschiedliche Grade von Lernerautonomie gibt und individuelle Sprachlernberatung eine geeignete Möglichkeit darstellt, Lerner in der Weiterentwicklung ihrer Autonomie zu unterstützen. In der individuellen Beratung wird der Lerner daher als intentional handelnde Person gesehen, die prinzipiell in der Lage ist, über ihr Lernen zu reflektieren, es zu steuern und zu kontrollieren. Ein lernerzentriertes Vorgehen in der Beratung, das sich von Seiten der Beraterin durch Akzeptanz, Kongruenz und Empathie und nicht-direktive Gesprächstechniken auszeichnet (vgl. Rogers 2004, Kleppin/ Mehlhorn 2005, Mehlhorn 2006a), soll die Entwicklung von Lernerautonomie gewährleisten. Da Erfolgserlebnisse im Bereich der Phonetik sich erst nach längerer Zeit und ausdauerndem Üben einstellen, ist Motivation in diesem Bereich besonders wichtig. Dies ist ein weiterer Grund für eine individuelle Sprachlernberatung (vgl. Kleppin 2004). Durch Sprachstandsdiagnosen zu unterschiedlichen Zeitpunkten des Beratungsprozesses können auch kleinere, sonst häufig nicht bemerkte Fortschritte auf- 2 Individuelle Sprachlernberatung findet in der Regel mit einem einzelnen Lerner und einer Beraterin statt. Die Begriffe Lerner und Beraterin werden im Folgenden in ihrer generischen Bedeutung verwendet und schließen, soweit nicht näher spezifiziert, Personen beiderlei Geschlechts ein. Grit Mehlhorn 190 gezeigt werden. Durch die ständige Auseinandersetzung mit eigenen Aussprachebesonderheiten, das Feedback der Beraterin, den Vergleich mit einem Standard (z.B. Muttersprachler, auditive Medien, Sprachlernsoftware), aber auch die immer wieder eingeforderte Selbstbeobachtung und Selbstevaluation soll nach und nach die Selbsteinschätzung neben die Fremdbewertung treten (vgl. Weskamp 2003) und der Lerner in seinem Selbstvertrauen gestärkt werden. 3.2. Vorgehen Individuelle Aussprache-Lernberatung, wie sie hier konzipiert wurde, ist grundsätzlich freiwillig. Sie findet in regelmäßigen Abständen von ca. drei bis vier Wochen über einen Zeitraum von etwa einem Semester zu vorher vereinbarten Terminen statt. Vor der eigentlichen Beratung muss geklärt werden, was eine individuelle Aussprache-Lernberatung leisten kann (vgl. die o.g. Ziele), aber auch, was sie nicht leisten will: Es handelt sich weder um Einzelunterricht noch um Nachhilfe. Für den Lerner sollte klar sein, dass der alleinige Besuch der Beratung keine Garantie für eine bessere Aussprache ist und dass er die eigentliche Arbeit (z.B. systematisches Üben) selbst leisten muss. Nur wenn er dazu bereit ist, kann ihn die Beraterin dabei begleiten und unterstützen. Wenn ein Lerner das erste Mal in eine Beratung kommt, wird er zuerst äußern, welche Schwierigkeiten ihm selbst aufgefallen sind und welche Aussprachephänomene er gern verbessern möchte. Es ist sinnvoll, dass die Beraterin außerdem relevante Informationen wie die Muttersprache und bereits gelernte Fremdsprachen des Lerners, sein bisheriges Wissen über Phonetik, sein Vorgehen beim Lernen, die Selbsteinschätzung seiner Aussprache usw. erfragt. Diese lernerbiografischen Daten bieten wertvolle Ansatzpunkte für die weitere individuelle Beratung. Bereits in der ersten Beratungssitzung wird der Lerner gebeten, einen kurzen Text auf Band zu sprechen. Diese Aufnahme hat diagnostische Funktion und stellt den Ausgangspunkt der Beratung dar. Weitere Diagnoseinstrumente wie ausgangssprachenspezifische Perzeptionstests können bei Bedarf hinzukommen. Diese Tests sind sinnvoll um herauszufinden, ob der Lerner bestimmte Phänomene im Deutschen (z.B. Wortakzent oder den Unterschied zwischen langen und kurzen Vokalen) überhaupt wahrnimmt. Werden Schwierigkeiten bei der Perzeption von Lauten oder prosodischen Mustern festgestellt, scheint es logischer, zuerst nach Wegen zu suchen, distinktive Unterschiede im Deutschen hören zu lernen, bevor der Lerner daran gehen kann, sie adäquat zu produzieren. Ein weiterer Vorteil einer solchen Sprachstandsanalyse zu Beratungsbeginn ist die Vergleichbarkeit mit Produktions- und Perzeptionsdaten des Lerners zu einem späteren Zeitpunkt, was auch das Aufzeigen von Lernfortschritten ermöglicht. Der aufgenommene Text wird gemeinsam mit dem Lerner in Bezug auf Ausspracheabweichungen ausgewertet, wobei zuerst der Lerner benennt, welche Abweichungen ihm auffallen, und die Beraterin anschließend seine Diagnose ergänzt. Danach legt sich der Lerner auf ein bestimmtes Aussprachephänomen fest, das er als nächstes verbessern möchte. Je nach festgestellten Ausspracheschwierigkeiten kann eine Bewusstmachung von Laut-Buchstaben-Beziehungen, Artikulationsstellen und -bewegungen, Rhythmusunterschieden zwischen der Muttersprache des Lerners und dem Deutschen, Wortakzentregeln usw. erforderlich sein. Die Beraterin achtet darauf, nur so viel Terminologie wie nötig in ihren Erklärungen zu verwenden. Erfahrungsgemäß sind Studierende jedoch recht aufnahmebereit, wenn es um phoneti- Ausspracheerwerb ausländischer Studierender: Individuelle Sprachlernberatung 191 sches Wissen zu ihren individuellen Ausspracheschwierigkeiten geht. Das explizite Wissen darüber, wie bestimmte Laute gebildet werden oder welche Ausspracheregeln gelten, kann dem Lerner helfen, seine Aussprache besser zu kontrollieren. Die Bewusstmachung ist jedoch nicht auf die Vermittlung von phonetischem Wissen beschränkt. Die Beraterin kann zeigen, wie man bei der Arbeit mit bestimmten Hörübungen und mit Lernsoftware umgehen kann, wo man in Lernmaterialien seine individuellen Ausspracheprobleme und Regeln dazu findet, welche Übungen für welche Schwierigkeiten geeignet sind usw. Gemeinsam wird überlegt, welches Vorgehen bei der Arbeit an der Aussprache sinnvoll ist. Die Entscheidung für den zu beschreitenden Weg trifft der Lerner jedoch selbst, da er derjenige ist, der das besprochene Vorgehen in die Tat umsetzen soll. Zum Ende der Beratungssitzung fasst der Lerner zusammen, was er sich bis zum nächsten Treffen vornimmt (ein kleinschrittiges Ziel) und was er dafür tun will (auf welche Dinge er achten und was er mit welchem Material üben wird). Diese Vereinbarung ist Ausgangspunkt der nächsten Beratung. Dabei wird der Lerner retrospektiv über sein Vorgehen berichten, wie er mit dem Üben zurechtgekommen ist, welche Fragen und Schwierigkeiten dabei aufgetaucht sind. Ausgehend von der Selbsteinschätzung des Lerners, welche Teilziele er erreicht hat, kann eventuell eine neue Diagnose anhand der mitgebrachten Aufnahme des Lerners erfolgen. Dabei bietet sich ein Vergleich mit früheren Aufnahmen an, so dass auch Fortschritte sichtbar werden. Die Konsequenz daraus kann entweder das Beibehalten der eingesetzten Strategien sein, wenn diese gut funktioniert haben, sowie das Festlegen eines neuen Ziels (d.h. die nächste Ausspracheschwierigkeit anzugehen) oder auch die Revidierung des Vorgehens, wenn sich bestimmte Strategien als nicht praktikabel erwiesen haben sollten. In diesem Fall würde das alte Ziel beibehalten und ein neuer Weg erprobt werden. Ein letzter Schritt besteht in der Vereinbarung des nächsten Teilziels und des Lernweges dahin. 4. Untersuchungen zum individuellen Ausspracheerwerb Individuelle Lernberatung stellt eine besondere Erhebungssituation von Sprachlerndaten dar. Die Beratung hat quasi zwei Funktionen: Einerseits soll sie selbstgesteuertes Lernen „anschieben“, ermöglichen, erleichtern und motivieren, andererseits ist sie ideal geeignet zur Untersuchung selbstständigen Lernens, da die Erhebung und Thematisierung bestimmter Aspekte, wie die Lernerbiografie, Vorgehensweisen beim Lernen, Selbsteinschätzung und Attribuierung von Lernerfolgen, immanenter Bestandteil der Beratungssitzungen sind. In jeder Aussprache-Lernberatung werden durch die Beraterin daher auch Äußerungen zur Sprach(lern)bewusstheit elizitiert. Individuelle Lernberatung bietet also die Möglichkeit, über längere Zeit hinweg viel über Motive, Einstellungen, Sichtweisen, subjektive Theorien und deren Veränderungen bei einzelnen Lernern zu erheben. Gleichzeitig haben die Gespräche darüber für den Lerner den positiven Effekt, dass er sich über eben diese Dinge klar(er) wird, dass Reflexionsprozesse bei ihm angestoßen und gefördert werden, die auch zur Erhöhung von Sprachlernbewusstheit beitragen. Der Lerner ist in dieser Situation keinesfalls bloße Datenquelle - im Gegenteil: Da sein Lernprozess und seine Sicht darauf im Vordergrund stehen, erhöht dies gleichzeitig auch seine Motivation und seine Bereitschaft, über sein Lernen zu reflektieren. Grit Mehlhorn 192 Gleichzeitig Beraterin und Forscherin zu sein, sehe ich nicht als „problematische Doppelrolle“ (Schmelter 2004, 372ff.), wenn Beratungs- und Forschungsziele in der Untersuchung weitgehend übereinstimmen. In der individuellen Aussprache-Lernberatung mit einem bestimmten Lerner geht es immer darum, die Sicht des Lerners auf sein Lernen möglichst umfassend zu erfahren, um ihm weitere Bedingungen in den Blick bringen zu können. Deshalb muss die Beraterin nicht nur sprachbezogene Erläuterungen geben, sondern v.a. auch Äußerungen des Lerners zu diesen Punkten initiieren, nachfragen, präzisieren, um Beispiele bitten, bestimmte Sichtweisen in Frage stellen, weitere Sichtweisen (einschließlich ihrer eigenen) einbringen usw. Der Lerner versteht dies in der Regel auch als echtes Interesse am Beratungsgegenstand, an seinen Fortschritten und an seiner Person. So lässt er sich bereitwillig auf diesen gemeinsamen Forschungsprozess ein, „denkt laut“, sucht nach Beispielen, stellt selbst Fragen, versucht seine Aussprachefortschritte einzuschätzen und benennt Unsicherheiten bezüglich dieser Fähigkeit. Diese selbstverständliche Zusammenarbeit beruht sicher auch auf dem Vertrauen des Lerners, dass die Ergebnisse dieses gemeinsamen Forschens ja ihm selbst zugute kommen. Die guten Zugangsmöglichkeiten zum Untersuchungsfeld als Beraterin und Forscherin in einer Person erlauben die Einbeziehung des Lerners als Untersuchungspartner und die Ergänzung der Außenperspektive der Beraterin durch die Binnenperspektive des Lerners. Dieser erhält die Gelegenheit seine Sichtweisen darzustellen und gleichzeitig angemessen verstanden zu werden. 3 Alle Beratungsgespräche wurden mit einem Diktiergerät aufgenommen. In den Beratungsgesprächen finden sich u.a. Informationen zur Lernerbiografie, konkrete Lernerfragen, selbstreflexive und -evaluative Passagen des Lerners sowie Belege für selbstinitiierte Aussprachekorrekturen. Das Logbuch 4 des Lerners ist eine weitere Datenart, die eine wichtige Funktion für die Beratung hat. Darin dokumentiert der Lerner, was er wann und wie für seine Aussprache getan hat, reflektiert Fortschritte, Lernstrategien und -schwierigkeiten. Im Gegensatz zu anderen empirischen Arbeiten, die Lernertagebücher als Datengrundlage heranziehen (z.B. Riemer 1997, Schmelter 2004), kann die Forscherin hier nicht erst nach Beendigung des Untersuchungszeitraums Einsicht in die Dokumente nehmen, sondern die Logbücher dienen gleichzeitig als Beratungsinstrument. Das Eingehen auf Inhalte des Logbuchs in der Beratung zeigt dem Lerner einen direkten Nutzen seiner Aufzeichnungen und hat wahrscheinlich dadurch auch Einfluss auf die Qualität des Logbuchs. Dabei wird bewusst in Kauf genommen, dass manche Lerner mit ihren Aufzeichnungen in einen schriftlichen Dialog zur Beraterin und Rezipientin treten. 3 Vgl. das Forschungsprinzip der Kommunikativität bei Caspari/ Helbig/ Schmelter (2003, 500). 4 Lerner-Logbuch und Lernertagebuch werden hier insofern unterschieden, als ein Logbuch durch bestimmte Kategorien (vgl. Tabelle 1) bereits vorstrukturiert ist und stichpunktartig ausgefüllt werden kann, während Einträge in ein Tagebuch meist als Fließtext erfolgen. Ausspracheerwerb ausländischer Studierender: Individuelle Sprachlernberatung 193 Tabelle 1: Vorlage für ein Lerner-Logbuch Datum/ Uhrzeit Was ich gemacht habe Selbsteinschätzung Neues gelernt Fragen/ Probleme wie viel Minuten ich etwas getan habe welche Übungen aus welchen Materialien gemacht wurden, ob etwas gehört/ nachgesprochen/ verglichen wurde, ob auf bestimmte Dinge beim Hören/ Sprechen geachtet wurde wie bin ich zurecht gekommen mit den Übungen? was hat gut geklappt? wo habe ich Fortschritte bemerkt? was ist mir aufgefallen? womit bin ich nicht zufrieden? was fällt mir schwer? neue Dinge aufgefallen? „Regeln“ entdeckt? was ich vorher nicht wusste ... welche Fragen sind beim Üben entstanden? was ist mir unklar? wo sehe ich Probleme? Die tabellarische Form ist ein Vorschlag und erlaubt ein stichpunktartiges Ausfüllen, was manche Lerner als Erleichterung empfinden. Andere schreiben jedoch lieber Fließtext. Durch die Aufzeichnungen der Lernenden im Logbuch konnte sich die Beraterin einen besseren Überblick darüber verschaffen, was die Lernenden zwischen den Beratungsterminen genau für ihre Aussprache getan haben und wie sie damit zurechtgekommen sind, was die Beratung enorm erleichterte. Deshalb wurde ab 2005 das Führen des Logbuchs als Bedingung für die Teilnahme an der Aussprache-Lernberatung verlangt. Neben den Logbüchern gibt es weitere Beratungsinstrumente wie Checklisten mit Aussprache-Lernstrategien, Diagnosebögen zu Sprachaufnahmen und Perzeptionstests von verschiedenen Zeitpunkten des Beratungsprozesses, die vor allem dazu eingesetzt werden, um den Lernenden auch kleinere Fortschritte aufzeigen zu können. Im Zentrum dieses Artikels stehen jedoch die qualitativen Daten (Beratungsgespräche und Lerner-Logs), die die Perspektive der Beratenen aufzeigen sollen. Die Beratungsgespräche wurden transkribiert und zusammen mit den Lerner-Logbüchern mit Hilfe der qualitativen Inhaltsanalyse (vgl. Mayring 2003) ausgewertet. 5. Ausgewählte Ergebnisse 5.1. Lernerannahmen über die Aussprache des Deutschen Der Lerner wird in der Beratung dazu angehalten, genau zu erläutern, wie er beim Aussprachelernen vorgeht. Das ermöglicht ihm, sich seines Lernens bewusster zu werden und bietet außerdem Ansatzpunkte für die weitere Beratung. Gleichzeitig werden dadurch subjektive Theorien des Lerners über phonetische Regeln des Deutschen und das „Funktionieren“ von Aussprache offengelegt. Einige Beispiele zur Illustration: (2) Eine rumänische Studentin weist eine Korrektur der Beraterin mit der Begründung zurück, dass im Deutschen stets die erste Silbe betont wird. 5 5 Diese Übergeneralisierung von Wortakzentregeln ist im Übrigen unter Deutschlernenden sehr verbreitet. Die Notwendigkeit, solche Theorien in der Beratung zu thematisieren, ergibt sich Grit Mehlhorn 194 (3) Eine DaF-Studentin aus Thailand, die seit acht Jahren in Deutschland lebt, wird in der Beratung gebeten zu erklären, wie sie Vokabeln lernt: Sie schreibt sich neue Wörter immer auf. Auf die Nachfrage, wie sie sich die Vokabeln notiert, anwortet sie: wie man das ausspricht. Die Beraterin versteht das zuerst so, dass sich die Studentin Vokabeln in der internationalen Lautschrift aufschreibt, zweifelt jedoch an ihrer Interpretation und bittet die Lernerin, an einem Beispielwort zu zeigen, was sie sich genau notiert. Dabei stellt sich heraus, dass die Lernerin das Wort auf Thailändisch aufschreibt - einschließlich des Tons über dem akzentuierten Vokal. Weiteres Nachforschen ergibt, dass die Studentin alle vier im Thailändischen existenten Töne im Deutschen zu hören glaubt und davon überzeugt ist, dass jedes deutsche Wort immer denselben „Ton“ hätte. 6 (4) Die misstrauisch gewordene Beraterin fragt eine chinesische Studentin in der Beratung, ob sie im Deutschen auch Töne höre, was diese erstaunt verneint: Aber im Deutschen gibt es keine Töne! (5) Ein Landsmann von ihr sieht das wiederum anders. Für ihn sind „Ton“ und „Betonung“ identisch. Darüber hinaus hat er einen bestimmten Ton im Deutschen als fallend identifiziert: Ich dachte immer, auf Deutsch gibt es nur fallende Ton. (6) Ein vietnamesischer Student, der beim Selbststudium von Kaunzner (1997) auf die ihm bisher nicht bekannte Unterscheidung langer geschlossener und kurzer offener Vokale im Deutschen trifft und sich Aufnahmen dazu auf CD anhört, kommt zu folgender vorläufiger Lösung (seine Logbuchaufzeichnung vom 28.5.2005): Geschl. lang (wie „Oben“) klingt ähnlich wie „ó“ in unsere Sprache! Geschl. kurz (wie „Kino“) klingt ähnlich wie „ô“ in unsere Sprache! Offen. kurz (wie „oft“) klingt ähnlich wie „o“ in unsere Sprache! Bemerkung: Wenn meine Entdeckung richtig ist, dann kann ich auch die anderen Vokale einiger Maße verbessern. Wenn es möglich ist, können wir meine Hypothese durch Rhythmusanalyse mit Ihre Programm testen. Können Sie die einzelnen Vokale (nicht in Wörter sondern allein stehend) aufzeichnen? (7) Nachdem derselbe Lerner in der Beratung auf Fehler bei der Produktion von Konsonantenhäufungen hingewiesen wurde (in der Regel ließ er einfach einen oder mehrere Konsonanten weg), konzentriert er seine Aufmerksamkeit beim Üben zu Hause auf die schwierigen Lautverbindungen. Da es ihm nicht gelingt, mehrere Konsonanten ohne Einschub eines Vokals zu produzieren, „erfindet“ er folgende Strategie (seine Logbuch-Aufzeichnung vom 7.6. 2005): Um das Problem mit „lm“ und „ln“ habe ich „e“ hinzugefügt, dann klingt es wie „-lme“ und „-lne“. ABER: Falsch oder Richtig weiße ich nicht! m.E. aus Ergebnissen der Sprechwirkungsforschung, die u.a. zeigen, dass prosodische Abweichungen eher als solche im segmentalen Bereich unerwünschte negative Reaktionen bei Muttersprachlern hervorrufen können (vgl. Cunningham-Anderson 1997). 6 Diese Hypothese konnte schnell widerlegt werden, nachdem die Beraterin der Studentin das Beispielwort in zwei verschiedenen Sätzen präsentierte, wobei es einmal fokussiert und einmal unbetont produziert wurde und die Studentin plötzlich dasselbe Wort einmal mit dem „dritten Ton“ und einmal mit dem „vierten Ton“ hörte. Ausspracheerwerb ausländischer Studierender: Individuelle Sprachlernberatung 195 Genau so wie für folgende Wörter: Hilflos, Wolke, Spiel, Gesellschaftlich, Leidenschaftlich, Beachtlich. Habe ich so gemacht: Hilf(e)los, Gesellschaft(e)lich, Beacht(e)lich, d.h. eine „nicht laut sprechende“ (e) dazwischen hinzugefügt! ABER: Falsch oder Richtig weiße ich nicht! Die Beispiele zeigen, dass sich jeder Lerner seine eigenen Regeln und Theorien konstruiert - teils aus seinem Vorwissen und den Erinnerungen aus dem Fremdsprachenunterricht, teils aus Erklärungen der Beraterin und seinen Lernmaterialien. In der individuellen Sprachlernberatung hat er eher als im Gruppenunterricht die Möglichkeit, seine Hypothesen zu formulieren und zu überprüfen. In der Aussprache- Lernberatung werden daher sehr häufig Lernerfragen gestellt. So fragt eine Studentin, nachdem sie darauf hingewiesen wurde, dass eine starke Betonung auf einer falschen Silbe im Deutschen sehr abweichend klingt: (8) Und wenn man gar keine Silbe betont, wird dann besser? Dieselbe Studentin hatte Schwierigkeiten das Wort „Schüler“ korrekt auszusprechen. Da es keinen Ü-Laut in ihrer Muttersprache Russisch gibt, ersetzt sie es durch einen U-Laut und spricht den Konsonanten davor (das <sch>) palatalisiert, d.h. „weich“ aus. Offensichtlich hört sie das Wort auch so. Nachdem es ihr in der Beratung gelungen ist, das Wort korrekt zu produzieren, stimmt die für sie neue Realisierung nicht mit ihrer gewohnten Perzeption überein, so dass ihr Zweifel kommen: (9) „Schüler, Schüler“ ... Aber das muss doch ein bisschen weich sein! Oder nicht? Ein weiteres Perzeptionsproblem, das bei Lernenden verschiedener Muttersprachen auftaucht, betrifft den sog. „Ang“-Laut in Wörtern wie „Hunger“, „singen“ und „ängstlich“. Dieser wird in der Schrift durch die Buchstabenkombination <ng> wiedergegeben; tatsächlich handelt es sich jedoch nur um einen nasalen Laut, und es wird auch kein [g] gesprochen. Das können sich viele Lernende anfangs gar nicht vorstellen. Sie sind durch die Rechtschreibung stark beeinflusst und glauben das <g> 7 auch zu hören: (10) Aber „g“ sagt man beim „Hunger“? ! „Hunger! “ Aber Sie haben auch gesagt, Sie haben doch auch mit „g“ gesagt! Sie sagen doch „g“! Die aufgestellten Hypothesen beziehen sich sowohl auf die Sprachproduktion als auch die Perzeption der Lernenden, auf einzelne Laute oder prosodische Merkmale, auf Vergleiche zwischen der eigenen Aussprache und der von Sprechern der Zielsprache. Die Aussprache-Lernberatung gibt den Lernenden die Möglichkeit, ihre Hypothesen zu verbalisieren und dadurch auch auf ihre Korrektheit zu prüfen. 5.2. Vergleiche mit zuvor gelernten Sprachen Bei allen Studierenden handelt es sich um mehrsprachige Lernende, die neben ihrer Muttersprache mindestens zwei Fremdsprachen gelernt haben. Deutsch ist für sie oft die zweite oder dritte, manchmal sogar die vierte Fremdsprache. Für die meisten von 7 Grapheme, d.h. Buchstaben bzw. Buchstabenkombinationen, werden in spitzen Klammern angegeben, um sie von Lauten (in eckigen Klammern) zu unterscheiden. Grit Mehlhorn 196 ihnen spielt das Englische eine wichtige Rolle im Studium; einige lernen sogar noch eine weitere Fremdsprache. Dennoch ist es sehr unterschiedlich, wie die einzelnen Lernenden ihre Vorerfahrungen mit dem Fremdsprachenlernen nutzen. Während manche Lernenden bewusst Vergleiche zwischen ihren Sprachen anstellen (vgl. die Beispiele (12) - (17)), ist anderen Studierenden dies nicht bewusst; sie halten es zum Teil sogar für abwegig: (11) Auf die Frage der Beraterin, ob ihr die zuvor erworbenen Englischkenntnisse beim Deutschlernen helfen würden, antwortete eine chinesische Studentin irritiert: Aber das sind doch verschiedene Sprachen! Der vietnamesische BWL-Student vergleicht dagegen viel mit seiner Muttersprache. Russisch, das er als erste Fremdsprache in der Schule gelernt hat, spielt keine Rolle für den Sprachvergleich mit dem Deutschen (seiner vierten Fremdsprache) - genauso wenig wie das Chinesische, indem er über rezeptive Fertigkeiten verfügt. Dagegen wird das Englische, das er nach eigener Einschätzung besser beherrscht als das Deutsche, für Sprachvergleiche herangezogen, aber auch das Französische, obwohl er dies nur gelernt hat „um die Prüfung zu bestehen“ und es seit seinem Studium in Vietnam nicht mehr benutzt hat. Die folgenden Beispiele wurden seinem Lerner-Logbuch entnommen: (12) Ich versuche immer die Lösung aus der Fremdsprache-Kenntnisse zu finden, die ich bisher erworben habe. Z.B. aus Englisch, Französisch. Und natürlich vergleiche ich die Wörter mit meiner Muttersprache! (13) Keine Probleme mit diesen Diphthongen, weil es Ähnlichkeit zwischen Deutsch und Vietnamesisch gibt! Ich benutze das Wort „ähnlich“ statt „genau“, weil das nur meine eigene Beurteilung ist! Das muss man noch prüfen! (14) Wir haben auch „r“ in unserer Sprache, aber es klingt irgendwie anders. Wir sprechen mit Zungespitze! Man kann die Vibration von der Zungespitze „deutlich“ merken, wenn man „hochvietnamesisch“ hört. (15) Offen, kurz [a] klingt für mich teilweise wie „en“ auf französisch (ähnlich wie „ă“ in unserer Sprache) und teilweise wie normale „a“ in unsere Sprache. (16) Problem bei Übung mit [y: ], es klingt bei mir wie „Oui“ auf Französisch in mancher Wörter! (17) Stimmhaft J (wie „Ja“) klingt nicht ganz wie „j“ auf Englisch? (Bsp.: Japan? ) Bei dem russischen Informatikstudenten, der Englisch als erste Fremdsprache gelernt und in Russland erfolgreich ein Englischlehrerstudium abgeschlossen hat, ist das Englische sehr dominant. Wenn er von der Beraterin auf bestimmte Phänomene wie die Behauchung von [p, t, k] im Deutschen oder die Unterscheidung langer und kurzer Vokale hingewiesen wird, sagt er sofort: „Ich weiß. Wie in Englisch.“ Französisch, das er ebenfalls in Russland während des Studiums zu lernen begonnen hat und das er auch noch bei Urlaubsaufenthalten in Frankreich verwendet, hilft ihm nach eigenen Angaben auch beim Deutschlernen. Er vermeidet es jedoch, Vergleiche mit seiner Muttersprache anzustellen und versucht das Russische beim Ausspracheerwerb ausländischer Studierender: Individuelle Sprachlernberatung 197 Deutschlernen komplett auszuschalten. Im Gegensatz zu vielen anderen ausländischen Studierenden sucht er bewusst Kontakt mit deutschen Kommilitonen in Stuttgart und meidet Landsleute. Während der Beratung beklagt er mehrfach, dass seine deutsche Aussprache durch seine Kommilitonen und Professoren, die entweder schwäbischen Dialekt oder einen fremdsprachigen Akzent sprechen würden, negativ beeinflusst würde. Wildenauer-Józsa (2005, 95) definiert Sprachvergleich als bewusste, von Lernenden intendierte kognitive Strategie. In der Beratung werden die Lernenden ermutigt, Sprachvergleiche anzustellen und diese Strategie weiter zu verfeinern. Wie bereits in der Studie von Mißler (1999) zeigt sich auch bei der individuellen Aussprache-Lernberatung, dass Studierende mit mehr Fremdsprachenlernerfahrungen auch häufiger zwischen ihren Sprachen vergleichen. Wie stark der Einfluss des sprachlichen Vorwissens aus der Muttersprache und bereits gelernten Fremdsprachen ist, hängt von mehreren Faktoren wie der Ähnlichkeit der beteiligten Sprachen, dem erreichten Kompetenzniveau und der Präsenz dieser Sprachen ab sowie dem sprachlichen Bereich (ebd., Kapitel 4.4). 8 Das phonetische Wissen, über das die Studierenden bereits verfügen und das sie während der Beschäftigung mit ihrer Aussprache weiter ausbauen, fördert ihre Bewusstheit und Sensibilisierung für phonetische Unterschiede zwischen ihren Sprachen und erlaubt es ihnen, die Produktion bestimmter Laute oder Intonationsmuster zu kontrollieren. Das Wissen um generelle Aussprachebesonderheiten ihrer eigenen Muttersprache und die Fähigkeit, diese bei Bedarf zu minimieren, ist dabei hilfreich für die Verbesserung ihrer Aussprache im Deutschen sowie das Erlernen weiterer Sprachen (vgl. Mehlhorn, erscheint). 5.3. Entwicklung von Sprachaufmerksamkeit In der Aussprache-Lernberatung werden verschiedene kognitivierende Verfahren wie visible speech oder auch der Einsatz von Sprachsynthese für die Sensibilisierung für prosodische Merkmale verwendet (für einen Überblick vgl. Mehlhorn/ Trouvain, erscheint). Durch die konkrete Diagnose individueller Ausspracheabweichungen in der Beratung wird die Aufmerksamkeit des Lerners für bestimmte zielsprachliche Aussprachephänomene geschärft. Ein erster Schritt zu mehr Sprachbewusstheit ist beispielsweise, in Hörtexten auf bestimmte „Problemlaute“ oder Intonationsmuster zu achten (focus on form). Dabei hilft phonetisches Wissen, z.B. über die Auslautverhärtung, den Vokalneueinsatz im Deutschen oder über Verwendungskontexte bestimmter Intonationsmuster. Ein nächster Schritt wäre, beim lauten Lesen auf bestimmte Ausspracheschwierigkeiten achten zu können. Anfangs markiert sich der Lerner noch die zu berücksichtigenden Dinge im jeweiligen Text. Ein weiterer Schritt in Bezug auf Sprachbewusstheit ist erreicht, wenn es dem Lerner gelingt, auch in neuen Texten das zu bearbeitende Phänomen zu identifizieren. Die erreichte rezeptive Sensibilität äußert sich auch in der Form, dass dem Lerner seine individuellen Ausspracheschwierigkeiten bei anderen - häufig bei Landsleuten - und bei sich selbst auffallen (noticing). 9 In bestimmten Situationen gelingt es dem Lerner immer häufiger, auf bestimmte formale Dinge bei Muttersprachlernern zu achten, 8 Das Vorwissen über Aussprache ist bei den Studierenden jedoch in aller Regel geringer und weniger differenziert als das über Grammatik und Wortbildung. 9 Zu den Konzepten focus on form und noticing vgl. u.v.a. Schmidt (1990), Long (1991), Schmidt (1995), Riemer/ Eckerth (2000), Schmidt (2001). Grit Mehlhorn 198 beispielsweise auf die Sprechmelodie in höflichen Aufforderungen oder die Realisierung reduzierter Vokale in unbetonten Silben. (18) Eine brasilianische DaF-Studentin berichtete in der ersten Beratungssitzung, dass sie mit ihrer Intonation im Deutschen nicht zufrieden sei. Sie hätte bereits mehrmals den Eindruck gehabt, im Vergleich zu den Deutschen würde sie unfreundlich klingen. Nach verschiedenen Demonstrationsversuchen stellte sich heraus, dass die Studentin Fragen und Aufforderungen stets mit fallender Intonation produzierte. Daraufhin wurden steigende Intonationsmuster besprochen und in welchen Kontexten diese im Deutschen verwendet werden können. Die Studentin, die die steigende Intonation nachahmen konnte, aber sie nach eigenem Dafürhalten noch nicht angewendet hatte, nahm sich zur nächsten Sitzung vor, im Gespräch mit Muttersprachlern auf dieses Intonationsmuster zu achten. Beim nächsten Treffen erzählte sie: Als ich gestern mit dem Bus gefahren bin, hab ich es gehört! Da war eine Frau, die aussteigen wollte, es war voll, und sie hat gesagt (imitierend) „Darf ich bitte vorbei? “ Das war genau die Intonation, diese höfliche Intonation! Diese höfliche Frageintonation! In dem Moment habe ich es plötzlich gehört! (19) Eine ukrainische Studentin, die versucht darauf zu achten, in welchen Lautkontexten das <r> vokalisch produziert wird, stellt fest: Wir haben einen Biologieprofessor, der spricht überall konsonantisches R! (20) Eine polnische Studentin wurde in der Beratung darauf hingewiesen, dass sie die langen gerundeten Vokale im Deutschen nicht gespannt genug ausspricht. Einige Zeit später schreibt sie in ihr Logbuch: Es hat mir Spaß gemacht, bei [o] und [u] auf Lippenrundung zu achten. Es war mir vorher nicht bewusst, dass man darauf achten soll. (21) In vielen Herkunftssprachen der Studierenden gibt es keine Unterscheidung von langen und kurzen Vokalen. Wenn betonte Vokale immer halblang sind, wie beispielsweise im Russischen, klingen durch die Interferenz aus der Muttersprache sowohl die kurzen als auch die langen Vokale im Deutschen abweichend. Es bedarf einer perzeptiven Umstellung und viel Übung um bei diesem Phänomen Ausspracheverbesserungen zu erreichen. Dazu bemerkt eine Studentin: Kurz und betont empfinde ich als lang. Und die langen Vokale sind nicht lang. Ich hab gedacht, ich übertreibe, aber es ist gar nicht übertrieben. (22) Die Aussprache wird mir jetzt allmählich bewusst - jetzt erst, wo ich mich damit beschäftige, obwohl ich vorher schon einen Phonetikkurs gemacht habe. Dass dem Lerner solche Dinge nun bewusster werden, heißt nicht, dass er sie deshalb auch sofort adäquat produzieren kann. Aber das Bemerken von Abweichungen ist eine wichtige Voraussetzung dafür, die eigene Aussprache bewusst steuern zu können. Sprachwissen und Sprachaufmerksamkeit bedingen und entwickeln sich so gegenseitig und miteinander zu mehr Sprachbewusstheit (vgl. Oomen-Welke 2003). Wenn sich der Lerner beim freien Sprechen auf die eigenen Ausspracheschwierigkeiten konzentrieren kann, ist ein weiterer Schritt in Richtung größere Sprachbewusstheit erreicht. Ein Mittel dazu sind Listen von Wörtern mit einem bestimmten Ausspracheerwerb ausländischer Studierender: Individuelle Sprachlernberatung 199 „Problemlaut“, die der Lerner selbst erstellt und auf die er in der nächsten Zeit beim freien Sprechen achten will. Wenn ihm dies gelingt, kann die Liste nach und nach ergänzt werden. Ist dem Lerner „seine“ Schwierigkeit auch beim spontanen Sprechen präsent, so dass er sich beispielsweise jedes Mal, wenn er den „Problemlaut“ produzieren will, auf die Ansteuerung der neu entdeckten Artikulationsstelle konzentrieren kann, benötigt er die Listen nicht mehr. Neben der Sprachbewusstheit wird durch die selbstständige Beschäftigung mit der Verbesserung der eigenen Aussprache auch die „Sprachlernbewusstheit“ (vgl. Edmondson 1997, de Florio-Hansen 1997) erhöht. Der Lerner probiert verschiedene Strategien aus um sein Ziel zu erreichen und kann durch die Kenntnis der Strategien und die Reflexion des beschrittenen Weges schließlich einschätzen, welche Vorgehensweise ihm am meisten hilft (vgl. Nold et al. 1997, Rampillon 2000, Tönshoff 2003). Das Führen des Lerner-Logbuchs, in dem der Lerner dokumentiert, was er für seine Aussprache getan hat, kann diese Reflexion erleichtern. Auch in den Beratungsgesprächen wird der Lerner immer wieder gefragt, inwieweit es ihm gelingt im Alltag auf bestimmte aussprachliche Phänomene im Input von deutschen Muttersprachlern und im eigenen Output zu achten. Eine russische Studentin sagt während ihrer dritten Beratung: (23) Aber ich denke sowieso immer nach, wie ich jetzt spreche, ob das jetzt so korrekt wär, also die Gedanken hab ich immer, ja. Und ich hab irgendwie so ein Gefühl, also sicheres Gefühl, ich bin mir jetzt irgendwie mehr sicher, ... und ich versuche jetzt auch das nicht so schnell zu sprechen, sondern ich versuche jetzt vielleicht langsamer, aber mit Überlegung, wie ich das jetzt sagen soll. Da es in der Beratung nicht allein um die Verbesserung der Aussprache, sondern auch um die Förderung der Lernerautonomie in Bezug auf das Aussprachelernen geht, wird auch ein erhöhtes Sprachbewusstsein als Lernfortschritt angesehen. 5.4. Veränderung von Einstellungen Sowohl die Ausbildung von Lernstrategien als auch die Vorstellungen darüber, wie man am besten Fremdsprachen lernen sollte, werden entscheidend durch die Methodik des bisher erlebten Fremdsprachenunterrichts geprägt. Grotjahn (2003, 326) geht davon aus, dass Lernstile intraindividuell relativ stabil sind und die Auswahl von Lernstrategien bestimmen (ebd., 327). Lerngewohnheiten können also nicht sofort radikal verändert werden. Auch Vorschläge alternativer Strategien werden von Studierenden zu Anfang manchmal mit Skepsis aufgenommen. Andererseits passiert es häufig, dass die Lernenden bestimmte Strategien, die sie anfangs für sich als nicht passend eingeschätzt haben, nach einer gewissen Zeit doch ausprobieren und sogar Gefallen daran finden: (24) Eine italienische Studentin äußerte in der ersten Beratung, dass sie sich nie selbst aufnehmen würde, weil sie ihre Stimme nicht möge. Einige Monate später brachte sie eine eigene Aufnahme mit in die Beratung. Die folgenden beiden Beispiele (25) und (26) sind Zitate einer Studentin aus dem letzten (sechsten) Beratungsgespräch: Grit Mehlhorn 200 (25) Diese Liste mit den Strategien ... als ich mir das damals im April durchgelesen habe, war ich irgendwie ziemlich skeptisch. Und da konnte ich auch, das weiß ich noch ganz genau, konnte ich nicht zwischen den Kategorien entscheiden „halte ich für nicht relevant“ oder „will ich ausprobieren“. Jetzt bin ich mehr flexibler. Jetzt reagiere ich nicht gleich: „nee, das lass ich, das ist nicht für mich“, sondern ich kann aus anderer Perspektive: „vielleicht probier ich das aus“. (26) ...ich wusste selber nichts von mir derart, dass ich irgendwie so konservativ im Sinne von so skeptisch bin gegenüber Sachen, die ... also zum Beispiel ich lasse mich von einem Muttersprachler nicht korrigieren, weil ich weiß, dass die eher auf die Fehler nicht achten, wenn überhaupt oder so. Das war also nicht für mich, also Quatsch, offen gesagt. (Beraterin: Und wie sehen Sie das jetzt? ) Ich weiß jetzt, das erfordert furchtbar hohen Konzentrationsgrad. Und ... das versteh ich jetzt eher im Nachhinein. Früher hab ich das eher gedacht, ach ja, das liegt nicht in seinem Interesse, und das war’s dann. Erst jetzt kann ich das als Service sehen. Schließlich kann es auch vorkommen, dass jemand im Laufe der Beratung erkennt, dass er sich unerreichbar hohe Ziele gesetzt hat und/ oder sich seine Ansprüche an sich selbst und die Einstellung gegenüber der eigenen Aussprache verändert haben. Die rumänische Studentin, die hier zu Wort kommt, hat sich zwischen der dritten und vierten Beratungssitzung entschlossen, vorerst nicht mehr weiter an ihrer Aussprache zu arbeiten. Auf Bitte der Beraterin formuliert sie in einer E-Mail, weshalb ihr die Erreichung ihres Lernziels nicht mehr wichtig ist: (27) Perfekt auszusprechen ist nicht mehr eine Priorität für mich, weil: • wenn andere mich für eine Deutsche halten und meine Artikel oder meine Endungen oder ein Ausdruck nicht stimmen, fühle ich mich sehr schlecht, genauso, wenn ich irgendwas über das Leben in Deutschland nicht weiß (z.B. wo sich eine bestimmte Stadt befindet), • ich gesehen habe, dass ich an der Uni mit oder ohne Verbesserung der Aussprache gut zurecht komme, • ich irgendwann verstanden habe, dass meine Fähigkeit, Kontakte zu den Deutschen zu knüpfen nicht mit der Sprache zu tun hat, sondern mit meinem Mangel an Kontaktfreudigkeit, • ich irgendwann verstanden habe, dass auch wenn ich perfekt Deutsch sprechen würde, werde ich trotzdem keine Deutsche sein, • ich keine Lust mehr habe, Deutsch in Form eines Kurses oder ähnliches zu lernen. Ich möchte einfach das Leben hier lassen, meine immer noch fehlenden Kenntnisse allmählich ergänzen. Das Beispiel zeigt u.a., dass ein zu hochgestecktes Ziel schnell zu Demotivation bishin zu völliger Aufgabe des Ziels führen kann. Ein ganz anders gelagertes Problem ergibt sich, wenn ein Lerner aufgrund seines hohen Selbstanspruchs nur seine Defizite im Blick hat und „blind“ für die eigenen Lernfortschritte ist, sie deshalb nicht oder nicht genügend wahrnimmt. Bei ausreichendem Ehrgeiz wird ein solcher Lerner zwar weiter lernen, aber ein ausschließlich Ausspracheerwerb ausländischer Studierender: Individuelle Sprachlernberatung 201 negativer Umgang mit Fehlern und ein Hang zum Perfektionismus sind schädlich für das Selbstkonzept des Lerners. Aber auch in einem solchen Fall sind gewisse Veränderungen möglich, wenn sie auch viel Zeit und Geduld erfordern. Das folgende Beispiel ist ein Auszug aus einer schriftlichen Sprachlernautobiografie: (28) Ich fand meine Aussprache sehr peinlich. Ein paar Mal kam es zu Missverständnissen wegen meiner schlechten Aussprache. Aber wenn ich jetzt aus einer bisschen anderen Perspektive auf das Geschehene hinschaue, stellt sich heraus, dass es oft nicht unbedingt an meiner Aussprache, sondern an meinem Auftreten lag. Wie kann jemand verstanden werden, wenn er etwas mit einer leisen, ängstlichen und zitternden Stimme fragt? Meine Hemmungen waren so hoch, dass ich mich immer mehr zurückzog und litt sehr daran. Ich habe mich nur auf alle Fehler und Misserfolge konzentriert ohne die kleinen Fortschritte zu bemerken. Jeder kleine Fehler war eine richtige Blamage, ein Beweis dafür, dass ich wirklich unbegabt bin und zu Fremdsprachenlernen nicht tauge. Außerdem war die Meinung der anderen mir äußerst wichtig ... Oft habe ich gehört, wie andere Akzente und Dialekte nachgeahmt und verspottet wurden. Eigentlich klang es ganz witzig, aber ich habe mir mit Angst vorgestellt, wie sich meine Bekannten über meinen Akzent lustig machen und über meine zahlreichen Sprachfehler lästern. Ich habe doch das Germanistikstudium hinter mir! Wie kann ich nur solche blöden Fehler machen? Die plagenden Gedanken wurden über einen längeren Zeitraum hinweg zu einem richtigen Folterinstrument und vor allem zu einem „Motivationskiller“. Obwohl die oben erwähnten Erfahrungen in der Vergangenheitsform stehen, fühle ich mich in vielen Situationen oft noch weiter so. Es sind aber einige Veränderungen zu bemerken. Ich empfinde meine Fehler nicht mehr nur als negativ. Ich erwarte auch kein Wunder, dass ich von heute auf morgen fehlerfrei sprechen und schreiben werde. Seitdem ich bei der Beratung bin, habe ich mir viele Gedanken über mein Lernverhalten und meine Einstellungen zur Sprache gemacht. Die Beratung sehe ich als eine gute Möglichkeit, meine Motivation zu „retten“ ... Um aus der Falle zu entkommen, muss ich versuchen, vor allem mein Selbstvertrauen zu stärken, die Überempfindlichkeit und Sprachhemmungen abzubauen ... Das Wichtigste dabei ist, ich bin auf dem richtigen Weg zum Ziel, wobei mir bewusst ist, dass der Weg ziemlich lang sein kann. 5.5. Selbsteinschätzung Erfahrungsgemäß kann es große Unterschiede zwischen der Einschätzung von Lernfortschritten durch Außenstehende bzw. die Beraterin und der Selbsteinschätzung des Lerners geben. Im Sinne der Förderung von Lernerautonomie ist es wünschenswert, dass der Lerner immer besser in die Lage versetzt wird, seine Aussprache möglichst objektiv einzuschätzen. Sowohl die individuelle Diagnose als auch das Feedback der Beraterin sollen dem Lerner helfen, seine eigene Einschätzung mit der Evaluation von Expertenseite zu vergleichen. In den Beratungssitzungen wird der Lerner daher immer wieder dazu angehalten, seine Performanz in bestimmten Gesprächssituationen oder Übungen selbst einzuschätzen. Auch die Kategorie „Selbsteinschätzung“ im Logbuch (vgl. Tabelle 1) ist dafür gedacht, dass der Lerner seine Aussprache und sein Vorgehen reflektiert. Die folgenden Beispiele sind Aus- Grit Mehlhorn 202 züge aus den Logbüchern, (29) von einem vietnamesischen Studenten und (30) - (32) von einer polnischen Studentin: (29) „el“ klingt bei mir schon besser, weil ich jeden Tag ein paar Minuten für L- Übungen gegeben habe. ABER: „eln“ ist noch sehr schwierig für mich! (30) Übungen mit Ö, bin nicht ganz sicher, ob ich es richtig ausspreche. Sollte mich vielleicht mal auf eine Kassette aufnehmen. Den Unterschied höre ich zwar, aber... Heute bin ich ganz unzufrieden mit mir  na morgen ist ja auch ein Tag! (17.09.2005) (31) Besonders mag ich den Verschlusslaut [t] und [p].  Ich meine, ich kann sie gar nicht so schlecht aussprechen, vor allem, wenn ich daran denke, dass sie existieren. Meine alten Gewohnheiten sitzen noch sehr tief und fest in meinem Gehirn.  (08.10.2005) (32) Nun liebe ich inzwischen den Verschlusslaut [t] so sehr, dass ich ihn mehr und mehr in der Alltagssprache einsetze.  Mit dem Ö-Laut komme ich noch nicht ganz klar.  (11.10.2005) Die russische Studentin, die im Folgenden zitiert wird, arbeitet an der Realisierung des unbetonten [o] im Deutschen. Im Russischen gibt es das Phänomen des sog. „Akanje“, das heißt, dass <o> in unbetonten Silben als ein a-ähnlicher Laut produziert wird. Viele russische Muttersprachler übertragen dies auf das Deutsche und sagen bspw. statt „Computer“ Camputer , statt „monoton“ manaton, statt „Projekt“ Prajekt. Die Schwierigkeit, das [o] hier korrekt auszusprechen, besteht vor allem darin, dass dieses Phänomen immer in unbetonten Silben auftaucht, auf die man sich besonders schwer konzentrieren kann. In ihr Lerner-Logbuch schreibt die Studentin Folgendes: (33) Wenn ich dran denke, kann ich die Wörter korrekt aussprechen. Es gelingt aber nicht immer, einerseits das [o] zu realisieren und gleichzeitig kein Akzent an dieser Silbe zu setzen. (01.06.2005) (34) In betonten Silben ist für mich die Realisierung des langen geschlossenen [o] kein Stolperstein. In den nicht betonten Silben realisiere ich fast immer das reduzierte [a] statt [o]. (14.06.2005) (35) Bin mit meinem „Okanje“ sehr zufrieden. Setze aber immer noch falsche Wortbetonungen. (09.07.2005) Schließlich wird der Lerner in der Beratung auch ermutigt, sich selbst Feedback zu „organisieren“. Dies kann er beispielsweise, indem er befreundete Muttersprachler oder Tandempartner bittet, auf bestimmte „Problemlaute“ zu achten und diese zu korrigieren, oder auch durch die Arbeit mit Medien und Sprachlernsoftware, falls diese ein entsprechendes Feedback anbieten. Die russische Studentin verlässt sich lieber auf Muttersprachler: (36) Habe zu meiner Aufnahme Feedback von einem deutschen Muttersprachler geholt, der ehemals germanistische Linguistik studiert hat. Ich habe ihn darum gebeten, meine Fehler in der Textvorlage anzustreichen. Er hat Fehler in folgenden Bereichen entdeckt: Melodieverlauf, Vokalquantität und fehlender Vokalneueinsatz. Er war aber der Meinung, dass diese Aussprache- Ausspracheerwerb ausländischer Studierender: Individuelle Sprachlernberatung 203 defizite das Verständnis nicht beeinträchtigten. So ein Kompliment  ! Hoffentlich kann ich mich auf seine Wahrnehmung verlassen. (04.08.2005) (37) An diesem Tag habe ich etwas herumexperimentiert, und zwar habe ich einige deutsche Muttersprachler gebeten, auf meine Aussprache zu achten während ich einige Wörter (das waren die Wörter mit „Akanje“) zweimal vorspreche. Ich habe natürlich den „Gutachtern“ nicht verraten, auf was genau sie achten sollten. In jedem Wort habe ich einmal das unbetonte O realisiert und dann das Wort wieder nachgesprochen, indem ich den O-Laut als reduziertes „Akanje“ realisiert hatte. Die Ergebnisse waren sehr unterschiedlich. Einigen ist die Abweichung beim zweiten Nachsprechen sofort aufgefallen, die anderen meinten, es wäre zwischen den zwei Varianten kein Unterschied gewesen. (23.10.2005) Auf diese Art und Weise hat die Studentin herausgefunden, welche Muttersprachler genauer hinhören können und sich somit als potenzielle Feedbackgeber eignen. 6. Ausblick Die aufgezeigten Beispiele zeigen, dass das Wissen um die eigenen Aussprachedefizite Fremdsprachenlernende veranlasst, sich gezielt Kenntnisse in diesem Bereich anzueignen. Durch die Thematisierung und ggf. Modifizierung von Lernerannahmen über die Aussprache des Deutschen und gezielte Ermutigung zu Vergleichen mit zuvor gelernten Sprachen in der individuellen Beratung wird das kognitive Potenzial erwachsener Lernender genutzt und ihre Sprachaufmerksamkeit erhöht. Das Nachdenken darüber, was man erreicht hat, welche Erfahrungen man gemacht hat, ob die verwendeten Lernstrategien zum Erfolg geführt haben, eröffnet Perspektiven für die Organisation des Weiterlernens (vgl. Weskamp 2003). Wenn der Lerner in der Lage ist, selbst „Schwachpunkte“ zu identifizieren und durch Eigenbeobachtung, Vergleich mit einem Standard und Selbstevaluation die für ihn richtigen Konsequenzen zu ziehen, so dass er nicht mehr auf das Feedback der Beraterin angewiesen ist, hat die Aussprache-Lernberatung ihren Zweck erfüllt. Das mit Hilfe der Beratung erreichte Sprach(lern)bewusstsein und die Stärkung seiner Handlungssicherheit in Bezug auf erprobte (Aussprache)Lernstrategien erlauben es dem Lernenden, autonom an den selbst gesetzten Zielen weiter zu arbeiten. Strategien und Techniken, die der Lerner bei der Ausspracheschulung des Deutschen erfolgreich angewendet hat, werden ihm in vielen Fällen auch das Erlernen weiterer Fremdsprachen erleichtern. 7. Literaturverzeichnis Brammerts, H. (2006): Tandemberatung. In: Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht (Online), 11/ 2, 16 pp. http: / / zif.spz.tu-darmstadt.de/ jg-11- 2/ beitrag/ Brammerts1.htm. Caspari, D. / Helbig, B./ Schmelter, L. (2003): Forschungsmethoden: Explorativ-interpretatives Forschen. In: Bausch, K.-R. / Christ, H. / Krumm, H.-J. (eds.): Handbuch Fremdsprachenunterricht, Weinheim / Basel, 499-505. Grit Mehlhorn 204 Cunningham-Anderson, U. (1997): Native speaker reactions to non-native speech. In: James, A. / Leather, J. 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Kurt Kohn Englisch als globale Lingua Franca: Eine Herausforderung für die Schule 1. Vorbemerkung Man kann es mögen oder nicht, man kann es begrüßen oder hassen: An einer Tatsache kommt man nicht vorbei, nämlich dass Englisch die Sprache der internationalen Organisationen geworden ist, die Sprache der Wirtschaft und Technologie, der sprachliche Zugang zur Teilhabe - oder Hoffnung auf Teilhabe - an Arbeit, Einfluss und vielleicht auch Macht. Einem Bericht in Newsweek (7. März 2005) zufolge geraten die Native Speaker des Englischen zunehmend in die Minderheit: Einem Native Speaker stehen drei Non-Native Speaker gegenüber; in Asien wird Englisch von 350 Millionen Menschen gesprochen; in zehn Jahren rechnet man mit etwa 2 Milliarden LernerInnen des Englischen und 3 Milliarden SprecherInnen; der Englischunterricht in Indien hat ein Geschäftsvolumen von 100 Millionen Dollar; über 400 Sprachschulen konzentrieren sich derzeit auf den chinesischen Markt; etwa 100 Millionen chinesische Kinder lernen Englisch: Englisch ist ohne Zweifel ein weltweites Geschäft! Und man sollte nicht meinen, diese stürmischen Entwicklungen fänden lediglich in Asien statt. In Deutschland und anderen europäischen Ländern ist ja auch schon einiges geschehen. Englisch ist seit vielen Jahren erste Fremdsprache in unseren Schulen; und der Unterricht ist immer kommunikativer, immer wirklichkeitsnäher geworden. Dieser Trend wird sich weiter verstärken - ein aktueller Hinweis ist in dem frühen Englischerwerb in Grundschule und Kindergarten zu sehen (vgl. Schlüter 2006). 2. Aufbruch und Verbreitung Angefangen hat dies alles mit stürmischen Überfahrten in die Neue Welt auf der Suche nach neuen Handelsräumen und religiöser Freiheit. So wurde 1607 die Virginia Kolonie gegründet; 1620 erreichten die Pilgrim Fathers auf der Mayflower die Küste des heutigen Massachusetts und gründeten die Plymouth Kolonie. Dem Aufbruch folgte die weitere koloniale Verbreitung, die zur Bildung des British Empire führte, das sich in postkolonialer Zeit zum British Commonwealth wandelte. Die kolonialen und postkolonialen Entwicklungen führten zur Verbreitung des Englischen rund um den Erdball. In Nordamerika, Afrika, Australien und Asien ist Englisch entweder als nationale Muttersprache oder als offizielle Zweitsprache für Bereiche der Regierung, Verwaltung, Erziehung und Bildung vertreten. Als zweite Verbreitungskraft sind die britischen und amerikanischen Kulturen und Literaturen zu nennen sowie die sie tragenden und weitertragenden Bildungsinstitutionen. Mit der Intensivierung des britisch-amerikanischen Kultur- und Literaturkontaktes war in den Schulen die nachhaltige Förderung des Englischen als Fremdsprache verbun- Kurt Kohn 208 den. Durch die Rolle der USA als weltweit agierende politische und wirtschaftliche Hegemonialmacht wurde diese Position weiter ausgebaut und das Englische etablierte sich als erste Fremdsprache - wiederum rund um den Erdball. Seit Mitte der 1980er Jahre hat Braj Kachru (1985, 1992) es in verschiedenen Publikationen unternommen, mit Hilfe dreier konzentrischer Kreise Ordnung in die Vielfalt der World Englishes zu bringen. Da sind zunächst im so genannten Inner Circle jene Länder, in denen Englisch als Muttersprache gesprochen wird, insbesondere Großbritannien, USA, Kanada und Australien. Der Outer Circle umfasst die verschiedenen Ausprägungen des Englischen als Zweitsprache in Ländern wie z.B. Ghana, Indien, Bangladesh oder Pakistan. Und im Expanding Circle schließlich finden sich Länder mit Englisch als Fremdsprache, u.a. auch Deutschland. Über die (ein)ordnende Beschreibung hinaus verfolgt Kachru mit seinem Modell ein sprachpolitisches Anliegen. Es geht ihm um eine Neubestimmung des Verhältnisses zwischen dem Inner Circle und dem Outer Circle, zwischen muttersprachlichem und zweitsprachlichem Englisch, zwischen muttersprachlichen und zweitsprachlichen SprecherInnen des Englischen. Leitend ist ein emanzipatorisches Interesse. Es gilt, die in erster Linie kolonial und postkolonial entstandenen englischen Zweitsprachen aus der Vormundschaft der muttersprachlichen Nationalsprachen herauszuführen; sie nicht länger als weniger akzeptable Abweichungen anzusehen, sondern als eigenständige Varianten des Englischen mit eigenem normativen Anspruch und dem Recht, so sein zu dürfen wie sie sind. In den 1990er Jahren - ermöglicht und beflügelt durch rasante Fortschritte in den Informations- und Kommunikationstechnologien - nimmt der Zug der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Globalisierung immer weiter an Fahrt auf. Es entstehen Lebens- und Arbeitswelten mit internationalen und interkulturellen Kontaktsituationen, in denen die Verwendung des Englischen auch für NichtmuttersprachlerInnen des Expanding Circle notwendig und vor allem natürlich wird. Damit bildet sich eine neue, kulturell und wirtschaftlich äußerst relevante Kommunikationsdimension heraus: die Verwendung des Englischen als einer Lingua Franca (ELF). Bemerkenswert ist, dass der aufkommende und sich rasch verschärfende Bedarf an einer globalen Lingua Franca auf eine Sprachkonstellation trifft, in der Englisch rund um den Erdball als Muttersprache, Zweitsprache und Fremdsprache bereits in Position ist. Englisch als globale Lingua Franca entsteht also in einem Wechselspiel von Angebot und Nachfrage - wobei das Angebot der Nachfrage vorausgeht. Die internationale Diversifizierung des Englischen hat auch ihren Preis. So kann bei MuttersprachlerInnen leicht die Sorge aufkommen, ihre geliebte Sprache würde durch die übermächtige Präsenz nichtmuttersprachlicher Varietäten erdrückt und beschädigt. Und zu der Sorge um den Erhalt der eigenen Sprache kann sich eine Verschlossenheit gegenüber anderen Sprachen gesellen, insbesondere wenn man in der Gewissheit ruht, über eine Sprache, die von allen anderen verstanden wird, schon zu verfügen. David Crystal (2003, xiii) bringt den Sprach- und Kommunikationsvorteil englischer MuttersprachlerInnen auf den Punkt: „In my ideal world, everyone would have fluent command of a single world language. I am already in the fortunate position of being a fluent user of the language which is most in contention for this role, and have cause to reflect every day on the benefits of having it at my disposal“. Eine der Kehrseiten dieser idealen Welt zeigt sich in dem drastischen Rückgang der Fremdsprachen an britischen Schulen. So fiel 2005 in der Sekundarstufe (GCSE) Englisch als globale Lingua Franca: Eine Herausforderung für die Schule 209 im Vergleich zum Vorjahr die Zahl der Abschlussprüfungen in Französisch um 14,4% auf 272.140, in Deutsch um 13,7% auf 105.288 und in Spanisch um 2,5% auf 62,456 (BBC News, 25. August 2005). Für NichtmuttersprachlerInnen eröffnet das Englische den Zugang zu einer Sprach- und Kulturgrenzen überschreitenden Kommunikationswelt. Es ist dies allerdings auch eine Welt, in der NichtmuttersprachlerInnen oft gezwungen sind, ihre intellektuellen und kommunikativen Fähigkeiten sprachlich unter der Scheffel zu stellen, und in der MuttersprachlerInnen ihren Sprachvorteil durchaus unbekümmert nutzen, ohne sich um die Folgen kommunikativer Ungleichheiten zu kümmern. Der nachstehende Mail-Dialog ergab sich am 29. April 2005 im Mailforum der IATEFL Learning Technologies Sig 1 nach Korrektur eines Webseitenfehlers („slip“), auf den der Webmaster (Geoff) aufmerksam gemacht worden war: Geoff: I believe every instance of this slip has now been apprehended and marched off for corrective discipline, but should you happen to spot any stray infelicities wandering vaguely in the backwaters, I’d be obliged if you’d let me know. (message 1288) Gavin: Not a huge disaster, I don’t think. Thanks for spotting it and sorting it out with such alacrity. And for the delightful sentence. (message 1290) Dies ist ein zweifelsohne amüsanter Austausch zwischen zwei Muttersprachlern, die sich ganz unter sich fühlen - in einem ansonsten allerdings internationalen Kommunikationsforum. Die Äußerungen sind durchaus anregend und lehrreich für weniger kompetente NichtmuttersprachlerInnen mit Sprachlernambitionen; für viele ForumsteilnehmerInnen aber sicherlich auch Anlass, sich mit ihren eigenen, sprachlich unbeholfenen Beiträgen doch lieber zurückzuhalten. 3. Beschreibungen von Englisch als Lingua Franca Die „natürliche“ Kompetenz weltweit tätiger didaktischer RepräsentantInnen der englischen Muttersprache und ihre oft allzu rasch akzeptierte Normgewalt über Fragen der sprachlichen und kulturellen Korrektheit und Angemessenheit hat Anfang der 1990er Jahre zum Vorwurf eines sprachlichen Imperialismus geführt (Phillipson 1992). Auch wenn man dieser sprachpolitischen Zuspitzung, die eine heftige und kontrovers geführte Debatte auslöste, nicht folgen mag (vgl. Seidlhofer 2003, section 1), so bleibt doch die Frage, wer denn in der expandierenden englischsprachigen Welt die Marschrichtung bestimmt. Sind es die MuttersprachlerInnen mit ihren angestammten und auch gern verteidigten Besitzansprüchen? Und welche Rolle spielt die wachsende Mehrheit der nichtmuttersprachlichen SprecherInnen des Englischen? David Graddol (1997, 10) stellt hierzu fest: „Native speakers may feel the language ‘belongs’ to them, but it will be those who speak English as a second or foreign language who will determine its world future.“ Diese Aussage ist nicht normativ, sondern deskriptiv gemeint. Die Entwicklung einer Sprache wird de facto zur Sache derjenigen, die diese Sprache für ihre kommunikativen Bedürfnisse verwenden. Im Falle einer internationalen Sprache schließt dies zwangsläufig auch die 1 http: / / groups.yahoo.com/ group/ LearningTechnologiesSIG/ Kurt Kohn 210 nichtmuttersprachlichen SprecherInnen mit ein. Den MuttersprachlerInnen des Inner Circle steht keine Wächterrolle zu: „How English develops in the world is no business whatever of native speakers in England, the United States, or anywhere else. They have no say in the matter, no right to intervene or pass judgement. They are irrelevant. The very fact that English is an international language means that no nation can have custody over it. To grant such custody over the language is necessarily to arrest its development and so undermine its international status“ (Widdowson 2003, 43). Hier zeigt sich ein neues Sprachbewusstsein, demzufolge neben den muttersprachlichen und zweitsprachlichen auch den fremdsprachlichen SprecherInnen des Englischen eine die englische Sprache formende Kraft zuzugestehen ist. Maßgeblich bewirkt wurde dies durch globalisierungsbedingte Veränderungen im Expanding Circle. Mit dem Einzug der englischen Sprache in den lebens- und berufsweltlichen Kommunikationsalltag wird ihre Verwendung zunehmend natürlicher und selbstverständlicher; zuvor fremdsprachliche Kompetenzen nehmen nach und nach Zweitsprachenqualitäten an. Diese allmähliche Verlagerung vom Fremdsprachenlernen hin zur natürlichen Kommunikation in globalisierten Verwendungskontexten betrifft zunächst die kommunikative Funktion von Sprache und löst auf dieser Ebene Prozesse einer individuellen kommunikativen Emanzipation aus: Verstehbarkeit, kommunikative Flexibilität und Effizienz werden wichtiger als Korrektheit hinsichtlich muttersprachlicher Standards. Bei einer weiteren Verstärkung und Normalisierung dieser Prozesse zeigen sich Auswirkungen auch im Bereich der kommunalen Funktion von Sprache. 2 In dem Maße, in dem NichtmuttersprachlerInnen einer bestimmten sprachlich-kulturellen Herkunft sich miteinander identifizieren und ein Gefühl für Zugehörigkeit und Akzeptanz entwickeln, kommt es zu einer kommunalen Emanzipation mit dem Bedürfnis, anders zu sein als die MuttersprachlerInnen: „Right or wrong, my English! “ Nach der Befreiung des Outer Circle durch Kachru gerät nun auch die Befreiung des Expanding Circle auf die Agenda. In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass das Forschungsinteresse schwerpunktmäßig auf nichtmuttersprachliche Lingua-Franca-Verwendungen des Englischen gerichtet ist. „Englisch als Lingua Franca“ wird dementsprechend auch in der Regel als Kontaktsprache zwischen Personen definiert, „who share neither a common native tongue nor a common (national) culture, and for whom English is the chosen foreign language of communication“ (Firth 1996, 240). Seidlhofer (2004, 210ff.) weist darauf hin, dass mit dieser Hervorhebung der fremdsprachlichen Lingua-Franca-Kommunikation keineswegs unterschlagen wird, dass an vielen Lingua- Franca-Interaktionen auch MuttersprachlerInnen oder ZweitsprachlerInnen des Englischen beteiligt sind. Es soll vielmehr deutlich zum Ausdruck und auf den Punkt gebracht werden, dass es gerade die nichtmuttersprachlichen SprecherInnen des Expanding Circle sind, die bei der globalisierten Verbreitung und Entwicklung des Englischen als eigentliche Akteure hervortreten (vgl. Brutt-Griffler 1998). Die sich hieraus ergebenden Veränderungen lassen sich aus dem muttersprachlichen Blickwinkel nicht angemessen erfassen. Barbara Seidlhofer (2001, 2004, 2005a, 2005b) plädiert daher mit großem Nachdruck und Engagement für eine Neu- 2 Vgl. Widdowson (2003, 39ff.), der mit Bezug auf Standardenglisch und fachliche Varietäten auf die identitätsstiftende Rolle der kommunalen Sprachfunktion hinweist. Englisch als globale Lingua Franca: Eine Herausforderung für die Schule 211 konzeptualisierung des Englischen unter Lingua-Franca-Bedingungen. „Englisch als Lingua Franca“ (ELF) ist der Untersuchungsbereich, für den es die englische Sprache und die englischsprachige Kommunikation neu zu verorten gilt. Seidlhofer betont die Notwendigkeit umfassender ELF-Beschreibungen mit dem Ziel, die sprachlichen Merkmale und Kommunikationsbedingungen dieser sich global entwickelnden nichtmuttersprachlichen Ausprägung des Englischen zu bestimmen. Aus sprachdidaktischer Perspektive bleibt das Verhältnis der nichtmuttersprachlichen Lingua Franca zu muttersprachlichen Standards durchaus ein wichtiges Thema, allerdings unter veränderten Vorzeichen. An die Stelle eines normativen Korrektheitsanspruchs tritt das Kriterium der Verständlichkeit. So untersucht Jennifer Jenkins (2000) aussprachebedingte Missverständnisse und identifiziert auf dieser Basis als Lingua Franca Core jene phonetisch-phonologischen Merkmale der Standardsprache, die für eine unter NichtmuttersprachlerInnen verständliche Aussprache erforderlich sind und somit auch gelernt werden sollten: • alle Konsonanten mit Ausnahme abweichender th-Laute und des velaren l, • Aspiration von p, t, k am Wortanfang, • Vokallänge vor stimmhaften Konsonanten (z.B. sat / sad), • keine Vereinfachung von Konsonantenclustern am Wortanfang (z.B. strap), • Vereinfachung von Konsonantenclustern in anderen Positionen nur bei Erhalt der engl. Silbenstruktur (z.B. frien-ship, aber nicht frien-dip), • Längenkontraste bei Vokalen (z.B. leave / live), • kontrastive Betonung in Sätzen (z.B. He came by TRAIN / He CAME by train). Alle anderen phonetisch-phonologischen Merkmale der Standardsprache, durch deren Fehlaussprache die Verständlichkeit einer Äußerung nicht beeinträchtigt wird, rechnet Jenkins dem Non Core zu. Abweichungen im Non-Core-Bereich werden als zulässige Lingua-Franca-Varianten anerkannt; gegenüber dem Standardenglisch markieren sie kein Defizit, sondern vielmehr einen Unterschied. In den Arbeiten von Seidlhofer (2004, 2005a, 2005b) geht es auf der Basis des von ihr an der Universität Wien aufgebauten Vienna-Oxford International Corpus of English (VOICE) 3 um Untersuchungen zur ELF-Lexikogrammatik. Das zunächst auf eine Million Wörter geplante Korpus umfasst improvisierte mündliche ELF-Interaktionen, insbesondere face-to-face-Gespräche, Telefonate, Gruppendiskussionen, Präsentationen und Interviews. Es werden vielfältige Kommunikationsanlässe und Themen professioneller, informeller und bildungsorientierter Natur sowie unterschiedliche Teilnehmerrollen und Kommunikationsbeziehungen abgedeckt. In der Anfangsphase sind annähernd 800 SprecherInnen mit etwa 50 Erstsprachen vornehmlich (aber nicht ausschließlich) aus dem europäischen Sprach- und Kulturraum vertreten. Zentrale Forschungsschwerpunkte betreffen die methodischen Herausforderungen und Probleme, die sich bei der Erstellung eines ELF-Korpus ergeben, sowie in inhaltlicher Hinsicht die lexikogrammatische Datenanalyse. Erste Beobachtungen zeigen auch für diesen Bereich Lingua-Franca-spezifische Abweichungen, die im 3 http: / / www.univie.ac.at/ voice Kurt Kohn 212 Sprachunterricht als Fehler geahndet werden, für die Lingua-Franca-Kommunikation selbst aber keinerlei Probleme bereiten: • ein fehlendes s-Morphem in der 3. Person Singular Präsens (z.B. she like statt she likes), • abweichender Gebrauch von who und which (z.B. things who, people which), • Verwendung einer invariablen Form für Frageanhängsel (z.B. no statt shouldn’t they), • fehlende oder redundante Artikel (z.B. they have a respect for all, he is very good person), • redundante Präpositionen (z.B. discuss about something). Kommunikationsprobleme können allerdings dadurch auftreten, dass die (nichtmuttersprachlichen) GesprächspartnerInnen einer ELF-Interaktion sich auf unterschiedlichen Kompetenzniveaus bewegen. Ein interessanter Fall ist die von Seidlhofer (2004, 2005a, 2005b) festgestellte „unilateral idiomaticity“, bei der gerade die kompetente Verwendung idiomatischer Äußerungen (z.B. This drink is on the house, Can we give you a hand? The ball is in your court) beim weniger kompetenten Gegenüber leicht zu einer Verstehensüberlastung führen kann. Ein weiteres wichtiges Forschungsgebiet betrifft die pragmatischen Bedingungen und Prozesse der (interkulturellen) ELF-Kommunikation (vgl. Knapp 1987, Firth 1996, Meierkord 1996, House 1999, House 2002, Knapp / Meierkord 2002, Mauranen 2003, Lesznyák 2004). Bei aller Vielfalt der Perspektiven und Fragestellungen geht es immer wieder um Missverständnisse und Kommunikationserfolg sowie um den strategischen Umgang mit unterschiedlichen Interaktionskonventionen. Hierbei handelt es sich um Fragen, die ganz besondere Herausforderungen an die empirische Datenanalyse und Interpretation stellen. Dies wird beispielsweise in der Diskussion zu dem Let-it-pass-Prinzip (Firth 1996) deutlich, demzufolge ELF-SprecherInnen bei Verstehensproblemen dazu neigen, erst einmal abzuwarten und darauf zu vertrauen, dass sich später schon alles klären oder als nicht so relevant erweisen wird. Während Firth hier Anzeichen einer robusten, Normalität schaffenden Kommunikation sieht, weist House (1999, 75) auf die Möglichkeit einer Oberflächenstrategie hin, durch die Kommunikationsprobleme auch leicht verdeckt werden können, mit negativen Folgen für den weiteren Kommunikationsverlauf. Ein wichtiger Punkt scheint mir zu sein, dass derartige Fragen sich allein auf der Basis von Konversationsdaten oft nicht entscheiden lassen. Der Schritt von der sprachlichen „Außenseite“ der Kommunikation hin zu den zugrunde liegenden strategischen Kommunikationsprozessen ist in der Regel doch recht weit. Hier zeigt sich einmal mehr die aus der Zweitsprachenerwerbsforschung bekannte Produkt-/ Prozess-Problematik: An ihrer Außenseite manifestiert Kommunikation sich in Äußerungen; und Äußerungen sind der bevorzugte Gegenstand linguistischer Analysen. Wenn das Untersuchungsinteresse sich aber über die Äußerungen hinaus auf die strategischen Verarbeitungsprozesse richtet, die zu ihnen geführt haben, reicht die Analyse der Äußerungen allein nicht aus. In der menschlichen Kommunikation sind die Prozesse durch ihre Produkte oft unterbestimmt. Die eigentliche Verarbeitungsdimension, die im Innern der SprecherInnen liegt, lässt sich über eine Analyse von Produktdaten allein empirisch kaum erreichen (vgl. Kohn 1990, Kap. 1.3). Englisch als globale Lingua Franca: Eine Herausforderung für die Schule 213 Ein theoretisch-methodisches Problem ergibt sich auch für die in der ELF-Forschung mehr oder weniger explizit verfolgte Suche nach ELF-Varietäten. Auf der Basis vorliegender empirischer Untersuchungen zu europäischen ELF-Verwendungen aus unterschiedlichen institutionellen, beruflichen und privaten Lern- und Kommunikationskontexten kommt James (2005, 140) zu folgenden Verallgemeinerungen: (a) Es besteht durchweg eine starke („exonormative“) Ausrichtung an britischen oder US-amerikanischen Standards (ohne dass hier immer klar differenziert würde); (b) Abweichungen von diesen Standards ergeben sich in Abhängigkeit zum Kompetenzniveau der SprecherInnen sowie zum jeweiligen Diskurstyp; (c) hinsichtlich lokaler Form-/ Funktionsausprägungen zeigt sich eine erhebliche Heterogenität. Überzeugende empirische Belege für das Entstehen einer monolithischen europäischen ELF-Varietät kann er nicht ausmachen. Insgesamt erweist ELF sich im europäischen Kontext als „fragmented, contingent, marginal, transitional, indeterminate, ambivalent and hybrid in various ways“ (James 2005, 141). Was folgt hieraus nun für die linguistische ELF-Beschreibung? James greift die von Halliday (1978) eingeführte Unterscheidung zwischen Sprechervarietäten (Dialekt) und Verwendungsvarietäten (Register) auf und ergänzt sie um das auf Kommunikationssorten Bezug nehmende Konzept der Genre-Varietäten. Eine deutschgefärbte ELF wäre demnach als Sprechervarietät, eine akademische ELF als Verwendungsvarietät und eine Chat-ELF als Genre-Varietät einzuordnen. Dies sind prototypische Zuordnungen; durch das jeweilige kommunikative Setting beeinflusste Mischformen sind eher die Regel als die Ausnahme. Wenn es gelingt, die Anteile der in einer heterogenen ELF-Verwendung vertretenen Varietätstypen zu bestimmen, so eröffnet dies James zufolge die Möglichkeit einer feineren soziolinguistischen Analyse auf verschiedenen Ebenen eines Mikro- / Makro-Kontinuums. 4. Überlegungen zu einem Lingua-Franca-Modell Bei diesen Bemühungen um eine angemessene Beschreibung von ELF-Varietäten wird die wichtige Frage nach dem spezifischen ELF-Charakter einer nichtmuttersprachlichen Englischvarietät zwar nicht unterschlagen, sie bleibt allerdings doch weitgehend im Hintergrund. Die in der ELF-Forschung verbreitete definitorische Charakterisierung von ELF als nichtmuttersprachliches Englisch scheint den Umkehrschluss nahe zu legen, jegliches nichtmuttersprachliche Englisch sei auch ELF. Dabei lassen sich in entsprechenden Englischausprägungen viele Merkmale finden, die nicht auf eine Lingua-Franca-Verwendung zurückzuführen sind, sondern auf andere Einflussfaktoren wie zum Beispiel Erstsprache oder Verlauf und Stand der Lernentwicklung. Eine bloße Umetikettierung von Lernersprache oder Interlanguage zu ELF wäre wenig hilfreich; sie birgt die Gefahr einer allzu frühen verdinglichenden Festlegung auf vermutete ELF-Varietäten und verstellt den Blick für die zugrunde liegenden Bedingungen und Prozesse für das Entstehen von ELF. Es scheint mir daher erforderlich, die Frage, mit welchen ELF-Varietäten man es zu tun hat, um die Frage zu ergänzen, was eine Varietät überhaupt erst zur ELF-Varietät macht. Für den Bereich der ELF-Konversationen entspricht dies der von House (1999, 74) gestellten Frage, „whether and in what ways ELF interactions are actually sui generis“. Kurt Kohn 214 Um hier weiterzukommen bietet sich an, den Gegenstandsbereich „Englisch als Lingua Franca“ ohne vorprägende Annahmen hinsichtlich der besonderen Art des Englischen anzusehen. „Englisch als Lingua Franca“ bezeichnet dann zunächst die Verwendung des Englischen unter Lingua-Franca-Bedingungen. Und um welche Art des Englischen es sich dabei handelt, ist Teil der Fragestellung. Ist es das Englisch der MuttersprachlerInnen - wie das oben angeführte Zitat von David Crystal vermuten lassen könnte? Oder doch das Englisch von NichtmuttersprachlerInnen - wie es die meisten aktuellen ELF-Definitionen festlegen? Weder noch. Ein kleines Gedankenexperiment hilft diesen Punkt zu klären. Angenommen in einer europäischen Projektgruppe kommen PartnerInnen aus verschiedenen europäischen Ländern zu einem ersten Projekttreffen zusammen. Zur Frage der gemeinsamen Projektsprache ergibt sich folgendes Gespräch: - Well, although Ryan is the only English native speaker in our group, I propose English as our lingua franca. - That’s fine with me. My company is operating internationally and English is our main working language anyway. - Okay. That gives me the opportunity to practise my school English. - Ehm, my English not good but I manage. Wenn die ProjektpartnerInnen sich hier auf Englisch als Lingua Franca einigen, so einigen sie sich nicht auf einen bestimmten muttersprachlichen Standard oder eine nichtmuttersprachliche ELF-Varietät. Sie vereinbaren vielmehr, dass alle - von MuttersprachlerInnen des Inner Circle über ZweitsprachlerInnen des Outer Circle bis hin zu EnglischlernerInnen des Expanding Circle - ihr jeweils ganz persönliches Englisch verwenden. Es ist also „mein Englisch“, das ich für Lingua-Franca-Zwecke aktiviere und einbringe; ein Englisch, das ich mir mit muttersprachlicher, zweitsprachlicher oder lernersprachlicher Ausprägung erworben habe - allerdings anders als ich ein Auto erwerbe: Ich habe es im Rahmen der für mich gegebenen sozialen, kulturellen und kommunikativen Infrastrukturen in einem intentional gesteuerten Konstruktionsprozess selbstständig und kreativ entwickelt und geschaffen. Bereits seit Ende der 1960er Jahre wurde der Fremd- / Zweitsprachenerwerb unter dem Einfluss von Chomskys mentalistischer Sprachtheorie als ein Prozess der „creative construction“ gesehen (vgl. Corder 1967, Dulay / Burt 1974). Diese in den 1990er Jahren im Rahmen einer konstruktivistischen Lerntheorie gewissermaßen neu entdeckte konstruktiv-kreative Natur des menschlichen Sprachenlernens erklärt auch, wieso die Aneignung und Verbreitung des Englischen nicht ohne Veränderung und Ausdifferenzierung erfolgen kann (vgl. Widdowson 2003, 45ff.). Als Sprachwissen erstreckt „mein Englisch“ sich auf grammatische und lexikalische Ausdrucksmittel und deren Eignung für die Erfüllung spezifischer (intentionaler) Akzeptabilitätsanforderungen, die ich etwa hinsichtlich Verstehbarkeit, Flüssigkeit, Normkonformität oder kommunaler Anpassung an meine eigene Performanz stelle (vgl. Kohn 1990). Die für mich relevanten Anforderungen sind einerseits sozio-kulturell, andererseits individuell geprägt. Sie reflektieren die Bedingungen, unter denen ich Englisch gelernt habe (und eventuell noch lerne), können aber auch in Abhängigkeit zur jeweiligen Kommunikationssituation variieren. In meiner kommunikativen Performanz bin ich in der Regel bemüht, meine Äußerungen hinsichtlich meiner eigenen Anforderungen strategisch zu kontrollieren. Englisch als globale Lingua Franca: Eine Herausforderung für die Schule 215 Das heißt, ich setze bestimmte Äußerungsmerkmale mehr oder weniger bewusst ein, um bestimmte Anforderungen zu erfüllen. Dies ist möglich, weil mein Sprachwissen eben in grundsätzlicher Weise anforderungs- und damit performanzbezogen ist. Mein grammatisches oder lexikalisches Sprachwissen ist nicht einfach ein Wissen von grammatischen oder lexikalischen Ausdrucksmitteln; es ist ein Wissen darüber, mit welchen grammatischen oder lexikalischen Ausdrucksmitteln ich welche der für mich geltenden Anforderungen in welchem Maße erfüllen kann. Die folgenden Äußerungen illustrieren, dass SprecherInnen sich in der Regel der Akzeptabilitätsanforderungen, denen sie gerecht werden wollen, bewusst sind und dass sie auch in der Lage sind, ihre eigene Performanz hinsichtlich dieser Anforderungen zu beurteilen: H: […] and maybe funny for them. My grammar and writing is better than a speaking and listening. When I a speaking and interview with a person sometimes I ashame […] When I speak correct I am happy and when I have mistake is very bad. Maybe think I am illiteracy. Z: Only important thing is the people understand me when I speak; but not it’s necessary to speak correctly. […] If I want to speak correctly, like now [i.e. in the interview], I must thinking, thinking and I don’t like it. I can speak only - I like to speak rapidly. A: If a person wanna understand us and the attention to us, they will understand. Diese Daten stammen aus Interviews, die im Rahmen von Untersuchungen zu lernersprachlichen Performanzstrategien in den USA mit ausländischen Studierenden durchgeführt wurden (Kohn 1990, Kap. 5). Sie lassen unterschiedliche Anforderungsprofile erkennen, die durch eine Spannung zwischen lernbezogenen und kommunikationsbezogenen Anforderungen charakterisiert sind. Hier zeigt sich, dass die SprecherInnen in ihren Anforderungen um einen Ausgleich zwischen soziokulturell vorgegebenen Konventionen und Normen einerseits und ihren eigenen Bedürfnissen und Präferenzen andererseits bemüht sind. Anpassungen und Veränderungen im Anforderungsprofil sind Teil ihrer weiteren sprachlichen Entwicklung. In konkreten Lingua-Franca-Situationen kommen also SprecherInnen zusammen, die aufgrund ihrer sprachlich-kulturellen Herkunft sowie ihrer Lern- und Kommunikationsgeschichte recht unterschiedliche Ausprägungen des Englischen mitbringen. Wie sie sich in diesen Situationen sprachlich zeigen, hängt insbesondere von drei Faktoren ab: erstens von der Beschaffenheit ihres anforderungsspezifischen Englischwissens, zweitens von ihrer Bereitschaft, ihre Akzeptabilitätsanforderungen auf die besonderen Bedingungen der Lingua-Franca-Kommunikation auszurichten sowie drittens von ihrer Fähigkeit, sich ihren (neuen) Lingua-Franca-spezifischen Anforderungen gemäß auch zu verhalten. Aus dem Zusammenspiel dieser Faktoren ergeben sich für das Englisch der SprecherInnen Möglichkeiten einer kurzfristigen oder auch langfristigen Lingua-Franca-Prägung. Kurzfristig kann sich die Lingua-Franca-Kommunikation zunächst auf das Anforderungsprofil der SprecherInnen auswirken und darüber vermittelt auch auf ihr Interaktionsverhalten und die sich dabei ergebende Aktivierung und Umsetzung ihres Englischwissens. Infolge derartiger Lingua-Franca-Anpassungen in der aktuellen Sprachverwendung können sich langfristig dann Veränderungen in dem Sprach- Kurt Kohn 216 wissen der SprecherInnen und möglicherweise auch in ihrem habituellen Sprachgebrauch und Interaktionsverhalten ergeben. In dem Maße, in dem es zu solchen Veränderungen kommt, ist es sinnvoll, ELF-Interaktionen und (verwendungs- oder wissensbezogene) ELF-Varietäten anzunehmen. Eine weitere Klärung dieser Zusammenhänge erfordert Daten, die für die einzelnen SprecherInnen über die grammatische und konversationsanalytische Beschreibung ihrer ELF-Äußerungen hinausreichen. Neben Einstellungs- und Motivationsprofilen und Informationen zur individuellen Lern- und Kommunikationsgeschichte sind insbesondere differenzierte Anforderungsprofile sowie introspektive Kommentare zum jeweiligen ELF-Kommunikationsgeschehen und dem Erfolg des eigenen strategischen Bemühens relevant. Hinzu kommt die methodisch keineswegs triviale empirische Differenzierung zwischen ELF-Äußerungen (d.h. Produkten) und dem zugrunde liegenden ELF-Wissen (vgl. Kohn 1990). Insgesamt geht es darum, ein möglichst dichtes Netz empirischer Indikatoren zu weben, das verlässlichere Schlüsse auf die Anpassungs- und Entwicklungsprozesse erlaubt, die vom Fremdsprachenlernen zur ELF-Kommunikation und der Ausbildung ELF-spezifischer Varietäten führen. An der Universität Tübingen sind hierzu am Lehrstuhl für Angewandte Linguistik des Englischen empirische Untersuchungen in Vorbereitung. 5. Schuldidaktische Konsequenzen In der schulischen Bildung in Deutschland nimmt Englisch als erste Fremdsprache eine bevorzugte Stellung ein. Erwähnt wird in diesem Zusammenhang auch die Entwicklung des Englischen zu einer globalen Lingua Franca; entsprechende Hinweise finden sich in den baden-württembergischen Bildungsstandards für Englisch in Hauptschule, Realschule und Gymnasium. 4 So heißt es in den Leitgedanken zum gymnasialen Kompetenzerwerb: „Englisch hat sich weltweit zur wichtigsten Zweit- und Verkehrssprache, zur lingua franca, entwickelt. Deshalb müssen Schülerinnen und Schüler auf die Anforderungen vorbereitet werden, die sich im Hinblick auf Berufsqualifikationen, neue Formen der internationalen Kooperation (Englisch als Ausbildungs-, Verhandlungs- und Konferenzsprache) sowie vermehrte interkulturelle Begegnungen ergeben.“ Als wichtigstes Lernziel wird daher auch „die Entwicklung einer kommunikativen Kompetenz“ genannt, „die die Schülerinnen und Schüler sprachlich handlungsfähig macht“ (Bildungsstandards 2004). Diese Position hat sowohl inhaltliche als auch didaktisch-methodische Implikationen, und sie entspricht der seit den 1970er Jahren geforderten und vielfältig untersuchten kommunikativen Orientierung des Fremdsprachenlernens. Eine weitere Konkretisierung dieses Ansatzes sowie eine europäische Vereinheitlichung ergeben sich durch die Anbindung der Bildungsstandards an die Kompetenzbereiche und Kompetenzniveaus des „Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen“ (Trim / North / Coste 2001). Für die Formulierung der angestrebten Kompetenzen und Inhalte unterscheiden die Bildungsstandards fünf Dimensionen: kommunikative Fertigkeiten, Beherrschung der sprachlichen Mittel, Umgang mit Texten, kulturelle Kompetenz sowie Methodenkompetenz. 4 http: / / www.schule-bw.de/ unterricht/ bildungsstandards Englisch als globale Lingua Franca: Eine Herausforderung für die Schule 217 Bei der genaueren Ausfüllung dieser Kategorien fällt eine deutliche Gewichtung auf. So sollen die SchülerInnen nationale und regionale Aussprachevarianten, deutlich gesprochene Alltagsgespräche zwischen MuttersprachlerInnen, ausgewählte Radio- / Fernsehsendungen und Filme sowie einfach gehaltene Zeitungsartikel und literarische Texte verstehen können. Ihre eigenen Produktionen sollen im Wortschatz idiomatisch sein und dabei wichtige Unterschiede zwischen BBC English und General American berücksichtigen. Verlangt wird ferner, dass ihre Äußerungen grammatisch korrekt sind, mit nur wenigen Fehlern, die zu Missverständnissen führen, und lediglich geringen muttersprachlichen Interferenzen. Ihre Aussprache soll sich der Norm des BBC English oder General American annähern. Formen des formal und informal English sind angemessen zu verwenden; und für wichtige Alltagssituationen in Großbritannien und den USA (z.B. Höflichkeit, Begrüßung, Essgewohnheiten) wird ein kulturspezifisch angemessenes Verhalten erwartet. Insgesamt sind die für die Schule spezifizierten Zielkompetenzen also klar auf muttersprachliche Standards ausgerichtet; und der kommunikative „Ernstfall“ wird im Kontakt mit MuttersprachlerInnen gesehen sowie mit Kommunikationsmaterialien, die für MuttersprachlerInnen authentisch sind, nicht aber unbedingt auch für die SchülerInnen selbst. Die mit der Verwendung des Englischen als Lingua Franca verbundenen Kommunikationsbedingungen und die daraus folgenden Anforderungen und Ziele für das schulische Sprachenlernen werden nicht eigens thematisiert. In der nach der 10. Klasse folgenden Kursstufe wird Englisch als Lingua Franca dann als Fachthema behandelt; dabei geht es um Fragen der Globalisierung, um Aspekte einer über die USA und Großbritannien hinausreichenden englischsprachigen Welt und um die Probleme des so genannten Sprachimperialismus. Bei der Spezifizierung von Sprach- und Kommunikationszielen bleibt die Lingua-Franca-Dimension allerdings wiederum ausgespart - allenfalls im Rahmen der zur interkulturellen Kompetenz gerechneten Beherrschung komplexer Alltagssituationen im englischsprachigen Ausland könnten auch Englischvarietäten des Outer Circle mit einbezogen werden. Aber welches sind die Herausforderungen, die sich aus der besonderen Rolle des Englischen als Lingua Franca für den schulischen Englischunterricht ergeben? Von grundlegender Bedeutung ist die Vermittlung von Wissen über ELF-Verwendungen in Europa und rund um die Welt. Dies ist Voraussetzung für die Entwicklung eines erweiterten Sprachbewusstseins und die Förderung einer interkulturellen Sensibilität für die unterschiedlichen Erscheinungsformen und den Wert von ELF. In den Bildungsstandards gibt es hierfür auf der Kursstufe erste Ansätze, die allerdings ausgebaut werden sollten. Darüber hinaus ist aber auch dafür Sorge zu tragen, dass die SchülerInnen Fähigkeiten erwerben, die sie in die Lage versetzen, andere ELF-SprecherInnen zu verstehen - hier kann es schon in europäischen Kontexten zu erheblichen Kommunikationsproblemen kommen. Mit der Zielvorgabe, die SchülerInnen für internationale und interkulturelle Begegnungen sprachlich handlungsfähig zu machen, weisen die Bildungsstandards in die richtige Richtung. Eine genauere Spezifizierung unterschiedlicher rezeptiv-kommunikativer ELF- Kompetenzniveaus nach dem Vorbild des Europäischen Referenzrahmens steht allerdings noch aus. Weit weniger überschaubar ist die Situation hinsichtlich ELF-spezifischer Lernziele für die Entwicklung der Produktionsfähigkeiten der SchülerInnen. In diesem Bereich kommt dem soziokulturellen und bildungspolitischen Kontext, in den schulisches Lehren und Lernen in den jeweiligen Ländern und Gesellschaften eingebettet Kurt Kohn 218 sind, größte Bedeutung zu. Für deutsche Schulen gilt als Basiskonstante die Orientierung an britischen und amerikanischen Standardvarietäten (vgl. Gnutzmann 2005). Diesbezügliche Festsetzungen in Bildungsstandards entsprechen einem allgemeinen, historisch gewachsenen gesellschaftlichen Konsens, dem allerdings vielfältige ELF-Ausprägungen rund um die Welt, aber auch innerhalb von Europa, gegenüberstehen. Es stellt sich daher die Frage, wieweit eine Orientierung des Englischlernens an muttersprachlichen Standards überhaupt relevant und sachgerecht sein kann (vgl. Jenkins 2005, Seidlhofer 2005a, Seidlhofer 2005b). Die folgenden Ausführungen versuchen, hier ein wenig Klarheit zu schaffen. Entscheidend ist, wie man sich auf die grundsätzliche Frage einrichtet, was überhaupt gelehrt werden soll und was nicht. Seidlhofer (2006, 45) stellt hierzu aus ELF- Perspektive unmissverständlich fest, dass dies eine komplexe didaktische Angelegenheit sei, die von den Lehrenden für ihre Lernenden unter Berücksichtigung der jeweiligen (gesellschaftlichen) Rahmenbedingungen entschieden werden müsse. Die gleiche Position wird auch von Widdowson im Rahmen seiner Unterscheidung zwischen Präskription und Deskription vertreten: „The prescription of language for such contexts of instruction can, and should be, informed by the description of language in contexts of use, but not determined by it […] For prescription has its own conditions of adequacy to meet, and it is the business of language pedagogy, and nobody else’s business, to propose what these conditions might be“ (Widdowson 1991, 23). Seidlhofer weist in diesem Zusammenhang auf die empirischen Befunde der ELF-Forschung hin, nach denen bestimmte Ausdrucksmittel für die internationale Verständlichkeit erforderlich, andere dagegen unerheblich oder sogar eher hinderlich sind: „It would surely be perverse not to make these findings available for ELF users whose communicative goal is just such intelligibility“ (Seidlhofer 2006, 45). Bei der Bestimmung von Lernzielvorgaben für den Erwerb von Produktionsfähigkeiten sowie deren didaktische Gewichtung können und sollten die Einsichten der ELF- Verständlichkeitsforschung mit herangezogen werden (vgl. Jenkins 2005, Seidlhofer 2005a, Seidlhofer 2005b). Dieser Punkt betrifft die Dimension der kommunikativen Funktion von Sprache und deren Relevanz für Unterrichtsentscheidungen und damit ein zentrales Thema der didaktisch positionierten Zweitsprachenerwerbsforschung seit dem kommunikativen Paradigmenwechsel in den frühen 1970er Jahren (vgl. Widdowson 1978, Brumfit / Johnson 1979, Canale / Swain 1980, Brumfit 1984). Mit der ELF-Dimension wird ein englischsprachiger Kommunikationsbereich erschlossen und einbezogen, durch den die kommunikativ-didaktische Diskussion neue und relevante Impulse erhält (vgl. die Beiträge in Gnutzmann 1999 und Gnutzmann / Intemann 2005). Nicht minder wichtig ist die weiter oben bereits erwähnte identitätsstiftende kommunale Funktion von Sprache. Um diese geht es, wenn Jenkins (2005) auf die Gefahr einer allzu rigiden didaktischen Ausrichtung von Sprachlernzielen an muttersprachlichen Standards hinweist. Mit Bezug auf die Aussprache argumentiert sie dafür, den Lernenden größere Freiräume zuzugestehen. Sie sollen einen Akzent entwickeln dürfen, der ihre eigene sprachliche und sprachkulturelle Herkunft nicht verleugnet; sie sollen lernen, sich positiv mit der eigenen nichtmuttersprachlichen Varietät des Englischen zu identifizieren. Hier ist an deutschen Schulen und in der Englischlehrerausbildung immer noch eine geradezu schizophrene Spannung zwischen internalisierten Ansprüchen und erreichbarer Kompetenz auszumachen, die Englisch als globale Lingua Franca: Eine Herausforderung für die Schule 219 sich nicht unbedingt positiv auf das Lehren und Lernen auswirkt. Eine weitergehendere Akzeptanz und Wertschätzung der Besonderheiten und Qualitäten des eigenen nichtmuttersprachlichen Englisch wäre durchaus wünschenswert, und sie sollte durch entsprechende Formulierungen in den Bildungsstandards sowie durch entspanntere und flexiblere Korrekturvorschriften auch ermuntert und unterstützt werden. Das kommunale Bedürfnis der Lernenden hat aber nicht ausschließlich mit deren Herkunft zu tun. Es kann auch auf die kommunale Identifikation mit einer anderen Kultur gerichtet sein, auf die Identifikation mit anderen Menschen und deren Konventionen. In diesem Fall scheinen muttersprachliche Zielmodelle eine natürliche Wahl zu sein. Aber ist es überhaupt realistisch, sich eine fremde Muttersprache und Kultur aneignen zu wollen? Alle Anzeichen sprechen dagegen. Ist also die Muttersprachenorientierung zu verwerfen? Nur, wenn das Ziel darin besteht, den anderen gleich zu werden. Das wäre mit der Natur der menschlichen Wahrnehmung und des menschlichen Lernens allerdings unvereinbar und daher in der Tat unmöglich. Denn worum es beim (Sprachen-)Lernen geht, ist (wie oben bereits erwähnt) die kreative Aneignung durch kognitive und emotionale Konstruktion; und diese ist nur möglich, indem ich mir „meine“ Kompetenzversion der anderen Sprache und Kultur schaffe - zwangsläufige und notwendige Veränderungen und „Abweichungen“ inbegriffen. Muttersprachliche Kompetenzmodelle geben diesem Entwicklungsprozess lediglich die Richtung; sie sind Wegweiser, nicht präskriptiver Endpunkt. Wie weit LernerInnen in die muttersprachliche Richtung gehen wollen oder können, ist eine andere Sache und wird entscheidend über die Akzeptabilitätsanforderungen gesteuert, die sie an ihre eigene Performanz stellen. Die an muttersprachlichen Zielvorgaben orientierten Lernbemühungen sind Gegenstand der Zweitsprachenerwerbsforschung. Diese hat bereits mit Pit Corders einflussreichem Artikel „The significance of learners’ errors“ von 1967 einer didaktischen „Diktatur“ muttersprachlicher Normen eine explizite Absage erteilt. In markanten Forschungsschwerpunkten ging es um Lernstrategien und Entwicklungsprozesse, Lernersprachen (auf unterschiedlichen Entwicklungsebenen) als eigenständige Varietäten (des Englischen) sowie den Zweitsprachenerwerb unter den Bedingungen einer natürlichen Kommunikation (vgl. Kohn 1990). Aus der Erweiterung dieser Forschungsrichtung durch Untersuchungen zum Spracherwerb in bilingualen Kontexten (Cummins / Swain 1986) sowie aus der kommunikativen Neudefinition des Sprachenlehrens (vgl. Widdowson 1978, Brumfit / Johnson 1979, Canale / Swain 1980, Brumfit 1984) ergaben sich fruchtbare Synergien für ein integratives Verständnis des Lehrens und Lernens von Sprachen in unterschiedlichen Bildungs-, Alltags- und Arbeitsbereichen der modernen Gesellschaft. 5 Mit der ELF-Forschung eröffnet sich eine wichtige komplementäre Perspektive, insofern hier die kommunikative Verwendung des nichtmuttersprachlichen Englisch außerhalb von Spracherwerbskontexten untersucht wird. Die nichtmuttersprachliche englische Kommunikation erhält damit ein eigenes Forum, in dem aktuelle Ausprägungen und Veränderungen umfassender in den Blick genommen werden können. Mit der expliziten Unterscheidung zwischen Sprachenlernen und ELF wird es dann aber auch möglich, die Eigenheiten der (interkulturellen) ELF-Kommunikation auf 5 Zu einer kritischen Sicht der Zweitsprachenerwerbsforschung aus ELF-Perspektive vgl. Jenkins (2006). Kurt Kohn 220 die spezifische Spracherwerbsentwicklung der jeweils beteiligten ELF-SprecherInnen zurückzubeziehen. Auf diese Weise werden Einflussfaktoren erschlossen, die für die Analyse und Erklärung von Veränderungen und Variationen im ELF-Bereich von Bedeutung sind. Insgesamt lässt sich so ein differenzierteres Bild der für Lehr-/ Lernentscheidungen relevanten Aspekte gewinnen. Insbesondere für den schulischen Englischunterricht mit seinen vielfältigen kommunikativen und kommunalen Bezügen ist ein gemeinsames Fundament von Zweitsprachenerwerbsforschung und ELF-Forschung vorteilhaft und wünschenswert. Durch die Verbindung der einander ergänzenden Dimensionen des Lernens und Kommunizierens in einem einheitlichen Modell werden neue Perspektiven mit neuen Potentialen erkennbar. So lässt sich aus den Untersuchungen zu den sprachlichen und (inter)kulturellen Bedingungen und Anforderungen der ELF-Kommunikation ein differenzierteres Bild der gesellschaftlich relevanten Englischlernziele gewinnen. Durch eine entsprechend realistischere Fassung der in den Bildungsstandards festgeschrieben Sprach- und Kommunikationslernziele könnten einerseits Konflikte zwischen normativem Anspruch und Lernrealität gemildert sowie andererseits jugendspezifische interkulturelle ELF-Interaktionen stärker berücksichtigt werden. Insgesamt sind zudem Freiräume für didaktisch-methodische Veränderungen zu schaffen (vgl. Seidlhofer 2004). So sollte der herkömmliche Englischunterricht zeitlich verkürzt werden und dafür verstärkt in Formen eines bilingualen Unterrichts (vgl. Breidbach / Bach / Wolff 2002, Bach / Niemeier 2005) übergehen. In der englischsprachigen Fachkommunikation entstünden Anlässe für den beiläufigen Zweitsprachenerwerb. Die SchülerInnen wären gefordert, sich mit ihren englischsprachigen Fähigkeiten auf die jeweiligen für sie authentischen kommunikativen Herausforderungen einzustellen. Zur Unterstützung begleitender autonomer und kollaborativer Sprachlernaktivitäten sollten auch die Bedingungen und strategischen Prozesse der (interkulturellen) Kommunikation und des selbstständigen Sprachenlernens systematisch thematisiert werden. Auf diese Weise würden wesentliche sprachlich-kommunikative Voraussetzungen für ein lebenslanges Lernen in der globalisierten Wissensgesellschaft geschaffen. 6. Literaturverzeichnis Bach, G. / Niemeier, S. (eds.) ( 3 2005): Bilingualer Unterricht. Grundlagen, Methoden, Praxis, Perspektiven, Frankfurt (Main). 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Widdowson, H.G. (2003): Defining Issues in English Language Teaching, Oxford. Über die Autorinnen und Autoren dieses Bandes Tanja Anstatt ist seit dem Sommersemester 2007 Professorin für slavistische Sprachwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Vorher war sie zwei Jahre lang Mitarbeiterin im Forschungsprojekt „Aspekt bei bilingualen russisch-deutschen Kindern“, angesiedelt am Sonderforschungsbereich 441 („Linguistische Datenstrukturen“) der Universität Tübingen, das sie auch konzipiert hat. Im Sommersemester 2006 organisierte Tanja Anstatt im Rahmen des Tübinger Studium Generale eine Ringvorlesung zum Thema „Mehrsprachigkeit bei Kindern und Erwachsenen“, aus der dieser Band hervorging. In Bochum arbeitet sie an weiteren Forschungsprojekten zum Spracherwerb bei russisch-deutschen Kindern. E-Mail: tanja.anstatt@ruhr-uni-bochum.de Bernhard Brehmer ist seit dem Wintersemester 2006/ 07 Juniorprofessor für slavistische Linguistik an der Universität Hamburg. Bis Ende 2006 war er Assistent am Lehrstuhl für slavistische Sprachwissenschaft an der Universität Tübingen, wo er 2004 über Dankesformeln im Russischen promovierte. Derzeit bereitet Bernhard Brehmer ein umfangreicheres Forschungsprojekt zur polnisch-deutschen Zweisprachigkeit vor. E-Mail: bernhard.brehmer@uni-hamburg.de Elena Dieser ist Mitarbeiterin im Forschungsprojekt „Aspekt bei bilingualen russisch-deutschen Kindern“ des Sonderforschungsbereiches 441 („Linguistische Datenstrukturen“) an der Universität Tübingen. Sie stammt aus Minsk in Weißrussland, lebt seit 10 Jahren in Tübingen und hat einen zweisprachigen Sohn. Die Dissertation von Elena Dieser, die demnächst abgeschlossen sein wird, befasst sich mit der grammatischen Kategorie des Genus im Spracherwerb zweisprachiger russisch-deutscher Kinder. E-Mail: elena.dieser@uni-tuebingen.de Christine Dimroth ist Sprachwissenschaftlerin am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in Nijmegen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind seit mehreren Jahren Spracherwerb und Erwerb der Mehrsprachigkeit; sie ist Mitglied der Forschergruppe zum Spracherwerb und Koordinatorin des europäischen Projektes „Comparative Study of L2 Acquisition“. Ihr besonderes Interesse gilt der Rolle des Alters im Spracherwerb; von Über die Autorinnen und Autoren dieses Bandes 224 2000 bis 2002 leitete sie das DFG-Projekt „Deutsch als Zweitsprache: Der Altersfaktor“. Christine Dimroth hat drei mehrsprachige Kinder. E-Mail: christine.dimroth@mpi.nl Ingrid Gogolin ist Professorin am Institut für International Vergleichende und Interkulturelle Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg. Sie beschäftigt sich seit den 80er Jahren intensiv mit Fragen der Förderung der Mehrsprachigkeit bei Kindern und Jugendlichen, insbesondere durch die Schule. Ingrid Gogolin hat zu diesem Themengebiet eine große Anzahl von Arbeiten veröffentlicht und fertigt regelmäßig Expertisen für verschiedene politische Institutionen an. Derzeit leitet sie das fünfjährige BLK-Modellprogramm „Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund“ (FörMig) und begleitet gemeinsam mit Kollegen bilinguale Grundschulprojekte in Hamburg und Sachsen. E-Mail: gogolin@erzwiss.uni-hamburg.de Kurt Kohn ist Professor für Angewandte Linguistik des Englischen an der Universität Tübingen und Direktor des Steinbeis-Transferzentrums Sprachlernmedien. Zu seinen zentralen Forschungsgebieten zählen die diversen Facetten des Fremdsprachenlehrens und lernens; sein besonderes Augenmerk liegt auf technologie-gestütztem Lernen (multimedia- und web-basiertes Sprachenlernen). Er ist Autor diverser Publikationen zum Sprachenlernen, u.a. des Grundlagenwerkes „Dimensionen lernersprachlicher Performanz“. Ein weiterer Forschungsschwerpunkt von Kurt Kohn ist die Rolle des Englischen als Lingua Franca. E-Mail: kurt.kohn@uni-tuebingen.de Grit Mehlhorn ist seit März 2007 Professorin für Didaktik der slavischen Sprachen (Russisch, Polnisch, Tschechisch) an der Universität Leipzig. Nach Abschluss ihrer Dissertation zur Informationsstruktur im Russischen wandte sie sich dem Forschungsschwerpunkt Deutsch als Fremdsprache zu, den sie im Rahmen ihrer mehrjährigen Tätigkeit am Herder-Institut der Universität Leipzig, an der Universität Stuttgart und schließlich als Juniorprofessorin an der TU Berlin sowohl theoretisch untersuchte als auch praktisch anwandte. 2005 erschien ihr Buch „Studienbegleitung für ausländische Studierende an deutschen Hochschulen“, das sich auch mit individueller Sprachlernberatung beschäftigt. E-Mail: mehlhorn@rz.uni-leipzig.de Über die Autorinnen und Autoren dieses Bandes 225 Jürgen M. Meisel ist Professor für romanische Philologie an der Universität Hamburg. Der Erwerb der Mehrsprachigkeit ist sein wichtigstes Arbeitsgebiet: Jürgen M. Meisel veröffentlichte zahlreiche grundlegende Publikationen zu diesem Themenbereich und führte seit den 70er Jahren etliche große Forschungsprojekte hierzu durch. Mit zwei Forschungsprojekten gehört er dem Hamburger Sonderforschungsbereich „Mehrsprachigkeit“ an, dessen Sprecher er lange Zeit war. Im Rahmen dieser Projekte hat Jürgen M. Meisel auch eine wöchentliche Elternberatung ins Leben gerufen. Neben seiner eigenen Forschertätigkeit ist er Herausgeber von Sammelbänden, Buchreihen und Zeitschriften zum Themenkomplex der Mehrsprachigkeit. E-Mail: jmm@rrz.uni-hamburg.de Cordula Nitsch ist als Professorin für Anatomie an der Universität Basel tätig, wo sie die Abteilung Funktionelle Neuroanatomie leitet. Nach Untersuchungen in verschiedenen Bereichen der Hirnforschung (Epilepsie, Schlaganfall, besonders im Hinblick auf krankheitsbedingte Neuronale Plastizität) widmete sie sich in den letzten Jahren zunehmend dem Zusammenhang von Sprache und Gehirn, insbesondere der Mehrsprachigkeit. Sie ist Mitbegründerin und Koordinatorin des fachübergreifenden Forschungsprojekts „The multilingual brain“, in dem Linguisten und Neurologen zusammenarbeiten und das sich besonders auf die mehrsprachige Sprachsituation der Region Basel bezieht. E-Mail: cordula.nitsch@unibas.ch Hans-Joachim Roth ist Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt interkulturelle Pädagogik an der Universität zu Köln. Seit mehreren Jahren beschäftigt er sich mit Zweitspracherwerb und der Entwicklung von Zweisprachigkeit im Kontext von Bildungsprozessen. Er arbeitet besonders zu Verfahren der Sprachstandserhebungen und begleitet zusammen mit Kollegen bilinguale Grundschulprojekte in Hamburg und Köln. Im Rahmen des BLK-Modellprogrammes „Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund“ (FörMig) ist Hans-Joachim Roth für den Bereich Sprachdiagnostik verantwortlich. E-Mail: hans-joachim.roth@uni-koeln.de Renate Thiersch ist Erziehungswissenschaftlerin. Sie ist Lehrbeauftragte am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Tübingen, wo sie u.a. Veranstaltungen zur Sprachförderung für Migrantenkinder durchführt. Außerdem ist sie in der Fortbildung von Erzieherinnen tätig. Sie hat neben unterschiedlichen Projekten zur Weiterentwicklung Über die Autorinnen und Autoren dieses Bandes 226 der Tagesbetreuung auch die Entwicklungsarbeit in einem interkulturellen Kindergarten wissenschaftlich begleitet, in dem die Förderung der deutschen Sprache einen hohen Stellenwert hatte. E-Mail: renate.thiersch@gmx.de Rosemarie Tracy ist Professorin für Anglistische Linguistik an der Universität Mannheim. Mehrsprachigkeit allgemein und speziell der Spracherwerb mehrsprachiger Kinder sind das zentrale Forschungsgebiet von Rosemarie Tracy, zu dem sie umfangreiche Forschungen durchgeführt und zahlreiche grundlegende Publikationen veröffentlicht hat. Im Rahmen mehrerer Förderprojekte, die sie betreut, werden die wissenschaftlichen Erkenntnisse auch in die Praxis getragen, beispielsweise in der „Forschungs- und Kontaktstelle Mehrsprachigkeit“, in der Pädagogen für die Arbeit mit Kindern, für die Deutsch die Zweitsprache ist, weitergebildet werden. Im S päts ommer 2007 er scheint im Gunter Narr Verlag ihr Buch „Wie Kinder Sprachen lernen“. E-Mail: rtracy@rumms.uni-mannheim.de